Peter Sloterdijk Du mußt dein Leben ändern Über Anthropotechnik
Suhrkamp
--
5
INHALT
Einleitung: Zur amhropotechnischen We n de ........... 9
Der Planet der Übenden r
Der Befehl aus dem Stein Rilkes Erfahrung
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
..
.
•
•
•
0
•
0
•
•
0
•
•
0
•
•
0
•
•
•
•
•
0
•
•
•
•
o
•
•
o
o
0
•
•
•
37
2 Ferner Blick auf den asketischen Stern
Nietzsches Antikeprojekt
0
•
•
•
•
52
3 Nur Krüppel werden überleben 4
UNIVEP.SITt'TV BIBUOTHEK HEIDELBERG
.
.
0
•
Ciorans Exerzitien
.
.
4'995 -3
14 13 12
.
.
.
.
.
.
.
•
•
0
0
0
•
•
0
•
•
•
•
•
•
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
0
o
•
•
•
•
•
0
•
•
•
0
•
•
•
•
•
0
•
•
0
•
•
•
•
•
•
0
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
.
.
.
0
0
69 too I
18
Übergang: Religionen gibt es nicht
Erste Auflage 2oo9 Suhrk amp Verlag Fran kfurt am Main 2oo 9 . Alle Rechte vorbehalten ' insbesond ere d as der Überserzung, des öffentlichen Vonrags sowie der Üb enr agung �urch RuJldfunk und Fernsehen ' auch etnzelner Teile. . K�n Tetl de Werkes darf in � irgendeiner Form (durc Forografte, Mikrofilm oder and ere Verfahren) ohne schriftliche Gene bmtgung des Verlag . · es reproduzten oder unter Verwendu ng elektron1sch er Syste .me verarb ettet, . vervielfältigt oder v erb . rettet werden. S atz: Jouve Germa ny, Kriftel Druck: Pusret, Regc nsbur.g pnnted . in Germany ISBN 97S-J-p8-
6-
.
Kafkas Artistik 5 Pariser Buddhismus
j
" © dteser Ausgabe
J 4 5
Unthans Lektion
Letzte Hungerkunst
II
10 09
Von Pierre de Courberrin zu L. Ron Hubbard
133
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen Für eine akrobatische Ethik Programm .
0
0
0
•
0
0
0
•
•
•
•
0
0
0
•
o
0
0
•
•
•
0
0
o
o
o
•
•
•
•
0
•
0
•
0
I Höhenpsychologie
173
Die Hinaufpflanzungslehre und der Sinn von »Über« 176
2 »Kultur ist eine Ordensregel«
Lebensformen-Dämmerung, Diszipünik
.
.
0
0
•
0
0
•
0
•
0
•
0
3 Schlaflos in Ephesos
208
Von den Dämonen der Gewohnheit und ihrer Zähmung durch die Erste Theorie . .
.
0
•
•
0
•
•
•
2 53
6
Inhalt
4 Habitus und Trägheit Von den Basislagern des übenden Lebens. . . . . . . . . 276 Cur bomo arrista Von der Leichtigkeit des Unmöglichen . 298 .
li
.
.
.
.
.
.
.
.
Obertreibungsverfahren
Prospekt: Rückzüge in die Ungewöhnlichkeit . . . . . . . . 6 Erste Exzentrik Von der Absonderung der Übenden und ihren Selbstgesprächen . 7 Vollendete und Unvollendete Wie der Geist der Perfektion die Übenden in Geschichten verstrickt .. . 8 Meisterspiele Von den Trainern als Garanten der Übcrtreibungskunst Trainerwechsel und Revolution 9 Über Konversionen und opportunistische Kehren . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
·
.
.
.
.
·
·
·
.
·
·
·
.
· .
·
·
·
329
338
379 424 467
III Die Exerzitien der Modemen Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts . . ro Kunst am Menschen . In den Arsenalen der Anthropotechnik r 1 Im auto-operativ gekrümmten Raum Neue Menschen zwischen Anästhesie und Biopolitik 12 Übungen und Fehlübungen . . Zur Kritik der Wiederholung . Rückblick Von der Wiedereinbettung des Subjekts zum Rückfall in die totale Sorge Ausblick . . ... .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
·
·
.
.
.
.
·
·
·
·
·
·
.
.
.
·
·
.
.
· · · · · · ·
· ·
·
·
·
·
·
·
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
·
. .
·
·
·
·
·
·
·
·
·
·
·
·
·
·
·
.
.
.
.
.
.
·
·
·
·
·
·
·
·
·
·
·
.
493 5 I9 582 639 69 1
699 715
Appamädena sampädetha. In Wachsamkeit strebt voran! Mahaparinibbana Sutta, 6, 7
·
Vor Allem und zuerst die Werke! Das heissr Übung, Übung, Übung! Der dazugehörige »Glaube« wird sich schon einstellen
,
- dessen seid versichert!
Friedrich Nietzsche, Morgenröthe
9 EINLEITUNG
ZUR ANTHROPOTECHNISCHEN WENDE
Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt- das Gespenst der Religion. Landauf, landab wird uns von ihr versichert, nach längerer Abwesenheit sei sie unter die Menschen der modernen Welt zurückgekehrt, man tue gut daran, mit ihrer neuen Präsenz ernsthaft zu rechnen. Anders als das Gespenst des Kommunismus, der im Jahr 1 848, als sein
Manifest
er
schien, kein Wiederkehrer war, sondern eine Neuheit unter den drohenden Dingen, wird der aktuelle Spuk seiner wie dergängerischen Natur vollauf gerecht. Ob er nun tröstet oder droht, ob er als guter Geist begrüßt oder als irrationaler Schatten der Menschheit gefürchtet wird, sein Auftritt, ja schon dessen bloße Ankündigung, verschafft sich Respekt, wohin man sieht- sofern man die Sommeroffensive der Gott losen von 2007 außer Betracht läßt, der wir zwei der ober flächlichsten Pamphlete der jüngeren Geistesgeschichte ver danken, gezeichnet: Christopher Hitchens und Richard Dawkins. Die Mächte des alten Europa haben sich zu einer pompösen Willkommensfeier verbündet - auf ihr versam meln sich ungleiche Gäste: der Papst und die islamischen Ge lehrten, die amerikanischen Präsidenten und die neuen Kremlherren, alle Metterniche und Guizots unserer Tage, die französischen Kuratoren und die deutschen Soziologen. Bei der versuchten Wiedereinsetzung der Religion in ihre ehemals verbrieften Rechte kommt ein Protokoll zum Tragen, das von den neu Bekehrten und frisch Faszinierten die Beichte ihrer bisherigen Verkennungen fordert. Wie in den Tagen des ersten Merowingers, der sich aufgrund einer gewonnenen Schlacht zum Kreuz bekannte, sollen auch heurigen Tags die Kinder der banalisierten Aufklärung verbrennen, was sie an-
Einleitung
10
beteten, und anbeten, was sie verbrannten.1 Bei dieser Um kehr setzen sich versunkene liturgische Intuitionen in Szene. Sie verlangen von den Novizen der postsäkularen »Gesell schaft« eine öffentliche Distanzierung von den religionskriti schen Lehrsätzen der aufklärerischen Jahrhunderte. Oiesen war die menschliche Selbstbestimmung allein zu dem Preis
Zur anrbropotcchnischcn Wende
II
liehen Chance bestimmen die Lage. Die über sich selber ins Bild gesetzte Aufklärung hat ihre Paradoxien offengelegt, sie ist bis in die Bezirke vorgedrungen, wo die Dinge, um einen bekannten Erzähler zu zitieren, »kompliziert und traurig werden«. Vom alten unbedingten Vorwärts sind nur noch müde Reste in Gebrauch. Es fehlt nicht mehr viel, und die
erlangbar erschienen, daß die Sterblichen ihre an die Überwelt
letzten Hoffnungsheger aufklärerischen Stils ziehen sich aufs
verschwendeten Kräfte zurückfordern und sie zur Optimie
Land zurück, aJs wären sie die Arnish der Postmoderne. An
rung der irdischen Verhältnisse einsetzen. Man mußte von »Gott« große Quanten an Energie abziehen, um endlich für die Menschenwelt in Form zu kommen. In dieser Kraftüber tragung gründete der Elan des Zeitalters, das sich dem großen Singularwort »Fortschritt« verschrieben hatte. Die humani
dere ewig Progressive folgen den Rufen von Nicbt-Rcgic rungsorganisationen, die sich der Rettung der Welt verschrie ben haben. Fürs übrige deuten die Zeichen der Zeit auf Revi
sion und Regreß. Nicht wenige enttäuschte Zeitgenossen möchten sich an den Herstellern und Vertreibern ihrer pro
stische Angriffslust ging soweit, die Hoffnung zu einem Prin
gressiven Illusionen schadlos halten, als ob es möglich wäre,
zip zu erklären. Aus dem Proviant derVerzweifelten sollte das
einen Verbraucherschutz für Ideen anzurufen. Der juristische
besserer Zeiten werden. Wer sich zu dieser
ersten Ursache bekannte, wählte die Erde zum Einwande
Archetypus unseres Zeitalters, der Schadensersatzprozeß, springt auf weite Lebensbereiche über. Hat man nicht an
rungsland, um dort und nur dort sich zu verwirklichen. Ab
seinen amerikanischen Spielformen gelernt, wie man am An
primum mobile
nun hieß es, die Brücken zu den Sphären da droben abzubre
fang exorbitante Summen fordern muß, um am Ende des
chen und alle frei gewordenen Kräfte in die profane Existenz
Advokatenkriegs auch nur halbwegs befriedigende Abfin
zu investieren. Wenn es Gott gäbe, er wäre damals die ein
dungen zu erhalten? Ganz offen sinnen die Nachkommen
samste Größe im Universum geworden. Oie Abwanderung
der Himmelsvertriebenen auf üppige Reparationen, ja, sie
aus dem jenseits nahm Züge einer Massenflucht an-die ak tuelle demographisch ausgedünnte Lage Osteuropas erscheint
Ginge es nach ihnen, sollte die Enteignung der Überwelt ins
daneben wie Überbesiedlung. Daß die breite Masse, von lm
wagen es, von epochalen Wiedergutmachungen zu träumen. gesamt rückgängig gemacht werden. Manche neureligiösen
manenzideologien unbeirrt, auch in den Tagen der triumphie
Unternehmer würden die stillgelegten metaphysischen Pro
renden Aufklärung sich ihre heimlichen Ausflüge über die
duktionsstärten am liebsten von heute auf morgen wieder in
Grenze gestattete, steht auf einem anderen Blatt.
Betrieb nehmen, aJs habe man eine bloße Rezession hinter
Inzwischen haben ganz andere Antriebslagen die Oberhand gewonnen. Kompliziertere Wahrnehmungen der mensch-
�
1 Jncende q ztod adorarti et adora quod incendisc : Nach d�r �hr�nik
des Gregor von Tours soll der Bischof von _Retms, Remtgms, ?.•�se
Worte gesprochen haben, während Chlodw•g 1., der �ra_nkcnkorug, »wie ein neuer Consrantin«, nach der Schlacht von Zulptch von den
Sieghelferwirkungen Christi überzeugt, ins Taufbad sricg.
sich gebracht. Europäische Aufklänmg - eine Formkrise? Ein Experi ment auf der schiefen Ebene zumindest, und im globalen Horizont gesehen eine Anomalie. Die Religionssoziologen .. sagen es unverblümt: Uberall auf der Welt wird weiterhin
kräftig geglaubt, nur bei uns hat man die Ernüchterung ver
herrljcht. Tatsächlich, warum sollten allein die Europäer
12
Einlcirung
metaphysisch Diät halten, wenn der Rest der Welt unbeirrt an den reich gedeckten Tischen der Illusion tafelt? Ich darf daran erinnern: Marx und Engels hatten das Kom
munistische Manifest
in dem Vorsatz geschrieben, das Mär
chen von einem Gespenst namens Kommunismus durch eine angreifecisehe Selbstaussage des wirklichen Kommunismus zu ersetzen. Wo bloße Geisterfurcht vorgeherrscht hatte, soll te be."ründete Furcht vor einem realen Feind des Bestehenden
:
entst hen. Auch das vorliegende Buch widmet sich der Kritik eines Märchens und ersetzt es durch eine positive These. In der Tat, dem Märchen von der Rückkehr der Religion nach dem >>Scheitern« der Aufklärung muß eine schärfere Sicht auf die spirituellen Tatsachen entgegengestellt werden. Ich werde zeigen, daß eine Rückwendung zur Religion ebensowenig möglich ist wie eine Rückkehr der Religion - aus dem ein fachen Grund, weil es keine »Religion« und keine »Religio nen« gibt, sondern nur mißverstandene spirituelle Übungssy steme, ob diese nun in Kollektiven -herkömmlich: Kirche, Ordo, Umma, sangha - praktiziert werden oder in personali sierten Ausführungen - im Wechselspiel mit dem »eigenen Gott«, bei dem sich die Bürger der Moderne privat versichern. Damit wird die leidige Unterscheidung zwischen »wahrer Religion(( und Aberglauben gegenstandslos. Es gibt nur mehr oder weniger ausbreitungsfähige, mehr oder weniger ausbrei tungswürdige Übungssysteme. Auch der falsche Gegensatz zwischen den Gläubigen und Ungläubigen entfällt und wird durch die Unterscheidung zwischen Praktizierenden und Ungeübten bzw. anders Übenden ersetzt. Tatsächlich kehrt heute etwas wieder- doch die geläufige Auskunft, es sei die Religion, die sieb zurückmelde, kann kritische Nachfragen nicht befriedigen. Es handelt sich auch nicht um die Rückkehr einer Größe, die verschwunden ge wesen wäre, sondern um einen Akzentwechsel in einem nie zertrennten Kontinuum. Das wirklieb Wiederkehrende, das alle intellektuelle Aufmerksamkeit verdiente, hat eher eine
Zur anthropotechnischcn Wende
anthropologische als eine »religiöse« Spitze-es ist, um es mit einem Wort zu sagen, die Einsicht in die immunitäre Verfas sung des Menschenwesens. Nach mehrhundertjährigen Ex
perimenten mit neuen Lebensformen hat sich die Einsicht abgeklärt, daß Menschen, gleichgültig unter welchen ethni schen, ökonomischen und politischen Bedingungen sie leben, nicht nur in »materiellen Verhältnissen«, vielmehr auch i n symbolischen Immunsystemen und rituellen Hüllen existie ren. Von deren Gewebe soll im folgenden die Rede sein. War um ihre Webstühle hier mit dem kühlen Ausdruck »Anthro
potechniken« bezeichnet werden, mag sich im Gang der Dar stellung selbst erläutern. Den ersten Schritt zur Rechtfertigung des Interesses an diesen Gegenständen möchte ich tun, indem ich an Wittgensteins bekannte Forderung erirmere, dem »Geschwätz über Ethik« ein Ende zu machen. Es ist inzwischen möglich, den Teil des ethischen Diskurses, der kein Geschwätz ist, in anthropo technischen Ausdrücken zu reformulieren. Die Arbeit an die ser Übersetzw1g bildet- wenn auch noch unter anderen Na men-seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts die kon
fuse Mitte der modernen »Kulturstudien«. Für einen
Augenblick war das ethische Programm der Gegenwart scharf ins Blickfeld gekommen, als Marx und die Junghege lianer die These artikulierten, der Mensch selbst erzeuge den Menschen. Was dieser Satz besagte, wurde im Nu von einem anderen Geschwätz verstellt, das von der Arbeit als der einzig wesentlichen Handlung des Menschen sprach. Wenn aber der Mensch tatsächlich den Menschen hervorbringt, so gerade
nicht durch die Arbeit und deren gegenständliche Resultate,
auch nicht durch die neuerdings viel gelobte »Arbeit an sich
selbst«, erst recht nicht durch die alternativ beschworene»In teraktion« oder >>Kommunikation«: Er tut es durch sein Le ben in Übungen.
Einleitung
'4
Als Übung definiere ich jede Operation, durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird, sei sie als Übung deklariert oder nicht.Z
Zur anthroporechnischcn Wende Untersuchungen hervorgehen. Gewiß, von jeher gleicht die Ideengeschichte einem Asyl für mißgeborene Begriffe- und nach dem folgenden Gang über die Stationen wird man nicht nur das Konzept »Religion« runsichtlich seines verunglück ten Designs durchschauen, ein Konzept, das an Schiefheit
Wer von der Selbsterzeugung des Menschen spricht, ohne von seiner Formung im übenden Leben zu reden, bat das Thema von vorneherein verfehlt. Wir müssen folglieb prak tisch aUes, was über den Menschen als Arbeitswesen gesagt wurde, suspendieren, um es in die Sprache des Übens bzw.
allein durch den Hyperpopanz •Kultur« übertroffen wird. Man wird dann auch verstehen, warum es angesichts der ver änderten Expositionen ebenso sinnlos wäre, für die negative Bigotterie Partei zu ergreifen, die sich in unseren Breiten seit nahezu zwei Jahrhunderten als plakativer Atheismus präsen
des selbstformenden und selbststeigernden Verhaltens zu
tiert-ein Geßlerhut, den elegante Intellektuelle gerne grüß ten, sooft sie an ihm vorbeikamen, nicht ohne bei dieser Ge
im Modus »Machen« vergegenständlicht, hat seinen Platz im
legenheit das Prädikat »intellektuell redüch«, wahlweise:
übersetzen. Nicht nur der ermattete homo faber, der die Welt Zentrum der logischen Bühne zu räumen, auch der
religiosus, der
homo
sich mit surrealen Riten an die Überwelt wen
det, darf den verdienten Abschied nehmen. Gemeinsam tre ten Arbeitende und Gläubige unter einen neuen Oberbegriff. Es ist an der Zeit, den Menschen als das Lebewesen zu ent hüllen, das aus der Wiederholung entsteht. Wie das 19. Jahr
hundert kognitiv im Zeichen der Produktion stand, das 20. im
Zeichen der Reflexivität, sollte die Zukunft sich umer dem Zeichen des Exerzitiums präsentieren. Die Einsätze, um die gespielt wird, sind nicht niedrig. Es geht in unserem Unternehmen um nicht weniger als um die Einführung einer alternativen Sprache, und mit der Sprache einer veränderten Optik, für eine Gruppe von Phänomenen, für welche die Tradition Ausdrücke wie »Spiritualität«, »Frömmigkeit«, ,.Moral«, .. Ethik« und »Askese« anzubieten pflegte. Gelingt das Manöver, so wird der herkömmliche Re ligionsbegriff, jener unselige Popanz aus den Kulissenhäu sern des modernen Europa, als der große Verlierer aus diesen 1
Ausführungen zum Übungsbegriff finden sich unten in den Ab schnitten über die Entdeckung der Pädagogik, S. 309f., über Habi rusbildung, s. 287f., überden circulus 'lJirwosus, s. soff., sowie in den ersten drei Abschnitten des u. Kapitels, S. 639-6p.
»kritisch• oder »autonom«, für sich in Anspruch zu nehmen.
Es gilt jetzt, die ganze Bühne um 90 Grad zu drehen, bis sich
das religiöse, spirituelle und ethische Material unter einem aufschlußgebenden neuen Winkel zeigt. Die Einsätze sind hoch, ich wiederhole es. Wir haben ge gen eine der massivsten Pseudo-Evidenzen der jüngeren Gei stesgeschichte anzugehen: gegen den seit erst zwei- oder dreihundert Jahren in Europa grassierenden Glauben an dje Existenz von •Religionen«, mehr noch, gegen den ungeprüf ten Glauben an die Existenz des Glaubens. Der Glaube an die Gegebenheit von »Religion« ist das Element, das Gläubige und Nicht-Gläubige heute wie gestern vereint. Er ist von
einer Unbeirrbarkeit, der jeden Präfekten der römischen Glaubenskongregation vor Neid erblassen lassen müßte.
Die Ökumene der Mißverständnisse hat die modernen Zeiten unangetastet überstanden. Kein Überwinder der Religion hat an der Existenz der Religion gezweifelt, so sehr man ihr jedes einzelne Dogma streitig machte. Keine Ablehnung bat dem Abgelehnten die Frage vorgelegt, ob es seinen Namen zu recht trüge und ob es als solches überhaupt Bestand habe. Allein aufgrund der Gewöhnung an eine Fiktion vergleichs weise jungen Darums- sie kam erst seit dem 17. Jahrhundert
t6
Einleitung
Zur :mthropotecbnsi chen Wende
in Gebrauch - kann heute von einer »Wiederkehr der Reli
losophie auf das apothekarische Niveau mißverstanden wor
gion« die Rede sein.3 Es ist der ungebrochene Glaube an die
den sein,4 wer sie mit der gebührenden Aufmerksamkeit stu
Religion als einer konstanten und universellen Größe, die
diert, kann in ihnen die seminalen Ideen zu einer umfassenden
geben und wiederkommen kann, der der aktuellen Legende
Theorie des übenden Daseins entdecken .
zugrunde liegt.
Die hier vorgeschlagene Übersetzung der religiösen, spi
Wahrend die Psychoanalyse auf dem Theorem von der Wie
rituellen und ethischen Tatsachen in die Sprache und Optik der allgemeinen Übungstheorie versteht sich als ein aufklä
derkehr des Verdrängten aufbaute, geht eine Ideen- und Ver
rungskonservatives Unternehmen -ja sogar ein konservato
haltensanalyse wie die hier vorgelegte auf das Theorem von
risches in der Sache selbst. Ein doppeltes Bewahrungsimer
der Wiederkehr des Unverstandenen zurück. Rotationsphä
esse liegt ihm zugrunde: Zum einem bekennt es sich zu dem
nomene dieses Typs sind unvermeidlich, solange das, was da war, untenaucht und wieder emporkommt, in seiner Eigenart nicht zureichend begriffen wurde. Bei dem Vorhaben, der
Kontinuum kumulativen Lernens, das wir Aufklärung nen nen und das wir Gegenwänigen, allen Gerüchten von neu erdings eingetretenen »post-säkularen« Verhältnissen zum
Sache selbst auf den Grund zu gehen, ist nur voranzukommen,
Trotz, als den inzwischen schon vier Jahrhunderte überspan
wenn man den Gegenstand weder bejaht noch ablehnt, viel
nenden Lernzusammenhang moderner Zeiten weitenragen;
mehr mit einer tiefer ansetzenden Explikation beginnt. Dies
zum anderen nimmt es die zum Teil jahrtausendealten Fäden
ist ein Projekt, das durch eine Vorhut von Forschern des 19.
auf, die uns an frül1e Manifestationen menschlichen Übungs
und frühen 20. Jahrhunderts auf den Weg gebracht wurde,
und Beseelungswissens binden, vorausgesetzt, wir sind be
wenngleich mit Mineln, deren Unzulänglichkeit längst ins
reit,
Auge springt- ich denke an Autoren wie Feuerbach, Comce, Durkheim und Weber. Immerhin, in ihren Untersuchungen nahmen die sogenannten Religionen als symbolisch geordnete Verhaltenssysteme nach und nach bestimmtere Konturen an
explizit an ihnen anzuknüpfen.
Damit ist das Schlüsselwort für alles, was man von hier an lesen wird, hingeschrieben. Das Wort »explizit«, auf die be zeichneten Gegenstände angewendet, enthält das folgende
freilich wurden die Übungsnatur des »religiösen« Verhaltens
Buch in nuce. Die erwähnte Drehung der geistesgeschichtli
und seine Fundierung in autoplastischen Prozeduren noch
chen Bühne bedeutet nichts anderes als ein logisches Manö
nirgendwo angemessen formuliert. Erst der spätere Nietzsche
ver zur Explizitmachung von Verhältnissen, die in den Über licferungsmassen unter »impliziten«, sprich: in sich eingefal
hat in seinen diätologischen Überlegungen der achtziger Jahre - man denke an die entsprechenden Seiten in seiner Selbst kreuzigungsschriEt
Ecce homo
-
Ansätze zu einer Lebens
übungslehre bzw. einer allgemeinen Asketologie vorgelegt. Mögen sie auch von flüchtigen Lesern als Rückzug der Phi-
3 Als Gründervater der später so genannten Religionsphilosophie
kann Edward Herbere von Cherbury (15 83-1648) mit seinen Schrif ten Oe Veritate (1624), De Religione Gentiliurn und Oe Rcligionc Laici (1645) gelten.
teten und zusammengedrängten Formen vorliegen. Wenn
4 Typisch hierfür Oswald Spengler in: Der Untergang des Abendlandes, München 1979, S. 462, der in Nietzsches Wende zum Lc benskunstbewußtscin ein Symptom für das Klimakterium der Kul tur« (ibid., S. 4 59) erkennen wollte. Er sah darin ein Beispiel für die Dekadenz, die ihm zufolge das ..zivilisatorische« Stadium der Kul turen bezeichnet: In dessen Verlauf verfallen die erhabenen meta physischen Weltanschauungen zu Ratgebern für Einzelne in ihren Alltags- und Verdauungssorgen. •
r8
Einleirung
Aufklärung in technischer Hinsicht das Programmwort für
Zur anrhropotechnischen Wende
Auseinanderfaltung des Bekannten in größere, hellere, pro
den Fortschritt im Bewußtsein der Explizitheit darstellt, darf
filreichere Oberflächen. Sie kann infolgedessen nie im abso
zitmachung des Impliziten die kognitive Form des Schicksals
des kognitiv Vorhandenen mit anderen Mitteln. Dabei laufen
man ohne Scheu vor großen Fonnein sagen, daß die Expli ist. Wäre es anders, hätte man zu keiner Zeit glauben dürfen,
luten Sinn innovativ sein, sie bildet stets auch die Fortsetzung
Neuheit und höhere Explizitheit auf eins hinaus. Daher gilt:
das spätere Wissen müsse zugleich das bessere sein - auf die
Je höher der Explikationsgrad, desto tiefer die mögliche, ja
derten mit dem Ausdruck »Forschung« belegen. Nur wenn
sens. Daß dieser Tisch aus Kirschholz gemacht sei, habe ich
her einer Tendenz unterliegen, sich auszufalten und für uns
das Kirschholz aus Atomen zusammensetze, nehme ich mit
gelingt - von wirklichem Wissenszuwachs sprechen. Allein
vielzitierten Atome, diese epistemologischen Zeitgenossen
aufgezwungene Untersuchung nötigen lassen), in vergrößer
immer mit Einhornpulver und Saturneinflüssen auf einer Stu
ser Annahme beruht bekanntlich alles, was wir seit Jahrhun die eingefalteten »Dinge« oder Sachverhalte von ihnen selbst
verständlicher zu werden, darf man - sofern die Ausfaltung
sofern die »Materien« spontan bereit sind (oder sich durch
unumgängliche Befremdlichkeit des neu erworbenen Wis
bisher als eine konventionelle Tatsache gelten lassen. Daß sich
der Duldsamkeit des Gebildeten zur Kenntnis, obschon die
des 20. Jahrhunderts, in ihrem Realitätswert für mich noch
ten und besser ausgeleuchteten Flächen ans Licht zu kom
fe stehen. Daß sich die Kirschholzatome bei weiterer Expli
schen Nachdruck - behaupten: Es gibt Wissenschaft in pro
auflösen: Auch dies muß ich als Endabnehmer der physika
men, kann man i m Ernst - und Ernst meint hier ontologi
gress, es gibt reale Erkenntnisgewinne, es gibt Expeditionen,
durch welche wir, das epistemisch engagierte Kollektiv, in
verhüllte Wissenskontinente vordringen, indem wir bisher
Unthematisches thematisch machen, noch Unbekanntes ans
Licht bringen und nur dunkel Mitgewußtes in ausdrücklich Gewußtes umwandeln. Auf diese Weise mehren wir das ko
gnitive Kapital unserer Gesellschaft - das letztere Wort nier
ohne Anführungszeichen. Früher hätte man wohl gesagt, die
kation in einen Nebel aus subatomaren Beinabe-Nichtsen
lischen Aufklärung akzeptieren, selbst wenn hierdurch meine
Annahmen über die Substanzialität der Substanz entscrueden
verletzt werden. Die letzte Erklärung illustriert mir am nach
drücklichsten, wie das spätere Wissen dazu tendiert, das be fremdlichere zu sein.
In der Fülle der kognitiven Neuheiten unter der modernen
Sonne gibt es keine, die an Folgenreichrum auch nur von
ferne mit dem Auftauchen und Bekanntwerden der Immun
Arbeit des Begriffs münde in eine »Produktion«. Hege! ging
systeme in der Biologie des späten 19. Jahrhunderts ver
stehe darum unvermeidlich erst am Ende ihres Dramas. Wo
Integritäten - den animalischen Organismen, den Arren, den
so weit, zu erklären, die Wahrheit sei wesenhaft Resultat - sie
gleichbar wäre. Seither kann in den Wissenschaften von den
sie sich in fertiger Gestalt enthüBe, feiere der menschliche
»Gesellschaften«, den Kulturen- nichts mehr so bleiben, wie
dem Begriff des Begriffs befassen möchte und mit dem Kon
die Immundispositive sind, durch welche die sogenannten
einer etwas weniger triumphalen, doch nicht weniger ver
zu Lebewesen, die Kulturen zu Kulturen. Allein aufgrund
Die Neuheit des Neuen geht, wie bemerkt, zurück auf die
ihrer immunitären Qualitäten steigen sie auf in den Rang von selbstorganisierenden Einheiten, die sich unter stän-
Geist den Sonntag des Lebens. Da ich mich hier nicht mit zept Arbeit etwas anderes vorhabe, begnüge ich mich mit bindlichen These: Es gibt kognitiv Neues unter der Sonne.
es war. Erst zögernd hat man begonnen zu verstehen, daß es
Systeme erst eigentlich zu Systemen werden, die Lebewesen
Einleitung
20
digem Bezug auf eine potentiell wie aktuell invasive und irri
Zur anthropotcchnischcn Wende
21
ligiöses oder spirituelles zu bezeichnen gewohnt ist. Für
tationenträchtige Umwelt erhalten und reproduzieren. Diese
jeden Organismus ist seine Umwelt seine Transzendenz,
ren Entdeckung auf die Forschungen von llja Metschnikow
der Umwelt her droht, desto transzendenter steht sie ihm
Leistungen sind bei den biologischen Immunsystemen- de
und je abstrakter und unbekannter die Gefahr ist, die von
und der Schüler Roben Kochs, namentlich Paul Ehrlich, am
gegenüber.
drucksvoll ausgebildet. An ihnen läßt sich die verblüffende
Heidegger zu reden, schließt das zuvorkommende Gcfaßt
Ende des 19. Jahrhunderts zurückgehen - besonders ein
Idee ablesen, wonach schon relativ einfache Lebewesen wie Insekten und MoUusken eine Art angeborenes »Vorauswis
Jede Geste des »Hineingehaltenseins« ins Offene, um mit
sein des lebenden Systems auf die Begegnung mit potemiell
todgebenden Irritations-und Invasionsmächten ein. »Mit al
sen« von den insekten- und molluskentypischen Lebensrisi
len Augen sieht die Kreatur/das Offene«, statuiert Rilke am
dieses Niveaus als verkörperte Verletzungserwartungen
a
der Inneres auf Umwelt bezieht. Der Zug ins Offene ge schieht evolutioaär mehrsrufig: Obwohl praktisch alle Orga
Unter diesem Licht gesehen, erscheint das Leben selbst als
flikträume erster Stufe transzendieren, die ihnen jeweils als
ken in sich tragen. Folglich kann man die lmmw1systeme und als entsprechende Schutz- und Reparaturprogramme
priori definieren.
eine mit autotherapeutischen oder »endokliniscben« Kompe
Beginn der Achten
Elegie - das Leben selbst ist ein Exodus,
nismen oder lntegritäten in die Überraschungs- und Kon
ihre Umwelten zugeordnet sind (sogar PEianzen tun dies, und
tenzen ausgestattete Imegrationsdynamik, die sich auf einen
Tiere um so mehr), erreichen nur die wenigsten -soviel wir
ne ebenso angeborene wie- bei höheren Organismen - adap
zweiter Stufe. Kraft dieser wird die Umwelt zur Welt ent
artspezifischen Überraschungsraum bezieht. Ihm kommt ei
tiv erworbene Zuständigkeit für die Verletzungen und Inva
wissen allein die Menschen - die Transzendenzbewegung
grenzt, als Integral aus Manifestem und Latentem. Der zweite
sionen zu, die ihm in der fest zugeordneten Umwelt oder in
Schritt ist das Werk der Sprache. Diese errichtet nicht nur das
munsysteme könnte man ebensogut als organismische Vor
thustras Tieren, die dem
ständig sprungbereiten Effizienz dieser Vorrichtungen setzt
hausflüchtigen Tendenzen, mit denen der Mensch kraft seiner inneren Überschüsse dem Offenen entgegengeht. Unnötig zu
der eroberten Umgebung regelmäßig begegnen. Solche Im
formen eines Sinns für Transzendenz beschreiben: Dank der
sieb das Lebewesen mit seinen potentiellen Todbringern aktiv
auseinander und stellt ihnen sein körpereigenes Vermögen zur Überwindung des Tödlichen entgegen. Solcher Leistungen
»Haus des Seins« - Heidegger entlieh die Wendung bei Zara
Genesenden
vorhalten: »ewig baut
sich neu das Haus des Seins«; sie ist auch das Vehikel für die
erklären, warum erst beim zweiten Transzendieren der älteste Parasit der Welt, die Überwelt, in Erscheinung tritt.
wegen hat man Immunsysteme dieses Typs mit einer »Kör
Ich verzichte darauf, schon jetzt die Konsequenzen dieser Überlegungen für den Humanbereich anzudeuten. Vorläufig
aber schon auf dieser Ebene um die Aushandlung eines modus
genügt es, festzuhalten, daß die Fortsetzung der biologischen
ferner, sofern diese todgebend sein können, mit »höheren«
fung der Immunsysteme führt. Wir haben Grund, bei Men
perpolizei« oder einer Grenzschutztruppe verglichen. Da es
vivendi mit
fremden und unsichtbaren Mächten geht - und
und »unheimlichen« Mächten -, liegt hier eine Vorstufe des Verhaltens vor, das man in menschlichen Kontexten als re-
Evolution in der sozialen und kulturellen zu einer Aufstu
schen nicht bloß mit einem einzigen Immunsystem zu rech
nen, dem biologischen, das in evolutionärer Sicht an erster, in
22
Einleitung
Zur anthropotcchnischcn Wende
entdeckungsgeschichtlicher jedoch an letzter SteHe steht. In
stemen heute zu einer Überlebensbedingung der Kulturen«
der Humansphäre existieren nicht weniger als drei Immun
selbst geworden ist, ist Kulturwissenschaft nötig.7
funktionaler Ergänzung übereinandergeschichtet arbeiten:
Wir werden es in diesem Buch naturgemäß vor allem mit den Manifestationen der dritten Immunitätsebene zu tun be
systeme, die in starker kooperativer Verschränkung und
,.
abhängigen biologischen Substrat haben sich beim Menschen
kommen. Ich trage Materialien zur Biographie des homo im munologicus zusammen, wobei ich mich durch die Annahme
im Lauf seiner mentalen und soziokultuellen Entw1cklung
leiten lasse, hier sei vor allem der Stoff zu finden, aus dem die
Über dem weitgehend automatisierten und bewußtseinsun
zwei ergänzende Systeme zur vorwegnehmenden Verlet
Anthropotechniken sind. Ich verstehe hierunter die mentalen
zungsverarbeitung herausgebildet: zum einen die sozio-im
und physischen Übungsverfahren, mit denen die Menschen
munologischen Praktiken, insbesondere die juristischen und
verschiedenster Kulturen versucht haben, ihren kosmischen
solidaristischen, aber auch die militärischen, mit denen Men
und sozialen Immunstatus angesichts von vagen Lebensrisi
schen in »Gesellschaft« ihre Konfrontationen mit fern-frem
ken und akuten Todesgewißheiten zu optimieren. Erst wenn
den Aggressoren und benachbarten Beleidigern oder Schädi
diese Prozeduren in einem breiten Tableau der menschlichen
gern abwickeln;5 zum anderen die symbolischen beziehungs weise psycho-immunologischen Praktiken, mit deren Hilfe es den Menschen von alters her gelingt, ihre Verwundbarkeit durch das Schicksal, die Sterblichkeit inbegriffen, in Form
»Arbeiten an sich selbst« erfaßt sind, lassen sich die jüngsten gentechnischen Experimente evaluieren, auf dje man in der aktuellen Debatte den 1997 wiedergeprägten Begriff »An
thropotechnik« gern verengt.8 Was ich zu diesem Gegenstand
von imaginären Vorwegnahmen und mentalen Rüstungen
aus heutiger Sicht zu sagen habe, werde ich im Gang der
mehr oder weniger gut zu bewältigen.6 Es gehört zur Ironie
Darstellung ad hoc einflechten. Die Tendenz meiner Stellung
dieser Systeme, daß sie einer Explikation ihrer dunklen Seite fähig sind, obwohl sie von Anfang an bewußtseinsabhängig existieren und sich für selbsttransparente Größen halten. Sie funktionieren nicht hinter dem Rücken der Subjekte, sondern
nahme läßt sich bereits am Titel dieses Buchs ablesen: Wer darauf achtet, daß es heißt: »Du mußt
dein
Leben ändern!«
und nicht: »Du sollst das Leben verändern!«, hat schon im ersten Durchgang verstanden, worauf es aokommt.9
sind ganz in deren intentionales Verhalten eingebettet nichtsdestoweniger ist es möglich, dieses Verhalten besser zu verstehen, als es von seinen naiven Agenten verstaoden wird. Weil es sich so verhält, ist Kulturwissenschaft möglich;
und weil nicht-naiver Umgang mit symbolischen lmmunsy5 Über
das ..Rechtssystem als Immunsystem des Gesellschafts systems« vgl. Niklas Luhmann, SoziaJc Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 5o9f. 6 Mit Problemen dieses Typs hat es u. a. die neue Wissenschaft der Psychoneuroimmunologic zu tun, die sich mit der Verschränkung mehrerer Barenstoffsysteme (Nervensystem, Hormonsystem, Im munsystem) befaßt.
7 Zur Übcrlcbensbedeutsamkeit von Kulturwissenschaft im globalen Kontext siehe den »Ausblick« dieses Buches, S. 699f. 8 Vgl. Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark (zuerst Basel 1997), Frankfurt am Main '999· lm übrigen wa.r der Begriff schon während der heroischen Jahre der Russischen Revolution in Ge brauch; man kann ihn im dritten Band der Großen Sowjetischen Enzyklopädie von 1926 nachschlagen, wo er vor allem die spekulativ antizipierten Möglichkeiten biotechnischer Manipulationen an der menschlichen Erbsubstanz bezeichnete. 9 Die hierfür einschlägige Antithese von Selbstverbesserung und Weltverbesserung wird unten im dritten Kapitel erläutert, wo von der zunehmenden Veräußerlichung des metanoetischen Imperativs in der Moderne die Rede ist.
Einleirung
Der Held der folgenden Geschichte, der homo
cus,
Zur anthropotechnischen Wende
immunologi
der seinem Leben mitsamt dessen Gefährdungen und
In Wahrheit steht der Übergang von der Natur in die Kul tur und umgekehrt seit jeher weit offen. Er führt über eine
Überschüssen eine symbolische Fassung geben muß, ist der
leicht zu betretende Brücke - das übende Leben. Für ihre
mit sich selbst ringende, der um seine Form besorgte Mensch
Errichtung haben die Menschen sich engagiert, seit es sie gibt
-wir werden ihn als den ethischen Menschen näher charak terisieren oder besser: als den
artista,
homo repetitivus,
den
homo
den Menschen im Training. Keine der kuranten Ver
haltens- und Handlungstheorien ist imstande, den übenden Menschen zu erfassen- im Gegenteil, wir werden verstehen, wieso die bisherigen T heorien ihn systematisch zum Ver schwinden bringen mußten, egal, ob sie das beobachtete Feld in Arbeit und Interaktion einteilten oder in Verfahren und
-vielmehr, es gibt die Menschen erst dadurch, daß sie sich für besagten Brückenbau verwenden. Der Mensch ist das ponti fikale Lebewesen, das von den ältesten Stadien seiner Evolu tion an zwischen den Brückenköpfen in der Leiblichkeit und denen in den Kulturprogrammen traditionstaugliche Bögen schlägt. Von vorneherein sind Natur und Kultur durch eine breite Mitte aus verkörperten Praktiken verbunden - in ihr haben die Sprachen, die Rituale und die Handgriffe der Tech
Kommunikationen oder in aktives und kontemplatives Le
nik ihren Sitz, sofern diese Instanzen die universalen Gestal
ben. Mit einem anthropologisch breit fundierten Übungsbe griff bekommen wir endüch das Instrument in die Hand, um
ten automatisierter Künsdichkeiten verkörpern. Diese Zwi schenzone bildet eine formenreiche, variabel-stabile Region,
die methodisch angeblich unüberwindliche Kluft zwischen
die sich mit konventionellen Ausdrücken wie Erziehung, Sit
den biologischen und den kulturellen Immunitätsphänome
te, Gewohnheit, Habitusformung, Training und Exerzitium
nen, also zwischen natürlichen Prozessen einerseits, Hand lungen andererseits, zu überbrücken. Daß von der einen Sphäre in die andere keine direkten Übergänge offenstehen, ist in endlosen Diskussionen über
vorläufig hinreichend klar bezeichnen läßt - ohne daß man auf die Vertreter der »Humanwissenschaften« warten müßte, die mit ihrem Kulrur-Getöse für die Verwirrung sorgen, zu
deren Auflösung sie dann ihre Dienste anbieten. In diesem
die Differenz von Natur- und Kulturphänomenen- und über
»Garten des Menschlichen« - um an eine geglückte nicht
die Methoden ihrer wissenschaftlichen Erschließung - oh
physikalische Formel des Physikers Carl Friedrich von
genug behauptet worden. Die Forderung nach einem Di
Weizsäcker zu erinnern10 werden die folgenden Untersu
rekrübergang stellt jedoch eine überflüssige Schikane dar,
chungen ihre Gegenstände finden. Gärten sind umfriedete
von der man sich nicht beirren lassen sollte. Auf ihr bestehen
Bezirke, in denen Gewächse und Künste zusammentreffen.
bezeichnenderweise vor allem diejenigen, die für die hier.w
Sie bilden »Kulturen<< in einem unkompromittierten Sinn des
lande so genannten Geisteswissenschaften ein von metaphy
Wortes. Wer die Gärten des Menschlichen betritt, stößt auf
sischen Zäunen abgeschirmtes Reservat reklamieren. Manche
die mächtigen Schichten geregelter innerer und äußerer
Verteidigerder Geisteswelt wollen den Graben zwischen Na
Handlungen mit immunsystemischer Tendenz über biologi
turereignissen und Freiheitswerken so tief wie möglich aus
schen Substraten. Angesichts der weltweiten Kulturenkrise,
heben-nötigenfalls bis in die Abgründe eines ontologischen
zu der auch die eingangs erwähnten gespenstischen oeu-reli-
Dualismus, vorgeblich um die Kronkolonien des Geistigen vor naturalistischen Übergriffen zu bewahren. Wir werden sehen, was hiervon zu halten ist.
ro
C. F. v. W, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur ge schicht lic h en Anthropologie, München 1978.
Einleirung
giösen Episoden zählen, ist es kein bloßes akademisches Plai
Zur amhropotechnischen Wende
27
nun um die reale oder behauptete Gleichheit der Menschen
sir, wenn die Explikation dieses Bereichs auf die Tagesord
vor dem biologischen Gattungserbe handelt oder um die
nung der Zivilisationsparlamente gesetzt wird.
virtuelle Gleichwertigkeit der Kulturen vor dem Gerichts
11
hof der Überlebenswürdigkeit: Sie muß doch stets der Tat Eine übungsanthropologische Studie kann aus internen
sache Rechnung tragen, daß Menschen unumgänglich unter
Gründen unmöglich unengagiert und unparteilich verfahren.
vertikalen Spannungen stehen, in allen Epqchen und in
Dies ergibt sich aus dem Umstand, daß jeder Diskurs über
sämtüchen Kulrurräumen. Wo immer man Menschenwesen
»den Menschen<< früher oder später über die Grenzen der
begegnet, sind sie i n Leistungsfelder und Statusklassen ein
bloßen Beschreibung hinausgeht und normative Ziele ver
gebettet. Der Verbindlichkeit solcher Hierarchiephänomene
folgt- ob diese nun offengelegt werden oder nicht. Zu keiner
kann sich selbst der äußere Beobachter nicht ganz entziehen,
Zeit war das deutlicher zu erkermen als in der frühen euro
sosehr er sich um die Einklammerung seiner Stammesidole
päischen Aufklärung, als die Anthropologie als die ursprüng
bemüht. Ganz offensichtlich gibt es gewisse Meta-Idole,
liche »bürgerliche Wissenschaft« aus derTaufe gehoben wur
deren Autorität sich kulturenübergreifend geltend macht -
de. Damals begann die neue Wissenschaft vom Menschen sich
es handelt sich offensichtlich um Universalien der Lei
als das moderne Paradigma von Philosophie vor die überlie ferten Disziplinen der Logik, der Ontologie und der Ethik zu
stungsrollen, der Statuserkennung und der Exzellenz, von denen sich niemand emanzipieren kann, beim Eigenen so
schieben. Wer sich in die Debatte über den Menschen ein
wenig wie beim Fremden, ohne in die Position des Barbaren
schaltete, tat dies, um - »progressiv« - die Gleichung von
zu geraten.
Bürger und Mensch geltend zu machen, wobei man entweder
Fatalerweise liefert der Terminus »Barbar« das Paßwort,
die Adligen als Sezessionisten der Menschheit abschaffen
das den Zugang zu den Archiven des 20. J ahrhunderrs öffnet.
wollte oder die Menschheit insgesamt in den Adelsstand zu
Es bezeichnet den leistungsverächter, den Vandalen, den Sta
erheben suchte, oder um- »reaktionär« - den Menschen als das erbsündige, korrumpierte und labile Tier zu porrraitieren, das man in seinem eigenen Interesse besser nie aus der Hand seiner Zuchtmeister, mittelalterlich gesprochen: seiner conec
tores,
entläßt.
Die unüberwindbare Parteilichkeit der anthropologischen Theorie ist mit der Natur des Gegenstands intim verflochten. Denn sosehr die allgemeine Rede über »den Menschen« von einem egalitaristischen Pathos durchdrungen ist, ob es sich r1
Über erweiterten Parlamentarismus vgl. Bruno Latour, Making Things Public. Atmospheres of Democracy, K� rlsruhc 2005, sowie _ Das Parlament der Dinge. Für eine polirische Okologie, Frankfun am Main 2001. Zum aUgemeinen Programm der Zivilisierung von Kulturen vgl. Bazon Brock, Der Barbar als Kulturheld, Köln 2002.
ru sleugner, den Ikonoklasten, den Verweigerer der Anerken nung für jede Art von Ranking-Regel und Hierarchie. Wer das 20. Jahrhundert verstehen will, muß stets den barbari schen Faktor im Auge behalten. Gerade für die jüngere Mo derne war und blieb es typisch, eine Allianz zwischen Barba rei und Erfolg vor großem Publikum zuzulassen, anfangs mehr unter der Form von trampelbaftem Imperialismus, heu te in den Kostümen der invasiven Vulgarität, die durch die Vehikel der Popularkultur in praktisch alle Bereiche vor dringt. Daß die barbarische Position im Europa des 20. Jahr hunderts selbst unter den Vertretern der Hochkultur zeitwei lig als wegweisend galt, bis hin zu einem Messianismus der Unbildung, ja einer Utopie des Neuanfangs auf der leeren Tafel der Ignoranz, illustriert das Ausmaß der Zivilisations-
Einle.irung
krise, die dieser Kontinent in den vergangeneo einhundert fünzig Jahren durchlaufen hat - die Kulturrevolution nach unten inbegriffen, die in unseren Breiten das 10. Jahrhundert durchzieht und ihren Schatten auf das 2 1 . Jahrhundert vor
auswirft. Da die nachfolgenden Seiten vom übenden Leben handeln, führen sie, ihrem Gegenstand entsprechend, zu einer Expedi tion in das wenig erforschte Universum der menschlichen Vertikalspannungen. Der platonische Sokrates hatte das Phä nomen für die okzidentale Kultur erschlossen, als er expressiv
verbis davon sprach, der Mensch sei das Wesen, das potentiell »sich selbst überlegen« ist.12 Ich übersetze diesen Hinweis in die Beobachtung, daß alle »Kulturen«, »Subkulturen<< oder »Szenen« auf Leitdifferenzen aufbauen, mit deren Hilfe das Feld menschlieber Verhaltensmöglichkeiten in polarisierte Klassen unterteile wird. So kennen die asketischen »Kultu ren« die Leitdifferenz Vollkommen versus Unvollkommen, die »religiösen« »Kulturen<< die Leitdifferenz Heilig versus Profan, die aristokratischen »Kulturen« die von Vornehm versus Gemein, die militärischen »Kulturen« die von Tapfer versus Feige, die politischen »Kulturen<< die von Mächtig
versus Ohnmächtig, die administrativen »Kulturen« die von
Zur anthropotechniscben Wende Parteinahme für den ersten Wert, der im jeweiligen Feld als Attraktor gilt, während dem zweiten Pol durchwegs die Funktion eines Repulsionswerts oder einer Vermeidungsgrö ße zukommt. Was ich hier die Attraktoren nenne, sind ihrer Wirkungs weise nach die Richtgrößen von Vertikalspannungen, die in psychischen Systemen für Orientierung sorgen. Die Anthro pologie darf die Wirklichkeit solcher Größen nicht länger außer Betracht lassen, will sie an den entscheidenden Vekto ren der
conditio hltmana
nicht vorbeireden. Nur aus der
Wahrnehmung der »von oben<< her ansetzenden Zugkräfte läßt sich begreiflich machen, warum und unter welchen For men sich der homo sapiens, den uns die Paläontologen bis in den Eingangsbereich der geisteswissenschaftlichen Fakultät anliefern, zu dem aufsteigenden Tendenztier hat entwickeln können, als das die Befunde der Ideenhistoriker und der Weltreisenden ihn mehr oder weniger
um:sono
beschreiben.
Wo immer man den Angehörigen der humanen Gattung be gegnet, sie verraten überaiJ die Züge eines Wesens, das zur surrealistischen Anstrengung verurteilt ist. Wer Menschen sucht, wird Akrobaten finden. Der Hinweis auf den Pluralismus der Leirunterscheidun gen soll nicht nur auf die Betriebsbedingungen der vielfälti
Vorgesetzt versus Nachgeordnet, die athletischen »Kulturen«
gen »Kulturen« oder »Szenen« aufmerksam machen. Ein sol
die von Exzellenz versus Mittelmaß, die ökonomischen
cher Pluralismus der Leitunterscheidungen deutet auch eine
»Kulturen« die von Fülle versus Mangel, die kognitiven
Erklärung an, wie es in der Geschichte der »Kulturen«, zumal
>>Kulturen« die von Wissen versus Unwissen, die sapientalen »Kulturen« die von Erleuchtung versus Verblendung. 13 Was
und Vermischungen der anfangs geschiedenen Bereiche, zu
diese Differenzierungen durchweg gemeinsam haben, ist die
Umkehrungen der Wertvorzeichen und Überkreuzungen der
Siehe hierzu unten S. 26of. I 3 Vgl. hierzu: Thomas Macho, Neue Askese? Zur Frage nach der
den bis heute attraktiven Formen von Spiritualität und Zivi
tigen Alternative von Sattheit und Hunger die Lcitdiffcrcnz Leer
erfolgreich in fremden Zonen einzunisten, gibt es die spiri
in ihren heißeren und kreativeren Phasen, zu Überlagerungen
Disziplinen hat kommen können - zu Phänomen mithin, die 12
Aktualität des Verzichts, in: Merkur 54, 1994/Heft 7, Stuctgart 1994, S. 583-593, worin hinsichtlich der kulturgeschichtlich mäch
versus Vol l erläutert wird.
lisiertheit zugrunde liegen . Weil die Leirunterscheidungen aus ihrem ursprünglichen Feld auswandern können, um sieb tuellen Chancen, die uns noch immer als die höheren und
Einleitung
30
höchsten Möglichkeiten des Menschen faszinieren: Dazu
rechnen eine nicht-ökonomische Definition von Reichtum;
Zur anthropou:chnischcn Wende
31
nicht, stößt der Theoretiker unweigerlich auf seine eigene Verfaßtheit, jenseits von Bejahung und Verneinung.
eine nicht-aristokratische Definition des Vornehmen; eine nicht-athletische Definition von Spitzenleistung; eine nicht herrschaftliche Definition von Oben; eine nicht-asketische
Dasselbe gilt für das Phänomen der Vertikalspannungen, oh ne die es keine absichtsvollen Übungen gibt. Hinsichtlich
Definition von Vollkommenheit; eine nicht-militärische De
Spannungen dieser Art wird der Theoretiker nichts unter
Weisheit und Treue.
chen Bereitschaft zur Abklärung des Befangenmachenden
möchte ich ein zusätzliches Wort über die Parteilichkeit des
fektion durch die Sache selbst als Zeichen seiner philosophi
naheliegendes Mißverständnis geben. Die folgenden Unter
Modus des Denkens dar, der durch die radikalste Form der
finition von Tapferkeit, eine nicht-bigotte Definition von Um diese vorbereitenden Bemerkungen abzuschließen,
vorliegenden Buchs sagen und einen Warnhinweis auf ein
nehmen, um seine Befangenheit abzuwehren - von der übli
abgesehen. Das anthropologische Studium begreift die Af schen Ausrichtung. Tatsächlich stellt die Philosophie den
Kom
Voreingenommenheit geprägt ist - die Passion des In-der Welt-Seins. Die Leute vom Fach als einzige ausgenommen,
Interesselosigkeit, gestatten, auch wenn die Zeichen auf
bleibt, was weniger als dieses Passionsspiel bietet. Für die
suchungen gehen von ihrem eigenen Ergebnis aus: Sie bezeu gen die Erfahrung, daß es Gegenstände gibt, die ihrem
mentator keine vollkommene epocbe, keinen Rückzug in die
Theorie stehen - somit auf Abstinenz von Vorurteilen, Ka
spürt praktisch jeder, daß philosophisch alles ohne Belang
umfassend absorbierenden Beschäftigungen des Menschen
genstand, der seinen Analytiker nicht in Ruhe läßt, haben
schlagen Kulturanthropologen den schönen Terminus deep play vor. Aus der Perspektive einer Theorie des übenden Le
sich der Autor ganz hinter dem Zaun der Absichtslosigkeit
den Höhen bewegt werden.
unentrinnbare Selbstbezüglichkeit, indem sie ihnen den
ich behauptete, es läge nahe. Es folgt aus dem Umstand,
pricen und eifernden Obsessionen. Mit einem solchen Ge wir es hier zu tun. Es wäre dem Thema nicht gemäß, wollte verbergen. Die Materie selbst verwickelt ihre Adepten in eine
übenden - den »asketischen«, formfordernden und habitus bildenden Charakter ihres eigenen Verhaltens vor Augen -
stellt. In seiner Abhandlung über die Götterkämpfe, die dem
antiken dionysischen Theater zugrunde liegen, hatte der jun
ge Nietzsche notiert: »Ach! Es ist der Zauber dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen muss! «14 Auf analoge
Weise wird eine Anthropologie des übenden Lebens von ih rem Gegenstand infiziert. Beim Umgang mit Übungen, As
kesen und Exerzitien, sie seien als solche deklariert oder 14 F. N., Die Geburt der Tragödie aus dem
München 1980, S. 102.
Geiste der Musik, KSA
1,
bens ist zu ergänzen: Die tiefen Spiele sind diejenigen, die von Zuletzt die Warnung vor dem Mißverständnis, von dem
daß gegenwärtig eine Vielzahl von »religiös« Interessierten
an einer breit angelegten anti-naturalistischen Mobilmachung
teilnimmt, mit deren Hilfe die vorgeblichen wie die tatsäch
lichen Übergriffe der reduktiven Wissenschaften auf die ge heiligten Bezirke des Erlebten und des qualitativ Empfunde
nen abgewehrt werden sollen. Man versteht unmittelbar, wie die Argumente gegen den Naturalismus der epistemologi schen Frühverteidigung von Glaubenstatbeständen dienen.
Wer das Erlebte in eine innere Burg versetzt, welche d ie
szientistischen Sarazenen von heute und morgen nicht er obern können, darf fürs erste glauben, genug getan zu haben,
um diese empfindlichen Güter unter philosophischen Schutz
Einleitung
Zur anthropotechnischen Wende
33
zu stellen. Damit werden, wenn schon nicht die Glaubens
genannten Binnensprachen sind, so läßt sich zeigen, bereits in
inhalte selbst, so doch die Bedingungen der Möglichkeit von
den zahllosen »religiös« oder ethisch codierten Übungssyste
Gläubigkeit überhaupt abgesichert. Was man den Naturali sten - heute vor allem durch forsche Neurologen vertreten vorhält, und in der Regel zu Recht, ist ihre vom Fach her vorgegebene Neigung, die Tatsachen des Bewußtseins in funktionaler Verfremdung und äußerer Reflexion aufzufas
men enthalten, so daß ihre Explizitmachung keine Überfrem dung mit sich bringt. Mit ihrer HiJfe wird das, was die hei ligen Schriften und altehrwürdigen Regeln von sich aus sagen, in einer dicht anschliegenden Alternativsprache noch einmal gesagt. Wiederholung plus Übersetzung plus Generalisierung
sen, ohne dem unauflösbaren Eigensinn von Vorsrellungsin
ergibt, richtig gerechnet, Verdeutlichung. Wenn so etwas wie
halten, wie sie in der Erste-Person-Perspektive auftreten, ge
Progress in Religion existiert: Er kann sich nur als wachsende
recht werden zu können. A n die Adresse derer gerichtet, die mit diesen Denkfiguren umgehen,15 möchte ich erklären, daß die folgenden Unter suchungen in ihrem Kernbereich weder naturalistische noch funktionalistische Interessen bedienen, obschon mir die Wahrung der Chance von Anschlüssen an die Ergebnisse solcher Forschungen auch von der »Geist-Seite« her wün schenswert erscheint - insbesondere unter dem bereits er wähnten immunologischen Aspekt. Wenn es in meinem Vor haben zu einer Verfremdung oder stellenweise provozieren den Neubeschreibung der Gegenstände kommt, dann nicht,
weil externe Logiken an sie herangetragen werden, wie man es etwa beobachtet, wenn Neurowissenschaftler über Chri
stologie16 oder Genetiker über die DNA von Monotheisten sprechen. 1 7 Die Verfremdung, die von meinen theoretischen Übungen ausgeht, falls sie als solche empfunden wird, erklärt sich ausschließlich durch interne Übersetzungen, dank wel cher die anthropotechnischen Binnensprachen in den spiri tuellen Systemen selbst explizit gemacht werden. Die hier so
1
5 Exemplarisch Heinz-Theo Homann, Das funktionale Argument.
Konzepte und Kritik funktionslogischer Religionsbegründung,
Paderbom 1997.
16 Vgl. Detlef Linke, Religion als Risiko. Geist, Glaube und Gehirn, Rowohlr 2003.
17 Vgl. Dean Hamer, Das Gottes-Gen. Warum uns der Glaube im Blut liegt, München 2oo6,
s.
2o7f.
Explizitheit manifestieren.
Der Planet der Übenden
37
I
AUS DEM STEIN RILKES ERFAHRUNG
DER BEFEHL
lch stelle zunächst ein ästhetisches Exempel vor, um das Phänomen der Vertikalspannungen und ihre Bedeutung für die Reorientierung der konfusen Existenz moderner Men schen zu erläutern: Rainer Maria Rilkes bekanntes SonettAr chaischer Torso Apollos, das den Zyklus Der Neuen Gedichte Anderer Teil aus demJahr I 908 eröffnet. Der Ansatz bei einem dichterischen Text scheint günstig - abgesehen davon, daß ich aus ihm den Titel dieses Buchs entliehen habe-, weil ein sol cher wegen seiner Zugehörigkeit zum künstlerischen Feld we niger gefährdet ist, jene anti-autoritären Reflexe zu provozie ren, die sich heute bei Berührungen mit dogmatisch Gesagtem oder aus der Höhe Gesprochenem nahezu zwanghaft einstel len- »was heißt schon Höhe!« Am ästhetischen Gebilde, und nur an ihm, haben wir gelernt, uns einer nicht-versklavenden Form von Autorität, einer nicht-repressiven Erfahrung von Rangdifferenz auszusetzen. Das Kunstwerk darf sogar uns, den der Form Entlaufenen, noch etwas »sagen«, weil es ganz offensichtlich nicht die Absicht verkörpert, uns zu beengen. »La poesie ne s'impose plus, eile s'expose.« 1 Was sich selbst ausgesetzt und in der Prüfung bewährt hat, gewinnt unange maßte Autorität. Im ästhetischen Simulationsraum, der zu gleich der Ernstfallraum für Gelingen und Mißlingen des künstlerischen Gebildes ist, kann die machtlose Superiorität der Werke auf Beobachter einwirken, die ansonsten empfind lich darauf achten, keinen Herrn über sich zu haben, keinen alten und keinen neuen. r
Paul Celan, in: ders., Gesammelte Werke in sieben Bänden, Dritter Band, Frankfurt am Main 1983, S. 18 1 .
Der Planet der Übenden
Rilkes Torso-Gedicht ist auf besondere Weise geeignet, die Frage nach der Quelle der Autorität zu stellen, weil es von sich her ein Experiment über das Sieb-etwas-sagen-Lassen darstellt. Wie man weiß, hatte Rilke unter dem Einfluß Au guste Rodins, dem er zwischen 1905 und 1906 als Privatse kretär in Meudon zur Hand gegangen war, sich von der ju gendstilhaften, sensibilistisch-atmosphärischen Dichtungs weise seiner Anfangsjahre abgewandt, um eine stärker vom •>Vorrang des Objekts« bestimmte Kunstauffassung zu ver folgen. Das proto-moderne Pathos, dem Gegenstand den Vortritt zu lassen, ohne ihn in der Fa�on der alten Meister »naturgetreu« abzubilden, führte bei Rilke zum Konzept des Ding-Gedichts - und hierdurch zu einer vorübergebend überzeugenden neuen Antwort auf die Frage nach der Quelle ästhetischer und ethischer Autorität. Von nun an sollen es die Dinge selbst sein, von denen alle Autorität ausgeht - oder besser: von diesem jeweils aktuellen singulären Ding, das sich an mich wendet, indem es ganz den Blick beansprucht. Dies ist nur möglich, weil Ding-Sein jetzt von sich her nichts an deres bedeuten soll als: etwas zu sagen haben. Rilke führt auf seinem Gebiet und mit seinen Mitteln eine Operation aus, die man philosophisch als die »botschaftliche Transformation des Seins« (vulgo linguistic turn) umschrei ben könnte. »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache«, wird Heidegger sagen - was umgekehrt die These impliziert: Sprache, die vom »Sein<< verlassen ist, gerät zum Geschwätz. Dann und nur dann, wenn das Sein sich in privilegierten Dingen zusammenzieht und auf dem Umweg über diese Din ge sieb an uns wendet, besteht Grund zu der Hoffnung, der anschwellenden Beliebigkeit zu entgehen, ästhetisch wie phi losophisch. Angesichts der galloppierenden Inflation des Ge schwätzes mußte eine solche Hoffnung zahlreiche Künstler und »Geistige« um 1900 in ihren Bann ziehen. Inmitten der allgegenwärtigen Geschäfte mit den prostituierten Zeichen konnte das Ding-Gedicht eine Aussicht auf die Möglichkeit
1 Der Befehl aus dem Stein
39
einer Rückkehr zu glaubwürdigen Sinnerfahrungen eröffnen. Es vermochte dies, indem es die Sprache an den Goldstandard des von den Dingen selbst Mügeteilten band. Wo Beliebigkeit ausgeschaltet wird, soll Autorität aufleuchten. Es liegt auf der Hand, daß nicht jedes beliebige Etwas in den Rang eines Dings befördert werden kann - ansonsten wäre erneut alles und jedes sprechend, ja, das Geschwätz würde sieb von den Menschen auf die Sachen ausdehnen. R.iJke privilegiert zwei Kategorien von »Seienden«, um es in der pergamentenen Diktion der Philosophie zu sagen, die für die hohe Aufgabe, botschaftliehe Dinge zu sein, in Frage kommen - die Artifizien und die Lebewesen -, wobei die letzteren von den ersten her ihre besondere Note erhalten, als wären die Tiere die höchsten Kunstwerke des vormensch liehen Seins. Beiden ist eine botschaftliehe Energie inhärent, die sich nicht von selber aktiviert, sondern des Dichters als Decoders und Überbringers bedarf. Hierin hat die Kompli zenschaft zwischen dem sprechenden Ding und der Rilke schen Dichtung ihren Grund - so wie nur wenig später die Heideggerschen Dinge mit der »Sage« einer besinnlichen Philosophie konspirieren, die keine bloße Schuldisziplin mehr sein will. Mit diesen etwas akzelerierten Hinweisen ist ein Rahmen umrissen, innerhalb dessen wir eine kurze Lektüre des Torso Gedichts versuchen können. Ich gehe davon aus, daß der Torso, von dem im Sannett die Rede ist, ein »Ding« im emi nenten Sinn des Worts verkörpern soll, und zwar gerade des wegen, weil er bloß den Rest einer vollständigen Skulptur darstellt. Aus R.ilkes Biographie wissen wir: Er brachte von seinem Aufenthalt bei den Werkstätten Rodins die Erfahrung mit, auf welche Weise die moderne Plastik zur Gattung des autonomen Torsos vorgestoßen war.2 Die Sicht des Dichters 2
Wolfgang Brücklc, Von Rodin bis Baselitz. Der Torso in der Kunst Moderne, Ostfildern 2001.
der
Der Planet der Übenden
auf den verstümmelten Körper har darum nichts mit der Fragment- und Ruinenromantik des vorangehenden Jahr hunderts zu run; sie gehört in den Durchbruch der modernen Kunst zum Konzept des sich mit Autoritär selbst aussagen den Objekts und des sich mit Vollmacht selbst veröffent lichenden Körpers. ARcHAISCHER ToRso APoLLos
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt darin die Augenäpfel reiJten. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. Wer von dem Gedicht bei erster Lesung schon Bestimmteres auJnimmt, versteht soviel: Hier wird von einer Vollkommen heit gehandelt - einer Vollkommenheit, die um so verbind licher und mysteriöser zu sein scheint, als es bei ihr um die Perfektion eines Bruchstücks geht. Man darf unterstellen, Rilke bedanke sich mit diesem Werk bei Rodin, dem Lehr meister seiner Pariser Zeit, für das Konzept des für sich ste henden Torsos, dem er bei ihm begegnet war. Das Vollkorn-
1
Der Befehl aus dem Stein
mene, das in den vierzehn Zeilen beschworen wird, findet seinen Daseinsgrund in dem Umstand, daß es - unabhängig von der Verstümmelung des materiellen Trägers - die Voll macht besitzt, eine aus sich selbst appellierende Botschaft zu bilden. Diese Appellkraft liegt bei dem hier vergegenwärtig ten Gegenstand in exq uisiter Weise vor. Vollkommen ist, was einen ganzen Satz des Seins artikuliert. Nicht mehr und nicht weniger hat das Gedicht zu leisten, als den Satz des Seins im Ding zu vernehmen und ihn dem eigenen Dasein anzuglei chen - mit dem Ziel, selber ein Gebilde von ebenbürtiger B otsc haftsmächtigkeit zu werden. Der Rilkesche Torso kann als Träger des Prädikats »voll kommen« erfahren werden, weiJ er etwas mitbringt, was es ihm erlaubt, die gewöhnliche Erwartung einer Gestaltganz heit zu brüski eren. l n dieser Geste hat die Wende der Mo derne gegen das Prinzip Naturnachahmung - im Sinn von Nachahmung von vorgebeneo Gestalterwarrungen - eines ihrer Motive. Sie vermag botschaftliehe Ganzheiten und au tonome Dingsignale auch dann wahrzunehmen, wenn keine morphologisch integren Figuren mehr vorliegen - ja gerade dann. Der Sinn für Vollkommenheit zieht sich aus den Natur formen zurück - wohl deswegen, weil die Natur selbst dabei ist, ihre ontologische Autorität zu verlieren. Auch durch die Popularisierung der Photographie werden die Standardan blicke der Dinge zunehmend abgewertet. Als erste Auflage des Sichtbaren gerät die Natur in Mißkredit. Sie vermag sich als Absenderio von verbindlichen Botschaften nicht mehr zu behaupten -aus Gründen, die letztlieb auf ihre Entzauberung durch wissenschaftliche Erforschung und technische Über bietung zurückgehen. Nach dieser Verschiebung nimmt »vollkommen sein« eine veränderte Bedeutung an: Es heißt, etwas zu sagen haben, was bedeutsamer ist als das Gerede der geläufigen Ganzheiten. Nun kommen die Torsi und ihresglei chen zum Zug, es schlägt die Stunde der Formen, die an nichts erinnern. Die Bruchstücke, die Krüppel, die Hybride bringen
Der Plane1 der Übenden
etwas zur Aussprache, was die gewöhnlichen Ganzformen und die glücklichen Integritäten nicht mehr zu übermitteln imstande sind. Intensität schlägt Standardperfektion. Hun
1 Der Befehl aus dem Stein
43
haben - sofern sie uns nicht offen lästig werden. Das seins erfüllte Ding hingegen hört nicht auf, uns anzusprechen, wenn sein Moment gekommen ist.
dert Jahre nach Rilkes Wink verstehen wir diesen Hinweis
Wir nähern uns dem kritischen Punkt: Seit jeher haben die
wohl noch besser als dessen eigene Zeitgenossen, da unser
beiden Schlußzeilen die Leser in ihren Bann gezogen. Sie
Wahrnehmungsvermögen wie das keiner Generation vor
wecken Bedeutsamkeitsgefühle, die das lyrische Gebilde im
uns von dem Geschwätz der makellosen Körper betäubt
ganzen gleichsam aus den Angeln heben- als wäre es nur der
und ausgeplündert wird. Mit diesen Hinweisen dürfte deutlich geworden sein, wie
das Phänomen des Von-oben-angesprochen-Werdens sich in einem ästhetischen Gebilde verkörpert. Zum Verständnis ei nes Appell-Erlebnisses solcher Art ist es zunächst nicht nötig,
Hinweg zu einem Höhepunkt, um dessentwillen das übrige ausgebreitet wird. Tatsächlich haben die zwei Schlußsätze:
»denn da ist keine Stelle I die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.« eine fast sel bstständige Karriere angetreten
und sich dem Gedächtnis der Gebildeten eingeprägt, nicht
auf die von Rilke akzeptierte Vermutung einzugehen, es
nur bei Rilkeverehrern und Lyromanen. Ich gestehe, für dies
handle sich bei dem von ihm besungenen Torso um das Relikt
mal neige ich dazu, dem Bedürfnis, Sätze aus dem Zusam
einer Götterstatue - damalige Kuratoren meinten zu wissen: eines Apollo. Es ist nicht völlig auszuschließen, bei der
weil sich in der populären Vorliebe für schöne Stellen gele
Skulpturerfahrung des Dichters habe ein Element von ju
gentlich ein gültiges Urteil über authentische Gipfelmomente
gendsciJ hafter B ildungspietät mitgespielt- Rilke soll der rea
len Vorlage bei einem Besuch im Louvre begegnet sein, und
soviel man weiß, wäre sie kein archaisches Kunstwerk, son dern eines aus der klassischen Zeit griechischer Bildhauerei gewesen. Was der Dichter jedoch zu dem Torso des mutmaß
menhang zu reißen, recht zu geben, nicht zuletzt deswegen,
nachweisen läßt. Man muß kein Schwärmer sein, um zu ver stehen, warum die beiden Schlußsätze ein Eigenleben entwik kelt haben. In ihrer gediegenen Bündigkeit und mystischen Simplizität strahlen sie eine kunstevangelische Energie aus,
wie sie an kaum einer anderen Wendung der jüngeren Sprach
lichen Apolls zu sagen weiß, ist mehr als eine Notiz über
kunst beobachtet wird.
einen Ausflug in den AntikensaaL Es kommt dem Autor nicht darauf an, daß das Ding einen erloschenen Gott zeigt,
der geheimnisvollere. Wer ihn versteht oder akzeptiert oder
für den humanistisch Gebildete sich interessieren könnten,
im lyrischen Zusammenhang gelten läßt - was im gegebenen
sondern darauf, daß der Gott im Stein ein Ding-Gebilde dar
Fall dasselbe meint -, wird auf der Stelle wie von einer hyp
stellt, das noch immer auf Sendung ist. Wir haben es mit
notischen Suggestion erfaßt. Man gibt indem man sich im
einem Zeugnis dafür zu tun, wie die neuere botschaftliehe
Auf den ersten Blick erscheint der vorausgestellte Satz als
,
Ontologie den hergebrachten Theologien über den Kopf
»Verstehen« übt, einer sprachlichen Wendung Kredit, die das alltägliche Verhältnis zwischen dem Sehenden und dem
wächst. In ihr wird das Sein selbst gegenüber Gott, dem
Gesehenen umkehrt. Daß ich den Torso mit seinen gedrun
machthabenden Götzen der Reljgionen, als die sprechendere,
genen Schultern und seinen Stümpfen sehe, ist das eine; daß
die sendungsmäcbtigere, die autoritärspotentere Größe ver
ich mir die fehlenden Teile, den Kopf, die Arme, die Beine,
standen. Auch ein Gott kann in moderneo Tagen leicht unter
das Geschlecht, träumerisch hinzudenke und assoziativ ani
die schönen Figuren geraten, die uns nichts mehr zu sagen
miere, ist ein zweites. Ich kann mir, unter Rilkes Anregung,
44
Der Planet der Übenden
zur Not sogar ein Lächeln vorstellen, das von einem unsicht baren Mund bis zu einem verschwundenen Genital reicht. Das völlig Andere jedoch, das durch und durch Inkommen surable, besteht in der Zumutung, hinzunehmen, daß der Torso mich sieht, während ich ihn betrachte - ja, daß er mich schärfer ins Auge faßt, als ich ihn anzusehen vermag. Die Fähigkeit, die innere Geste auszuführen, mit der man für diese Unwahrscheinlichkeit in sich Platz schafft, dürfte ziemlich genau in dem Talent bestehen, von dem Max Weber leugnete, es zu besitzen. Es ist das der »Religiosität«, als mit gebrachte Disposition und enrwickelbare Begabung verstan den und hierin zu Recht der Musikalität vergleichbar. Man kann sie üben, wie man melodische Passagen oder syntakti sche Muster übt. Unter diesem Aspekt ist Religiosität mit einer gewissen grammatischen Promiskuität kongruent. Wo sie am Werk ist, tauschen Objekte mit Subjekten elastisch die Plätze. Mithin: Wenn ich akzeptiere, daß da - an der schim mernden Oberfläche des verstümmelten Steins - lauter »Stel len« sind, die Augen gleichkommen und die mich sehen: dann vollziehe ich eine Operation von mikroreligiöser Qualität und die man, einmal begriffen, als primäres Modul einer »frommen« inneren Handlung auch in den makroreligiös ausgebauten Systemen auf allen Ebenen wiedererkennt. Auf der Position, wo üblicherweise das Objekt erscheint, welches ebendarum, weil es Objekt ist, niemals zurückschaut, »erken ne« ich nun ein Subjekt, das die Fähigkeit besitzt, zu schauen und Blicke zu erwidern. Ich lasse mich also, hypothetisch gläubig, auf die Unterstellung eines Subjekts ein, das der be treffenden Stelle innewohnt, und warte ab, was diese nach giebige Wendung aus mir macht. (Wir merken an: Zu mehr als habitualisierten Unterstellungen kann auch die »tiefste« oder virtuoseste Gläubigkeit es niemals bringen). Der Lohn für meine Bereitschaft zur Beteiligung an der Objekt-Subjekt Umkehrung fällt mir unter der Form einer privaten Erleuch tung zu - im vorliegenden Fall als ästhetische Ergriffenheit.
1 Der Befehl aus dem Stein
45
Auch der Torso, an dem keine Stelle ist, die mich nicht sieht, zwingt sich nicht auf - er setzt sich aus. Er setzt sich aus, indem er es darauf ankommen läßt, ob ich ihn als Sehenden sehe. Ihn als Sehenden auffassen heißt soviel wie an ihn »glau ben«, wobei glauben, wie bemerkt, hier die inneren Opera tionen bezeichnet, die nötig sind, um das vitale Prinzip im Stein als einen Absender von diskreten adressierten Energien zu denken. Gelingt mir dies irgendwie, so ist es mir auch möglich, dem Stein sein Subjekthaftes Glühen abzunehmen. Ich akzeptiere versuchsweise sein modellhaft strahlendes Da stehen und empfange seinen Sternenhaft ausbrechenden Überschuß an Autorität und Seele. Nur in diesem Zusammenhang spielt der Name des Dar gestellten eine Rolle. Was in der vormaligen Apollo-Statue erscheint, ist aber nicht ohne weiteres mit dem gleichnamigen Olympier gleichzusetzen, der in den Tagen seiner Vollstän digkeit für Licht, Kontur, Vorauswissen und Formensicher heit zu sorgen hatte. Er steht vielmehr, wie der Gedichttitel ahnen läßt, für etwas viel Älteres, das aus vorzeitlichen Quel
len aufsteigt. Er symbolisiert ein göttliches Magma, in dem etwas von der ersten Ordnungsmacht, alt wie die Welt selbst, zur Erscheinung kommt. Kein Zweifel, daß hier bei Rilke Erinnerungen an Rodin und sein zyklopisches Arbeitsethos wirksam werden. In der Zeit seines Umgangs mit dem großen Künstler erlebte er, was es bedeutet, die Oberflächen von Körpern so lange zu traktieren, bis sie nur noch ein einziges Gewebe von durchgeformten, luminosen, gleichsam sehen den »Stellen« bilden.3 Von Rodins Skulpturen hatte er einige Jahre zuvor geschrieben: »es gab Stellen ohne Ende, und kei ne, an der nicht etwas geschah.«" Jede Stelle ist ein Ort, an dem Apollo, der Gestalt- und Oberflächengott, mit seinem 3 ,.Menschen redeten nic�t
zu i�m. Stei e sp.rachen•, heißt es bereits � Essay über Rodm. Ramer Mana R1lke, Werke, Band TII, 2., Prosa, Frankfurt am Main 1 98o, S. 369.
d
in em
4 Jb id.,
S. 3 S9·
Der Planer der Übenden
1
Der Befehl aus dem Stein
47
älteren Gegenspieler Dionysos, dem Drang- und Strömungs
Wollte man alle Lehren der Papyrusreligionen, der Perga
gott, einen visuell prägnanten und haptisch fühlbaren Kom
mentreligionen, der Stylus- und Federkielreligionen, der kal
promiß schließt. Daß dieser energetisierte ApoUo eine Er
ligraphischen und typographischen Religionen, alle Ordens
scheinung des Dionysos verkörpert, geht aus dem Hinweis
regeln und Sektenprogramme, alle Meditationsanleitungen
hervor, der Stein flimmere wie RaubcierfeUe: Rilke hatte
und Stufenlehren, alle Trainingsvorschriften und Diätologien
seinen Nietzsche gelesen. Hier tritt uns das zweite mikro
in eine gemeinsame Werkstatt versetzen, wo sie in einer letz
religiöse bzw. protomusikalische Modul entgegen: jenes no
ten Redaktion zusammeogefaßt werden müßten: Ihr äußer
torische »Dieses steht für Jenes«, »das Eine erscheint im An
stes Konzentrat würde nichts anderes sagen als das, was der
deren•, "die Tiefe ist
in der Oberfläche gegenwärtig•- Figu
ren, ohne die kein religiöser Diskurs je zustande kam. An ihnen kann man ablesen, daß Religiosität eine Form von her meneutischer Beweglichkeit ist und eine trainierbare Größe darstellt.
Dichter in einem transluziden Moment aus dem archaischen Torso Apollos emanieren läßt. Du mußt dein Leben ändern! -so lautet der Imperativ, der die Alternative von hypothetisch und kategorisch übersteigt. Es ist der absolute Imperativ - der metanoetische Befehl
»Denn da ist keine Stelle, I die dich nicht sieht. Du mußt
schlechthin. Er gibt das Stichwort zur Revolution i n der
Satz, an dem es scheinbar nichts zu deuten gibt, bei weitem
fälle zwischen seinen höheren und niedereren Formen. Ich
dein Leben ändern.« Es bleibt zu zeigen, warum der zweite
zweiten Person Singular. Er bestimmt das Leben als ein Ge
der geheimnisvollere ist. An ihm ist nicht nur seine fehlende
lebe zwar schon, aber etwas sagt mir mit unwidersprechlicher
Vorbereitung, seine Plötzlichkeit mysteriös. »Du mußt dein
Autorität: Du lebst noch nicht richtig. Die numinose Auto
Leben ändern« - das scheint aus einer Sphäre herzustammen,
rität der Form genießt das Vorrecht, mich mit »Du mußt«
in der keine Einwände erhoben werden können. Auch ist
anzusprechen. Es ist die Autorität eines anderen Lebens in
nicht zu entscheiden, von wo aus der Satz gesprochen wird,
diesem Leben. Diese trifft mich an in einer subtilen Insuffi
allein seine absolute Vertikalität steht außer Zweifel. Man
zienz, die älter und freier ist als die Sünde. Sie ist mein in
weiß nicht, ob dieses Diktum senkrecht aus dem Boden
nerstes Noch-nicht. In meinem bewußtesten Moment werde
schießt, um mir wie ein Pfeiler im Weg zu stehen, oder ob
ich vom absoluten Einspruch gegen meinen status quo betrof
es vom Himmel stürzt, um die Straße vor mir in einen Ab grund zu verwandeln, so daß der nächste Schritt, den ich tue,
fen: Meine Veränderung ist das eine, das not tut. Änderst du daraufhin dein Leben wirklich, tust du nichts anderes, als was
schon zu dem geänderten Leben, das gefordert wird, gehören
du selber mit deinem besten Willen willst, sobald du spürst,
müßte. Es ist nicht genug, zu sagen, Rilke habe die Ethik
wie eine für dich gültige Vertikalspannung dein Leben aus
ästhetisierend ins Lapidare, ZykJopische, Altertümlich-Bru
den Angeln hebt.
tale zurückübersetzt. Er hat einen Stein entdeckt, der den
Neben dieser ethisch-revolutionären Lesart liegen auch
Torso der »Religion«, der Ethik, der Askese überhaupt ver
etwas handfestere und psychologisch eingängigere Deutun
körpert: ein Gebilde, das einen Anruf von oben abstrahlt,
gen des Torso-Gedichts nahe. Es zwingt uns nichts, den
reduziert auf den puren Befehl, die unbedingte Weisung, die
Kommentar auf kuost- und seinsphilosophische Hochlagen
durchlichtete Äußerung des Seins, das verstanden werden
zu beschränken. Das Autoritätserlebnis, das den Dichter für
kan n - und das nur in Imperativen spricht.
einen Moment an die antike Statue fesselt, läßt sich auf einer
Der Planet der Übendeo eher sinnlichen, ästhetisch leichter greifbaren Ebene vielleiehr noch plausibler rekonstruieren. Hier wäre von den somati schen, genauer: den autoerotischen und maskulin-athleti schen Anmutungen der Skulptur zu sprechen, die im Dichter (in der Sprache seiner Zeit ein Neurastheniker und schwach
1
Der Befehl aus dem Stein
49
zu seinem Modell. Nun möchte ich Rilke gewiß keine nar zißtische Beziehung zu einem im Louvre ausgestellten Bruchstück
altgriechischer
Männerkörperkultherrlichkeit
andichten. Plausibel ist jedoch, daß der Verfasser des Sonetts aus dem realen Torso, der ihm zu Gesicht kam, etwas von der
leibiger Introvertierter) eine Einfühlung in die anripodische
Strahlkraft des antiken Athletenvitalismus und von der mus
Seinsweise der starken »Körpermenschen« hervorgerufen
kulären Theologie der Ringer in der Palästra herausgelesen
haben muß. Dem entspricht eine Tatsache, die Rilke nicht
hat. Das Vitalitätsgefälle zwischen dem erhöhten und dem
verborgen war: daß in der uoermeßlich reichen Statuenkultur
profanen Körper muß ihn selbst a nge sichts eines bloßen Re
der Griechen zwischen Göttern und Athleten ein physisches
likts verklärter Männlichkeit auf unmittelbare Weise ange
und psychisches Verwandtschaftswesen herrschte, in dem
sprochen haben.
die Verähnlichung bis zur Gleichsetzung reichen konnte.
Mit dieser Empfindungsweise wäre der Dichter nicht mehr
Ein Gott war immer auch eine An Sportler, und der Sportler,
und nicht weniger gewesen als ein sensibler Zeitgenosse der
zumal der im Preislied gefeierte und vom Lorbeer gekrönte, auch immer eine Art Gott. Daher bietet sich der Athleten
europäischen Spätrenaissance, die um 1900 in ein kritisches
Stadium eintritt. Ihr definierendes Merkmal ist die Wieder
körper, der Schönheit und Disziplin zu einer in sich ruhen
kehr des Athleten als der Schlüsselfigur des antiken somati
den Sprungbereitschaft vereinigt, als eine der verständlich
schen Idealismus. Damit geht der Prozeß des nach-christli
sten und überzeugendsten Erscheinungsformen von Auto
chen Kulturumbaus, der um 1400 als philologische und arti stische Renaissance begonnen hatte, in seine massenkulturelle
rität an. Der autoritative Körper des Gott-Athleten wirkt auf den
Phase über. Sein stärkstes Kennzeichen ist der Sport, von dem
Betrachter unmittelbar durch seine Vorbildlichkeit. Auch er
man nie genug betonen kann, wie tief er in das Ethos der
sagt lapidar: »Du mußt dein Leben ändern!«, und indem er es
Modernen eingegriffen hat. Mit dem Neustart der Olympi
sagt, zeigt er zugleich, an welchem Modell die Veränderung
schen Spiele (und mit der exzessiven Popularisierung des
sich zu orientieren hat. An ihm ist ablesbar, wie Sein und Vorbildlichsein konvergieren. Jede der klassischen Statuen war eine petrifizierte oder in Bronze gegossene Lehrbefugnis
in ethischen Angelegenheiten. Was man den Platonismus
nannte, ansonsten eher eine ungriechische Affaire, konnte in Griechenland nur insofern eine Heimstätte finden, als die
FußbaHs in Europa und Südamerika) setzt sein Siegeszug ein, dessen Ende kaum abzusehen ist, es sei denn, die aktuelle Dopingkorruption wäre als Indiz eines bevorstehenden Zu sammenbruchs zu deuten - freilich weiß beute niemand, was an die Stelle des Athletismus treten könnte. Dem seit 1900 explodierenden Sportkult kommt eine überragende geistes
sogenannten Ideen dort bereits unter der Form von Statuen
geschichtliche, besser: ethik- und askesegeschichtliche Be
eingebürgert waren. Die platonische Liebe war als Trainings
deutung zu, weil sich in ihm ein epochaler Akzentwandel
affekt zwischen den somatisch Vollenderen und den Anfän
im Übungsverhalten manifestiert - eine Transformation, die
gern bei den Übungen schon eine Weile vor Platon populär
man am besten als Re-Somatisierung bzw. als Entspirituali
verankert, und dieser Eros wirkte in beiden Richtungen, vom
sierung der Askesen beschreibt. In dieser Hinsicht ist der
Vorbild auf seinen Nacheiferer ebenso wie vom Begehrenden
Sport die expliziteste Verwirklichung des Junghegelianismus,
Der Pla ner der Übenden
50
der philosophischen Bewegung, deren Schlüsselwort »Auf
erstehung des Fleisches im Diesseits« gelautet harte. Von den beiden großen Ideen des 19. Jahrhunderts, dem Sozialismus und dem Somatismus, war offensichtlich nur die letztere all gemein durchsetzbar, und man braucht kein Prophet zu sein,
Der Befehl aus dem Srcin Gib deine Anhänglichkeit an bequeme Lebensweisen auf
zeige dich im Gymnasium (gymnos, nackt), beweise, daß dir der Unterschied zwischen Vollkommenem und Unvollkom
menem nicht gleichgültig ist, führe uns vor, daß Leistung
um zu behaupten, daß das 21. Jahrhundert noch mehr als das
Exzellenz, arete, virtu - für dich keine Fremdworte geblieben sind, gib zu, daß für dich Motive zu neuen Anstrengungen
Nach dem Gesagten scheint es mir nicht abwegig, RiJke
eine Sache für die Dümmsten, nur soviel Raum, wie ibm zu
20. ihr ganz und gar gehören wird.
eine Teilhabe an der somatischen und athletischen Renais sance zuzusprechen, obschon sein Bezug zu ihr naturgemäß
existieren! Vor allem: Gewähre dem Verdacht, der Sport sei kommt, mißbrauche ihn nicht als Vorwand zum Weiterdrif
ten in deiner gewohnten Verwahrlosung, mißtraue dem Phi
ein indirekter und über Artefakte, namentlich die oben erläu
lister in dir, der meint, du seist, wie du bist, schon ziemlich in
terte Kategorie der »Dinge«, vermittelter war. Immerhin hat
Ordnung! Höre die Stimme aus dem Stein, widersetze dich
Rilke aus seiner Angeregrheit durch Nietzsche kein Geheim nis gemacht, ebenso hat er - etwa in dem Brief des jungen
Arbeiters5- die zeitgemäße Rückforderung der Sexualität ge gen die verkrüppelnde Tradition des christlichen »Triebver z.ichts« auf seine Fahne geschrieben. Die Gegenwart des athletischen Mana in dem noch immer
leuchtenden und lehrbefugten Torso beinhaltet ein Element von Orientierungsenergie, die ich - auch wenn der Ausdruck fürs erste befremdlich scheinen kam1 - als Trainerautorität bezeichnen möchte. In dieser Stellung und Eigenschaft wen det er sich mit einer unverkennbar sportethisch gefärbten Ansprache an die Leibes- und Lebensschwächlinge gegen
wärtiger Tage. Der Satz: »Du mußt dein Leben ändern!«, ist jetzt als Refrain einer Sprache des In-Form-Kommens zu hören. Er rechnet zu einer neuen rhetorischen Gattung, dem Coach-Diskurs, der Kabinenstandpauke des Trainers an eine formschwache Mannschaft. Wer mit Mannschaften redet, muß jeden Einzelnen ansprechen, als spräche er zu ihnl allein. In Gesellschaft können solche Reden nicht gedul det werden, für Mannschaften sind sie konstitutiv. 5
-
1
Geschrieben im Februar
1911,
posrhum veröffentlicht
1933.
nicht dem Appell zur Form! Ergreife die Gelegenheit, mit einem Gott zu trainieren!
�
Pcrncr Blick auf den asketischen Stern
53
tor der Genealogie der Moral ist philosophisch der aufmerk 2
FERNER BLICK AUF DEN ASKETISCHEN STERN NIETZSCHES ANTIKEPROJEKT
samste Zeitgenosse der Prozesse, die unter den oben einge führten Begriff »somatische oder athletische Renaissance« zu fassen sind. Um von deren Stoß- und Zugrichtung ein ange messenes Bild zu gewinnen, ist eine Relektüre seiner Schrif
ten zur Lebenskunst unumgänglich, und dabei drängt sich die Der Ausdruck ,.Spätrenaissance•, den ich zur Charakrerisie
Frage nach dem wahren Darum von Nietzsches imcllekruel
rung des immer noch zu wenig verstandenen, nach r9oo auf
ler Existenz aus starken sachlichen Motiven auf.
weist sich als hilfreich, wenn es darum geht, die Intervention
sancemenschen empfunden hat, den es in eine falsche Epoche
gebrochenen Sportkultphänomens vorgeschlagen habe, er
Daß der Autor sich selber gelegentüch als einen Renais
Nietzsches inmitten der Diskurse der in den Modemismus
verschlagen hatte, darf man ihm ohne Nachprüfung glauben.
der Versuch, Nictzsche zu verstehen, mit einer Reflexion
für eine Wahlvergangenheit oder das Heimweh nach einem
umschlagenden Aufklärung zu datieren. Tatsächlich muß je über Nietzschcs Datum beginnen. Es genügt bei diesem Den ker nicht, auf seine Geburts- und Sterbedaten zu schauen, um
Worauf es in unserem Kontext ankommt, ist nicht der Sinn verflossenen Goldenen Zeitalter für Kunst und Rücksichts losigkeit. Entscheidend ist vielmehr die Tatsache, daß Nietz
zu wissen, wann er gelebt und gedacht hat. Zu den Enormitä
sche selbst Akteur in einem realen Renaissancegeschehen
Kind seiner Zeit festzustellen. Natürlich kann man das Zeit
konnte, weil sein Begriff von Renaissance noch zu sehr kunst
ten dieses Autors gehört es, daß es nicht gelingt, ihn als das typische in seinem Werk leicht dingfest machen. Es läßt sich zeigen, wie er als Künstler den Übergang von einer bieder
meierlich eiepotenzierten Romantik zu einer spätromantisch gefärbten Moderne vollzieht, als Publizist den Sprung vom Wagnerismus zu einem prophetischen Elitismus, als Denker den Stellungswechsel vom symbolistischen Spätidealismus
zum perspektivischen NaruraÜsmus - in Namen ausge drückt: von Schopenhauer
zu
Darwin. Ware an Nietzsche
nur das bedeutsam, was seiner Epoche tributpflichtig blieb,
so hätte die Rezeption seines Werks spätestens 1914 aufge hört - an dem Wendedarum, seit welchem die Modernen ein
für alle Mal andere Sorgen haben - schon 1927 erhebt Hei degger die »anderen Sorgen« in den Rang der Sorge über haupt, der Sorge sans phrase.
war, das er wohl nur deswegen nicht als solches identifizieren historisch befangen blieb. Nicht umsonst hatte der junge
Nietzsche zu den intensivsten Lesern von Jacob Burckhardts epochenmorphologischem Meisterwerk Die Kultur der Re
naissance in Italei n (t 86o) gehört, einem Werk, in dem der Historiker eine Zeitspanne von mehreren Jahrhunderten zu einem einzigen Wandgemälde zusammengefaßt hat. Vor die sem Riesenbild zurücktretend, konnte der Rezipient des spä ten I 9· Jahrhunderts kaum anders, als sich nach den vergange nen Zeiten zu sehnen und sich selbst an einer passenden Stelle
in das Gemälde zu projizieren. Alles spricht dafür, daß Nietz
sche solche Übungen nicht fremd waren. Er könnte sich ins Heerlager Castruccio Castracanis versetzt haben, um heroi schen Vitalismus aus der Nähe zu erleben, er könnte am Lungotevere spazierengegangen sein, von dem träumerischen
In Wahrheit haben Nietzsches Impulse erst in1 Zeitalter
Vorsatz erfüllt, ein Cesare Borgia der Philosophie zu werden.
Ende der Entfaltungsarbeit läßt sich nicht absehen. Der Au-
nügt, das kunsthistorisch verengte Schema von Renaissance
der »anderen Sorgen« sich zu entfalten begonnen, und ein
Gleichwohl hätte es für den Wanderer von Sils Maria ge
54
Der Planet der Übenden
fallenzulassen und zu einem prozeßtheoretischen Renais
2 Ferner Blick auf den asketischen Stern
schichte i n die Arena der Kämpfe um den wahren
sancebegriff überzugehen: So wäre er unvermeidlich zu
vivendi
dem Schluß gelangt, das Zeitalter der »Wiedergeburt« sei kei
zu plazieren heißt ihn fürs erste richtig datieren.
neswegs mir den Kunst- und Kulturereignissen des 1 5 . und
16. Jahrhunderts erledigt. Aus prozessualer Sicht hätte sich
55
modus
der Modernen versetzt. Nietzsche in diese Arena
Mit dieser Ausweitung der Renaissance-Zone ist aber
nicht mehr 'als ein erster Schritt geleistet. Bliebe man bei
Nietzsche selbst im aktuellen Drehpunkt einer fortgehenden
ihm stehen, hätte man Nietzsche allenfalls zur Hälfte richtig
Renaissance erkennen können, die eben im BegrifJ war, ihre
umdatiert. Man härte ihm zwar Gerechtigkeit widerfahren
bildungsbürgerlichen Definitionen zu sprengen. Diese Bewe
lassen, indem man seine Gegenwart einer Vergangenheit sei
gung hatte sich, durch die Vermittlung der Aufklärung, von
ner Wahl einverleibte. Was jedoch seine radikalere »Chrono
einer Liebhaberei winziger alphabetisierter Eliten mitsamt
politik« angeht, sein Bestreben, aus der Neuzeit als ganzer
ihren Sekretären, von einer prunkvollen Spielerei fürstlich
auszubrechen, hätte man ihn nicht wirklich ernst genommen.
großkaufmännischer Kunstförderer mitsamt ihren meisterli 6 chen Lieferanten (die ein erstes »Kunstsystem« etablierten )
In diesem Ausbruchsversuch verbirgt sich die um vieles grö
in eine nationale, eine europäische, eine planetarische Ange
Zu dessen Bewältigung reicht auch der seit einer Weile ge
ßere Provokation und der um vieles heftigere Denkanstoß.
legenheit verwandelt. Wollte die Renaissance von den Weni
läufige Umdatierungsvorschlag nicht aus, dem zufolge
gen auf die Vielen übergreifen, so mußte sie ihr humanisti
Nietzsche nicht in die Moderne, sondern in die Postmoderne
sches Gewand ablegen und sich als Wiederkehr der antiken
als einer von deren Gründervätern gehöre. In Wahrheit ist
Massenkultur offenbaren. Die eigentliche Renaissancefrage
Nietzsches Position im Rahmen der Alternative von modern
in Ausdrücken der praktischen Philosophie reformuliert -,
und postmodern nicht zu charakterisieren, ja, sie wird auf
nämlich: ob es für uns neben und nach dem Christentum an
diesem Feld nicht einmal sichtbar. Nietzsches Aufbruch in
dere Lebensformen geben könne und dürfe, und zwar vor
eine ihm gemäße Epoche führt ihn nicht, wie man vermuten
allem solche, deren Muster aus der griechischen und römi
wollte, in eine Ära »nach der Moderne«, w as immer das hei
schen (vielleicht sogar aus der ägyptischen oder indischen)
ßen mag. Was ihm vorschwebt, ist keine Modernisierung der
Moderne, kein Fortschritt über die Fortschrittszeit hinaus. Er
Antike schöpfen -, diese Frage also war im 1 9. Jahrhundert kein Geheimdiskurs und keine akademische Etüde mehr,
betreibt auch keineswegs die Auflösung der einen Geschichte
sondern eine Epochenpassion, ein unausweichliches pro no
in die vielen Geschichten, wie sie kritischen Geistern plausi
bis. Deswegen muß man sich vor dem Fehlschluß hüten, das Thema »Lebensreform«, das seit den Romantikern und den
bel erschien, die während des späteren 20. Jahrhunderts an der Seihstabklärung der Aufklärung arbeiteten. Nietzsche
Frühsozialisten in der Luft lag, allerdings erst nach 1900 auf
geht es um eine radikale Allochronie, eine prinzipielle An
den Gipfel seiner Ausstrahlung gelangte, für eine sektiereri
derszeitigkeit inmüten der Gegenwart.
sche Schrulle zu halten - mit den »Reformhäusern« als sym
Sein eigentliches Datum ist darum die Antike - und weil es
pathisch altmodischem Relikt. Lebensreform ist vielmehr das
Antike in moderner Zeit nur in der Form der Wiederholung
Renaissanceprogramm selbst, aus der bürgerlichen Kunstge-
geben kann: die Neo-Amike. Das neo-antike Altertum, in das sich Nietzsche selbst datiert, will kein bloßes Programm sein,
6 Vgl. Beat Wyss, Vom Bild zum
L
Kunstsystem, 2 Bände,
Köln 2005.
das sich nach heutigen Bedürfnissen auf die Tagesordnung
Der Planet der Übenden setzen ließe. Eine anberaumte Antike widerspräche Nietz sches Intentionen, weil ihre Vormerkung auf der heutigen Agenda selbst einen unwillkommenen Modernismus bedeu
2 Ferner Blick auf den asketischen Stern
nach und neben den christlichen Lebens- und Lebensform definitionen zu entwickeln. Es geht von Nietzsche her gese hen nicht um die Nachahmung antiker Muster, sondern, vor
tete. Tagesordnungen liefern die Arbeitsformen, unter denen
allen inhaltlichen Wiederbelebungen, um die Freilegung der
die Moderne ihre Schritte auf der Zeitlinie in die Zukunft
Antike als Modus einer nicht-geschichtlichen, nicht-vor
anordnet, gleich, ob man sie als ein erfülltes oder leeres Vor
wärtsgerichteten, nicht-progressiven Zeit. Dies verlangt nicht
wärts deutet. Was Nietzsche im Sinn hat, ist keine Wieder
weniger als die Suspension der christlichen Kuhurzeit, gleich,
holung antiker Muster nach dem Vorbild der Mode, deren
ob diese als apokalyptische Endbeschleunigung vorgestellt
Altertum jeweils nur ein paar Jahre zurückliegt; die Frage,
wird oder als geduldige Pilgerreise durch die Welt - bezie
ob Moden in Jahrzehnten oder in Jahrtausenden rotieren,
hungsweise als kirchenpolitisch kluge Kombination beider
spielt für ihn keine Rolle. Sein Konzept von Allochronie anfangs noch schüchtern als »Unzeitgemäßheit« eingeführt, später zum Austritt aus der Moderne radikalisiert - beruht
Modi. Daß die aufklärerische Kulrurzeit, die Fortschrittszeit und die Kapitalzeit von dieser Suspension mitbetroffen sind, versteht sich von selbst.
auf der so suggestiven wie phantastischen ldee, daß die Anti
Allein in diesem Zusammenhang hat es Sinn, noch einmal
ke keine von nachkommenden Zeiten inszenierten Wieder
auf Nietzsches übererregte Auseinandersetzung mit dem
holungen nötig hat, weil sie »im Grunde« ständig aus eigener
Christentum einzugehen. Sie bildet aus heutiger Sicht ein
Antike - stellt keine überwundene, allein im kollektiven Ge
weil Gründe dazu motivieren, die stärker wirken als die Be
dächtnis repräsentierte und von der Bildungswillkür zitierba
denken. Man könnte es, nicht zuletzt aus Sympathie für den
re Phase der Kulturentwicklung dar. Sie bildet vielmehr eine
Autor, als Episode einer fin-de-siecle-Neurose überblättern,
Art von dauernder Gegenwart, eine Tiefenzeit, eine Natur
wenn es nicht zugleich das Vehikel von Nietzsches wenvoll
Macht wiederkehrt. Anders gesagt: Die Antike - oder das
zeit, eine Zeit des Seins, die unter dem Gedächtnis- und ln novationstheater der Kulturzeit weiterläuft. Könnte man zei
eher unangenehmes Kapitel, zu dem man nur zurückkehrt,
sten und zum Bleiben bestimmten Einsichten wäre. Die anti christliche Polemik zeigt ihre produktive Seite, wenn man sie
gen, wie die Wiederkehr die Wiederho.lung schlägt und wie
in den Rahmen von Nietzsches »Antike-Projekt« versetzt,
der Kreis die Linie zum Narren hält, hätte man nicht nur die Pointe von Nietzsches entscheidender Selbstdatierung be
das, wie gesehen, einem regenerativ gemeinten Rückgang vor die christliche Ära (und einem Ausbruch aus dem Schema
griffen: Man hätte auch die Voraussetzung erfüllt, unter der
Antike-Mittelalter-Neuzeit) gewidmet ist. Vor das Christen
wiruns ein Urteil darüber bilden kö1u1en, ob und in welchem
rum zurückgehen wollen: das heißt h!er, sich vor einem
Sinn Nietzsche unser Zeitgenosse ist und ob und inwiefern
modus vivendi situieren, dessen
wir seine Zeitgenossen sind oder sein wollen.
Verbindlichkeit für uns ge
brochen ist und nur noch in uneigendichen Adaptationen, in kulturchristlichen
-
57
Übersetzungen
mideidspolitischen,
und
inklusive
mitleidsethischen
Soviel dürfte deutlich geworden sein: Der Ausdruck >>Re
(auch
selbstmitleidspolici
naissance« bleibt fruchtbar und anspruchsvoll nur, solange
schen) Umstilisierungen wirksam scheint. Wenn Nietzsche
mit ihm eine folgenschwere Idee bezeichnet wird: Ihr zufolge
vor die Kulturzeit des Christentums zurückspringt, nimmt
ist es den Europäern auferlegt, Leben und Lebensformen
er keineswegs für dessen humanistische Reform Partei - diese
Der Plane1 der Übenden
war das Kompromißprogramm der europäischen Neuzeit ge wesen, die in einer mehrhundertjährigen literarischen, päd agogischen und philanthropischen Arbeit den riesenhaften
2 Ferner Blick auf den asketischen Stern
59
zeigt, die Antithese mit einer nahezu karikaturalen Schärfe zu präsentieren. Die Gesunden - ein Won, das längst zahllosen Dekonstruktionen unterliegt7 - sind jene, die sich, weil sie
Zwitter »christlicher Humanismus« erschuf - von Erasmus
gesund sind, mit guten Askesen steigern wollen; die Kranken
Albert Schweitzer. Was ihn beschäftigt, betrifft nicht die
Rache sinnen.
bis T. S. Eliot, von Comenius bis Montessori, von Ignatius bis
Bedingungen der Möglichkeit eines Amalgams, es sind die
Voraussetzungen des radikalen Bruchs mit dem System der Halbheiten.
Der
Ausdruck
»Christentum«
meint
im
jene, die, weil sie krank sind, mir schlimmen Askesen auf Man kann dies nicht anders als eine haarsträubende Sim
plifizierung
der
Sachlage
ne1men.
Nichtsdestoweniger
kommt man um ein Zugeständnis nicht herum: Mittels dieser
nietzscheanischeo Gebrauch nicht einmal in erster Linie die
gehämmerten Thesen wird etwas ans Licht gehoben, was man
auf einen bestimmten religiös-metaphysisch geprägten Habi
tus, eine asketisch (im büßerischen und verzichtenden Sinn)
würdigen muß. Nietzsche ist nicht mehr und nicht weniger als der Schliemann der Askesen. Er hatte völlig recht, wenn er
bensaufschubs, der Jenseitsorientierung und des Zerwürfnis
schem Schutt der Jahrrausende und von den Trümmern mor
ses mit den säkularen Tatsachen - Nietzsche hat sich hierüber
bider Paläste, die triumphierende Miene eines Entdeckers
gleichnamige Religion, er zielt eher, einem Codewort gleich,
definierte Stellung zur Welt, eine unglückliche Form des Le
in seinem Antichrist mit dem Furor eines Mannes ausgelassen, der die Eckpfeiler der westlichen Religionsüberlieferung und damit auch der eigenen Existenz zum Einsturz bringen wollte. Mit dem Gesagten kann ich meine These stützen, die den Zusammenhang dieser Überlegungen mit dem Thema des Buchs herstellt: In seiner Eigenschaft als Akteur und Medium
als eine der größten Entdeckungen der Geistesgeschichte
inmitten der Grabungsstätten, umgeben von psychopathi
aufsetzte. Wir wissen heute, daß er an der richtigen Stelle gegraben hatte, doch was er ausgrub, war, um im Bild zu bleiben, nicht das Troja Homers, sondern eine spätere
Schicht. Auch war ein Gutteil der Askesen, auf die er pole
misch Bezug nahm, gerade kein Ausdruck von Lebensvernei
nung und metaphysischem Muckerrum, es handelte sich viel
mehr um einen Heroismus im spirituellen lncognito. Nietz
einer anders begriffenen Antike wird Nietzsche zum Entdek
sches punktuelle Fehldeutungen vermögen die Bedeutung
ker der asketischen Kulturen in ihrer unermeßlichen histori
seiner Entdeckung nicht zu enrwenen. Mit seinem Fund steht
schen Ausgedehntheit. Hier spielt die Beobachtung eine Rol
Nietzsche im guten Sinn des Worts fatal am Beginn der mo
le, daß das Wort askesis (neben dem Wort melete, das auch der
dernen, der nicht-spiritualistischen Asketologien mitsamt ih
»Übung« oder »Training« bedeutet. Im Gefolge seinerneuen
Diätologien und selbstbezüglichen Trainings, mithin all der
Scheidung der asketischen Geister stößt Nietzsche nicht nur
Formen selbstbezüglichen Übens und Arbeitens an der eige
auf die fundamentale Bedeutung des übenden Lebens für die
nen vitalen Form, die ich in dem Ausdruck »Anthropotech
Ausbildung von Daseinsstilen oder »Kulturen«. Er legt den
nik« zusammenziehe.
Name einer Muse ist) im klassischen Griechischen schlicht
ren Annexen aus Physiotechnikcn und Psychotechniken, aus
Finger auf die ihm zufolge für alle MoraJen entscheidende Verzweigung der Übungslebensformen in die Askesen der Gesunden und die der Kranken, wobei er keine Bedenken
7 Vgl. Aaron Anronovsky, Salutogenese: Zur Entmystifizierung von
Gesundheit, Tübingen I997·
6o
Der Planer der Übenden Die Bedeutung des Impulses, der von Nietzsches neuer
Sicht auf die asketischen Phänomene ausgeht, dürfte kaum zu überschätzen sein. Durch seine Selbstvcrrückung in eine •über-epochale" Antike, die unter jeder mittelalterlichen und modernen Nichtantikc, auch unter jeder Zukunft wartet, er langte er das nötige Maß an Exzentrizität, um auf die eigene
Zeit, und nicht nur auf sie, einen wie von außen kommenden Bück zu werfen. Seine alternative Selbstdatierung erlaubte ihm einen Absprung aus der Gegenwart, der ihm genug Sehkraft gab, um das Kontinuum der Hochkulturen, das drei tausendjährige Reich der geistigen Übungen, der Selbstdres
suren, der Selbsterhöhungen und Sclbstversenkungen, kurz um das Universum der metaphysisch codierten Vertikalspan nungen, in einer unerhörten Synopse zu umspannen. Hier sind vor allem die Abschnitte aus dem moralkriti
schen Hauptwerk Zur Genealogie der Moral zu zitieren, die ihrem Gegenstand in einer Diktion von olympischer Deutlichkeit zu Leibe rücken. An der entscheidenden Stelle ist von den Übungsformen der Lebensverneinung oder Weltmüdigkeit die Rede, welche nach Nierzsche für den Gestaltkreis der kranken Askesen im ganzen charakteri stisch ist. »Der Asket (des priesterlich-kranken Typs, P. SI.) be handelt das Leben wie einen Irrweg, den man endlich
rückwärts gehen müsse, bis dorthin, wo er anfängt; oder wie einen lrrthum, den man durch die That widerlege widerlegen s o l l e : denn er fordert, dass man mit ihm gehe, er erzwingt, wo er kann, s e i n e Werthung des Da seins. Was bedeutet das? Eine solche ungeheuerliche Werthungsweise steht nicht als Ausnahmefall und Cu riosum in die Geschichte des Menschen eingeschrieben: sie ist eine der breitesten und längsten Thatsachcn, die es giebt. Von einem fernen Gestirn aus gelesen, würde viel leicht die Majuskel-Schrift unseres Erden-Daseins zu dem Schluss verführen, die Erde sei der eigendich
-
2 Ferner Blick auf den asketischen Stern
6r
asketische Stern, ein Winkel missvergnügter, hoch müthiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Ver druss an sich, an an der Erde, an allem Leben gar nicht loswürden und sich selber so viel Wehe anthäten als möglich, aus Vergnügen am Wehetun: - wahrscheinlich ihrem einzigen Vergnügen.«8 Mir dieser Notiz präsentiert sieb Nietzsche als Pionier einer neuen Humanwissenschaft, die man als Kultur-Planetenkun
de bezeichnen könnte. Ihre Methode besteht i n Beobachtun gen unseres Himmelskörpers mit Hilfe von Aufnahmen kul tureller Formationen wie aus großer Höhe. Durch die neuen bildgebenden Abstraktionen wird das Leben der Erdbewoh ner auf allgemeinere Muster hin abgesucht - hierbei tritt der Asketismus als eine geschichtlich gewachsene Struktur zuta ge, die Nietzsche ganz legitim eine »der breitesten und läng sten Tharsachen, die es giebt«, nennt. Diese »Tatsachen« ver langen nach einer ihnen angemessenen Kartographie und einer entsprechenden Erd- und Sachkunde. Nichts anderes will die Genealogie der Moralen sein. Die neue Wissenschaft von der Herkunft der Moralsysteme (und
eo ipso der moral
gesteuerten Lebens- und Übungsformen) istdie erste Gestalt, unter der die Allgemeine Askerologie in Erscheinung tritt. Mit ihr beginnt die Explikationsgescbicbte der Religionen und Ethiken als anthropotechniscben Praxen. Man darf sich nicht durch die Tatsache ablenken lassen, daß Niet:l.sche in diesem Passus ausschließlich von den As kesen der Kranken und ihrer Betreuer, der Priester, spricht. Der asketische Stern, den er sichtet, ist der Planet der Üben den insgesamt, der Planet der hochkultureilen Menschen, der Planet derer, die begonnen haben, ihrer Existenz unter ver tikalen Spannungen in zahllosen mehr oder weniger streng codierten Anstrengungsprogrammen Formen und Inhalte zu 8 F. N., Zur Gencalogir der Moral, Dritte Abhandlung: was bedeuten
asketische Ideale? KSA
5, S.
362.
Der Planer der Übenden geben. Wenn Nietzsche von dem asketischen Stern spricht, so
2 Ferner Blick auf den asketischen Stern
sagen
pathogogische
Askese ankommt - die kunstgerechte
nicht, weil er lieber auf einem entspannreren Gestirn geboren
Selbstvergewaltigung einer Elite von Leidenden, kraft wel
wäre. Sein Antike-Instinkt verrät ihm, daß jeder Himmels
cher sie befähigt wird, andere Leidende zu führen und Ge
körper, den zu bewohnen sieb lohnt, ein- recht verstanden
sunde zum Mir-Kranksein zu verleiten -, legen die letzteren
asketischer, ein von Übenden, von Aufstrebenden, von Vir
sich ihre Reglements nur darum auf, weil sie in ihnen das
tuosen bevölkerter Stern sein muß. Was ist für ihn Antike
Mittel sehen, um als Denker und Schöpfer von Werken in
anders als ein Codewort des Zeitalters, in dem Menschen
stark genug werden mußten für ein sakral-imperiales Bild
ihr Optimum zu gelangen. Was Nietzsche das Pathos der Distanz nennt,9 ist ganz der Scheidung der Askese-Geister
war der Vorsatz inhärent, den Sterblieben aufzuzeigen, wie
Übungen, mit deren Hilfe sich Erfolgreiche, Gute und Ge
des Ganzen? Den großen Weltanschauungen der Antike
gewidmet. Es soll »die Aufgaben aus einander halten« und die
sie mit dem »Universum« in Harmonie z.u leben vermögen,
sunde erfolgreicher, besser und gesünder machen, von jenen
auch und gerade dann, wenn das Ganze ihnen seine Rärsel
Übungen trennen, welcher resolute Versager, Böswillige und
Was man die Weisheit der Alten nannte, war im wesentlichen
erlangter Überlegenheitsgefühle willen, sei es, um sich von
das ohne Heroismus nicht zu erlangen war. Nierzsches Stern
tern abzulenken.10 Unnötig zu betonen, daß die Opposition
seite, seine Rücksichtslosigkeit gegen die Einzelnen zukehrte.
ein tragischer Holismus, ein Sich-Einfügen in großes Ganzes,
sollte der Ort werden, dessen Einwohner, die männlichen
Kranke sich auf Säulen und Kanzeln stellen, sei es um pervers
ihrem quälenden Interesse fürs eigene Kranksein und Schei
zumal, das Gewicht der Welt von neuem ohne Wehleidigkeit
von Gesund und Krank hier nicht bloß medizinisch zu ver stehen ist: Sie dient als Leirunterscheidung einer Ethik, die
tragen - der Maxime des Stoizismus gemäß, es komme allein
das Leben mit der »ersten Bewegung« (»sei ein aus sich rol
darauf an, sich für den Kosmos in Fonn zu halten. Etwas
lendes Rad!«) dem Leben unter dem Vorrang der gehemmten
hiervon tauchte wenig später in Heideggers Lehre von der
Bewegung überordnet.
Sorge wieder auf, unter deren Ruf sich die Sterblichen auf
Durch die Erweiterung der moraJhistorischen Perspekti
den Lastcharakter des Daseins einzustellen haben - (die
ven wird erkennbar, was die These von der athletischen und
Sterblichen sind nach 1 9 1 8 in erster Linie die Verwundeten und Nicht-Gefallenen, die sich als Anwärter für andere To desarten an anderen Fronten bereithalten sollen). Auf keinen
Fall durfte die Erde die Anstalt bleiben, in der die Ressenti mentprogramme von Kranken und die EntSchädigungskün ste von Beleidigten das Klima bestimmen. Bei seiner Unterscheidung der Askesen setzte Nietzsche die von ihm mit bösem Blick durchleuchteten priesterlichen Varianten auf der einen Seite scharf von den disziplinarischen Regeln der geistig Schaffenden, der Philosophen und Künst ler wie von den Exerzitien der Krieger und Athleten auf der anderen Seite ab. Wenn es den erstgenannten auf eine sozu-
somatischen Renaissance besagt. Um die Wende vom 1 9· zum 20. Jahrhundert
ist das Phänomen, das nach den Sprachrege
lungen der Kunstwissenschaft die »Wiedergeburt der Antike«
hieß, in eine Phase eingetreten, die die Motive unserer An teilnahme an antiken, sogar frühantiken Kulturrelikten von Grund auf modifiziert. Es handelt sich dabei, wie gesehen, um den Rückgang in eine Zeit, in der das Ändern des Lebens
9 Ibid., S. 37 1 .
10
Ibid., S. 382. Aus diesen Hinweisen hat Allred Adler seinen indi vidualpsychologischen Ansatz der Psychotherapie abgeleitet, bei dem die Neurose als kostspieljge Hilfskonstruktion zur Sicherung der Überlegenheitstäuschung des Unterlegenen definiert wird.
Der Planet der Übenden
noch nicht unter dem Kommando lebensverneinender Aske
2 Ferner
Blick auf den asketischen Stern
ker dazu disponiert war, sich mit dem therapeutischen Sinn
sen stand. Diese »überepocbale« Zeit kann ebensogut Zu
der negativen asketischen Ideale zu befassen als mit dem ath
kunft genannt werden, und was ein Rückgang zu ihr zu sein scheint, ist auch als Sprung nach vom zu denken. Die Art und
Sinn der positiven Übungsprogramme. Er war zeitlebens
Weise, wie Rilke den Apollo-Torso erfälm, bezeugte dieselbe Kulturwende, der Nietzsche auf der Spur war, als er seine Reflexionen über die Aufstellung der priesterlichen, »bio negativen«, spiritualistischen Askesen bis zu dem Punkt vor antrieb, an dem der paradoxe Kampf des Ieidendeo Lebens
gegen sich selbst sichtbar wurde. indem er auf die asketolo gischen Fundamente der höheren menschlichen Lebensfor men stieß, sprach er der »Moral« eine neue Bedeutung zu. Die Mächtigkeit der Übungsschicht im menschlichen Verhalten ist weit genug gefaßt, um den Gegensat.z voo bejahenden und verneinenden »Moralen« zu überspannen. Um es noch einmal zu betonen: Diese Offenlegung »einer
der breitesten und längsten Tharsachen, die es giebt«, betrifft
nicht allein die selbstquälerischen Ausgestaltungen des Um gangs mit sich selbst. Sie umspannt alle Varianten der »Sorge um sich« ebenso wie alle Formen der Sorge. um Angleichung
letischen, diätologischen, ästhetischen, auch »biopolitischen« krank genug, um sich für Möglichkeiten der sinngebenden Überwindung von Krankheit zu interessieren, und luzide genug, um die überlieferten Sinngebungen des Sinnlosen ab zulehnen. Daher verband sich bei ihm die widerwillige
Hochachtung vor der Leistung asketischer Ideale in der bis herigen Menschheitsgeschichte mit der Unwilligkeit, sie in eigener Sache in Anspruch zu nehmen. Aus dieser Schwan kung zwischen der Anerkennung des gegen sich selbst Zwang übenden Verhaltens und der Skepsis gegen die idealistischen Überspannungen solcher Praxen ging bei ihm die neue Auf merksamkeit für den Verhaltensbereich Askese, Übung, Selbstbehandlung insgesamt hervor. Dessen Neubeschrei
bung in den Ausdrücken einer allgemeinen Theorie der An
thropotechniken steht jetzt an. Drei Punkte sind festzuhalten, die die Entdeckung des >>aske
an das Höchste. Im übrigen macht die Zuständigkeit der As
tischen Sterns« so reich an Konsequenzen wie an Problemen
Keimdisziplin der Anthropotechnik begriffen, nicht bei den hochkulturellen Phänomen und den spektakulären Resulta
sion Askese war erst in einer Zeit möglich geworden, in der sich die Askesen post-spirituell somatisieren, die Manife
sesten Ausprägungen des Virtuosemums mündend) halt; sie
plinferne und informelle Wege geraten. Die Entspiritualisie
ketologie, als allgemeine Übungstheorie, Habituslehre und
ten geistiger oder somatischer Vertikalaufstiege (in die diver
schließt jedes vitale Kontinuum, jede Gewohnheitsreihe, jedes gelebte Nacheinander ein, das scheinbar farmloseste Dahintreiben und die verwahrlosresre Entkräftung inbegrif
fen.
Eine ausgeprägte Einseitigkeit läßt sich an Nietzsches spä ten Schriften nicht verkennen: Er hat seine asketalogischen Entdeckungen nach der positiven Seite hin nicht mit demsel ben Nachdruck verfolgt, den er bei seinen Erkundungen des morbiden Pols an den Tag legte - ohne Zweifel, weil er stär-
machen. Zum einen: Nietzsches neuer Blick auf die Dimen
stationen von Spiritualität dagegen auf post-asketische, diszi rung der Askesen ist vermutlich das umfassendste, seiner Großformatigkeit wegen am schwersten wahrnehmbare,
gleichwohl spürbarste und atmosphärisch mächtigste Ereig nis in der aktuellen Geistesgeschichte der Menschheit. lm Gegenverkehr entspricht dem die Informalisierung der Spi ritualität - begleitet von deren Vermarktung in entsprechen den Subkulturen. Die Grenzwerte für beide Tendenzen lie fern die geistigen Landmarken des 20. Jahrhunderts: Für die
erste Tendenz steht der Sport, der zur Metapher der Leistung
66
Der Planet der Übenden
überhaupt geworden ist, für die zweite die populäre Neo Mystik, diese
devotio postmodema, die das
Leben der zeit
genössischen Einzelnen mit unvorhersehbareo Blitzen inne rer Ausnahmezustände überzieht. Zum anderen: Auf dem asketischen Stern, nachdem er als
solcher entdeckt ist, wird der Unterschied zwischen denen, die etwas oder viel aus sich machen, und denen, die nichts oder wenig aus sich machen, immer auffälliger. Dies ist eine
2 Ferner Blick auf den asketischen Stern
Z1tr Genealogie der Moral,
woran
sich das menschliche Le
ben nach der Götterdämmerung noch orientieren könne, ganz mühelos. Die Vitalität, als somatische wie geistige ver standen, ist selbst das Medium, das ein Gefälle zwischen Mehr und Weniger enthält. Sie hat daher das vertikale Mo ment, das Aufstiege orientiert, i n sich, sie braucht keine zu sätzlichen externen oder metaphysischen Attraktorcn. Daß Gott tot sein soll, macht in diesem Zusammenhang nichts.
Differenz, die in keine Zeit und keine Ethik paßt. Auch keine
Mit oder ohne Gott kommt jeder nur so weit, wie seine Form
Soziologie kommt mit ihr zurecht. Im monotheiscischen
ihn träge.
Zeitalter galt Gott als derjenige, der alles bewirkt und tut, weswegen es den Menschen nicht zusteht, aus sich selbst
Selbstverständlich war »Gott« in der Zeit seiner effektvoll
etwas oder viel zu machen. In humanistischen Epochen hin
sten kulturellen Repräsentation unmittelbar der überzeu
gegen gilt der Mensch als derjenige, durch den alles bewirkt
gendste Attraktor für Lebens- und Übungsformen, die »zu
und getan wird - dann aber hat er kein Recht mehr, nichts oder wenig aus sich zu machen. Ob nun Menschen nichts aus
ihm« strebten-und dieses Zu-ihm war unmittelbar identisch
sich machen oder viel - sie begehen nach den überüeferten
spannung nach dem Tod Gottes beweist, mit welchem Sinn
Logiken einen unerklärlichen und unverzeihlichen Fehler.
für den Ernst der Sache er seine Aufgabe als »letzter Meta
Immer gibt es einen Überschuß an Unterschieden, der sich
physiker• ausfüllte, ohne daß ihm die Komik seiner Mission
in keines der vorgegebenen Systeme der Lebensauslegung einfügt. In einer Welt, die Gott gehört, macht der Mensch
entgangen wäre. Als Zeuge für die Vertikale ohne Gott hatte
aus sich zuviel, sobald er den Kopf hebt; in einer Welt, die den Menschen gehört, machen diese aus sich regelmäßig zu
Rivalen fürchten mußte, gibt seiner Wahl recht. Sein An spruch, die Höhe des Toten freizuhalten, war eine Passion,
wenig. Daß der Grund der Ungleichheit zwischen den Men
die für nicht wenige Leidensgenossen im 20. Jahrhundert ver
schen in ihren Askesen liegen könnte- in der Verschiedenheit
mit »hinauf<<. Nietzsches Sorge um die Rettung der Vertikal
er seine große Rolle gefunden. Daß er zu seiner Zeit keinen
ständlich blieb: Dies motiviert die bis heute virulente An
ihrer Stellungnahmen zu den Herausforderungen des üben
teilnahme vieler Leser an Nietzsches Existenz und deren un
den Lebens: dieser Gedanke ist in der Geschichte der Nach
lebbaren Widersprüchen. Hier ist für einmal das Epitheton
forschungen über die letzten Ursachen der Verschiedenheit
»tragisch« a m Platz. Der Theomorphismus seines Seelenle
zwischen Menschen nie formuliert worden. Geht man dieser
bens hielt den eigenen Gotteszerstörungsübungen stand.
Vermutung nach, eröffnen sie buchstäblich unerhörte, weil
Dem Autor der Fröhlichen
ungedachte Perspektiven.
fern auch er noch fromm war. Zugleich verstand er schon
Wissenschaft war bewußt, inwie
Zuletzt: Wenn die athletische und somatische Renaissance
genug von den Spielregeln, die auf dem asketischen Stern
bedeutet, daß entspiritualisierte Askesen wieder möglich,
gelten, daß ihm klar sein mußte, alle Aufstiege beginnen beim
wünschenswert und vital plausibel sind, dann beantwortet
Basislager des gewöhnlichen Lebens. Seine Fragen: Tra nszen
sich Nietzsches aufgeregte Frage a m Ende seiner Schrift
dieren, aber wohin?, aufsteigen, aber in welche Höhe?, hätten
68
Der Planet der Übenden
sich von selbst beantwortet, wäre er ruhig auf dem Boden der asketischen Tatsachen geblieben. Er war zu krank, um seine wichtigste Erkenntnis zu befolgen: daß es die Hauptsache im Leben sei, die Nebensachen ernst zu nehmen. Wo Nebensa chen erstarken, wird die Gefahr, die von der Hauptsache aus geht, gezügelt. Im Nebensächlichen höher steigen heißt dann in der Hauptsache vorankommen.
3 NuR KRüPPEL WERDEN ÜBERLEBEN
UNTHANS LEKTION
Daß das Leben mit dem Zwang verknüpft sein kann, starken Widerständen zum Trotz voranzukommen, gehört zu den Grunderfahrungen der Gruppe von Menschen, die man frü her mit einer sorglosen Deutlichkeit die Krüppel nannte, ehe sie von jüngeren, vorgeblich humaneren, verstehenderen, respektvolleren Zeitgeistern in die Behinderten, die Anders begabten, die Sorgenkinder und schließlich einfachhin die >>Menschen«1 1 umgetauft wurden. Wenn ich im folgenden Kapitel den älteren, beute schon taktlos wirkenden Audruck weiter verwende, so ausschließlich aus dem Grund, weil er im Wortschatz der Zeit, an die ich in diesen Sondierungen erin nere, seinen angestammten Platz hatte. Gäbe man ihn auf, um eine Sensibilität, vielleicht auch nur eine Sensiblerie zu be dienen, würde mit ihm ein System von unentbehrlichen Be obachtungen und Einsichten verschwinden. Ich möchte im folgenden die ungewohnte Konvergenz von Mensch und Krüppel in den Diskursen der Generation nach Nietzsche herausstellen, um weitere Aufschlüsse über den Strukturwan del der menschIichen Steigerungsmotive in neueren Zeiten zu gewinnen. Hier wird sich zeigen, in welchem Maß die Rede vom Menschen im 20. Jahrhundert auf krüppelanthropologi schen Prämissen fußt - und wie die Krüppelanthropologie spontan in eine Trotzanthropologie übergeht. In ihr erscheint der Mensch als das Tier, das vorankommen muß, weil es von etwas behjndert wird. 1r
Zur Erinnerung: Die bekannte Initiative der Deutschen Behinder tenhilfe Aktion Sorgenkind, 1964 gegründet, wurde unter dem Druck des con·ectness-Zcitgeists ab März 2000 in Aktion Mensch umbenannt.
70
Der Planet der Übenden
Das Verbum »fußen« gibt mir das Stichwort zu dem Refe rat, mit dem ich die von Nietzsche angeregten Erkundungen auf dem Stern der Übenden - und in gewisser Weise auch das von Rilke eingeführte Nachdenken über Torsi - fortsetze. Im Jahr 1925> zwei Jahre vor Heideggers Sein und Zeit, drei Jahre vor Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos, erschien in Lutz' Memoirenbibliothek, Sruttgart, ein Buch unter dem zugleich erheiternden und schockierenden Titel Das Pedi
skript. Aufzeichnungen aus dem Leben eines Armiosen, mit Bildern. Es stammte aus der »Feder« von Carl Hermann Unthan, 1848 in Ostpreußen geboren, 1929 gestorben - de facto war es unter Verwendung eines Griffels mit dem Fuß JO
auf einer Schreibmaschine getippt. Unthan verdient ohne Zweifel einen Platz im Pantheon der Existenzvirtuosen wider Willen. Er gehört zu denen, die viel aus sich zu machen wuß ten, obwohl angesichts der Startbedingungen alles dafür sprach, daß er nichts oder wenig aus sich würde machen kön nen. Im Alter von sechs oder sieben Jahren entdeckte der armlos geborene Junge zufällig die Möglichkeit, auf einer Geige zu spielen, wenn diese an einem auf dem Boden ste henden Kasten fixiert wurde. Mit einer Mischung aus Naivi tät und Zähigkeit vertiefte er sich in die Verbesserung der von ihm gefundenen Art und Weise des Geigenspiels mit den Füßen. Der rechte Fuß hatte dabei die Rolle der Hand, die die Finger auf die Seiten setzt, zu übernehmen, während der linke Fuß den Bogen führte. Der junge Mann betrieb seine Übungen mit solcher Beharr lichkeit, daß er nach dem Besuch des Gymnasiums zu Königs berg in das Konservatorium von Leipzig aufgenommen wur de. Dort erstieg er, ein enormes Übungspensum absolvierend, beachtliche Grade von Virtuosität. Sein Repertoire erweiterte sich und schloß bald auch artistische Höchstschwierigkeiten ein. Naturgemäß hätte das Geigenspiel des Behinderten, wäre es in der üblichen Form praktiziert worden, kaum von ferne so viel Beachtung finden können, wie ihm aufgrund seiner akro-
3 Nur Krüppel werden überleben
71
barischen Unwahrscheinlichkeit zuteil wurde. Es dauerte nicht lange, und ein Variete-Unternehmer begann sich für Un than zu interessieren. Ab 1868 begab sich der noch Unmün dige auf Konzerueisen, die ihn nach Zwischenstationen in der deutschen Provinz in die Hauptstädte Europas fühnen, später auch nach Übersee. Er spielte unter anderem in Wien, wo er den Kapellmeistern Johann Strauß und Michael Zierer vorge steilt wurde. In München beeindruckte er den ungarisch bayerischen Militärkapellmeister und Walzerkönig Josef Gungl, indem er ihm dessen soeben komponierten Hydropa then-Walzer vorspielte; Gungl war insbesondere über die Ausführung der Doppelgriffe mit den Zehen fassungslos. Nach einem Konzert im »Überfüllten Redoutensaal« von Bu dapest soll ihm Franz Liszt, der in der ersten Reihe gesessen hatte, zu seinem virtuosen Spiel gratuliert haben. Er habe ihm »auf die Wange und Schulter« geklopft und ihm seine Aner kennung bezeugt. Unthan bemerkt hierzu: »Was war es, das mich an der Echtheit seiner Begeisterung zweifeln ließ? Wo durch erschien sie mir so gemacht?« 12 Man begreift: Mit dieser Notiz rührte Unthan, zur Zeit der Abfassung des Pediskripts schon über Siebzig, nicht nur an Unwägbarkeiten in den Be ziehungen zwischen älteren und jüngeren Virtuosen. Die Fra gen, ein halbesJahrhundert nach der geschilderten Szene hin geschrieben, hatten Bedeutung als Symptom: Sie erinnerten den Autor an eine ferne Zeit, in der die Ulusion, er könne als Musiker und nicht als Kuriosum ernst genommen werden, noch nicht erloschen war. In Liszts väterlich mitleidiger Geste spürte der Verfasser noch nach fünfzig Jahren den kalten Hauch der Ernüchterung: Liszt, selber ein einstiges Wunder kind, wußte aus Erfahrung, welche Art von Leben Virtuosen jeder Art bevorsteht. Um so mehr muß er geahnt haben, was ein junger Mann vor sich hat, der als Sieger über eine Laune der Natur durch die Welt reisen wird. 12
C. H. Unthan, Das Pediskript, a.a.O., S. 73·
Der Planet der Übenden
3 Nur Krüppel werden überleben
73
Ein weit verbreitetes Klischee von Biographen besagt, ihr
Weiblichkciten jeden Alters 1 873 in Havanna, ȟber allem lag
Held habe, oft erst nach mühevollen Anfangsjahren, »sich
ein Hauch des Verfalls«, auch Negerinnentänze: >>wir sahen
die Welt erobert«. Unthan greift im Modus seiner Selbstdar
das denkbar Unerlaubteste«; ein Eidechsenessen in Mexico;
stellung diese Wendung auf, indem er, Anekdote an Anekdo
>>ausverkauft« in VaJparaiso, »die Sonne senkte sich langsam
te reihend, die Saga seiner erfolgreichen Jahre als einen lang
in den Stillen Ozean. Als würde ihr das Scheiden schwer . . .«
gestreckten Reisebericht vorträgt., von Großstadt zu Groß
Sieben Stunden im Tempo geschwomme11, »ohne mich auf
stadt, von Kontinent zu Kontinent. Er rapportiert die
den Rücken zu wenden«, heftiger Sonnenbrand infolgedes
Geschichte eines langen Lebens in ständiger Bewegung: auf
sen; Begegnung mit einem armlosen PortraitmaJer in Düssel
Cunard-Dampfern, in Eisenbahnen, in Hotels jeder Katego rie, in prestigeträchtigen Konzerthallen, in schäbigen Eta
dorf, einem Schicksalsvetter, der mit einem Bein malte- »des
blissements. Den größten Teil seiner Karriere dürfte er auf
Fragens und Antwortens war kein Ende«, »er war voller Le bensfreude und Ü bermut. Unser Plaudern ging dennoch zu
suspekten Varietebühnen zugebracht haben, von deren Ram
meist in die Tiefe.<< Der Tod der Mutter: >>in mir betete es, was
pen er dem verblüfften Publikum nach dem Ende seiner Dar bietungen »Kußfüße«13 zuwarf. Das Grundgeräusch von
es betete, v.rußte und weiß ich nicht.<< Auftritte i m Orient, wo
Unthans öffentlichem Leben scheint der Beifallsjubel der von seinen Auftritten Ü berraschten gewesen zu sein. Verfaßt
krassesten Erlebnisse allein würde Bücher füllen«. Enttäu
sind Unthans >>Aufzeichnungen«, die weder als Aurabiogra phie noch als Memoiren zu bezeichnen sind, sondern am
der Erde zusammengefunden<< zu haben schien; Verhaftung
ehesten unter der Rubrik Merkwürdigkeiten zu registrieren wären, in einer zugleich naiven und sentimentalen Sprache,
dem Fuß zu St. Petcrsburg in Anwesenheit des Zaren Alex
die von fertigen Redewendungen durchsetzt ist, angelehnt an
Gepräge des Rückganges«, ein Komet über Kuba; Mit
die Diktion des Erlebnisaufsatzes aus der Mitte des 19. Jahr hunderts, gleichsam mit der Zunge im Mundwinkel nieder
geschrieben.
die Menschen ausgeprägter sind, »die Aufzählung meiner schung am Grab Christi, wo sich »das verworfenste Gelichter in Kairo, Nikotinvergiftung in Wien, Gewehrschießen mit ander III., Gastspiel in Managua, »die Stadt Le6n trug das wirkung an einem Film mit dem Titel
Mann ohne Arme.
An Bord der »Eibe« nach New York, als Mirreisender Ger hart Hauptmanns, der eine kurze Konversation mit dem Ar
Auf jeder Seite des Pediskripts bringt der Verfasser seine Ü berzeugung zum Ausdruck, sein Lebenserfolg verrate sich
tisten führt. Dann die Neue Welt: ,.der Amerikaner bringt
in einer überquellenden Sammlung erlebter pittoresker Situa
>»Sie sind der glücklichste Mensch, den ich kenne<, sagte je
Außergewöhnlichem ein anregendes Verständnis entgegen«.
tionen. Wie ein Reiseschriftsteller des bürgerlichen Zeitalters
mand, den sie John D. nannten. >Und Sie mit Ihrem Geld,
breitet Unthan seine Schätze aus -das erste Konzert, das erste
Herr Rockefeller?<, fragte ich ihn. >Mit all meinem Geld kann
Fahrrad, die erste Enttäuschung. Daneben wimmelt es von
icb mir nicht Ihre Lebensfreude kaufen . . .
«<
bizarren Beobachtungen: ein Stierkampf, bei dem der Stier
Das Pediskript könnte als eine Artvon »lebensphilosophi
mehrere Toreros aufspießte; ein Schwertschlucker, der sich
scher« Performance gelesen werden, das Wort im volkstüm
mit einem Schirm die Kehle verletzte; grell geschminkte
lichen Sinn verstanden. Umhan tritt in der Haltung eines Artisten vor sein Publikum, dessen spezielles Virtuosenrum
13 Ibid., S. 147.
auf der Violine, später mit dem Gewehr und der Trompete, in
3 Nur Krüppel werden überleben
Der Planel der Übenden
74
ein Gesamrvirtuosemum, eine alle Lebensaspekte durchdrin gende Lebenskunstübung, eingebettet ist - nicht umsonst il lustriert der Bildteil des Buchs den Autor vor allem bei alltäg lichen Verrichtungen wie beim Öffnen von Türen und beim Aufsetzen des Huts. Wollte man Umhans allgemeinere Intuitionen in eine theoretische Diktion übersetzen, wäre seine Position als die eines vitalistisch gefärbten »Krüppelexistemialismus« zu be stimmen. Demzufolge besitzt der Behinderte die Chance, seine Geworfenheit in die Behinderung als Ausgangspunkt einer umfassenden Selbstwahl zu erfassen. Damit ist nicht nur die selbSttherapeutische Grundhaltung gemeint, wie sie Nietzsche in Ecce homo unter der Überschrift Warum ich so weise bin im zweiten Abschnitt ausdrückt: >>Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selber wieder ge sund . . . « Unthan bezieht seine Wahl auf die eigene Zukunft. Dem 2 1jäbrigen, der sich in die Unabhängigkeit entlassen fühlt, legt er den Satz in den Mund: »in die eiserne Faust werde ich mich nehmen, alles aus mir herauszuholen . . . « 1 4 Die Behinderung wird von ihm als eine Schule des Willens gedeutet. »Wer von Geburt an auf eigene Versuche angewie sen ist und nicht daran gehindert wird . . . bei dem entwickelt sich ein Wille . . . der Trieb zur Selbständigkeit . . . reizt zu fortdauernden Versuchen an.« 1 5 Die Konsequenz ist emotionaler Positivismus, der mit einem rigorosen Melancholieverbot zusammengeht. Unthans Widerwille gegen jede Art von Mitleid erinnert an analoge Setzungen in Nietzsches Moralphilosophie. Nur andauernde Schmerzen seien möglicherweise imstande, einen Behinder ten zu zermürben: »Alle anderen Mißstände kämpft der Wille nieder und bricht sich Bahn zum Sonnenschein.«16 Die >>SOn nige Lebenauffassung« des Krüppels, der sich frei entfalten 14 Ibid., S. I 5 Ibid., s. 16 Ibid., S.
75
konnte, führt, wie man hört, zu einem »höheren Prozentsatz an Lebensfreude«, als er beim >>Yollmenschen« anzutreffen se1 . 1 7 Umhau beendet seine Aufzeichnungen mit einem Resümee, das seine Konfession verkündet: »Ich fühle mich dem Vollmenschen gegenüber in nichts verkürzt . . . Noch nie habe ich einen Menschen gefun den, mit dem ich nach Betrachtung aller Umstände härte tauschen mögen. Gekämpft habe ich redJich, mir mir selbst mehr noch als mit der Umwelt, aber die feinsten seelischen Genüsse, die mir gerade aus den Kämpfen infolge meiner Armlosigkeit erwachsen sind, möchte ich um keinen Preis der Welt herge ben.)8 Daß es alles in allem nur darauf ankomme, dem Krüppel freie Entfaltung zu gewähren: In dieser These verdichtet Unthan seine moralischen Intuitionen, die zwischen Emanzipations drang und TeiJhabeverlangen schwanken. Unter »freier Ent faltung« ist hier nicht die Lizenz zu ästhetischen Exzessen zu verstehen, wie die gleichzeitigen Bohemienideologen sie für sich reklamierten. Dem Krüppel >>genug Licht und Luft in der Entwicklung« 1 9 lassen heißt vielmehr ihm die Chance zur Teilhabe an der Normalität zugestehen. So kehrt sich für den Behinderten das Verhältnis z.wischen 'Bürgern und Arti sten um. Er kann nicht wie bürgerliche Ausbrecher aus der Gewöhnlichkeit davon träumen, den Leuten im grünen Wa gen zu folgen. Wenn er Künstler werden will, dann um Bür ger sein zu können. Für ihn ist Artistik die Quintessenz bür gerlicher Arbeit, und mit dieser seinen Lebensunterhalt zu bestreiten begründet seinen Stolz. Gelegentlich notiert der Autor, er wolle nicht wie seinerzeit Walther von der Vogel weide von einem hohen Herren einen Pelz für den Winter •
97· 306. 307.
17 Ibid. r 8 Ibid. 19 Ibid.
...
Der Planet der Übenden
geschenkt bekommen: »ich würde vorziehen, mir den Pelz mit meinen Füßen zu erarbeiten«.20 Im ethischen Kern von Unthans Krüppelexistentialismus entdeckt man das Paradox einer Normalität für Unnormale. Existentialistisch im engeren Sinn des Wortes hieran sind drei Motive, deren Ausarbeitung der Philosophie des 20. Jahrhun derts vorbehalten war: zum einen die Figur der Selbstwahl, kraft welcher das Subjekt etwas aus dem macht, was aus ihm gemacht wurde; zum anderen die sozial-ontologische Zwangslage, in der sich jeder befindet, der unter dem »Blick des Anderen<< existiert: aus ihr ergibt sich der Freiheitsimpuls, sprich der »Anstoß«, sich gegen die feststellende Gewalt, die vom fremden Auge ausgeht, zu behaupten; und schließlich die Versuchung der Unaufrichtigkeit, mit der das Subjekt seine Freiheit von sich wirft, um die Rolle eines Dings unter Din gen, eines An-Sich, einer Naturtatsache zu spielen. Aus der Sicht des französischen Existentialismus hat Unthan alles richtig gemacht. Er wählt sich selbst, er setzt sich gegen das versklavende Mjtleid der anderen durch, er bleibt der Täter seines Lebens und wird kein Kollaborateur der vorgeb lich übermächtigen Umstände. Der Grund jedoch, weswegen er alles richtig macht - womöglich richtiger, als sich im phi losophischen Jargon ausdrücken ließe -, könnte mit den Denkmimein der linksrheinischen Reflexion nicht genügend ausgeleuchtet werden. Die Insuffizienz des französischen Ansatzes gründet in dem Umstand, daß der in Frankreich nach 1940 entstehende Existentialismus eine Philosophie für politisch Behinderte formulierte (im gegebenen Fall: für Angehörige eines besetzten Landes), indessen in Deutschland und Österreich vom letzten Drittel des 19. JahrhundertS an eine vitalistisch-therapeutisch gefärbte Philosophie für phy sisch und psychjsch Behinderte, namentlich für Neurotiker 20 Ibid., S. 72.
3
Nur Krüppel werden überleben
77
und Krüppel, entstanden war, die sich nach 1918 mit politi schen, sozialphilosophischen und anthropologischen Inhal ten auflud. Während die Franzosen durch die Okkupation lernten, Existenz (und existentielle Wahrheit) mit Widerstand und Freiheit im Untergrund zu assozüeren, hatten Deutsche und Österreicher zwei Generationen zuvor damit begonnen, Existenz (und existentielle Wahrheit) mit Trotz und Kom pensationsleisrungen gleichzusetzen. Daher ist das Schau spiel der >>kontinentalen Philosophie« - um für diesmal die lächerliche Kennzeichnung des inhaltlichen Denkens durch Formalisten hinter dem Wasser zu benutzen - in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur zu verstehen, wenn man die Kontraste und Synergien zwischen dem älteren und umfas senderen mitteleuropäischen Trotzexistentialismus und dem jüngeren politisch verengten westeuropäischen Widerstands existentialismus im Auge behält. Der erstgenannte hat seine Quellen in nachmärzlicher Zeit, etwa bei Max Stirner, und erstreckt sich, nach seiner Kulmination in Nietzsche, bis zu den Systemen Freuds, Adlers und späterer Kompensations theoretiker, die in der Bundesrepublik wirksam wurden; der zweite nahm, wie bemerkt, unter der Okkupation von 1940 bis 1 944 Gestalt an, nicht ohne eine Vorgeschichte aufzuwei sen, die über den Revanchismus der Dritten Republik bis in die Zornsammlungsbewegungen unter den Verlierern der Französischen Revolution zurückreicht, namentlich den Frühsozialisten und Frühkommunisten. Hat man das deut sche Modell erfaßt, so erkennt man es in seinen linksrheini schen Travestien unschwer wieder. Was nach I 944 auf der Rive Gauche als Lehre vom Gegen die Runde machte, war die politische Adaptation des deutschen Behindertenexisten tialismus, dessen Anhänger auf die Ethik des Trotzdem ein geschworen waren. Unthan gehört zweifellos zur trotzexistentialistischen Strö mung älteren Datums. Der Besonderheit seiner Lebensbedin-
Der Plane[ der Übenden
3
Nur Krüppd werden überleben
79
gung wegen vermochte Urban nicht in dieser Tendenz auf
vorteilhaft, die Rede ist, angestarrt durch ein Publikum, des
zugehen. Was ihn abhebt, ist eine Sonderform von Trotzdem
sen Neugier sich häufig binnen kurzem in begeisterte Rüh
Leben, die ihn vom heroistischen Hauptstrom isoliert, um
rung wandelt. Wenn sich der Trotzexistentialismus zu seiner
ihn in die Gesellschaft der Artisten zu führen. Sein Helden
Varieteform zuspitzt, tritt der Krüppel-Artist auf, der sich als
tum ist das eines Strebens nach Normalität. Hierzu gehört die
Selbst-Vorzeige-Mensch gewählt hat. In dem stets von neuem
Bereitschaft zu einer freiwilligen Kuriosität, die über die un
zu gewinnenden Wettlauf mit der Schaulust der Normalen kommt seine Selbst-Exhibition der bloßen Sensation zuvor.
freiwillige hinausgeht. Folglich könnte man seine Position als die eines Variete-Existentialisten bestimmen. An deren An
Die Gegenüberstellung von Kunst und Leben entfällt bei
fang steht die List des Schicksals, die gebietet, aus der Not der
ihm. Sein Leben ist nichts anderes als die durch harte Übung
Anomalie eine artistische Tugend zu machen. Von starken
erarbeitete Kunst, normale Dinge zu tun, wie Türen öffnen
Ausgangsparadoxien vorangetrieben, möchte der Variete
und sich die Haare kämmen, einschließlich nicht ganz so
Existentialist einen Weg zu einem »anständigen Exhibitionis
normaler Dinge, wie mit dem Fuß Violine spielen und Blei
mus« finden. Für ihn soll die Normalität zum Lohn der
stifte mir einem vom Fuß ausgelösten Gewehrschuß in der
Unnormalität werden. Er muß also, um mit sieb selbst im
M.itte halbieren. Den Luxus depressiver Stimmungen kann
reinen zu bleiben, eine Lebensform entwickeln, bei der sich
sich der Virtuose des Normalseinkönnens selten ]eisten.
die pathologische AuffäWgkeit in die Voraussetzung eines
fiddler,
Das Leben im Trotzdem nötigt dem, der zum Erfolg ent
armless
schlossen ist, die ostentative Lebensfreude auf. Daß es da
wie Unthans amerikanischer Bühnentitel hieß, um
drinnen zuweilen anders aussieht, geht niemand etwas an.
Anpassungserfolgs umwandelt. Darum durfte der
keinen Preis als bloßer Krüppel an die Rampe treten, wie es
Das Land des Lächelns wird von Krüppel-Artisten be
im europäischen Zirkus und mehr noch in den Freakshows
wohnt.
jenseits des Atlantiks Usus war. Er mußte sich als Sieger über
Ich füge die Bemerkung an, daß Hugo Ball, der Mitbe gründer des Dadaismus und Mit-InitiatOr des Zürcher Ca
seine Behinderung präsentieren und das Gafferrum mit des sen eigenen Waffen schlagen.
baret Voltaire, 1916,
neben Franz Kafka der bedeutendste
Diese Leistung erbracht zu haben bestätigt Umhans unge
Variete-Existentialist deutscher Sprache war, sowohl in
wöhnliche Position, die in der Gegenwart erneut durch einige
seiner dadaistischen Phase als auch in seiner katholischen
überragende Künstler besetzt wird. Indem sie es schaffen, die
Periode. In dem Roman
Paradoxien ihrer Daseinsweise zu entfalten, können Behin
der Armen von r9r8
derte zu überzeugenden Dozenten der conditio humana wer den - übende Wesen einer besonderen Kategorie mit einer
ginaler Gestalten aus dem Schausteller- und Zirkus-Milieu, über die er einen Vorsprecher erklären läßt: Diese Leute seien
Botschaft für übende Wesen im allgemeinen. Was Umhan
wahrhafrigere Menschen als die Bürger, denen es scheinbar
für sich eroberte, war die Möglichkeit, als Krüppel-Virtuose
gelingt, sich in der Mitte zu halten. Die Variete-Menschen
Flametti oder: Vom Dandysmus
versammelt er ein Pandämonium mar
zu einem Subjekt zu werden, das sich im selben Maß sehen
wissen mehr vom >>wirklichen Leben<<, weil sie an den Rand
und bewundern läßt, wie es vorgezeigt und angestarrt wird-
Geworfene, Gestürzte und Angeschlagene sind. Diese »ge
vorgezeigt in erster Linie durch die Impresarios und die
rempelten Menschen« sind es, die, vielleicht als einzige, noch
Zirkusdirektoren, von denen im Pediskript viel, und selten
authentisch existieren. In einer Zeit, in der die Normalen sich
8o
Der Plane[
der Übenden
dem Wahnsinn verschrieben haben, erinnern sie sich, ihrer Gebrochenheit zum Trotz, an die besseren Möglichkeiten des Menschseins. Sie sind die nicht-arehaiseben Torsi, die sich für unbekannte Aufgaben in Form halten. Dank ihnen
wird der Zirkus zur unsichtbaren Kirche. In einer Welt von Mitläufern beim kollektiven Selbstbetrug sind die Zirkusleu te die einzigen, die nicht schwindeln- wer auf dem Hochseil
läuft, kann keinen Augenblick lang so tun als ob. Wenig später wird Ball auf die Spuren einer heiligen Akrobatik sto ßen, der er in streng stilisierten, neo-katholisch erregten Stu dien ein Denkmal setzte: Byzantinisches Christentum. Drei Heiligen/eben, 1 923 - den Glaubenshelden der frühen öst üchen Kirche Joannes Klimax, Dionysios Areopagita und Symeon dem Styliten gewidmet, ein Hauptwerk der asketo logischen Dämmerungszeit. Wir sind mit dem Gesagten auf eine neue Wendung des
übungsphänomens gestoßen. Indem wir uns den Lebensfor men von Behinderten zuwenden, kommt unter den Bewoh ners des asketischen Sterns eine Klasse von Übenden in Sicht, bei denen speziellere Motive die Oberhand gewinnen. Sie treiben ihre Askesen nicht um Gottes wiUen - oder, wenn sie es tun, wie der zum Krüppel geschossene Ignatius von Loyola, so deswegen, weil ihnen Christus als Leitbild zur Neutralisierung ihres Mangels imponiert. Nicht umsonst wird Christus vom Gründer des Jesuitenordens als Kapitän aUer Leidenden zur Nachahmung empfohlen. Nur marginal jedoch gehören die sichtbar Behinderten zu den Kolonnen der heiligen Selbstquäler, die Nietzsche wie heisere Pilger chöre durch dieJahrtausende ziehen sah. Sie sind keine Kran ken im üblichen Wortsinn, obschon Nietzsche ihnen einen psychologischen Krankheitsverdacht entgegenbrachte - im übrigen vermuten auch die Psychoanalyse wie die offizielle Krüppelpädagogik der zwanziger Jahre bei den Behtnderten die Disposition zu einem Neidkomplex gegenüber den Ge-
3 Nur Krüppel werden überleben
sunden: genau das also, wovon Unrhan versichert, er leide darunter nicht im geringsten. Die Führung eines übenden Lebens antwortet bei ihnen auf den Stimulus, der in der kon kreten Behinderung sitzt - sie liefert den Hemmungsreiz, der zuweilen eine artistische Antwort provoziert. Wie Unthan feststellt, muß man dem Behinderten »Freiheit« in Form von »Licht und Luft in der Entwicklung« gewähren, bis der erlittene Anstoß vom Eigenwillen überformt und in ein Le bensprojekt integriert ist. Mithin: Durch das Phänomen des gehemmten und behinderten Lebens wird die allgemeine As ketelogie vor ihre Feuerprobe gestellt. Nun ist zu zeigen, wie aus der Analytik der Hemmungen ein ganzes System von Einsichten in die Gesetze der trotzen den Existenz hervorging. Hierzu ist eine Exkursion in die Katakomben der Geistesgeschichte vonnöten. Tatsächlich ist das bedeutendste Zeugnis des Trotzexistentialismus deut
scher Herkunft, zugleich das Manifest der älteren Krüppel anthropologie, bei der philosophischen wie der pädagogi schen Zunft restlos vergessen. Ich spreche von dem Buch Zerbrecht die Krücken von Hans Würtz, dem nietzscheanisch inspirierten Initiator der staatlichen Behindertenpädagogik, einem Werk, das zu Beginn der dreißiger Jahre erschien, ohne
die geringste Resonanz zu erfahren - aus Gründen, von denen gleich zu reden ist. Keine Philosophiegeschichte erwähnt das Buch, in keinem anthropologischen Lehrbuch wird darauf eingegangen,2 1 nicht einmal in den Kreisen von Nietzsche
Experten hat man von seiner Existenz eine Ahnung - und dies, obwohl gerade Nietzscheaner, ob akademisch oder at !arge, allen Grund hätten, sich mit der Rezeption von Nietzsches Ideen in der Krüppelpädagogenszene vor und nach 1918 zu beschäftigen. Ein angemessenes Nietzsche Verständnis kann aber unmöglich gewonnen werden, ohne 21
Auch in der bedeutendsten jüngeren Arbeit zum Thema: Klaus E. Müller, Der Krüppel. Eth nologia passionis humanae, München 1996, wird die Arbeit von Würtz nicht erwähnt.
Der Planet der Übenden
die Wirkung und Widerspiegelung seines Werks bei Krüp peln und ihren Vorsprechern ins Auge zu fassen. Der Grund für die Verschollenheit des Buchs ist vor allem in den politischen lmplikationen seines Gegenstands zu su chen - und in seinem Erscheinungsdatum. 193 2 auf den Markt gebracht, war ein Werk mit dem Titel Zerbrecht die Krücken in Deutschland nicht zeitgemäß - jedoch nicht, weil die Idee des Krückenzerbrechens damals keine Anhänger ge funden hätte, sondern im Gegenteil, weil die Titelparole allzu viele Bekenner in ihren Bann zog. Die wollten freilich von den realen Behinderten nichts hören. In größeren Biblio theken ist das seltene Werk unter der vollständigen Titel angabe verzeichnet: Zerbrecht die Krücken. Kn�ppel-Proble
me der Menschheit. Schicksalsstiefkinder aller Zeiten in Wort und Bild, 1932, Leipzig, im Verlag von Leopold Voss. Der Autor, 1875 in Heide, Holstein, geboren, 1958 in Berlin ver storben, früh verwaist, war anfangs Volkschullehrer in Ham burg-Altona, später in Berlin-Tegel. Er wirkte von 19 1 1 an als Erziehungsinspektor am Oskar-Helcne-Heim in Berlin-Zeh lendorf, das aus der vormaligen Krüppel-Heil-und-Erzie hungsanstalt für Berlin-Brandenburg hervorgegangen war. Unter der Leitung des jungen Idealisten entwickelte sich die genannte Institution zu einem Mekka der Krüppelfürsor ge in staatlicher Trägerschaft und erlangte internationale Re putation. Gemeinsam mit Konrad Biesalski, einem Orthopä den, machte Hans Würtz aus der Zehlendorfer Institution einen Fokus dieser neuen Form von philosophischer Praxis. Zwei Jahrzehnte lang behauptete sich die Würtz-Biesalski sche Krüppelanstalt als Hochburg des Trotzexistentialismus in Deutschland, ehe sie von neuen parteinahen Direktoren auf NS-Linie gebracht wurde. In diesem Institut sollten die Ideen Nietzsches über die Gleichung von Leben und Willen zur Macht auf den Prüfstand des täglichen Umgangs mit Be hinderten gestellt werden. Bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 hatte die NSDAP
-
3 Nur Krüppel werden überleben
37,3 Prozent der Stimmen gewonnen und war zu der mit Abstand größten Fraktion im Reichstag aufgestiegen. Die lautstarke Partei fand bei den Neubehinderten aus dem Er sten Weltkrieg starken Anklang - ihre Zahl wird allein in Deutschland auf 2,7 Millionen geschätzt. Was die Parole Zerbrecht die Krücken angeht, hätte Würtz demnach richtig liegen müssen - die deutsche Zeitstimmung wollte ja auf brei ter Front nichts anderes, als daß die Menschen fähig würden, ohne die lästigen Hilfskonstruktionen aktueller Daseinsvor sorge zu leben - im Kleineren wie im Größeren und Größten. Die Stunde der Bewegtbeiren hatte geschlagen. Als Führer einer sammlungsmächtigen Bewegung konnte nur noch auf treten, wer imstande war, glaubhaft die Zerschlagung herr schender Behinderungssysteme zu versprechen. Ein Dasein in Krückenlosigkeit leuchtete am Horizont auf und wurde zu einem Leitbild für all jene, die sich vom Gegebenen gekränkt, behindert und beengt fühlten. Die Stunde der Volksanarchis men hatte geschlagen. Seit seinen Anfängen war der Anarchismus die Philoso phie des Ohne gewesen. Er wollte sein Publikum zu der Ein sicht bringen, wie viele Hilfsmittel man in der modernen Ordnung der Dinge vorfindet, ohne die man auskommen könnte, wenn man nur fest genug an ein Leben ohne Herrn und Herrschaft glaubt: Ohne den Staat (die politische Krücke), ohne den Kapitalismus (die ökonomische Krücke), ohne die Kirche (die religiöse Krücke), ohne das beißfreudige Gewissen (die jüdisch-christliche Krücke der Seele), ohne die Ehe (die Krücke, an der die Se:J�:ualität durch die Jahre hinkt). Im Kontext der Weimarer Republik meinte das vor allem: ohne den Versailler Vertrag, der für die Deutschen zu einer zornerregenden Fessel geraten war. Darüber hinaus wollten viele zu jener Zeit auch ohne die Demokratie auskommen: Von zahlreichen Zeitgenossen wurde diese für eine Veranstal tung zur Lächerlichmachung des Volkes durch seine Vertreter gehalten - warum sollte man es nicht auch einmal mit der
Der Planer der Übenden
Lächerlichmachung der Volksvertreter durch die Populisten versuchen? Das Krückenzerbrechen war im Begriff, zum Kern revolutionärer Politik zu werden - ja zum Impuls der zeitgemäßen revolutionären Ontologie. Jenseits von Politik und Alltag erhob sich der Ruf nach einem Aufstand gegen alles, was uns durch sein bloßes Bestehen irritiert. Die Krückenmüden wollten nicht weniger abschütteln als das Joch des Realen. Alle Politik verwandelte sich in Politik für Behinderte im Aufruhr. Wer auch immer den Zorn gegen das »Gegebene« und »Bestehende« sammeln wolJte, konnte sicher sein, daß ein Großteil der Zeitgenossen bereit war, in allen Manifestationen des Institutionellen Krücken zu er kennen, die darauf warteten, zerbrochen zu werden. Das 20. Jahrhundert gehört den Volksfronten gegen die Hilfs
konstruktionen. Natürlich konnte die NSDAP zu keiner Zeit offen unter dem Zeichen des zu lösenden Krüppelproblems antreten,
3 Nur Krüppel werden überleben
Traum und ihr großes Trotzdem bestand. Die Inopportunität solcher Bekenntnisse liegt auf der Hand - um von ihrer psy chologischen Unwahrscheinlichkeit nicht zu reden. »Bewe gungen« dieses Typs leben davon, daß ihr primum mobile in der Latenz bleibt. Unleugbar war der politische Raum jener Jahre von Abkömmlingen der Krüppel-Problematik durch
drungen - nicht zuletzt auch aufgrund der TatSache, daß die Behinderung Wilhelms II. von seinem Biographen Emil Lud
wig 192 5 für ein größeres Publikum ins Zentrum der psyche
politischen Aufmerksamkeit gerückt worden war. Die Öf
fentlichkeit hallte wider von Fragen nach der Sinngebung des behinderten Daseins - und nach der Verträglichkeit von Macht und Behinderung. Darf man Behinderte an die Macht kommen lassen ? Was ist überhaupt Macht, wenn Behinderte
sie erringen können? Was geschieht mit uns, wenn Be
hinderte sie schon erlangt haben? Nietzsches scheinbar welt enthobene Meditationen aus den achtziger Jahren des vor
obschon sie unter wesentlichen Aspekten nichtS anderes
angegangenenjahrhunderts waren binnen kurzer Frist in den
kenfrage. Die Partei löste den Widerspruch, den sie verkör
sich darauf, die Gesichtspunkte Nietzsches zu aktualisieren, indem er zeigte, wie Behinderung, die richtige »Beschulung«
war als eine militante Stellungnahme zur Krüppel- und Krük perte, indem sie das gefährliche Thema des »lebensunwerten
Lebens« auf thr Programm setzte: Mit dieser Geste gelang es
ihr, ihr eigenstes Motiv radikal zu externalisieren. Andernfalls hätten sich die Führer der Bewegung selber als verkrüppelte Krüppelführer outen müssen, wie es tn derselben Zeit der behinderte Behindertenpädagoge Orto Perl getan hatte. Sie hätten offenlegen müssen, mit welcher Kompetenz und auf
grund welcher Delegationsverhältnisse ausgereebnet sie an der Spitze der nationalen Revolution stehen wollten: Hider
Glutkern der Politik vorgedrungen. Hans Würtz verstand
vorausgesetzt, in ein Surplus an Willen zum Lebenserfolg münden kann. »Das Material ist völlig unbefangen gesammelt«, heißt es in der Einleitung des Buchs, das eine enzyklopädische Über sicht über praktisch alle damals in Europa namentlich be kannten behinderten Kulturträger bietet. Deshalb erwähnt Würtz auch seinen Zeitgenossen Joseph Goebbels in seinen Übersichten und Tabellen zur MenschheitSgeschichte des
als emotional Behinderter, der in rauschhaften Momenten die
Krüppelproblems: Er führt den NS-Propagandisten zwetmal
krüppel, der aufs elegante Parkett strebte, Göring als Sucht
Figuren wie Lord Byron nicht
Fusion mit der Volksgemeinschaft suchte, Goebbels als Fuß behinderter, der m der NS-Herrschaft die Chance zu einer
unter der Kategorie der Klumpfußkrüppel an - wo er neben
großen Sause für sich und seine Ko-Abhängigen witterte - sie
alle hätten anzugeben gehabt, worin jeweils ihr Kampf, ihr
-
a
pn'ori
eine schlechte Figur
machen mußte: einmal in der Nationenliste,22 einmal in der 22
Würtz, Zerbrecht die Krücken, a.a.O., S. 1ot.
86
Der Planet der Übenden
Funktionenliste unter der Rubrik »revolutionäre Politi
hinleitet, heißt bei Wünz zeitgerecht »Arbeit" - wir verste
pelpädagogen Wünz die Ehre seiner Erwähnung in einem
denen die Emergenz des Übungsphänomens fortgeht.
faßt, Große und Größte darunter sowie Figuren vom Typus
falteten . . . Bewegung.«27 Die Bewegung, die hier die entfal
verwandten in der breit repräsentierten Kategorie »Schau
sierende, sondern die überkompensierende: Bei ihr führt die
ker«.23 Der Chef-Agitator der NSDAP verdankt dem Krüp
Who's who der Menschheit, das fast fünfhundert Namen um
Unthans, den Würtz zusammen mit zahlreichen Schicksals
hen, daß dieses Wort nur eines der Pseudonyme ist, unter »Ueberwundene Hemmung ist die Mutter aller ent
tete heißr, bezeichnet Würtz zufolge nicht bloß die kompen
krüppel und K.rüppel-Vinuosen« auflistet.24
Reaktion über den Anstoß hinaus. Hiermit hatte der Autor
higkeit, die Philosophie des Trotzdem wahrzumachen. Daß
asymmetrische Bewegungskomplexe aller Art erstreckt, or
Gemeinsam war den Protagonisten dieses Werk ihre Fä
in den Listen des Wissenschaftlers Personen wie Jesus, nach
ein Theorem formuliert, dessen Geltungsbereich sich auf
ganische wie geistige, psychische wie politische, mochte er
neueren Vermutungen ein »Häßlichkeitskrüppel«, und Wil
sich auch in seinem Buch darauf beschränken, den Lehrsatz
zudem ein »K.rüppelpsychopath«25 steckte wie die behinder
ren. Diese Anwendungen waren anspruchsvoll genug: Durch
plosivit.ät der Problematik. Die Nennung solcher Größen
sollten sich deutsche Ärzte, Pädagogen und Seelsorger in der
leitende These, wonach Behinderte sich jenseits ihrer Gebre
Doch so hoch er auch zu greifen versuchte: Das politische
Tatsächlich hatte Wilhelm ll. nicht nur eine unmittelbar neu
hatte er in allgemeinen Ausdrücken statuiert, daß Über
helm ll. auftauchen- letzterer ein Armverkrüppelter, in dem te Puppe in der behinderten Puppe -, zeigt Ausmaß und Ex
illustrierte die von der Lebens- zur Geistphilosophie über chen im Reich überpersönlicher Werte verankern können.26
am Phänomen der physischen Behinderung zu demonstrie intensive Zusammenarbeit auf wissenschaftlicher Grundlage
»Zielsetzungsgemeinschaft der
Krüppelhebung«
vereinigen.
Potential seiner Überlegungen blieb Würtz verborgen. Zwar
rotische Poütik auf dem Kerbholz, er hatte auch Bühnenbil
schüsse aus der Hemmungsüberwindung in Vorwärtsdyna
Übergänge ins Objektive versucht. Was den Durchbruch
Götz von Berlichingen waren immer unterwegs«/8 die rast losen Epileptiker PauJus und Caesar nicht weniger. Auch
der für die Bayreuther Festspiele entworfen und andere
von Jesus aus der Sphäre seiner vermuteten Behinderungen
mik münden: ,. . . . der gelähmte Ignatius von Loyola und
in die geistige Sphäre angebt, so sind ihre Resultate längst in
fehlt es nicht an Hinweisen auf den »kleinen schiefhalsigen
mutlich nicht gekannt hat, war gleichzeitig der Versuch un
wüchsige und hüftlahme Rosa Luxemburg.29
gegenüber ihrer »Basis« in den Lebensspannungen herauszu
schen Universalien, behalten für Wünz einen ausschließlich
die ethischen Grundlagen der okzidentalen Kultur eingear beitet. In der Wenphilosophie Max Schelers, die Würtz ver ternommen worden, die Eigengesetzlichkeit der Wertsphäre stellen. Der Inbegriff des Tuns, das zum Überpersönüchen 23 Ibid., S. 88.
24 lbid., S. 25
97·
lbid., S. 3 t . 26 Ibid., S. 4·
-
3 Nur Krüppel werden überleben
Alexander den Großen« und den ebenfalls >�schiefhalsigen«,
»kleinen mongoloid-häßlichen Lenin« sowie auf die klein Dennoch: »Trauer und Trotz«, die krüppelpsychologi
individualpsychologischen Sinn. Ein polirischer Aufbruch
wie der völkische Sozialjsmus von 1933 jedoch, der sich
27 Ibid., S. 49· 28 Ibid., s. I I .
2 9 lbid., s . !8.
1
88
Der Planet der Übenden
rühmte, vor allem Bewegung, Angriff und Revolution zu sein - was war er, wenn nicht ein externer Anwendungsfall des Kompensationsgesetzes? Ist überwundene Hemmung die Mutter aller endalteten Bewegung, welche »Munertriebe« mögen es dann sein, von denen die Neigung zur Selbst vergrößerung durch Fest und Terror stammten? Was heißt es, zu den »Müttern« z.u gehen, wenn das Wort das Produkt aus Hemmung und Übenviadung beschreibt? Falls Über kompensation von Behinderung das Geheimnis des Erfolgs ist, wäre hieraus zu folgern, die meisten Menschen seien nicht behindert genug? Die Fragen mögen rhetorisch sein, eines zeigen sie gleichwohl: Der Weg zu einer größeren Kompensationstheorie ist mit Verfänglichkeiten gepfla stert.30 Was Goebbels angeht, so hatte er am Fortgang der Auf klärung offensichtlich kein Interesse. Für seine Aufnahme ins Pantheon der Behinderten vermochte er sich nicht zu begei stern. Daß er mit Größen wie Kierkegaard in eine Reibe gestellt wurde, auch mit Lichtenberg, Kant, Schleiermacher, Leopardi, Lamartine, Victor Hugo und Schopenhauer, um
nur sie zu nennen, verführte ihn nicht zu einem Outing. Seine Psyche zu Lebzeiten der Wissenschaft zur Verfügung zu stel len war wohl das letzte, das ihm in den Sinn gekommen wäre. Auch an dem orthopädischen Leitsatz des ZeWendorfer In stituts: »Der Stumpf ist die beste Prothese« dürfte er wenig Gefallen gefunden haben. Bei der Würtzschen Einteilung der Krüppelwelt in die vier Hauptgruppen: Wuchskrüppelturn (Größenanomalien), Mißwuchskrüppelturn (Deformatio nen), Andeutungskrüppelturn (Fehlhaltungen) und Häßlich
keitskrüppeltum (Entstellung) hätte er sich ohne Zweifel bei der zweiten Klasse eintragen müssen, eventuell auch in der 30 Die kleinere Variante der Lehre vom homo compensator ist in der
Bundesrepublik durch die Arbeiten von Joachim Rincr, Odo Mar quard und Hermann Lübbc bekannt geworden.
-
3 Nur Krüppel werden überleben
vierten, und zusätzlich in der Unterklasse >>Komplexkrüp pel«/1 die ins psychologische Feld überleitet. Goebbels verfolgte andere Pläne: Auf seine Anordnung hin soll die gesamte noch nicht ausgelieferte Auflage von Zerbrecht die Krücken umgehend eingezogen worden sein. Der weitere Verlauf der Geschichte spricht für sich. Kurz nach dem Januar r933 wurde Würtz an seinem eigenen In stitut als Volksfeind denunziert, seine Kritiker wollten in ihm mit einem Mal einen Edelkommunisten und Philosemiten erkannt haben. Aufgrund des zum richtigen Zeitpunkt erho benen Vorwurfs des Amtsmißbrauchs und der Veruntreuung von Spendengeldern wurde er fristlos und ohne Pensionsan sprüche entlassen - vorgeblich hatte er einige Zuwendungen, die dem Fördedereis des Oskar-Helene-Heimes zugeflossen waren, für die Publikaton von Zerbrecht die Krücken ver wendet, als wäre die Herausgabe des Buchs eine Privatange legenheit des Autors ohne Bezug zu den Aufgaben der von ihm mitgeleiteten Institution. Unschwer lassen sich in den Vorwürfen gegen Würtz die Konturen eines Konflikts zwischen den Feldarbeitern in der Anstalt und dem publizierenden Alphatier ausmachen. Seine Ankläger, ambitionierte Kollegen, rückten nach seiner Ent fernung aus dem Amt in leitende Funktionen ein - wie um klarzustellen, daß eine erfolgreiche Revolution ihre Kinder nicht frißt, sondern versorgt. Würtz blieb naiv genug, zu glauben, er könne unter den gegebenen Bedingungen seine Unschuld beweisen. Deshalb kehrte er seines Prozesses we gen aus dem vorübergehenden Prager Exil nach Deutschland zurück und wurde durch ein Berliner Gericht im Januar 1934 zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt, die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Darauf verließ er Deutsch land, um bis zum Ende des Krieges in Österreich Zuflucht zu finden. 1947 gelang ihm die volle juristische und berufliche 3I
Ibid.,
s. 6?.
-
Der Planet der Übenden
3
Nur Krüppel werden überleben
Rehabilitierung. Im Waldfriedhof von Berlin-Dahlem wurde
des priesterlich-asketischen Ideals an seinem Nachahmer
er im Juli I 95 8 bestattet.
ad personam
Für den Fortgang unserer Überlegungen ist es aufschluß reich, die Konstellation zwischen Nietzsches Ansäezen zur Analytik des Willens und Würtz' Ausführungen zur Behin dertenpädagogik zu beleuchten. Beide Autoren könnten zur
bewahrheiten. Der Stil der Würtzschen Ver
öffentlichungen, die in Hymnen auf >>Siegreiche Lebens kämpfer«33 gipfeln, legt es nahe, bei ihm ein Wortführer-Syn drom zu vermuten. Dafür spricht die Art und Weise, wie er sich an der eigenen Sendung entflammt. Die Nähe zum prie
Illustration ihrer Axiome jeweils aufden anderen verweisen
sterlichen Typus verrät sich in Würtz' imperial anmutendem
was im Fall des Jüngeren im Verhältnis zum Älteren auch
Geschmack, immer größere Teile der Menschenwelt ins Ge
faktisch geschehen ist. Aus der Sicht des Berliner Krüppel
biet seiner Zuständigkeit zu bringen. Dabei wird auch die
forschers liefen Nietzsche ein Beispiel für sein Konzept der
übliche Alphatier-Dynamik sichtbar: aus Nietzsches Sicht ei
»ueberwundenen Hemmung«. Er klassifiziert den Philoso
ne unverkennbare Manifestation des Willens zur Macht.
phen, ohne dessen Anregung seine eigene Arbeit kaum vor
Gleichwohl, nach allem, was sich heute in Erfahrung brin
stellbar wäre, einigermaßen kaltblütig als den ••psychopa
gen läßt, stand für Würtz die Arbeit am Berliner Oskar-Hc
war diesem, so gesteht er zu - aufgrund der Kompensations gesetze in Verbindung mit hoher Begabung und harter Arbeit
tigkeit seiner lebenslangen Bemühungen um das Wohl seiner
an sich selbst -, eine partielle Überwindung seiner Behinde
auch wenn man seinen autoritären Ansatz heute wenig gou
thisch belasteten Wuchskrüppel Nietzsche«32• Immerhin
lene-Heim im Fokus seines Engagements. An der Ernsthaf Klienten zu zweifeln kommt äußeren Beobachtern nicht zu
rung geglückt, weswegen sein Werk als Versuch eines Über
tiert und der Papietform nach eher mit dem Selbstbestim
gangs in die überpathologische Wertsphäre zu würdigen sei.
mungsmodell des alternativen Behinderten-Pädagogen Otto
Kehrt man die Perspektive um, ergibt sich ein komplexeres
Perl sympathisieren würde.34 Im übrigen war die Berliner
Bild. Nietzschewürde in dem Berliner Krüppelpädagogen das von ihm beargwöhnte Phänomen des Schülers erkennen, über
Anstalt für ihren pädagogischen Inspektor zugleich die Kan zel, von der er einem eher widerwilligen Publikum seine Vor
das hier nicht mehr zu sagen ist, als daß in ihnen regelmäßig eher die Schwächen der Meister als ihre Vorzüge in kompro
schläge zur Lösung des Menschheitsrätsels verkündete. Diese
mittierenden Vergrößerungen sichtbar werden. Ein zweiter
kannst, was du willst; du sollst wollen, was du mußt - du
bestanden hauptsächlich in modalen Umwandlungen: Du
Blick würde statuieren, wie sich bei Würtz das von Nietzsche
sollst wollen können und du bist hierzu fähig, vorausgesetzt,
inkriminierte priesterliche Syndrom konkretisiert. Dessen
es steht dir jemand zur Seite, der will, daß du willst. Die letzte
Kennzeichen besteht in der bei stärkeren Kranken auftreten den Neigung zum Anführerturn für ein Gefolge aus schwa
chen Existenzen. Ob sich bei Würtz persönlich Hinweise auf eine Behinderung finden ließen, ist der mir bekannten Litera tur nicht zu entnehmen, weshalb ich bis auf weiteres nicht klären kann, ob sich Nietzsches Diagnosen über die Dynamik
31 lbid., S. 37·
Wendung muß festgehalten werden: Sie definiert nicht nur die Figur des Willenstrainers für Behinderte, sie bietet die Definition der Trainerfunktion überhaupt. Mein Trainer ist
33 So der Titel eines früheren Buchs voll Hans Wür:tz aus dem Jahr rs)l9, als die Problematik der Konstirutionskrüppcl von der der Kriegskrüppel überlagert wurde. 34 Otto Perl, Krüppelturn und Gesellschaft im Wandel der Zeit, Go tha 1926.
Der Planet der Übenden derjenige, der will, daß ich will - er verkörpert die Stimme, >
die mir sagen darf: Du mußt dein Leben ändern!3
Das Phänomen der Betreuung von Behinderten aus dem Geist einer Willensphilosophie, die den Krüppel zur Arbeit an sich selbst anhält, gehört unverkennbar in den Einzugsbereich des
3 Nur Krüppel werden überleben
93
Mit dem Auftreten der Trainerfigur- genauer: ihrem Wie derauftreten nach ihrem Mit-Untergang im Zerfall des anti ken Athletenrums - gelangt die somacisehe und athletische Renaissance an der Wende zum 20. Jahrhundert in ihre prä gnante Phase. Man tritt Hans Würtz nicht zu nahe, wenn man ihn einen Reichstrainer der Behinderten nennt, quasi einen
oben exponierten Großercignisses: der für das 19. und 20.
Trappatoni der Krüppel. Er steht in einer Tradition von Trai
sen. Dem entspricht auf der -religiösen« Seite ein langfristiger
Einzige rmd sein Eigentum, 1844, zurückreicht. Es dürfte
Jahrhundert kennzeichnenden Entspiritualisierung der Aske Trend zur Enthcroisicrung des Priestertums, dem vorüberge hend, von den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts an, die für den renouveau catholique und den frommen Flügel der Phänomenologie typische Überhöhung des Heiligen e�tge genwirkt - mit Späteffekten, die bei Autoren wie dem Oko logen Carl Amery und dem parakatholischen Eleganzphäno
ner-Autoren, die bis zu Max Stimer, dem Autor von Der unnötig sein zu betonen, daß Würtz den letzteren mit siche rem Sinn für Mannschaftsaufstellungen zu seinen exemplari schen Klienten zählt. In seiner Eigenschaft als Trainer der eigenen Einzigkeit war Srirner als einem der ersten klar ge worden, daß man mit metaphysischem Übergewicht auf dem Rasen der Existenz eine schlechte Figur macht. Die Entfer
men Martin Moschach nachzuweisen sind.
nung der ideologischen Sparren im Kopf, die er in seinem
Indem Würtz als Willenspädagoge auf dem Jargon des He
mentales Fitnessprogramm. Im Blick auf diesen Patriarchen
roismus insistierte, entging ihm ironischerweise der zukunfts weisende Teil der asketologischen Zeitwende, der sein Werk zuzurechnen ist. Den heroistischen Suggestionen zum Trotz ist seine pragmatische Orientierung an einem Programm zur Ertüchtigung der Behinderten und Gehemmten ausschlagge bend. Sein pseudo-priesterlicher Habitus darf nicht zum Nennwert genommen werden. In ihm verbirgt sich ein Sach verhalt, der sich durch Nietzsches diätalogische Thesen an gekündigt hatte: Ich nenne ihn die Emergenz des allgemeinen Trainingsbewußtseins aus dem Fa\\ der Kranken- und Behin dertenpädagogik Zum Training gehört neben dem Trainie renden und dem Trainingsprogramm naturgemäß der Trainer selbst - es ist diese zukunftsträchtige Figur, die sich unter dem spätwilhelminischen, Iebens- und willensphiJosophischen Aufputz der Würtzschen Verlautbarungen profiliert. 3 s Zur Meister- und Trainerproblematik siehe unten Kapitel S S. 4 s sf. ,
Buch empfahl, war bereits nichts anderes als ein explizites des Egoismus gelingt Würtz eine Generalisierung von einiger Reichweite: •Der Krüppel Stirner sieht seiner psychologi schen Struktur gemäß alle anderen Menschen als unbewußte und unwillkürliche Kämpfer um den lchwert.«36 Für Würtz beweist das, was er voraussetzt: Einzigkeirsbewußtsein und >tLebenskriegertum« konvergieren. Heute würde man sich vorsichtiger ausdrücken: Aus Behinderungen ergeben sich nicht selten Sensibilisierungen und aus diesen zuweilen erhöh te Anstrengungen; die wiederum münden unter günstigen Umständen in gesteigerte Lebensleisrungen. Während die Stirnersehe Einzigkeit, wie Würrz bedauernd feststellt, in der Neurose befangen blieb, soll es in der konstruktiven Be hindertenarbeit darum gehen, den »problematischen Krüppel zum Charaktermenschen zu befreien«.37 In unseren Tagen
36 Ibid., S.
37 Jbid.,
so.
s. 6J.
94
Der Planet der Übenden
würde man das nicht mehr so formulieren, gleich, ob man über
vormärzliche Philosophen oder sonstige problematische Na turen spricht
.
Die Hypothese, wonach der Behinderten-Pädagoge sei nem praktischen und m oralphilosoph ischen Profil gemäß ei ne der ersten Ausprägungen des modernen Trainerturns ver körpert, läßt sich durch
zahlreiche Äußerungen des Autors
substanziaüsieren. Bei Würtz ist klar erkennbar: Der Trainer
ist der zeitgemäße Partner in nicht-metaphysischen Vertikal
spannungen, die dem Leben des Trainierenden ein deutliches Gefühl für Oben und Unten einflößen. Er is t dafür verant
3 Nur Krüppel werden überleben
95
diesen Explikationsgewinn muß man einige heroistische Phra
sen in Kauf nehmen. In der Sache sind sie nu r die Maske der athletischen Renaissanc e.
Im
übrigen läßt sich auch in der
Sportgeschichte des 20. Jahrhunderts die Enrheroisierung
der Trainerrolle beobachten. Allerdings gibr es im Bereich
des SportS -analog zu den Entwicklungen auf dem religiösen Feld -eine Gegenströmung die man den renouveau athlüique ,
nennen könnte: In ihr wird der Extremsportler auf den Schild gehoben, das sp irituell entleerte Gegenstück des Heiligen.
Die philosophische Anthropologie des
20.
Jahrhunderts hat
Beit räge der Behindertenpädagogik ignoriert - nichtsde
wortlich, daß »ärztlich vorges chriebene Uebungen dieses
die
(vom Klienten erworbene) Können seinen Kräften einwur
s toweniger kam sie aus benachbarten begrifflichen Ausgangs
zeln«, so daß »auch sein Selbsterhaltungswille einen konkre ten Stützpunkt«38 findet. Mit einer Klarheit, die einer analy tischen Philosophie des Sports Ehre machen würde, erklärt
lagen zu sinnverwandten Beobachtungen. Die Anth ropologie
des normalen Menschen bahnte sich mit ihren Mitteln den
Weg zu einem noch viel allgemeineren Behinderungsbewußt
Würtz an der trainingstheoretisch entscheidenden Stelle, vom
sein, als sich di e Sonderpädagogen hätten träumen lassen -
Behinderten sprechend:
ihre praktischen Folgerungen jedoch waren denen der heroi
»Sein Wille gewinnt damit ein inneres Lebensgefälle,
schen Krüppeldidaktik diametral entgegengesetzt. Ihre Ma
wenn er die frühere Ohnmachtslage mit seinem ersieg ten Können vergleicht und mit dem schon gewonnenen
xime hieß: Auf keinen Fall die Krücken zerbrechen! Man vernimmt diesen Warnruf schon in der Wiener Psychoana
Streben gewinnt einen Vorwärtsschwung. Die Ueber
rakterisiert, der oh ne die Stützen der zivilisatorischen Da
Erfolgsgewinn an seinem Ertüchtigungsziele mißt. Sein w indu ng
des
früheren
Ohnmachtsempfindens
ist
gleichzeitig ein ethischer Sieg . . . Das sorglich Vermit telnde der Erziehung darf nicht mit Schonungsangst beschwert werden . . . Vom Erzieher der Ohnhänder verlangen wir daher Lebensbejahung . . . «39 Es dürfte in derneueren Literatur wenige Äußerungen geben, in denen die post metaphysische Transformation der Vertikal spannung, das heißt des inhärenten Gefälle-Bewußtseins der -
Vitalität, ähnlich explizit auf den Punkt gebracht wird. Für
lyse, wenn Freud den Menschen als den ••Prothesengott« cha
seinsvorsorge nicht l ebensfähig wäre. Im übrigen gelang Freud mit seiner Ödipus-Legende die Eingemeindung der
männlichen Hälfte der Menschheit in die Familie der Klu mp füße, indessen er an der weiblichen Hälfte ein genitales Krüp
pelturn in Form ei11er angeborenen Penislosigkei t diagnosti
zierte. Noch lauter hört man den Warnruf in Arnold GehJens Lehre von den haltgebenden Institutionen, der zufolge die wahnhafte Grenzenlosigkeit der losgelassenen Subjektivität allein durch ein schützendes Gerüst aus überpersönlichen Formen vor sich selbst gerettet werden kann. Hier tauchen
38 Ibid., S. 34· 39 Ibid., S. 36.
die Krücken als die Institutionen wieder auf, und deren Be deutung nimmt um so mehr zu, als die Anarchisten des
Der Planet der Übenden
20. Jahrhunderts von ünks und rechts zu ihrer Zerschlagung aJlzu erfolgreich aufgerufen hatten. Gehlen war äußerst be unruhigt, als er in den sechziger Jahren unter den Jugendli chen des Westens eine neue Ohne-Bewegung aufkommen sah. In seiner anthropologischen Rechtfertigung der Institu tionen kulminiert der Anti-Rousseauismus des 20. Jahrhun derts, kondensiert in der Mahnung, der Mensch habe immer sehr viel mehr zu verlieren als seine Ketten. Er stellt die Frage, ob nicht alle politische Kultur mit der Unterscheidung zwi schen Ketten und Krücken beginnt. Seine dramatischste Form erreicht das Bekenntnis zur Krückenpflichtigkeit des Daseins in den Aussagen der biologischen Paläoanthropolo gie bei Louis Bolk und Adolf Portmann: Ihnen zufolge ist homo sapiens konstitutiv ein Frühgeburtlichkeitskrüppel, ein zur ewigen Unreife bestimmtes Geschöpf, das aufgrund die ses Merkmals, das Biologen Neotenie (Festhalten an juveni len und fötalen Zügen) nennen, nur in den Inkubatoren der Kultur zu überleben imstande ist.40 In diesen hoch generalisierten Aussagen moderner An thropologie wird das holistische Pathos funktional expliziert, das für ältere Kulturen charakteristisch war, jener Kulturen, die unnachgiebig auf dem Vorrang von Tradition und Sitte (des bewähren Inkubators) vor den Launen neuerungslusti ger Einzelner beharrten. Jede Orthodoxie, ob sie sich religiös oder durch Altehrwürdigkeit und Anciennität begründet, ist ein System zur Verhinderung von Mutationen an den stabi litätverleibenden Strukturen. In dieser Hinsicht ist das Alter des AJten selbstbegründend. Wahrend eine Tradition, falls sie nur alt genug erscheint, allein durch ihr Bestehen den Nach weis ihrer Lebensfähigkeit und ihrer Verträglichkeit mit an deren Bestandsgütern liefert, müssen der neue Einfall und die 40
Diese Ansätze werden im dritten Band meines Sphären-Projekts zu einer allgemeinen Theorie der Existenz in insulierten Räumen fort
geführt. Vgl. P. SI., Sphären Ill, Schäume. Plurale Sphärologie, Frankfurt am Main 2.004, S. 309-500.
3
Nur Krüppel werden überleben
97
subjektive Abweichung den Beweis ihrer Wiederholbarkeit erst erbringen, wenn sie denn hieran interessiert sind. In den mutationsfeindlichen traditionalistischen Systemen geht man allerdings von vorneherein davon aus, es lohne sich nie, auch nur den Versuch eines Beweises für die Brauchbarkeit von Neuern zuzulassen. Epochen mit erhöhter Innovationsoffen heit setzen hingegen auf die Beobachtung, selbst nach tief eingreifenden moralischen Umwertungen und technischen Neuerungen seien hinreichende Stabilisierungen möglich, die unseren modus vivendi ins Angenehmere umlenken- doch müssen die Neuerungen stets unter dem Gesichtspunkt ge prüft werden, ob sie den Stabilitätsbedürfnissen von Systemen der allgemeinen Frühgeburtlichkeitskrüppelpflege (vulgo Kulturen) entsprechen. Wo auch immer der Mensch auftritt, sein Krüppelturn ist ihm zuvorgekommen: Diese Einsicht bildet den Refrain der philosophischen Reden vom Menschen im vergangenenJahr hundert, gleichgültig, ob man wie die Psychoanalyse vom Menschen als Hilflosigkeitskrüppel spricht, der seine Ziele nur erhinken kann,4 1 ob man ihn wie Bolk und Gehlen für einen neotenischen Krüppel hält, dessen chronische Uner wachsenheit nur durch starre Kulturhüllen kompensierbar ist, oder wie Plessner für einen exzentrischen Krüppel, der chronisch neben sich steht und sich leben sieht, oder wie Sartre und Blumenberg als Sichtbarkeitskrüppel, der sich zeitlebens einen Reim auf den Nachteil, gesehen zu werden, machen muß. Darüber hinaus kommen nicht nur konstitutive, sondern auch historisch erworbene Krüppeltürocr in Sicht, und zwar, wenn man Edmund Husserl Glauben schenken darf, vor al lem bei den modernen Europäern. Durch ihre Bemühungen um die intellektuelle Eroberung des Wirklichen haben diese 4 1 Peter Schneider, Erhinken und erfliegen. Psychoanalytische Zwei fel an der Vernunft, Görtingen 2001.
Der Planet der Übenden sich im Laufe der letzten Jahrhunderte zwei gefahrenträchti ge Fehlhaltungen riesenhaften Ausmaßes zugezogen - Hus serl nennt sie in nahezu pathographischer Ausdrucksweise den physikalistischen Objektivismus und den transzendenta
3 Nur Krüppel werden überleben
99
ihre Art, Grund und Anlaß, ihr Dasein als Anreiz zu korri gierenden Exerzitien zu begreifen.
Ich darf daran erinnern, daß kleinwüchsige Menschen im
Schema der Würtzschen Krüppeltümer als Wuchskrüppel
len Subjektivismus.42 Beides sind Modi des denkenden In
klassifiziert wurden. In späteren Zeiten hießen dieselben Per
verfehlungen hinauslaufen. Zieht man in Betracht, daß unser
auch der Ausdruck Behinderung anstößig wurde, wandelten
der-Welt-Seins, die auf umfassende Welt- und Wirklichkeits Dasein in der »Lebenswelt<< das ursprüngliche Verhältnis bil
det, das man seit Heidegger das In-der-Welt-Sein nennt, so gewinnt man die ironische Einsicht: Aufgrund von mühevoll
sonen »hinsichtlich des Größenwachstums Behinderte«. Als
sich die Kleinwüchsigen zu den formatmäßig Andersbefähig
ten. In den achtziger Jahren des vergangeneo Jahrhunderts
haben amerikanische Korrekte den aktuellsten Namen für
erworbenen Fehlprägungen verwechseln wir chronisch die
Menschen, die oft nach oben schauen müssen, gefunden, in
erste Welt mit der zweiten Welt der Physiker, Philosophen
dem sie sie die
und Psychologen. Diese prekäre Sicht auf die zivilisierten
Europäer als Weltverfehlungskrüppel hatte der alte Husserl
verticall)' challanged people
nannten. Den
Ausdruck kann man nie genug bewundern. Er stellt eine Be
griffsschöpfung dar, die ihren Erfindern über den Kopf
indirekt von seinem abtrünnnigen Schüler Heidegger über
wuchs, ohne daß sie bemerkten, was ihnen gelun ge n war.
nommen, für den der Mensch zunächst und zumeist als Unei
Wir dürfen bei dieser Wendung zweimal lachen, einmal über
nicht das Glück hat, einem Trainer zu begegnen, der die or
chen haben wir Recht und Grund, weil wir im Plenum derer,
thopädischen Daten des Daseins bei ihm zurechtrückt. Unter
die durch die Vertikalität herausgefordert sind, die absolute
no.loge Hermann Schmitz jüngst auch die habituelle Ironie aufgedeckt: Sie beraubt den Ironiker der Fähigkeit, in ge
leben zu lernen - und man kann, wie ich zeige, nicht nicht
üben und nicht nicht lernen zu leben. Auch ein schlechter
meinsamen Situationen aufzugeben - hier gerät ein Distanz
Schüler zu sein will gelernt sein.
hinderung der Teilhabekompetenz durch den Zwang
faßten, reden, um auf einen Ausdruck zu stoßen, der die all
gentlichkeitskrüppel beginnt - und als solcher endet, wenn er
den erworbenen Behinderungen hat der Neo-Phänome
krüppeltum in den Fokus der Betrachtung, das aus der Be zu
die korrekten Preziösen und einmal über uns selbst. Zu la
Mehrheit besitzen. Die Formel ist gültig, seit wir es üben,
Kurzum, man mußte über die Behinderten, die anders Ver
chronischer Eleganz hervorgeht. Tatsächlich ist die Rolle
gemeine Verfassung von Wesen unter Vertikalspannung aus
der Ironie in der Geschichte der Wirklichkeitsverfehlungen
spricht. »Du mußt dein Leben ändern!«, das heißt, wir sahen
bisher nie ausreichend gewürdigt worden. Die Konsequenzen aus diesen Feststellungen sind so ver
schiedenartig wie die Diagnosen selbst. Nur eines haben sie
gemeinsam: Wenn Menschen ausnahmslos auf verschiedene
Weisen Krüppel sind, haben sie, jeder und jede auf seine und 42
Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phä nomenologische Philosophie (zuerst 1936), Harnburg 1996.
es anläßlich des Rilkeschen Torso-Gedichts: Du sollst auf die
innere Senkrechte achten und prüfen, wie der Zug vom obe
ren Pol her auf dich wirkt! Es ist nicht der aufrechte Gang,
der den Menschen zum Menschen macht, es ist das aufkei mende Bewußtsein des inneren Gefälles, das im Menschen die Aufrichtung bewirkt.
4 Letzte Hungerkunst
100
101
Ideale keineswegs das Verschwinden des positiven Übungs lebens nach sich zieht. Möglicherweise zeigt erst die Aske
4 LETZTE HUNGERKUNST
tendämmerung, als die wir die Wende zum 20. Jahrhundert
KAFKAS ARTISTIK
deuten, rückwirkend und unter stark veränderter Beleuch tung das dreitausendjährige Reich der metaphysisch moti vierten Askesen in seiner ganzen Ausdehnung. Vieles spricht dafür: Wer Menschen sucht, findet Asketen; wer Asketen
Die zeittypische Neigung der Anthropologen, die Wahrheit über
homo sapiens bei den
beobachtet, entdeckt Akrobaten.
Behinderten zu suchen, spiegelt
Zur Substantialisierung dieses Verdachts, dessen erste For
sich in der Literatur der Moderne aufbreiter Front. Daß es in
mulierungen auf die moralarchäologischen Grabungen des
einzelnen Fällen vom Existentialismus der Behinderten zu
anderen Schliemann zurückgehen, möchte ich Franz Kafka
dem der Akrobaten nur ein Schritt ist, belegt unser Hinweis auf den armlosen Geiger Unthan. Zu zeigen bleibt, warum
als Zeitzeugen aufrufen. Hinsichtlich seines Forschungsan
batismus nicht bloß eine Idiosynkrasie von Marginalen war,
von Nietzsche kam, schon in jungen Jahren aufgenommen
satzes liegt die Vermutung nahe, er habe den Impuls, der
der Übergang von der Kondition der Behinderten zum Akro
und so stark verinnerlicht, daß er die Herkunft seiner Frage
wie Unthan sie in Reaktion auf den angeborenen Stimulus
stellung vergaß - weswegen es in Kafkas Werk praktisch nir
ausbildete oder wie sie sich bei Hugo Ball, dem Autor der
gendwo eine explizite Bezugnahme auf den Verfasser der
christlichen Asketen-Biographien, einstellte, als er versuchte,
Genealogie der Moral gibt.
die geistigen Deformationen der Weltkriegsära durch eine
Er hat die Anregungen in Rich
tung einer fortschreitenden Absenkung des heroischen Tonus weiterentwickelt, bei gleichzeitiger Verstärkung des Sinns für
,.flucht aus der Zeit« zu übersteigen. Bei diesem Aufstand gegen das Jahrhundert geriet er in die Gesellschaft der Eremi
die universelle asketische und akrobatische Dimension
ten, die eintausendfünfhundert Jahre zuvor aus ihrer Zeit ge flohen waren.
menschlicher Existenz.
Ich erläutere im folgenden, zunächst an einem literarischen Modell, später in psychologischen und soziologischen Kon
Kafka zu markieren, erinnere ich an die bekannte Seiltänzer
Um den Augenblick des Stabwechsels von Nietzsche zu Episode im 6. Teil des Prologs vonAlso sprach Zarathustra, in
turen, auf welche Weise der Akrobatismus ein immer weitere
der Zarathustra den zu Tode gestürzten Akrobaten als seinen
Kreise erfassendes Merkmal moderner Reflexion über die
ersten Schüler annimmt - oder wenn nicht als Schüler, so als
conditio humana wurde: Dies geschah, als man auf den Spu
seinen ersten Geistesverwandten unter den Menschen der
ren des allgegenwärtigen Nietzsche im Menschen das nicht
Ebene. Er tröstet den Sterbenden, indem er ihn darüber auf
festgestellte, das entsicherte, das zu Kunststücken verurteilte
klärt, warum er nichts mehr zu fürchten habe - kein Teufel
Tier erkannte. Mit der Blickwende zum Akrobaten kommt
werde ihn holen und ihm das Leben nach dem Tode sauer
ein weiterer Aspekt der epochalen Kehre zum Vorschein, die
machen. Worauf der Gestürzte dankbar erwidert, er verliere
ich als Trend zur Entspiritualisierung der Askesen beschreibe. Von Nietzsche haben wir den Hinweis auf die asketolo- c
gisehe Dämmerung übernommen und uns davon überzeugt,
\ll
daß der wünschenswerte Untergang der repressiv asketischen ::t:
m 0 m r CD m :D G)
nicht viel, wenn er nur das Leben verliere: »Ich bin nicht viel mehr als ein Tier, das man tanzen
gelehrt hat, durch Schläge und schmale Bissen.«
102
Der Planet der Übenden
Man hat in dieser Äußerung die erste Konfession des akro batischen Existentialismus vor sich. Diese minimalistische
Aussage gehört unzertrennlich zu Zarathusrras Antwort, die dem Verunglückten einen noblen Spiegel vorhält:
»>Nicht doch<, sprach Zarathustra, >du hast aus der Ge
fahr deinen Beruf gemacht, daran ist nichts zu verach ten. Nun gehst du an deinem Beruf zugrunde: dafür will
ich dich mit meinen Händen begraben.<«
Man kann die Pointe des Dialogs nicht mißinterpretieren. E r
4 Letzte Hungerkunst
103
(von Max Brod später unter dem Titel
Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg ediert), lautet der erste Eintrag:
»Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der
Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als be
gangen zu werden.«44
Niemand wird behaupten, diese Notiz verstehe sich auf An hieb von selbst. Die beiden Sätze werden transparent, wenn
communio
man sie als Fortsetzung der von Nietzscbe eröffneten Szene
ein fahrendes Volk, keine Gemeinschaft der Heiligen, son
Nietzsches heroischen und aufstiegsfreudigen Intentionen
hat die Bedeurung einer Urszene, da i n ihr eine
neuen Typs konstituiert wird: kein Gottesvolk mehr, sondern
begreift - fortgesetzt allerdings in einer Richtung, die von
dern eine der Akrobaten, nicht Beitragszahler in einer ver
entschieden abweicht. Zwar wird der »wahre Weg« weiterhin
gefährlich Lebenden. Das animierende Element dieser bis
nähe versetzt. Es dient weniger als Gerät, auf dem Akrobaten
sicherten Gesellschaft, sondern Mitglieder des Vereins der
mit dem Seil verknüpft, es ist jedoch aus der Höhe in Boden
auf weiteres unsichtbaren Kirche ist das Pneuma der bejahten
ihre Trittsicherheit demonstrieren, denn als Stolpedalle. Das
erste unter denen, die sich auf Zarathustras Lehre zubewegen.
ist bereits schwierig genug, weswegen Menschen nicht in die
Gefahr. Der vom Seil gefallene Akrobat ist nicht zufällig der In seiner letzten Lebensminute fühlt sich der Seiltänzer von
dem neuen Propheten verstanden wie von keinem zuvor- als
das Wesen, das, selbst wenn es beinahe nur ein Tier war, das
scheint zu besagen: Die Aufgabe, den wahren Weg zu finden,
Höhe steigen müssen, um gefährlich zu leben. Das Seil soll
nicht mehr deine Fähigkeit testen, auf der schmalsten Basis
die Balance zu halten, es hat dir eher zu beweisen, daß du,
man tanzen gelehrt hat, aus der Gefahr seinen Beruf gemacht
wenn du zu sicher daherkommst, schon beim Geradeausge
Kafka hat nach diesem Pro.log zum Roman des Akrobaten
Leistung, und niemand kann mit Gewißheit sagen, welche
hatte.
die nächsten Kapitel verfaßt. Bei ihm ist die Akrobatendäm merung schon u m einige Helligkeitsgrade k.larer, weswegen
hen stürzen wirst. Dasein als solches ist eine akrobatische
Ausbildung die Voraussetzungen liefert, um sich in dieser Disziplin zu bewähren. Darum weiß der Akrobat nicht mehr,
man die Szenerie in einem tagesnahen Licht erkennt. Es er
welche Übungen ihn vor Absturz bewal1ren - die ständige
übrigt sich hier, näher darauf einzugehen, daß Kafka in eige ner Person ein Anhänger turnerischer Übungen, vegetari
Artistik zeigt keineswegs einen Bedeutungsverlust des Phä
scher Diäten und zeitüblicher Hygiene-Ideologien war.43 In
Aufmerksamkeit ausgenommen. Diese Schwundstufe von nomens
an,
sie verrät im Gegenteil, wie die artistischen
dem Konvolut von Sätzen, die er aus seinen Oktavheften ex
Motive auf alle Lebensaspekte übergreifen. Das große Thema
zerpierte und in einer numerierten Liste zusammenstellte
der Künste und Philosophien des 20. Jahrhunderts - die
43 Vgl. Rainer Stach, Franz Kafka. Jahre der Entscheidungen, Frank furt am Main 2002.
44 Franz Kafka, Sämtliche Werke, hg. von Peter Höfle, Frankfurt am Main 2008, S. 1343·
Der Planet der Übeoden
Entdeckung des Gewöbn1chen - zieht seine Energie aus der Akrobatendämmeruog, die sich in eins mit ihm vollzieht.
4 Letzte Hungerkunsr
Das Seil kann als Metapher des Akrobatismus nur fun gieren, sofern man es als gespanntes vorstellt - daher gilt es,
Nur weil die Esoterik unserer Zeit die Identität von Gewöhn
auf die Spannungsquellen, ihre Verankerungen und die Mo
lichkeit und Akrobatik enthüllt, bringen ihre Forschungen
dalitäten der Kraftübertragung zu achten. Solange die Seil
nicht-triviale Ergebnisse zutage.
spannung umer metaphysischem Vorzeichen erzeugt wurde,
Auch Kafkas hermetische Notiz läßt sich dem Komplex
mußte man einen Zug von der Überwelt her annehmen, um
der Entwicklungen zuordnen, die ich die Entspirirualisierung
die ihr eigene Intensität zu erklären. Diesen Zug von oben
der Askesen nenne. Sie belegt die Zugehörigkeit des Autors
erfuhr die durchschnittliche Existenz durch das allgegenwär
zu der großen Herausdrehung der Modernen aus einem über Jahrtausende wirksamen System von religiös codierten Ver tikalspannungen. Zahllose Menschen waren in diesem Welt
tige Beispiel der Heiligen, denen aufgrund von Anstrengun gen, die man gern übermenschlich nannte, zuweilen die An näherung an das Unmögliche gewährt wurde. Man vergesse
alter zu Akrobaten der Überwelt ausgebildet worden, geübt
nicht: superhomo ist ein erzchristliches Wort, in dem das hohe
in der Kunst, mit der Balancierstange der Askese über den
Mittelalter sein intensivstes Anliegen aussprach - es wurde
Abgrund der »Sinnenwelt« hinwegzugehen. Zu ihrer Zeit repräsentierte das Seil den Übergang aus der Immanenz in
am Ende des I 3. Jahrhunderts erstmals für den französischen
König Ludwig den Heiligen verwendet! Die Entkräftung ei
die Transzendenz. Was Kafka mit Nietzsche verbindet, ist
nes solchen jenseitigen Pols zeigt sich in erster Linie darin,
die Intuition, daß beim Verschwinden der Überwelt das ge
daß immer weniger Menschen auf das Hochseil streben. Ei
spannte Seil zurückbleibt. Warum das so ist, wäre völlig un
nem egalitären und nachbarschaftsethischen Zeitgeist gemäß,
d'etre für die
begnügt man sich jetzt mit einer amateurischen, allenfalls
Existenz von Seilen nachweisen ließe, eine Begründung, die
bodenturnerischen Auslegung des Christentums. Selbst ein
verständlich, wenn sich nicht eine tiefere raison
von ihrer Funktion als Brücke zur Überwelt zu trennen wäre.
heiliger Hysteriker wie Padre Pio hatte zu der transzendenten
Tatsächlich existiert eine solche Begründung: Das Seil steht
Herkunft seiner Wundmale so wenig Vertrauen, daß er allem
bei beiden Autoren für die Einsicht, daß der Akrobatismus im Vergleich zu den üblichen religiösen Formen des »Hin
Anschein nach der Versuchung erlag, die blutenden Flächen an seinen Händen mit Hilfe von ätzenden Säuren hervorzu
übergehens« das resistentere Phänomen bildet. Auf ihn ist
bringen und bei Bedarf aufzufrischen.45
Nietzsches Wendung von einer der »breitesten und längsten
Seit dem 19. Jahrhundert steht die Montage eines alterna
Thatsachen, die es giebt«, übertragbar. Mit der Blickwende
tiven Generators zum Aufbau existentieller Hochspannung
von der Askese zur Akrobatik wird ein Universum von Phä
auf der Tagesordnung. Tatsächlich wird dieser in Stellung
nomenen aus dem Hintergrund gehoben, das die größten
gebracht, indem man eine äquivalente Dynamik im Inneren
Gegensätze auf dem Spektrum zwischen Geistesfülle und
der sich selber richtig verstehenden Existenz nachweist.
Körperkraft mühelos umspannt. Hier finden Wagenlenker und Gelehrte, Ringkämpfer und Kirchenväter, Bogenschüt zen und Rhapsoden zusammen - vereint durch gemeinsame Erfahrungen auf dem Weg zum Unmöglichen. Das Weltethos wird auf einem Konzil der Akrobaten formuliert.
45 Diese Enthüllungen, die der
Enttarnung eines Dopingbetrugs
gleichkommen, werden dargelegt in dem Buch von Sergio Luzzat to: M iracoli e politica nell'Italia del Novecento, Turin 2007. Vgl. Dirk Schü mer Ein Säurenheiliger, Frankfurter Allgemeine Zei tung, 26. Oktober 2007. ,
ro6
Der Planet der Übenden
4 Letzte Hungerkunst
Erneut muß der Name Nietzsches fallen, da er es war, dem es
Kafka hat seine Intuitionen zur Bedeutung von Akrobatik
gelang, im »Leben« als solchem ein zugstarkes Gefälleapriori
und Askese in drei klassisch gewordenen Erzählungen objek
zwischen Können und Mehr-Können, Wollen und Mehr
tiviert:
Wollen, Sein und Mehr-Sein aufzudecken - auch legte er die aversiven oder bion egativen Tendenzen offen, die nicht
selten unter dem Vorwand der Demut auf das Wollen des Nicht-Wollens und des Immer-weniger-sein-Wo!Jens zielen .
Die inzwischen allzu gängigen Reden vom Willen zur Macht und vom Leben als ständiger Selbstüberwindung liefern die Formeln für die inhärente Differentialenergetik des an sich arbeitenden Daseins. Mögen die kuranten Entspannungs ideologien auch alles tun, um diese Verhältnisse unkenntlich
Ein Bericht für eine Akademie, 19I7 (erstmals in der Der Jude); sodann: Erstes Leid, 192 2 (zuerst in der Zeitschrift Genius), und schließlich: Ein Hungerkünstler, 1923 (Erstveröffentlichung in der Neuen Rundschau). von Martin Buber edierten ZeitSchrift
Die erstgenannte Erzählung enthält die Autobiographie
eines Affen, dem die Menschwerdung auf dem Weg der Nachahmung gelang. Was Kafka vorlegt, ist nicht weniger als eine Neudarstellung des Hominisationsprozesses aus der
Perspektive eines Tiers. Das Motiv der Menschwerdung fin
zu machen - die modernen Protagonisten der Suche nach
det sich nicht wie üblich in einer Kombination aus evolutio
dem »wahren Weg« sind nicht müde geworden, an die ele
nären Anpassungen und kulturellen Neuerungen. Es ergibt
mentaren Tatsachen des von oben geforderten Lebens zu
sich aus einer fatalen Faktizität: dem Umstand, daß die Fän
erinnern, wie sie sich vor ihrer Verdeckung durch Trivialmo
ger des Zirkus Hagcnbcck den Affen in Afrika festnehmen
ralen, humane Kumpaneien und Wellnessp rogram me darstel
und in die Menschenwelt verschleppen. Die mitklingende
len. Daß Nietzsche sie in heroistischen Codierungen präsen
tierte, während Kafka die niederen und paradoxalen Figuren
Frage wird nicht expressis
verbis
angeschnitten: wieso der
Mensch am aktuellen Ende seiner Entwicklung sowohl zoo
bevorzugte, ändert nichts an der Beobachtung: Beide ziehen
logische Gärten als auch Zirkusse einrichtet? - vermutlich,
am gleichen Strang. Ob Zarathustra in seiner ersten Anspra
weil er an beiden Orten das vage Gefühl bestätigt findet, er
che sagt: »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier
und Übermensch . . . « oder ob Kafka das Seil als Stolperfalle
für Selbstgerechte knapp üb er dem Boden gespannt sein läßt
könne an ihnen etwas über sein eigenes Sein und Werden in Erfahrung bringen . Für den Affen wird schon an Bord des Fangschiffes, das
- es handelt sich beide Male zwar weder um dasselbe Seil
ihn nach Europa bringt, evident, es komme, was seine wei
Fabrik, die seit ältester Zeit Zubehör für Akrobaten herstellt.
Variete allein das letztere in Frage. Nur dort erkennt er eine
Den technischen Hinwei s, daß Nietzsche zur Kraft- und Fül
Chance, einen wie auch immer geringen Rest seines Erbes zu
le-Abrobatik neigte, während Kafka der Schwäche- und
bewahren. Es lebt in ihm fort als das Gefühl, es müsse für
noch um dasselbe Kunststück, aber um Seile aus derselben
Mangelakrobatik den Vorzug gab, brauche ich hier nicht wei
teren Schicksale angeht, angesichtS der Alternative Zoo oder
einen Affen immer einen Ausweg geben - Auswege sind der
ter zu verfolgen. Der bezeichnete Unterschied könnte nur im
animalische Rohstoff für das, was Menschen unter dem hoch
Rahmen einer allgemeinen Theorie der guten und schlechten
trabenden Wort Freiheit verhandeln. Im übrigen traf der Affe
Gewohnheiten und einer Betrachrung über die Symmetrien
in der Menschenwelt nicht im Vollbesitz seiner natürlichen
zwischen stärkenden und schwächenden Trainings erläutert
Beweglichkeit ein: Zwei Schüsse beim Fang hatten ihn ge
werden.
zeichnet - einer im Gesicht, der eine den Namen Rotpeter
toS
Der Planet der Übenden
verursachende rote Narbe an der Wange hinterließ, ein an derer unterhalb der Hüfte, der ihn zum Krüppel machte und ihm nur einen leicht hinkenden Gang erlaubte. Hans Würtz müßte Rotpeter neben Lord Byron und Joscph Goebbels i n der Klasse der •Mißwuchskrüppel«, der Hinkenden und De formierten, einordnen, episodisch auch neben Unthan, dem armlosen Geiger, der an einer Stelle seiner Erinnerungen zu Protokoll gab, er habe zeirweilig ohne organischen Grund zu hinken begonnen, sich diese Fehlhaltung jedoch durch inten sives Training wieder abgewöhnt. Weil der Varieteweg allein noch offen ist, führt die Menschwerdung des Affen ohne Umwege auf die akroba tische Spur. Das erste Kunststück, das Rotpeter lernt - noch ohne zu wissen, daß damit seine Selbstdressur einsetzte -, ist der Handschlag, die Geste, mit der die Menschen ihren Artgenossen zu verstehen geben, sie achteten sie als ihres gleichen. Wahrend Sozialphilosophen vom Schlage Kojeves die Menschwerdung auf das Duell zurückführen, bei dem die Kontrahenten aus einer Regung, die man unzulänglich Übermut nennt, ihr Leben riskieren, begnügt sich Kafkas akrobatische Anthropologie mit dem Handschlag, der das Duell überflüssig macht. »Handschlag bezeugt Offen heit . . « In dieser Geste verwirklicht sich die erste Ethik - ein Affe mußte sie ausführen, damit die Herkunft des Ethischen aus der Dressur explizit wurde, im gegebenen Fall einer Annäherungsdressur. Noch vor dem Handschlag hatte Rotpeter eine psychische Haltung erworben, die die Grundlage für alles weitere Lernen abgeben soUte - die erzwungene Seelenruhe, die auf der Einsicht basierte, ein Fluchtversuch würde die eigene Lage nur verschlechtern. Wer erkannt hat, daß der Eintritt in die Menschheit den einzigen Ausweg für das versetzte Tier bietet, darf mithin alles tun, was er möchte, nur keinesfalls die Krücken zer brechen, an denen er seinem Ziel entgegenhinkt. Zwischen der Affenfreiheit und der Menschwerdung liegt ein sponta-
.
r
4 Letzte Hungerkunst
109
ner Stoizismus: Der hält Kandidaten von •Verzweiflungsta ten« - Rotpetcrs Ausdruck - ab. Die nächsten Kunststücke führen weiter aus, was im ersten angelegt war: Rotpeter lernt, Menschen zum Spaß ins Gesicht zu spucken und sich über ihr Zurückspucken gutmütig zu amüsieren. Dem folgt das Pfeiferaueben und schließlieb der Umgang mit Schnapsflaschen, die seine alte Natur auf die erste größere Probe stellen. Die Tendenz der beiden letztgenannten Lektionen ist klar: Ohne Scimulanrien und Narkotica kann der Mensch nicht werden, was er in seiner Sphäre darstellen soll. Von da an verschleißt Rotperer auf seinem Weg zur Höhe der Varietefähigkeit eine ganze Reihe von Lehrern - darunter einen, der infolge des Umgangs mit seinem Zögling so in Ver wirrung geriet, daß er in eine Heilanstalt gebracht v.:er en mußte. Zuletzt hat er es »durch eine Anstrengung, d1e SICh bisher auf der Erde nicht wiederholt hat«, zur DurchschnittS bildung eines Europäers gebracht, was einerseits gar nichts, anderseits doch etwas bedeutet, insofern es ihm den Ausweg s dem Käfig diesen »Menschenausweg•, eröffnete. Resüierend legt d r Menschgewordene ert auf die Festst�llu� g, . sein Bericht sei eine tendenzlose W1edergabe des tatsachlich Geschehenen: »ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet.«46 Auf der nächsten Stufe von Kafkas variete-existentialisti schen Untersuchungen tritt das menschliche Personal in den Vordergrund. In der kurzen Erzählung Erstes Leid, von Kafka in einem Brief an Kurt Wolffeine »widerliche kleine Geschich te« genannt, ist von einem Trapezkünstler die Rede, der es sich angewöhnt hat, nach seinen Darbietungen nicht mehr aus der Zirkuskuppel herabzusteigen. Er richtet sich unter dem Zelt dach ein und nötigt seine Mirwelt dazu, ihn in der Höhe zu versorgen. Aufgrund seiner Gewöhnung an die bodenentrück te Existenz werden ihm die Umzüge zwischen den Städten, in
�
;::
46
:
"!'
Kafka, Sämtliche Werke, a. a. 0., S. 877f.
110
Der Planer der Übenden
denen der Zirkus seine Gastspiele gibt, mehr und mehr zur Qual, weswegen sein Impresario versucht, ihm die Übergänge nach Möglichkeit zu erleichtern. Dennoch verstärkt sein Lei den sich zusehends. Nur in den schnellsten Autos oder im Ge päcknct.z von Eisenbahnabteilen hängend kann er die unum gänglichen Reisen überstehen. Eines Tages überrascht erseinen Impresario mit der Forderung, er benötige künftig um alles i n der Weh ein zweites Trapez - ja, er fragr sich unter Tränen, wie er es jemals mit bloß einer Stange habe aushalten können. Dar aufhin schläft er ein, indessen der Impresario im Gesicht des Schlafenden erste Falten entdeckt.
III
der Komposition religiöser Systeme selten fehlt: Es umfaßt die inneren Operationen, die das Unmögliche als vollbring bar vorstellen - ja es als vollbracht behaupten. Wo immer sie vollzogen werden, fällt die Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen. Mittels dieses dritten Bausteins wird ein hybrider Schluß eingeübt. wonach gilt: Dag X unmöglich ist, beweist seine Möglichkeit. Auf eigentümliche Art wieder
der Artist, der nach der zweiten Stange verlangt, das credo quia absurdum, mit dem Tertullian im 3 · Jahrhundert die neue Schlußfigur formalisiert harre. 48 Unnöt ig zu sagen, holt
daß dies das eigendich surrealistische Religionsmodul dar
sagen des Variete-Existencialismus zusammengedrängt. Sie
stellt. Zu seinem Vollzug gehört eine innere Operation, die von Coleridge - im ästhetischen Kontext - als willing suspen
betreffen durchwegs die interne Dynamik des artistischen
sion of disbelief bezeichnet wurde,
nehmend die Beziehung zur Bodenwelt verliert. Indem er
ge das System der empirischen Plausibilität auf und tritt ein in
In dieser Erzählung werden auf engstem Raum Grundaus
Daseins, beginnend mit der Beobachtung, da ß der Artist zu
sich ausschJjeßlich i n der Sphäre einrichten will, i n der er seine Kunststücke vollbringt, löst er das VerhäJcrus zum Rest der Wel t auf und zieht sich in seine prekäre Höhe zurück. Solche Sätze lesen sich wie eine ernste Parodie auf die Idee der Anachorese, des religiös motivierten Bruchs mit der profanen Welt. Kafkas Trapezkünscler löst so die Spannung auf, die das Doppelleben als »Künstler und Bürger« mit sich bringt- wie man sie aus den zeitlich und sachlich eng benachbarten Äuße rungen Gottfried Benns und Thomas Manns kennt. Er setzt auf die völlige Absorption seines Daseins durch das Eine. Die Forderung nach dem zweiten Trapez bezeichnet die jeder Radikalartistik innewohnende Tendenz zu immer weiterge hender Erhöhung des Niveaus. Der Drang zur Steigerung ist
die »willentliche Außer
kraftsetzung des Unglaube ns«. 49 Mit ihr sprengt der Gläubi
die Sphäre des real existierenden Unmöglichen. Wer diese Figur intensiv trainiert, erlangt die für Artisten charakteristi sche Beweglichkeit im Umgang mit dem Unglaublichen.
Die entscheidende Entdeckung gelingt Kafka in Form ei nes impliziten Hinweises. Er deckt die Tatsache auf, daß es
keine Artistik gibt, die nicht aufgrund ihrer einseitig absor bierenden Trainingspflichten ein unmarkiertes zweites Trai ning nach sich zieht. Wahrend das erste auf Ertüchtigungs übungen beruht, kommt das zweite einem Ent-Tt.ichtigungs training gleich. Es formt den Artisten auf dem Seil zugleich
zu einem Virtuosen der Lebensunfähigkeit. Daß er als solcher ebenso ernst genommen werden muß wie in seiner ersten Funktion, geht aus dem Verhalten des Impresarios hervor:
�.er Kunst inhärent wie der religiösen Askese der Wille zum
Er versorgt seinen Schützling i n beiden Hinsichten mit dem
als das Unmögliche, befriedigt nicht.
Performance in der Höhe, auf der anderen Seite mit all dem
Uberwirklichen: Perfektion ist nicht genug. Was weniger ist Wir stoßen hier auf ein weiteres mentales Modul,47 das bei
47 Siehe die Beschreibung der beiden ersten Module oben S. 43ff.
-
4 Letzte Hungerkunst
Benötigten, auf der einen Seite mit neuem Gerät für seine 48 Zu Tertullian siehe unten S. 323f.
49 ln: Biographia Litereria, 1817. Dem Autor zufolgc kreiert dieser
Akt poetic [aith.
II2
Der Planet der Übenden
Zubehör der Lebenserleichterung, das insbesondere in den
4 Letzte Hungerkunst
IIJ
kritischen Übergangsmomenten zur Anwendung kommt.
gar den Wächtern auf eigene Rechnung ein üppiges Frühstück servieren, um ihnen seine Dankbarkeit für ihre Dienste zu
die Qualität von Übungsgeräten, Geräten, an denen der
seine Kunst zu deren ständigen Begleitern.
zweite Annäherung an die Unmöglichkeitsgrenze sich Sor
selbständige Sensation in den größten Häusern der Welt ge
Von diesem Zubehör verstehen wir jetzt: Auch es besitzt Künsrler seine fortschreitende Lebensferne übt. Über diese
bezeugen. Nichtsdestoweniger gehörte der Argwohn gegen In den guten Tagen konnte die Hungerdarbietung als
gen zu machen, mochte der Impresario allen Grund haben.
zeigt werden. Für die einzelne Hungerphase hatte der Im
unter Beweis - ein Künstler, der lebenstüchtig bliebe, verriete
wegen biblischer Analogien, sondern weil sich erfahrungsge
Nicht-Kunst hatte, womit er automatisch aus der Gruppe der
eine solche Zeitspanne aufstacheln ließ, während es bei länge
negativen Trainingstheorie verstanden werden.
dieser Fristbeschränkung stets unzufrieden, da er den Drang
Andererseits stellt sie das radikale Künstlerrum des Artisten ja nur, daß er neben seiner Kunst Zeit für Affairen mit der Großen ausscheidet. Kafka kann demnach als Anreger einer Am bedeutendsten sind die Vorstöße des Dichters in der
kurzen Erzählung Ein
Hungerkünstler.
In ihr fügt er seinen
Beobachtungen zur Existenz der Artisten eine Aussage über ihre künftigen Schicksale hinzu. Schon der Anfangssatz der Erzählung stellt die Tendenz klar: »In den letzten Jahrzehn ten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegan
gen.« Das zeitgenössische Publikum kann den Darbietungen
solcher Virtuosen nicht mehr viel abgewinnen, während es früher ganz in deren Bann stand. In den Glanzzeiten der Kunst gab es Abonnenten, die tagelang vor dem Käfig saßen,
ja, die ganze Stadt beschäftigte sich mit dem Asketen, und »von Hungertag zu Hungertag stieg die Anteilnahme«.5° Bei
presario eine Höchstzeit von vierzig Tagen festgesetzt, nicht mäß das Publikumsinteresse in den Großstädten nur über
ren Perioden zurückging. Der Hungerkünstler selbst war mit
in sieb trug, zu beweisen, er sei in der Lage, »auch noch sich selbst zu übertreffen bis ins Unbegreifliche«. 51 Wenn er nach
der Beendigung seiner vierzigtägigen Kunstausübung zusam
menbrach, dann keineswegs, weil er vom Fasten erschöpft
gewesen wäre, wie sein Impresario unter Verkehrung von
Ursache und Wirkung behauptete, vielmehr aus Verzweif
lung darüber, daß man ihm auch diesmal nicht erlaubte, die Grenzen des für möglich Gehaltenen zu überschreiten. Als nun der eingangs festgestellte Rückgang des Interesses
an Hungerkunst beim allgemeinen Publikum eintrat, mußte
der Künstler nach einigen vergeblichen Versuchen, das ster
bende Genre zu reanimieren, sich dazu entschließen, seinen
der Demonstration seiner Kunst trug der Fastende ein
Impresario zu entlassen und sich von einem großen Zirkus
ten. Er wurde in einem mit Stroh ausgelegten Gitterkäfig gehalten, um die Vollkommenheit der Kontrolle über seine
am Rande. Man stellte seinen Käfig in der Nähe der Ställe auf,
schwarzes Tri kot, durch das die Rippen mächtig hervortra
Tatigkeiten zu garantieren. Wächter sorgten Tag und Nacht für die strenge Einhaltung der Hungerregeln, damit er nicht
engagieren zu lassen, wo er, wie er wußte, keineswegs als
Glanznummer auftreten würde, sondern als eine Kuriosität
in der die Zirkustiere untergebracht waren, damit die Besu
cher, die in den Pausen zu den Tieren strömten, nebenbei
etwa heimlich etwas zu sich nähme. Er dachte freilich nicht
einen Blick auf den ausgemergelten Asketen warfen. Er muß
50 Kafka, Sämtliche Werke, a. a. 0., S. 888.
p Ibid.,
daran, unlautere Mittel einzusetzen. Gelegentlich ließ er so-
te sich mit den Tatsachen abfinden, auch mit der bittersten:
S. 891.
-
Der Planet der übenden daß er nur noch »ein Hindernis auf dem Weg zu den Ställen«
war. Zwar konnte er jetzt, weil er unbeobachtet blieb und
115
4 Letzte Hungerkunst
tephilosophie begann, kann nun zu einer Explikationsform
der klassischen Askesen entfaltet werden. Verantwortlich
folglich von niemandem zurückgehalten wurde, so lange
hierfür ist die Wahl der Disziplin: des Hungers. Dieser ist
war schwer: denn »er arbeitete ehrlich, aber die Welt betrog
physische Askesepar excellence. Von alters her stellte er die
hungern, wie er es von jeher gewollt hatte, doch sein Herz
ihn um seineo Lohn«. In seinem Stroh verborgen stellte er Rekorde auf, die niemand bemerkte.
keine anistische Disziplin wie jede andere, sondern die meta
Übung dar, durch die, wenn sie gelingt, der gewöhnliche, dem
Hunger unterworfene Mensch erfährt - oder an anderen be
Als er sich dem Tod nahe fühlte, legte der Hungerkünstler
obachtet-, wie man die Natur auf ihrem eigenen Terrain be
unter dem Stroh gefunden hatte, seine künstlerische Konfes
Mangelleidens, das überall sonst nur passiv und unfreiwillig
>»Immerfort wollte ich, daß ihr mein Hungern bewun
nigen gegönnt, denen ein größerer Mangel zu Hilfe kommt:
vor dem Aufseher, der ihn zufällig zusammengeschrumpft sion ab:
dert. . . . < •Wir bewundern es auch<, sagte der Aufseher
siegt. Das Hungern der Asketen ist die Könnensform des
erfahren wird.53 Dieser Sieg über den Mangel ist nur denje
Wenn die alten Askesemeister davon sprechen, der Hunger
sagte der Hungerkünstler. >Nun, dann bewundern wir
nach Gott oder Erleuchtung müsse jedes andere Verlangen beiseite räumen, falls er je gestillt werden solle, setzen sie
denn nicht bewundern?< >Weil ich hungern muß, ich
Sprachspiel greift die Möglichkeit auf, die oralen Enthalt
entgegenkommend. •Ihr sollt es aber nicht bewundern<,
es also nicht<, sagte der Aufseher, >warum sollen wir es
schon eine Hierarchie der Entbehrungen voraus. Das fromme
kann nicht anders<, sagte der Hungerkünstler. >Da sieb
samkeiten zu verdoppeln, um dem profanen Hunger einen
nicht anders?< >Weil ich . . . nicht die Speise finden konn te, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir,
ger kein Verlangen nach Füllung, er bedeutet vielmehr die
mal einer<, sagte der Aufseher, >warum kannst du denn
ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen
wie du und alle.<«52
Nach seinem Tod wurde der Käfig einem jungen Panther zugeteilt, der sich darin prachtvoll hin und her warf. Von ihm teilt der Erzähler das Wesentliche in dem Satz mit: »Ihm fehlte nichts.«
heiligen gegenüberzustellen. In Wahrheit ist der heilige Hun
Suche nach der Homöostase, für welche »Stillung des Hun gers« nur eine spiritualrhetorisch bewährte Metapher bietet.54
Entscheidend ist an Kafkas Askese-Parabel das Geständnis
des Artisten, er habe Bewunderung nicht verdient, weil er bei
seinem Fasten nichts anderes getan habe, als was seiner in nersten Neigung oder besser: seiner tiefsten Abneigung ent sprach - er gehorchte immer nur der Aversion gegen die
Ich habe nicht vor, das vielfach interpretierte Meisterwerk
Zumutung, die vorfindbaren Nahrungsmittel zu sich zu neh-
serem Zusammenhang genügt eine amusische Lektüre, die
53 Über die asketische Revolte gegen den Hunger siehe unten S. 658f. 54 Die Metapher ist in der Sache irreführend weil sie auf der Ver wechslung von oralen und prä oralen Suchintentionen beruht. Die für die hungrige Welt gültige Leitdifferenz Leer versus VoU deckt nicht das gesamte Feld der Suche ab: Für die spirituell An spruchsvollsten unter ihnen gilt eher die Leitdifferenz Homöosta tisch-jcnseits-der-Sorge versus Unruhig-in-der-Sorge.
hier unter künstlerischen Aspekten zu kommentieren. In un
den Text als geistesgeschichtliches Zeugnis nimmt. Worauf
es ankommt, ist die Zuspitzung der Kafkaschen Reflexion zu einem allgemeinen asketalogischen Modell. Was als Varie-
52 Ibid., S. 895·
,
-
I I6
Der Planet der Übenden
men. Der Satz »Ihr sollt es aber nicht bewundern« ist das
117
vergangen und erledigt. Nun soll die Zeit derer kommen,
spirituellste Wort Europas im letzten Jahrhundert - noch
denen nichts fehlt, ob es nun Panther sind, Bewohner von
chen. Was Nietzsche allgemein als den Negativismus dervital
Marktwirtschaft. Was die spirituellste unter den Askesen war,
derwille gegen Nahrung wieder. Kafkas Artist überwindet
den Ställen«.
vermißt man das analoge: Ihr sollt es aber nicht heiligspre Behinderten beschrieben hatte, kehrt nun spezifisch als Wi
sich also niemals selbst, er folgt einem Widerwillen, der für ihn arbeitet und den er bloß zu übertreiben braucht. Die
Arbeiter- und Bauernrepubliken oder Anhänger der sozialen
ist jetzt tatsächlich nur noch »ein Hindernis auf dem Weg zu
ZehnJahre nach dem Erscheinen von Ein Hltngerkünstler hat
extremste Artistik erweist sich in letzter Analyse als eine Ge
Josef Stalin das Ende der Hungerkunst mit anderen Mitteln
das im Jüngsten Gericht des Gaumens über die Angebote des
ukrainischen Bauern - die Zahlenangaben schwanken zwi
schmacksfrage. Nichts schmeckt mir hier, lautet das Urteil,
Daseins verhängt wird. Die Nahrungsverweigerung geht noch weiter als das Rühr-mich-nicht-an, das Jesus, der Auf
erstandene, nach ]ohannes 20,17 an Maria Magdalena adres sierte. Sie artikuliert gestisch ein Dring-nicht-in-mich-ein
besiegelt, als er im Winter 1932 auf 1933 eine Unzahl von
schen 3.5 und 8 Millionen - durch eine Hungerblockade in
den Tod schickte, Unzeitgemäße auch sie, Hindernisse auf dem Weg zur Fülle.55
Selbst Stalin hat die Profanierung des Hungers nicht ganz
oder Stopf-mich-nicht-voll. Sie geht vom Berührungsverbot
zu erzwingen vermocht. Es hat zu seiner Zeit den Hunger
tion mit den einverleibenden Tendenzen des eigenen Körpers
nige Jahre nach Kafkas Tod, nicht als Mann im schwarzen
zur Stoffwechselverweigerung über, als sei jede Kollabora
künstler wirklich gegeben, nicht in Prag, jedoch in Paris, we
ein verworfenes Wagnis.
Trikot mit hervorspringenden Rippen, sondern als sehr mage
ist sein konsequentes Arbeiten unter der stumm angenomme
auf dem Feld des Abnehmens um des ganz Anderen willen:
kunst enthüllen, was vom metaphysischen Begehren bleibt,
dert kennt, 1909 geboren, Anarchistin aus jüdischem Eltern
Was Kafkas erzählerisches Experiment bedeutsam macht,
nen Gott-ist-tot-Prämisse. Ihretwegen kann die Hunger
wenn dessen überweltliches Ziel getilgt ist. Es zeigt sich eine An von geköpfter Askese, bei der die vermeintliche Zugspan
res Fräulein in blauen Strümpfen. Auch sie war eine Artistin
die größte Denkerio der Antigravitation, die das 20. Jahrhun
haus, zum Katholizismus konvertiert, eine Eingeweihte auf allen Zauberbergen der Weltlosigkeit, zugleich Sucherio nach
nung von oben sich als Aversionsspannung von innen erweist.
der Verwurzelung in der authentischen Gemeinschaft, Wi
rn.it dem Weglassen der Religion - um eine letzte Religion des
der Arbeiterschaft hungern wollte, um ihre Appetitlosigkeit
Der Rumpf ist dann die ganze Sache. Kafka experimentiert Weglassens all dessen, was sie bisher ausmachte, zu erproben:
derstandskämpferin und Trotzexistentialistin, die an der Seite
zu nobilüieren und ihre Nobilität zu demütigen. Sirnone Weil
Was bleibt, sind die artistischen Übungen. Daher redet der
brachte es dahin, im Alter von 34 Jahren im britischen Exil an
werden. Die Abkehr des Volksinteresses von seinen Darbie
und an freiwilligem Verhungern.
Hungerkünstler redlich, wenn er bittet, nicht bewundert zu
einer doppelten Todesursache zu sterben: an Tuberkulose
tungen erfolgt genau im richtigen Moment, als gehorche die
55 Durch das Zusammenwirken von Hungergenozidpolitik, Zwangs
der über die Hungerwelt das Schlußwort sprechen möchte:
kollektivierung und Kulakenverfolgungen forderte die Politik Sealins allein zwischen 1929 und t936 r4 Millionen Todesopfer.
Menge, ohne es zu wissen, den Eingebungen eines Zeitgeists,
•
4 Letzte Hungerkunst
u8
S Pariser Buddhismus
I 19
liehe Unerfreulichkeit jeder ins Detail gehenden Biographie
5 PARISER BuDDHISMus
CJoRANs ExERZITIEN
großer Männer. Mehr noch bezeichnet sie die psychologische und moralische Unwahrscheinlichkeit einer aufrichtigen Selbstdarst�llung. Zugleich mache sie die Bedingung namhaft,
unter der eme Ausnahme möglich wäre: Tatsächlich könnte
man in Cioran den Prior des von Nietzsche in Aussicht ge Auch die letzte Gestalt, die ich in diesen einführenden Über legungen präsentieren möchte, der 1 9 1 1 geborene rumäni sche Aphoristiker Emile M. Cioran, der von 1937 bis 1995
in Paris lebte, ist der großen Drehung zuzuordnen, die hier zur Verhandlung gebracht wird. Er ist für uns ein wichtiger
Informant, weil sich bei ihm beobachten läßt, wie die Infor
malisierung der Askese voranschreitet, ohne daß die vertikale Spannung aufgegeben würde. Auf seine Weise ist Cioran ebenfalls ein Hungerkünstler: ein Mann, der metaphorisch
fastet, indem er sich fester Nahrung für die Identität enthält. Auch er überwindet sich nicht, vielmehr folgt er, wie Kafkas Protagonist, seinem stärksten Hang, dem Abscheu vor dem
vollen Selbst. Als metaphorisch Hungernder tut er zeitlebens nichts anderes, als die Basis der Großen Weigerung auszuar
beiten - dabei demonstriert er die Entfaltung der Skepsis von
der Zurückhaltung des Urteils hin zu einer Reserve gegen die Versuchung des Existierens. Man kommt dem Phänomen Cioran am nächsten) wenn
..
man zwei Außerungeo Nierzsches zum Leitfaden wählt:
»Wer sich selbst verachtet, achtet sich immer noch dabei
als Verächter.«56 »Moral: welcher kluge Mann schriebe heute noch ein
ehrliches Wort über sich ? - er müsste denn schon zum
Orden der heiligen Tollkühnheit gehören.«57
Die letztere Bemerkung bezieht sich auf die fast unvermeid56 F. N., jenseits von Gut und Böse, S. 78.
57 F. N., Zur Genealogie derMoral, Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale, KSA s, S. 386.
•
stellten Ordens erkennen. Seine heilige Tollkühnheit ent springt einer Gebärde, die Nietzsche für die unwahrschein lichste und am wenigsten wünschbare hielt - dem Bruch mit den Normen der Diskretion und des Takts, um vom Pathos der Distanz nicht zu reden. Nietzsche kam dieser Position in
eigener Sache nur einmal nahe, als er in den »physiologi
schen« Passagen von Ecce homo den zur aufrichtigen Selbst darstellung nötigen »Cynismus« praktizierte - er reklamierte für diese Geste umgehend das Prädikat "welthistorisch«, um
�
das Gefü l der Peinlichkeit durch die Größe des Anliegens zu
kompensieren. Er brachte es allerdings eher zu einem barok ken Selbstlob als zu einer Indiskretion gegen sich selbst, falls nicht für diesmal das Selbstlob die tiefere Form der Bloßstel
lung bedeutete. Im übrigen blieb Nietzsche ein scheuer Pro phet, der die Enthemmungen, die er kommen sah, nur durch den Türspalt wahrnahm. Wer sich, wie Cioran, nach Nietzsche datierte, war dazu verurteilt, weiterzugehen. Der junge Rumäne folgte Nietz sches Hinweis nicht nur, indem er sich an die Spitze des Or dens der heiligen Tollkühnheit setzte, zusammen mit anderen Selbsteotblößern wie Michel Leiris und Jean-Paul Sartre; er verwirklichte auch das Programm, die letzte Möglichkeit von Selbstachtung auf die Verachtung seiner selbst zu gründen. Er konnte dies tun, weil er der scheinbaren Ungewöhnlichkeit
seines Vorhabens zum Trotz den Zeitgeist im Rücken hatte.
Die epochale Drehung zur Explizitmachung des Latenten zog ihn in ihren Bann und ließ ihn Dinge zu Papier bringen, vor denen wenige Jahre zuvor noch jeder Autor zurückge
sch reckt wäre. In dieser Drehung gelangte das »ehrliche Wort
120
Der Planer der Übenden
über sich«, das Nietzsche postuliert und praktisch ausge schlossen hatte, zu einer Offensivkraft ohne Beispiel. Aus
bloßer Ehrlichkeit wird eine Schreibweise der Rücksichtslo
sigkeit gegen sich selbst. Man kann nicht mehr Autobiograph
sein, ohne Autopathograph zu werden - das heißt: ohne seine Krankenakte :w veröffentlichen. Ehrlich ist, wer zugibt, was
ihm fehlt. Cioran war der erste, der an die Rampe trat, um zu erklären: Mir fehlt alles - und aus demselben Grund ist mir
auch alles zuviel. Das
19. Jahrhundert hatte das Genre des "ehrlichen
Worts« nur ein einziges Mal auf die Spitze getrieben: in Do stojewskijs Aufzeichnungen aus dem Kellerloch von 1864.
Nietzsches Reaktion auf dieses Stück ist hinlänglich bekannt. Cioran verfaßte ein halbes Jahrhundert lang seine Aufzeich
nungen aus der Mansarde, in denen er mit bewunderswerter Monotonie sein einziges Thema bearbeitete: Wie man weiter
macht, wenn einem alles fehlt und einem alles zuviel ist. Er erkannte schon früh seine Chance als Autor darin, sich die von Nietzsche angebotene Jacke anzuziehen - bereits in sei
nen rumänischen Jahren schlüpfte er in sie hinein, um sie nie wieder abzulegen. Wenn Nietzsche die Metap hysik als
5 Pariser Buddhismus
121
Mystik der allgemeinen Mobilmachung und am politischen Vitalismus, den man als Heilmittel gegen Skepsis und über zogenes Innenleben anpries. Dies alles lud dazu ein, die Ret tung im Phantasma der »Nation« zu suchen - einem nahen Verwandten des Gespensts, das heute als »wiederkehrende Religion« umgeht. Cioran blieb auf dieser Position- falls es je eine war -nicht lange stehen. Der zunehmende Ekel vor seinen hysterischen Ausflügen in die Positivität gab ihm mit der Zeit die Hell sichtigkeit zurück. Als er 1937 nach Paris übersiedelte, um es nahezu sechzig Jahre lang wie ein Eremit zu bewohnen, war
er von der Versuchung, an großer Geschichte teilzunehmen, zwar noch nicht ganz geheilt, doch er entfernte sich zuneh
mend von den Exaltationen seiner Jugend. Die aggressiv
depressi ve Grundstimmung, die ihn von Anfang an geprägt hatte, brachte sich nun in anderen Formen zur Geltung.
Während dieser Phase gelang es Cioran, in der Gattung des »ehrlichen Worts über sich« definitiv Fuß zu fassen. »Durch die Unmöglichkeit zu töten oder mich zu töten, habe ich mich in die Literatur verirrt. Einzig diese Un fähigkeit hat aus mir einen Schreiber gemacht.«58
Symptom des Leidens an der Welt und als Hilfswerk zur Weltflucht gedeutet hatte, so akzeptierte Cioran diese Dia
Nie würde er die Sprache des Engagements wieder verwen den, die er in seinen rumänischen Tagen mit dem Talent des
setzte Richtung: die Bejahung des Unbejahbaren. Der Über
wunderung, die er einst für Deutschland und seinen brutalen Aufbruch gehegt hane, fiel von ihm ab. »Wenn ich von einer
gnose ohne den geringsten Versuch einer GegendarStellung. Was er ablehnte, war Nietzsches Flucht in die entgegenge
mensch ist für ihn eine puerile Fiktion, ein aufgeblasener Hausmeister, der seine Fahne aus dem Fenster hängt, indes
pubertären Imitators aufgegriffen hatte. Auch die blinde Be
Krankheit geheilt bin, dann von dieser.oc59 Zum ehrlichen Wort über die eigene Krankheit gehört für den Genesenen
sen die Welt so unannehmbar ist wie immer. Wer redet von
das Geständnis, sich mit unehrlichen Mitteln haben heilen zu
der ewigen Wiederkehr des Gleichen, wenn einmal existieren
wollen. Von diesem Übel ein für alle Mal befreit, widmete er
schon ein Mal zuviel ist.
sich der Aufgabe, den Schriftsteller Cioran zu erfinden, der
In seinen Studentenjahren hatte Cioran eine Weile mit den zeitüblichen revolutionären Bejahungen experimentiert und sich im Dunstkreis des rumänischen Rechtsextremismus her umgetrieben. Er fand Geschmack an der damals modischen
58 Emile Cioran, Cahiers, 1957-1972, Paris 1997, S. 14 (eigene Über setzung). 59 Zitiert nach ßcrnd Mattheus, Cioran. Portrait eines radikalen Skep tikers, Bcrlin 2007, S. 83.
122
Der Planer de.r Übenden
mit dem psychopathischen Kapital, das er als Jugendlicher i n sich entdeckt hatte, ein Unternehmen gründen soUte. Die
Figur, die sich damals selbst erschuf, hätte eine Romangestalt von Hugo Ball sein können: Sie stellt einen »gerempelten
5
123
Pariser Buddhismus
biographischen Äußerungen in deutscher Sprache den Titel Cafard.60 Als praktizierender Parasit knüpfte Cioran am
griechischen Sinn des Wortes an: pardsitoi, Beisirzer am ge deckten Tisch, nannten Athener jene Gäste, die man einlud,
Menschen« vor, den Varieteheiligen, den philosophischen
damit sie zur Unterhaltung der Gesellschaft beitrügen. Solche
zur Nummernrevue ausbaut.
Paris nicht schwer. In einem Brief an seine Eltern konstatierte
des Askesen und die lnformaJjsierung der Spiritualität mit
de ich schon seit langem an Hunger gestorben sein.«61 An
Clown, der das Verzweifeln und Nichts-Werden-Wollen
An Ciorans »Lebenswerk« lassen sich die Verweldicbung
höchstmöglicher Prägnanz beobachten. Bei ihm übersetzte sich der mitteleuropäische Trotz-Existentialismus rucht in
engagierten Widerstandsexistentialismus, wie er bei den Mandarinen von Paris zu beobachten war, sondern in eine
Erwartungen zu erfüllen fiel dem rumänischen Emigranten in
er: »Wenn ich von Natur aus schweigsam gewesen wäre, wür
anderer Stelle: »Alle unsere Demütigungen beruhen darauf, daß wir uns nicht entschließen können, Hungers zu sterben. «62
Die Aphorismen Ciorans lesen sich wie ein Kommentar mit praktischer Anwendung zu Heideggcrs Lehre von den
endlose Serie von Akten des Degagements. Das CEuvre dieses
Stimmungen, das heißt den atmosphärischen Imprägnierun
schreiben an die Versuchungen, sich zu involvieren und Posi
Existenz eine prä-logische Tönung apriori »verleihen«. We der Heidegger noch Cioran machten sich die Mühe, über den
radox immer klarer heraus: die Stellung des Mannes ohne
Verleih und den Verleiher (bzw. die Verleiherin) der Stim
ersten seiner Pariser Bücher,
tung des Phänomens angemessen gewesen wäre - wohl auf
Refus-Existentialisten besteht in einer Folge von Absage
tion zu beziehen. Hierdurch kristallisiert sich sein Zentralpa
Stellung, die Rolle des Akteurs ohne Rolle. Schon mit dem
Precis de decomposition,
1949,
gen des individuellen und des kollektiven »Thymos«, die der
mung mit der Ausführlichkeit zu sprechen, die der Bedeu
erreichte Cioran als Stilist die meisterliche Ebene -unter dem
grund der Tatsache, daß der eine wie der andere dazu neigten,
Deutsche. Gewiß hatte Cioran den Geist der Ohne-Epoche
Sphäre der Existenzaussagen überzugehen. Tatsächlich ak
Titel
Lehre vom Zerfall
übersetzte Paul Celan es 1953 ins
mit bleibenden Resultaten in sich aufgenommen, die Krücken
jedoch, die er zerbrechen wollte, sind die der Identität, der
Zugehörigkeit, der Folgerichtigkeit. Überzeugt war er nur von einem Grundsatz, nach welchem es darauf ankommt,
von nichts überzeugt zu sein. Von Buch zu Buch setzte er seine existentialistische Bodenakrobatik fort, deren Nähe zu
die psychologische Analyse abzubrechen, um schnell in die
zeptiert Cioran seine aggressiv-depressive Gestimmtheit als das atmosphärische Urfaktum seines Daseins. Er nimmt es als
Verhängnis hin, daß ihm die Welt primär in dystonischen Klangfarben gegeben ist: Überdruß, Langeweile, Sinnlosig
keit, Geschmacklosigkeit, rebellischer Zorn gegen alles, was der Fall ist. Freimütig bestätigt er Nietzsches Diagnose, wo-
den Übungen der Kunstfiguren Kafkas ins Auge springt.
Festgelegt war seine Nummer von Anfang an: Es ist die des verkaterten Marginalen, der sich nicht allein in der Stadt, viel
mehr im Universum als Obdachloser (sans abri), Staatenloser
(sans papier) und Schamloser (sans gene) durchschlägt. Nicht
umsonst trägt die eindrucksvolle Sammlung seiner auto-
6o Emile Cioran, Cafard. Originaltonaufnahmen
I974-1990, heraus
gegeben von Thomas Knoefel und KJaus Sander, mir einem Nach
61
wort von Peter Sloterdijk (Audio-CD), Köln 1998. Bernd Mattheus, Cioran, a. a. 0., S. r 30.
62 Emile Cioran, Lehre vom Zerfall, in: ders., Werke, Frankfurt am Main 20o8,
S.
852.
124
Der Planet der Übenden
nach die Ideale der Metaphysik als die geistigen Niederschlä ge von physischer, auch psychophysischer Krankheit zu deu ten sind. Indem er auf der Linie des »ehrlichen Worrs über
5 Pariser Buddhismus
125
Dies alles könnte man als eine bizarre Züchtung in den Biotopen des Parisianismus nach 194 5 auf sich beruhen las sen, wenn hier nicht eine allgemein bedeutsame Tendenz zum
sich« weitergeht, als je ein Autor vor ihm, gibt er offen zu, es sei ihm darum zu tun, die Gegenrechnung für die »verfehlte
dem Planet der Übenden erzwingt. Cioran ist, wie bemerkt,
Heidegger suggerierte, es heißt: sich rächen.
bruch, den wir als Emergenz der Anthropotechnik themati
Schöpfung« aufzumachen. Denken heißt nicht danken - wie
Erst Cioran hat verwirklicht, was Nietzsche hatte entlar ven wollen, als habe das Phänomen von alters her existiert: eine Philosophie des reinen Ressentiments. Wenn aber eine solche erst unter Nietzsches Anregung möglich geworden wäre? In ihr wandelt sich der Trotz-Existentialismus deut scher Herkunft - unter Umgehung des Widerstandsexisten tialismus französischer Prägung, den Cioran als flache Mode verachtete - zu einem Existentialismus der Unheilbarkeit krypto-rumänischer und dakisch-bogumilischer Färbung. Erst an der Grenze zum asiatischen lnexistencialismus mach te diese Kehre halt. Cioran spielte zwar, vanitas-europäisch, zu allen Zeiten seines Lebens mit dem Gefühl einer umfas senden Unwirklichkeit, er konnte sich jedoch nicht entschlie ßen, dem Buddhismus zu folgen, wenn dieser die Wirklich keitsthese fallenläßr, und in eins mit ihr, die Gottesthese. Diese dient bekanntlich dazu, die Wirklichkeit, die wir ken
Vorschein käme, die einen radikalen Wandel der Zustände auf ein Kronzeuge für den asketalogisch folgenreichen Um
sieren. Durch ihn werden wir auf die Informalisierung der Spiritualität aufmerksam, von der ich sagte, sie sei als kom plementäre Gegentendenz zur Entspiritualisierung der Aske sen zu begreifen. Cioran ist ein Ü bender neuen Typs, dessen Originalität und Repräsentativität sich darin zeigt, daß er sich darin übt, jedes zielgerichtete üben zu verweigern. Metho
dische Übungen sind bekanntermaßen nur möglich, wo ein verbindliches Übungsziel vor Augen steht. Genau dessen Autorität wird von Cioran bestritten. Ein Übungsziel zu ak
zeptieren, das hieße ja schon wieder: glauben - wobei »glau ben« hier die mentale Handlung bezeichnet, mit welcher der Anfänger das Ziel vorwegnimmt. Mit diesem Vorlaufen-in-das-Ziel ist das vierte Modul des 64 »religiösen« Verhaltenskomplexes gegeben. Die Vorweg nahme geschieht in der Regel so, daß auf einen Vollendeten
nen, durch eine »letzte Wirklichkeit«, die uns verborgen ist, 63 zu garanrieren. Obschon er sich vom Buddhismus angezo
geschaut wird, von dem man ungläubig-gläubig die Botschaft
gen fühlt, will Cioran dessen Ontologie nicht mi�ollziehen.
64 Ich erinnere en passant an die drei zuvor genannten Module des religoiden inneren Operierens: die Uneerstellung eines Subjekts am Ort des Dings; die Annahme einer Metamorphose, dank welcher Dieses in Jenem »erscheint«; die modale Setzung, wonach aus der Unmöglichkeit einer Sache ihre Möglichkeit folgt. Das hier ge nannte vierte Modul isr das eigentlich artistische. Es läßt sich eben so auf künstlerische Vcrvollkommnungsideen wie aufdie Ideale der Heiligkeit beziehen. Das fünfte Modul besteht in der Vergegen wärtigung des Überwältigenden, das heißt in den inneren Opera tionen, mit denen man die Vernichtbarkeit der eigenen Existenz und ihren Untergang im Übergroßen meditiert. Näheres hierzu unten S. 521 f.
Nicht nur verabscheut er die Realität der Welt, er hat zugleich vor, sieb an ihr schadlos zu halten, und muß daher, wäre es auch nur sophistisch, die Realität der Realität akzeptieren.
Weder will er sich selbst erlösen noch sich erlösen lassen. Sein Denken ist eine einzige Reklamation gegen die Zumutung, Erlösung zu benötigen. 63
Vgl. Roben Spaemann, Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 2007.
--
•
1 26
Der Planet der Übenden
5 Pariser Buddhismus
127
empfängt, man könne es ihm eines Tages gleichtun. Wir wer
der Übungsdimension: Denn indem er übt, wo kein geeig
inneren Operation überJahrtausende hin Armeen von Üben
informelle Version von Meisterschaft.
Vorlaufens-in-das-Ziel keine vita contemplativa, kein Or
Kafkas Hungerkünstler macht er aus seiner Aversion eine
den in späteren Kapiteln sehen, wie unter dem Einsatz dieser den in Bewegung gesetzt wurden.65 Ohne das Modul des densleben, kein Schwarm von Aufbrüchen zu anderen Kü
sten, kein So-werden-Wollen, wie einmal ein Größerer gewe
sen ist. Man kann daher nie genug betonen: Die effektivsten Anthropotechniken entstammen der Welt von gestern - und
netes Instrument ist, entwickelt der »Anti-Prophet« eine
Er wird der erste Meister des Es-zu-nichts-Bringens. Wie
Virtuosenübung und bildet zu seinem cafard die entsprechen de Könnensform aus. Auch in dieser vernimmt man den
Appell, der in jeder Artistik wiederkehrt: »Immerfort wollte
ich, daß ihr es bewundert . . . « Wahrend Kafkas Hungernder
die heute lautstark angepriesene oder verworfene Gentechcik
bis zuletzt wartet, um die Gegenaufforderung »ihr sollt es
beim Menschen praktikabel und akzeptabel würde, am Um
Anfang an das Material zur Entzauberung seiner Kunst, in
wird für lange Zeit, selbst wenn sie in größerem Maßstab
fang dieser Phänomene gemessen nur eine Anekdote bleiben.
aber nicht bewundern« auszusprechen, liefert Cioran von
dem er sie fast auf jeder Seite als Sich-Gehen-Lassen unter dem Zwang der Grundstimmung offenlegt. Die Stimmung
Das gläubige Vorlaufen in die Vollendung ist Ciorans Sache nicht. Er »interessiert« sich wohl leidenschaftlich für die religiösen Schriften, in denen von Vollendung und
spricht, wenn Cioran bemerkt: »Ich bin außerstande, nicht
che, die Vorwegnahme des eigenen Später-auch-so-weit
fühle therapeutisch zu modifizieren, hegte er einen verach
demnach zwei Seiten - die eines Nicht-Könnens, weil die
ten seiner Gestimmtheit und hätte sich einen Versuch, sie zu
Erlösung die Rede ist, aber die gläubige Operation als sol
Seins, wird er nicht vollziehen. Sein Nicht-Glauben bat eigene Grundstimmung die zur Annahme der Vollendung nötige Naivität zersetzt,66 und die eines Nicht-Wollens,
zu leiden.«67 »Meine Bücher drücken keine Vision, sondern ein
Lebensgefühl aus.«68
Gegen die Möglichkeit, Lebensge
tungsvollen Argwohn - er lebte schließlich von den Produk
ändern, kaum leisten können.
Mit seinem Beitrag zu der Entdeckung, daß sogar das Sich
weil er die Haltung des Skeptikers eingenommen hat und
Gehen-Lassen kunstfähig, und, falls der Wille zum Können
aufgeben möchte. Ihm bleibt daher nichts anderes als ein
den der heiligen Tollkühnhejt zu einer Regel verholfen. Sie
dieses definitive Provisorium nicht zugunsren einer Position
Experimentieren mit den Resten. Er sieht sich gezwungen, auf einem Instrument zu spielen, auf dem eine zielgerichtete
Ausbildung sinnlos wäre - dem verstimmten Instrument des
eigenen Daseins. Doch gerade sein Spiel auf dem unbespiel
baren Instrument zeigt die ununterdrückbare Universalität
65 VgL unten Kapitel 7· 66 Er definiert gelegentlich die Klarsicht als »Impfstoff gegen das Absolute«, nicht ohne zuzugeben, daß er sich hin und wieder vom erstbesten Mysterium ergreifen lasse. Vgl. Syllogismen der Bitterkeit, Religion, in: Werke, a. a. 0., S. 927.
dazukommt, auch trainingspflichtig ist, hat Cioran dem Or wird in dem
Precis de decomposition
aufbewahrt, diesem
Buch der seltsamen Übungen, von dem ich zeigen wiU, wie
es die eigentliche Charta der modernen »Kultur<< als Aggregat aus nicht-deklarierten Askesen formuliert - ein Buch, das
jeden Einband sprengt. In welchem Maß Cioran sich seiner
Rolle bei der Übersetzung des spirituellen Habitus in die
profane Verstimmung und deren literarische Bewirtschaftung
67 Bernd Mattheus, Cioran, a. a. 0., S. 210. 68 Ibid., S. 2I9·
-
128
Der Planet der Übenden
bewußt war, zeigt die seine Reputation begründende
vom Zerfall (wobei die Widergabe des Titels
Lehre
mit »Leitfaden
der Zersetzung« ebenso möglich gewesen wäre). Ursprüng
Lich sollte diese Sammlung »Negative Übungen<<
(Exercises
negatifs) heißen - was sowohl Verneinungsübungen als auch Anti-Exerzitien meinen kann. Was Cioran vorlegte, war nicht weniger als eine Regel, die ihre Adepten auf den Weg zur Unbrauchbarkeit führen sollte. Wenn es ein Ziel dieses Weges gäbe, es würde lauten: »Unbrauchbarer sein als ein Hei. l1ger . . .«69 Die Tendenz der neuen Regel ist anti-stoisch. Während der stoische Weise alles daran setzt, für das Universum in Form
zu kommen - der römische Stoizismus war ja vor allem eine
Beamtenphilosophie und attraktiv für Leute, die glauben
wollten, es sei ehrenhaft, als »Soldat des Kosmos<< auf dem von der Vorsehung angewiesenen Posten auszuharren -, muß
der Cioransche Asket die Kosmosthese als solche zurück weisen. Er weigert sich, das eigene Dasein als Bestandteil eines gut geordneten Ganzen zu akzeptieren, es soll vielmehr die Mißlungenheit des Universums belegen. Die christliche
Umdeutung des Kosmos als Schöpfung wird von Cioran nur
5
Pariser Buddhismus
129
zustände des manisch-depressiven Spektrums - ein Verfah
ren, das die spätere Verherrlichung der derive, des Treibens
durch den Tag bei den Situationisten der fünfziger Jahre, vor wegnimmt. Das bewußte Leben in der Drift kommt einer übenden Verstärkung des Diskontinuitätsempfindens gleich, zu dem Cioran aufgrund seiner Launenhaftigkeit disponiert war. Der Verstärkungseffekt wird zusätzlich dogmatisch
überhöht durch die angriffslustige These, Kontinuität sei eine
»Wahnidee0 - es hätte genügt, sie ein Konstrukt zu nennen. Dasein heißt nun: sich in immer neuen Jetzt-Punkten unwohl
fühlen.
Dem Punktualismus der Cioranschen Selbstbeobachtung,
die zwischen Momenten der Kontraktion und der Diffusion pendelt, entspricht die literarische Form des Aphorismus und
das publizistische Genre der Aphorismensammlung. Der Ver
fasser errichtet schon früh ein relativ simples und stabiles Git
ter aus sechs oder acht Themen, mit dessen Hilfe er seine Zu
stände in der Drift durchkämmt, um jeweils von einem Erleb
nispunkt auf einen entsprechenden thematischen Knoten zu
kommen. Mit der Zeit bilden die Themen - wie Teilpersön lichkeiten oder nebeneinander arbeitende Redaktionen - ein
sachcr eines totalen Fehlschlags ins Spiel kommt. Für einen
Eigenleben aus, aufgrund dessen sie sich selbstfortsetzend weiterentwickeln, ohne auf einen Anlaß im Erlebnis warten
Gottesbeweis, obschon mit umgekehrtem Vorzeichen: Die
teur, der die Produkte seiner Schreibstuben als Editor bear
insoweit akzeptiert, als dabei Gott als der anklagbare Verur
Augenblick gerät Cioran in die Nähe von Kants moralischem
zu müssen. Der »Autor« Cioran ist lediglich der Chefredak
Existenz Gottes ist mit Notwendigkeit zu postulieren, weil
beitet. Er setzt zu Büchern zusammen, was seine inneren Mit
Das Procedere, das Cioran für seine Ami-Exerzitien ent
Sirzungen das Material vor - Aphorismen aus der Abteilung
Gott sich für die Welt entschuldigen muß.
wickelt, beruht auf der Erhebung des Müßiggangs zu einer Übungsform der existentiellen Revolte. Was er» Müßiggang«
nennt, ist in Wirklichkeit eine bewußte und durch keine Art
arbeiter routinemäßig abliefern. Sie legen in unregelmäßigen Gotteslästerung, Bemerkungen aus dem Studio Misanthropie,
Sticheleien aus der Sektion Desillusionierung, Verlautbarun
gen aus dem Pressebüro des Zirkus der Einsamen, Thesen aus
von strukturierter Arbeit behinderte Drift durch die Gemüts-
der Agentur für Hochstapeleien über dem Abgrund und Gifte
69 Emile Cioran, Syllogismen der Binerkeit, Religion, in: ders., Wer ke, a. a. 0., S. 925.
70
Vgl. E. M. Cioran, Ein Gespräch mit SylvieJoudeau, Sankt Gallen
1992,
s. 29·
Der Planet der Übenden
130
aus der Redaktion für die Verächtlichmachung der zeitgenös sischen Literatur. Nur die Formulierung des Gedankens an den Selbstmord verbleibt in der Kompetenz der Chefredak
5 Pariser Buddhismus
131
Dumpfheit, die den Radikalismen anhaftet. Was er sagt und tut, dient dazu, sein Leiden auf die ihm entsprechende Kön nensstufe zu heben. Ciorans Werk erscheint um vieles weni
tion. Dieser beinhaltet ja die Übung, von der alle übrigen Wie
ger selbstwidersprüchlich, sobald man in seinen zahlreichen
derholungsreihen abhängen. Er allein erlaubt, von Krise zu
Paradoxien die Emergenz des Übungsphänomens wahr
Krise, die Wiederherstellung des Gefühls, im Elend souverän
nimmt - noch einmal also »eine der breitesten und längsten
zu bleiben - ein Gefühl, das dem verstimmten Leben ein Mi
Thatsachen, die es giebt« in einer ungewohnten Deklination.
nimum an Halt gewährt. Im übrigen wissen die Zuständigen
Mochte er seiner Grundstimmung nach ein »passiv-aggressi
für die Themen, was jeweils die benachbarten Redaktionen
ver Bastard« gewesen sein - wie sich Gruppentherapeuten in
produzieren, so daß sie sich zunehmend gegenseitig zitieren und aneinander angleichen. Der »Autor« Cioran erfindet nur die Buchtitel, die das Genre andeuten - Syllogismen, Flüche, Grabsprüche, Geständnisse, Heiligenleben, Leitfäden des Scheiterns. Von ihmstammen zudem die Zwischenüberschrif ten, die einer ähnlichen Logik gehorchen. Im Allrag ist er viel weniger ein Schreibender als ein Lesender, und wenn es eine Tätigkeit in seinem Leben gab, die von ferne einer geregelten Arbeit oder einem förmlichen Exerzitium glich, so war es das Lesen und Wiederlesen von Büchern, die ihm als Quellen des
den siebziger Jahren gelegentlich ausdrückten -, seinem Ethos nach war er ein Mann der Exerzitien, ein Artist, der noch aus der Trägheit eine Nummer machte - aus der Ver zweiflung eine apollinische Disziplin, aus dem Sich-Gehen Lassen eine Etüde in beinahe klassischer Manier.
Die Wirkungsgeschichte von Ciorans Büchern verrät, daß
er auf der Stelle als ein paradoxer Exerzitienmeister erkannt
wurde. Naturgemäß sprachen sie nur eine geringe Zahl von Lesern an, stießen bei diesen jedoch auf eine tiefe Resonanz. Die kleine Schar der intensiven Rezipienten entdeckte in den
Leben
Schriften des verruchten Autors sogar etwas, dessen Existenz
Original. Die zahlreichen Lektüren werden in den Prozeß der
gung, eine verborgene Neigung, dem »Trappistenorden ohne
Trosts und als Anlässe für Widerspruch dienten. Das
der heiligen Teresa von Avila las er fünf Mal im spanischen Anti-Exerzitien eingefügt und bilden zusammen mit den
dieser wohl geleugnet hätte - eine bruderschaftliehe Schwin Glauben«, dem er sich kokett und verantwortungslos zurech
Erinnerungen an Selbstgesag tes ein Knäuel aus Wechselwir
nete, eine etwas dichtere Konsistenz zu verleihen. Es gab bei
Die »negativen Exerzitien« des rumänischen »Dreigro
loser waren als er selbst, Rat zu spenden - und eine sehr viel
kungen der n-ten Potenz.
schenbuddhisten« - so bezeichnet er sich selbst in den Syllo
gismen
- sind Landmarken in der jüngeren Geschichte des
ihm eine geheime Bereitschaft, Verzweifelten, die noch hilf
weniger verheimlichte Neigung, für seine Weltfluchtübungen berühmt zu werden. Mochte er der tentation
d'exister mehr
spirituellen Verhaltens. Sie bedürfen nur noch ihrer Explika
oder weniger resolut widerstanden haben - sogar in den Bor
tion als gültige Entdeckungen - jenseits der Grundstim
dellen, sogar in mondäner Gesellschaft -, der Versuchung, ein
mungskumpanei, die in der bisherigen Cioran-Rezeption den Ton angibt. Die Skepsis, die man dem Autor im Einklang
Vorbild zu werden, war er in aller Diskretion zu erliegen bereit. Es ist daher nicht abwegig, in Cioran nicht bloß den
mit manchen seiner eigenen Sprachspiele nachsagt, ist alles
Praktikanten einer informalisierten Askese, sondern auch ei
andere als »radikal«1 sie ist virtuos, sie ist elegant. Was Cioran
nen informellen Trainer zu sehen, der mit seinem eigenen
betreibt, mag monoton erscheinen, es führt aber nie in die
modus vivendi auf andere
aus der Ferne einwirkt. Während
1 J3
Der Planet der Übenden
IJ2
der gewöhnliche Trainer - w1r fanden oben seine Definition derjenige ist, »der will, daß ich will« 1 fungiert der spirituelle
ÜBERGANG
Trainer als derjenige, der nicht will, daß ich nicht w1ll. Er ist
RELIGIONEN GIBT ES NICHT: VON PIERRE DE COUBERTIN zu L. RoN HuBBARD
/
es, der mir abrät, wenn ich aufgeben möchte. Für das übrige begnüge ich mich mit dem Hinweis, daß Ciorans Bücher für
eine unbestimmte Anzahl von Lesern eine effektvolle Selbst
mordprophylaxe boten - dieselbe Wirkung wird persönli chen Gesprächen mit ibm nachgesagt. Die Ratsuchenden mö gen geahnt haben, auf welche Weise er die gesündeste Art, unheilbar zu sein, entdeckt hatte. Ich lese Ciorans Werk der •negativen Übungen« als einen weiteren Hinweis darauf, daß bei der Hervorbringung von »Hochkultur«, was immer das im Detail heißen mag, ein un verzichtbarer asketischer Faktor am Werk ist. Nietzsche machte ihn sichtbar, indem er an das immense System rigider Dressuren erinnerte, das die Basis zum Überbau der Moral, der Kunst und aller »Disziplinen« bildet. Dieser Asketismus tritt erst in die vordere Sichtlinie, wenn die augenfälligsten Standardübungen der Kultur, »Traditionen« genannt, in die Verlegenheit
des
Kafkaschen
Hungerkünstlers
geraten:
Sobald man sagen kann, das Interesse an ihnen »sei in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen«, werden die Be dingungen der Möglichkeit ihres Bestehens eigens auffällig. Wenn das Interesse an einer Lebensform abebbt, wird da und dort der Boden freigelegt, über dem sich die sichtbaren Par tien der Aufbauten erhoben.
Es ist an der Zeit, aus den gegebenen Hinweisen die Kon sequenzen für eine anthropotechnische Neubeschreibung der religiösen, ethischen und asketisch-artistischen Phäno mene zu ziehen. Deshalb setze ich noch einmal bei den bei den übungs- und mentalitätsgeschichtlichen Haupttenden zen des letzten Jahrhunderts an: bei der Heraufkunft des neo-athletischen Syndroms um 1900 und der Explosion der informellen Mystik, gleich ob diese sieb privatissime oder in der Netzwerkarbeit der psychotechnischen Sekten manife stiert. Von beiden Erscheinungen her läßt sich die These über die gespenstische Natur der »Wiederkehr der Religion« prä zisieren. Ich werde zunächst am Beispiel der von Pierre de Coubertin initiierten neu-olympischen Bewegung zeigen, wie eine als Kultreligion gestiftete Unternehmung ihrem religiösen Design entwuchs, um sich zur umfassendsten
?rganisationsform
für menschliches Anstrengungs- und
Ubungsverhalten zu entwickeln, die je außerhalb von Ar beits- und Kriegswelten zu beobachten war - selbst die Pilgerzüge des Mittelalters und die Exzesse der spanischen Klosterkultur im 17. Jahrhundert (als ein gut Teil des Lan
des in die Zellen strömte, um sich nach den Regeln der Kunst zu emselbsten) besitzen gemessen am Volumen des neu-olympischen Sportkults
nur
episodischen Charakter.
Anschließend gehe ich am Beispiel der von dem Science Fiction-Autor Lafayette Roo Hubbard gegründeten
7' Siehe oben S. 9tf. sowie Kapitel 8, S. 455f.
of
Scientology
Church
der Frage nach, was daraus zu lernen tst,
Der Planet der Übenden
1 34
wenn eine Firma zum Vertrieb von altbekannten Autosug gestionsmethoden z.u einem weltweit operierenden psych agogischen Konzern mit Religionsanspruch ausgebaut wer den konnte.
Die Konklusionen schicke ich voraus: Die Schicksale des Olympismus und der Betrieb der szientologischen »Kirche« lassen erkennen, daß »Religion« in dem Sinn, wie die Exploi
teure des Begriffs ihn verstehen, nicht existiert - und nie exi stiert hat. De Coubertin wie Hubbard sind einer modernen
Luftspiegelung erlegen, deren Untersuchung Aufschluß ge währt über die Fabrikation und Konstitution von »Religion«
im allgemeinen. Beide wollten etwas gründen oder stiften, was es nicht geben kann und was daher, einmal »gestiftet«, sieb als etwas anderes erweisen muß, als es dem Willen der
Gründer zufolge hätte sein sollen oder werden wollen. Die beiden Stifter unterlagen demselben Irrtum mit entgegenge setztem Vorzeichen: Der reale Olympismus weigerte sich, die
von de Coubertin geplante Religion zu werden, während die
Scientology-Bewegung sich sträubt, nur als der Psychotech nikkonzern angesehen zu werden, den sie der Sache nach
darstellt. Bei der Analyse der beiden Weigerungen verdeutli che ich in einem ersten Anlauf, worum es bei meiner Behaup tung geht, daß Religion nicht existiert. Womit wir es tatsäch
lich zu tun haben - in Dimensionen, deren Vermessung kaum begonnen hat -, sind mehr oder weniger mißinterpretierte
anthropotechnische Übungssysteme und Regelwerke zur Selbstformung im inneren wie äußeren Verhalten. Unter
dem Obdach solcher Formen arbeiten die Praktizierenden an der Verbesserung ihres globalen lmmunstatus72 - wobei,
Übergang
135
springt, wie das Zugrunderichten der physischen Immunität nicht selten als Königsweg zur Hebung der metaphysischen Immunität (Unsterblichkeit) angepriesen wurde - ich erinne re an Franz von Assisis gezielte Zermürbungsübungen für den »Bruder Esel« - so pflegte der Heilige seinen Körper zu nennen - und an gewisse para-suizidale Praktiken, für die der tibetische und mongolische Buddhismus bzw. Lama ismus berüchtigt waren. In Ciorans
Syllogismen der Bitterkeit finde
ich unter der
Rubrik »Religion« folgenden Eintrag: »Ware die Ironie nicht wachsam, wie leicht fiele es, eine Religion zu gründen! Es würde genügen, den Schau lustigen zu gestatten, sich um unsere geschwätzigen Verzückungen zu scharen.« Die Notiz ist aufschlußreich, da sie, trotz ihres modernen Sarkasmus, für ein vormodernes Verständnis des Phänomens
»Religion« zeugt. Mit seiner Mikrotheorie von der Ent
stehung der Religion aus dem Auflauf um die Ekstase setzt
Cioran, Sohn eines orthodoxen Priesters, die Linie alteuro päischer Angebotstheorien des Religiösen fort. Die beiden Komponenten oder »Rohstoffe«, aus deren Verbindung die Religion gefertigt wird, sind hiernach eine ekstatische Darbie tung durch einen Elnzelnen und eine entsprechende Neugier seitens der Menge. Die erste behauptet naturgemäß den Vor rang, weil sie das kostbarere Element enthält. Legt man Cio rans Hinweis weiter aus, so käme es zu einer Religion dann und nur dann, wenn das Seltene, die ekstatische Offerte, auf das Häufige, die profane Neugier, zugeht und dieser erlaubt, sich um es zu versammeln. Es ist offenkundig, daß Cioran
auf europäischem Boden wie in Asien, das Paradox ins Auge
hier, obschon auf einem vergröberten Niveau, die Überzeu
Ich erinnere an die in der Einleitung (S. 2 1 f.) erläuterte These, daß es beim Menschen nicht nur ein Immunsystem gibt, sondern deren drei, wobei der religiöse Komplex fast ganz in den Funktionskreis
läufe, die man in geronnenem Zustand Kirchen nennt, pro
72
des dritten I mmunsystems fällt.
gung der klassischen Monotbcismen wiedergibt, wonach in letzter Instanz Gott selbst, und er allein, es ist, der die Auf voziert und zuläßt. Er organisiert den Auflauf, indem er, wie man sagt, sich den Menschen offenbart.
-
-
D<.:r Planet der Übenden
1 37
Übergang
In typologischer Sicht entspricht die angebotstheoretische
zeigt, welche Ansprüche sie stellen dürfen. Wer will, kann
Auslegung des religiösen Phänomens der katholischen Posi
hierin eine demokratische Wende erkennen. Sie zieht die Auf
tion, sofern diese auf einer strikt hierarchischen, von Gott zu
gabe nach sich, den Auflauf als Nachfrage zu deuten und mit
den Menschen, von den Priestern zu den Laien herabsteigen
einem passenden Angebot darauf zu antworten. Um diese
den Linie der Angebotsübermittlung beruht. Der Primat des
Stellung zu beziehen, ist es nötig, den Glauben als Aktualisie
Gebers und der Vorrang der Gabe bleiben in diesem Univer
rung einer dem menschlichen Dasein inhärenten Disposition
sum unantastbar. Die Gläubigen tauchen bier ausschließlich
zu deuten. Im übrigen liegt auf der Hand, wieso beim Vor
auf der nehmenden Seite auf, wie die Hungrigen vor einer
rang der Nachfrage die anbietende Seite sich flexibel zeigen
Armenküche.73 In klerikokratischen Zeiten war das »Wort
muß und sich drohender Töne zu enthalten hat. Wir geraten damit ins Feld der protestantischen Praxen,
Gottes« nicht nur ein erhabenes Geschenk, es stellte zugleich das Muster eines Angebots dar, zu dem man nicht nein sagen
bei denen
kann. Daher insistieren die katholischsten der Katholiken
fragen- etwa nach einem gerechten Gott, nach einer Adres
summa summarum
die Bedienung von Nach
noch heute auf der lateinischen Messe, weil diese den diaman
se für das metaphysische Bedürfnis oder nach einem Helfer
tenen Kern der Angebotsreligion vor Augen stellt. Sie fragt
zum Lebenserfolg - im Zentrum steht.74 Das gilt allerdings
nicht, was Menschen verstehen können, sondern was Gott zeigen will. Für ihre Anhänger ist der Höchste am gegenwär
weniger in empirischer als in typologischer Sicht, denn
tigsten, wenn der Priester mit dem Rücken zur Gemeinde
puritanischen Variante, die apokalyptischen Kommunika
sein lateinisches Mysterienspiel vollzieht - Kirchenlatein ist
tionen geliebt, wie sie für herzhaft dreinschlagende Ange
faktisch hat der frühe Protestantismus, besonders in seiner
die versteinerte Form der »geschwätzigen Verzückung«. Cio
botsreligionen charakteristisch sind. Tatsächlich war die
ran gibt ziemlich offen zu verstehen, daß er selbst oft in Zu
Reformation als Restauration des angebotstheologischen
ständen war, aus denen naivere Naturen kirchenstiftende
Motivs gegen den katholischen Schlendrian in Gang gekom
Konsequenzen gezogen hätten.
men. Sie kehrte ihren nachfragetheologischen Zug erst her
Den Boden der Moderne betreten wir bei den nachfrage
vor, als die Gemeinden sich zu einem religiös interessierten
theoretischen Deutungen des religiösen Phänomens. Hier
Publikum wandelten. Überdies ist der modernen protestan
rückt, um im Bild zu bleiben, der Menschenauflauf an die
tischen Theologie - man denke an Karl Barth - die radi
erste Stelle, und es stellt sich die Frage, womit man den Be
kalste Formulierung des Angebotsprinzips zu verdanken,
dürfnissen der Menge am besten entgegenkomme. Nun ist
verbunden mit der härtesten Absage an die human und
keine Rede mehr davon, daß man von oben her dem Häufigen
undogmatisch zerfließende Nachfragereligiosität, wie sie
gestattet, bei den Erscheinungen des Seltenen dabeizusein.
seit dem 18. Jahrhundert das Bild bestimmt. In Schleierma
Vielmehr geht es darum, den vielen zu geben, wonach sie
cher, dem Werber um die Gebildeten unter den Religions
verlangen- oder was sie verlangen werden, wenn man ihnen
verächtern, hatte Barth den Meistertheologen der Nach-
73 Thomas Macho hat in dem erwähnten Aufsatz (Neue Askese, Merkur 1994) die These verueten, das katholische Christentum sei essentiell eine »Hungerreligion«, die um die Frage organisien ist: Was sättigt?
74
Das würde heißen, daß der Protestantismus keine »Hungcrreli gion« mehr ist, sondern eine »Fimessreligion«, ein spirituelles Sur plus für Gesättigte.
Der Planer der Übeoden
fragereligion oder, noch schlimmer: der Begabungsreligion erkannt und ihm seine entschiedenste Opposition gewid met?5 Es war derselbe Kar! Banh, der zu der in ihrer Zeit uner hörten These vordrang, das Christentum sei keine Religion, denn: »Religion ist Unglaube.« Er hatte damit das Richtige getroffen, doch mit falscher Pointe und mit der untauglich sten aller möglichen Begründungen: daß nämlich das »Wort Gottes« das Gewebe der Kulturmachenschaften senkrecht von oben durchschlägt - indessen die bloße Religion immer nur ein Teil des von unten her zurechtgemachten Systems aus Menschlichkeiten, Allzumenschlichkeiten sei. Das Argument mochte als katastrophentheologische Zuspitzung der Lage nach 1 918 eindrucksvoll wirken, als Wort zur Gesamtlage war es irreführend - denn die Moderne ist nun einmal nicht dafür bekannt, eine Zeit zu sein, in der sich Gott den Men schen aus der Vertikalen zeigt. Die Erde wurde auch in die semJahrhundert von Meteoren getroffen, die von ganz außen und oben herabstürzten, Götter jedoch waren nicht darunter. Träfe Barths These zu, so wäre er mit seiner Entschlossenheit, alle natürlichen Theologien zu befehden, im Recht gewesen. Jede Ableitung der Religion aus den Strukturen des Bewußt seins hätte er mit guten Gründen verwerfen dürfen - ebenso wie jede Auflösung des Christentums in aufgeklärte Ethik. 75 Vgl. Karl Barth, Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung
Göttingen Wintersemester 1923/24> hg. von Dietrich Ritschl, Zürich 1978. Darin verhöhnt der Aucor seinen Intimfeind als einen Parlamentär, der mit der weißen Fahne in der Hand z.u den Ge bildeten über die Religion redet, statt sich als Christ zu bekennen (S. 438); nicht ohne Verachtung zitiert er dessen Definition des Christseins: in der Kirche »die schlechthinnige Leichtigkeit und
Stetigkeit frommer Erregungen« suchen; nicht ohne Sarkasmus zitiert er Schleiermachers frühe Selbstaussage, er sei ein "Virtuose der Religion«, und läßt ihn als einen Zwitter aus Paganini und Jeremias auftreten. Zu Schleiermachers Definition der Religion siehe unten S. p . 2f.
Übergang
I J9
Warum seine These falsch war, erklärt sich aus der näheren Untersuchung des Motivs »senkrecht von oben«. Wir wissen aus dem oben Dargestellten, daß der gesamte Komplex der Vertikalität in der Moderne eine Neufassung erfährt, die ein vertieftes Verständnis der Emergenz von verkörperter Un wahrscheinlichkeit gestattet - an deren Entwicklungen nahm Barth jedoch nicht ausreichend Anteil. Er erlag dem Trug schluß, dem Theologen ex officio zu erliegen gehalten sind, nämlich: die Dimension der Vertikalspannungen umstandslos für den christlich entschlüsselten »Anruf von oben« zu ver einnahmen. Dennoch hat Barth nach Nietzsche als der wichtigste jün gere »Beobachter« der Vertikalität zu gelten. Ihm gelang eine neue Präsentation der christlichen Lehre, in der vom absolu ten Vorrang der Selbstdarstellung Gottes ausgegangen wird. Hiernach kann die Lage des Menschen nur aus der steilsten Senkrechten verstanden werden: Der wahre Gott ist jener, der den Menschen bedingungslos überfordert, während der Teu fel ihn auf seiner Ebene abholt. Allerdings bestritt auch Barth, als er die Nicht-Religion Christenrum den »Religionen« ge genüberstellte, nicht die These von deren Existenz. Ihm ent ging, daß das, was er so bezeichnet, ebensowenig »Religio nen« sind wie die christliche Hausmarke. Ob christlich oder nicht-christlich, sie bilden allesamt materialiter wie formali ter nichts anderes als Komplexe von inneren und äußeren Handlungen, symbolische Übungssysteme und Protokolle zur Regelung des Verkehrs mit höheren Stressoren und »transzendenten« Mächten - mit einem Wort Anthropotech niken im impliziten Modus. Sie sind Gebilde, denen man aus rein pragmatischen Gründen - anfangs aus römisch-christli cher Opportunität, später infolge von protestantischer Konfessionspolemik und aufklärerischer Systematik - den aus dem Jahrtausend der Latinität mitgeschleppten Namen religio anhängte - unter ebenso zwanghaftem wie willkürli chem Rückbezug auf die Sprach- und Kultspiele der römi-
Der Planet der Übenden sehen Staatsbigotterie.'6 Was religio (wörtlich »Sorgfalt<<) bei den Römern meinte, bevor ihnen Augustinus das Wort aus dem Mund nahm, um von vera
religio zu reden, erfährt man
am ehesten aus einem Detail: daß einige der wichtigsten rö
Übergang
erfahren wir über die »Religion« im allgemeinen, wenn wir
die Blaupausen der neugegründeten Kulte studieren und ih ren
modus operandi im
längerfristigen Betrieb beobachten?
Diese Fragen stellen sich natürlich nicht nur hinsichtlich der
mischen Legionen den Ehrenbeinamen pia fidelis tragen durf
beiden hier bevorzugten Beispiele. Sie können mit gleichem
tertia Augusta, die von der Mitte des
Religionsexperimente gerichtet werden, die seit der Franzö
ten, nach dem Muster der in Nordafrika stationierten J.
Legio
vorchristlichen Jahr
hunderts an bis zum 4· nachchristlichen bestand, sowie der
in Mainz, später in Pannonien angesiedelten
Recht an jedes einzelne aus der großen Zahl der jüngeren sischen Revolution von sich reden machten - vom Kult des
Legio prima
Höchsten Wesens von 1793 77 über den Saint-Simonismus,
5· Jahrhunderts existierte. Dank christlicher Sinnverschie
die Theosophie, die Anthroposophie bis hin zu den neo-hin
adiutrix,
die von den Tagen Neros an bis in die Mitte des
Auguste Comtes soziologische Religion, den Mormonismus,
bungen werden aus den Fromm-Treuen des Caesars die Le
duistischen Kultbricolagen und den vielfältigen Netzwerken
fideles nennt.
spannen. All diese Unternehmen sind schon unter dem Auge
gionäre Christi, die man im Französischen bis heute
les
Bei der Erinnerung an Pierre de Coubertins Neo-Olym
pismus und Ron Hubbards
drängen
Church of Scientology
sich mehrere Fragen auf: Was ist überhaupt Religion, wenn
der psychotechnischen Sekten, die heute den Globus um
der Aufklärung entstanden und hätten
in vivo
und
in vitro
studiert werden können, wenn ein entsprechendes Interesse
mit den geeigneten Optiken und Methoden sich ihnen hätte
Leute von nebenan eine solche stiften können? Was bedeutet
zuwenden wollen.
im Kampf schwärmte, und ein strahlender Schlaumeier, bis
Was den Coubertinschen Neo-Oiympismus angeht, so ist seine Geschichte zu oft erzählt worden - zuletzt aus Anlaß
sie, wenn ein hellenophiler Pädagoge, der für Männerkörper dahin vor allem als Verfasser von abgekochten Weltallkrimis
bekannt, allen Ernstes und Unernstes in der Überzeugung
lebten, vor unseren Augen eine solche ins Leben gerufen zu haben? Besteht dann nicht die sicherste Methode, alle »Reli
gionen« bloßzustellen, darin, selber eine zu gründen? Was
der Centennarfeiern für die Olympischen Spiele der Neuzeit
im Jahr 1996 , als daß ich hier mehr als Elementares wieder -
geben müßte. Auch hat man die drei Quellen und drei Be standteile von Coubertins sportreligiösem System sattsam
gewürdigt: Sie sind zu finden in John Ruskins gymnophilo
76 Nachdem das Mittelalter von religio nur gesprochen hatte, um die Tugend der Gläubigen und die Lebensform der Berufsasketen in den Orden zu bezeichnen, nahm die Reformation das Wort -.Re ligion in Gebrauch, um den Katholizismus als Fälschu�g der . »wahren Religion« zu brandmarken. Die Aufklärung generaiiSlerte schließlich den BegriH »Religion , um den Wirrwarr de� K�nfes «
«
sionen, der im Dreißigjährigen Krieg kulminierte, und die VIelfalt der Kulte, die von den Seefahrern rapportiert wurden, vernünftig zu ordnen. Um »die Religion« zur Privatsache erklären zu können, mußte sie sie zuvor zu einer anthropologischen Konstante verall gemeinern und als eine natürliche Begabung definieren .
sophischen Ideen zur sogenannten Eurhythmie,78 in Doktor Brookes neo-hellenistischen Olympian
Games im englischen
Shropshire (die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts abgehalten
wurden) und in Richard Wagners Bayreuther Festspielen, bei
denen sich der Archetypus eines modernen elitär-kommuni-
77 Fram;ois-Alphonse Aulard, Le culte de Ia Raison ct le culte de
I'Etre Supreme (I793-1794) (zuerst Paris 1 892), Aalen 1975. 7s De Coubertin nennt den Olympismus gelegentlich einen mskia nisme
sportif
Der Planet de.r Übenden
tären Erbauungskults in voller Artikulation aufgreifen ließ sechstausend Fuß jenseits von Industriealltag und Klassen
spaltung. Darüber hinaus hat man auf die inspirierende
Übergang
mus bei der Definition des Spom; die Gleichberechtigung der Sportarten; den Ausschluß der Kinder; das Prinzip der
zirkulierenden Spiele; den Amateurismus (der jedoch um
von 1889 hinge
stritten blieb und 1976 suspendiert wurde); den Internatio
läutern. Unter diesem Licht gesehen, erscheint der Olympis
wurden Athen als Austragungsstätte der ersten und Paris als
Wirkung der Pariser
Exposition universelle
wiesen, um den Transfer des rotalisierenden Impulses zu er mus als zeitgerechte Sportglobalisierung in Aktion?9
Schon der berühmte Sorbonne-Kongreß für die »Wieder
einsetzung der Olympischen Spiele« von r894 versammelte diese Ingredienzen - bereichert um de Coubertins eigene so
zialtherapeutische und pädagogische Motive - zu einer ef
fektvollen Mischung. De Coubertin berichtet in seinen Me
nalismus und das Prinzip der pax olympica. Darüber hinaus
Ort der zweiten Spiele bestimmt, um auf die Geburtsstätte
wie die Wiedergeburtsstätte der Spiele gebührend hinzuwei
sen - man ahnte nicht, daß die Pariser Spiele von 1900 den
Tiefpunkt in der Geschichte des Olympismus markieren soll ten: Sie gingen am Rande der gleichzeitigen Exposition Uni
verselle unbemerkt unter. Man lernte daraus:
Zwei Weltfeste
moiren, wie bei der Eröffnungssitzung in der Sorbonne am
zur gleichen Zeit sind nicht praktikabel.
te
Neuzeit zu Athen schon zwei Jahre später unter der Schirm
16. Juni die von Gabriet Faun� eigens zum Anlaß komponier
Hymne an Apoll für Chor,
Harfe, Flöte und 2 Baßklari
Tatsächlich wurden die ersten Olympischen Spiele der
netten (Opus 64), nach einer kurz zuvor am athenischen
herrschaft des griechischen Königs mit großem zeremoniel
send »bezauberten Hörern« uraufgeführt wurde:
Frauensport hielt der begeisterte Baron bekanntlich wenig, er
Schatzhaus in Deiphi aufgefundenen Inschrift, vor zweitau »Eine Art abgestufter Erregung breitete sich aus, wie wenn die antike Eurhythmie durch die Ferne der Zeiten hindurchscheine. Der Hellenismus fand auf diese Weise
Eingang in den weiten Raum_,,so
Zugleich legte der Pariser Kongreß die grundlegenden Merk
male der Spiele und der sie tragenden Organisation fest: den vierjährigen Turnus, der wie ein neuer religiöser Kalender die
Zeit für alle Zukunft gliedern sollte; die aufgeklärte Diktatur der IOC-Präsidentschaft - später durch die Wahl de Couber tins zum Präsidenten auf Lebenszeit gefestigt; den Modernis-
Vgl. WalterBorger Vom •World's Fair< zum olympischen Fair Play - Anmerkungen zur Vor- und Enrwicklungsgeschichte zweier Weltfeste in: lntemationale Einflüsse auf die Wiedereinführung der Olympischen Spiele durch Pierre de Coubcnin, herausgegeben von Stephan Wassong, Kassel 2005, S. 125f. So Pierre de Coubertin, Olympische Erinnerungen. Mit einem Vor wort von Willi Daume, Frankfurt/Berlin 1996, S. 23.
79
,
,
len Apparat eröffnet - als ein rein andrologisches Fest, vom
wollte die Rolle der Frau bei den Spielen auf den Moment beschränkt sehen, in dem sie dem Sieger den Olivenzweig
überreicht oder ihm den Kranz aufs Haupt setzt. Daß de
Courhertin sein
taceat mulier in arena
nicht durchsetzen
konnte, war nur der Anfang einer Reihe von Niederlagen bei der praktischen Verwirklichung seiner >>Muskelreligion«. Zu den folgenreichsten Resultaten der ersten Spiele zählt die Tatsache, daß dank der Spende eines Großmäzens das pan athenäische Stadion von Athen aus der Zeit, als Griechenland
römische Provinz war, restauriert und wieder in Betrieb ge
nommen werden konnte - dies gab den Auftakt zu der Sta dion- und Arena-Renaissance des 20. Jahrhunderts, die bis heute immer neue Event-Architekturen auf der Linie der an
tiken Primärformen nach sich zieht.
81 Sogar die Mönche vom
g1 Vgl. Peter Sloterdijk, Sphären III, Schäume. Plurale Sphärologie, Frankfurt am Main 2004, S. 626-646: »Die Kollektoren: Zur Ge schichte der Stadion-Renaissance«.
Der Planet der Übenden
Berg Athos sollen Geld für die olympische Subskription bei gesteuert haben, als seien sie der Eingebung gefolgt, im fernen Athen beträten die modernen Nachbilder ihrer eigenen ver
wischten Urbilder wieder die Bühne - harten die ersten Mön che des östlichen Christentums sich nicht die »Athleten Chri sti<< genannt und sich in Trainingslagern zusammengetan, die
asketeria hießen?
Übergang
Kronprinzen liefen die letzten Meter der Strecke unter dem
eskstatischen Jubel von nahezu 70 ooo Menschen neben dem
Läufer her und trugen ihn, nachdem er die Ziellinie überquert
hatte, auf ihren Armen vor den König, der sich von seinem Stadionthron erhoben hatte. Hätte man den Beweis erbringen wollen, ein Zeitalter der Hierarchieumkehrungen habe be
gonnen, man hätte ihn nicht effektvoller inszenieren können.
Den so denkwürdigen wie unvorhergesehenen Höhe
Einen Augenblick lang wurde ein sportiver Schafhirte zum
punkt der Athener Spiele bildete der erste Marathonlauf.
König des Königs - man sah erstmals, wie die Majestät, um
und Philhellenen Michel Breart zurück, der auf dem Schluß
überging- in späteren Jahrzehnten verstärkte sieb sogar der
Die Idee hierzu geht auf den französischen Altphilologen bankett der Sorbonne-Konferenz die Stiftung eines Mara
thon-Pokals für den ersten Sieger in der neuen Diszipli n gelobt hatte. Als der Sieger des Laufs, ein 23jähriger griechi
scher Schafhirte namens Spiridion Louys, mit der Volks tracht, der Fustanella, bekleidet, am 10. April 1896 in das
nicht die Macht zu sagen, vom Monareben auf den Sportler Eindruck, die Schafhirten und ihresgleichen strebten die Al leinregierung an. Eine anhaltende Rauschwelle ging über
ganz Griechenland hinweg, ein begeisterter Barbier ver
sprach dem Sieger, ihn sein Leben lang umsonst zu rasieren. Ein Olivenzweig und eine Medaille aus Silber waren die of
weiß leuchtende Marmorstadion einlief (die Siegeszeit wurde
fiziellen Ehrenzeichen, eine Flut von Geschenken folgte.
Begriff »Ausnahmezustand« nur mit Mühe beschrieben wird.
hatte, ist nach wie vor unklar; der Schäferjunge soll als Or
mit 2 Stunden 58:50 angegeben), trat etwas ein, was durch den
Es war, als ob eine neue Energieart entdeckt worden wäre, eine Form von emotionaler Elektrizität, ohne die man sich
den way of life der folgenden Ära nicht mehr würde vorstel
Wie Spiridion Louys sich die nötige Kondition verschafft
donnanzläufer oder Wasserträger eines Offiziers tätig gewe
sen sein und sich dabei an längere Strecken gewöhnt haben. 14
Tage vor den Spielen war er bei einem Probelauf Fünfter
len können. Was an jenem glühend heißen Nachmittag gegen
geworden. Das Wort Training dürfte er bis dahin kaum ge
fünf Uhr im Panathenaion-Stadion geschah, muß man als eine
hört haben - ich werte das als Beleg für meine These, daß sich
Kategorie von Augenblicksgöttern stellte sich damals dem
nicht-deklarierten Askesen vollzieht.83 Für die Brüder vom
neuartige Epiphanie einstufen. Eine bis dahin unbekannte
modernen Publikum vor - das sind die Götter, die keinen Beweis nötig haben, weil sie nur für die Dauer ihrer Mani
festation existieren und nicht geglaubt, sondern erlebt wer
den. In dieser Stunde wurde ein neues Kapitel der Enthusias
musgeschichte aufgeschlagen - wer von ihr nicht reden will,
muß vom 20. Jahrhundert schweigen.82 Die griechischen
82 Zum Phänomen der Augenblicksgöner vgl. Hermann Usener, Gönernamen. Versuch einer Lehre von der religiösen BegriffsbiJ dung (zuerst 1896), Frankfurt am Main 20oo, S. 279f.
der grögte Teil allen Übungsverhaltens in der Form von
Berg Athos mochte es wie eine Bestätigung ihrer Intuitionen
gewesen sein, wenn bald darauf das Gerücht zirkulierte, der Läufer habe die Nacht vor dem Rennen im Gebet vor Ikonen
verbracht - sogar de Coubenin nahm diesen Hinweis ernst
genug, um an sie erste Reflexionen über die psychischen und
geistigen Komponenten sportlicher Höchstleistung zu knüp fen. Wie Friedrich Nictzsche, Carl Hermann Unthan und
Der Planet der Übenden
Hans Würtz meinte auch der Gründer der Spiele zu wissen, daß es in letzter Instanz der Wille ist, der Erfolg und Sieg erzeugt. Deshalb machte de Coubertin keinen Hehl aus sei
ner Abneigung gegen den Positivismus der Sportmediziner, die zu »banausisch« dächten, um die höheren Dimensionen des Sport.s im allgemeinen und der neuen Bewegung im be sonderen zu erfassen.84
Übergang
des Körperkults zusammen, um ein modernen Ansprüchen
genügendes Amalgam zu bilden.
Was de Coubertin von einer wirkungsvollen neuen »Reli
gion« erwartete, geht aus einer Memoirennotiz über einen Besuch der Festspiele in Bayreuth hervor. In ihr zieht er Par allelen zwischen den scheinbar getrennten Sphären:
>>Musik und Sport sind für mjch immer die vollkom
mensten >Isolatoren< gewesen, die fruchtbarsten Mittel
Was Pierre de Coubertin unter dem Namen des Olympis
mus beschwor, sollte in seinen Augen nicht weniger bedeuten
der Besinnung und des Schauens ebenso wie mächtige Anreize für die Ausdauer und >Massagen der Willens
als eine vollgültige neue Religion. Zugunsren dieser AuHas
kraft<. Mit einem Wort: Nach Schwierigkeiten und
sung meinte er sich auf die religiöse Einbettung der Alten
Spiele berufen zu können. Diese waren im Laufe ihres über eintausendjährigen Bestehens immer coram Deis abgehalten worden, ja, sie vollzogen sich nicht nur im Angesicht der
1 47
Gefahren erweisen sich alle unmittelbaren Besorgnjsse
als zerstreut.«85
Mit dem bemerkenswerten Wort »Isolator« deutet de Cou
Götter, sondern auch mit deren Billigung und wer weiß, o b
bertin auf das Vermögen der »Religion«, die Realität in ge
Athleten im Stadion und in der Palaistra als Ereignisse deu
Sport und Musik sind, da ist für ihn darum auch Religion -
nicht auch mit ihrer Beteiligung - sofern man die Siege der
wöhnliche und außergewöhnliche Situationen zu spalten. Wo
tete, die nie ohne die Zustimmung der Himmlischen, und
sofern deren Merkmal: die alltagssprengende und sorgenbre
warum nicht auch durch deren Eingreifen, zustande kamen.
chende Wirkung, gegeben ist. Entwickelt man den Ausdruck
knüpfte allerdings nicht direkt an der griechischen Mytho
Ausnahmezustand herbeiführt. Religion ist für de Coubertin
De Coubertins neu zu schaffende »Religion des Athleten<<
logie an- der Gründer der Spiele war zu gebildet, um nicht zu
»Isolator« weiter, ergibt sich der Satz: Religiös ist, was den
die Herstellung des anderen Zustands mit sportlichen Mitteln
wissen, daß die Götter des Hellenismus tot sind. Ihr Aus
- hier beginnt einer der Pfade, die in die Evem-Kultur führen.
Typs, die als Weihehandlung zur Versöhnung der zerrissenen
zugleich ausgelöst und unter Kontrolle gehalten werden -
gangspunkt war die moderne Kunstreligion Wagnersehen
modernen »Gesellschaft« entworfen worden war. Da es in jeder kompletten Religion neben Dogma und Ritual einen ordinierten Klerus gibt, fiel dessen Verkörperung den Athle
Wie bei grenzwenigen Zuständen üblich, müssen diese beides wären die Aufgaben der voll ausgebildeten Athleten
Religion. Die athletischen Übungen bereiten den Ausnahme zustand in den Wettkämpfen vor, der Stadion-Kult lenkt
ten zu. Sie waren es, die der entrückten Menge die muskulä
dann die aufschäumenden Erregungen in die vorgeschriebe
Kampf, mein Sieg. So trafen in Coubertins olympischem
ent.gültig klar, warum nur eine neu gestiftete Religion seinen Intentionen gerecht werden konnte. Wie Richard Wagner
ren Sakramente spenden sollten. Dies ist mein Leib, mein
Traum die romantische Graecophilie sowie das pädagogische Pathos des r 9· Jahrhunderts mit dem ästhetischen Heidentum
84 De Coubertin,
Olympische Erinnerungen, a. a. 0.,
S. 4S.
nen Bahnen. Im »Isolator« von Bayreuth wurde de Coubertin
wollte er die Menschen für einige inkommensurable Momens5
Ibi d., s. 6 5.
•
Der Planet der Übenden te aus ihrem gewöhnlichen Leben heraussprengen, um sie verwandelt, gehoben und geläutert wieder in die Welt zu entlassen. In dem esoterischen Klima der Wagner-FestSpiele fand de Coubertin die Bestätigung seiner Grundhalmng. So
Übergang Adels bewegte, hatte gleichwohl begriffen, daß die Moderne die Ära der Neu-Reichen und Neu-Wichtigen ist. Für die letzteren insbesondere bot seine Bewegung ein ideales Betäti gungsfeld. Neben den ehrgeizpolitischen Anreizen wurden
wie in Bayreuth die steilste AngebotSform der Kunstreligion
die gierhaften Belohnungen nicht vergessen - aus dem Olym
der Sportreligion ihre Heimstatt finden. Einem Malraux des
dadurch, daß Spenden von Bewerberstädten direkt auf die
zu Hause war, sollte im Olympismus die analoge Ausprägung 19. Jahrhunderts vergleichbar, dozierte de Coubertin, das 20.
Jahrhundert werde olympisch sein oder es werde nicht sein.
Vor diesem Hintergrund läßt sich begreifen, in welchem Sinn die Erfolgsgeschichte der olympischen Idee zugleich die Mißerfolgsgeschichte von de Coubertins ursprünglichen
Absichten bedeutete. Man kann den Triumph des Olympis
mus interpretieren, wie man will: Er brachte jedenfalls alles andere hervor als den Dreiklang von Sport, Religion und Kunst, den de Coubertin aus der Antike in die Neuzeit trans
ponieren wollte. Sein Scheitern als Religionsgründer ist ein
pismus sind viele neue Vermögen hervorgegangen, einige auch Konten von IOC-Mitgliedern flossen. Das pragmatische Strombett für beide Antriebsarten waren die Vereine, die na türlichen Matrizen der sportlichen Übungen und der Allian zen zwischen Trainern und Übenden; ihre effektvollste Insze nierung erfuhren sie in den Kampfspielen selbst. Für diese Ordnung der Disziplinen waren die Verhältnisse offensiche lich r�if. Wenn die Zeit der Wettbewerbswirtschaft gehört, dann 1st der Wettkampfsport de,- Zeitgeist selbst. Das Gesamtresultat von de Couberrins Bemühungen hätte also njcht ironischer ausfallen können: Als Religionsgründer ist er gescheitert, weil er als Initiator einer Übungs- und Wett
��ch auf den Begriff zu bringen: Er harte ein System von Ubungen und Disziplinen ins Leben gerufen, das wie geschaf
kampfbewegung über jedes erwartbare Maß reüssiere hat.
fen war, die Existenz der »Religion« als einer separaten Kate gorie menschlichen Handeins und Erlebens zu widerlegen.
der nächsten Generation das Alpha und Omega der weiteren
Was wirklich ins Leben trat und immer massivere Konsistenz erlangte, war eine Organisation zur Stimulierung, Lenkung,
die � ympischc Idee nur als säkularer Kult ohne ernstgemein
Betreuung und Bewirtschaftung primär thymociscber (stolz und ehrgeizhafter), an zweiter Stelle erotischer (gierhafter, libidinöser) Energien. Die ersteren stellten sich keineswegs nur bei den Sportlern ein, sondern ebenso bei den neu geschaf fenen Funktionären, ohne die der neue Kult nicht zu prakti zieren war. Für sie, die unentbehrlichen Parasiten des Sports, brach ein Goldenes Zeitalter an, weil die olympische Bewe gung spontan das wichtigste aller Organisationsgeheimnisse beachtete: so viele Funktionen und Ehrenämter schaffen wie möglich, um die thymotische Mobilisierung und pragmati sche Bindung der Mitglieder an die erhabene Sache zu garan tieren. De Coubertin, der sich gern in den Kreisen des alten
Dem Initiator der Spiele entging, was für die Funktionäre U ncernehmungen bildete: die völlig evidente Tatsache, daß
�
ten überhau würde überleben können. Das wenige an Fair neßpachos, Jugendfeier und Internationaüsmus, das man pro
forma
beibehalten mußte, ließ sich auch ohne größeren See
lenaufschwung zusammenbringen. Vom noblen Pazifismus
de Coubertins blieb bei seinen pragmatischen Erben oft nicht mehr als ein Augenzwinkern. Die Spiele mußten sich in die überbordende Massenkultur integrieren und sich bei jeder Wiederholung noch entschiedener in eine profane Evenrma schine verwandeln. Auf keinen FaU durften sie zu hoch da herkommen - schon gar nicht mit dem »katholischen« oder angebotstheologischen Zug, der de Coubertins Ansatz cha rakterisierte. Wo Höheres sich nicht ganz vermeiden ließ, wie
•
Übergang
Der Planet der Übenden
lp
hierarchisierten Verwaltungsakten, routinisierten Vereinsbe
in der obligaten Eröffnungsfeier, sollte es beim festlichen Ein
ziehungen und professionalisierten Medienrepräsentationen.
zug der Athleten, der Hymnne, der Flamme und dem Appell
Von den Strukturmerkmalen einer ausgebauten »Religion«
an die Jugend der Welt bleiben. Bei den Nachkriegsspielen
bleibt nichts zurück außer der Hierarchie der Funktionäre
von Antwerpen 1920 wurde erstmals ein separates Hochamt
und einem System von Exerzitien, die ihrer säkularen Natur entsprechend Trainingseinheiten heißen. Der IOC-Vatikan
in der Kathedrale abgehalten, mit einem Moment des Schau
ers, als die Namen der im Krieg getöteten Olympioniken
von Lausanne hat keine andere Aufgabe, als die Tatsache zu
verlesen wurden. Als »heidnische« Form einer Angebotsre
verwalten, daß Gott auch olympisch tot ist.
ligion von oben hatte die olympische Idee nie eine Chance.
In dieser Hinsicht kann man behaupten, daß d.ie »Religion
Zum Gipfeltreffen der Athleten entzaubert, wurde sie als
des Athleten<< das einzige Phänomen der Glaubensgeschichte darstellt, das sich mit eigenen Mitteln selbst entzaubert hat
Massen-Attraktor unwiderstehlich.
Die pragmatische Wende verlangte von ihren Akteuren
nur einige intellektuelle Spielarten des Protestamismus in
nicht einmal einen Verrat an de Coubertins Vision. Es ge
Europa und den USA haben es nahezu gleich weit gebracht.
nügte völlig, die hohen Absichten des alten Herrn nicht zu
Als die Nicht-Religion, nach welcher zahllose Menschen ver
begreifen. Bald wußte kein Mensch mehr, was dessen Trau m
von einer religiösen Synthese aus Hellenismus und Moderni
langten, vermochte sich die athletische Renaissance über gro
tet, die olympische Idee habe gesiegt, weil ihre Anhänger auf
Wandel eines Eifers in eine Industrie. Kein Wunder, daß die
ße Teile der Welt auszubreiten. Ihre Entwicklung zeigt den
tät bedeutet hatte. Man geht nicht zu weit, wenn man behaup
junge Sportwissenschaft keine Lust an den Tag legte, die
allen Ebenen, von den Vorstandsmitgliedern des IOC bis in
Theologie dieser, kaum gestiftet, schon entgeisterten Kultbe
die Ortsvereine, binnen kurzem keine Ahnung mehr von ihr
wegung zu werden. Doch auch die Anthropologen blieben
hatten - selbst dann nicht, wenn bei den Siegerehrungen die
eher reserviert, sie interessieren sich bis heute weder für die
Tränen rannen. Der wackere Willi Daume, der als langjähri
artifiziellen Stämme der praktizierenden Sporder noch für d.ie Tatsache, daß mit den Sportfunktionären eine neue Sub
ger Vorsitzender des deutschen Nationalen Olympischen
Komitees Zugang zu den Quellen besaß, konnte über die
species aufgetreten ist, die nicht weniger Aufmerksamkeit
ideellen Motive der olympischen Sache nur den Kopf schüt
verdiente als der Mensch des Aurignacien.
teln. Auf die »Religion des Athleten« anspielend, bemerkt er in makelloser Funktionärsprosa: »Hier geht es dann schon
Für die schon mehrfach bezeichnete Tendenz zur Entspiri
etwas in die Verwirrung.<<86
Durch ihre Entspirirualisierung beweist die olympische
rualisierung der Askesen gibt es im 20. Jahrhundert kein stär
spontan auf das Format ihres wirklichen Gehalts zurückzu
tendenz angeht, die weltliche Aneignung des Spirituellen, so
keres Beispiel als die olympische Bewegung. Was die Gegen
Bewegung des 20. Jahrhunderts, wie eine »Religion« sich
liefert die
entwickeln vermag - auf die anthropotechnische Basis, wie
Church of Scientology des Romanciers
und Do-it
yourself-Psychologen Ren Hubbard zwar nur ein Beispiel
sie sich in einem System gestufter Übungen und diversifizier
unter vielen, doch ein überragend informatives. Ich möchte
ter Disziplinen verkörpert, integriert in einen Überbau aus
im folgenden den Erfinder der Dianetik als einen der großen
Aufklärer des 20. Jahrhunderts würdigen, da er unser Wissen
86 Ibid., S. 10.
I
�
Der Planet der Übenden
Übergang
Iß
über das Wesen der Religion entscheidend vermehrt hat, ob
unter den Glaubensschwachen erheben den Zweifel selbst
Platz im Pantheon von Wissenschaft und Technik verdient,
Grund: Chronisches Zweifeln ist die wirksamste Übung, um
schon überwiegend auf unfreiwillige Weise. Er hat sich seinen
zum Organ des Glaubens, aus einem asketologisch plausiblen
da ihm ein psychotechnisches Experiment mit gesamtkul
das Bezweifelte am Leben zu halten.
steht ein für allemal fest: Die effektivste Weise, zu zeigen,
startet werden kann, besagt, daß die bisherigen Religionen
turell bedeutsamen Ergebnissen gelang. Nach Hubbard
Die zweite Annalm1e, unter der eine neue Religion ge
daß es Religion nicht gibt, besteht darin, selbst eine in die
ungenügend sind, weil sie zu sehr an ihren Inhalten haften,
Wer eine Religion stiften möchte, kann dies prinzipiell
»Stimmung<< der Religion in den Vordergrund zu stellen.
Welt zu setzen.
während es kün:fcig darauf ankomme, die Form oder die
unter zwei verschiedenen Annahmen tun. Die erste besagt:
Bei dieser Zuwendung zur Formseite ist eine dramatische
noch nicht darunter. Neue Einsichten machen es jetzt endlich möglich und nötig, sie ins Leben zu rufen. Nach diesem
tischen Sätze mehr kennt, jedoch
Es existieren zwar schon viele Religionen, die wahre ist aber
Bifurkation zu beobachten: Entweder entsteht die neue Re
ligion als frei flottierende Meta-Religion, die keine dogma
bona fide
die Dimension
Schema hat Paulus das Christentum vom Judentum abge
des Religiösen »an sich« inhaltsneutral bewahren möchte -
vom römischen Kult abgehoben hat und noch später Moham
sen, die glauben, an dem, woran sie nicht glauben, sei doch etwas dran. Der Vorteil dieser Position besteht darin, daß sie
setzt, so wie später Augustinus es vom Manichäismus und
med den Islam von den beiden Vorgängermonotbeismen. In
analoger Weise gingen die Aufklärer vor, die seit dem 17.
Jahrhundert die »Religion der Vernunft« durch Ablösung von den histOrischen Religionen gründen wollten.87 Solche
so etwa verhalten sich die meisten modernen Bekenntnislo
die Spannungen zwischen Heilswissen und säkularem Wis
sen bzw. zwischen Theologie und Ethik entschärft. BereitS der romantische Protestantismus kam der Selbstauflösung
Initiativen berufen sich auf die vorangeschrittene Enthüllung
der positiven Religion in polyvalenter Gefühlskultur nahe,
messene Form gefunden werden muß. Der neue Inhalt liegt in
Religion erklärr:
einer Botschaft, die nach dem Glauben der Gründer mehr
Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und wohl
der Wahrheit - diese gibt den Inhalt vor, für den die ange
wenn etwa Schleiermacher in seiner zweiten Rede
Über die
»Nicht der hat Religion, der an eine heilige
Heilsmacht in sich trägt als die bisher bekannten Kulte.
selbst eine machen könnte.<< Oder die neue Religion greift
religiös nennen. Ihre Akteure sind in der Regel naiv, in einem
fremden Inhalt zu transportieren. Das war unter anderem
glauben, was sie glauben. Sind sie nicht naiv, wären sie es
gerne und bereuen ihre Glaubensschwäche. Die Klügeren
Sport an die Form Religion binden wollte - wir sahen, mit welchem Ergebnis.
87 Vgl. Hermann Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen
ter, so zeigt sich, wie man die Religion als bloße Vehikelfunk
Man kann diesen Typus von Religionsstiftung daher inhalts
wertneutralen Sinn des Worts. Sie meinen zu glauben, daß sie
des Judentums (zuerst 1919), Wiesbaden 1988; Mark Lilla hat die moderne Religion der Vernunft jüngst als Kult einer Totgeburt beschrieben: The Stillborn God. Religion, Politics, and the Modern
West, New York 2007.
ausschließlich die Formseite der Religion auf, um einen
bei Pierre de Coubertin der Fall gewesen, der den Inhalt
Geht man auf dem formreligiösen Weg einen Schritt wei
tion einsetzen kann, um mala fide fremde Inhalte zu realisie
ren. Das unumgängliche Beispiel hierfür bieten die neuer dings wieder viel
beachteten »politischen Theologien«,
-
Der Planet der Übenden
durch welche die Religion als psychosoziales Hilfswerk für
den Staatserfolg herangezogen wird. Wer diese Haltung durch Beispiele verdeutlichen möchte, denkt etwa an Päpste, die an der Spitze ihrer Truppen den Kirchenstaat vergrößer
ten oder an französische Kardinäle, die mit den islamischen Türken Bündnisse schlossen, um den christlichen Herrschern
Übergang
155
vierziger Jahre, die für den Autor zugleich eine Periode per
sönlicher Rückschläge markierte. Zu dieser Zeit durfte der Autor einen Markt für Lebensberatungs- und Selbsthilfe Literatur mit starken Wachstumspotentialen voraussetzen.
Auf ibm wirkten psychoanalytische, lebensphilosophische,
seelsorgerliche, unternehrnensberaterische, psychagogische,
Österreichs zu schaden. Auch ganze Völker und Nationen
religioide, diätetische und fitnesspsychologische Motive
gemeinschaften auf. Wie sich revolutionäre Bewegungen
diese Nachfragen in einem einzigen Punkt zusammenzuzie
traten in älterer wie in jüngerer Zeit im Gewand von Heils
messianisch garnieren können, wird durch die politische Em
durcheinander. Hubbarcis ingeniöser Ansatz bestand darin,
hen. Er stellte sich in die Tradition der modernen Scharlatane,
pirie des 20. Jahrhunderts bis zum Überdruß illustriert - als
auch dieses Wort im wertneutralen Sinn genommen, die mit
»AUe Möglichkeiten der Religion sind
hen - oder mit einer Lösung gegen alle Probleme. Dieser
hätten die Aktivisten die leichtfertige These Friedeich Engels'
aus dem Jahr
1844:
erschöpft« Lügen strafen wollen.88 Sobald die formreligiöse Auffassung sich radikalisiert, schreitet die Abstraktion bis zu dem Punkt voran, an dem potentiell jeder beliebige
content
ein religoides Design anzunehmen vermag, sofern der content
provider es
wünscht. Religion erscheint dann als ein rheto
risch-ritueller Modus und als lmmersionsverfahren, das je dem Projekt, sei es politisch, künstlerisch, industriell, sport lich oder therapeutisch, als Medium der Selbstverbreitung dienen kann. Es läßt sieb ohne weiteres auf alte Inhaltsreli
einem ei11z.igen Arzneimittel gegen alle Krankheiten vorge
Habitus läßt sich vom r6. bis zum 20. Jahrhundert in zahl losen Konkretisierungen verfolgen - vom Nullpunkt-Den
ken der modernen Philosophie bis zur politischen Idee der
totalen Revolution. Die Kunst der Künste besteht den großen
Scharlatanen zufolge von jeher darin, das eine Mittel, die Panazee, das All-Agens zu destillieren, egal, ob dies in phy
sischen oder moralischen Kolben geschieht. Die Destillation
erbringt in der Regel eine einfache Substanz, ein letztes Ele
ment bzw. eine einfache Handlung und eine letzte Operation.
gionen zurückühertragen.89
Wer sie hat oder kann, kann und hat alles.
Ich zeige im folgenden, wie Lafayette Ron Hubbarcis unter
und auf den aufgewühlten Lebensberatungsmarkt gebracht.
Hubbarcis Produkt wurde als mentale Panazee konzipiert
nehmerisches und literarisch-rabulistisches Genie das form
Auf den ersten Blick schien seine »Dianetik« von 1950 nicht
gung bei der Promotionskampagne für ein im Jahr 1950 lan
neues Mittel, um die beschlagenen Scheiben des Bewußt
nur wenig später, dank eines religioiden Upgrading, in die
lichen Verkaufserfolgen schon im ersten Jahr bewies, daß
religiöse Verfahrensprinzip in seiner abstraktesten Ausprä ciertes Produkt namens
fruchtbar machte, um es
Dianetik
seientelogische »Kirche« umzuwandeln. Der Ausgangspunkt
für Hubbarcis Kampagne liegt in der Kulturkrise der späten 8 8 Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Band 1, Berlin 1976, S. 544· ,
89 Wie eine Reihe von Bibel-Themenparks in den USA beweisen.
mehr zu sein als ein mit großem Aufwand angepriesenes
seins zu reinigen - immerhin ein Produkt, das mit beacht
US-Arnerikaner, fünf Jahre nach dem Abwurf der ersten
Atombomben, auf breiterer Front bereit waren, auch geistige
Vorschläge zur einfachsten Lösung von Weltproblemen auf
zugreifen. Für komplizierte Esoterik, härte man vom Autor,
sei keine Zeit mehr, man müsse die Welt von Grund auf um-
-
Der Plane1 der Übenden
wandeln, und zwar so rasch, »daß uns die Bombe nicht zu vorkommt<<.90 Surviva/ war zum Hauprwort der Lebensbe ratung geworden. Es bildet das amerikanische Gegenstück
zur frühchristlichen Metanoia angesichts knapp werdender Zeit. Vor dem Hiatergund des beginnenden nuklearen Wett rüstens zwischen den USA und der Sowjetunion eröffnet die
»Dianetik« einen alternativen Wettlauf - zwischen ihr selbst
und dem Weltsystem des Krieges, der Geisteskrankheit und
der Kriminalität. Wer wollte sich angesichts eines solchen
Szenarios nicht in das Lager derer begeben, die selbstsicher behaupteten, die Lösung der Weltprobleme zu besitzen ? Die Lösung liegt im Namen der Methode: Dianetik soll auf
die zwei griechischen Wortkomponenten nous
dia
(durch) und
(Geist) zurückgehen und die Wissenschaft von dem,
was »durch den Geist« geschieht, bezeichnen - gelegentlich
wird auch ein Wort wie dianoua als Quelle genannt, das es im
Griechischen leider nicht gibt. M a n ahnt die Pointe, der zu
folge alles durch den Geist geschieht - wobei der Sinn von »durch« bis auf weiteres offen bleibt. Noch kann man dem
System nicht ansehen, wie es den alten Gegensatz von Geist und Materie neu montiert - an der Oberfläche »wissenschaft lich«, in der Tiefenstruktur gnostisch. Ohne falsche Beschei
denheit stellt sich Hubbards neue Hyper-Methode als die »moderne Wissenschaft der geistigen Gesund11eit« vor und verspricht, die einfachste Lösung aller bisher unlösbar scheinenden Probleme zu bringen. Wie ein kaliforniseher
Avatar von Johann Gottlieb Fichte preist Hubbard seine Wis senschaft vom Wissen als das Ende der Ära bloßer Vorver suche. Während die überlieferten Lösungen selber wieder Teil
der Probleme wurden, gleich ob sie als Religionen, Philoso
pien, Therapien oder Politiken auftraten, verkündet die Dia
necik die Lösung aller Probleme in einer definitiven Klarheit. 90
Ron Hubbard, Die Wissenschaft des Überlebcns. Vorhersage menschlichen Verhaltens, Kopenhagen 1983, S. XLVIII.
L.
Übergang
Diese Lösung, so wird versichert, wird nicht mehr auf d ie
Problemseite zurückfallen - darum können nur bösartige Menschen und Geisteskranke ein Interesse an der Verhinde
rung der Dianetik haben. Man verfügt somit von jetzt an über ein neues Kriterium zur raschen Diagnose von psychopathi schen Anlagen: die Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit ge
gen die Angebote der Dianetik. Eine maßlose Polemik gegen
das, was Hubbard die konventionelle Psychiatrie nennt,
durchzieht als roter Faden sein gesamtes Werk - und das seiner Schüler. Ohne Zweifel ahnte er, was Leute vom Fach
über ihn und sein Agieren sagen würden. Er ließ sie für seine Ahnungen teuer bezahlen.91
In der Sache bietet cüe Dianetik zunächst nicht mehr als
eine simplifizierte und technifizierte Variante der psychoana lytischen Grundannahmen: Sie ersetzt die Freudsche Unter
scheidung der Systeme bzw. Feldzustände bw und ubw (be
wußc/unbewußt) gutgelaunt durch die Hubbardsche Unter
scheidung von analytischem Geist (mitsamt seiner klaren Gedächtnisbank) und reaktivem Geist (mitsamt seiner patho
logischen Gedächtnisbank). lm letztgenannten liegt die Sum me aller Probleme verborgen, während im ersten die Lösung aller Probleme gefunden wird. Bei dieser Ausgangslage er-
91
Aus Dokumenten, an deren Authentizität zu zweifeln kein Grund erkennbar ist, geht hervor, daß er im Jahr 1943, als er bei der Navy
ei11en Innendienstposten wahrnahm, unter psychotischen Zustän den in Form von schweren Depressionen mit Selbstmordtendenzen gelitten und deswegen bei einer militärärztlichen Behörde um Be handlung angesucht hatte. Durch eine Granate soll er kurz vor Kriegsende schwer verwundet worden sein; er sei da�urch vorüber gehend erblindet, habe sich jedoch selbs� geheilt. Uber seine �e konvaleszenz und über die Methoden semer Selbstbehandlung ISt nichts Genaueres in Erfahrung zu bringen, sie sollen jedoch seine Überzeugung, daß der Geisr die Materie formt, mitbegründet haben. Ein von australischen Sachverständigen verfaßtcs Gutach ten aus den sechziger Jahren bestätigt Hubbards Vorahnungen: Es bescheinigt ihm eine abnorme Persönlichkeitsstruktur mit ausge prägten paranoiden und schizophrenen Zügen.
•
q8
Der Planet der Übenden
scheim es als die natürliche Aufgabe des analytischen Geists, den reaktiven Geist zu entrümpeln, bis nur noch klare Vor
stellungen ''orhanden wären. Wer den pathologischen Spei
cher geleert hätte, würde die Alleinl1errschaft des analyti
159
Übergang
verfremdende Energie geht von einem technikgeschichtli chen Ereignis aus, in dem man den tiefsten Einschnitt seit
der DUI·chsetzung der vokalalphabetischen Schriften um
700 vor Christus erkennen muß: Die Rede ist hier von der
nen
Computerkultur. Ihre Entfaltung um die Mitte des 20. Jahr
reaktiver Geist war, soU analytischer Geist werden. Nichts
per-Unterscheidung, indem sie durch die Konstruktion von
schen Geistes erreichen und dürfte sich geklärt
(clear)
nen. Alles »Processing« geschieht unter der Maxime: Wo
hunderts erzwingt eine Revison der klassischen Geist-Kör
anderes als die Herstellung von Geklärtem ist die Aufgabe
Rechnern bzw. »Geist-Maschinen« zeigt, daß ein Gutteil der
gleich über welche Beschwerden sie klagten, auf inneren
Seinsganzen zugeschrieben hatte, in Wahrheit auf die mecha
der dianetischen Prozeduren. Durch sie werden die Klienten,
»Zeitbahnen<< zu den »Engrammen« in ihrem pathologischen Gedächtnis zurückgeführt- wobei oft die »Schlösser« (locks)
vor den pathogenen Speicherinhalten entriegelt werden müssen. Die Zurückführungen erfolgen in der mehr oder
weniger fabelhaften Annahme, durch Erinnerung
(recall)
würden die alten Engramme »gelöscht« und die von ihnen
bewirkten >>Aberrationen« behoben - eine Annahme, die zur
Zeit von Hubbards Anfängen durch die Psychoanalyse und Alfred Hiteheeck populär gemacht worden war, obschon sie
Phänomene, die man bisher der Geist-und-Seele-Seite des
nisch-materielle Seite gehören. Reflexion ist eine Eigenschaft
der Materie und kein Privileg der menschlichen Incelligenz.
Die Neuverteilung der Welt unter dem Druck der neuen
kybernetischen Mitte bestimmt seither das Drama des zeit
genössischen Denkens. In diesem Prozeß wird offenkundig,
warum die Idole stürzen. Die Philosophie der Kybernetik macht es möglich, eine allgemeine Theorie der Götterdäm9' merungen zu formuIieren. Das Phänomen Hubbard gehört unverkennbar in die Tur
es nie zu mehr als einer Scheinplausibilität zu bringen ver
bulenzen, die durch den Einbruch der Kybernetik in die Do
Ware mit diesem Resümee des Hubbardschen Ansatzes
Zeitgenosse der ersten Generation von Kybernetikern und
mochte.
mänen der metaphysischen Klassik ausgelöst wurden. Als
schon alles gesagt, so könnte man sich mit der Feststellung begnügen, die Dianetik sei ein mehr oder weniger amüsantes
als Autor von Science-Fiction-Romanen (von Kennern des
Kapitel im Epos von der Amerikanisierung der Psychoanaly
frühen Zugang zur neuen Welt der inneren Technologien. Man
se. In dem wird berichtet, wie die Parteigänger der Ich-Psy chologie sich an der Psychologie des Unbewußten schadlos
der Science-Fiction-Szene als einen Makel zu betrachten.
hielten - oder wie die gesunde Seele der esoterischen West küste den Sieg über die morbide Psyche der Ostküste davon
trug. In Wahrheit jedoch gehört die Episode Dianetik/Scien
tology in eine breitere geistesgeschichtliche Strömung, die ich
als die techno-gnostische Wende der westlichen Psychologie bezeichnen möchte. Für sie ist eine neuartige, bis in die letz
ten Elemente durchschlagende technologische Verfremdung
geistiger und seelischer Traditionsbestände bezeichnend. Die
Genres einigermaßen geschätzt) hatte er einen privilegierten
muß sich vor dem Trugschluß hüten, Hubbards »Vorleben« in
Gotthard Günther, noch immer der bedeutendste philosophi
sche Interpret des Ereignisses Computer, hat mit guten Grün
den dafür plädiert, in der Gattung des Science-Fiction-Ro
mans das Laboratorium für die Philosophie des technischen
Zeitalters zu sehen - eine These, die im Blick auf das CEuvre 92
Gotthard Günther Seele und Maschine, in: ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Erster Band, Harnburg 1976, S. 75 f. ,
!60
Der Planet der Übenden
Übergang
r61
von Autoren wie Stanistaw Lern und Isaac Asimow, um nur
Elan, der ihn zur ersten Entgrenzung der Science-Fiction ge
die Größten z u nennen, völlig legitim erscheint.
tragen hatte, vollzog er die zweite und eröffnete nach der
Alles spricht dafür, daß der Romancier Hubbard das Gen
psychotherapeutischen die religiöse Front. Die Rückmel
re nie gewechsdt, sondern nu.r ausgeweitet hat. Mit größter
dung aus dem Realen zeigte an, daß es auch diesmal »funk
Folgerichtigkeit führt ihn sein erster Sehrirr über die Grenzen
tionierte« - die Religion-Fiction materialisierte sich in kür zester Zeit und nahm die Form einer real existierenden »Kir
der Science-Fiction zur Dianetik, die ihrem kognitiven Status nach nichts anderes als Psychology-Fiction darstellt. Hierzu
che« an. Unverkennbar war hierbei ein Element von Flucht
paßt die von Nahestehenden berichtete Tatsache, daß Hub
nach vorn im Spiel, da Hubbard nach dem übergroßen Erfolg
bard das soo-Seiten-Buch Dianetik in Bayhead, New Jersey,
seines Selbsthilfe-Therapie-Buchs die Reaktion der organi
in bloß einem Monat niederschrieb - und zwar ausschließlich
sierten Ärzteschaft fürchten mußte. In dem Maß, wie die
»aus dem Kopf«, offthe top ofhis head, ohne jeden Rückhalt
Zunft seinen »magischen« Methoden jegliche Wirksamkeit
in wissenschaftlicher Forschung. Die experimentelle Basis,
absprach und ihm unverantworrlichen Umgang mit den
auf die er sich beruft, »Hunderte von Fallstudien<<, ist selber
Hoffnungen von Leidenden, darwlter vielen Unheilbaren, vorwarf, lag es nahe, in die Unbelangbarkeit der religiösen
Teil der Erfindung. Von dieser Beobachtung her fällt rück wirkend Licht auf die Systeme Freuds und C. G. Jungs. Hat
Sphäre auszuweichen. Im übrigen machte man im inneren
man das Schema der Psychology-Ficrion einmal umrißklar
Zirkel der damaligen Organisatoren nie ein Geheimnis aus der Tatsache, daß die kirchliche Carnouflierung der neuen
aufgefaßt, erkennt man seine Züge auch in den alternativen
anti-professionellen Heilungsmethode ein Weg war, die
Versionen wieder.
Steuerbehörden in die Irre zu führen.
ln unserem Kontext ist Hubbards zweiter Sehrirr beson ders informativ: Es ist die Bewegung, mit der die dianetische
Hubbard setzte bei der Ausgestaltung der Church ofScien
Psychology-Fiction zur scientologischen Religion-Fiction
tology nach 1954 die formreligiösen Strategien ein: Er umgab
den profanen Inhalt Dianetik®, später auch die Inhalte Hub
aufgestockt wird. Wer diesen Übergang beobachtet, wird
bard-Bücher, Hubbard-Reden, Hubbard-Beratungstechni
Zeuge, wie die Religion des technischen Zeitalters debü 3 tiert.9 Als Hubbard durch den Erfolg seines Buchs Dianetics.
ken usw., mit dem religionsüblichen sakraltechnischen Appa
The Modern Science ofMental Health die Rückmeldung aus
rat. Ihr Fundament ist ein Gründerkult ohne Grenzen: Die
dem Realen erhielt, daß angewandte Fiktion »funktioniert«,
Feier des Meisters als Erweckcrs der Menschheit durchzieht
sah er für seine Ambitionen grünes Licht. Mit demselben
die gesamte scientologische Mediasphäre. Sie stellt eines der dichtesten selbst-lobenden Systeme der jüngeren Geistesge
93 Daß dies kein absolutes Dcbut ist, zeigen analoge, oft geistreichere Projekte in den Avantgardebewegungen der Russischen Revolu
schichte dar - in ihm werden wie auf einer Raumstation die systemeigenen Betriebsdaten recycliert. Ergänzend trat eine
tion, insbesondere die Schriften der Immortalisten und Biokosmi sten. Vgl. Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russ land zu Beginn des 20. Jahhrunderts, herausgegeben von Boris Groys, Michael Hagemeister unter Mitarbeit von Anne von der Heiden, Frankfurt am Main 2005. Sie sind im übrigen als Beweis stücke dafür zu lesen, daß der Kommunismus seinerseits eine Form von angewandter Sociai-Science-Fiction war.
scharfe Dringlichkeitspropaganda hinzu - die strategische Version der Apokalyptik: Sie erläuterte den Klienten die un ausweichliche Wahl zwischen Scientology und Selbstmord. Damit war die totale Immersion in Hubbarcis Themenpark gewährleistet. Zusätzlich schuf die Sekte zahllose interne
I
Der Planet der Übenden
Fun.ktionsrollen, »Auditoren{<, »Registrare«, »Ethik-Offizie re{<, und jede Menge neue Wichtigkeiten in Form von Su pervisions- und Kontrollaufgaben - die phantasievollen
Übergang
Aura bei seinem Religionsartefakt bereitete ihm offensichtlich keine Sorgen. Was der neuen Kirche an Altehrwürdigkeit fehl te, machte sie wett durch die Unbekümmertheit, mit der sie
Repliken einer kirchlichen Hierarchie - sowie Seminare,
sich als den spät, aber doch rechtzeitig eroberten Gipfel det·
Business-Center, Kliniken, ja sogar Hochschulen, bei denen
Menschheitssuche nach Wahrheit präsentiert. Freimütig ge
man heterodoxe akademische Grade erwerben konnte, dar
stattet die seientelogische Theologie den Religionsgründern
unter auch den des Doktors der Theologie. Man kann nicht
der Vergangenheit, zu ihm, dem Vollender, aufzuschauen -
behaupten, für die Neu-Wichtigen und jene, die sich zu ihnen
Buddha, Lao Tzu, Jesus, Mohammed, aber auch Autoren
gesellen wollten, sei io diesem weitsichtigen Unternehmen
wie Aristoteles, Kanr, Schopenhauer, Freud, Bergsan und
nicht gesorgt worden. Für den internen Verkehr wurde eine
wer sonst in der bunten Liste der Vorläufer kandidieren darf.
Insider-Sprache eingeführt, durch deren Gebrauch der Gra
Sie alle dürfen sich darüber freuen, daß in Hubbard erreicht
ben zwischen Zugehörigen und Nicht-Zugehörigen die er
ist, wonach sie selbst mit noch untauglichen Mitteln strebten.
wünschte Tiefe erreichte. Ein System gegenseitiger Kontrol
Auch ein gewisser Dharma soll vorzeiten der Wahrheit ganz
len stabilisierte den Betrieb; die diskrete Überwachung der
nahe gewesen sein, vorgeblich ein asiatischer Mönch des Al
Mitglieder zur Früherkennung von Skepsis rundete das Pa
tertums. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt -findet man denn
ket der Kirchennachahmungsmaßnahmen ab. Originell war nicht zuletzt das Design der seientelogischen Gemeinde:
Kritik nicht standhalten? Ich bin nicht sicher, ob man Hub
Dieses sieht vor, daß mit jedem neuen Gläubigen ein neuer
nicht auch im Neuen Testament Angaben, die historischer bard unterstellen darf, er habe mit seinen weniger geglückten
Kunde gewonnen wird- man muß bis zum katholischen Ab
Auslassungen zeigen wollen, zu einer kompletten Kirche ge
laßhandel des 16. Jahrhunderts zurückgehen, um eine ähnlich enge und elegante Beziehung zwischen Heils- und Geldge
hörten auch die Zeichen ihrer Fehlbarkeit.
schäften zu beobacbten.94 Schon allein für diese Leistungen bei der nachbauenden
die Religion-Fiction hinaus auch eine Form von Politics-Fic 95 tion hat kreieren wollen, soll in diesem Rahmen unbe
Rekonstruktion des Phänomens Kirche muß man Hubbard
antwortet bleiben. Je nach Gesinnung und Stimmung wird
Die Frage, ob Hubbard über die Psycbology-Fiction und
höchste Anerkennung zollen, da er mit seinem formreligiösen
man die entsprechenden Äußerungen des Meisters - beson
Imitationsverfahren wertvolle Aufklärung über die allgemei
ders die berüchtigte Gleichsetzung von Demokraten und
nen Bedingungen von Religionsbildungen, seien sie historisch
Affen - entweder als dadaistisch oder präfaschistisch ein
gewachsen oder aktuell synthetisiert, lieferte. Der Verlust der
stufen. Durch das ganze Spektrum der scientologischen
94 Nur in einem Punkt stellt die Chztrch of Scientology einen Ana
Hubbard jemals anfaßte, unverändert und unverrückt ließ.
Themen läuft ein radikal parodistischer Zug, der nichts, was
chronismus dar: Sie wiederholt die historisch überwundenen For men der Zwangsmitgliedschaft in einem K ultkollekriv, ja, sie stei gert diese bis an den Punkt, an dem die Organisation ihre Mitglieder quasi kannibalisch konsumiert. Hingegen ist auf dem offenen Markt die »religiöse Erfahrung« selber eine Art von Event Ware oder ein konsumierbarer S pezialeffekt geworden.
Was immer er aus det· symbolischen Überlieferung auf griff, tauchte als technisch wiederholbares Phänomen wieder
95 Der Ausdruck Politics-Fictioo ist in anderem Kontext von Philippe Lacoue-Labarthe verwendet worden. Vgl. ders., Die Fiktion des Politischen. Heidegger, die Kunst und die Politik, Stuttgan 1990.
Der Planer der Übenden auf. Offenkundig eignet sich nichts so sehr wie die »Religion«,
ins Universum der technischen Bilder übersetzt zu werden, d a sie von sich her auf die Erzeugung von Spezialeffekten aus ist.
Als Rcligionsparodist hat Hubbard Überragendes gelei
stet, nicht zuletzt als Parodist des Hierarchieprinzips - man
denke an seine erheiternden »operierenden Thetane« erster bis achter Stufe -, aber auch als Parodist des mystischen Ge dankens, wonach die Seele (neuerdings
Thetan) in ihrem In nersten Gon erkenne. Für die Erkenntnis, daß man brüchige Psychen durch hochklassige Thetan-Implantate ersetzen
kann, hätte Hubbard einen Nobelpreis verdiem. Von hohem
parodistischem Wert ist auch der Umgang von Scientology
r6s
Übergang
anders sein, weil Scientology das Muster für formreligiöse Inszenierung eines fremden Inhalts bietet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im
April 2007 das Recht von Scientology, ihrer nicht immer
seriösen,
ja
zuweilen manifest kriminellen ökonomischen
Aktivitäten ungeachtet,97 als religiöse
Gemeinschaft auf
zutreten, bestätigt. Dieses Urteil verdient höchste Auf
merksamkeit, weil es ein beunruhigendes Zeugnis für die zu nehmende illitteracy unserer Rechtswesen in »religiösen«
Angelegenheiten darstellt. Dem Augenschein zum Trotz be inhaltet
es
keine Aussage über die religiöse Qualität des Un
ternehmens. Es stellt nur das unentäußerliche
Recht von
fest, sich zu einer funktionierenden Fiktion zu
mit ihren Abtrünnigen- hierbei wird die klassische Verdam
jedermann
Ex-Thetanen travestiert. Die wären noch komischer, bedeu
sation ihren Anspruc h, spirituelle, »religiöse« und
mung der Gottesleugner in systematische Belästigungen von
teten sie für die Angegriffenen nicht üblen Psychoterror. Das
Prinzip der alten missionierenden Kulte, wonach man das
Volk gewinnt, sobald man den König bekehrt hat, ergibt, in
heurige
Verhältnisse übersetzt, die Einsicht, man müsse an
erster Stelle die Celebrities umgarnen.96
Mit Hilfe dieser Techniken bat Hubbard binnen weniger
Jahrzehnte aus Zitaten ohne Grenzen ein geistesgeschichtli
ches Las Vegas geschaffen. Er bat die »Kirche« ins Zeitalter ihrer technischen Herstellbarkeie geführt. Das Unbehagen
angesichts dieses Komplexes aus bloßstellenden Imitationen
mag einer der Gründe sein, warum die Angehörigen der
•Originalreligionen• ihm lieber aus dem Weg gehen. Um so gründlicher kümmern sich die Organe des Verfassungsschut zes in Deutschland um die mehrdeutige Organisation- in den
USA war sie auch zeitweilig im Visier des FBI. Daß sie ver
dächtig erscheint, folgt aus ihrem Design, da sie lungsprinzip fast
offen
ihr Herstel nicht
vo r sich her trägt. Dies kann
bekennen. Die Richter nahmen der scientologischen Organi
humani Buchstabenwert ab. Bei Licht betrachtet bedeutet das Straßburger Urteil lediglich eine Aussage des G erichts über sich selbst, insofern es sich in stische Ziele zu verwirklichen, zum
Parodiefragen für nicht urteilsfähig erklärt. Nach einer ver wandten Logik sind die Securiry-AngesteUten an Flugplätzen
gehalten, einem Spaßvogel, der vorgibt, er habe eine Bombe im Handgepäck, den Zugang zum Abflugbereich kategorisch
zu verwehren, da den Kontrolleuren nicht zuzumuten ist,
eine Äußerung anders als wörtlich zu verstehen.
Höchstrichteruch ist somit statuiert, daß der Tatbestand
Religion in unserer Zeit durch die Behauptung eines Unter
nehmens, eine Religion zu sein, erfüllt ist. Wer Religion im
Handgepäck bat, darf zum Gate gehen. Die Überlegung, Je
sus hätte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschen rechte keine Klage
auf Zulassung als Religionsmann einrei-
97 L. Ron Hubbard selbst ist 1979 von einem französischen Gericht in Abwesenheit wegen Betrugs zu
4
Jahren Gefängnis verurteilt
worden Auch das FBI ist in den Geschäftsakten der Sekte fündig .
96
•
Vgl. Dana Goodyear, Chateau Scientology. Inside thc Church's Celebrity Center, In: Tbc New Yorker, 14. Januar 2008.
geworden. Hubbards Ehefrau wurde in den siebziger Jahren in den USA zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.
r66
Der Planet der Übenden
Übergang
chen können, weil er das Wort »Religion« nicht kannte, kam
gen inzwischen schon wenigeJahre, um pseudo-transzenden
den Richtern nicht in den Sinn. Jesus stand auch das Konzept
te Effekte zu bewirken.
der Menschenrechte nicht zur Verfügung, schon gar nicht das für die Moderneo unantastbare Recht auf freie Illusionsaus
Resümierend bleibt festzuhalten: Die indirekt aufkläreri
sche Dynamik von Hubbarcis scientologischer Leh_re, mehr
übung. Die Straßburger Richter ahnen nicht, wie nahe sie bei
aber noch die lehrreichen lmplikationen seiner Organisati
Ron Hubbard stehen: Wenn er eine Religion gründen konnte,
onskunst, hängen mit der beispiellosen Ungeniertheit seines
dann können sie auch eine zulassen. Immerhin haben die
Eklektizismus zusammen. In diesem Punkt stellt Hubbard
Richter - falls keine getarnten Scientologen unter ihnen sind
selbst den weiß Gott nicht schüchternen Rudolf Steiner in
bone fide Recht zu sprechen versucht, indessen Hubbard
den Schatten. Sein skrupelloser Trieb zur Montage trägt in
seine »Kirche« sehenden Auges über einem Abgrund von
soweit die Signatur einer Zeit, als er auf seine Weise den Über
-
Ironien gründete. Darüber hinaus arbeiten die Scientology Anwälte seit Jahrzehnten daran, das Rechtssystem ihrer gast gebenden Länder in einen Schauplatz fürJurisdiction-Fiction umzuwandeln - mit Erfolgen, die sich sehen lassen können. Ohne die Klagefreudigkeit des amerikanischen Anwalts wesens, das nach Europa übergreift, wäre Scientology gewiß schon längst vom Markt verschwunden. Ich schließe aus dem Streit um den Religionsstatus dieser psychotechnischen Übungsgruppe, er habe endgültig gezeigt, daß es Religion nicht gibt. Sieht man dem Fetisch Religion auf den Grund, erkennt man ausschließlich anthropotechnische Prozeduren (das gilt analog für den zweiten Großfetisch der Gegenwart: »Kultur«). Der Ausdruck Religion ist, hier wie anderswo, nach innen hin ein Paßwort, um die nachgiebige
ren, von Ausbeutung gefährdeten Zonen der Psyche aufzu
schließen, nach außen hin ein Badge, den man beim Einlaß in die Welt des respektablen Scheins vorzeigt. I m Kontext einer
gang von der »Wahiheit des Denkens zur Pragmatik des Han
dels«99 vollzieht. Das Hubbarcl-System versteht von dem,
was in der Tradition Geist oder Seele hieß, nur so viel, daß jetzt auch diese Größen Spielfelder von survival sein sollen. Der survival-Gedanke hat bei ihm dasJenseits durchdrungen
und sich alles untergeordnet, was je zuvor als geistiger Über schuß über das physische Leben galt. Damit bietet Sciento logy Pragmatismus von drüben für hier und umgekehrt. In eins damit liefert sie die metaphysische Rechtfertigung der Gier nach höheren Positionen im Pyramidenspiel des Lebens. Bei Spielen dieser Art zahlen stets die Neuen die Kosten für
den Aufstieg der Älteren. Daß das Böse auch unmittelbar das Gute sei, diese von Nietzsche vorbereitete gefährliche Ein sicht, gelangt bei solchen Spielen zu voller Entfaltung. In
ihnen hat die gnostische Ironie, wonach alles nur ein Spiel sei, ihre Grundlage. In Los Angeles, wo Scientology am tief sten verankert ist, übersetzt man das in die These: Alles ist nur
genetischen Kulturtheorie würde man diesen Effekt als Pseu
ein Film, der sich auf frühere Filme bezieht. Worauf es an
do-Transzendenz bezeichnen. Diese entsteht, sobald die Ur
kommt, ist, im Lager der Produzenten zu stehen.
sprünge mentaler Fabrikationen hinter einem »Schleier des Nichtwissens« verschwinden und von den Klienten wie ein altehrwürdiges Erbe rezipiert werden.98 Wie man sieht, genü98
Über die RoUe von Pseudo-Transzendenz im modernen Kunstsystem vgl. Heiner Mühlmann, Countdown. 3 Generationen, Wien
1008.
Führt man diese »Religion« auf ihre Essentials zurück, zeigen sich drei nicht weiter reduzierbare Komplexe, von denen jeder einen klaren Bezug zur Dimension Anthropo99 Vgl.
Gotthard Gümher, Die amerikanische Apokalypse. Aus dem
Nachlaß herausgegeben und eingeleitet von Kurt Klagenfurr, München, Wien 2ooo, S. 277.
•
168
Der Planet der Übenden
technik aufweist. Zuerst, nach der dogmatischen Seite: ein
straff organisierter lUusionsübungsverein, dessen Mitglieder
Übergang
zu sein, das Tier, dessen Zahl 666 ist. Ob Crowleys Spiele mit
okkulten Traditionen nicht auch als eine verwilderte Version
im Lauf der Zeit immer tiefer mit den Konzepten des Milieus
der Rehabilitation der Matiere verstanden werden könnten,
Seite: eine Trainingsanleitung zur Ausbeurung aller Chancen
Schwarzer Magie und Historischem Materialismus liegt eini
letzt der Spitze der Bewegung zu, so sieht man alles, nur
Von diesem infernalischen Quartett war das jüngste Mit
imprägniert werden. Sodann, nach der psychotechnischen
im transzendenten Überlebenskampf. Wendet man sich zu
keinen »Religionsgründer«: Vor uns steht ein zu allem ent
möchte ich hier nicht untersuchen - die Analogie zwischen germaßen offen zutage.
glied sicher das erfolgreichste. Nach einer Aussage von Hub
ness-Trainer, der seinem Nachwuchs vormacht, mit welchen
bards ältestem Sohn, Ron Hubbard jr., war sein Vater schon früh von Crowley fasziniert. Durch einen von dessen Schü
Das schließt im übrigen nicht aus, daß die Sache gelegentlich
nian Institute of Technology, war er mit dem berüchtigten
nicht ganz unintelligente Leute zeitweilig ein Zuhause
schwarzmagische Denkweisen eingeweiht worden.100 Hier
schlossener, radikal ironischer, allseitig beweglicher Busi Techniken man im Dschungelkampf der Egoismen überlebt.
auch einen Charme hat. In ihr können soga r gutwillige und
lern, dem Raketenwissenschaftler Jack Parsens vom Califor
Ordo Templi Orientalis
in Berührung gebracht und in
finden, solange sie fest entschlossen sind, ihre Zweifel ein
soll er gelernt haben, daß der Wille alles ist und alles darf.
Unglaubens«, um nochmals Coleridge zu zitieren, ist stets
mit, die sein System trugen: Jeder kann siegen, keiner muß
zuklammern - die >>willentliche Außerkraftsetzung des
der intimste Beitrag der Gläubigen zum Überleben suspekter Konstrukte. Aus systemischer Sicht belegt das die Regel, wo
nach ein perverses Ganzes sieb die relative Integrität der Teile
zu eigen machen kann, ohne sie ganz zu korrumpieren. Ohne diesen Effekt ist freilich die gesamte Religionsgeschichte der
Menschheit nicht vorstellbar. Um mit einem Argument ad personam zu enden, möchte ich bemerken, daß es in der jüngeren Geistesgeschichte nur drei
Aus dieser Schule brachte er die geheimste der Erleuchtungen
sterben. Wer Gott sein will, kann es in wenigen Sitzungen werden. Hubbard wußte aus erster Hand, daß in diesen Sät
zen die Stimme des Tiers aus der Tiefe spricht - in freier
Übersetzung: die Rache der Materie für dreitausend Jahre Verkennung und Verübelung. Nach dem Tod Crowleys
1947 soll Hubbard geglaubt haben, dessen Platz sei vakant
und warte auf einen würdigen Nachfolger.
Ron Hubbard jr., ein kenntnisreicher, wenn auch nicht
untendenziöser Zeuge, behauptet ferner, sein Vater, mit dem
Figuren gibt, denen Hubbard in typologischer Perspektive
er während der Gründungsjahre der »Kirche« in allem zu
Pionier der PhiJosophy-Fiction, die der Freisetzung eines
ren an ein psychisches und körperliches Wrack gewesen, ein
Wunderheiler und Bohemien-Mönch Rasputin, dessen Maxi
und Medikamentensucht. Darum verbarg er sich vor seinem
zur Seite gestellt werden kann: dem Marquis de Sade, dem
sammengearbeitet hatte, sei von den mittleren sechziger Jah
sexualisierten Machtwillens das Wort redete; dem russischen
Opfer der eigenen Fiktionen und eine Ruine seiner Drogen
me lautete: »die Kraft ist die Wahrheit«, und dem britischen
Gefolge auf einer Luxusyacht und steuerte seinen Konzern
experimenten und Drogenexzessen zubrachte und für sich
100
Okkultisten Aleister Crowley, der sein Leben mit Bosheits reklamierte, Satan, der Antichrist, die Bestie der Apokalypse
Vgl. John Carter, Raumfahrt, Sex und Rituale. Die okkulte Welt des Jack Parsons, Albcrsdorf 2003 •
Der Planet der Übenden
viele Jahre lang von hoher See aus. Wahrend seiner !erzten Lebensjahre sei er in der von ihm selbst gebauten Falle ge sessen, verloren wie ein Gefangener in einer explodierenden Feuerwerksfabrik, von Hypochondrie geplagt, von choleri schen Anfällen überwältigt, erfüllt von Vernichtungswün schen gegen ,.unterdrückerische Personen•, die es wagten, sein Werk zu kritisieren. Er habe sich nie mehr in der Öffent lichkeit gezeigt, um seinen Anhängern nicht vor Augen
zu
führen, bis wohin man es mit seinen Methoden bringen kann.
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
Für eine akrobatische Ethik
1 73
PROGRAMM
»
. . durch den brennenden Reifen der Welt springen<< .
lngeborg ßa.chmann
Nach der teils erzählenden, teils analytischen Annäherung an den >>Planet der Übenden« dürfte das Terrain der folgen den Untersuchungen im groben U mriß ausreichend gesich tet sein. Es ist nun an der Zeit, das asketalogische Feld ge nauer zu vermessen. Das setzt voraus, zu den Schimären der »philosophischen Anthropologie« auf Distanz zu gehen gleich, ob diese mit Scheler »die Stellung des Menschen im Kosmos« erklären möchte oder sich, auf den Spuren von Blumenberg, vornimmt, den Menschen als das Tier, das sich gesehen sieht, ins rechte Licht rücken. leb sage nicht, daß
j emand,
der Schimären sieht, gar nichts gesehen hätte. Aber
er erkennt nur, was seine Methode wahrzunehmen erlaubt
die Fachinteressen in vermenschlichter Gestalt: den Philo sophieprofessor selbst, der sich als Muster der gesamten Evo lution von der Savanne ins Seminar schwingt. Und wenn Scbeler sagt, der Mensch sei der Catilina der Natur, der ewige Unruhestifter, rerum novarttm cupidus, so bringt ein solcher Blick sogar politisch und kriminologisch Farbe in die Ange legenheit, man erwanet unmittelbar den Auftritt Ciceros, der den ewigen Menschen fragen wird, wie lange er noch unsere Geduld mißbrauchen will. Eine materielle Anthropologie auf der Höhe des gegenwär tig Wißbaren kann nur in Form einer allgemeinen Anthropo technologie entwickelt werden. Diese beschreibt den Men schen als das Wesen, das im Gehege der Disziplinen lebt, der unfreiwilligen wie der freiwilligen 1 1
-
auch Anarchismen und
Einen vorläufigen Hinweis auf das Gehege der Schriftkultur und seine Sprengung durch postliterarische Techniken habe ich im Jahr 1997 mü der Metapher "Mcnschenpark« gegeben.
f74
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
chronische Disziplinlosigkeiten siJJd aus dieser Sicht nichts
Programm
175
ken auf den Denkenden, die Gefühle auf den Fühlenden zu
anderes als DiszipJjnen iJl alternativen Gehegen. Das Wort
rückwirken. Alle diese Arten des Rückwirkens haben, be
ren wie Amold Gehlen (mit seinem Beharren auf der Notwen
obschon sie, wie gesagt, zum größten Teil den nicht-dekla
zelnen an die »Institutionen«), Jacques Lacan (mit seiner Par
Trainingsroutinen zuzurechnen sind. Es sind erst die aus
Anthropotechnik verweist auf ein Universum, über das Auto
digkeit der Bindungen des von Verwilderung bedrohten Ein teinahme für die vaterrechtlich verstandene »symbolische
Ordnung«) und Pierre Bourdieu (mit seiner Aufmerksamkeit
haupte ich, asketischen, das heißt übungshaften Charakter
rierten und unbemerkten Askesen bzw. den okkultierten drücklich übenden Menschen, die den asketischen Zirkel der Existenz explizit in die Sichtbarkeit heben. Sie schaffen
für die Grundlegung des klassenspezifischen Verhaltens im
die selbstbezüglichen Verhältnisse, die den Einzelnen auf die
von Wittgenstein inspirierte Ethno-Linguisten, strukturalisti
haben für uns in anthropologischen Fragen Autorität, gleich,
haben seit längerem einen Fuß auf das Terrain gesetzt.
Rhetoren, Zirkuskünstler, Rhapsoden, Gelehrte, Instrumen
»Habitus«) bereits wichtige Teilansichten formulierten. Auch
sche Ritualforscher und foucaulrianische Diskurs-Historiker Von diesen Autoren nicht lernen zu wollen wäre unklug.
Wer aber mit Nietzsche begonnen hat, sich von der Ausdeh nung einer der »breitesten und längsten Thatsachen, die es
giebt«, einen Begriff zu machen, kommt nicht umhin, das
gesamte menschliche Feld im Licht der Allgemeinen Asketo logie zu re-examinieren. Deren Gegenstand, das implizite und explizite Übungsverhalten der Menschen, bildet den
Kern sämtlicher historisch manifesten Anthropotechniken und ob die Genetik jemals mehr als eine externe Modifikation
dieses an Mächtigkeit seit langem praktisch konstanten Felds
beisteuern wird, ist auf unabsehbare Zeit fraglich. Wenn ich
für die Ausweitung der Übungszone plädiere, so geschieht
das angesichts der überwältigenden Evidenz, wonach Men schen - diesseits und jenseits von »Arbeit und Interaktion«,
diesseits und jenseits von »tätigem und betrachtendem Le
ben« - auf sich selber einwirken, an sich selber arbeiten, an sich selber Exempel statuieren.
Ich werde im folgenden die autoplastische Verfaßtheit der
wesentlichen Humantatsachen zeigen. Mensch sein heißt in einem operativ gekrümmten Raum existieren, in dem die Ak tionen auf den Akteur, die Arbeiten auf den Arbeiter, die Kommunikationen auf den Kommunizierenden, die Gedan-
Mitwirkung an seiner Subjektivierung verpflichten. Sie alle ob sie Bauern, Arbeiter, Krieger, Schreiber, Yogi, Athleten,
talvirtuosen oder Modelle sind.
177
1 Höhenpsychologie
Über dich hinaus sollst du bauen. Aber erst mußt du I
HöHENPSYCHOLOGIE
DIE H I NAUFPFLANZUNGSLEHRE UND DER SINN VON »ÜBER«
mir selber gebaut sein, rechtwinklig an Leib und Seele. Nicht nur fort sol1st du dich pflanzen, sondern hin auf! Dazu helfe dir der Garten der Ehe. Einen höheren Leib sollst du schaffen, eine erste Be wegung, ein aus sich rollendes Rad, - einen Schaffenden sollst du schaffen.
Die Ehe, evolutionär gedacht Es dürfte niemanden, der bereit war, meine Überlegungen bis hierher zu begleiten, verwundern, wenn ich das erste Stich wort für die Ausarbeitung einer übungsanthropologischen Sicht auf den Komplex der HumantatSachen erneut bei
Nietzsche finde, dem Wiederentdecker des asketischen Fel des in seiner ganzen Breite und Schichtung.2 In dem Gesang Von Kind und Ehe aus dem ersten Teil von Also sprach Zara thustra, 188 3, versucht sich der neue Prophet in der Rolle des Lebensberaters für höhere Menschen:
»Ich habe eine Frage für dich allein, mein Bruder: wie ein Senkblei werfe ich die Frage in deine Seele, dass ich wisse, wie tief sie sei. Du bist jung und wünschest dir Kind und Ehe. Aber ich frage dich: bist du ein Mensch, der ein Kind sich wünschen d a r f ? Bist d u der Siegreiche, der Selbstbezwinger, der Ge bieter der Sinne, der Herr deiner Tugenden? Also frage ich dich. Oder redet aus deinem Wunsch das Thier und die Notdurft? Oder Vereinsamung? Oder Unfriede mit dir? Ich will, dass dein Sieg und deine Freiheit sich nach einem Kinde sehne. Lebendige Denkmale soUst du bauen deinem Siege und deiner Befreiung. 1.
-
Siehe oben den Abschnitt: Ferner Blick auf den asketischen Stern, s. p-68.
Ehe: so heisse ich den Willen zu zweien, das Eine zu schaffen, das mehr ist als die, die es schufen. . . . « Wie immer bei der Lektüre des Zarathustra darf man sich auch hier von dem evangelischen Ton nicht in die Irre führen lassen. Wir haben es in der Sache nicht mit neu-religiösen In struktionen zu tun, vielmehr mit neu-asketischen Trainer anweisungen. Sie betreffen im gegebenen Fall nicht eine gym
nastische oder athletische Leibesübung, vielmehr beziehen sie
sich auf die sexuelle Diät, genauer die innere Haltung, die er reicht sein sollte, bevor die naLürlichen Folgen menschlichen
�
Fortpflanzungsbandeins zu bejahen wären. as Ni tzsch�s � _ prophetisches Double vorbringt, ist ntcht went�er als eme _ tik der linearen Generationenfolge. Demnach smd Kmder, dte
�
ihren Eltern im status quo ähneln, überflüssig, genauer: über flüssige Repliken überflüssiger Originale. Von dem Grund ihrer Überflüssigkeit wird man gleich Näheres hören. Aus der Sicht des neuen Prokrcationstrainers hat jede Ehe als Mesalliance zu gelten, in der sich bloß die Naturautomatik oder die Sozialmechanik des Kindenvunschs durchsetzt. Da der Mann, wie Nietzsche zu wissen meinte, für das »echte
?
Weib« bislang nur das Mittel zum Kind war, muß dem wo l dressierten Frauenversteher, diesem düpierten Erfüller wetb licher Wünsche, künftig ein Ratgeber zur Seite treten, der ihn zur Ausschau nach anderen Frauen ermuntert: nach Eben
�es Weibes«
bürtigen, die den Gatten nicht zur »Magd e
zur machen wollen, sondern mit ihm eine Gememschaft . · Verfolgung noblerer Ziele bild�n Daß das pr�äre z_1cl der : besseren Ehegemeinschaften emtge Verse spater mtt dem
1
nach mals pol irisch und m;as cnkulrurdl bcbstcrt·n Ausdruck • Übernumsehe bac1chnet wird ('\ :1hcr K :t ufmann, dc..- In
1 79
Höhl'npsychologit'
\\i'as heißt:
HitJauf? Fiir eine Kn'rik der Vertikalen
terpret dc amerikanischen Zanthu!>trJ, ubcrscrz.t "Über
mensch unerschrocken mit rupcrman). oll uns nichr beun ·
ruhigen. Es wäre nicht dls erste Wort aus dem Lexikon des
Die zitierte Pa.�sagc bringt Nica.sches Spezialität, die Auf
merksam kei t für Fragen der Venikalitiit in den menschlichen
philosophischen J ugendstils, das nach ei ner y terni chea und
Wert-, Rang- und Leisrungsverhältnissen, auf effektvolle
wi nnt - miln denke an vc::rwdktc Artikel wic den elan vital,
der Allgerneinen A skerologic sch:irfer formulieren : Was hcjßt
sporti ven Übersetzung abeptlble Bedeutungen zurückge
Weise ins Spiel. Von ihr ausgehend lassen sich die Leitfragen
das Fluidum, die Sinngebung des innlo.cn, die schöpferische
und zu welchem Ende treibt man das Geschäft des übenden
Pause usw., die heute unter neuen Firmen childcm z.u einem zweiten, driuen, n-tcn Leben erwachen.> Es geht mir hier nicht darum, das VerhäiLnis \'On Genetik� Pädagogik, Diätetik und Artisti k in Nicu.scbc
Forderung
nach • HinaufpOanz.ungc zu untersuchen. Ich begnüge mich
Lebens? ln welc hem SinJl kann hierbei zwischen Horizoma litär und Vertikalität umcrschieden werden, ob es sich nun um die aufs teigende Linie von den Eltern zu den Kindem im
besonderen handdn soll oder um dje Gradarien zwischen den Ebenen des übenden Lebens im allgem ei nen? Woher bezieht
mit dem Hinweis, d:tß der biologisC'hc P:trt in die em Projekt
Nietzsche seine Übert.cugung, im Bewegungsindex •Fort«
neben den drei anderen Momenten pnktisch \JCmachlässigt
liege ein geringerer Wen als in • H i nauf«? Aus welchen Quel
werden kann. Es gibt bei Niet:..: ehe - trotz okkasioneller
len gewinnt er sein Wissen darüber, was in solchen Angele
Reden von ,.züchtung• - keine •Eugenik•. jedenfall s nicht
genheiten Oben und Unten bedeuten? Wie und wodurch
mehr, als in der Empfehlung einer Partnerwahl bei guter Be
kann überhau pt auf diesem Feld eine Leistung, eine Lebens
übrige fällt auf die Seite ''On Dressur, Disziplin. Erziehung
summen die Kriterien für •Über---Urteile? Sind sie den Ver
leuchtung und intakter Selbstachtung enth;llu.:n i t. Alles und Sel bstentwurf - der •Ü bermensch.. impliz.icn kein bio
logisches, sondern ein :trti ti schc
•
um ni c hr zu
agcn : ein
akrobatisches Programm. Was in den zitierten Ehe- E mpfeh
form, eine Seinswei se iibcr einer anderen stehen? Woher
häJmjssen immanent oder werden sie von außen herangetra gen? Warum ist für Nietzsche. das Weitermachen in der Ebene
n icht mehr der höchste Wert - wie für das Gros gestandener
lungen zu denken gibt, ist allei n der Un terschied zwisc hen
Traditionsmenschen ;lller Zeiten und Völker -, und welchc
ti k der bloßen Wiederholung einher - offensichtlich soll es
des Spiels der Repl ik:t t ionen sei nur dan n bejahbar und
Fortpflanzung und Hinaufpfl:tM.ung. Sie gehen mit einer Kri
künftig nicht mehr genügen, wenn Eltern, wie man so agt , in ihren Kindern •wiederkehren•. Es mag ein Recht auf Unvoll kommenheit geben, ein Recht auf Tnv1alitlit be teht n i cht
.
3 Vermudich um solchen scm;mtischcn Alttuten ;lUS dem Wl"&
gehen,
2.u
pr.isc:ntic:n Gre&ory Stock. einer der Promotoren der Hu mln-Gentcchnik in den USA, sein Projt-kt Untt'r dem Titel Meum;ln. Thc Mcrging of Humans and M�chinrs inro l Global
Supc:rorg"lnism, Ncw Yok 1993·
Morivc bestimmen
eine Über.tcugung, eine Foruetzung
nicht t riv ial, wenn sie eine Steigerung mir sich bringt? -
Diese Fragen machen klar: Ohne ei ne »Kritik der Vertika
len• kommen wir in diesen Überl egu ngen zum Wesen der Übungsrichtungen nicht weiter. Denn bei der pädagogischen,
der athletischen, der akrob:ttischen, der künstlerischen, letzt lich also bei jeder srrnbolischcn oder •kulrurcll .. vermittelten lntcrprct.·uion der Wörter •Oben• und ·Über• wird offen sichtlich ein ?.weiH·r Raum-Sinn angesprochen, der die pri-
1 Höh�npsychologic
I 0
m;arc:n Oricnticrungc:n im phrstschcn <>der gcognphi chc:n Raum ü�rbgcrt. Diese beiden R;aum- i n nc sind eYolut:ionär glei cha h.rig
- ja., es ist
nicht .lU)�uschließc:n. daß dem hier so
genannten zweiten Sinn, 7UMindbt in c:nrwick:Jungspsycho logischer
icht. der Vornng vor dem ersten gcbühn. Der
Grund hierfür i t nicht e otcri eh: jede
lnf-ans ertihrt im
Verhilmi �u seiner Murrer ein pri-s)'mboli ches und über riumlichc:s Oben, �u dem c:
ufbl ickl ehe
.1
.
es
lau fen lemt.
Auch Väter �nd Großeltern sind •dot oben-. und 2war l ange bevor das Kind beginnt, im Spiel Turme aus E.Jcmcmen :auf zusteiJen und irgendeinen rein al$ obersten auf die übrigen
zu 1<.-gcn. Dann bnn es seine Bauwerke umwerfen und die Erfahrung rn•chcn: Den clb tgcmachtcn KooStl\lktcn bleibt
man überlegen. Es genügt zu beobachten, wie das obere Klöt2chen nach dem Um tur7. wieder d01 l iege wo es herkam. .
Das stiftet tinc Erfahrung primitiver ouver.initit. die bis in
die Kritikspiele der Erwachsenen fongcbildcr wird - jede:
D�kon truktion ist ein lürmchcn- picl mit den Klassikern.
H � ngegcn kann das Kind die cingclcbtc poL1ri ehe Siru�ttion
These •Der König ist tot ... Während der erste Satz bei Niea sche den Zusatz •Gott bleibt tot• erhalten muß- das ist das Neue an der BoLSchaft des Tollen Menschen, ob man sie nun aJs schlechte Nachricht hört oder als Evangelium begrüßr , -
folgt auf den zweiten, dem alren Ritualgesetz :z;ufolge, die ProkJamation: ·Es lebe der König!• Auch Nierzsche ordnet
sich d.icsem Geserz unrcr, nicht ohne es auf eine abstraktere Stufe zu heben. Zwar haben die em piris c hen Köojge aufge hört, eindrucksvoll zu sein, und stehen nur noch im Sinne des
Protokolls und des Boulevards ..oben•, die Königsfunktion
aJs solche jedoch, als Attr.lktionspol des reinen Oben, Über und Hjnauf verstanden, bleibt ihrer Zerrürrung im Realen
ungeachtet bei vielen Individuen imaginär intakt und verlangt
nach einer neucn lmcrpret.1rion. Oie Erscrzung der Könige durch Präsidenten und Prominente bietet für die bezeichnete Aufgabe keine Lösung. Sie regelt das Problem an der Ober
fläche, ohne auch nur die Nonvendigkeit zu bemerken das Prä der Präsirlenz und das Pro der Promi nenz neu zu defi ,
ntcren.
mtt den Ehern eh oben und sich sclb t da umen nicht in
dersdben Weise umstoßen. Es bleibt :10f der Erlcbcnsebcne,. psychoti ehe Deregulicrungen ausgenommen. in eine sr:lbi.le Venikalspannu ng einbezogen, womöglich bis in ein AJter, in
�
dem es p ysisch seinen Erzeugern längst übl·r den Kopf ge
wachsen ISt. Aus dem »Aufblick• der Kinder zu den Eltern und den Erwachsenen im allgemeinen, d:�runtcr besonders z.u den Kulturheroen und Wissc:nsvermittlcm, e nrw ickc.lt sieb ei
�
psychoseman�i ches Koordinaten ystcm mit einer ausge
. pragten Vcntkaldtmenston. Fast könnte mw sagen, die Welt .
der frühen Psyche sei monarchisch. .
NietZSche scczr in seinem Zarath1mrtt den Untergang des
Vlertausc:ndjährigcn Reichs der Monarchien als Tatsache vor
aus. Die psyc hopolit:ische Lage. in der er sich als Fonpflan ?.ungsberatcr nützlich machen will, ist also nicht allein durch
den Sacz
•
Gott i.st tot• geprägt. ondcm ebenso du rch die
Artistenzeir Allein im Rahmen einer umfassenden Reform des Vertikal systems unter sämtlic he n psychoscmantischen und kulturdy namischen Aspekten kann die zaraLhusrrische Kritik der pro fanen Fonpflanzung angemessen gewürdigt werden. Mit •Gott" ist auch ein Vasall, d<·r bisherige Mensch, gestorben, und wer einen Nachfolger proklamieren soll, hat zur Kennt nis zu nehmen, daß der Mensch, der herkömmliche Reprä
sentant der von Gonesvorstellungen gestcuenen symbolic rpecies,� •tot bleibt«. Wi ll man das Ritualgesen befolgen 4 Vgl. Tcrrcnce W. Dcacon. Thc ymbolic Spccics. Thc Co-Evolution
of L:tnguagc a.nd thc Bl':lin, Ne\v
York und London 1998.
I
J)t(' f sobcrung da
Unl'�rschcinlichcn
und umer den ncuco Bahngungen einen lebenden König prokJ:lmi�cn, lütte m:an sich n�ch einem ICtndid:uen umzu sehen., der weder König noch Mensch im herkömmlichen
r Höhenp.sych!llogre ihr Bezwinger zwischen dem Abgrund rechts und dem Ab grund links dahingeht wie der Allragsmensch von der Haus tür in die gute Stube. So mag der ominöse Übermensch im
inn ist. Hierfür kommt nur ein \X.fe5�n in Frage, das aufgrund
übrigen beschaffen sein, wie er will, er bringt MerkmaJe mit,
ein Ge
Seiltänzer von den Zuschauern unterschied. Im übrigen hat
besonderer Merkmale Jus dem Hori�ont des gewöhnl ichen
Mcnsehscins herausfalh
-
hopf, in hinreichendem
Maß unmenschlich oder nJch·mcn�chlich. um den Ansprü chen der biurren Thronfolge 7.u genugen.
:1ch allem. was wir über menschliche Lebensformen im :Ulge.mcinen und ieruchcs Ansichten von ihnen 1m besonderen wissen,
über
ist für diese Rolle nur eine Figur 2us dem P:tndiimonium des
Menschlichen in Betracht zu ziehen: der Anist oder, gen:1uer, der Akrobat. Mit ihm hat vor langer Zeit die Unterw:Ulde ruog des Menschlichen durch d:as radik�l Künstliche einge sent
-
könnre er die Figur ein, für die nun große Zeiten
anbrechen? Wir erinnern uns: Zarathustr:as c�tc Eroberung auf seinem Weg von der Hohe in die t'ädtc war ein :1bgc tünrer Seiltän
zer, der von ich elber s:1gte, er ei zu Leb2Citcn nicht viel hligc und Fuucr dressiertes
mehr gewesen :lls ein durch
1ier. Akzeptiert man von ihm einen ersten l linwcis :tuf mög liche Bedeutungen dt:s Rciz.worrs •Ub�:rmcn eh�, so ergihr
sich das Bild eines Lebewe cns das ständigen Dressuren un ,
terworfen ist und Anpassungcn ;an das Unw�hrscheinliche am eigenen Leib vollzieht: Ein solcher •Übermensch• steht zum einen, wegen der physischen Dimension seiner Kuru� näher an der Animalität als der gebildete Bürger, zum ande ren, wegen der Enthebung aus der alh�glichcn Sphäre durch die tägl iche Berufsgcfahr, näher an einer :tußermcnschlichen
Dimension. Wer auf dem Hochseil baJancicn, lebt davon, daß
er den Zuschauern einen Grund liefert, nach oben zu schau en. Niemand würde hinaufsehen, gibe es dort nicht effektive
die ihn von den Alrmcn chen so unterscheiden. wie sich der schon Thomas Mann in dem Pariser Zirkus-Kapitel seiner
Bekennwisse des Hodmaplers Felix Krull durch
den Mund
des Protagonisten die Zugehörigkeit der Artisten zum ge wöhnlichen Men chengcschlecht vehement geleugnet. Von
der Trapezkünstlerin Andromachc, der •Tochter der Luft", wird don gesagt. sie sei weder eine Frau im landläufigen Sinn des Wons noch überhaupt ein menschJiches Wesen. Ihrer wahren Natur nach sei sie ein ... ernster Engel der Tollkühn
heit . Ähnlich Jcan Gcnet: •Wer, wenn er nonnal und bei ..
Verstand ist, geht schon auf einem Seil oder drückt sieb in Versen aus? Mann oder Frau? Auf alle Fälle Ungeheuer.•5 Das "Über• in
•
Übermensch• deutet zunächst allein auf
die Höhe, in der sein Seil über den Köpfen von Zuschauern gespannt wird. Ich denke. man tritt Nictzsche nicht zu nahe mit der Feststellung, daß sich unter der romamiseben Maske seines mcistzitienen Gedankens fürs erste nichtS anderes aJs eine Prominenz-Phanta ie verbirgt - ofcrn man unter Pronu ncnz die Kategorie der sehenswürdigen Menschen versteht sehenswürdig unter Kriterien, überdie z.u reden bleibt. Ob die Hervor-Steher und Hcraus-Rager (laceinisch: prominere, her vorstehen,
emincre, herausragen) über
Hochseile, Laufstege
oder rote Teppiche gehen, ist nur eine technische DiHerenz. Worauf es ankommt:, isc die Position des Monstrums (von lateinisch monere, ein Mahnzeichen aufrichten), bei dem das in strengen Trainings gesteigerte Können und dessen Expo sitjon in totaler Sichtbarkeit zu einem einzigen Komplex
Artraktorcn: die Gefahr, in welcher der Anist fort\\'iihrcnd schwebt, die verkörperte Bravour, die ihn bei jedem Schritt rettet, und die Überwindung der Unmöglichkeit, durch die
•
5
Jun Genet, Briefe an Roger Blin. Ocr s. n
Seiltänzer,
Harnburg
1967.
I Otc lr
1
Höhenpsychologie
z.us�mmenge�ogensind. Ind1esem ann lac-fert die Prominenz.
Naturakrobauk auf dem Mount lmprobable
ruch der Artastik und mu dieser im Bündnis, den zweiren lmpub zur
u bvc�ion dc
Menschenweens durch eio
ic u:·ehe )tdlt Jurch seine
Dieser Einwand gegen die artistisch-akrobatische Lesart des
lichkeit sicher, neue Seile uber den Köpfen zu sp:annen. zu
wegen nicht, weil die Dimension des Artistischen sich der
nicht-menschliches Pnn:-ip.
hysteroide Übc:rmen�ch-Prop;ag;and;a leudich nur die Mög
Begriffs •Übermensch• ist nicht stichhaltig, und zwar des
denen hinaub.uschaucn sich lohnt. O:a.s •Ulx-r• bezeichnet
verbrauchten Trennung von Narur und Kulrur nicht fügt.
der Artist, der den Blick dorthan ueht,
er Jgiert. Für ihn
als eine Lehre von der Anistik der Natur betrachtet wird.
An dieser teile wird der Einwand f:il li �, der Anist Nierz
in einen Zirkus. in dem die Arten durch unablässige Wieder
Biologi t og':lr der ehlimmcren orte, bei dem man die f":lWe
Selektion, Vererbung, sich zu den unglaublichsten Darbietun
hier die Dimension Au(blick. Der Mensch des ·Über• ist heißt Dasein - da oben sein.
WO
schc sei doch in erster Linie cin Evolutioni�t gewesen, ein Geste seines j :thrhundcns
-
den Verrat ln der Welt des Gei
Die Evolutionsbiologie macht ihrerseits nur Sinn, wenn sie
Unter der Oprik Oarwins verwandelt sich die Natur selbst holung der einfachsten Prozeduren, bekannt als Variation,
gen emporschrauben, und dies in der Regel ko-evolucionär,
risch beob:achten lunn. W:as :tnders sol lte es hei ßen, deo
ko-opportunistisch, in an-übergreifenden Ensembles - man denke allein an die 900 Arten von Feigen, die es weltweit gibt:
te Nietze he nicht wirklich eine gef:ihrlichc Konversion voll
cies von Feigcnfliegcn, die in den Früchten leben und ohne
nicht von Schopenhauer, dem let2.tcn Denker der Emagung,
Nietzschc erwähnt unter den artistischen Erfindungen der
sterdenkers der Affirmation durch AnpllSSung? H:1t er die
gleichkommen, diesem Meistcrsdick vormenschlicher Evolu
stes im N:amen eines N:uur:tlismus ohne Grenzen - C.-<empla •Menschen in die N:uur 1.un.ick ubcrsctzcn• �u wollen? Hat
zogen, die ihn seinen 1\nf:ingen entfremdete? Hat er sich
abgewendet, um ins Lager O;trwin übcr:wgchcn, des Mei
Voo diesen bcsirzt jede einzdnc eine nur zu ihr gehörige Spe welche keine der Feigenarten sich fortpflanzen könnte.6 Kultur solche, die dem Naturkunstwerk »Weibes Busen«
1dee des Lebenserfolgs durch Anpassung nicht sogu zu der
tionsanistik d:t zugleich ,.nützlich und angenehm« sei7 Was
v rangctricbcn - wobei diese U mkehrung der Anpassungs � nehru ng ganz auf der Linie eines biologisch fundierten, meta
theorie betrachtet nichts anderes als ein uncrmeßlich formen
noch gefährlicheren Doktrin des Erfolg dur\:h Eroberung
biologisch übe.rböhtcn M:tchtbegriffs bg? Wenn Niet:ZSche
,
man Leben nennt, ist durch das Opernglas der Evolutions reiches Variere, in dem jede Kunstspartc, das heiße jede Spe
cies, das Kunststück der Kunststücke z.u vollbringen versucht,
den .Propheten in seiner ersten Anspr:tchc an d:as Stadrvolk S3gen
das Überleben heißt. Es gibt keine Spccics, die nich t auf ihre
Übermensc h - ein Seil über einem Abgrunde . . . ... . hört man dann nicht, neben manchem anderen. vor allem die Stimme
weit über 90% der zahllosen je entstandenen Arten seien aus
im bereits zitierten Prolog von
Also rpracb Zarathustra
läßt: •Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen ·ner und
des Biologen, der dar:tuf insi Lien, hinsichtlich ''On homo sapem i sei das letzte Won der Evolution noch nicht gespro, chen ?
Weise, dem Seiltänzer Nicrzschcs analog, die Gefahr zu ihrem
Beruf gemacht härte. Wenn man von Naturhistorikern hört,
gestorben (beispielsweise allein in den Ietzren Jahrhunderten 6 Siehe Dc:tcon, Thc Symbolic Specics, a.a.O S. }lS->P· 7 F. N Also spr:�ch Zar:�thuslr:t 111. Von ahcn und ncucn Tafeln, S. 1 1 . .•
.•
1 Höhenpsyc;hologu:
r86 I
so
der bcbnnten 98oo Vogel:ancn), so mmmt dt!r Begriff
•Berufsruiko,. c:aoe m ht·tra\'lalt' Bedeutung :tn. lm Blick hit!uuf wtrd die Biologie 7.ur ht torisehen Th;uuuologie. pricht man hingc:gcn von .aktudlen Lc:bcns:formen, muß nun,
ger1de .als N atunli 1, ihre Erfol� gec hichtcn en.ihlen
können und die Prin�ipicn ih�r Durchseuung bdeuch� und dabei sagen, wie: es ihnen �cbna;, bi, heute .tuf der Seite der Überlebenden zu bleiben. An ein Unternehmen in dieser Art hat sich der t-ar-Biologe Rich;ud O::�wkins ''Or gut einem Jahrzehnt gew;agt, als er in einer popuhuen
ork>Sungsreihe
des Royal Jnsmurc- - von der BBC unter dem scheinb-ar kin
re emporgehoben wird. Aber ob man den Weg zum Gipfel als ein Erk lettern oder als eine Hebung des ganzen Massivs auf faßt, die Na[urgcschichte erhält in d ieser Bcrrachtung von sich her eine immanent artistische Dimension. Der Ausdruck »Überleben" ist ein Codewon für Narurakrobatik. Immer· hjn, die Frage, wer der Natur bei ihren Kunststücken zusieht,
ist aus menschlicher Sicht nicht zu beantworten - der einzige
Beobachter, den wir di ngfest machen können können, ist der Biologe, doch dieser betrin das Theater der Evolution mit einer Verspätung von Hundeneo von Millionen Jahren.
Nach dem Gesagten liegt es nahe, das •Übert< in »Über
derfreundlichen Titel Growing Up in the Umverse ausge
lebent( wie das •Über• in »Übermensch• auf die Dimension
Erfolgs-formen er-r.ähhc.8 Der Bu htitd der Vorrrige. Climb
rend das Aussterben stets das wahrscheinlichere Resulat der
srrahlt- dje Geschichte des Lcbcm und seincr imposantesten
mg Mount lmprobabl�. stellt einmal mehr Oawkins' Fä higkeit unter Bcwei$-, sein F:tch mit ansch::�ulichen Formulie
rungen zu popularisieren. Im gegebenen fotll hat er höher getroffen, als er gezielt hatte. Die
;uurgc cbachtc - als Klet
terpartie im Gebirge der Unwahrscheinlichkeiten beschrie
der wachsenden Unw:thrschcinlichkeiten zu beziehen. Wäh Lebensversuche einer Species wäre und das Stagnieren des Menschen in einer Endform von Menschsein allemal den wahrscheinlicheren Aus�lang der Menschheitsgeschichte darstellte - für den im übrigen die Vertreter eines
vorgebli·
chen • Rec hts auf Unvollkommenheit• nicht ohne Selbstge ei
ben- wird unminelba-r T.u einer n:uunnisti sc hen Alfa.ire, wo
fälligkeit
bei man nicht enuchciden bnn, und glücklichcrwe.isc auch nicht cncschcidcn muß. ob der Aufstirg auf Mo11nt /mprobab-
vom Wahrscheinlichen ins weniger Wahrscheinliche. Eine
1� von den Arten zurückgelegt wird oder von dem Biologen. der sie erforschL Vermutlich ist das Bild vom .Erklenem der Uowahrschcinlichkeitsgipfel selbst unwlänglich, weil der Aufstieg der Arten ja nicht als Bcz.wingung eines chon vorab
existierenden Gipfels verst:tnden werden kann. Vicbuehr be deutet er in seinem Verlauf selbst die Auffaltung des Gebirges
ntreten -, verkörpern das Überleben und die
Überhumanisicrung gemein sam die Tendenz. zum Aufstieg überlebende Spccies verkörpen das aktuelle Glied in einer Kette von Replik:uionen, der die Stabilisierung ihrer Un wahrscheinlichkeit gelungen ist. Nimmr m:tn an, daß eine stabilisierte Unwahrscheinlichkeit umgehend zum Basislager weiterer Aufstiege wird, so hat man die Grundlagen zum Verständn is der evolutionärcn Drift in Richtung auf den Gip
zu seiner aktuellen Höhe. Hinter dem Bild vom A ufs ti cg zum
fel des Mount lmprobab/e gewonnen.
der Emergenz. eines Gipfels, der von trivialen evolutionä.ren
sche inlichen gibt somit auf die oben gestellte Frage nach
Berg des Unwahrscheinlichen verbirgt jch die tiefere Figur
Die Rede des Bi ologen von den Gipfeln des Unwahr
Kräften aus dem Wahrscheinlicheren ins Unwahrscheinliche-
dem Sinn des • Htnauf.. in Zarath ustras Gebot - .. Nicht nur
8 London 1996; deutsch unter dem Titel: Gipfel OC$ Unw:�hl'$chein� Iichen. Wunder der Evoluaion, Reinbek bei Hambulb 1999.
text aktuellen Wissms plau ible Antwort. Nach ihr geht es in der Evolution als solcher immer schon •hinauf• in dem Sinn,
fort sollst du dich pOanzen, sondern hinauf!• - eine im Kon
t88
1 Höhenp)yehologtc
daß tt ean Konunuum \on Lebensformexperimenten zu sundig erhohten i:.b<:ncn )Ubtlt51eru:r Unw:1hrscheinlichkcit
diesem Punkt :ln schocllcr steigt. Das einzige Privileg der
emchteL
Evolution al
lb tverundltch ISt du ketn gephntcr Fon:schrin.
und doch �ls Bewt'Gun� 1u w�ch ender Komplaitit ein un
mißversundlich genchteter Pro7cß. Der Gegennn zwischen •fort .. und •hmauf• lo t ich tn der Abfolge der Gener.uio
Kulrur gegenüber der Natur besteht in ihrer Fähigkeit, die Klcuerparcic auf dem Moum lmprobable zu
beschleunigen. Beim Übergang von der genetischen zur sym bolischen oder ..kulrurellcn« Evolution akzeleriert sich der Gestalrproz.cß bis z.u dem Punkt. an dem die Menschen auf
nen von db)t auf, weal :tllc Anen, die tn synchroner Sicht
die Erscheinung des Neuen zu eigenen Lebzeiten aufmerk
stabile Endformen 7U vcrkorpcm chcincn. bei diachroner
sam wcrden.10 Von da an nehmen Menschen zu ihrer eigenen
Betr:achtung üb<:r große Zcunumc �6 moment�oc Zusti.nde inncrlulb einer im einulncn umrorhersehb;trcn, insgesamt
Innovationsfähigkeit Stellung - und zwar bis vor kunem fast immer ablehnend.
dem Überleben belohnten Ancn eine anSteigende Tendenz
Pn'märer Konservatismus und Neophilie
jedoch •nach oben• wci enden gencti)chcn Drift erkennbar werden. Oie glob.tle Drift im Fitnessstrom Zeigt für die mit und gcnau die en Tcndennug: daß der trom kontn-inruiciv bergauf fließt, bc: chrcibt o�wkins mit dem Blld vom KJet tern auf den Höhen des Unw:1hrscheinlichcn.
Wahrend der letzten viert.igtauscnd Jahre der Humanevolu tion bestand die Standardreaktion auf das Auffälligwerden
·Die Höhen der Evolution sind nicht im Schnellgang zu
von zusätzlicher Unwahrscheinlichkeit, soweit man sieht, in bedingungslo er Abwehr. An ihren habituellen Oberflä
erreichen. SclbM die chwierig ten Probleme sind 2.u lösen, und die steilSten Hohen Ia cn ·ich erklimmen, wenn man nur einen lang :1mcn, allm!lhlichtm. Schritt
für Schrin gangbaren Weg findet.•" •Man• sind die •egoistischen• Gene, die beim perm:anenten RealitilStc t des
pecics-Lebc:ns 7ugleich fort- und hinauf
gereicht werden. Nieu.sches "Arti ten-Metaphy ik� kann an den Vorgaben der darwinistischen Biologie unbcmuhr anknüpfen. U nter dem Aspekt der UnwahrschcinlichkeitSbctr.tchtung sind na türliche Arten und •Kulturen• - lctuere definiert :lls tr:adi rionsrüchtigc Menschengruppen mir einem hohem Dressur- und KunstfertigkcitSflktor - Phänomene :tuf demselben Spektrum. ln der N:trurgcschichte der Anifiz.ialit:it stellt die N:J.tur-Kulwr-Schwelle keinen besonders nennenswerten Einschnitt dar, allenfalls einen Höcker in einer Kunrc. die von 9
rhwkins, Gipfel des Unwaluchc:inlichc:n, ;a, ;a. 0..
.
} p.
chen sind alle alten Kulruren, bis zurück zu den paläolithi schen Frühformen. kon crv:uivcr als konservativ. Sie schein en von einer vi zeralen Innovationsfeindschaft durchdrun gen, vermuliich weil sie von der Aufgabe, ihre bewußten [nhalte, ihre symbolischen und technischen Konventionen leistungskonstlnt :tuf die folgenden Generarionen zu über tragen, schon bis an die Grcn4c ihres Vermögens beansprucht werden. Kulturen :tls solchen liegt durchwegs der Grundwi derspruch zwischen der ererbten ncophilen Einstellung von und der zunächst unvermeidlich neophoben
homo sapiens
10 Von diesem Momcm an k:mn die mcup hysische Mißdeurung des Langsamen. )eine Abschiebung in die Tr.msz.endenz. :aufgegeben werden Vgl. l lcincr Mühlnunn, ·Die Ökonomicmaschinc•, in: s Code:. Architektur, r�ranoia und Risiko in Zeiten des Terrors, heraus�<'&"bcn ''On Gcrd dr ßruyn. Bascllßoston/Bcrlin, 2oo6, S. 217. Ebenso: Pctcr Slotcrdijk. Got"tcs Eif�r. Vom Kampf derdrei Monothcismcn, Frankfun ;am Main 1007, S. aS-:o. .
1
190 Verfassung de,r Reg�lapp:tnue zugrunde. Weil die Reproduk tion ihrer rituellen und kogniri,•en lnhahe ihre.' erste und
eiru.ige Sorge bildet, i t ihr Weg durch die Zeiten massi'' neo kl:l5ti eh- der Srurm gegen das
euc im :tllgemeincn geht den
besonderen Bilderstürmen um ,-iele Jahruu ende ''Or:tus. Auf einen Cittilina, einen remm novanun cupidum, kommen
z.ehnt.ausend Bewahrer des Alten vom T�•pus Cnto. Da aber auch die stabilsten Kulturen stetig von srmbolischen und techniscl1cn Lnnovationen unterwandert werden, sei es durch Erfindungen nm eigenen Herd, sei es durch Konmktinfektio nen mit den Kün tcn der Nachbarkulrurcn, prakril.icren sie die List, die Neuheit des neu Aufgenommenen zu c:tmouflie ren und die einmal eingedrungenen und
nolt•m volem
inte
grierten .Elemente dem Vornt des eigenen Ältesten anzu verwandcln, als gehörten sie seit jeher zum häuslichen Kos mos. ln solch einer Eingliederung des Ncuen ins Archaische
Höhc:npsychologH·
Position, aus welcher sie dem Lnnovationsrausch der umge benden Zjvilisation noch kaum zu folgen imstande siod. Die ser Wandel bricht mit der Majestät des Alten und überträgt die Königsfunktion auf jene, die das Neue bringen. Wer jetzt •Es lebe der König!« ruft, muß lnnovatorcn, Autoren, Ver mehrer des kulrurellen Patrimoniums meinen. Nur weil die Neuzeit das Weltalter der Neolatric eröffnet hat, konnte Niev,.schc eine Trendverschärfung wagen und radikal verän derte Fortpflanzungsregeln empfehlen. \Vährend Fortpflan zung bisher immer dem Primat der erzeugenden Seite unter stand und an der geglückten Wiederkehr des Alten im Jün geren sein Erfolgskriterium besaß, soll in Zukunft das Kind den Vorrang genjeßen - diesen erlangt es, wenn es, wie Nierz sehe unmißverständlich sagt, das Eine wird, das mehr ist als die zwei, die es schufen. Diejenigen, die das nicht wollen, heißen letzte Menschen.
besteht eine der Hauptfunktionen des mythi chen Denkcns: erlebte U nwahrscheinlichkciten, seien sie .Ereignisse oder In novationen, als solche unsichtbar �u machen und das in\"a.sive Neue, das nicht zu ignorieren war. in den •Ursprunge :ru rückzudatieren. Unverkennbar sind noch die: Vorliebe der Metaphysik für das Substantielle und ihr Ressentiment gegen
das Akzidentielle Abkömmli nge der mythischen Denk form.
Man kann nie genug betonen, wie rief die jüngere, im euro
Artisrenmetapbysik Die evolurionären Voraussenongen für diese Wende sind deutlieb zu benennen, auch wenn die Folgen unabsehbar blei ben: Sie liegen in den neoiatrischen Wertungen der europäj schen Renaissance, die letzdich auf die Umdeutung der christlichen Trinität zuguns[cn des Schöpfer-Geists und auf
1 5 . Jahrbunden einserzende Po iti,•icrung des
die Verschiebung der tmiuwo Christi zur imitatio Panis Spi
gesehnirren hat. 1 1 Sie kommt der Umwcnung aller Werte
NietZsche nicht viel mehr zu run, als von dem zu seiner Zeit
päischen
Neuen in die mentalen Ökosysteme der Schwcllen,,ölker ein
rilusque zurückgehen. Vor diesem Hintergrund brauchte
gleich, weil sie die älteste Zivilisationsparadoxie, wonach
schon voll ausgcbildcLcn Kuh des Ncucn die konventionellen
neophilc Individuen in neophobcn Sozialstrukturen lebten •
Hüllen herabzurcißen und sich zum Dogma der Innovation
auf den Kopf gestellt bat. Im Lauf der Jahrhunderte dr3ngte sie die meisten Menschen in eine unfreiwillige neophobe
ohne Grenzen zu bekennen. Als einer der ersten war er fähig
1 1 Zum take-off der lnnovuionsbcj1hung in der europ:iischeLl
Höhe bewußt, weil er bemerkte: Auch habe Bergrücken
Missance siehe unten S. p-4f.
Re
wahrzunehmen, wie der Moum lmprobable aus dem Nebel
trat. In demselben Moment wurde ihm die Relativität der erscheinen flach, wenn man auf ihnen geht und steht. Nur
I Oac l:.ro�rung des UnwahrscheinJjchen
deswegen koont� er z.u der Ansicht kommen, der Berg der
1 Höhtnpsrchologic
1 93
Der Schaffende folgt einem metaphysischen Rollenauf clbst ein vibrierender Berg
Evolution sei noch nicht hoch genug - er will ein l.weites
rrag: Wenn schon d"s Leben
Gebirge auf d:u er te stellen, und ein drines auJ das zweite.
der Unwahrschcinlichkcitcn ist. kann man seine Bejahung
Dem entspricht die Botschaft: •immer Wenigere steigen mit
nur bcwei cn, indem man ihn noch höher tümn. Darum soll
mir auf immer höhere Berge - ich bau� ein Gebirge :tus immer
die Hinaufplanz.ung einen Schaffenden schaffen. Indern man
heiligeren Bergen
.
. . .•
u
Über jedem Gebirge aus Ergebnis
zusätzliche Erhöher des Unwahrscheinlichen in die Welt
sen iSt ein Gebirge
setzt, akkJamicn m:tn der Dynamik der Uowah:rscheinlich
tels der Aufrichtung neuer Steilwiindc läßt sich die Verfla
keit.serböhung insgesamt. Daher die Forderung nach einem
chung des Berges durch die Gewohnheit, aufihm zu wohnen.
Menschen, der über eine eigenen Lebenshindernisse gesiegt
kompensieren.
härte und vom Ressenumem gegen die Kreativität befreit
Man muß sich vergegenwärtigen, wie sehr Nietz.sche hier
wäre. Nur ein solcher Mensch \vürde nicht mehr sich selbst
als Künstler für Künstler spricht: Der Wunsch nach dem Hö
als Richtgröße für das Werden der folgenden Generation set
hemciben der Unwahrschcinlichkeit zu einem Gebirge aus
zen - geschweige denn seine Vorfahren. Nur er könnte ohne
Gebirgen artikuliert d:u Äußcr tc, wo�u eine a.rtiscisc.he
neophobe Reflexe den Gedanken bejahen, wonach da.s kul
Konfession vorzudringen vermag. Allein der anistischc Wille
turelle Unwahrschcinlichkcirsgcbirge künftig in jeder Gene
zur Verwandlung der Zukunft in einen Raum grenzenloser
ration um eine Stufe höher aufgefaltet werden soll. Er würde
Kunst-Erhöhungschancen macht den Schlüs eisatz der zitier
nicht aus seiner eigenen Unvollkommenheit ein Soll für die
»einen Schaffenden
Nachkommen machen. Er will lieber aussterben als unvcr
sollSt du schaffen . . . ein aus sich rollendes R.ad, cioc erste
änden wiederkehren. Ihm ist e so begreiflich wie willkom
ten Fortpfl:tnzungsrcgel begreiflich:
Bewegung•. Diese Regel cnthilt nicht weniger als Nict?..sches
men, daß nach dem Gesetz der Normalisierung des Unwahr
Theologie nach dem Tode Gones: Es \vird auch weiterhin
scheinlichen die bisherigen Gipfel sich in der Wahrnehmung
Gort und Götter geben, allerdings nur noch menschheits
der Nachkommen als liügellandsdlaftcn oder Ebenen prä
immanent und allein in dem Maß, wie e Schaffende gibt.
sentieren. Man kennt dieses Gesetz im übrigen auch unter
die am Erreichten anknüpfen, um höher, schneller und weiter
parasitären und abgeflachten Formen, etwa im Gesetz der
zu geben. Solche Schöpfer arbeiten sclbsrvcrscändllich nie
zunehmenden Blasicrhcit auf dem Kunstmarkt und bei den
mals
ex
nihiio, wie ein scholastische Mißvcrst3ndnis be
Eskalacionstrends im erOLi chen Hard-core-Sektor.
haupu:ce, sie greifen Ergebnisse früherer Arbeit auf und wer
Für den •Kreativen• (ein Wort, das in wcojger als einem
fen sie erneut in den Prozcß. Schöpfung ist die Wiederauf
Jahrhunden den \V.irmetod gestorben ist) bedeutet der Kom
nahme der ersten Bewegung, sie ist die Rückkehr in dte
parativ- wie indogcnnanischc Sprachen ihn ihren Sprechern
Flamme, die nach oben schlägt, oder in die Drehung des Ra
in den MuJld legen - keine bloße grammatische Funkrion.
des, das •aus sich-. rolle - bei diesem Ausdruck kommt die
Die elementaren Triaden groß - größer- am größten, bonus
bessere Schousti.k ins Spiel, für die das Aus-sich die kineti
- melior - optimus, potens - potmri.or - potentissimus geben
sche Dimension des An-sieb und des Für-sich bedeutet.
eine primitive Ansicht von den gestuften Steigerungsarbeiten des Lebens. Es genügt, die theologische Blockierung des
1 1 F. N., Also sprach Z:uuLhustra,
Von 3hcn und ncuen T:tfdn. S.
19.
Superlativs auf7.uhebcn, um zu verstehen, daß dje Maxima
1 Höhenpsychologie
eit je nach oben offen md. auch wenn ie ''On :alters her
durch
t�-plus-uhra-�une gcm(hen werden. Ocr kulrurelle
Lc�nsprozcß dber ist es, der d:lS ttestrige Große kJeiner
Jensgymnastik und der Murproben für die eigenen Kräfte.
Nier:uche faßt sogar ein Training für moralische Tugenden
ins Auge, bei welchem man seine •Stärke im Worrhalten
uigt und du Größere von froher nur Wt'nig später für
könncn• unter Beweis stcUt.u
schwierigkeiten in W:anderwege, auf denen bald dJn:ach selbst
natürlichung.. der Asketik um die Narurbasierung des Ami
Untrainierte leicht vor.ankommen. Für die, die den Glauben
naruralismus - was nichts anderes heiße, als daß der Körper
an die Allmacht der Hindernisse ''crloren haben - und was
im.mer mitgenommen werden muß: von der Basis bis in die
orrnalität aus.gibt. Er \'crw.andch die.- gestrigen Höchst
war die klassische Ontologie, wenn nicht der Glaube an Hin dernisse im Großen? -, ist d:LS ß1sherigc das Basishgcr für den
nächsten Aufbruch. Von d:t an ist der :tkrobatische Weg allein noch offen.
Für den philosophischen Akrobaten geht es bei der ..Ver
Spitze der Kunstfiguren. Wenn die Artisten des Chinesischen Staatszirkus bei einer ihrer Pyramiden-Nummern zeigen, wie
fünf,
sechs, sieben Anisren aneinander hochklerrem, so daß
der oberste auf den Sc hu lte rn von zahlreichen Unterleuten stehr und dorr oben noch den Handstand einhändig vorführt,
wobei er obendrein Wassergläser :mf einem Tablett, das auf
Dit Asketik 1Jtrnatürlichttn
der linken Fußsohle ruht, bal:tncien - dann dürfte auch Phi losophen kl:1nverden - falls sie in den Zirkus gingen -, worauf
Was man für Nic:n�schcs •ßiologismus• h:u halten wollen
Niewehe so pat heti eh hinwie : daß am obersten Punkt
und ·Biologismus• ist, wie m:mche Oi:agnostiker des lmpe
nicht weniger Körperlichkeit am Werk
rialismus vermuten, die mystifiuenc Form der kapi�list.i
und unten.1s Ebenso ist deutlich, wie die Kunstfigur auf ihre
schen Konkurrenz -, crwei t sich bei genaucrcr Untersu
Weise den Topos •der Geist bewegt den Stoff• kommentiert.
chung als ein gencralisiener Akrobari mu : eine Lehre von
ist
nls in der Mitte
Artistik ist die Somat:i icrung des Unwahrscheinlichen.
der prozeßhaften Einverleibung des Fast-Unmöglichen. Dies hat mit Wirtschaft wenig 1.u run, um so mehr mit einem
Amalgam aus Künsdercum, Arrinik, Tr.liningswissenschaft� Diädrundc und Askcrologic. Diese Verbi ndung macht das Programmwon verständlich, das der Autor von Zur Get1ea
logie der Moral im Herbst
1887 seinen Notizbüchern anver
traute:
Nichrs ungeheurer al.s der Menscb: E;nsrcm in der Höbe Diese Sichtweise stammt nicht g:mz. von heute. Sie ist in den älteren Weishcirslitcr:tturen vorgebildet - im europäischen
•Ich will auch die A s k e t .i k wieder v e r n a t ü r l i c h e n ; an Stelle der Absicht auf Vcrncinung die Absicht auf
Verst ä r k u n g
. . . .. u
Das Dasein des Menschen von morgen soll g�nz. auf Übung und Beweglichkeit gegründet sein, einschließlich der \V.J1 3 Nietuchc, Sämtliche Werke, KSA 1:, S. 387.
I 4 lbid., S. 388.
' 5 Auch m�rokbni�chc Zirkustruppen bcsiucn eine berühmte Pyra· miden-Tndition, wobei bis zu 1 s Artisten Türme von fünf oder sechs • tockwcrkcn• bilden. Katnl:�nisehc Arri�"ten sind dafür berühmt. Mensehcnpyr.amidc:n mit bis zu acht oder neun Stock· werken :lu(z.u�tcllcn. Ueim kanadischen Cirque du Soleil konnte man �og;ar seil�pringcndc Pynmidcn sehen.
1
•96 Kontext wohl am ents hu�dcnstcn m dem ,.jd kommcnrienen
Chorlied
1us
der Amtgon� des
Mensch• als das
phoklcs. in dem ,.der
erbtuffend te des Verbluffenden (danöte
ron)1". &, Ungcheuc:�tc dc, •Ungeheuren•- wie Hölde.rlin chön, aber u:ndenuö ubcnemc - ge hitden w1rd. Er ist
ein gefahrensuchcnde�. den starus quo la<:tcmde Monstrum, das nichts lißt,
wtc es
wu: :�1
Unruhe
hhrcr. der die
c
gefährlichsten Zonen der Meere erkundet; ;�l Ackcrfre,•ler. der die heilige Erde mia dem POug stdlcr, der ruckischc
hw·3eht: :�ls VogdhUen
e1.2c auslegt; 1l
''erstiegener Groß
wildj3gcr auf den Bergen; au taatcn:�uf tcller und Gesetzge
ber, als An.t, der Leiden zuruckd�ngt - in allem al o Artist:
•mit kluger Geschicklichkeit für Kun$t ohne Mlßc.n be
gabt« -, allein hinsichtlich der Verlege nhei t, tcrben z.u müs
��n, noch ohne: Ausweg. Bei solcher Bcs h:tffcnheit liegt Uberheblichkeit m.he - Akrob:�temtolz über den Köpfen der Menge und Hybris außerhalb der gemeinsamen Satzung. SophokJo hat für diese Disposition tur M ;illlosi gkci t einen enormen AuJSdruck an der Hand: apolu, •:.t:�ddo
••
polis
übersteigend, • unpol iti eh• im inne von frc,•dhafter Nicht teilnahme an der Bürgerreligion der goldenen Mediokrität man kommt nicht umhin, an dlS uhcni
hc: Mustermonstrum
z.u denken. Alkibiadc , den Ubcrbcgabten. der :�uf mehr :tls
einem Seil tanzte. 17
t6 Der gram�Li�he Komp;a:-'tiv steht fur einen l�i�en
Höhenp,.yc:holottie
1 97
Sophoklc bringt hier ein Prinzip zur Sprache, wonach die Unterwanderung der Menschlichkeit im Inneren des Men schen selbst einscc7l - man hat es z.umcist, der Konvention folgend, das Prirwip Hybris gcn:tnnt. Diese Deutung isc kurz sichtig, um nicht bigott zu agen, weil sie zwanghaft am Lob der Mine orientiert bleibt - rn:1g auch das meson, wie die Alten es auffaßten, ccwas gan;c anderes gewesen sein als das, was man heute unter Mitte versteht. Immerhin bietet sie den Vorccil, die vom menschlichen Dasein unabrrennbarc Verti kalspannung zur Sprache zu bringen - obschon nur in der Weise, daß sie den Menschen als das durch schlechte Höhe gefährdete Wesen bestimmt. Die alteuropäische Hybris-Kri tik verkörpere dcml:\cm:iß die Grundform dessen, was man im zo.
Jahrhunden •Höhcnpsychologic« genannt hac. l n der Modeme hat freilich die Hybris ihren Ansatz gewechselt:
Sie kommt nicht mehr als Überhebung daher, sondern als Anmaßung einer Nicdri f:;keit, auf die, bei Licht betrachtet, niemand Anspruch erhebm kann.
Max Scheler geriet in den zwanziger Jahren des vergange nen Jahrhundcns auf den Ausdruck •Höhenpsychologie•, um sein Ungenügen an der von Frcud, Jung und anderen lancierten P ychologie des Unbcwußtcn auszudrücken, die bekanntlich 7_citweilig unter dem Titel •Tiefcnspychologie• betrieben wurde. Nach Schclers Ansicht hane man in ihr den Menschen einseitig •nach unten• in Richrung auf den
upertui''
psychischen Mechanismus crkliin, ob triebtheorecisch, ob neurotechnisch. 111 einer Überzeugung z;ufolgc haben die
emg�et2l wurde. Hetdcgger modc:rni\len die Ubcrset7ungstndi . uon, ' dem c:r den Ausdruck mit •unhc:imlith· wirdc:rt•bt- wu
Psychologicn der Moderne den Menschen übermäßig bio-
zu dc:m Ad)ekuv dtmon. emc:m Ausdruck. dc:r tn der Rhetorik zur ennuichnung des undc:rbaren und erschreckenden (1111rabi/�)
�
�
? uhlre•chc: Anschlüsse: an die: Diskunc: der philo)ophis hen Topo . logte. der Psycho:�rulyse. der Architektunheone und der systemi schen lrriutionstheoric: erlaubt. 1 7 Zu�.Mou.v Sudtübcrst�igung durch Übc.orbeg:�bung vsl. Peter Slo terdtJk, Du� Stadt und 1hr Gq;enteil: Apolitologie im Umriß. in: dc:rs Der isthetische lmper.uiv. Schriften 1.ur Kunst, hl'r.lusge . . gebc:n und m11 eLnem Naehwon versehen \'On Peter Weibel, Harn burg 1007. S. U t · U 4. .•
t8 Schelers gri�treicht'r Ausdruck wurde spiitcr von der Logotherapie
Victor Fr:an kl okkup•en (Fr:ankl selbst ''c:rwendct ihn seit 1938) und l U einer Retourkutsche gegen die Ans:it7.c von Frcud & Co verkehrt - gcnul.> der h:�usvawrlichcn Maxime, kompli:Uene Leute sollten mehr tun und wc:ni�cr nachdenken; die Beihilf�: zum Mehrrun heißt hier Ht'ilu n� durch den Sinn und die Beihilfe zum Wenigerdrnkcn ·Dcrcflc:xion•.
ruch
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
logisierr und seine Teilhabe an einem Register metabiologi
s
Höhenpsychologie
199
»Über« von Überheblichkeit, im hyper von
hybris, im super Sltperbia; es verbirgt sich im »Akro« von Akrobatik.
scher Realitäten, an der Sphäre der geistigen »Werte«, ent
von
»Geist« wird von Scheler als Hinweis auf die partielle Frei
druck für das Gehen auf Zehenspitzen (von: akro, hoch, zu
schen Lebens gedeutet: Was idealistische Philosophen vor
ste Form der natürlichen Gegennatürlichkeit. Vor dem 19.
weder zu gering veranschlagt oder ganz verkannt. Das Wort lassung de.s Menschen aus dem Absolutismus des organismi
mals »Teilhabe« nannten, meinte ja nichts anderes als den Zugang zu höheren Objekten bei Fonbestand der organi
schen Fessel. In diese »andere Welt«, die geisthafte oder
metabiologische (manche Autoren sagen: »bionegative«) Wert-Zone, ragt der Mensch hinein, insofern er sich mit na
türlichen Mitteln an Mehr-als-Natürlichem versucht. Scheler
hatte unter Nietzsches Einfluß begriffen, daß beim Übergang
Das Wort »Akrobatik« verweist auf den griechischen Aus
oberst und bainein, gehen, schreiten). Es benennt die einfach
Jahrhundert wurde der Begriff fast ausschließlich für die
Rochseil-Akrobatik verwendet, danach auf die meisten an
deren Formen der körperlichen Verblüftungskunst ausgewei
tet, einschließlich avancierter Gymnastik und entsprechender
Zirkusdarbietungen, während die Athletismen und die Ex
tremsportarten, aus Gründen, die zu erforschen blieben, die Nähe zur Akrobatik eher zu meiden suchten, so sehr die
in das höhere Register der Körper mitgenommen werden
Verwandtschaft sich aufdrängt - um von der breiten gemein
listen und Dualisten.
Jjchkeitsgebirges zu schweigen.
muß - das unterscheidet ihn zu seinem Vorteil von Spiritua
Er wußte zudem: Der moderne Höhenpsychologe steht
samen Front im Feldzug zur Erhöhung des Unwahrschein
vor dem Gegenteil der Aufgabe, die seinen alteuropäischen Vorläufern vorgeschrieben war. Während die Alten den »ver stiegenen« Menschen ins meson, die gute Mitte, zurückzu führen hatten, müssen die Neuen den modernen Menschen
an die Region Höhe als solche erinneren, sofern er der Mensch ist, der sich im Durchsehnirr und darunter am wohl
sten fühlt. Wo er seinem Hang dazu überlassen bleibt, ent
schuldigt er sich chronisch nach unten und folgt am liebsten Vorbildern, die beweisen, daß Wege bergab eher erfolgreich
sind als steile Aufstiege. Daher ist der moderne Mensch nur noch von der Höhe her, aus dem Über-Grund, zu »unter«
wandern. Der verborgene overgrou.nd liegt jedoch - und das ist neu - mehr in der Artistik als in der »Religion«, insofern
Jakobs Traum oder: Die Hierarchie Die artistische Unterwanderung oder besser: Überwanderung
der Menschlichkeit findet ihr Hauptdokument noch weit vor den sophokleischen Hinweisen auf die techno-hybride Ver faßhcit der Menschensphäre. Ich spreche von dem Traum
gesiebt Jakobs, wie es in den Vätergeschichten des r . Buchs
Moses (Bereschit bzw. Genesis) im 28. Kapitel erzählt wird: » I o Jakob aber ging fort von von Beerseba und reiste
nach Charan. I I Da erreichte er einen Ort, wo er über nachtete, denn die Sonne war gerade untergegangen.
Er nahm einen von den Steinen des Geländes und legt
die >>Religionen«, wie angedeutet, viel eher für die Artistik
ihn sich zu Häupten; dann schlief er an jenem Platze.
vereinnahmt werden können als umgekehrt. Artistik ist Sub
Spitze berührte den Himmel. Gottes Engel stiegen auf
(mit ihren Zweigen Asketik, Ritualistik, Zeremonialistik)
version von oben, sie überwandert das »Bestehende«. Das subversive Prinzip, besser: das supraversive, steckt nicht i m
12.
Und er träumte: Eine Leiter stand auf der Erde, ihre
und nieder. I 3 Oben stand der Herr und sprach: >Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott
200
I Oie Eroberung des Unwahrscheinlichen
1
Höhenpsychologie
201
Isaaks; das Land auf dem du schläfst, will ich dir und
Darum ergibt es guten Sinn, wenn Jakob das erste Gones
deinen Nachkommen schenken . . . <« Die alteuropäische Ü berlieferung kenm kein Bild zur Ausle
haus, Bethel, genau an der Stelle errichtet, wo der Fuß der Engelsleiter die Erde berührte. Als ersten Baustein hierzu
gung menschlicher Bindungen an Vertikalkräfte, das in seiner
verwendete er den Kopfkissenstein, auf dem er in der kriti
Wirkungsmächtigkeit mit diesem zu vergleichen wäre. Auch hier ist von Übermenschen die Rede, jedoch nicht von jener
schen Nacht geruht hane. Wenn sieb ein altes Wandervolk
Species, die aus Menschen entsteht, sondern jener, die von
i n der Vertikalen weiter geht.
territorialisiert, dann am besten an einem Ort, von dem aus es
Gon als solche geschaffen werden. Was die Engel hier tun,
Wo Traumhierarchie war, soll Realhierarchie werden. Wie
ist Akrobatensache von Anfang an -sie steigen auf einer Lei ter, nach anderen Übersetzungen: auf einer Treppe, zwischen
die Engel übereinanderstehen, in neun Rangstufen, von den anbetenden Seraphineo bis zu den Exekutivengeln des ein
Erde und Himmel auf und nieder. Daß sie das tun, soll eine i n
fachen Kurierdiensts, so sollen nach Dionysios Pseudo
aller Schlichtheit zu statuierende Gegebenheit bezeugen: Die
Areopagita die Angehörigen der real existierenden Kirche
Sphäre der menschlichen Lebensvollzüge bildet die Mine
übereinanderstehen - desgleichen die Funktionäre der realen
zwischen Welten darunter und Welten darüber. Jede mensch
Verwaltungen und der allzu realen Beamtenkörperschaften,
liche Operation, auch die gekonnteste und bedeutsamste, pro
und ob nicht auch noch das alteuropäische neunstufige Gym
fan oder sakral, wird überspannt von einer Überwelt aus tran szendenten Handlungen, deren Agenten die Engel sind. Alles
nasium eine ferne Projektion der neoplatonisch-christlichen Chorsrufen enthält, mag eine offene Frage bleiben.20 Was
menschlich Gekonnte wird auf übermenschlicher Ebene bes
Jakob, der Patriarch der Hierarchie-Denker, erträumt, ist eine
ser gekonnt. So tragen die Engel von alters her das Ihre zu einer artistischen Ü berwanderung des Menschlichen bei.
artistische Pyramide aus subtilen Körpern. Deren Anblick
Es gibt gute Gründe, zu behaupten, die Geschichte Ale europas sei unter vielen Aspekten die Geschichte der Ü ber
sie eine Minute lang hält, sie soll jahrtausendelang Bestand
seezungen der Jakobsleiter aus der Traumsphäre in die Tages
System übersetzt. Daß der Pseudo-Areopagit hiermit zu
löst nicht wie im Zirkus schon Applausstürme aus, wenn haben - so hat zumindest Dionysios die Leitervision in sein
kultur. Sie macht die gemeinsame Geschichte von Hierarchie
gleich ein Symbol für die Akrobatisierung der himmlischen
und Akrobatik aus- sofern man das anfängliche akro bainein,
wie der ekklesialen Hierarchien geschaffen hat, kann aber erst
das ,. Hoch-Gehen auf Zehenspitzen« in das Gehen und Stehen
vom aktuellen Pol der Geschichte her bemerkt werden, nach
auf den Stufen einer Leiter zwischen der Erde und dem Höch
dem die Auflösung der überlieferten hierarchischen Systeme
sten sowie auf die vielen adligen Ränge überträgt, die zwischen
eine neue Reflexion über die Gründe, Wirkungsweisen und
Volk und König vermineln. Im übrigen bildet die Leiterakro batik des Zirkus eine Übergangsform zur Luftakrobatik -
Metamorphosen von Vertikalität provoziert. Von der Mächtigkeit der Leiter-Überlieferung zeugt die
ganz wie bei den Engeln, die man sich nicht nur als Sprossen 9 steiger, sondern ebenso als fliegende Truppe vorstellt. 1
Tatsache, daß selbst Nietzsche noch unter ihrem Einfluß
19
Vgl. Thomas Macho, Himmlisches Geflügel - Betrachtungen zu einer Motivgeschichte der Engel, in: Engel, herausgegeben von Cathrin Pichlcr, Wicn!New York 1997, S. 83- too.
steht, wenn er Zarathusrra zu seinen Freunden sagen läßt,
zo Vgl. Giorgio Agambcn, Die Beamten des Himmels: Über Engel, Frankfurt arn Main 1.007.
•
202
I
Die Eroberung des Unwahrscheinlieben
2 er wolle ihnen »alle die Treppen des Übermenschen« 1 zei gen. Bemerkenswert ist hier die paradoxe Konstruktion, wo nach die Treppe fortbestehen soll, auch wenn sich oben nichts
1 Höhenpsychologie bereicherten: Marx spricht von Überbau und Überproduk
tion, sein Schwager Lafargue von Überkonsum, Darwin von 2 Überleben, Nietzsche von Übermensch,2 Freud von Über
mehr findet, woran sie sich anlehnen könnte. Mysteriös über
Ich, Adler von Überkompensarion, Aurobindo vom Über
lebt das mächtigste Vertikalitätssymbol der alten Welt die
geist oder dem Supramentalen. Einem klugen Nuklearstrate
atheistische Krise. Es bezeichnet weiterhin eine von der Hö
gen verdankt man den Ausdruck Overkill, einem obskuren
he ausgehende Spannung, obgleich kein transzendentes Ge
Medikus das Wort Hypertonie, einem obskuren Demogra
genlager sie mehr konsolidiert. Auch im Ausspruch Zarathu
phen das Wort Übcrbevölkerung, einem obskuren Großhänd
stras, der Mensch sei ein Seil, geknüpft zwischen Tier und
ler das Wort Supermarkt, einem obskuren Journalisten das
Übermensch, kehrt das problematische Motiv des am Gegen
Wort Superstar. Man muß bis ins 5 .Jahrhundert zurückgehen,
pol nicht fix:ierbaren Transzendenzgeräts wieder- ob Leiter,
um einen analogen Schub an neuen Vertikaütätswörtern zu
ob Seil, man weiß bei dieser Bildlichkeit nicht mehr, woher
beobachten: Sie stammen fast ausschließlich von dem Meister
die Spannung nach oben kommen soll. Diese Verlegenheit
denker des Hierarchismus, dem erwähnten Dionysios, der
bliebe auf der Ebene der überlieferten Imaginationen unauf
dank seiner zahlreichen Neuprägungen mit Hilfe des Präfixes
lösbar, ja, sie müßte die gesamte Struktur ruinieren, hätte
»hyper«
Nietzsche nicht implizit längst auf die völlig anders geartete
für ein Jahrtausend aufmischte.23
den christlich-platonischen Theologenwortschatz
Logik der evolurionären Steigerung von Unwahrscheinlich
Wenn es ein Wort gibt, das im Lexikon des 20. Jahrhunderts
keit umgestellt. Mit ihrer Hilfe gelingt die Umwandlung der
fehlt, obwohl die Sache selbst allgegenwärtig war, dann ist es
Engel in Artisten fast unbemerkt. Wie jene als Boten Gottes
das Wort Übermörder - es würde die Gruppe der Diktatoren
ihren Dienst taten, so fungieren diese als ßoten der Kunst. Sie
bezeichnen, die aus den vertikalitätsblinden und antihierar
verkünden die gute und erschreckende Nachricht, man sei
chischen Affekten der Massenkultur große Politik machten,
dabei, Gebirge aus immer höheren und heiligeren Bergen auf
zumeist unter Verwendung sozialistischer Vorwände. Was
zutürmen.
Nietzsches ominösen Übermenschen angeht, komme ich nicht umhin, meine Überlegungen zu diesem Konzept mit einer ironischen Notiz zu beenden. Ein Sachverhalt liegt auf
Ober-Wörter
der Hand: Sein Urheber ist hinsichtlich der Datierung des Übermenschzeitalters der größten aller möglichen optischen
Zum Schluß ist darauf hinzuweisen, daß Nietzsche, wenn er auch der radikalste Interpret der neu aufgebrochenen Verti kalitätsproblematik ist, in seiner Epoche nicht allein steht. Man kann behaupten, die zeitgemäßesten Denker seien im
19. und 20. Jahrhunden diejenigen gewesen, die den Vertika litätswonschatz der Moderne um mindestens einen Ausdruck
21 F. N., Also sprach Zarathustra I, Prolog S. 9·
22 Daneben gibt es bei Nietzsche ca. 20 weitere Wortprägungen mit
dem Präfix •über•. Luther hat in dem Areopagiren den Feind, den Trai ner der ekklesialen Hochakrobacik, gewittert. ln seineo frühen Schriften versucht er ihn noch, für seine eigene, von der Theologia deur�ch inspirierte simple Dunkelheitsmystik 1.u vereinnahmen: Unde in Dionysio frcquens verbum est hyper quia super omnem cogitatum oportet simplicter in caliginem cntrare.« Später versteht Luthcr, daß es für Dionysios nicht um den schnellen Eintritt ins
23 Noch Martin
..
I
Oie Eroberung des Unwahrscheinlichen
Täuschungen erlegen - was erstaunlich ist, weil nichts, so of fenkundig zu sein scheint wie die Tatsache, daß die Ara des Übermenschen nicht in der Zukunft, sondern in der Vergan genheit Liegt - sie ist identisch mit der Epoche, in der sieb Menschen einer transzendenten Ursache zuliebe mit den ex tremsten Mineln über ihren physiseben und psychischen Sta
tus erheben wollten. An dem Wort Übermensch besitzt das Christentum unabstreitbare Urheberrechte, aus denen selbst bei antichristliehen Umwendungen Tantiemen fällig werden.24
1 Höhenpsychologie baren Konstrukt überhöhte. Das Motiv hierzu ist in dem Umstand zu sehen, daß Nietzsche, obschon er nicht vorhatte, eine eigene Religion zu stiften, das überlieferte Christentum mit heiligem Furor ent-stiften wollte. Gerade die von Niet.zsche wiedereröffnete asketologische Sicht läßt die Kontinuität beim Übergang von der »heidni schen« Antike zur christlichen Welt deutlich hervortreten, ganz besonders in dem hier maßgeblichen Bereich: der Über tragung des athletischen und philosophischen Asketismus auf den monastischen und ekkJesialen modus vivendi. Wäre es an
Kein Sklavenaufstand der Moral: christlicher Athletismus Meine wichtigste Abgrenzung von Nietzsches Hinterlassen schaften betrifft seine Deutung der Differenz von Herrenmo
ders, hätten sich die frühen Mönche Ägyptens und Syriens unter Berufung auf paulinische Bilder vom Agon der Apostel - nicht die »Athleten Christi« genannt. Und wäre die mona stische Askese nicht eine Verinnerlichung des Regimes phy sischer Kämpfer sowie eine Übernahme der philosophischen Lebenskunstlehren unter christlichem Vorzeichen gewesen,
ral und SklavenmoraL Ich gebe zu, ich bin nicht sicher, ob ein
so hätte die Mönchskultur, vor allem in ihren weströmischen
»Sklavenaufstand in der Moral« jemals stattgefunden hat.
und nordwesteuropäischen Ausprägungen, unmöglich zu der Kraftentfaltung an aiJen Kulturfronten führen können, carita
Großereignis wie der von Nietzsche so heftig beschworene
Eher neige ich zu der Ansicht, es handle sich bei dieser an geblichen Umwertung aller Wene und dieser massivsten Um fälschung aller natürlichen Richtigkeiten in der Geschichte des Geistes um eine Fiktion des Autors, mit der er einige sehr bedeutsame und richtige Beobachtungen zu einem unhalt-
tiv, architektonisch, administrativ, ökonomisch, intellektuell, missionarisch, wie sie zwischen dem 5· und dem t 8 . Jahrhun dert bcobachtbar ist. Was also wirklich stattfand, war eine Athletismusverschiebung von den Arenen in die Klöster-aB gemeiner gesprochen eine Tüchtigkeitsübertragung von der z.erfalJcnden Antike auf das beginnende Mittelalter, um hier
24
fromme Dunkel, sondern um eine für Religionsvirtuosen geschaf fene Stufenlogik mit harten Exklusivitätsmerkmalen geht- von �a an ist ihm der Gründer der negativen Theologie ein Horror und g1lt ihm mehr als Platonjkcr denn a.ls Christ. Vgl. Thomas Reinhuber, Studien zu Luthers Bekenntnis am Ende von Oe servo arbitrio, De Gruyter 2000, $. 102. Ein Wort wie •Hypermarxismus•, das Fou cault zur Kennzeichnung der französischen Ideologie in den sech ziger und siebziger Jahren gepägt hat, war hingegen von Anfang an satirisch gemeint. Vgl. Ernst Benz, Das Bild des Übermenschen in der europäjschen Geistesgeschkhte, in: Der Übermensch. Eine Diskussion, heraus gegeben von Ernst Bcnz, Sruttgart 1961, S. :u-161.
nur die Epochennamen zu benutzen und nicht die alten und neuen Kompetenzträger, die aretologischen Kollektive von damals und später, im einzelnen zu benennen.25 15
Was keine einfache Aufgabe wäre: Für die Antike, weil die Über lieferung zu den gymnastischen und agonalen Disziplinen zwar ausreicht, um vom enormen Umfang der Athletismus-Phänomene eine Vorstellung zu erlauben, aber zu fragmentarisch ist, um ein authentisches Bild zu geben; für das Mittelalter, weil die Geschichte des Monastizismus an Breite und Detailreichrum die Kapazität jedes Darstellungsversuchs überschreitet.
r
206
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
207
1 Höhenpsychologie
Hugo Ba ll hat von diesen VersciUebungen das Wesentliche
aristokratie durch, deren einzige Leistu ng in der identischen
betont, der geistige He
gleichnichtsnutzige Nachkommen bestand, oft über viele
erfaßt, wenn er in einem Entwurf zum Vorwort seines Buchs
Byzantinisches Christentum, 1 923,
roismus der Mönche beinhalte einen überlegenen Gegenent
Übertragung
ihres
aufgebl ähten
Selbstbewußtseins
auf
Jahrhunderte hinweg. Von dieser chronischen Schande Euro
wurf zum »Naturheroismus« der Kämpfer.26 Daß es bei die
pas, dem Erbadel, macht sich einen Begriff, wer die Verhält
Ressentiments kam, ist offensichtlich. Doch selbst ein so ten
denziöser, und von Nietzsche gnadenlos entlarvter Satz wie:
als zweitausend Jahren den Erbadel durch einen Bildungsadel zurückdrängte. Durch die bezeichnete Umwertung der
1 9, 30)27, ließe sich auch im Sinn der großen Are
Leute an die Macht, wie Nietzsche suggerierte, es wurde viel
sem großen Transfer zu Verzerrungen unter dem Einfluß des
»Viele Erste aber werden Letzte sein, und Letzte Erste<<
(Matthäus
nisse der alten Lernkultur China dagegenhält, das seit mehr
Werte gelangten nicht die Ressentiments kranker kleiner
te-Verschiebung lesen. Er könnte besagen, das Ranking, das
mehr die Mischung aus Faulheit, Ignoram. und Grausamkeit
die einzige erlaubte Siebt, ja nicht einmal die maßgebliche auf
ße ersten Ranges ausgebau t - der Hof von Versailles war nur
sich aus Gewalt- und Besitzverhältnissen ergibt, solle nicht
geistige Rangverhältnisse bleiben.
Ein Sklavenaufstand der Moral fand im alten Europa, ich wiederhole es, aus meiner Sicht zu keiner Zeit statt. In Wahr
heit vollzog sich eine Umwertung der Werte bei der Tren
(arete, virtu),
wie sie bei den
Griechen noch undenkbar gewesen wäre, eine Trennung, die
bis in die verblasenen Endspiele der europäischen Aristokra tie im
19.
die Spitze eines Archipels nobler Unbrauchbarkeit, der Eu ropa überzog -, und erst die von Bürgern und Virtuosen ge
Aristokratie oder Meritokratie
nung von Macht und Tugend
bei den Erben lokaler Macht zu einer psychopolitischen Grö
Jahrhundert weiterwirkte. Die wirkliche Sünde
wider den Geist der positiven Asketik beging die alteuro
päische Gesellschaftsordnung nicht durch ihre Christianisie
tragene neo-meritokracische Renaissance zwischen dem r 5.
und dem
19. Jahrhundert
hat dem Erbadelsspuk in Europa
allmählich ein Ende bereitet, sofern man von den immer noch virulenten Phantomen der
Yellow Press absieht.
Erst seither läßt sich wieder sagen: Politik als europäische
Lebensform bedeutet den Kampf und die Sorge um das Rah
menwerk der Institutionen, in denen sich die wichtigste aller
Emanzipationen vollziehen kann - die Emanzipation der
Differenzen, die durch Leisrungen entstehen und kontrolliert
werden, von den Differenzen, die durch Unterwerfung, Herrschaft und Privileg geschaffen und weitergegeben wur
den. Unnötig zu betonen, daß die erwähnte Gruppe der
rung, sondern durch den Teufelspakt mit einem Stände
Übermörder keine Politiker waren, sondern Exponenten ei
system, in dem vielerons ein Adel ohne virtu obenauf kam.
nes orientalischen Machtkonzepts, das neben der Unterwer
Dabei setzte sich eine nicht-meritokratische Ausbeutungs-
fungskunst keine zweite Disziplin anerkennt. Sie wollten von
26 Hugo Ball, Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Hans Burkhard Schlichting, Frankfurt am Main 1984, S. 301. 27 Nach der Übersetzung von Vinzenz Hamp, Meinrad Stenze!, Josef Kürzinger, Wien/Sr. Pölten 1966.
da sie vom Wesen der Differenzen nur so viel zu sehen be
der europäischen Definition des Politischen nichts wisssen,
kamen, wie Klassen- und Rassentheorien erklären. Solche
Theorien sind seit jeher mit B lindheit geschlagen, sobald es
u m die Genese der Differenz aus Tüchtigkeitsstufen geht.
2
208 2
»KULTUR IST EINE ÜRDENSREGEL«
LEBENSFORMEN-DÄMMERUNG, ÜISZIPLINIK
209
»Kultur ist eine Ordensregel•
gruppen zu verstehen. Auch die Stufungsphänomene inner halb der Welten von Wissenschaft, Verwaltung, Schule, Gesundheitswesen und politischen Parteien, um nur diese Bereiche zu nennen, liegen weit außerhalb dessen, was man mit den plumpen Greifarmen einer von Herrschaftsunterstel lungen gesteuerten Theorieanordnung zu fassen bekommt.
Nicht-herrschaftliche Stufungen Nach den ersten Exkursionen ins Vorfeld einer Analyse der Vertikalspannungen dürfte nachvollziehbar sein, warum jede
Kulturtheorie für einäugig zu halten ist, die nicht auf die
Tendenzen des kulturellen Lebens zur Ausbildung interner Mehrstöckigkeit achtet - und zwar nicht nur in Abhängigkeit
von politischen Hierarchien. Ich will mit dieser These nicht die leidige Debatte um die sogenannten »Hochkulturen«
wieder anfachen, um die es in den letzten Jahrzehnten aus
verschiedenen Gründen auffällig ruhig geworden ist. Viel
Zur allgemeineren Bestimmung der stufenbildenden Kräfte
als Figuren im Feld einer politischen Psychologie des thym6s (Stolz, Ambition, Geltungswille) habe ich vor kurzem in meinem Buch Zorn und Zeit halbwegs ausführliche Unter
suchungen vorgelegt.28 Die nco-thymotische Analyse, in die
platonische,
hegelianische
und
individualpsychologische
Motive einfließen, beschreibt das soziale Feld als ein ebenso
sehr stolzbewegtes wie gierbewegtes System. Zwar können
Stolz
(thym6s)
und Gier
(eros)
ihrer antithetischen Natur
zum Trotz erfolgreiche Bündnisse miteinander schließen,
die Stolzprämien jedoch, Prestige und Selbstachtung, und
mehr ist mir daran gelegen, eine ethisch kompetentere und
die Gierprämien, Aneignung und Genießen, fallen in deutlich
empirisch adäquatere Alternative zu der grobschlächtigen
getrennte Bereiche.
Herleitung aller Hierarchie-Effekte oder Stufenphänomene aus der Matrix von Herrschaft und Unterwerfung zu entwik keln.
Ein solches Unternehmen drängt sich auf, seit die moderne
»Gesellschaft« nach zweihunder�ährigem Experimentieren
Ich zeige im folgenden umrißhaft, wie die Umstellung von einer Theorie der Klassengesellschaft (mit Vertikaldifferen zierung durch Herrschaft, Repression und Privileg) zu einer
Theorie der Disziplinengesellschaft (mit Vertikaldifferenzie
mit egalitären wie neo-elitären Motiven in ein Stadium ein
rung durch Askesis, Virtuosität und Leistung) vollzogen wer
ganzen Konsequenzen zu ziehen und ihre Resultate zu be
dieser Operation ziehe ich im ersten Durchgang Ludwig
getreten ist, in dem es möglich wird, aus der Versuchsreihe im werten. Paradigmatisch für die neue Lage ist das Auftauchen des Sportsystems im
20. Jahrhundert - die oben so genannte
»athletische Renaissance« -, das eine Fülle von Schlüssen
auf eine nicht-herrschaftliche Stufungsdynamik ermöglicht.
Ebenso stimulierend wirkt die Ausbildung einer nicht-aristo kratischen Prominenzökonomie, ohne deren Untersuchung
den kann. Als philosophische und ideenhistOrische Mentoren
Wirrgenstein und Michel Foucault hinzu - den einen, weil er mit seiner Aufmerksamkeit auf die Einbindung der Spra che in Verhaltensfiguren (>>Sprachspiele«) der modernen So
ziologie ein wirksames Instrument zur Offenlegung manife
ster und latenter Ritualstrukturen an die Hand gegeben hat, den anderen, weil ihm bei seinen Untersuchungen über die
man keine Chance hat, die im öffentlichen Raum wirksamen Antriebskräfte zur Vertikaldifferenzierung moderner Groß-
28 Frankfurt am Main 2006.
210
1 Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
2
,.Kultur ist eine Ordensregel«
211
Verschränkun g von Diskursen und Disziplinen der Durch
sehe Arbeiten gezeigt haben , in welchem Maß Wirtgens tein s
Denunziation gelungen ist- und damit der Ausstieg aus einer langen Geschichte ideologischer Mißverständnisse, die letzt
seine Bestrebungen nach ethischer Vollkommenheit reichten.
Revolution zurückweisen. Unter dieser doppelten Anregung
ben.30 An Paul Engelmann, den Freund der Wiener Jahre,
bruch zu einem Verständnis von Macht jenseits der simplen
lich auf pathogene Hinterlassenschaften der Französischen
klärt sich zugleich die Richtung, in welche die nächsten Schritte zu tun sind: über Wittgenstein hinaus, indem man
von der Sprachspieltheorie zu einer universellen Übungs
und Aske setheorie weitergeht, über Foucault hinaus, indem
man seine Analyse der diskursiven Formen zu einer ent
grenzten Disziplinik fortbildet.
Wittgensteins Ordensregel Den Ausgangspunkt finde ich in einer kurzen, für den ersten
Blick etwas mysteriösen Notiz, die Wirtgenstei n im Januar
r949, zwei Jahre vor seinem Tod, einem seiner Hefte anver traute: »Kultur ist etne Ordensregel. Oder setzt doch eine Ordensregel voraus.«29 Das Auftauchen eines Worts wie
»Ordensregel«
im Vokubular
des
Philosophen könnte fürs
erste befremdlich wirken. Es gibt in seiner Lebensweise in
Cambridge
wenig Anhaltspunkte für monastische Analo
gien, es sei denn, man wollte die unverweslichen akademi
schen Rituale als solche gelten lassen.
Der aparte Ausdruck
erscheint etwas weniger erstaunlich, seit jünge re biographi-
29
Ludwig \VJttgenstein, Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß, herausgegeben von Georg Henrik von Wright,
neu bearbeitet durch Alois PicbJer, Frankfurt am Main 1994, S. 149. Vgl. Thomas Macho, »Kultur ist eine Ordensregel.« Zur Frage nach der Lesbarkeit von Kulturen als Texten, in: Gerhard Neu mann, Sigrid Weigel (Hg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissen schaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000,
S. 223-244.
Leben von religiösen Motiven durchdrungen war und wie tief
»Natürlich will ich vollkommen sein!« soll er in jungen Jah
ren auf eine kritische Frage einer Freundin
schrieb er in
einem
geantwortet ha
Brief zu Neujahr 1921: »Ich hätte mein
Leben zum Guten wenden soLlen und ein Stern werden. Ich
bin aber auf der Erde sitzen geblieben und nun gehe ich nach
und nach ein.<<31 Nach dem Zeugnis von Bertrand Russell hat
Wirtgenstein um r919 mit dem Gedanken gespielt, in ein
Kloster einzutreten - er hatte den Tractatus ein Jahr zuvor beendet und begriffen, daß er kaum Resonanz erwarten durf te. 1926 arbeitete er - nach seinem demütigenden Scheitern als Volkschullehrer in der Österreichischen Provinz - für eine
Weile tatsächlich als Gärtner im Kloster der »Barmherzigen
Brüder« in H üttel dorf bei Wien. Die bezeichnendste Aussage
Wittgensteins zu religiösen Dinge n findet sich in einer Notiz
aus dem Jahr 1948:
»Der ehrliche religiöse Denker ist wie ein Seiltänzer. Er
geht, dem Anscheine nach,
beinahe
nur auf der Luft.
Sein Boden ist der s chmalste, der sich denken läßt. Und
doch läßt sich auf ihm wirklich gehen.«32
Ich füge diese zerstreuten Beobachtungen zu der These zu
sammen, es handle sich bei Wittgenstein um den seltenen Fall
eines inversen Akrobaten, dem das Leichte schwieriger er schien als das Unmögliche. Naturgemäß bewegte sich auch
seine Kunst auf einer Vertikalachse, jedoch gehört der Den
ker, falls man ihn auf der Jakobsleiter plazieren dürfte, ganz eindeutig zur Gruppe der abwärtssteigenden Engel - die ge-
30 31 J2
Eckhard Nordhofen, Der Engel der Bestreitung. Über das Ver hältnis von Kunst und negativer Theologie, Würzburg 1993, S. 144.
Paul Engelmann, Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen, Wien/München 1970, S. Jl· Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, a. a. 0., S. 141.
212
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
falleneo bleiben hier außer Betracht. Wenn der pjährige Autor im Brief an Engelmann schrieb, er häne ein Stern wer den sollen, darf man stan »werden« vielleicht »bleiben« lesen. Wer würde ein Stern werden wollen, wenn er nicht von ir gendwoher die Überzeugung mitbrächte, ein solcher einmal gewesen zu sein? Dieser starke Beobachter kommt von sehr weit oben - er begreift mit der Zeit, daß es ein Fehler ist, sich an eine zu hohe Herkunft zu erinnern, wenn man nun einmal in der Ebene existieren soll. Was Existenz in der Ebene bedeuten kann, verrät ein Satz aus einem Brief an Engelmann aus dem Jahr 1925: »Wohl fühle ich mich nicht, aber nicht, weil mir meine Schweinerei zu schaffen machte, sondern innerhalb der Schweinerei.«33 Die vielzitierte Wittgensreinsche »Mystik« isr die Spur eines Ankunftsbcfremdens, das nie ganz aufhört - in der unelegan ten Terminologie der Psychiatrie wäre vermutlich von einer schizoiden Struktur zu sprechen. Einem solchen Zugewan derten erscheint an dem, was hier der Fall ist, nicht dieses und jenes erstaunlich, sondern die Gesamtheit dessen, was vor liegt. Seine Daseinskurve beschreibt den langen Kampf u m
eine erträgliche Ankunft auf dem Boden der Tatsächlichkeit ohne allzu großen Verlust an mitgebrachter Luzidjtät. Die Dinge, wie sie sind, zu erfassen, und die unvermeidljchen Lebensvollzüge auszuführen, wie sie nach der lokalen Gram
matik eben auszuführen sind, ohne noch tiefer in »Schweine rei« zu geraten - darin mag Wirtgensteins Übungsziel bestan den haben. Daher die trotzig resignierte Notiz aus dem Jahr 1930: ,.wenn der Ort zu dem ich gelangen will nur auf einer
Leiter zu ersteigen wäre, ich gäbe es auf dahin zu gelangen.
Denn dort wo ich wirklich hin muß, dort muß ich eigentlich
2 •Kulrur isr eine Ordensregel•
213
Wie sehr sich Wingenstein zu einer bodenturnerischen Auslegung
�es Daseins überreden wollte,
zeigt ein Eintrag
von 1 937: »Uber sich schreibt man, so hoch man ist. Da steht
man ojcht auf Stelzen oder auf einer Leiter sondern auf den bloßen Füßen.«35 Andererseits kann sich der Autor vorstel
len, wie es wäre (von der Sünde, der Realität, der Schwer kraft) erlöst zu sein: Dann würdest du nicht mehr auf der Erde stehen, sondern am Himmel hängen - was freilich ein externer Beobachter nicht ohne weiteres unterscheiden könnte, da das Hängen am Himmel und das Stehen auf der Erde von außen praktisch dasselbe Bild ergeben.36 Daß es darauf ankomme, nach dem Abstieg in die Existenz so glück lich zu werden, wie es einem zur Verzweifung Berufenen möglich ist, bleibt Wirtgensteins Überzeugung bis zuletzt
>>Steige nur immer von den kahlen Höhen der Gescheitheit
in die grünenden Taler der Dummheit.«37 Solche Prämissen erlauben kein philosophisches Projekt im üblichen Sinn des Worts mehr, sofern die Philosophen bis dahin immer den aufsteigenden Engeln auf der Leiter Gesellschaft leisten woll ten. Für Wirtgenstein war das evident - es wäre zu wünschen gewesen, seine Plünderer in den Hochburgen der Analyti schen Philosophie hätten das ebenso klar gesehen. Fragt man unter diesen Voraussetzungen, was der Satz »Kultur ist eine Ordensregel. Oder setzt doch eine Ordens regel voraus« - geschrieben von der Feder eines 6ojährigen bedeutet, so fällt zunächst auf, wie sorglos, um nicht nach
lässig zu sagen, der Autor hier das Wort »Kultur« verwendet'
ausgerechnet er, der überall sonst einen siebenten Sinn zur Aufspürung
von
verborgenen
Mehrdeurigkeiten
unter
gleichlautenden Oberflächenformulierungen an den Tag leg
mich nicht.«34
te. Alles spricht dafür, daß es ihm im Augenblick nicht so sehr auf das Wort »Kultur« ankam, unter dem er die Hohlräume
33 Allan ]anik/Stephen Toulmin, Wirtgensteins Wien, Mü.nchen 1984, s. 316. 34 Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, a. a. 0., S. 3 1 .
3 5 Ibid., S. 73 36 Ibid., S. 74f. 37 Ibid., S. '45·
schon sein. Was auf einer Leiter erreichbar ist interessiert
r
1 Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
sofort gespürt hätte, wenn er härte nachfragen wollen, son dern um den Ausdruck ..Ordensregel«. Auf diesen fäUt trotz seines aparten Klangs unmißverständlich der stärkere analy tische Akzent. Sein Sinn stand Wingenstein klarer vor Augen: Eine solche Regel drückt eine der suggestivsten Annäherung an das aus, was er unter einer Grammatik versteht - sie bildet einen Set von nicht weiter begründungsfähigen Vorschriften, deren Summe eine Lebensform, den monastischen way oflife, ergibt, sei es im pachomischen, augustinischen, cassianiscben, benediktinischen, franziskanischen Stil usw. Will man begrei fen, was es heißt, eine Regel zu befolgen - und das ist für den späteren Wittgenstein die chronisch wiederkehrende Frage -, genügt es, sich vorzustellen, wie man leben würde, träte man in einen religiösen Orden ein. Was dessen Spezifik prägt und wie die Regel aufdie Praktizieroden wirkt, erschließt sich nur dem, der sie sich zu eigen macht, indem er selber die mön chische Lebensweise wählt. Der Wittgensteinsche Mönch bliebe allerdings dazu verurteilt, die Rolle des Ethnologen seines Ordens zu übernehmen, weil er aus psychischen Grün den unfähig bliebe, in der kollektiven Lebensform aufzuge ben. Er wäre zudem ein Ethnologe, dem von den Eingebo renen ein Streich gespielt wird - er schlösse sich ja einem Stamm an, in dem es keine Eingeborenen gibt, sondern nur beigetretene Mitglieder wie ihn selbst. Die Besonderheit einer Ordensregel - und damit fängt Wirtgensteins Satz an, problematisch zu werden - liegt darin, daß sie den Mönchen (an Nonnen wird der Autor kaum ge dacht haben), egal um welche Vorschrift es sich im einzelnen handelt, auferlegt, jeden Schritt, jeden Handgriff mit medita tiver Bedachtsamkeit zu tun und jedes Wort mit Besonnen heit zu sprechen. Ob es um die Form der Tonsuren geht, die Kleiderordnung, die Küchendienste, die Tätigkeiten in den Klostergärten, die Anordnungen über die Einrichtung der Schlafsäle und das Verhalten der älteren und jüngeren Mön che darin, die Einteilung der Schlafzeiten, die heiligen Lesun-
2
•Kulrur isr eine Ordensregel•
215
gen, die Versammlungen zum Gebet, die Arbeit in den Schreibstuben, die Anlage der Vorratsräume und der Speise säle und so weiter- die konkreten Regeln sind eingebettet in die Regel aller Regeln, wonach der Mönch nicht den kleinsten Handgriff bloß aus dumpfer Gewohnheit ausführen dürfe, sondern in jedem Moment auf die Unterbrechung der Ab läufe durch einen aktuellen Befehl des Oberen gefaßt sein müsse - als ob er jederzeit damit rechnete, daß der Erlöser das Gelände betritt. Johannes Cassian insistierte darauf, ein Schreibermönch, den sein Oberer zur Tür ruft, schreibe den begonnenen Buchstaben nicht zu Ende: vielmehr springe er auf, um ganz für den neuen Auftrag bereit zu seio.38 Das Ordensleben unterscheidet sich vom gewöhnlichen Leben also in dreifacher Hinsicht: Zum einen impliziert der Eintritt in einen Orden die Zustimmung zu dem Kunstsy stem aus sorgfältig hingeschriebenen Regeln, die das mona stische Leben dieser oder jener Observanz animieren. Hin gegen wächst man in die gewöhnliche Kultur hinein, ohne je gefragt zu werden, ob man sich ihren Regeln umerziehen möchte - ja, meistens ohne jemals darüber nachzudenken, ob es überhaupt eine regula für die lokalen Lebensformen gebe. Zum anderen erzeugt das Leben hinter Klostermauem ein aus Wachsamkeit und Bereitschaft zu beliebigen Aufga ben gebildetes Sonderklima, das so in keiner Lebensform der nicht-monastischen Sphäre anzutreffen ist - »Gehorsam• und ..Frömmigkeit« sind Metaphern für totale Verfügbarkeit. Der Grundrhythmus der klösterlichen Existenz wird aus ei nem kalkulierten Wechselspiel von praktischen Aufgaben und kultischen Unterbrechungen erzeugt - auf diese Weise bezeugen die Hände die klosterkommunistische Maxime: Ar beiten ist gut, beten ist besser. Schließlich fällt in der Kloster kultur das stärkste Merkmal der profanen Kultur beseite, die Arbeitsteilung der Geschlechter und die Sorge um die Über3 8 Vgl. Thornas Macho, »Kultur is1 eine Ordensregel•, a. a. 0., S. 229.
lf
216
I Oie Eroberung des Unwahrscheinlichen
tragung der bestehenden Lebensformen auf die kleinen Bar baren, die aus dem Verkehr der Geschlechter hervorgehen.
1
•Kultur ist eine Ordensregel«
217
der Exerzitium wird. Deo Grund für diesen Wandel findet man in seinem sezessionistischen Kulturbegriff. Ohne Mühe ist aufzuzeigen, daß er zu Wittgensteins nie aufgegebenem österreichischem Erbe zählte.
Kulwr entspringt atts Sezession
Was eine Sezession ist, wußte Wirtgenstein von Kinder tagen an, da die Abspaltung der Künstlergruppe um Gustav
WittgensteLn wollte offensichtlich auf etwas anderes hinaus.
KJimt, Kotoman Moser und Josef Hoffmann von dem histo
Wenn er notiert: ,.Kultur ist eine Ordensregel«, ist die Bedeu
ristisch geprägten konservativen Wiener Künstlerverein im
tung von ,.Kultur« auf einen fein gesiebten Rest zusammen
Jahr r897 eines der Hauptereignisse des Wieocr Fin-de-siede gebildet hatte. Kar! Wittgenstein, 1 847-19 t3, der Vater des
geschrumpft. Auf keinen Fall darf alles, was überhaupt an Lebensformen in ..Gesellschaften« vorkommt, Kultur bei ßen, sondern nur das, was in punctO Explizicheit, Strenge,
Philosophen, ein Stahlindustrieller und Musikmäzen, rech
nete zu den wichtigsten Sponsoren der Sezession, nicht nur
Wachsamkeit und Reduktion aufs Wesentliche mit dem Da
bei der Errichtung des Gebäudes am Karlsplatz, sondern
sein unter einer Ordensregel verglichen werden kann - und
auch durch die persönliche Förderung einzelner Künstler.
was einen modus vivendi erlaubt, für den die Entlastung von
Als KJimt 190 5 mit seiner Trennung von der Sezession eine
den Folgen der Sexualität das erste und letzte Kriterium aus
zweite Absetzbewegung inszenierte, war der junge Wirtgen
macht. Es spielt luer keine Rolle, daß die sakral klaren und
stein sechzehn Jahre alt, zum Zeitpunkt des Erscheinens von
elitär deutlichen klösterlichen Regeln letzdich ebenso in Willkür gründen wie die Festsetzungen einer beliebigen
Adolf Loos' epochemachender Seitrift Ornament und Ver brechen neunzehn. Man darf annehmen, spätestens von die
Grammatik natürlicher Sprachen. Entscheidend ist allein
sem Moment an sei der Begriff Kultur unwiderruflich mit
die separatistische Dynamik des Lebens unter der RegeL
dem Phänomen Sezession verschmolzen, bei dem jungen
Wittgensteins Verwendung des Begriffs »Kultur« läßt keinen
Mann nicht anders als in der jungen Wiener Kulturszene.
Zweifel aufkommen: Kultur im anspruchsvollen Sinn des
Dazu gehört die Erfahrung, daß eine Sezession nicht genügt,
Wortes entsteht in seinen Augen erst durch die Absonderung
um dem Impuls zur Absetzung vom Gewohnten treu zu blei
der wirklich Kultivierten von der sonstigen sogenannten
ben. Nur das ständige Weitergeben in der Distanzierung vom
»Kultur«, diesem konfusen Aggregat aus besseren und
Elend der Konventionen kann die Reinheit des modernisie
schlechteren Gewohnheiten, die in ihrer Summe kaum mehr
renden Projekts bewahren -daraus geht die Dauersezessions
als die übliche ,.Schweinerei« ergeben.
rhythmik der Kunst des 20. Jahrhunderts hervor, die solange
Von hier aus ist leichter zu erklären, wieso \Xlittgenstein zu
in Gang bleibt, bis nichts mehr übrig ist, wovon man seze
einem der wenigen Autoren der Moderne zählt - vielleicht
dieren könnte. Tatsächlich war Laos schon früh einer der
dem einzigen von Rang in der Zeitspanne zwischen Nietz
schärfsten Kritiker der ersten Sezessionsästhetik. Er sah in
sche und Foucault, Heidegger ausgenommen -, bei dem die
ihr nicht mehr als die Ersetzung eines Kitschs durch einen
Rückverwandlung der Philosophie von einem Schulfach in
anderen - des vulgären Ornaments durch ein gesuchtes.
eine engagierende Disziplin zu beobachten war. An seinem
Wie Allan Janik und Stephen Toulmin gezeigt haben, wa
Beispiel ist abzulesen, was geschieht, wenn aus Studium wie-
ren der Wicner Moderne insgesamt sezessionistische Morivc
218
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
im weitesten Sinn des Worts eigen. Für ihre Protagonisten bestand die kulturseihende Geste im Austritt aus dem System der Konventionen, in denen das aristokratisch-bürgerliche Publikum der Reichshauptstadt schwelgte. Gleich, ob es
um Architektur, Malerei, Musik oder Sprache ging, auf jedem Feld konstituierte sich die Gruppe der Modernen durch eine
sezessionistische Operation - durch die Absetzung der Puri
2 "Kult-ur ist eine Ordensregel«
219
diesem Unterschied erst die Kultur Spielraum hat. Die
andern aber, die Positiven, teilen sich in solche, die die
Urne als Nachttopf, und die den Nachttopf als Urne gebrauchen.«41
Die späte Notiz »Kultur ist eine Ordensregel« setzt immer noch die angreiferische Reduktionsethik und die zukunftpo
stulierende Stimmung des formalen Purismus der frühen Wie
sten von den Ornamentierern, der KonstrUktivisten von den
ner Moderne voraus. Die bizarren Nebentöne der Wingen
matiker von den Schwätzern. Was die neuen Künstler verbin
erfaßt, auf dem die sezessionistische Grundhaltung beruht:
Schweigern, der Logiker von den Journalisten und der Gram det, ist die Aversion gegen jede Art von Zuviel. ln ihren Au
gen können Kultur und Kunst nur vorankommen dank einer radikalen Opposition gegen die von Kar! Kraus so bezeich
steinschen Bemerkung klären sieb auf, wenn man das Paradox Demnach ist ein glaubhafter Aufstieg in der Kultur allein
durch den Abstieg zu den elementaren Formen zu erreichen.
Für diese Form-Eiferer steht das Einfache über dem Kompli
nete >>Yerschweinung des praktischen Lebens durch das Or
zierten. Das Weglassen des Überflüssigen ist die ethische Tat.
setzung von Ornament und Verbrechen, die Loos in seiner
Die Rufe: »ZU den Sachen«, »zu den elementaren Lebensfor men«, »zum realen Gebrauch« sind für die Teilnehmer am
nament, wie Adolf Loos sie nachgewiesen hat«.39 Die Gleich
Schrift vollzieht, bringt das neue Ethos der vom wirklichen
Gebrauch der Dinge bestimmten formalen Klarheit vollendet zum Ausdruck- sie erinnert im übrigen daran, daß der Funk
großen Exodus aus der •>verschweinten« Sphäre gleichbedeu
tend. Durch diese Kampagnen, die phänomenologische wie die funktionalistische, die reduktionistische wie die positivi
tionalismus anfangs ein Moralismus war, genauer eine aske
stische, fallen ganze Welten aus »Ornamenten« - oder wie
Verantwortbaren näherzukommen suchte. Es würde nicht
künftig zählt, ist das Studium der primären Formen, der Gram
tische Praxis, die dem Guten durch das Weglassen des nicht
schwer fallen, den Loos-Faktor im logischen Habitus Witt gensteins en
detail nachzuweisen,
etwa wenn der Philosoph
notiert: »Ich behaupte, daß der Gebrauch die Form der Kul
tur ist, die Form, welche die Gegenstände macht . . . «40 Die
polemische Atmosphäre, in der sich die Suche nach der
man die Überflüssigkeiten nennen möchte - beiseite. Was
matiken und ihrer konstruktiven Prinzipien. Die Teilnehmer an dem Studium, das »Kultur« im neuen Sinn ermöglicht und
rechtfertigt, bilden eine Gruppe von Künstler-Asketen, die unter einer expliziten Regel leben. Für sie deuten Ethik, Ästhe
tik und Logik in dieselbe Richtung. Die Wiener Ordensregel ist
>>Form der Kultur« vollzog, bezeugt ein Aphorismus von
für die Entstehung einer neuen »Kultur« nur darum maßgeb
»Adolf Loos und ich, er wörtlich, ich sprachlich, haben
lich, weil sie in jeder einzelnen Bestimmung gegen die Vor macht der verschweinten Verhältnisse Stellung bezieht. Der
Karl Kraus:
nichts weiter getan als gezeigt, daß zwischen einer Urne und einem Nachttopf ein Unterschied ist und daß in
39 Janik!Toulmin, Wittgensteins Wien, a. a. 0., S. 129. 40 Ibid.
Stil ist quasi neo-zisterziensiscb,
depouruu, begründet durch
die Trinität von Klarheit, Einfachheit und Fuokcionalität.
41 Kar! Kraus, Nachts (zuerst 1 9 1 9), in: Ich bin der Vogel, der sein Nest beschmutzt. Aphorismen, Sprüche und Widersprüche, Wies
baden 2007, S. 363.
220
I
Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
:t
ist, da sind die Reformer am Ende ihrer Geduld mit den vor gefundenen Tatsachen. Sie wollen weder die gewohnten Ver hältnisse mehr sehen noch ihre Abbilder. Die Stunde der Zuwendung zu den Vorbildern hat geschlagen. Das Vorbild bildet das Leben nicht ab, es geht ihm voraus. Man kann geradezu von der Geburt der Philosophie aus dem Geist der Sezession zu den Vorbildern sprechen - nicht ganz zufäl lig lag Platons im Jahr 387 gegründetes athenisches Lehrhaus - dessen Betrieb bis zur Zerstörung durch Sulla im Jahr 86. v. Chr. stetig fortgeführt wurde - dezentral, eine knappe Meile nordwestlich von der Innenstadt entfernt, sehr passend frei lich neben einer größeren Sportstätte, dem Gymnasien, das offenkundig bald in den Lehrbetrieb einbezogen wurde. Eine Schulgründung impliziert die Absage an den Schick salskitsch - sei er spätathenisch oder späthabsburgisch. Sie er fordert die Umwandlungvon Schicksalsfragen in Aufgaben der Disziplin. Schon Placon hatte die Tragödie abgelehnt, weil er in ihr die moralische »Verschweinung« witterte: Statt anderen Leuten bequem und sentimental beim Untergang in ihren Ver strickungen zuzusehen, wäre es verdienstvoller, sich um die eigenen Fehler zu kümmern und diese, einmal bewußt ge macht, nach bestem Wissen zu korrigieren. Man darf geradezu sagen, die Schule beruhe auf der Erfindung des ,.Fehler�« - der Fehler ist ein säkularisiertes, revidierbares Verhängrus, und Schüler ist, wer durch Fehler lernt und sich an ihrer Eliminie rung versucht. In diesem Punkt springt die Konvergenz zwi schen der sokratischen Grundhaltung, wie sie Nietzsche in seinen frühen Schriften herausgearbeitet hat, und Wirtgensteins Ansatz bei der fortgehenden Selbstklärung ins Auge. Auch für den Sprachanalyüker gibt es keine Tragik, »und der Konflikt wird nicht zu erwas Herrlichem, sondern zu einem Fehler«.�3
Form und Leben Ich bräuehre an diese Zusammenhänge nicht zu erinnern, wenn nicht die Figur der Sezession, unabhängig von ihrer Wiener Geschichte, für alles bedeutsam würde, was im fol genden über die Organisationsformen des übenden Lebens auch in seinen älteren und ältesten Manifestationen gesagt wird. Ln der Sezessionsgeste als solcher drückt sich bereits der Imperativ aus, ohne den es keinen •Orden«, keine Re form, keine •Revolution« je hätte geben können: Du mußt dein Leben ändern! Hierbei wird die Voraussetzung gemacht, das Leben habe etwas an sich, zu dessen Veränderung der Einzelne eine Kompetenz besitzt - oder erwerben kann. 1937 notierte Wittgenstein: »Daß das Leben problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. Du mußt dann dein Leben verändern, & paßt es in die Form, dann verschwindet das Problematische.«�2 Dem Glauben an die Möglichkeit einer besseren »Pas sung« zwischen Form und Leben liegt ein Form-Begriff zu grunde, der sich bis in die Gründungsphase der Philosophie bei Sokrates und Platon und in die Frühzeit brahmanischer Askesen zurückverfolgen läßt. Er drückt die Überzeugung aus, es gebe eine »gute Form« des Lebens, gleich ob sie aus den Wiener Werkstätten, aus der Athener Schule oder den Klöstern von Benares stammt, eine Form, deren Übernahme zur Entstörung der Existenz führen müsse. Die gute Form zu finden ist eine Design-Aufgabe, zu der ein moralisch-logi sches Exerzitium gehört. Nur weil die Philosophie selbst von Anfang an eine solche Aufgabe impliziert, kann sie »Schule machen« - die Schule als solche ist bereits ein Sezes sionsphänomen, bei Platon, dem Gründer der Akademie, kaum anders als bei den \'V'iener Modernen. Wo Sezession 4.1 Wittgenstcin, Vermischte Bemerkungen,
a. a.
221
•Kultur ist eine Ordensregel•
43
0., S. 6:t.
Wittgcnstcin, Vermi chrc Bcr_nerkungen, a. a. O. S. .3 5 · Zum Ver � _, hältnis zwischen Wmgenstem und der sokrauschen Lehre vgl. Agncsc Gricco, Die ethische ü?ung. Ethik und Sprachkritik bei Wittgcnstcin und Sokrates,
I
.......
Berlrn
1996.
222
I
Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
Sprechen wir offen aus, worauf diese Überlegungen zielen: Mit dem Nachweis, daß sich in Wirtgensteins Kulturbegriff ein scharf sezessionistisches Verständnis der »Arbeit« an den persönlichen Fehlern und an den Fehlern der kollektiven Be findlichkeit geltend macht, entfallen alle Möglichkeiten, ihn für die egalitaristische und relativistische Ideologie zu verein nahmen, die mit den diversen Varianten der anglo-amerika nischen Analytischen Philosophie einhergeht. In Wirklich keit dürfte Wittgensteins »Werk« die härteste Ausprägung des ethischen Elitismus verkörpern, die das 20. Jahrhundert kannte - Sirnone Weil vielleicht als einzige Reform-Eiiristin von ebenbürtiger Statur ausgenommen. Sein sezessionistisch elitärer Ansatz reicht in solche Tiefen, daß der Autor sich am liebsten sogar von sich selbst und seinen vermischten »Schweinereien« zurückgezogen hätte, wäre dies möglich ge wesen. Ist Wittgensteins unerbittlicher Elitismus offengelegt -der im übrigen so radikal ist, wie er unpolitisch und ahisto risch ist -, so affiziert dies nicht nur das Verständnis seines erfolgreichsten Theorems, der Lehre von den »Sprachspie len«, auch auf Wirtgensteins Rolle als Lehrer fällt ein stark verändertes Licht.
Sprachspiele sind Exerzitien: Die Ordinary-Language-Täuschung Nun wird unmittelbar einsichtig, daß die bis zum Überdruß zitierten »Sprachspiele« in Wahrheit Askesen oder besser: mikro-asketische Module darstellen, das heißt sprachlich ar tikulierte praktische Übungen, deren Ausführung üblicher weise durch Nachahmung erworben wird - ohne daß uns gesagt würde, ob es sich lohnt oder ob es wünschenswert sei, diese Spiele auszuführen. Evidenterweise klären die Kul turen selbst uns darüber nicht auf- sie sind in diesen Fragen zur Affirmation verurteilt. Daß auch die Sprachspiel-Theorie
2
»Kultur ist eine Ordensregel«
223
in djcsem Punkt ausweichend anrwortet, ist weniger akzepta bel. Dadurch verschweigt sie, wie in den meisten Sprachspie len die Nachahmung der »schweinischen« Üblichleiten an gelegt ist, indessen das Wesentliche, die Teilnahme an der Sezession, zumeist unausgesprochen und unverstanden bleibt. Mit dem gewöhnlichen Sprachspiel übt man das ei gentlich nicht Übenswerte ein. Man übt es nolens volens, in dem man tut, was alle tun, ohne nachzudenken, ob es wert ist, getan zu werden. Ein gewöhnliches Sprachspiel ist das alltäg liche, als solches nicht deklarierte Trajning der >>Schweine« und somit derer, denen es gleichgültjg bleibt, ob ihre Lebens form einer Prüfung standhält. Nur in den seltensten Fällen wird die Fähigkeit, an Sprach spielen teilzunehmen, durch den freiwilligen Anschluß an eine geklärte sezessionäre Lebensform erworben. Eine solche würde, wie Wirtgenstein in der zweiten Satzhälfte betont, eine explizite >>Ordenregel« voraussetzen - wobei das Wort »explizit« auf ein Form-Wissen oder Askese-Wissen Bezug nimmt, das entweder im Lauf von langen Experimenten mit dem übenden Leben destilliert wurde (wie in der Ära der Regula-Verfasser von Pachomius bis Isidor von Sevilla oder in den brahmanischen und yogiseben Traditionen) oder das inmitten einer Kulturkrise (wie im Wiener Fin-de-siede) durch radikalisiertes Design neu entwickelt werden mußte. Dann allerdings und nur dann heißt üben: sich mittels dekla rierter Askesen das Übenswene einverleiben. Übungen die ses Niveaus führen zu Sprachspielen und Lebensformen für Nicht-Schweine. Sie sind, so elementar sie scheinen mögen, die vollkommene Imprägnierung des Alltags durch die Arti stik. Die perfekte Darstellung der Normalität wird hierdurch zur akrobatischen Übung. Für Wittgenstein vollzieht sich auf dem Gipfel des Mount Improbable das ethische Wunder: daß Lebensformen durch logische Analyse und technische Re konstruktion geklärt werden können. Man muß dem späteren Wirtgenstein all seinen Bemühun-
224
I Die .Eroberung des Unwahrscheinlichen
gen um Demut zum Trotz ein gewisses Maß an Heuchelei
1.
225
•Kultur isr eine Ordensregel«
von dem, was er eigentlich vormachen wollte - die Lebens
attestieren, weil er meistens so rar, als wüßte er nicht, daß
form des Hetligen. Was an Wittgensteins Lehre »sich zeigt<<,
stenz in der trivialen und »schweinischen« Dimension ent
daß er nicht kann, wie er möchte, und nicht aufhört, zu wol
seine Sprachspiel-Theorie eine trübe Konzession an die Exi
ist, daß er nicht zeigt, worum es ihm geht - im übrigen auch,
hielt, von der sich fernzuhalten er gleichwohl nie aufgehört
len, was er nicht kann. Die gängige Wirtgenstein-Hagiogra
regeln, unter denen Ausnahmemenschen seines Schlags und
Volksschullehrer in Österreich I 920- I 926 mehr oder weniger
harte. In eigener Sache schielte er nach den geklärten Ordens
Sezessionisten gleichen Ranges würden leben wollen - und
phie räumt seit langem ein, ihr Held sei in seiner Rolle als
kläglich gescheitert. Aber daß Wirtgenstein als Hochschul
im Einklang mit ihren Ansprüchen vielleicht auch würden
lehrer ebenso und noch schlimmer, nämlich folgenreich, ge
»Sprachspiele«, aber man spürt, die Kutten sind aus dem
wegen, weil man den Autor insgeheim psychologisch exkul
leben können. Diese Formen nennen sich zwar ebenfalls
scheitert ist, wagt niemand auszusprechen - vermutlich des
berief, erlag sie einer
piert und im übrigen der Meinung ist, er habe, indem er global prominent wurde, ohnehin mehr erreicht, als ein homo aca
dig war. An der »gewöhnlichen Sprache« interessierte ihn nie
vor seinem Austritt aus dem Lehrbetrieb 1946 schrieb: »Ich
feinsten Stoff. Wenn sich die vor Jahren modische
Language Philosophy auf Wirtgenstein
Ordinary
Tauschung, an der der Meister selbst alles andere als unschul
demicus zu
träumen wagen durfte. Wenn Wirrgenstein kurz
ihre Gewöhnlichkeit. Das Kunststück hätte darin bestanden,
zeige meinen Schülern Ausschnitte aus einer ungeheuren
mus der Wiener Werkstätten zu spüren. Man hatte vergessen,
gab er implicite zu, sein Publikum über seine wirklichen Prä
durch das Wort
ordinary hindurch etwas vom Perfektionis
die englischen Parienten darauf hinzuweisen, sie sollten sich
über das Lob des Gewöhnlichen nicht zu früh freuen. Es war
Geist vom Geiste der großen Reform, daß man »gewöhnlich<<
sagte, wenn man >>außergewöhnlich« meinte. Man hätte den
Interessierten erklären müssen, was die Suche nach der quint essentiellen Gebrauchsform bedeutet, auf die Gefahr hin, den
Landschaft, in der sie sich unmöglich auskennen können«,44
ferenzen im unklaren zu lassen. Er hätte zur Erhellung der Landschaft, soweit es ihn betraf, mehr run können, doch er
zog es vor, noble Desorientierung anzubieten - als ob in Cambridge sein christlicher Perfektionismus eine ebenso un
gestehbare Privatsache gewesen wä.re wie seine zu jener Zeit
wenig geschätzte Homosexualität.
Ordinaristen die Party zu verderben. Wer je seinen Mantel an
einen Adolf-Loos-Garderoben-Haken gehängt hat, besitzt
Was sich zeigt
einen Maßstab, der sich nicht vergißt. Sieht man dann, woran die britischen und amerikanischen Kollegen ihre Sachen hän
gen, kann man sie nie wieder ernst nehmen.
Ohne Zweifel ist die subtile Verlogenheit der Sprachspiel
Das Fehlen einer expliziten Kritik an Wirtgensteins Rolle als Hochschullehrer stellt in meinen Augen ein Indiz dafür dar,
Theorie das Geheimnis ihres Erfolgs. An ihr wird überdies
daß seine Schüler über die Zweideutigkeit des Lehrers hin
als »Lehrer« »sich zeigt«. Zwar weiß er, daß Lehren Vorma
man mir der halben Lektion erreichen konnte, zeigen die seit
ist, die sprachlogische Analyse, ist himmelweit verschieden
44 Wingenstein Vermischte Bemerkungen, a. a. 0., S.
etwas deutlich, was ansonsten nur an Wirtgensteins Habitus
chen heißt, aber was er als Virtuose vorzumachen imstande
wegsahen und sich mit der halben Lektion begnügten. Was
,
1 1 1.
r
1 Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
2 ,.Kultur ist eine Ordensregel«
227
mehr als fünfzigJahren dominierenden Trends in der neueren Universitätsphilosophie diesseits und jenseits des Atlantiks. Überall hat das Paradigma des vor Scharfsinn strotzenden Denksportlers und des präpotenten Epistemologen, das Witt genstein durch seine akademische Persona mitbegründet hat te, die Oberhand gewonnen, während das, was dem Denker wirklich am Herzen lag, aus den Themenlisten der analyti schen Seminare so gut wie völlig verschwunden ist. Wirtgen stein muß selbst bemerkt haben, daß auf dem Weg des »Es zeigt sich« etwas ganz anderes als das Gewünschte ans Licht kam. Das Ideal der direkten Vorbildwirkung war längst kol labiert, als er 1947 notierte: »Am ehesten könnte ich noch dadurch eine Wirkung erzielen, daß, vor allem, auf meine Anregung hin eine große Menge Dreck geschrieben wird, & daß vielleicht dieser die Anregung zu etwas Gutem gibt.«45 Man sucht in der Geschichte der Philosophie vergeblich nach einem zweiten Beispiel dafür, daß ein Denker seine Wir kung so präzise vorhersah. Zugleich resümiert der Satz die intellekruelle Katastrophe der zweiten Hälfte des 20. Jahr hunderts. Der >>Dreck«, von dem Wirtgenstein weiß, daß er ihn bald oder posthum provozieren werde, ist nichts anderes als die »Schweinerei«, der er mit seiner offiziellen späteren Theorie, der pseudo-neutralen Sprachspiele-Lehre, in die Hände arbeiten sollte. Wirtgensteins späte Zweideutigkeit drückt freilich nicht nur einen privaten Komplex aus. Sie be zeugt eine objektive Verlegenheit, die er nicht übersteigen konnte. Für ihn, den Überlebenden der späthabsburgischen Welt, waren die Uhren im November 1 9 1 8 stehen geblieben sie bewegten sich zeit seines Lebens nie mehr weiter. Bis da hin war er wie die übrigen Protagonisten der Wiener Moder ne seiner Zeit voraus gewesen - eingebunden in die asketisch formalistische Problemgemeinschaft derer, die zu der großen Reform aufbrachen. Nach dem Zusammenbruch der österrei-
Seit der Amputation seiner Welt ist Österreich ein Land ohne Wirklichkeit und Wirtgensteins re-importierte Philoso phie seine Lebensli.ige. Wirtgensteins Übertritt vom spät habsburgischen Österreicherrum in ein Designer-Christen tum a Ia Tolstoj mochte vor 1 9 1 8 einen Teil der von den Besten verspürten Unumgänglichkeit einer radikalen Re form symbolisieren. Nach 1 9 1 8 war eine solche Option nur noch ein Teil des nahezu universellen Versagens vor der Aufgabe, die Regeln für das Leben in einer nach-dyna stischen Welt zu formulieren. Hätte Wirtgenstein damals schon geglaubt, Kultur sei eine Ordensregel, er hätte im Blick auf die Not der Zeit versucht, eine solche zu verfassen oder an ihrer Redaktion mitzuwirken - wäre es auch nur in der unclegaoten Form eines Parteiprogramms oder eines Er ziehungskonzepts für nach-feudale Generationen. Er wich lieber in die überholte Welt der Österreichischen Land Volksschulen aus - ein Narodnik, der sich im Jahrhundert
45
46
Ibid., S.
121 f.
chiseben Welt verlor er jeden Zusammenhang mit den The men der Gegenwart und navigierte in einem Raum aus un datierten und unadressierten Problemen - hierin vielleicht nur Emile Cioran vergleichbar, der nach seinem Bruch mit den hysterischen Übenreibw1gen der frühen >>engagierten« Phase ebenfalls zu einer Art von exiliertem und dekontex twertem Widerstand gegen die Üblichkeiren des Daseins übergegangen war. Es würde sich lohnen, Wirtgenstein und Cioran unter dem Blickwinkel ihrer anachronistischen Exer zitien nebeneinanderzusteHen - beide erfinden etwas, wofür der Jüngere mit seinem ursprünglichen Buchtitel Exercises negatifs den richtigen Begriff gefunden hatte.46 Was Wirtgen stein in seinen britischen Jahren 1929 bis 1951 zustande brachte, bildet in der Summe ein tragisches Zeugnis für das kriegsbewirkte Stehenbleiben der kakanischen reformatio
mundi.
Siehe oben S.
127f.
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
geirrt hatte. Später trug er durch seine philosophischen Analysen dazu bei, den Österreichischen Modus des Aus weichens vor der Realität auf dem Umweg über Großbritan nien zu popularisieren. Die Sprachspiel-Lüge begann ihren Siegeszug durch die Seminare der westlieben Welt, ohne daß irgend jemand bemerkte, worauf die Tauscbung beruhte. Es war, als hätten amerikanische Baumärkte ausschließlieb Pro dukte des aristokratischen Formalismus a Ja Loos vertreiben
sollen - ohne Rücksicht darauf, daß Baumärkte unvermeid lich nur das Baumarkt-Übliche im Angebot führen. Durch die Art seines Stehenbleibens im Jahr 1 9 1 8 bat Wingensrein das geistige Stehenbleiben der Anglowelt nach r945 ideolo gisch mitbegründet: Nach außen die scheinbare Gleichwer tigkeit aller Lebensformen, analytische Fitness und liberales
anything goes, nach innen Heimweh nach den grünen Talern der Dummheit und Hierarchie-Gefühle einer Elite aus ver gangeneo Zeiten.
Deklan·erte Obungen
2
•Kultur ist eine Ordensregel«
229
heiten handeln. Dennoch kann Besessenheit von einer unbe wußt oder halbbewußt befolgten Regel nicht gut die richtige Art und Weise sein, wie Menschen sich zum Wahren und Richtigen verhalten. Daß die Bedeutung eines Worts sein rea
ler Gebrauch ist, mag ja sein, entscheidend ist die Läuterung des Gebrauchs. Hat nicht Adolf Loos das Eigenleben der Alltagsdinge minutiös studiert, um dann die trivialsten Ge genstände durch Utensilien von raffiniertester Vereinfachung und höchster Materialgediegenheit zu ersetzen? Und Witt genstein selbst - hat er nicht in dem Haus in Wien, das er für seine Schwester entwarf, sogar die scheinbar definitiv gegebenen Formen der Türklinken verworfen und eigene, neu gezeichnete an ihre Stelle gesetzt, Klinken, die durch ihre Form verrieten, ob die Tür nach außen oder nach innen öffnet? Die Konsequenzen aus diesen Analogien reichen weit: Tat sächlich können und sollen eine Vielzahl der nicht-deklarier ten Übungen in deklarierte umgewandelt und dabei geklärt werden. Das Gefälle zwischen der nicht-deklarierten und der deklarierten Übung gehört selbst zu den ersten ethischen Tat sachen. Diese Differenz rechtfertigt Wingensteins - gegen die aufklärerische Instrumentalisierung der Klarheit zugunsren
Ich möchte diese Diagnosen nicht als destruktive Kritik miß verstanden sehen, im Gegenteil: Die von Wingenstein ausge
des »Fortschritts« gerichtete-These von
benden Verzerrungen zu korrigieren ist keine unlösbare Auf gabe. Es genügt, an die sezessionistische Dynamik der Suche nach der guten Form zu erinnern, um zu begreifen, daß die
vorgebliche Selbstzweck ist in Wirklichkeit das Medium, in
Sprachspiel-Theorie eigentlich eine Trainingstheorie dar stellt, die auf dem - seinerseits nicht deklarierten - Unter schied zwischen deklarierten und nicht-deklarierten Askesen beruht. Die etnzelnen Sprachspiele sind mikro-asketische Module, die üblicherweise von den Spielern ausgeführt wer den, ohne daß sie wissen, geschweige denn bedenken, was sie
1930:
»Mir dagegen
ist die Klarheit, die Durchsichtigkeit Selbsrzweck.«47 Der dem die Umwandlung von besessenen Regelanwendungen in freie Übungen stattfindet. Der ethische Ur-Satz: »Du mußt dein Leben ändern!<< kann darum fürs erste nur dadurch befolgt werden, daß die Üben den sich ihre Übungen als Übungen, das heißt als den Üben
tun. Wenn sie handeln, wie man es ihnen beigebracht hat, sind
den engagierende Lebensformen, bewußt machen. Der Grund für diese Forderung ist evident: Wenn die Spieler sei-
sie gewissermaßen von der Grammatik Besessene, mag es sich auch nur um die milde Besessenheit durch Satzbau-Gewohn-
47 Wicrgcnstein, Vermischte Bemerkungen, a. a.
0., S. 3 1.
230
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
ber unausweichlich von dem geprägt werden, was sie spielen
und wie sie es spielen (und wie man ilmen zu spielen ein
2 »Kultur ist eine Ord�.:nsrcgcl«
lJI
der Schweige-Regel und ein durch die Jahrzehnte verzettel
tes Sprechen über das Was und Wie des Sprechens gewesen
gebläut hat), dann kommen sie nur auf die Kommandobrük
wäre.
verstrickt sind, als das klären, was sie sind. Folglich ist die
nötig ist, um einem Übenden klarzumachen, es komme dar
Positivismus«, wie der amerikanische Philosoph Brian Farell
nieren. Einen Diskuswurf bringt man nur zustande, indem
ke ihrer Selbstveränderung, indem sie die Spiele, in die sie Sprachspiel-Theorie kein Ausdruck von »therapeutischem 1946 mit der lnstinkdosigkeit des Baumärkte-Kunden be
hauptete - man versteht, wieso Wirtgenstein über diese Defi
nition >>aufs höchste verärgert war«.4s Sie ist die Arbeitsform
Von dem Schweige-Gerede bleibt nur soviel übrig, wie
auf an, die Übung auszuführen und nicht über sie zu raison man den Diskus wirft - und kein Gerede über Diskusse und über die richtige Art, sie zu werfen, kann den Wurf ersetzen;
auch die Biographie der Werfer und die Bibliographie der
des transformierenden Asketismus, und somit ethischer Se
Wurf-Literatur führen keinen Schritt weiter. Das ändert nicht
dem Durcheinander der vorgegebenen, unter situativem
könnte, die nach dem Stand der Kunst auszuüben wäre, falls
zessionismus in Aktion. Sie wird praktiziert mit dem Ziel, aus
Zwang einverleibten und unvermeidlich >>schweinerei«nahen
Lebensformen eine Auswahl an Spielen zu treffen, die in die geklärte »Ordensregel« übernommen werden. »Sprachspiel«
ist alles, der lebende Kristall und die Schweinerei, es kommt
auf die Nuance an.
das geringste daran, daß »Diskologie« eine Disziplin werden
es sie gäbe. Bei ihr bestünde die Ausführung darin, die
Sprachspiele, die zu dieser -logie gehören, lege artis zu prak
tizieren - warum nicht an einem Sonderforschungsbereich
für Wurf-Forschung und Human-Projektilkunde? Ob es nu n besser wäre, ein Diskurswerfer oder ein Diskologe zu sein, ist eine andere Frage. Sie zwingt zur Wahl zwischen
zwei Disziplinen, von denen jede auf ihre Weise gekonnt
\Vovon man nicht schweigen soll Damit erübrigt sich das unter Wittgensteinianern grassierende
Gerede über das Schweigen, das vorgeblich bei allem, worauf es im Leben wirklich ankommt, gewahrt werden müsse. Man
schweigt nicht, wenn es um Präferenzen geht. Auch in diesem Punkt führt die Suche nach der Quelle der Verwirrung zu
Wirtgenstein selbst. Er war in diesem sensitiven Punkt auf
werden will - oder sie resultiert in einer Fächerverbindung und führt zur Entstehung des athleta
doctus.
Die Wittgcnstcinsche Schweigerei enthält für sich genom
men keinen tieferen Sinn als Erich Käsencrs Vers »Es gibt
nichts Gutes IAußer: Man tut es«. Wer will, könnte sie auch
mit der Benediktusregel assozüeren, in der es im Abschnitt
Wie der Abt sein soll heißt:
»Wer also den Abtsnamen ange
nommen hat, muß seinen Schülern mit doppelter Belehrung
seine eigene Ideologie hereingefallen, indem er den für ihn
vorstehen; das heißt, er hat alles Gute und Heilige mehr durch
schon früh
attraktiven jesuanischen und monastischen
Werke als durch Worte zu zeigen.«49 »Religiös« aufgeladen
den Leugnung der Möglichkeit von Meta-Sprachen amalga
die Urszene des »Schweigend-die-Wahrheit-Verkörperns«
48 Janik!Toulmin, Wirrgensteins Wien, a. a. 0., S.
49 Die Bencdikrusregel, Lateinisch/Deutsch, Beuron 1006, 2, tJ-12, S. 84/85= id est omnia bona et sancta factis amplius quam verbis ostendar.
Schweige-Habitus suggestiv mit seiner logisch schwächelo
mierte - als ob nicht sein ganzes Werk ein einziges Brechen 195.
wird der Wittgensteinsche Habitus dadurch, daß in ihm
2J2
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
durchscheint, wie sie das Dastehen von Jesus vor Pilatus verkörpert. Das Verhalten des Philosophen wird vielleicht verständlicher, wenn man sich vorstellt, wie er permanent vor Pilatus steht. Dadurch ergibt sich ein bildlicher Kom mentar zu dem Satz: »Wittgenstein aber schwieg.« In Wirk lichkeit schwieg er nicht, er hielt im Gegenteil Vorträge durch ein Verhalten, wie es sich für einen Mann gehört, der über zeugt ist, die Welt sei der ideale Ort, um etwas zu zeigen. Über den Inhalt des zu Zeigenden wurde er sich nie so richtig klar. Weder konnte er den Schritt zu einer förmlichen Do zenten- und Trainer-Rolle tun, noch sich zu einer manifesten Guru- und Messias-Rolle entschließen. Er blieb im wichtig sten Punkt unentschieden, zum einen aus psychischen Grün den, zum anderen, weil er innerhalb seiner Lehre vom schweigenden Zeigen die beiden Aufgaben nicht trennte: die des Beispielgebens als technischer Meister und die des Sich-zum-Beispiei-Gebens als Lebenslehrer.
Asketalogische Dämmerung und Fröhliche Wissenschaft Wirtgensteins Unfähigkeit, den Unterschied zwischen Aske tik und Ethik zu explizieren -und die dadurch bedingte Ver wechslung von zeigendem Vormachen einer Übung mit schweigender Verkörperung des »Ethischen« -, hat zwar ein halbes Jahrhundert lang für Konfusion im Lager des ana lytischen Opportunismus gesorgt, aber sie bedeutet an sich kein unheilbares Gebrechen. Um es in den Ausdrücken des hier entwickelten Versuchs zu sagen: Wirtgensteins Werk gehört, wie das aller bisher behandelten Autoren, zu der im späteren 19. Jahrhundert einsetzenden Bewegung, die ich die asketologische Dämmerung nenne. Aus ihr müssen die Kon sequenzen gezogen werden - ich wiederhole meine Behaup tung, daß sie auf eine allgemeine Anthropotechnik hinaus laufen. Was der Autor hinterläßt, ist eine Fülle kohärent in-
2 •Kulrur isr eine Ordensregel•
233
kohärenter Studien zur Abklärung des Zwecks von übendem Verhalten. Merkwürdigerweise kJafft in seinem aktiven Vo kabular an der entscheidenden Stelle eine Lücke- ich kenne jedenfalls keinen Passus in seinen Schriften, an der das Wort >>üben« in mehr als beiläufiger Weise verwendet wird. Auch finde ich keinen Hinweis darauf, daß Wirtgenstein sich der etymologischen Identität von »Askesis« und }>Übung« be wußt war. Deshalb kann man vielleicht sagen, Wirtgensteins »Werk« sei um einen blinden Fleck, den fehlenden Grund begriff »Askesis<<, angeordnet. Sein expliziter Sinn für Gram matisches ist von seinem impliziten Verständnis für Asketi sches nicht zu trennen. Wirtgensteins Untersuchungen zur Vielfalt der Sprach spiele sind darum als Beiträge zur allgemeinen Asketologie zu lesen - als gesammelte Hinweise auf die Allgegenwart des praktisch-übenden Motivs in sämtlichen Feldern menschli chen Verhaltens. Die Mikro-Askese ist immer aktuell. Sie bleibt an allem beteiligt, was Menschen tun - j a sie reicht bis in die vorpersonale Zone, in die Idiolekte aller Körper teile, von denen jeder seine eigene Geschichte hat. Vor den Spielen und den Sprachspielen gibt es kein Entkommen - weil dem Gesetz des Übens nichts entgeht, ob es nun intentional geschieht oder in ich-fernen und absichtslosen Wiederho lungsreihen. Dag Alltag und Übung identisch sind, gehört z.u den stärksten Intuitionen des Sprachspiel-Denkens. Aber daß nicht aUes Alltäglicheper se in Ordnung ist und daß nicht jede Wiederholung eines eingeschliffenen Sprachspiels den Übenden voranbringt oder auch nur ihm nützt, gilt es gegen den Hauptstrom des nivellierten Sprachspiel-Geredes zu ver deutlichen. Im übrigen ist es nicht wahr, daß die Philosophie eine Erkrankung der Sprache wäre, die durch den Rückgang auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch geheilt werden könne. Das Hinhorchen auf die gewöhnliche Sprache lehrt eher das Gegenteil - sie ist häufig um vieles kränker als die Philoso phie, der sie vorgeblich Heüung bringt.
23 4
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
2 »Kultur ist eine Ordensregel«
23 5
Alles, was Wirtgenstein als Sprach-Ethiker und logischer
ihm untersuchten Disziplinen performative Systeme sind als
Sinn, wenn es als die bis dahin ernsteste Neuaufnahme des
Gruppe der Disziplinen, an denen er die Perfonnativität
Reformer zu Papier brachte, ergibt aus meiner Sicht nur
Nietzscheschen Programms der
Fröhlichen Wissenschaft
»Widerspiegelungen<< der Wirklichkeit. Wenn er für die
des wissenschaftlichen Wissens bzw. der Wissenseffekte er
Maß, wie sie zum Schaden der Dummheit ihre Klärungen
verstanden wird. Fröhlich ist diese Wissenschaft in dem
läutert, in seinem Buch Les mots et les choses ausgerechnet den Ausdruck episteme gebraucht, haben wir es mit einer
vorantreibt, ohne der Neigung zur fundamentalistischen
exquisiten Ironie zu tun - diesbezüglich nur mit dem Wort
Grämlichkeit zu erliegen, die sich üblicherweise mit reformi stischem Polernismus verbindet. Ich erlaube mir daher, Wirt
genstein für einen okkulten Nietzscheaner zu halten, nicht
nur auf der taktischen oder formalen Ebene, da er wie der
Autor von
Menschliches, Allzumenschliches
den besten Teil
seiner Erkenntnisse in Kleinattacken notierte, sondern auch strategisch, insofern er wie Nietzsche der Philosophie eine
>>Rationalisierung« vergleichbar, durch das die Psychoanalyse
die unter Wunschdiktat erfolgten logischen Zurechtlegungen
der Neurotiker charakterisiert. Analog hierzu bilden die Dis
ziplinen der
epsteme i
die diskursiven Zurechtlegungen der
Theorie-Machthaber, gleich, ob sie als Psychiater, als Ärzte, als Biologen, als Ökonomen, als Gefängnisdirektoren oder
als Juristen praktizieren. Infolge ihres performativen Status
Guerilla-Form verlieh und eine existentiell verbindliche
sind die »Diskurse<< zu jeder Zeit der Praxis-Machtgeschichte
rende Veränderung der Form des Lebens das Leben selbst von
tenzen.
transformative Analyse entwarf, mit dem Ziel, durch die klä Grund auf zu verwandeln.
ein Amalgam aus Wissenseffekten und exekutiven Kompe Deshalb könnte man Foucaults Arbeiten, wie sie sich von
den späten fünfzigerJahren bis in die mittleren siebziger Jah
re entwickelt haben, einen mit Heidegger potenzierten - und
Foucault: Ein Wittgensteinianer Wenn Wirtgenstein ein okkulter und unfreiwilliger Nietz
scheaner war, so trat Michel Foucault von Anfang an als des sen manifestes und freiwilliges Gegenstück hervor. Nichts
destoweniger kann man sagen, Foucault habe die Arbeit dort
aufgenommen, wo Wirtgenstein sie liegengelassen hatte - bei
dem Nachweis, daß ganze Wissenschaftszweige bzw. episte
mische Disziplinen nichts anderes sind als komplex zusam mengesetzte Sprachspiele,
alias
Diskurse bzw. diskursive
mit Surrealismen hochgezogenen - Wittgensteinianismus
nennen, der kurioserweise ohne nähere Kenntnis der deut schen und britischen Quellen entstand, wie insgesamt die
französische Kultur nach 1945 den Ideen der analytischen
Tradition keinen Nährboden bot. Mit der Modeströmung des Pariser Strukturalismus hatten Foucaults Versuebe natur
gemäß wenig zu tun - von gewissen Gemeinsamkeiten in der Frontstellung gegen die Diktate des >>Hypermarxismus«50 abgesehen.
Praktiken. Wie Wirtgenstein mit dem kognitivistischen Vor urteil in der Sprachtheorie gebrochen hatte, um zu zeigen,
wieviel mehr das Sprechen ein Handeln ist als ein Wissen,
so brach Foucault mit dem epistemistischen Vorurteil in der
Wissenschaftstheorie, um darzulegen, wieviel mehr die von
5 0 Siehe oben Fußnote 23, S. 204.
I
Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
Tragische Vertikalität Sein Werk ist jedoch zu vielfältig und zu flamboyant, u m unter einem einzigen Gesichtspunkt resümiert werden zu können. Ich beschränke mich auf zwei Aspekte, die einen evidenten Bezug zu unseren Fragestellungen aufweisen: zum einen auf Foucau!ts lakonische, weit vorausdeutende frühe Beiträge zu einer Neubestimmung der Vertikaldi mension in der menschlichen Existenz, zum anderen seine reich verzweigten späten Studien zu den autoplastischen oder selbstskulpturalen Lebenstechniken der Antike. Das erste relevante Dokument finde ich in Foucaults großer Einleitung zu Ludwig Binswangers Buch Traum und Exi stenz, 1954, worin er die »tragische Vertikalität« des Da seins zur Sprache bringt; die übrigen Quellen gehören der Gruppe von Arbeiten an, die der Denker in der Zeit seines Schweigens als Autor zwischen 1976 und 1984 vor antrieb und die den posthum edierten Werkkomplex u m Figuren wie »Selbstsorge«, »Selbstkultur« und »Kampf mit sich selbst« organisieren. An beiden Polen ist die »akrobatische« Dimension - als Stellungnahme der Existenz angesicbts des Auftaueheus der ihr inhärenten Vertikalspannung - unübersehbar. Die Fou caultschen Überlegungen zu den horizontaien Phänomenen, den vielzitierten historischen Formationen der »Diskurse«, lasse ich hier beiseite, weil sie für unsere Fragestellung uner giebig sind und weil sie dieselbe verführerische Zweideutig keit wie Wirtgensteins Sprachspiel-Theorem aufweisen - sie haben die Wirkung von Fallen, in die Intellektuelle gern lau fen, um ihre kritischen Reflexe zu bestätigen, als hätte nicht gerade Foucault betont, er habe noch nie im Leben einen »Intellektuellen« getroffen, sondern immer nur Leure, die Romane schreiben, Leute, die mit Kranken arbeiten, Leute, die lehren, Leute, die malen, und Leute, »bei denen ich nie so
2 •Kultur ist eine Ordensregel"
23 7
recht verstanden habe, ob sie überhaupt etwas machen. Aber Intellektuelle, nie.<<51 Kaum je ist in den Turbulenzen der Foucault-Rezeption nach dem Durchbruch von Les mots et les choses, 1966, bemerkt worden, daß die Manifestation des Autors zwölf Jahre zuvor mit einem anti-psychoanalytischen Pauken schlag begonnen hatte: Erstaunlich selbstbewußt schob er die Deformationsmechanik der Freudschen Traumanalyse, die sogenannte >>Traumarbeit<(, beiseite, um den Traum als die entscheidende Manifestation der tragischen Wahrheit über den Menschen zu s tatuieren : »Der Traum ist der Träger der tiefsten menschlichen Bedeutungen nicht, indem er deren verborgene Mecha nismen und unmenschliche Räderwerke aufdeckt, son dern im Gegenteil: indem er die ursprünglichste Freiheit des Menschen ans Licht bringt.<<52 Während der Schlaf den Tod leugnet, indem er ihn simuliere, sagt der Traum - besonders der Traum vom Tod - die Wahr heit. Er vollbringt damit eine Art von »Selbsterfüllung«, in dem er das »Auftauchen des Individuellsten im Individuum« bewirkt.53 »In allen Fällen ist der Tod der absolute Sinn des Traums.«54 Wenn dies zutrifft, kann die Struktur der Existenz nur von
51 Michel Foucault, Der maskierte Philosoph. In: Von der Freund schaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch, Berlin 1984, S. 9-24. Im übrigen ist die Zuordnung der »Diskurse« zur Horizon talen ein Gedanke, den Foucault wahrscheinlich bei Binswanger gefunden hatte. Dieser weist in seinem �ufsatz über �Verstiegen _ heit« vou 1949, den Foucault ohne Zwctfel kannte, dte »Dtskur sivität« dem Dasein im Horizontalraum zu, während er die schi zophrene Verstiegenheit zu den Pathologicn der Vertikalität rechnet.
52 Zitiert nach: Foucault. Ausgewählt und vorgestellt von Pravu Ma zumdar, München 1998, S. 94· 53 Ibid. S. 95· 54 Ibid , S. 97· ,
.
I
Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
der Analyse des Traums her erhellt werden - aber keineswegs im Sinne Freuds. Im Traum betritt der Mensch das eigentliche dionysische Theater, jedoch nicht, um ein neuer Ödipus zu werden. Wir bewegen uns beim Träumen in einer gerichteten Räumlichkeit, die ursprünglicher ist als die der Geometrie und der übersichtlichen Anordnung der Dinge im hellen Raum. In der existentialen Räumlichkeit des Traums besitzt die Vertikalachse eine völlig andere Qualität als in der Ma thematik oder der Architektur. Sie gibt der Begeisterung die Richtung ihres Aufstiegs vor- bis zur Ruhe auf dem Gipfel, in der Nähe des Göttlichen. Zugleich kann die »venikale Achse auch der Vektor einer Existenz sein, die auf Erden ihre Heimat verloren hat und die- wie der Baumeister Solness -dort droben ihren Disput mit Gott aufnimmt; dann markiert sie die Flucht in die Maßlo sigkeit und birgt von Anfang an den Taumel des Stur zes.«55 Schon Binswanger hatte den anthropologischen Vorrang der vertikalen Dimension statuiert, weil sich für ihn in den Dramen des Aufstiegs und des Sturzes die wesentliche Zeit lichkeit der Existenz enthüllte. Von Heidegger übernimmt Foucault die Bestimmung des »Transzendierens« auf der ver tikalen Achse a]s »Losreißung von den Fundamenten der Existenz«; die komplementäre Bewegung zeigt sich als tragi sche »Transdeszendenz«, als Absturz von einem Gipfel, des sen einziger Sinn es zu sein scheint, den Verstiegenen die für fatale Stürze nötige Fallhöbe zu geben. Es werden rund fünfundzwanzig Jahre vergehen, bis Fou caults Denkwege wieder an die Stelle gelangen, die er in sei
2
Kraft der Selbstgestaltung, in der sieb die ethische Kompe tenz des Individuums verdichtet. So wie der junge Foucault der mit Anfang Zwanzig zwei Selbstmordversuche überlebt hat - den Selbstmord als die wiedergefundene Ursprungs geste deutet, »in welcher ich mir Welt mache«56 (wie man sich Luft macht, indem man an die Quelle der Freiheit zu rückgeht), so entdeckt der späte die übende Selbstgestaltung als die aus der eigensten Daseinsmöglichkeit entspringende Bewegung: mit sich über sich hinaus. Diese Entdeckung begeistert den Denker vor allem darum so sehr, weil sie ihm erlaubt, die Karten auf den Tisch zu legen und sich als Mann der Vertikalen zu bekennen, ohne in den Verdacht zu geraten, er wolle insgeheim wieder auf die aus getretenen Pfade der Allerweltstranszendenz christlich-pla tonischen Stils zurückkehren.57 Im seihen Verfahren k.lärt er sein Verhältnis zu Nietzsche, indem er die von ihm ausgehen de Verführung zum Exzcß durch dessen eigene späte Asketik korrigiert - genauer: durch deren vorchristliche Muster, von denen Nietzsche geträumt hatte, als er erklärte, er wollte die Asketik wieder »vernatürlichen«.58 Foucault hatte verstan den daß der Dionysiker scheitert, wenn man ihm nicht einen Stoiker einpflanzt. Dieser räumt das Mißverständnis aus, wonach das Außer-sich-Geraten auch schon ein Über-sich-Hin ausgehen sei. Das >)Über« im übenden Über-sich-hinaus-Ge hen ist nur noch dem Anschein nach das gleiche wie das, von dem bei der frühen Entdeckung der tragischen oder ikari.
56 57
nem Binswanger-Kommentar berührt hatte. Dann weiß er: Die Arbeit an der Vertikalität ist nicht nur eine Sache der ursprünglichen Einbildungskraft, von der in den frühen Überlegungen die Rede gewesen war. Sie bedeutet jetzt eine 55 Foucault,
S.
'
Ibid., S. ro5. Der locus classicus hierfür ist Augustinus, Von der wahren Religion, XXXIX, 72: »Geh nicht nach draußen, kehr in dich selbst zurück, im inneren Menschen wohnt die Wahrheit. Und wenn du deine Natur noch wandelhaft findest geh auch über dich selbst hinaus (transcende et te ipsu.m). Denke aber daran, wenn du über dich hinausgehst daß es die Vernunftseele ist, die über dich hinausgeht. (Sed memento cum te transcendis, ratioeinanlern animam te ll·an ,
,
scendere.)«. 101.
239
»Kultur ist eine Ordensregel«
58
Siehe oben S.
194·
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
sehen Vertikalität die Rede gewesen war.s9 Es ist in Wahrheit das »Über« der überlegenen Reife, erworben auf den Spros sen der Übuogsleiter.60 Der transgressive Kitsch, den Foucault bei Bataille viele Jahre zuvor aufgelesen hatte und zu dem er dank seines mi metischen Talents selbst einige prekäre Exempel beisteuerte, tritt in den Hintergrund. Er wird im Rückblick nicht mehr als eine Episode auf dem Weg zum aJigemei.neren Verständnis der selbstformenden Verfassungen übenden Lebens bedeu ten. Unnötig zu sagen, daß jetzt auch die letzten Verbindun gen zum Milieu der ressentimentgetriebenen Linken in Frankreich durchtrennt wurden. Deren Fabrikationen war Foucault schon seit längerem fcrngestanden, und wenn er i n einem Gespräch aus dem Jahr r 98o erklärte: »nichts ist mir fremder als der Gedanke eines Herrn, der lhnen sein eigenes Gesetz aufzwingt. Ich akzeptiere weder die Vorstellung der Herrschaft noch die Universalität des Gesetzcs«,61 so sprach er eine Überzeugung aus, die ihn seit mehr als zwei Jahrzehn ten von den stalinistischen, trotzkistiscben und maoistischen Flügeln der französischen Intellektuellenszene entfremdet hatte - um nur einige Verbindungen zu anarcho-liberalen und linksdionysischen Strömungen zu bewahren. Wichtiger noch war, daß er sich jetzt auch von den para noiden Resten seiner eigenen Macht-Untersuchungen freige macht hatte. Erst aus der spät erworbenen Haltung methodi scher Gelassenheit gelang es ihm, einen Begriff von Regimen, Disziplinen und Macht-Spielen zu formulieren, in dem sich keine zwanghaft antiautoritären Reflexe mehr ausdrückten.
5 9 Vgl. Jacques Lacarriere, L'envol d'lcare suivi de Traite des chutes, Paris 1993. 6o Über Höhenphantasien im al lgemeinen vgl. Gasron Bachelard, L'Air et les songes. Essai sur l'imagination du mouvement, Paris
1 943· 61 Michel Foucaulr, Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfun am Main 1996, S. n7.
2 »Kultur ist eine Ordensregel«
Wenn er in demselben Gespräch, an seine Anfänge in der abstrakten Revolte erinnernd, Sentenzhaft formulierte: >>wir wollten völlig andere sein in einer völlig veränderten Welt«,62 spricht er schon als ein wirklich Veränderter, der sich, Licht jahre von seinen Anfängen entfernt, an das konfuse Verlangen nach totaler Andersheit erinnert. Mit dieser Wendung steht er jenseits der Ironie, sogar jenseits des Humors. Auf seine Weise wiederholte Foucault die Entdeckung, daß man das »Bestehende« nicht unterwandern kann - nur überwandern. Er war ins Freie getreten und bereit geworden, etwas wahr zunehmen, was für eine in französischen Sehemacismen kon ditionierte Intelligenz strikt unsichtbar ist: die Tatsache, daß die Menschen in ihren Ansprüchen an Freiheit und Selbst bestimmung durch die Disziplinen, die Regime und die Macht-Spiele nicht unterdrückt, sondern ermöglicht werden. Die Macht ist kein behindernder Zusatz zu einem ursprüng lich freien Können, sie ist für das Können i.n allen Spielarten konstitutiv. Sie bildet überall das Erdgeschoß, über dem ein freies Subjekt einzieht. Man darf daher auch den Liberalismus als ein System von disziplinarischen checks und balances be schreiben, ohne ihn im geringsten zu verherrlichen, aber auch ohne ihn zu denunzieren. In der gelassenen Härte eines Zivilisationstrainers erklärte Foucault: »Natürlich konnte man die Individuen nicht befreien, ohne sie zu dressieren.«63
Sprachspiele, Diskursspiele, Allgemeine Disziplinik Damit war der Weg zu einer Allgemeinen Disziplinik frei. Foucault hat ihn ein Stück weit beschritten, indem er in einer Serie von minutiösen Neulektüren mehrheitlich stoischer Au toren das Universum der antiken philosophischen Askesen
62 Foucauh, Der Mensch ist ein Erfahrungstier, a. a. 0., Ibid., S. 1 1 6.
63
S. 37·
•
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
neu du rehmaß - unbehindert durch die überall aufgerichteten Barrieren des kritischen Kitschs, der in jeder Form von »Selbstbeherrschung« die Unterwerfung wittert und bei jeder Disziplin in der Lebensführung soforr die Selbstrepres sion unterstellt, mit der eine äußere Repression verdoppelt würde - man erinnert sich, um eines der bekanntesten Bei spiele zu erwähnen, an die Ungereimtheiten, die Adornos und
Horkheimers Dialektik der Aufklärung in das Sirenen-Kapi tel der Odyssee hineinlas, um aus dem griechischen Seefahrer einen triebuneerdrückten Bourgeois zu machen, der überdies umgehend zum Protorypus des europäischen »Subjekts« avanciert. Mit Beklemmung denkt man an die Zeit zurück, in der solche Plumpheiten einer Generation jüngerer Intellek tueller als Nonplusultra des kritischen Denkens erschienen. Der Reiz der Schriften des späten Foucault liegt in dem unverhohlenen Ausdruck der Verwunderung darüber, in wel che Gegenden ihn sein Studium antiker Autoren geführt hat. Er reklamiert für seine Expedition in die Geschichte der As kesen bzw. der •>Selbsttechniken« den Status einer »philoso phischen Übung«: »Das ist die Ironie der Anstrengungen, die man macht, u m seine Sichtweise zu verändern . . . Haben sie wirk lich dazu geführt, anders zu denken? Vielleicht haben sie höchstens dazu geführt, das, was man schon dachte, anders zu denken, und unter einem anderen Gesichts winkel und in einem klareren Licht wahrzunehmen, was man ohnehin tat. Man meinte sich zu entfernen, und findet sich in der Vertikale seiner selber.<<6� Die Nähe zwischen der Wittgensteinschen Form-Klärung und der Foucaultschen philosophischen Übung ist frappie rend. Auch die Analogien zwischen den »Sprachspielen« und den »Wahrheitsspielen« drängen sich auf. Die wesentlichen 64 Foucault, ausgewählt und vorgestellt von Pravu Mazumdar, a. a. 0., S. 465f.
2
.Kultur ist eine Ordensregel«
243
Differenzen zwischen den beiden Denkern des übenden Le bens werden hingegen bewußt, wenn man ihre Deutungen des Aufenthalts auf der Höhe des Mount Improbable ver gleicht. \Vahrend Wittgenstein es erstaunlich genug findet, wenn Lebensformen so weit geklärt werden können, bis das Dasein auf der Hochebene dem Aufenthalt in einem von Logikern bewohnten tibetischen Bergkloster gleicht, stürzt sich Foucault in die Rolle des Bergbauingenieurs, der mit Tiefenbohrungen an verschiedenen Stellen die Höhe des Ge birges und die Zahl seiner verborgenen Faltungen offenlegt. Für ihn ist der Berg des Unwahrscheinlichen ein Archiv, und die plausibelste Art und Weise, ihn zu bewohnen, ist das Ein dringen in die alten Korridore, um die Physik des Archivs zu studieren. Sein Gefühl freilich sagt ihm, der Berg kulminiere in jedem einzelnen Individuum, das auf ihm lebt, weshalb die Ethik dieser Studien klarmachen will, daß das, was wie ein Massiv aussieht, in Wahrheit eine Ansammlung aus jeweils singulären Kulminationen ist- auch wenn diese sich zumeist nicht als solche spüren. Der Imperativ: »Du mußt dein Leben ändern!« heißt hier: Du selber bist der Berg des Unwahr scheinlichen, und wie du dich faltest, so ragst du empor. Die sachlichen Parallelen zwischen Wirtgenstein und Fou cault sind eindrucksvoll, auch wenn wir die psychodynami sche Seite der bioi paralleloi zweier homosexueller Frühbe gabter, denen nach einer Phase weit getriebener Selbstzerstö rungsversuche eine Art von Selbsttherapie gelang, außer Betracht lassen. Die Notiz Wirtgensteins aus dem Jahr 1948: >>Ich bin zu weich, zu schwach & darum zu faul, um Bedeutendes zu leisten. Der Fleiß der Großen ist, unter an derem ein Zeichen ihrer Kraft, abgesehen auch von ihrem inneren Reichtum«, ist meines Wissens bisher nicht im Licht von Foucaults Studien über Geständnispraktiken untersucht worden. Man kann sich gut vorstellen, diese Zeilen wären nach einer Begegnung Wirtgensteins mit Foucault geschrie ben worden - allerdings hätte Wirtgenstein Foucaults Arbei-
•
244
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
ren bis 1975 mehr verabscheut als bewundert, weil er seinen frühen und mirderen Stil unerträglich gefunden hätte. Die posthumen Schriften hätte er wohl als die Wunderwerke manierismusfreier Klarheit gelesen, die sie sind.
an
Ihre stärkste Verwandtschaft zeigen jedoch beide Denker aus der Sicht ihrer Wirkungsgeschichten. Beim einen wie beim anderen bildet der Punkt der höchsten Nachah.mbarkeit den Auslöser ihres akademischen Erfolgs, weil er i n beiden FäHen den Punkt der suggestivsten Mißve.rstäodlicbkeir dar
2 •Ku [ur is[ eine Ordensregel•
l
24 5
Philosophischer Mehrkampf Das Subjekt alr Träger seiner Übungsreihen In WirkJichkeit hatte er den Durchbruch zu einer Konzep tion der Philosophie als Exerzitium vollzogen und die letzten Reste an surrealistischem Übergewicht abrrainiert. Ihm war klar geworden, daß Ästhetizismus, aktivistische Romantik, Dauerironie, Transgressionsgerede und Subversionismus
spiel-Theorie die
stellt. Bei Wittgenstein haben wir gesehen, wie aus der Sprach Ordinary-Language-lrreführung wurde;
nur träumerische Trägheiten sind, die mit Mühe einen Mangel an Form kaschieren. Längst hatte er verstanden: Wer von
im Fall Foucaults ist ohne Mühe nachvollziehbar, wieso seine Diskurs-Theorie dem kritischen Konformismus eine leichte
in die Anfängerklasse. Foucault hatte sich selbst zu etwas
Beute schien. Kein Mensch almte, was für eine Art von Exer zitien in der Horizontalen der seltsame Archivar absolvieren mußte, bevor er zu einer nicht mehr tragischen Vertikalität
Unterwanderung redet und vom Werden schwärmt, gehört gemacht, wovon Nierzsche in seinen späten »physiologi schen« Notizen einen ersten Begriff gegeben hatte: zum Träger einer Intelligenz, die reiner Muskel, reine Initiative
zurückkehren konnte. Man hielt all diese Studien über Asyle,
geworden war. Deshalb die völlige Abwesenheit von Manie
Kliniken, Psychiatrien, Polizeien und Gefängnisse für eine etwas verquere Form von Gesellschaftskritik und zoiJte ihrer lyrisch gedopten Akribie hohes Lob. Daß sie immer auch asketische Selbstformungsübungen anstelle eines dritten
heit durch die Manieriertheit - das mit Binswanger zu ent schlüsselnde Geheimnis seiner mittleren Periode - war
Selbstmordversuchs waren, begriff kein Leser, und mögli cherweise war der Autor selbst sich hierüber nicbt immer im kJaren. Sein Beharren auf der Anonymität der Autorschaft zielte i n die gleiche Richtung: Wo Niemand ist, kann sich auch niemand umbringen. Die Ratlosigkeit war darum groß, als der
späte Foucault mit der Ironie des Losgelösten einen Haken schlug und das Gefolge der Kritischen und Subversiven ab schüttelte. Wer dann immer noch auf seinen Spuren bleiben
wollte, tröstete sich mir der oft wiederholten Versicherung, die Philosophie sei keine Disziplin, sondern eine Aktivität, die die Disziplinen »durchquert«. Dadurch bot er dem an archo-kritizistischcn Kitsch - um die Wahrheit zu sagen: der Faulheit, die glauben möchte, sie sei eine subversive Kraft - eine letzte Zuflucht an.
rismen in seinem späten Stil. Die Ersetzung der Verstiegen
überflüssig geworden. Nach Foucault darf die Philosophie wieder daran denken, zu werden, was sie gewesen war, bevor das kognitivisrische Mißverständnis sie aus der Bahn warf - ein Exerzitium
der
Existenz. Als Ethos des luziden Lebens ist sie reine Disziplin und reiner Mehrkampf- sie bringt auf ihre Weise die Wieder herstellung des antiken Panachion mit sich, ohne sich auf eine abgezählte Gruppe von Agonen festzulegen. Die Analogie zwischen Sportarten und Diskurs- und Wissensarten muß möglichst buchstäblich genommen werden. Die philosophi sche Intelligenz übt die Disziplin, die sie ist, vor allem in den Einzeldisziplinen, in die sie sich versenkt, wenn es sein muß sogar in die »Philosophie«. Vor dem »Durchqueren« muß gewarnt werden: In neunundneunzig von hundert Fällen bleibt es bei Anfängerfehlern stehen. Eine Metadisziplin gibt
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
es naturgemäß nicht - daher auch keine Einführung in die Philosophie, die nicht schon von Anfang an selber die maß
gebliche Übung wäre. Man
\v
ird Foucault, scheint mir, nur gerecht, wenn man
seinen Impuls mit dem Picrre de Coubertins zusammen
2
•Kultur ist eine Ordensregel-.
247
»ungeheuren Landschaft, in der sie sich unmöglich ausken nen können•.66 Es ist die unfaßbar weite Landschaft der
Disziplinen. Ihre Summe macht die Routinenbasis aller Kul
turen und aller trainierbaren Kompetenzen aus. Hier haben
wir defacto und de iure die »breiteste und längste Thatsache,
denkt.65 Die Vollendung der Renaissance durch die Wieder
die es giebt« vor Augen. Der von Foucault exemplarisch be
Weisen ein: lm Allkampf der Intelligenz trägt dieser das Seine
Allgemeinen Disziplinik als einer En zyklopädie der Kön
kehr des Athleten um 1900 schließt die \Xliederkehr des
gangene Weg führt, wird er weit genug fortgesetzt, zu einer
zur Klärung der Frage bei, in welcher Form die Renaissance
nensspiele.
heute sich fortsetzt. Wie immer die Antwort lauten wird: Der
Ausdruck läßt sich nicht mehr auf seine kunstgeschichtlichen
und bildungsbürgerlichen Bedeutungen reduzieren. Er indi
ziert eine unabsehbar weitreichende Entfesselung von Kön
Von diesen bilden die durch Foucault untersuchten Dis
kursformationen und Wissensspiele nur ein schmales Seg
ment, jedoch eines von hoher paradigmatischer Energie.
Die Reichweite der Foucaultschen Anregungen wird man
nens- und Wissensformen jenseits der alteuropäischen Zünf te- und Ständcgesellschaftcn. Indem die aktuelle »Renais
erst ermessen, wenn es eines Tages eine ausgearbeitete Form der A llgemei nen Diszipli ni k geben sollte man dürfte für
Fitness hervorbringt, ermöglicht sie neue Festivals auf dem
plantierung erforderte eine zeitgemäße Transformation der Universitäten und Hochschulen, sowohl was die Gljederung
sance« neue Konfigurationen zwischen Kontemplation und Hochplateau des Bergs der Unwahrscheinlichkeiten. Wer j e
a n einem solchen teilgenommen hat, weiß, daß
es
keine
»Wissensgesellschaft« gibt, auch keine »Informationsgesel l
schaft«, soviel die neuen Mystifikateure hiervon auch reden.
-
ihre En twic klung ein Jahrhundert veranschlagen. Ihre lrn
der sogenannten »Fächer« oder »Studiengänge« angeht, als hinsichtlich der Grundanahmen der Hochschulpädagogik
diese hält wider besseres Wissen noch immer an der Koffer
Was seit der Renaissance permanent entsteht, ist eine multi
und Kisten-Theorie fest, wonach Lehren und Lernen nichts
Könnensgrenzen.
koffer in die Studentenkisten sei, iodessen seit geraumer Zeit
disziplinäre und multivirtuose Welt mit expandierenden
anderes als das Umfüllen von Wissen aus dem Professoren
bekannt ist, daß Lernen ausschließlich durch direkte Teilnah me an den Disziplinen stattfindet. Die Durchsetzung eines
Aussicht aufeine ungeheure Landschaft Hat man sich von dem Phantom einer philosophischen Ak »
tivität« jenseits von Disziplin und Disziplinen befreit, kann man in Foucaults Welt den Moment erleben, in dem die gan
sachlich und methodisch disziplinenbasierten Hochschul systems wäre zugleich die einzige Art und Weise, wie der Verkümmerung des Bildungswesens, ein realistischer Wider
stand entgegenzusetzen wäre, fundiert in einer reformierten Idee von den Gegenständen und Aufgaben eines Großen
ze Szene offen daliegt. Man beschreibt ihn am besten mit
Hauses des Wissens.
65 Siehe oben S. 1 4 1 - t p .
66 Wingcnsrcin, Vermischte Bemerkungen, a. a. 0., S. 1 1 1 .
Wirtgensteins Wendung von der den Schülern zu zeigenden
Im Gang einer solchen Umstellung würde die effektive
-
1
Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
Geologie des von Menschen gemachten Mount lmprobable ans Licht treten. Diese universitas der Disziplinen verkörpert die reale KuJrurwissenschaft nach der Auflösung der Kultur Phantome in die Fülle der Kompetenz-Systeme und der übungsfähigen Könnenseinheiten. Die überdiskutierte Frage nach u�:m Subjekt reduziert sich auf den kompakten Hinweis: Subjekt ist, wer sich als Träger eine Serie von Übungen betä tigt- woraus im übrigen folgt, daß zeitweilig beliebte Denk figuren wie Exzeß, Dezentrierung und Tod des Subjekts be stenfalls parasitäre Nebenübungen zu den qualifizierenden Übungen sind - sie lassen sich unter der Rubrik Fortgeschrit tenenfehler ablegen.
Nur höchst vorsichtig kann ich hier andeuten, welche Gegen stände in der Allgemeinen Disziplinik zusammenkommen. Diese wäre auf jeden Fall nicht mehr bloß eine Theorie der Diskurse oder der Aussagen-Gruppen, zu denen entspre chende Askesen und Exekutiven gehören. Sie würde das Spektrum der aus Wissen und Ausübungen komponierten Fähigkeitssysteme integral umspannen. Dieses reicht von der ( 1 ) Akrobatik und Ästhetik, einschließlich des Systems der Kunstarten und Gattungen - nota bene, im post-univer sitären Haus des Wissens bildet nicht die Philosophie, son dern die Artistik das Studium generate -, über die (2) Athletik (allgemeine Sportartenkunde) bis zur (3) Rhetorik bzw. So phistik, sodann zur (4) Therapeutik in ail ihren fachärztlichen Verzweigungen und zur (5) Epistemik (einschließlich der Philosophie) und weiter zur (6) Allgemeinen Berufe-Kunde {einschließlich der »angewandten Künste<<, die man dem Feld der Arts et Metiers zurechnet) und der (7) maschinistischen Techniken-Kunde. Es inkludiert weiterhin die (8) Admini strativik, die den statischen Unterbau des Politischen bzw. des Gouvernementalen sowie das Universum der Rechtssy steme ausmacht, ferner die (9) Enzyklopädie der Meditati onssysteme in ihrer Doppelgestalt als Selbst-Techniken und
2 »Kulrur ist eine Ordensregel«
Nicht-Selbst-Techniken (wobei die Unterscheidung zwi schen dekJarierten und nicht-dekJarierren Meditationen ins Spiel kommt), des weiteren die ( 10) Ritualistik (da ja der Mensch, nach Wittgensteins Behauptung, ein zeremonielles Tier ist und die Zeremonien die trainingsfähigen Verhal tensmodule bilden, deren Träger als »Völker« auftreten - wes wegen die Sprachwissenschaften, wie die Theorie der Spiele und der sogenan nten Religionen, eine Unterdisziplin der Ri rualistik ausmachen), die ( 1 1) Sexualpraxiskunde, die ( 12) Gastronomik und schließlich dje ( 13) offene Liste kulti vierungsfähiger Aktivitäten, deren Offenheit die Unab schließbarkeit des disziplinenbildenden und damit Subjekti vierungen ermöglichenden reldes selbst bedeutet. Man sieht aus dieser Aufstel lung, daß Foucaults Interventionen die Fel der 1, 3, 4, 5, 8 , r o und 1 1 be1-ühren. Gewöl111liche Philoso phen beschränken sich auf das Feld 5> mit gelegentlichen Ausflügen nach 8 oder T und 3, womit über Foucaults pan athletische QuaJitäten genug gesagt ist. Ich weise vorsorglich darauf hin, daß in dieser ersten Schau auf das r 3köpfige Ungeheuer der Disziplinik die für das all tägliche Bewußtsein imposanten Phänomene Krieg und »Re ligion« fehlen. Das hat ei oen guten methodischen Grund: Der Krieg ist keine Disziplin für sich, sondern eine bewaffnete Sophistik (di�: Fortsetzung der Kunst, Recht w behalten, mit anderen Mitteln), in die Elemente der Athletilt, der Ri ruaÜstik sowie der Maschinentechnik einbezogen werden. Ebensowenig ist die »Religion« eine wohlabgegrenzte Diszi pli n, sondern - wie bereits angedeutet - ein Amalgam aus Rhetorik, RiruaJistik und Admillistrativik unter gelegentli cher Hinzunahme von Akrobatik und Meditatjon.
-
l Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
Zwischen den Disziplinen Schließlieb möchte ich anmerken, wie die Frage nach der Dimension der »Kritik« jedem der Felder inhärent ist und jedes von ihnen überschreitet: Auf jedem einzelnen Gebiet vollzieht sich eine ständige praktische Krise, die zur Schei dung zwischen dem Richtigen und Unrichtigen bei der Aus führung der Disziplin führt - häufig mit immanent umstrit tenen Ergebnissen. Daher besitzt jede Einzeldisziplin eine nur ihr eigentümliche und nur aus ihrem Inneren verständli che Vertikalspannung. Auch sagt der StatuS eines Leistungs trägers in einem gegebenen Feld nichts über sein Ranking in anderen Gebieten. I n moralphilosphischer Hinsicht ist ent scheidend, daß die feldinternen Differenzen die Dimension bilden, für welche Nietzsches Unterscheidung zwischen Gut und Schlecht zuständig ist - was zugleich heißt: lntradiszi plinär gibt es wohl Schlechtes, Böses hingegen keinesfalls. Andererseits findet eine ständige externe Beobachtung der Disziplinen durch disziplinferne Instanzen und Individuen statt. Die schätzen oder mißbilligen die Ergebnisse von Übungen in fremden Sphären nach eigenen Maßstäben. Was Athleten tun, kann äußeren Beobachtern unwichtig erschei nen, was Juweliere tun, überflüssig, ohne daß dieJuroren sich darum kümmern müßten, ob die Athleten oder die Juweliere die besten ihres Fachs sind. Externen Beobachtern steht es sogar frei zu sagen, es solle diese oder jene Disziplin, sogar einen ganzen Komplex aus Disziplinen besser nicht geben ja, das Bestehen mancher Disziplinen als solchen sei eine ver werfliche Verirrung. So waren frühe Christen überzeugt, Gladiatorenkämpfe seien böse, selbst wenn die Kämpfer Mei ster ihres Fachs wären, und das ganze System von Brot und Spielen bedeute nichts anderes als eine widerwärtige Perver sion. Mit diesen negativen Wertschätzungen setzten sie sich a la longue durch - was meines Wissens niemand bedauert.
2 »Kultur iSt eine Ordensregel«
Für ihren Erfolg war der Umstand entscheidend, daß sie präzise alternative Disziplinen einführten und diese mit posi tiven Wertschätzungen umgaben. Hingegen sind manche heutige Zeitgenossen der Meinung, man solle die parlamen tarische Demokratie oder die Schulmedizin oder die Groß städte abschaffen, weil aus alledem nichts Gutes kommt. Diese Kritiker werden sich nicht durchsetzen, weil sie nicht zeigen, was statt dessen zu tun wäre. Die operative Unter scheidung ist hier die von Gut und Böse. Vom Bösen gilt, es solle nicht sein. Man kann es nicht verbessern, man hat es auszuschalten. Wie die erste Unterscheidung mit Wertentzug arbeitet, so die zweite mit Seinsentzug. Daß für den Diszipliniker nur die erste Unterscheidung von Bedeutung ist, üegr auf der Hand. Ihm bedeutet die Fülle der Disziplinen selbst den Mount Improbable - und Gebirge kritisiert man nicht, man besteigt sie oder läßt es bleiben. Nietzsche war wohl der erste, der begriffen harre, was der gewöhnliche Moralismus isr: die Kritik des Gebirges durch die Nicht-Bergsteiger. Man kann sich in der Tat vornehmen, der »Welt« als dem Inbegriff der unbejahbaren Übungen den Rücken zu kehren, um etwas anderes als das Leben »in der Welt« bis zur Perfektion zu üben - nichts anderes hatten die spätantiken Weltflüchter im Sinn. Gleichwohl gibt es in die sem Punkt zwischen frühen Christen und modernen Radika len einen nennenswerten Unterschied. Die christlichen Bi schöfe schrieben Ordensregeln für das Leben auf anderen Bergen, Regeln, unter denen 1 500 Jahre lang gelebt werden konnte, zum Teil bis heure. Die letzteren stehen bei allem, was der Fall ist, daneben und finden es unfair. Für sie sind alle Berge böse. Foucault hatte erfaßt, daß Subversion, Dummheit und Un fitness drei Wörter für dieselbe Sache sind. Als ihm zwei Journalisten von Les Nouvelles Litthaires 1984 die Fragen vorlegten: >>Wirkt Ihre Rückkehr zu den Griechen an einer
252
I
Oie Eroberung des Unwahrscheinlichen
Untergrabung des Bodens mit, auf dem wir denken und le ben? Was haben Sie zerstören wollen?«, antwortete er den Subversionspapageien lakonisch: »Ich habe gar nichts zerstö ren wollen!oc67 Zusammen mit der Erklärung von 1980: »So gesehen beruht meine gesamte Forschung auf dem Postulat eines unbedingten Optimismus . . . Ich sage alles, was ich sage, damit es nützt«68 bildet diese Absage an eine zweihun denjährige Folklore der Zerstörung Foucaults philosophi sches Testament. Diese Antwort von r984 war fast buchstäb lich sein letztes Wort. Wenige Tage nach dem Ende Mai geführten Gespräch brach er in seiner Wohnung zusammen und starb drei Wochen später am 2 5 . Juni im Krankenhaus der Salpetriere, deren frühere Funktionen er in seinem Buch Wahnsinn und Gesellschaft beschrieben hatte.
67 Die Rückkehr der Moral. Gespräch mit Gilles Barbedette und Andre Scala, in: Michel Foucault, ausgewählt und vorgestellt von Pravu Mazumdar, a. a. 0., S. 4 8 5· 68 Poucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier, a. a. 0., S. 117.
253
3 ScHLAFLOS IN EPHEsos VoN DEN DÄMONEN DER GEwOHNHEIT UND IHRER ZÄHMUNG DURCH DIE ERSTE THEORIE
Heilmittel gegen Verstiegenheit: Diskursanalyse Ludwig Binswanger war vermudich der einzige Psychiater, von dem sich Foucault verstanden, um nicht zu sagen vorher gesehen wußte - in dem Sinn, daß er in dessen Schriften die wichtigsten Elemente zu einer Sprache für das gefährdete Leben fand, im allgemeinen wie im eigenen Fall. Bei ihm hat er die tragische Deutung der Vertikalität kennengelcrnt, nach der die »Verstiegenheit« des Daseins ein Festsiezen auf einer zu hohen Sprosse der existenriellen Leiter bedeutet. Von ihm übernahm er offensichdich auch den Hinweis auf Henrik Ibsens 1 892 uraufgeführtes Theaterstück Baumeister Solness es handelt von einem manischen Architekten, der »höher baut als er zu steigen vermag« und sich zuletzt von der un Iebbaren Höhe seines Turms in den Tod stürzc.''9 Vor allem verdankte Foucault Binswanger die frühe Einsicht in das Grundproblem der eigenen Existenz, das der von Heidegger inspirierte Psychiater in raumanalytischen Ausdrücken re sümiert hatte: als eine Disproportion zwischen Weite und Höhe - oder Diskurs und Flug. Dieses Mißverhältnis kann, wie Binswanger in seinem Essay Verstiegenheit von 1949 dar legte, entweder als manische Sprunghaftigkeit und idcen-
69 Vgl. Foucaults Anspielung auf Solncss in seiner Einleitung zu: Traum und Existenz, oben S. 238. Ob FoucauJt Binswangers Buch: Henrik Ibsen und d:1s Problem der Selbstrealisation in der Kunst, Heidelberg 1949, rezipiert hatte, ist mir nicht bekannt.
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
254
flüchtiges Schweifen in den vols imaginaire/0 in Erscheinung treten oder sich als ein schizoides ErkJjmmen von Höhen manifestieren, die in keinem sinnvollen Verhältnis zur Enge des Erfahrungshorizonts stehen71 - in diesem Sinn ist Ver stiegenheit die Krankheit des begabten Jugendlichen. Die Therapie besteht in eÜ1er Art von Bergwachtintervention: Es gilt, den verirrten Kletterer ins Tal zurückzubringen und ihm das Gelände zu erklären, bis er imstande ist, bei seinen nächsten Aufstiegen die Verhältnisse zu respektieren. Zum Verständnis derselben gehört die Relation zwischen dem Schwierigkeitsgrad des Hangs und dem Ausbildungsgrad des Gipfelstürmers. Die daseinsanalytische Therapeutik ist also mehr eine Etbik als eine Heilkunde - sie bietet Anleitung zum propor tionenbewußten Verhahen im existentiellen Raum. Existen tiell strukturiert ist dieser Raum, insofern Vertikalität und Horizontalität hjer eine ethische, nicht geometrische Bedeu tung haben: So steht das Horizontale für Erfahrung und »Diskursivität«72 - möglicherweise hat Foucault hie1· die Idee einer Diskurs-Analyse als Erwerb von Navigationsfähigkeit i m Horizontalraum geschöpft -, das Vertikale für Ranghöbe und Dezisivität, sofern existentielle Höhe die Dimension Entscheidungsfähigkeit impliziert. Damit kommt ein Begriff von Ethik in Sicht, bei dem nicht Werte, Normen und Imperative im Zentrum stehen, sondern elementare Orientierungen im »Feld« der Existenz. Beim orientierungsethischen Zugang zu dem Wie, Wohin und Wo zu des Daseins wird davon ausgegangen, daß rue »Subjekte« die Existierenden als Könner und Nicht-Könner ihres Le70 Der Ausdruck spich eine Schlüsselrolle in Gaston Bachelards We�k: L air· er !es songes. Essai sur l'imaginarion du mouvemcnt, Pans 1943. 7' Ludwig Binswanger, Drei Formen mißglückten Daseins. Verstie genheit, Verschrobenheit, Manieriertheit, Tübingen 1 956, S. 6. 72 Ibid., S. 4'
3 Schlaflos in
Ephesos
255
bens- »immer schon<< in ein Feld oder ein Milieu eingetaucht sind, aus dem sie mir grundlegenden Nachbarschaften, Stim mungen und Richtungsspannungen versorgt werden. Des halb ist Ethik die Theorie von den ersten Erschlossenbeiren und Ergriffenbeiren - und insofern Erste Wissenschaft. Die ersten Dinge sind keine Gegebenheiten, sondern Tendenz züge zwischen Extremen: Erschwerungen, Erleichterungen, Engungen, Weitungen, Hinneigungen, Abneigungen, Sen kungen, Hebungen. Sie bilden - als Matrix der »Stimmun gen«, die Heidegger für die Philosophie erschloß - einen Komplex aus verlogischen Aufschlüssen und Orienrierun gen, in welche die logischen, gegenständüchen und werten den Weltbezüge eingehängt sind.
Erste ethische Unterscheidung bei Heraklit Den frühesten Hinweis a uf ein Denken i m alteuropäischen Raum, bei dem eine Ethik im angedeuteten Sinn zur Sprache findet, entdeckt man in dem Konvolut von Fragmenten, die dem an der Wende vom 6. zum 5 . vorchristlichen Jahrhundert lebenden ionischen Protophilosophen Heraklit zugeschrie ben werden. Ich denke hier vor allem an das so bekannte wie rätselhafte, von Stobaios tradierte Fragment ro2 73: ethos anthr6po daimon, das in der philologisch anspruchslosen und philosoplusch abstinenten Übersetzung von Jaap Mansfeld mit >>Des Menschen Verhalten (oder: Charakter) ist sein Schicksal<< wiedergegeben wird. Bekanntlich hat sich Heideg ger i n seinem an Jean Beaufret adressierten Brief über den "Humanismus« von 1 94 6 mit dieser Trivialübersetzung nicht zufriedengeben wollen. Er wirft ihr vor, sie sei modern, aber nicht griecrusch gedacht- ein Einwand, der auch dann noch In: Die Vorsokratiker I, 73 Nach der Zählung von Jaap Mansfeld, Bei Diels Fragment 275· Griechisch/Deutsch, Sturtgart 198), S. Il9·
-
I
Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
gelre, wenn der Satz auf die etwas modifizierte, leicht schwä belnde Version gebracht wird: »Seine Eigenart ist dem Menschen sein Dämon«. Um die Angelegenheit zurecht zurücken, hält Heidegger es für nötig, schweres funda mentalontologisches Geschütz aufzufahren. Er behandelt die bescheiden anmutenden Ausdrücke ethos und d.aimon, als wären sie auf einer ideengeschichtlichen Bank deponierte Guthaben, die selbst bei niederster Verzinsung nach mehr als zweieinhalbtausend Jahren zu riesenhaften Vermögen an wuchsen. Allein die Fundamentalontologie ist ihm zufolge auf diesem antiken Sinn-Konto abhebungsberechcigt, weil nur sie zugleich vorsokratisch und nachmetaphysisch zu den ken imstande sei. Inwiefern er mit dieser Suggestion nicht ganz unrecht hatte, ihrer Überspanntheit ungeachtet, möchte ich nun zeigen.
Heideggers List Um an den Sinn-Schatz heranzukommen, wendet Heidegger einen hermeneutischen Trick an: Er bringt den Ethos-Dai mon-Sarz mit der von Arisroteles kolportierten Anekdote zusammen, wonach Heraklit, der Philosoph von Ephesos in Kleinasien, eine Gruppe von zögernden Fremden, die ihn aufsuchen wollten und ihn am Backofen sich wärmend vor fanden, zum Eintreten aufgefordert habe mit den Worten: »Auch hier sind Götter.« Die kontextwerende Strategie ist so einfach wie effektvoll. Wie die Ofenanekdote daran erin nern soll: auch im Gewöhnlichen scheint das Ungewöhnliche durch, selbst im Unscheinbarsten ist das Göttliche präsent, soll das zu deutende Fragment ausdrücken, daß im Bekann ten das Unbekannte und im Alltäglichen das Überwirkliche gegenwärtig sind. Also hieße der Spruch, falls man ethos mit >>Aufenthalt« oder »Wohnort« (was problematisch ist) über seLzt und daimon mit »Gott« (was wohl etwas zu hoch greift):
3 Schlaflos in Epbesos
2 57
»Der Mensch wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe
Gortes.«74 Obwohl ich diese erste Übersetzung Heideggers für miß lungen halte, philologisch wie philosophisch, besitzt sie ein stimulierendes Element. In der Nähe des Gones wohnen heißt ja wohl, eine Form der venikalen Nachbarschaft ent decken, in der es noch wichtiger ist, einen modus vivendi mit dem Einwohner der oberen Wohnung zu finden als mit den Nachbarn nebenan. Mit diesem Hinweis kann man weiterar beiten, auch wenn das übrige nicht überzeugt. Doch damit nicht genug: Heidegger unterbreitet einen zweiten Überset zungsvorschlag, mit dem er zum Problematischen das Gro teske hinzufügt, indem er das Motiv Nachbarschaft um das der Unheimlichkeit ergänzt. Die drei kleinen Wörter ethos anthr6po daimon sollen jetzt besagen: »Der (geheure) Aufenthalt istdem Menschen das Offene für die Anwesung des Gones (des Uo-geheuren).«75 Wäre das wirklich der Sinn dieser Äußerung, rückte Heraklit i n den Rang des tiefsinnigsten Heidegger-Kommentators auf, den das alte Griechenland hervorbrachte. Nichtsdestoweniger hat Heidegger einen wichtigen As pekt an dem heraklitischen Sinnspruch richtig erfaßt. Das Wort ethos, das man wohl etwas bodenständiger nehmen und erwas weniger preziös mit »Verhalten« oder »Gewohn heit« wiedergeben sollte, wird durch die Zusammenstellung mit dem Wort daimon »nach oben« in Spannung versetzt. Hierbei genügt es, statt an »den Gon« an eine geisthafte Grö ße zu denken, von der nicht ausgemacht ist, ob sie zum Guten oder Bösen lenkt.76 Auch grenzt diese Gewalt an den menschlichen ethos-Komplex nicht bloß äußerlich an, sie ist 74
Martin Heidegger, Brief über den "Humanismus•, in: ders., Weg marken, Frankfun am Main 1978, S. 3 5 1 .
7 5 Ibid., S. 3 53·
.
�
.
76 Es ist zuz�gcben, daß Het egg�rs Wtedergabe von
datm�n .tm •
Singular mtt »Gon• durch dtc sc1t Homer belegte Synonynuc von
-
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
imstande, ihn von innen her zu überwältigen und aufzusau gen.
Was der Daimon bewirkt: Die ethische Unterscheidung Setzt man die kuriosen Momente bei Heideggers Annäherun gen an Heraklit beiseite, bleibt von seinen Bemerkungen et was zurück, das mehr ist als eine Projektion: In jedem Kom plex menschlichen Verhaltens ist eine gewisse Spannung zwi schen Höhe und Tiefe wirksam. Sie besteht, wenn das Bild erlaubt ist, in einer ontologischen Zweistöckigkeit, die von jetzt an explizit bemerkt wird - sofern man bemerken und beschreiben gleichsetzen darf. Sie bringt es mit sich, daß das Untere, das habituelle Fundament, und das Obere, das Dä monische, imstande sind, sich gegenseitig zu absorbieren wohlgemerkt in beiden Richtungen: zum einen, wenn ein schlechtes ethos den Menschen kakodämonisch abwärts zieht, bis er den Schweinen Gesellschaft leistet, wie Heraklit in einer Reihe von krassen Tiervergleichen zu erklären nicht müde wird - das Sprachspiel »Mensch gleich Schwein« läuft offenbar durch von Heraklits Ephesos bis in Wirtgensteins Wien -, zum anderen wenn ein gutes ethos ihn agarhodämo nisch emporhebt, so daß er der Sphäre des Göttlichen (theion) nahekommt. Dies stimmt mit dem von Kelsos überlieferten Spruch Heraklits (Mansfeld 101 ) überein, wonach das ge wöhnliche menschliche Verhalten (ethos anthr6peion) über keine gültigen Einsichten (gn6mas) verfüge, das Göttliche (theion) besitze solche hingegen durchaus. Also keine Rede davon, daß der vertraute menschliche »Aufenthalt« von sich her schon zum »Ungeheuren« hin transzendiere. Heraklits Meinung ist hier doch eher: Sofern datmor1 und theos gestützt wird. Im gegebenen Kontext scheint mir diese Ubersetzung jedoch wenig plausibel.
3 Schlaflos in Ephcsos
2 59
er in seinem durchschnitdichen ethos steckt, besitzt der Mensch nichts, was ihn ans Obere anschließt. SoLlte Frag ment 102 zum »Ürt« oder »Aufenthalt<< des Menschen im plicite Stellung nehmen, es würde besagen: Da, wo wir sind, kollidiert die viehische Beschränktheit der Vielen auf ihre Gewohnheiten mit der Offenheit der Wenigen für den Logos. Dies paßt vollkommen zu der Tendenz zahlreicher anderer Heraklit zugeschriebener Aussagen, die keinen Zweifel daran lassen, wie er, den die Tradition als Melancholiker und eo ipso als Distanzmenschen portraitiert, die Lebensformen der Menge beurteilte. Daß dieser »menschenverachtende« Den ker »den Menschen« als solchen und seiner gewohnheitsmä ßigen Einrichtung nach als für das Göttliche offenstehend bezeichnet haben sollte, wie Heidegger suggeriert, ist, mit einem Wort, undenkbar. Nichtsdestoweniger hatte Heidegger recht, in Heraklits Verwendung des Worts ethos den Hinweis auf eine fundamen tale Vertikalitätsproblematik zu bemerken. Die betrifft nicht das vorgebliche Transzendieren ••des Menschen« zum Gött lichen hin, gleichgültig, ob man dieses als Über-Ich, Über-Du oder Über-Es vorstellt. Heraklit ist nicht Amhropologe, son dern Ethiker. Die erste Ethik bearbeitet einen Unterschied im Menschen, der durch das Denken, man sollte vielleicht besser sagen: durch das Aufmerksamwerden für die Dimension Lo gos, erstmals explizit wird. Die heraklitische Menschenver achtung ist der Fanfarenstoß, der die Explikation eröffnet. Sie zeigt, wie der Unterschied im Menschen sieb als Uneer schied zwischen den Menschen darstellt. Wenn Heraklit die Wenigen und die Vielen hart einander gegenüberstellt, dann nicht, weil erelitär denkt, sondern weil er zu den ersten gehört, die auf das Denken, das seit jeher, doch als solches unbemerkt in uns geschieht, eigens aufmerksam wurden - und die eben damit den Unterschied zwischen den Denkenden, genauer: den auf den Logos Aufmerkenden, und den anderen, den U n aufmerksamen, erst aktualisieren. Dies könnte er nicht tun,
260
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
hätte er nicht zuvordas Nicht-Denken bei sich seJber unter cüe Vorherrschaft des Denkens gebracht, besser: des Verständig Seins (sophronein), von dem das Fragment 1 09 daher behaup tet, es sei die größte Tugend (arete megiste). Gerrau aus dieser Geste, der Unterordnung des Nicht-Ver ständig-Seins unter das Verständig-Sein, entsteht die Ethik als Erste Theorie. Folglich kann die Ethik nur die Form eines Duells des Menschen mit sich selbst annehmen - dieses Duell jedoch ist als Provokation an die Ausweichenden externali sierbar. Die erste Ethik handelt bereits mit ihrem ersten Wort von der Differenz zwischen dem, was oben ist, und dem, was unten ist und doch zumeist danach strebt, obenauf zu gelan gen. Diese »Ethik« als primäre Orientierung hat unmittelbar »Ontologischen« Sinn, sofern sie die These: »es gibt sophro nein« enthält. Es hieße allerdings diesen Satz theoretizistisch verkürzen, sollte er nicht mehr ausdrücken, als sein proposi tionaler Gehalt besagt. Er ist ein autoritativer, anspornender und tonischer Satz, der seinen Adressaten mit der Heraus forderung konfrontiert: >>Gewähre dem sophronein den Vor ra�g!« Bereits die älteste Fassung des metanoetischen Impe rativs verlangt von den Menschen, in ihnen selbst das Obere und das Untere zu unterscheiden.
Sich selbst überlegen sein Daß in dem VOrsokratischen Wort sophronein der ethische Ursatz »Du mußt dein Leben ändern!« virulent wird, und zwar i� manifest übungstheoretischer Tendenz, läßt sich an einer Uberlegung erläutern, die Platon hundert Jahre nach Heraklit in einer vielbewunderten Passage des 4· Buchs der Politeia (430e-432b) anstellt, worin von der Besonnenheit (sophrosyne) im Einzelnen und in der Polis die Rede ist. Dort wird Besonnenheit zunächst als »Herrschaft über die Begier den« (epithymion egkrateia) definiert - ohne daß ich an dieser
-
3
Schlaflos in Ephesos
Stelle herleiten könnte, was unter diesen >>Begierden« ge nannten »epithymischen« Regungen und was hier unter »Herrschaft« zu verstehen ist. Dann macht Sokrates auf die Merkwürdigkeit des damit bezeichneten Selbstverhältnisses aufmerksam: Wenn Besonnenheit mit Herrschaft über Affek te oder Leidenschaften verwandt oder wesensgleich ist, mani fesciert sie ein inneres Gefälle im Menschen: eine dramatische Verschiedenheit des Menschen von sich selbst, vor welcher er zwar ausweichen, die er aber nicht neutralisieren kann. Dafür zeugt die Redensart, jemand sei »stärker als er selbst« (kreitto autou) - was man auch mit »sich selbst überlegen« übersetzt. Auf den ersten Blick scheint eine solche Sprechweise lächer lich, meint Sokrates, und paradox obendrein: >>Denn wer stär ker als er selbst wäre, wäre doch offenbar auch schwächer als er selbst, und der Schwächere stärker« - da ja beides von ein und derselben Person gesagt wird. In Wahrheit ist die lächerliche Redensart das Symptom der ernstesten Sache: Es gibt offenbar »im Menschen selbst« (en auto to anthr6po) hinsichdich seiner Seele (:peri ten psychen) ein Besseres und ein Schlechteres. Die se Sache, mit der nicht zu spaßen ist, emergiert in actu auf doppelte Weise - in den hier angestellten Überlegungen und in den Lebensverhältnissen, mit denen sie sich befassen. Herrscht nun das von Natur aus (physeL) Bessere über das Schlechtere, so nennt man das Stärkersein als man selbst oder Überlegenheit über sich selbst und lobt dieses Verhältnis, wie es sich gehört. Kommt es aber umgekehrt dahin, daß das Schlechtere, das zugleich das Zahlreichere ist, das Bessere, das naturgemäß kleiocr ist, überwähigt, so spricht man von Schwächersein als man selbst oder sich selbst unterlegen Sein und tadelt es dementsprechend. Die weiteren Anwendungen dieser Überlegung ergeben sich aus der Maxime aller politi schen Psychologie: Wie in der Psyche also auch in der Polis?6 76 Die ontologischen und theologischen Variationen der politischen Psychologie heißen: Wie im Sein, so in der Stadt, und: Wie im Himmel, so auf Erden.
-
I
Die Eroberung des Unwa.hrscheinlichen
Zwei Momente sind für das Verständnis dieser philoso phiegeschichtlich schicksalhaften Stelle entscheidend. Zum einen: Es gelingt Platon in diesem Passus, den Affekt der Verachtung, der bei Heraklit in grober Äußerlichkeit her vortrat, in die Struktur der Psyche zu integrieren, so daß die Verachtung zu einem regulativen Prinzip der Person und einem Agens ihrer Selbststeuerung wird. \Y/er sich selbst verachten kann, dem ist im Emseheidenden schon geholfen. Zum anderen: Sokrates stellt klar, wieso die Machtübernahme des Schlechteren nur nach »schlechter Erziehung« erfolgen kann - deren Kriterium besteht darin, etwas, das der Zügel bedarf, und, wenn es mit rechten Dingen zugeht, ohne wei teres zügelbar wäre, ungezügelt (ak6laston) zu lassen. Geht man davon aus, für die Griechen habe die paidea i ein Kon glomerat aus Einsicht und Dressur bedeutet - anders ausge drückt: die Resultierende aus intellektueller Belehrung und physischem Drill -, so ist aus der Rede über die drohende Machtergreifung des Schlechten unmißverständlich die For derung nach mehr Dressur bzw. die Klage über eine versa gende Dressur herauszuhören. Man könnte hier natürlich im Stil der noch immer übli chen Soziologisierungen einwenden, die platonische Rede vom Sich-selbst-Überlegensein sei eine Projektion der grie cluschen Klassenverhältnisse in die Psyche - dann dürfte man im Modus des nicht mehr ganz so üblichen Utopismus hinzufügen, in einer klassenlosen Gesellschaft würden die Selbstverhältnisse der Psyche umgebaut, und zwar zu fla chen Hierarchien, wenn nicht gar völlig anarchisch, sprich ohne nennenswerte Oben-Unten-Differenz. Diese Einwän de verfehlen das Wesen der paideia. Die Idee der ZügeJung entspringt aus der Verinnerlichung der Differenzen zwi schen Lehrer und Schüler bzw. Trainer und Athlet, allenfalls auch der zwischen Reiter und Pferd, die nichts mit Herr schaft im üblichen Sinn zu tun haben. Für diese Verhältnisse liefert die Beziehung zwischen Aristokratie und Pöbel nur
3
Schlaflos in Eph�sos
eine Metapher, die wörtlich zu nehmen die Eigengesetzlich keit übertragener Rede verkennen hieße. Tatsächlich erner giert in der paideia eine Erscheinungsform von Verrikalität, die sich nicht auf politische Herrschaft abbilden, geschweige denn reduzieren läßt. Daß damit die Sache selbst von ihrer Trägern, den Operareuren und Patienten der Erziehung, auch schon begriffen wäre, kann freilich nicht behauptet werden. Die Basiskonfusion der griechischen Ethik wie der zu ihr gehörigen Erziehungskunst entspringt dem Umstand, daß sie nie imstande war, den Unterschied zwischen Leidenschaften und Gewohnheiten in der nötigen Klarheit herauszuarbei ten - weshalb sie den korrespondierenden Unterschied zwi schen Herrschaft und Übung ebenfalls nie deutlich auf den Begriff brachte. Die Konsequenzen zeigen sich in der mehr als zweitausendjährigen Zweideutigkeit der europäischen Pädagogik. Diese crstickte ihre Zöglinge anfangs oft unter herrschaftlicher Disziplin, indem sie sie wie Untertanen be handelte, um sie zuletzt immer öfter wie falsche Erwachsene anzusprechen und aus jeder Disziplin und Übungsspannung zu entlassen. Daß Schüler zunächst und zumeist werdende Athleten sind, um nicht Akrobaten zu sagen, die es in Form zu bringen gilt, wurde wegen der moraliscischcn und politi schen Mystifikation der Pädagogik nie mit der in einer so bedeutenden Sache gebotenen Explizitheit herausgestellt. Fürs erste scheint nichts einfacher als die Überlegung, daß schon vorhandene Leidenschaften, Zerstörerische Heftigkei ten oder Obsessionen nach ZügeJung- also Herrschaft- ver langen, während Gewohnheiten nicht a priori gegeben sind, sondern in längeren Dressuren und Übungen aufgebaut wer den müssen; sie wachsen durch mimetisches Wiederholungs verhalten heran, um von einem bestimmten Punkt der Ent wicklung an in willensgestützte Eigenanstrengung überzu gehen. Doch so elementar die Unterscheidung zwischen
-
I
Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
Gewohnheiten und Leidenschaften erscheinen mag, in der Geschichte des ethischen Denkens führt die Assoziation der beiden Größen zu den vielfältigsten Konfusionen. Man könnte so weit gehen zu sagen, die Zweideutigkeiten in der Auffassung von askesis stellen neben den Askesen selbst die »breiteste und längste Thatsache« dar, die es auf dem >>aske tischen Stern<< »giebt«. In Europa sind die Askesen und die Askesemißverständnisse praktisch gleich alt - das ungleich tiefer durchdachte Universum der indischen asanas zeigt uns zugleich, daß es sich bei dieser langwährenden Konfusion um ein regionales Schicksal, kein universelles Gesetz handelt. Ist das begriffen, so versteht man, warum die Emanzipation des Übens von den Zwangsstrukturen der alteuropäischen Askese - ich deutete es eingangs an - möglicherweise das wichtigste geistes- und körpergeschichtliche Ereignis des 20. Jahrhunderts bedeutet.
Zwischen zwei Überwältigungen: Der besessene Mensch Gehen wir von Platons Hinweisen auf die vertikale Unter scheidung im Menschen selbst zu Heraklits Ethos-Daiman Satz zurück, so erhellt, wie der Denker von Epbesos dassel be Problem mit einer noch ganz elementaren, quasi mittel losen Logik behandelt. Deutlich sieht man jetzt, wie dieses archaische Drei-Worte-Wunder ethos anthropo daimon selbst formal anzeigt, wovon es redet: Das Wort »Mensch« steht in der Mitte zwischen den beiden allzu verwechselba ren ethischen Größen: Gewohnheiten links, Leidenschaften rechts. Egal, was ethos sonst noch bedeuten kann, hier stellt es unmißdeutbar den Bezug zum Gewohnheitsmäßigen, Sittlichen und Üblichen her, während das Wort daimon die höhere Kraft, das Überwältigende, Übergewohnheitsmäßige bezeichnet.
3
Schlaflos in Ephesos
Läßt man diese semantischen Überlegungen zur Aufhel lung der beiden dunklen Termini gelten, so entstehen für den Satz Heraklits zwei neue Übersetzungsmöglichkeiten. Die erste heißt: >>Beim Menschen sind die schlechten Gewohn heiten das Überwältigende.« Die zweite lautet: »Neue gute Gewohnheiten können beim Menschen der heftigsten Lei denschaften Herr werden.« Ob Heraklit dieses oder jenes sagen wollte, ist naturgemäß unentscheidbar. Seine Logik war archaisch, insoweit das Archaische die zusammenge drängte Verkörperung des Noch-Nicht-Unterschiedenen, des Präkonfusen, bedeutet. Während das Konfuse bereits ent faltete Alternativen wieder verwirrt, liegen im Präkonfusen noch nicht entfaltete Alternativen contracte ineinander. Hier gibt es noch weniger Wörter als Gedanken, die zum Aus druck zu bringen wären. Daher bleibt ungesagt oder »ein gefaltet«, ob das Dämonische sich in Form von schlechten Gewohnheiten oder noblen Passionen manifestiert. Es er übrigt sich zu erklären, wieso das Prestige der Vorsokratiker gerade am Beginn des 20. Jahrhunderts seinen Gipfel erreich te: Zu keiner Zeit war das Heimweh der europäischen Intelli genz nach ihren präkonfusen Anfängen lebhafter als damals. Zugleich war dieses Heimweh nie einer stärkeren Versuchung ausgesetzt, die Konfusion durch Ausweichen in ungeeignete Simplifikationen zu steigern. Die ursprüngliche ethische Konfusion der europäischen Philosophie manifestiert sich in zwei komplementären alt ehrwürdigen IrrtÜmern, die die Geschichte des Nachdenkens über die Frage, wie Menschen leben sollen, durchziehen: Der erste verwechselt die ZügeJung der Leidenschaften mit der Austreibung von niederen Dämonen, der zweite verwechselt die Überwindung der schlechten Gewohnheiten mit der Er leuchtung durch höhere Geister. Für den ersten Irrweg sind die stoischen und gnostischen Strömungen mit ihrem Streben nach Apathie bzw. schnellem Entkommen in die Überwelt repräsentativ, für den zweiten die platonischen und mysti-
-
1 Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
sehen Überlieferungen mit ihrer Neigung zur Abtötung des Fleisches bzw. zum Überfliegen des verkörperten Daseins. Daß diese attraktiven Irrwege nicht zu Hauptströmungen gerieten, ist dem \Viderstand der pragmatischen Ethiken zu verdanken, denen die anonyme Weisheit der Alltagskulturen zu Hilfe kam. Beide sind Quellen, aus denen das Erbe euro päischen Lebenskunstwissens schöpft - Michel Foucaults späte Studien bieten hierfür das aktuellste Zeugnis. Den an ti-extremistischen Projekten aristotel.ischer, epikuräischer und skeptischer Herkunft gelang es zumeist, die vertikale Passion, die Zügelung der Leidenschaften, mit der horizon talen Bemühung, der Nachahmung und Pflege guter Ge wohnheiten, in einen fruchtbaren Ausgleich zu bringen. Sie sichteten das schwierige Gelände, in dem die beiden primären Bewegungsrichtungen, die Ausbreirungen und die Aufstiege, ihre Forderungen erheben. Liest man den Ethos-Daimon-Satz direkt neben der Rede des Sokrates über die ZügeJung der Leidenschaften, versteht man besser, auf welchen Pfaden das alteuropäische Denken vor die Fragestellung geriet, die in religiösen Kontexten un ter dem Titel »Besessenheit« verhandelt wurde. Das Wort daimon erinnert in seiner älteren Verwendung daran, daß Menschsein und Besessensein anfangs praktisch dasselbe be deuten. Wer keinen daimon hat, hat keine Seele, die ihn be gleitet, ergänzt und bewegt., und wer keine solche Seele hat, ist kein Existierender, vielmehr ein wandelnder Toter, allen falls eine menschförmige Pflanze. Werden nun die Ausdrücke ethos und daimon so dicht zusammengerückt, daß anthr6pos direkt dazwischen steht, so sieht man, wie der Mensch prin zipiell zwischen zwei Arten der Besessenheit eingespannt ist. Von Gewohnheiten und Trägheiten besessen, erscheint er un terbeseelt und mechanisiert; von Leidenschaften und Ideen besessen, ist er überbeseelt und manisch übersteuert. Form und Grad seiner Beseelung sind demnach ganz vom Modus und Tonus seiner Besessenheit abhängig - und von der Inte-
3 Schlaflos in Ephesos
gration des Besatzcrs ins eigene Selbst. Die Mehrheit der Menschen nimmt seit jeher nur die letztere, die psychisrische oder leidenschaftliche Seite der Besessenheit zur Kenntnis (wie sie in den antiken Vorstellungen von Begleitdämonen, Invasionsdämonen, persönlichen Genien und bösen Geistern reich bebildert auftauchen); mit Sorge beachtet sie deren Ne gativ, die Entseelung, die Emgeisterung, die Depression. Hin gegen richten die frühen Philosophen, die ersten Gurus und Pädagogen im Morgenlicht ihrer Kunst das Augenmerk mehr und mehr auch auf die zweite Front, die »gewohnheitstieri scbe« Seite der menschlichen Kondition. Man könnte hier von den habituellen oder hexischen Formen der Besessenheit sprechen (von lat. habitus, Gewohnheit, und griech. hexis, Habe, Ge-habe, innerer Besitzstand, Gewohnheit). Sie re präsentiert die Besessenheit durch einen Nicht-Geist, eine Inbesitznahme des Menschen durch den verkörperten Me chanismus.
Paideia: Der Griffan die Wurzeln der Gewohnheit Um zu begreifen, wie sich die Aufhebung der doppelten Be sessenheit des Menschen durch die ethisch-asketische Auf klärung vollzog, ist zu bedenken, daß die Geschichte des an thropologischen und pädagogischen Denkens in Europa in the long run identisch war mit einer progressiven Säkularisa tion der Psyche - das heißt mit der Überführung der Beses senheitslogik in Disziplinprogramme: In deren Verlauf wer den die Besessenheiten des ersten Typs in Enthusiasmen um formuliert und in voneill1afte - man denke an Platons Aufzählung der vier guten Begeisterungen im Phaidros77und schädliche sortiert. Unter den letzteren ragen Zorn, 77
Das prophetische Wahrsagen, die vom Gon eingegebene Heilkunst, der von den Musen befeuerte Wahn (mania) der Dichter, die von den Görrern gesendete Liebe. Vgl. Phaidros 244a-245b.
I
Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
Ruhmsucht und Habgier hervor, die in christlicher Zeit auf der Liste der sieben Laster Platz finden.78 Da sie keine offi ziellen Besessenheiten mehr sind, nur deren funktionale Nachfolger, werden sie rucht mehr exorzisciscb ausgetrieben, sondern disziplinarisch gezügelt, notfalls mit groben und gröbsten Mitteln. In dieser progredierenden Linie lassen sieb, neunhundert Jahre nach Hcraklit, auch die Aussagen des Aurelius Augu stinus anordnen, wenn er in seiner Schrift Ober die wahre Religion die Christen auffordert, »Männer« zu werden, die die »Frauen« in sich selbst, diese »Blendwerke und Belästi gungen der Begehrlichkeit«, unters Joch zu bringen (subiu gareL) eine Aufgabe, die sich für Frauen i n analoger Weise stellt, weil sie »in Christus« ebenfalls Manns genug sein sol len, um die Weiberlüste (femineas voluptates) in sich zu un terjochen. Noch hält Augustinus unbeirrt am Schema der platonischen Affekt-Psychagogik fest: Beherrschen, was an dernfalls uns beherrscht; in unseren Besitz (in nostram pos sessionem) bringen, was ansonsten uns besitzt.79 Für ihn bleibt aufgrund seiner teufelstheologischen Einbettung die Neigung zur Re-Dämonisierung der Leidenschaften stets ak tuelL Man kann hier mit Händen greifen, wie der repressive Askesebegriff, als Diktatur über »innere Natur«, zu seinem Siegeszug durch die christlichen Jahrhunderte ansetzt. Was die Besessenbeiren des zweiten Typs, die Gewohnhei ten, angeht, so führt deren Säkularisation zu dem Konzept der Selbsterziehung, das einen dezenten Selbstexorzismus -
78 Diese Leidenschaften werden noch bei Dion Chrysostomos (2. Jh. n. Chr.), dessen Darstellung des Streits zwischen Diogenes und Alexander von Foucault in Diskurs und Wahrheit., 198), ausführ lich referiert wird, als Dämomen beschrieben, obschon nur meta phorisch. Vgl. Plutarch, Des Sokrates Daimonioo, in: Moralia, Leipzig 1942, S. 238f., wo die Wiederaufbereitung der Dämonen im Jenseits geschildert wird. 79 De vcra rcligione/Über die wahre Religion, Lateinisch/Deutsch, Sruttgart 1983, S. 1 33-135.
3 Schlaflos in Ephesos
einschließt: Der Mensch, der von seinen Gewohnheiten ge habt wird, müsse es dahin bringen, die Besitzverhältrusse um zukehren und das ihn Habende als eigene Habe unter Regie zu nehmen. Dies gilt in erster Linie für die schlechten Ge wohnheiten, die man durch gute ersetzen soll. So sagt The mas a Kernpis noch ganz in der Tradition der ersten Piid:lgo gen: »Gewohnheit wird nur durch Gewo�nheit überwun _ den.«80 In den radikaleren spirituellen Ubungssystemen wird noch heute die Forderung nach Brechung der habituel len Prägungen auf die neutralen und selbst die sogenannten guten Gewohnheiten ausgeweitet - etwa in der Schauspiel pädagogik von Konstantin Stanislawski oder an dem seit Ok tober 1922 in Fontainebleau ansässigen »Institut zur harmo nischen Entwicklung des Menschen« von Georg lvanowitsch Gurdjieff. Aus der Sicht der Radikalen ist die Habitus-Basis der menschlichen Existenz insgesamt nicht mehr als ein spiri tuell wertloses Marionettentheater, in das nachträglich und durch höchste Anstrengung eine freie Ich-Seele implantiert werden soll. Gelingt dies nicht, so erlebt man bei Menschen allgemein einen Effekt, den man von vielen Sportlern und Models kennt: Sie wirken optisch vielversprechend, klopft man jedoch an, ist niemand drin. Die Distanzierung vom Mitgebrachten ist diesen Doktrinen zufolge �ein mögl�ch, wenn der Adept sein Leben einem rigorosen Ubungsreg1me unterwirft, durch das er sein Verhalten in allen wichtigen Dimensionen de-automatisiert. Zugleich muß er sein neu ge lerntes Verhalten re-automatisieren, damit ihm das, was er sein oder darstellen möchte, zur zweiten Natur wird.
g0 Imitatio Chrisri, S. 53·
1 Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
3 Schlaflos in Ephcsos
Sollte man mit einem Satz sagen, was Denken im ionischen
Denken und Wachen
Zeitalter war, die Antwort wäre: Denken heißt schlaflos sein in Ephesos - die Nächte opfern in Milet. Man darf dies bei
Für Heraklit, den Dunklen, Frühen, Präkonfusen sind solche
nahe buchstäblich verstehen, weil die Nähe der Ionier zu den
Differenzierungen und Komplikationen inexistent. Bei ihm
chaldäischen Traditionen nächtlicher Himmelsbeobachtun
dürfen die Leidenschaften und die Gewohnheiten noch in ei
gen auch bei ihnen eine Neigung zur geistigen Nachtarbeit
ner Klasse beisammen bleiben - enthalten in der Vagbeirsdi
hervorgerufen haben könnte - die Verachtung der Wachen
mension, die im Fragment ror das ethos anthr6peion (Men
den für die Schlafenden gehört zum Grundbestand des gei
schenvcrhalten) genannt wird. lhr stehen die übermenschli
stigen Athletismus. Wie Heraklits Fragmente zu verstehen
chen Größen gegenüber, das Göttliche, das vernünftige Feuer,
geben, tangiert die Unterscheidung von Tages- und Nachtak
die unermeßliche Psyche und der allesdurchdringende Logos.
tivität nicht das wachende Denken. Das mit dem Denken
An ihnen gemessen, gleicht, wie man liest, selbst der klügste
vereinte Wachen vollzieht die einzige Askese, die der ersten
Mensch dem Affen. Von paideia kann da noch keine Rede sein,
Philosophie hilft, in Form zu kommen. Als wachendes Den
und doch taucht bei Heraklit bereirs ein Satz (Fragment 3 3 ,
ken ist sie pure Disziplin - eine Akrobatik der Schlaflosigkeit.
nach Stobaios) auf, derwie im Hohn das 2 5oojährige Reich der
Vereint sie den Denker mit dem immerwachen Logos nicht
Pädagogen ankündigt: wonach es im Prinzip allen Menschen, die einsichtslosen Vielen eingeschlossen, gegeben wäre, sich
kein Zufall, wenn einige der härtesten Sprüche Heraklirs von
selbst zu erkennen und verständig zu sein.
der Schlafbefangenheit der gewöhnlichen Menschen handeln.
Ein noch größeres Privileg fällt Heraklit zu, wenn er auf
geradezu, so bringt sie ihn doch eng mit ihm zusammen. Es ist
Für ihn sind hoi polloi niemand anders als die Leute, die am
(koinon)
erwachen, son
der >>geistigen Seite« seiner Doktrinen beisammen lassen
Morgen nicht zum Gemeinsamen
darf, was in einer späteren Rationalitätskultur auseinander
dern in ihrer Privatwelt, ihrer Traumidiotie bleiben, als hätten
gelegt werden muß, ja sich sogar auf verschiedene Diszi
sie aparte Einsicht
plinen verteilt - das Wachsein, das Verständigsein und das
auch in religiösen Dingen sozusagen durchschlafen- sie mei
(idian phr6nesin).
Es sind dieselben, die
Horchen auf den Logos. Spätere Generationen und fernere
nen sich zu reinigen, indem sie sich mit Blut besudeln, >>wie
Epochen werden das Wachen - neben den Phänomenen
wenn einer, der, in den Schmutz getreten, sich mit Schmutz
Schlaf und Traum - der Psychologie und den Sicherheits
abwüsche« .
diensten zuteilen, das Verständigsein hingegen an die prak
sehen nicht, was ihnen die Nichtschläfer zu sagen haben.
tische Philosophie bzw. die Ethik abgeben und die Emp
Redet man zu ihnen von dem Logos, der durch alles wirkt,
81
In ihren Eigenwelten befangen, hören die Men
fänglichkeit für den Logos der Logik, der Mathematik und
zucken sie mit den Schultern. Von dem Einen sehen sie nichts,
den Strukturtheorien reservieren. Wenn es ein starkes Merk
obschon sie in es eingetaucht sind. Sie tun, als suchten sie den
mal des Vorsokratismus gibt - sofern dieser nicht nur eine
Gott, obwohl er vor ihnen steht.
Erfindung moderner Kompilatoren darstellt, wofür manches spricht -, mir scheint, es läge in der pathetischen Gleich setzung von Wachen und Denken. g 1 Fragment
21.
r
272
3
Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
273
Schlaflos in Ephesos
dem östlichen Pfad eher ein Wachen ohne Wissenschaft zum Zug, das Erleuchtungen ohne begriffliche Präzisierungen
Denken ohne Wachen, Wachen ohne Denken:
anstrebte - angelehnt an einen Staatschatz von Weisheits
Ost-West-Gegensätze
figuren, der mehr oder weniger allen Meistern gehört. Hei
Unter den Denkern des 20. Jahrhunderts war es zuerst Hei
degger, der durch seine Sezession von der zweieinhalbtau
deggers Versuch, die Alternative von Szientismus und Illu minismus in neo-vorsokratischer Haltung zu unterlaufen,
des präkonfusen (kontrakt-symbolischen) Denkens zurück
beim meditierenden Wachen als bei der Konstruktion oder
sendjährigen philosophischen Überlieferung die Privilegen
erbrachte ein Konzept von »Denken«, das deutlich näher
gewinnen wollte. Auf seine Weise versuchte er, gegen die
Dekonstruktion von Diskursen lag. Seine späte Pastorale
das Philosophieren in den »vorsokratischen<< Zustand zu
Praxis gleicht, weist auf das Unrernehmen hin, die Bewußt
eigene Zeit und doch in mancher Hinsicht auf ihrer Höhe,
des Seins, die mehr einem Exerzitium als einer diskursiven
rückzuversetzen, in dem vorübergehend eine Einheit von
seinsphilosophie
präkonfusen Einheit hatte sich schon vor 2500 Jahren als
heitsphilosophie zu verwandeln.82 Man darf wohl anneh
griffsbildung spalteten die alten Grundwörter in viele Teilbedeutungen auf. Nicht jedes Wort überlebte diese Ent
Schlafverbot. Allerdings wird bei Heidegger nicht recht
Verbum
boren der Spitzenforschung bekommen, ist nicht leicht
Wachen und Denken möglich gewesen war. Der Zerfall der
ihrem
aulrüttelnden
Durchgang
durch die Existenzphilosophie in eine welthaltige Wach
unaufhaltsam erwiesen; die raschen Fortschritte in der Be
men, der Mensch unterstehe als »Hüter des Seins« einem
klar, wie der Zeitplan beim Hüten des Seins geregelt ist.
wicklung unbeschädigt - insbesondere verlor das archaische
sophronein,
nach
Auch wie die Hüter die Nachtarbeitserlaubnis in den La
verständig sein, das eleganteste Lei
7.U
stungswort der a.lten Welt, bei seiner Gerinnung zu dem Sub
erkennen. Die Wette ist so plausibel wie anspruchsvoll: Es
einer Gruppe anderer Tugenden bezeichnet, seine durchdrin
wandlung des Denkens in eine Wachheitsübung ohne Rück
stantiv sophrosyne, das die Tugend der Besonnenheit inmitten
gilt jetzt, die von Heidegger in Aussicht genommene Ver
gende Energie und intime Appellwirkung. Allerdings enthält
schritte hinter das Niveau der modernen Rationalitätskultur
die Heideggersche Deutung dieses Geschehens - die Erstar rung der Verben zu Substantiven und die Überführung der
vorzunehmen. Ob Heidegger selbst dies gelungen ist, muß man aus einer
Ereignisschau in Begriffsmachwerk - als Geschick der
Reihe von Gründen bezweifeln. Zu sehr ist seine späte Lehre
»Seinsvergessenheit« eine unannehmbare Übertreibung, die
zu
zur Überwindung der damit angedeuteten Verlegenheit nicht
einer Idylle im Ungeheuren geraten. Vor Heidegger hatte
nur Oswald Spengler einige vorläufige, doch nicht unbedeu
viel beiträgt.
tende Skizzen zu einer Kritik des rationalistischen Weltzu
�
Aus den asymmetrischen Zerfallsprodukten ergaben sich
griffs mittels einer a gemeinen Wachheits ehr vorgetrage� � diese aber nicht we•terverfolgt, sondern m eme spekulative
die tiefreichenden Differenzen zwischen den Rationalitäts
kulturen bzw. den »Ethiken« des Okzidents und des
�
Psychologie der Hochkulturen übersetzt und damit philoso-
Orients. Während sich auf dem westlichen Pfad, um sum
g2
marisch zu reden, ein Denken ohne Wachen durchsetzte, das sich dem Ideal der Wissenschaft verpflichtete, kam auf
1
Über die Suspension der Liaison von Denken und Wachen in der Anästhesiepraxis des 19. und 20. Jahrhunderts siehe umen Kapi tel 1 1 , S. 6oof.
-
274
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
prusch neutralisiert. Überdies entstellte er seine subtilen Hin weise auf die Angst-Verfassung des wachen Daseins - die zehn Jahre später in Heideggers Antrittsvorlesung Was st i Metaphysik? von 1929 wieder auftauchen - durch die Grob heit seines pragmatistischen Glaubens an den Vorrang der »Tatsachen«.83 Aufs Ganze gesehen versagt die Philosophie des 20. Jahrhunderts vor dem Imperativ der Wachheitskultur mehr oder weniger kläglich. Nicht ohne Grund hat sie den größten Teil ihrer virtuellen Klientel an die psychothera peutischen Subkulturen verloren, in denen neue lebbare Sti lisierungen des Verhältnisses von Wachheit und Wissen ent standen sind, nicht selten zum Mißfallen der verbeamteten Theoriepfleger. Vor dem Hintergrund theosophischer Traditionsamalgame aus orientalischen und platonischen Quellen hatJiddu Krish namurti, r 8 9 5-1986, die radikalste im 20. Jahrhundert zu hö rende Wachheitslehre entwickelt. Indem er sich von seinen frühen Indoktrinationen distanzierte, verkündete er die The se, es sei jederzeit möglich, von einem Augenblick zum an deren aus den Konstrukten der Verstandeswelt auszusteigen und alle Vorstellungen in der »Flamme der Aufmerksamkeit« zu verbrennen. K.rishnamurti weigerte sich aus nicht ganz durchsichtigen Gründen, den Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zur konstanten Wachheit im Augenblick und der übenden Arbeit an sich selbst bzw. der kathartischen Klärung der Psyche näher zu untersuchen und die möglichen Er gebnisse solcher Studien in seine Lehre zu integrieren, ob schon seine eigene Klärungsgeschichte zu den dramatischsten und am besten belegten Dokumenten in der Historie der spirituellen Übungen zählt.84 Nach Heidegger war es vor allem Foucault, der die Wette
3 Schlaflos in Ephesos
angenommen und mit seinem Werk bewiesen hat, wie Wa chen und Denken in einem zeitgenössischen existentiell-in tellektuellen Projekt wieder in eine überzeugende Verbin dung gebracht werden können. Aus dem Kreis der deutschen Denker, die unter Heideggers Anregungen bis zu den Gren zen des aktuell Möglichen gingen, ist vor allem Carl Friedrich von Weizsäcker zu nennen. Er dürfte dem paradoxen Ideal eines Präsokratismus auf der Höhe des zeitgenössischen Wis sens am nächsten gekommen sein. Sein spätes Hauprwerk, Zeit und Wissen, möglicherweise das tiefste naturwissen schafdich-philosophische Buch des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts,85 wurde von der Öffentlichkeit wie der Zunft ignoriert, auch von denen, die von sich nicht der Meinung sind, sie amüsierten sich zu Tode.
83 Oswald Spengler, Der U ntergang des Abendlandes, a. a. 0., S. 5 5784
579 ·
Vgl. Pupul Jayakar, Krishnamurti - Leben und Lehre, Freiburg 1992.
275
85 München/Wien 1992.
-
4 Habitus und Trägheit
4 HABITUS UND TRÄGHEIT VON DEN BASISLAGERN DES ÜBENDEN LEBENS
277
Anwendungsfall des heraklirischen: »Der Weg hinauf und der Weg hinab sind derselbe«, sondern ein Absturz - ich habe dieses Verhältnis unter dem von Pravu Mazumdar aus Binswangers Schriften übernommenen Stichwort »tragische Vertikalität« behandelt. Binswanger kommentiert im übri gen den naheliegenden Einwand nic t, w�na�h es auch im Horizontalen eine Art von Sturz g1bt, namhch wenn der Schritt in die Weite zu einem rückkehrlosen Vorwärts gerät, wie es der Ewige Jude und der Fliegende Holländer verkörpern. Die tragischen Asymmetrieo, die der Psychiater bei den vertikalen Bewegungen feststellt, beziehen sich nicht auf die Höhe als solche, weder im physischen noch moralischen Sinn. Sie betreffen eher das unzulängliche Können des Agen ten, der die Höhe erklimmt, ohne fähig zu sein, sich in ihr zu bewegen. Im allgemeinen sollte �an annehmen, dasse be .. Können, das einen Aufsreigenden lunaufgelangen laßt, bnn ge ihn auch wieder hinunter, ohne daß dabei eine Spur von »tragischer Vertikalität« ins Spiel käme. Nur wenn as Nicht-Können oder das Nicht-Bedenken von Randbedm gungen des Könnens sich eirmischeo, wie beim lkar�s-Flug, . � werden Stürze wahrschetnlich. Im anderen Fall re1cht das Können auch für den Abstieg mehr oder weniger vollkom men aus. Die Praxis der Luftfahrt belegt das j eden Tag, die doch gewiß eine nicht-ikarische Kul1Stform ist, der diszipli nierte Alpinismus ebenso. Nur beim Vordringen ins Unge � . konnte und Dogesicherte tritt die Sturzproblematik auf - se1 es, daß der Akteur auf eigene Gefahr etwas unternimmt, wozu er die Technik nicht besitzt, sei es, daß er Neues versucht, was aufgrund seiner U nerprobtheit nicht gekonnt werden kann. Ich verzichte hier auf die Ausfühmng d'1eser Beobachtungen hinsichtlich der Situation des Künstlers, des Verbrechers, des Diktators und des Merchant Adventurer. . SlC a lle befinden sich in ei ner Lage, die ohne den inhärenten . Zug zum Scheitern nicht zu denken ist - freilich auch rucht
�
Noch einmal: Höhe und Weite Anthropologische Proportionalität Aus den voranstehenden Überlegungen zu Nietzsche, Witt genstein, Foucault, Heidegger und Herak1it bringen wir eine Reihe von Beobachtungen mit über die von Binswan ger artikulierte »anthropologische Proportion«. Es war die ser von Heidegger angeregte Pionier der psychiatrischen Anthropologie, der das Grundphänomen der existentieLlen Gerichtetheit zu einer elementaren Raum- oder Proportio nen-Ethik entfaltete - besonders in seiner weitgehend un beachteten Ibsen-Studie von 1949. Darin erläutert er, wie sich die menschliche Selbstverwirklichung im gewährtliehen Leben vor allem in der polarischen Bedeutungsrichtung von Enge und Weite vollzieht, während die Dramen der geisti gen und künstlerischen Selbstverwirklichung sich überwie gend in der Dimension Tiefe und Höhe abspielen.86 In bei den Fällen macht sich eine kinetische Grundtendenz des Lebens bemerkbar, von der Goethe gelegentlich notierte, >>wir Menschen sind auf Ausdehnung und Bewegung ange wiesen«.87 Während die existentielle Beweglichkeit i n der Horizontalen durch relative Symmetrie von Hinweg und Rückweg beherrscht wird, tritt bei der Vertikalbeweglich keit oft eine Asymmetrie auf, dann nämlich, wenn der Ab stieg keine bloße Spiegelung des Aufstiegs ist, also kein
86 Ludw1g Binswanger, Henrik lbsen und das Problem der Selbst realisation in der Kunst, a. a.
87 Ibid., S.
5o.
0., S. 48.
�
�
-
f Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
ohne die Chance zum Lernen in der Situation. In bezug auf sie darf man an das Oliver Cromwell zugeschriebene Wort erinnern, nie steige ein Mann höher, als wenn er nicht weiß, wohin er geht.
Im Basislager: Die Letzten Menschen Aus Binswangers Ausführungen zur »anthropologischen Proportionalität« leite ich den Hinweis auf das von mir so genannte »Basislager-Problem« ab. Als dessen Entdecker kann - unvermeidlich - wieder Nietzsche gelten. Es taucht in dem Moment auf, in dem Zarathustra, der Prophet des nicht mehr platonisch zu konzipierenden menschlichen Auf stiegs über sich selbst hinaus, gleich zu Beginn seiner Mission auf die Tatsache stößt, daß die große Mehrheit der Menschen nicht daran denkt., mehr werden zu wollen, als sie sind. Er mittelt man die Durchschnittsrichtung ihrer Wünsche, ergibt sich der Befund: Sie wollen, was sie haben, nur komfortabler. Auf diesem Stand der Wunschkultur setzt Zarathustras Rede vom Letzten Menschen zur Attacke auf das Publikum an. Sein impovisierter zweiter Gesang - der erste hatte den Über menschen verkündet - soll das verächtlichste Geschöpf unter der Sonne beschreiben, den Menschen ohne Sehnsucht, den finalen Spießer, der das Glück erfunden hat und beim Son nenbad am Pool den vorbeigehenden Frauen nachschaut aus welchem anderen Grund blinzelte er sonst? Allerdings verrechnet sich Zarathustra bei seiner Ansprache - man könnte sie übrigens das erste virtuelle Pop-Ereignis der Phi losophiegeschichte nennen. Beim Versuch, zum Stolz der Hörer zu sprechen, gelangt er zu der Feststellung: Sie haben keinen mehr und sind nicht daran interessiert, ihn wiederzu erlangen. Deswegen das begeisterte Echo aus dem Publikum, das nach Zarathusrras mißlungener provokationstherapeu tischer Intervention lautet: Gib uns diesen Letzten Men-
4 Habitus und Trägheit
279
schen!88 Darauf hat Zarathustra keine Antwort. Er unterteilt die Menschen von da an in Publikum und Freunde. Zum Publikum gehört, wer fähig wäre zu fragen: Und was habe ich davon, wenn ich über mich hinausgehe? Nietzsches Rede über den Letzten Menschen liefert die erste Fassung des Basislager-Problems. Es tritt auf, sobald es möglich wurde, programmatisch zu behaupten, Basislager und Gipfel seien dasselbe - genauer gesagt, wenn allen Ern stes die Meinung geäußert werden kann, der Aufenthalt im Basislager und dessen Prolongation mache jede Art von Gip felexpedition überflüssig. Wie solche Auslegungen des Da seins auf dem Hochplateau des Mount lmprobable seit dem 19. Jahrhundert plausibel werden - im Darwinismus wie im Marxismus -, habe ich schon indirekt erläutert: Sie folgen aus den Standarddeutungen der Evolutionstheorie, nach welchen der Mensch im status quo die Endstation des Werdens ver körpert - zu regeln bleibt nur noch die Umverreilung von Endstationserrungenschaften. Dafür plädieren die entspre chenden sozialpolitischen Programme. Das ganze 20. Jahr hundert wird durch ideologisch verschieden begründete Gleichsetzungen von Basislager und Gipfel markiert - von den frühen Proklamationen des Designs für den verwandel ten Alltag bis zum totalen Nebeneinander der Lebensformen im Postmodernismus. In sinnverwandtem Geist hat die Ana lytische Philosophie die normale Sprache zur letzten Sprache erklärt, und der Liberalismus das Amalgam aus Konsum und Versicherung zum letzten Horizont. Mag sein, daß der Öko logismus, der dabei ist, zum aktuellen Leitdiskurs zu werden, die Fortschreibung dieser Tendenz ins 21. Jahrhundert ver körpert, indem er die Ökosysteme und die Arten als letzte Naturen ausruft und dadurch die Unantastbarkeit ihres zur . . 89 Zeit erre1chten zustands statUiert. 88 Pro log g9
5· Vgl. Slavoj Zizek, Unbehagen in der Narur. Warum unser Realitäts•
-
28o
I
Die Eroberung des U nwahrschcinlicbcn
4 Habirus und Trägheit
Die Philosophie des 20. Jahrhunderts, könnte man folglich sagen, im besonderen unter ihren sozialphilosophischen Aus prägungen, bietet aus den angedeuteten Gründen nichts anderes als eine Serie von Stellungnahmen zum Basislager Problem. Auch die zitierten Autoren haben ihr Votum hierzu abgegeben- zumeist in der Form eines Sowohl-als-auch unter Betonung der basalen Seite. Von den Genannten ist Nietzsche der einzige, der ein bedingungsloses Bekennrnis zum Primat der Vertikalen ablegte. Für ihn besteht die Rechtfertigung des
sich mit dem Hinweis auf die Wünschbarkeie der >>anthropo logischen Proportionalität«. Da er einerseits mit dem späten Heidegger sympathisierte, andererseits als aktives Mitglied der psychiatrischen Bergrettung die >>Verstiegenen<< zurück zuholen versuchte, darf man ihn wohl zu den Außenposten des Basislagers rechnen, die von Berufs wegen noch Verständ nis für die Dynamik der Vertikalität aufbrachten.
Basislagers ausschließlich darin, den Ausgangspunkt für Ex peditionen zu immer höheren und unbekannteren Gipfeln z u bilden. Ihm kommen der frühe wie der späte Foucault am nächsten, ebenso der heroistisch gestimmte frühe Heidegger, der noch nicht verstanden hatte, daß die nationale Revolution, mit der er ins deutsche Schicksal >>aufbrechen<< wollte, nichts anderes war als ein wildgewordenes Basislager. Auch beim Wirtgenstein der Tractatus-Periode, als der Autor die bekann te Wegwerf-Leiter benutzte, tauchen Spuren der Hoffnung auf, das horizontale Universum der Sachverhalte sei durch eine vertikale HandJung zum ethischen Gipfel übersteigbar. Beim späteren Wirtgenstein hingegen, beim mittleren Fou cault und beim späten Heidegger ist das Einschwenken in die Horizontale kaum zu verkennen. Sie vollziehen, jeder auf seine Weise und aus sehr verschiedenen Gründen, eine Art von resignatio ad mediocritatem. Das Spielen der Sprach spiele, das nochmalige Durchgehen der Diskurse früherer Machtspiele und das spätpietistische Warten auf ein neues Zei chen des Seins - das alles sind Attitüden in einem Lager, von dem aus es offensiebtlieh nicht mehr weitergeht, mögen auch die Autoren Reste von Aufstiegsaspirationen bewahrt haben. Was Binswanger anbelangt, so entwickelt er in der kritischen Frage, scheint mir, keine eigene Meinung, sondern begnügt
Bourdieu, Denker des Letzten Lagers
glaube uns blind macht für die Umwclrkrise, in: Letrre Internatio nal
Nr. 78, 2007.
Unter den Autoren der zweiten Hälfte des 2o. Jahrhunderts ragt Pierre Bourdieu durch den problematischen Vorzug her aus, daß bei ihm die Abwcndung vom jedem Gedanken an Gipfelexpeditionen dogmatische Ausmaße annahm. Er ist, um es zugespitzt auszudrücken, der Soziologe des definitiven Basislagers - und fungierte sogar für eine Weile als sein in tellektuelJer Präfekt, hierin Jürgen Habermas vergleichbar, dessen Publikationen zur Theorie des kommunikativen Han deins ebenfalls wie Merkblätter zum Endausbau von Basis lagern i n ebenen Gegenden gelesen werden können. Bour dieus Eintritt in die intellektuelle Szene Frankreichs hatte sich in den frühen sechziger Jahren vollzogen, als das theo retische »Feld« - um eines seiner bevorzugten Konzepte aufzugreifen - nahezu restlos von marxistisch codierten For men der Gesellschaftskritik okkupiert war. Als vorüberge hender Assistent Raymond Arons und als Leser Max Webers, ErniJe Durkheims und Alfred Schütz' konnten ihm die Un zulänglichkeiten der marxistischen Ansätze nicht verborgen bleiben, insbesondere in deren fatalen Fortschreibungen durch Lenin und Stalin. Wollte er sich im Erfolgsfeld der französischen Kritikkultur einen Platz erobern, mußte er die unglaubwürdigen Sprachspiele der Verelendungs- und Ausbeutungskritik beiseite lassen und deren verlorene Of fensivkraft durch eine Zusatzanstrengung auf dem Gebiet
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
der Herrschaftskritik kompensieren. Dies ließ sich nur errei chen durch den Übergang von einer Theorie direkter Herr schaft zu einer Logik der Herrschaft ohne Herrscher. Es wa ren jetzt anonyme und präpersonale Agenturen, die den Rang eines repressiven Souveräns erhielten. Aus dieser Konstella tion ergaben sich sämtliche Wendungen und Innovationen, die für die Bourdieusche Variante von »kritischer Theorie« charakteristisch sind - und »kritische Theorie« ist, wie deut
sche Leser wissen, ein Pseudonym für einen vom Glauben an die Möglichkeit der Revolution verlassenen Marxismus. In
dieser Konjunktur wird die Theorie selbst - zusammen mit
einer immer subversiver sich gerierenden Kunst - zum Revolutionsersatz. Das starke Merkmal des Marxschen Denkens bestand in der Einführung einer anti-idealistischen Wirklichkeitshierar chie. Dieser zufolge besitzt die Basis, als politisch-ökonomi sche »Praxis« aufgefaßt, mehr Wirklichkeitsgehalt - mehr
4 Habitus und Trägheit
chen nur mittels einer alternativen Auslegung von Wirklich keit als »Praxis« erreichen. Es galt demnach, bei der Defini tion der »Praxis« neu anzusetzen und zu zeigen, daß diese nach anderen Gesetzen funktioniere, als sie im ökonomisch
beschränkten Standardmarxismus beschrieben wurden. Prak
tikabel wurde dies nur durch die Tieferlegung der Basis, und wer an dieser Stelle tiefer gehen wollte, mußte von der Ebene der Produktionsprozesse auf die der psychophysischen Rea litäten herabsteigen. Der Zeitgeist rat das Seine, um djeses Vorhaben zu unterstützen: Aus theoriegeschjchtlicher Sicht beginnt die Konjunktur des »Körpers« in den sechziger Jah ren des 20. Jahrhunderts, als der Spätmarxismus begriff, wie sehr sein Überleben vom Nachweis einer Ersatz-Basis ab hing. In Deutsenland vollzog sich die Wende überwiegend in Form von Studien zum deformierten »subjektiven Fak tor«, in Frankreich setzte sich eine Art von ethnologischer Feldforschung über die Inkorporierung der Klassenmentali
Macht zur Zeitigung von Wirkungen und Nebenwirkungen - als alle übrigen »Sphären«, weswegen sich diese mit der
täten durch. Tatsächlich war Bourdieu seit seinen 1 9 5 8 be gonnenen Untersuchungen in den nordalgerischen Bauern
Rolle eines von der Basis bestimmten »Überbaus« zufrie denzugeben hatten. Da diese Versetzung in die Zweitrangig
gesellschaften der Kabylei auf den tiefgehenden Unterschied zwischen einer Ökonomie der Ehre und einer Ökonomie des
keit den Staat, das Rechtssystem, das Schulwesen und alle
Tauschs aufmerksam geworden und gewann hierdurch die
übrigen Artikulationen der »Kultur« betraf, erzeugte die
Anregung, nach einer neuen Antwort auf die »Basis«-Frage
politische Ontologie des Basalen einen tiefen Einschnitt i n die tradierte Ökologie des Geistes. Die konsequenteste Ver
zu suchen. An dieser Stelle kommt Bourdieus wichtigste begriffliche
wirklichung des Ansatzes war im Stalinismus zu beobachten, dessen modus operandi auf die einfache Formel zu bringen
Innovation, das Habirus-Konzept, ins Spiel. Es stellt ohne Zweifel eines der fruchtbarsten Instrumente der zeitgenössi
wäre: »Vernichtung des Überbaus durch seine Kurzschlie
schen Soziologie dar, obschon es, wie ich zeigen werde, in Bourdieus Handhabung nur stark verkürzt zum Einsatz
ßung mit der Basis«.
kommt. Die größte Tugend des Habirus-Begriffs zeigt sich darin, daß mit seiner Hilfe die beiden innerhalb des konven
Habitus: Die Klasse in mir
tionellen Marxismus unlösbaren Rätsel zu einer prima vista befriedigenden Antwort finden: zum einen, wie sich die so
Wer nach 1945 eine »kritische Theorie« begründen wollte, konnte dies mjt Blick auf die unter Stalin volJendeten Tatsa-
genannte Basis im sogenannten Überbau widerspiegeln kön ne; zum anderen wie die »Gesellschaft« in die Individuen
I Oie Eroberung des Unwahrscheinlichen eindringt und sich in ihnen präsent hält. Die Lösung lautet: Aufgrund von klassenspezifischen psychosomatischen Dres suren nistet sich das Soziale in den Einzelnen als erzeugt erzeugende Disposition ein, um in diesen ein zwar erfah rungsoffenes und lebensgeschichtlich bewegtes, im letzten Grunde aber unauslöschlich durch die Vergangenheit gepräg tes Eigenleben zu entfalten. Sofort springt die Analogie zwischen Habitus und Sprache ins Auge, da auch sie auf ihre Weise eine in den Sprechern sedimentierte strukturierend-strukturierte soziale Wirklich keit bildet. Der strukturalistische Zeitgeist der sechziger Jah re mochte dafür gesorgt haben, daß Bourdieu sich vorüber gehend mit dem Werk Ferdinand de Saussures befaßte, in dem der bezeichnete Sachverhalt unter dem Begriff
Iangue
thematisiert wurde. De facto hat sich Bourdieu auf eine Ana logie zwischen seinem Habitus-Konzept und Chomskys ldcc der Grammatik berufen, sofern man diese als System kon ditionierter Spontaneiräteo versteht, die auf physisch veran kerten Tiefenstrukturen beruhen. Die Möglichkeit des Ver gleichs ergibt sich auf der einen Seite aus klassenbedingten Verhaltensdispositionen, auf der anderen aus grammatikbe dingten Konditionierungen der Rede. Der Habitus ist quasi die Erstsprache der an mir vorgenommenen Klassendressur, und soviel die Einzelnen sich im Lauf ihres Lebens auch um neue Inhalte und Kompetenzen bemühen, sie bleiben in Bourdieus Augen muttersprachlich geprägt, und, weil ge prägt, auch weiter prägend.
4 Habirus und Trägheit
freigelassene Sklave, auf seinen Gastmählern unvomehm protzt, erkennen die Angehörigen der alten Elite in ihm den typischen Sklaven. Wenn hingegen Bourdieu vom Enkel eines armen metayer und Sohn eines Postangestellten aus dem Bearn zum Meisterdenker und Herrn des akademischen soziologischen :.. Feldes« in Frankreich aufsteigt, so hilft ihm der Gedanke an den unauslöschlichen Habitus seiner Klasse den Verdacht beschwichtigen, er habe durch seine Karriere seine Herkunft verraten. Unter diesem Gesichtspunkt be trachtet, bietet die Habitustheorie den unschätzbaren Vor zug, der moraljschen Beruhigung ihres Urhebers zu dienen: Selbst wenn ich die eigene Klasse verraten wollte- ich könnte es nicht, weil ihre Einverleibung in meinen alten Adam die Grundlage meines sozialen Seins bildet. Davon abgesehen hilft die Theorie ihren Benutzern in der akademischen Welt wie auf den offenen intellektuellen Märkten, den kritischen Schein zu wahren, indem sie ihnen ein Mittel an die Hand gibt, die vielfältigen Vertikaldifferenzierungen der »Gesell schaft« auf die simple Matrix von Herrschaftsprivilegien ab zubilden, seien es Männervorrechte, seien es Kapitaleigoer vorrechte, materielle wie symbolische. Der Preis, den Bourdieu für die Einsenkung der Basisdi mension in die psychophysischen Strukturen der Einzelnen zu entrichten hat, ist sehr viel höher, als ihm selber bewußt wurde. Zum einen gibt er, wie eben angedeutet, mit diesem Habitus-Konzept die besseren Mittel preis, um das Spiel der Vertikalspannungen in den zahllosen disziplinischen Feldern des sozialen Raums in ausreichender Sachnähe zu beschrei
Basis und Physis oder: Wo steckt die Gesellschaft? Der Habitus ist demnach das somatisierte K]asseobewußt sein. Er haftet uns an wie ein nie verschwindender Dialekt, den selbst Henry Higgins Fräulein Doolitte nicht würde aus treiben können. Wenn Trimalchio, der zu Reichtum gelangte
ben. De facto ist Bourdieus schrifrstellerischc Arbeit originell und fruchtbar, beispielsweise in der Analyse der Discinkti onskämpfe um »die feinen Unterschiede« und in der Ethno
�
�
graphie des Homo academims, nicht primär durc die wendung des Habiruskonzeprs, sondern dank der Ultens1ven außenseiterischen Aufmerksamkeit des Autors für rivalitäts erzeugte Rankingmcchanismen, bei denen die Klassenprä-
-
I
Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
gungen zwar eine Rolle spielen, aber nicht den Ausschlag geben. Wo Bourdieu am besten ist, schreibt er eine Satire ohne Lachen über Neureiche und Ambitionierte; wo er am tiefsten denkt, rührt er an den tragischen Rest der conditio
humana.
Eine weitere Schwäche des so gelesenen Habitus-Kon zepts zeigt sich darin, daß es die individualisierten Formen existentieller Selbst-Entwürfe nicht erfassen kann. Die Bour dieusche Analyse verbleibt notwendigerweise im Typischen, Präpersonalen und Durchschnittlichen, als ob der homo so ciologicus in allem das letzte Wort bebalten sollte. In gewisser Weise parodiert Bourdieu die Man-Analyse aus Heideggers Sein und Zeit unter Umkehrung der Vorzeichen. Während für Heidegger das menschliche Dasein »zunächst und zumeist« an die Anonymität des Man verfa!Jen ist und erst durch einen Akt der Entschlossenheit in die Eigentlichkeit gelangt, liegt für Bourdieu die Eigentüchkeit des Daseins im Habitus, über dem sich ein mehr oder weniger zufälliger Überbau an Am bitionen, Kompetenzen und Distinktionsattributen ansam melt. Diese Umkehrung der Man-Analyse ergibt sich fast zwangsläufig aus der Zustimmung zur politischen Ontologie des Praxisdenkens, der zufolge die Basis wirklicher ist als das, was überbaulich hinzukommt. Folglich wäre der Mensch im mer don am meisten er selbst, wo seine Prägung durch den Habitus ihm zuvorgekommen ist- als ob das Echteste an uns die einverleibte Klasse wäre. Was an uns nicht wir selbst sind, sind wir selbst am meisten. Die Habitus-Theorie liefert eine klandestine Kreuzung aus Heidegger und Lukacs, indem sie von jenem die Idee eines im Man zerstreuten Selbst, von diesem das Konzept des Klassenbewußtseins übernimmt. Sie baut die beiden Figuren so zusammen, daß die vorbewuß te Klasse »an sich« in uns zum eigentlichen Selbst wird. Dazu paßt die von Bourdieu vorgenommene Zerlegung des sozia len Raums in diverse »Felder« - in diesen können naturgemäß keine »Personen« auftreten, sondern nur habitus-gesteuerte
4
Habitus und Trägheit
Agenten, die unter der Nötigung stehen, ihre Programme in den Spielräumen des Feldes zu realisieren. Wer Vorschläge dieser Art für akzeptabel hält, kann es zuletzt auch plausibel finden, wenn in La distinction, Bour dieus erfolgreichstem Buch, nachgewiesen werden soll, der Vollzug von ästhetischen oder kulinarischen Geschmacksur teilen stelle ein Reproduktionsmedium von »Herrschaft« dar. Unter Soziologen dürfte sich herumgesprochen haben, daß man in diesen Dingen mit einer eher horizontal als vertikal differenzierenden Milieu-Theorie, in Kombination mit ei nem Instrument zur Beobachtung mimeciseher Mechanis men, zu wesentlich präziseren Aussagen gelangt als mit einer Theorie anonymer Herrschaft. Was das Basis-Überbau-Sche ma als solches angeht, ist es zu oft widerlegt worden, um weitere Kommentare zu verdienen. Ich füge hinzu, es würde nur geringen Aufwand kosten, zu zeigen, daß das Hinzu kommende oft ebenso wirklichkeitsmächtig ist wie das, zu dem es hinzukommt, gelegendich mächtiger. Wäre es anders, wären Menschen nur dem Anschein nach veränderbare und lernende Wesen.
Vom Genius der Gewohnheit. Aristoteles und Thomas Die entscheidende Schwäche des Habitus-Konzepts in Bour dieus Redaktion besteht aber darin, daß es das, was es zu erklären vorgibt, die Region »Gewohnheit«, in keiner Weise angemessen abbildet. Die große Tradition des philosophi schen und psycho-physiologischen Nachdenkens über die Rolle der Gewohnheiten bei der Formung menschlicher Exi stenz schrumpft bei diesem Autor auf einen für die Zwecke der Herrschaftskritik verwendbaren Rest zusammen. Statt in das Panorama der effektiven Subjektbildungen durch Übung, Training und Gewöhnung einzutreten, begnügt sich die Habitus-Theorie a Ia Bourdieu mit dem engen Segment der
I
Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
Gewohnheiten, die die Sedimente der »Klasse in uns« ausma chen - sie herrügt ihre Benutzer um die Fülle dessen, worauf ihr Name hinweist. Natürlich war sich Bourdieu, der den Ausdruck aus Erwin Panofskys Studie
und Scholastik,
Gotische Architektur
1 9 5 1 , übernommen hane, über seine philoso
phische Vorgeschichte summarisch im klaren.90 Er wußte,
daß der habitus-Begriff bei Themas von Aquin und der he
xis-Begriff bei Anstoteies einen guten Teil der Last einer Ethikbegründung im Rahmen einer aretologischen Anthro pologie (das heißt einer Theorie, die den Menschen als das zu Tugenden fähige Lebewesen portraitiert) zu tragen hatten, jedoch ignorierte er bewußt die weite Fassung der
habitus
Doktrin, um sich allein auf die für seine Zwecke brauchbaren Aspekte zu beschränken. Schon bei den älteren Autoren findet man die gut entwik
Habirus und Trägheit
Vom klassischen
habiws-Konzept
übernahm er jedoch ein
seitig nur die Elemente, die sich seiner Version der »Basis« einfügen ließen, die, wie gesagt, das vorbewußte Wirken der »Klasse in uns« bedeutet. Aristoteles wie Themas von Aquin war es hingegen um die
Erklärung der Möglichkeit des »Tüchtigen in uns« gegangen, wenn nicht sogar des »Guten in uns«. Sie begriffen die Ge
wohnheit, sofern sie gute Gewohnheit ist, als eine verkörper
te Disposition, die den Handelnden zu tugendhaften Hand Jungen bereitmacht - gewiß auch, bei schlechten Gewohn heiten, zu schlechten Taten, doch diese stehen nicht im Focus ihrer Untersuchung. Die hexis bzw. der habitus haben für die Klassiker der praktischen Philosophie ständig Bereitschafts
dienst: Sie sollen bei eintretender Gelegenheit aufspringen, um das an sich Gute und Wertvolle auszuführen, als sei es
von zweiseitiger, passiv-spontaner Qualität. Die »Macht der
das Leichteste von der Welt. Indessen kann es leicht nur er scheinen, wenn und weil eine anhaltende Übung die Unwahr
sein durch Routinen verstanden, sondern als präpersonal ver
Erläuterungen für den anspruchsvollen Sachverhalt, daß
kelte Figur des Habitus als eines elastischen Mechanismus Gewohnheit« wird bei den Alten nicht bloß als Überwältigt
ankertes generatives Prinzip des Handelns. Wenn die Schola
stiker vom
habitus reden, meinen sie eine janusköpfige Dis
position, die mit dem einen Gesicht auf die Serie der vergangeneo ähnlichen Handlungen zurückschaut, in der
sie Gestalt angenommen hat, während sie mit dem anderen
auf die nächsten Anlässe vorausblickt, in denen sie sich von oeuem bewähren soll. Der habitrts bildet somit eine aus frü heren Akten geformte »Potenz«, die sich in erneuten Akten »akruaüsiert". Ein solches Konzept konnte Bourdieu natur gemäß sehr gut gebrauchen, weil er als Soziologe nach Be griffen Ausschau hielt, die das menschliche Verhalten in eine plausible Mitte zwischen übermäßiger sozialer Determina tion und bodenloser individueller Spontaneität plazieren.
90
Erwin Panofsky, Gotische Architektur und Scholastik: Zur Analogie von Kunst, Philosophie und Theologie im Mittelalter, Köln 1989.
-
4
scheinlichkeit des Guten im voraus weggearbeitet hat. Als Menschen, sofern sie moralisch und ästhetisch agieren, immer schon durch habendes Gehabtsein, prägendes Geprägtsein, disponierendes Disponiensein, handelndes Gehandelthaben bestimmt sind, bilden hexis und habitus alles andere als bloße Hilfsbegriffe einer kritischen Soziologie. Sie sind anthropo logische Konzepte, die einen scheinbar mechanischen Prozeß unter den Aspekten der Beharrung wie der Steigerung be schreiben, um die Inkarnation des Geistigen zu erläutern.
Sie identifizieren den Menschen als das Tier, das kann, was
es soll, wenn man sich rechtzeitig um sein Können geküm
mert hat. Zugleich sehen sie die erreichten Dispositionen zu
neuen Steigerungen weiterwachsen.91 Dazu braucht Themas keine Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen-
91 Die Bedeutung der Gewohnheit als Ausgangspunkt für immer
neue Verschiebungen innerhalb des Systems unserer konstituierten
-
I
Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
geschlechts zu schreiben - begriffliche Klärungen über die Anleitung des Könnens zur Bereitschaft für das Gute reichen völlig aus. Tatsächlich ist es möglich, schon die klassische habitus Lehre als Trainingstheorie zu lesen. Wer richtig geübt hat, überwindet die Unwahrscheinlichkeit des Guten und läßt die Tugend wie eine zweite Natur erscheinen. Zweite Naturen sind Könncnsdispositionen, dank deren sich der Mensch als Artist der virtus auf der Höhe zu halten vermag. Er tut das fast Unmögliche, das Beste, als sei es das Leichte, Spontane, Na türliche, das sich nahezu von selbst einstelJt. Das Gute, nota bene, wird hier noch nicht als »Sollen«, erst recht n icht als
»Wert« verstanden, der von meiner Setzung und Schätzung abhinge. Es ist das von Gott gespannte Seil, über das die Ar tisten der Überwindung gehen - und Überwindung heißt stets: das Wunderbare als das Mühelose ausgeben.92 Darum gab Jean Genet in seinen kryptakatholisch inspirierten Rat scWägen für den Seiltänzer diesem die Empfehlung mit: sich immer bewußt zu halten, daß er dem Seil alles verdankt.93
92
93
Vermögen wird besonders von dem französischen Philosophen Felix Ravaisson hervorgekehrt. Vgl. F. R., Die Gesetze der Ge wöhnung, in: Im Netz der Gewohnheit. Ein philosoph isches Lese buch. Herausgegeben von Michael Hampe und Jan-lvar Linden, Harnburg 1993, S. 1 3 5f. Genau das wird von der modernen Sollensethik abgelehnt. Wie entschieden Kant in seiner Ethik von der Sorge ums Können auf das reine Sollen umstellte, zeigt unter anderem seine Verwerfung der Idee eines bei der Ausübung der Pflicht mithelfenden Habirus. Denn da wäre die Tugend »bloß M echanism der Kraftanwendung; . . . Tugend (hingegen) ist die moralische Stärke in Befolgung seiner Pflicht, die niemals w Gewohnheit werden, sondern immer ganz neu und ursprünglich aus der Denkungsart hervorgehen soll.« Immanuel Kant,Werke Xll, Frankfurt am Main 1977, S. 436. Wenn der Mensch allein durch die Pflicht gerettet wird, fallen Hilfen seitens der Disposition und der Neigung beiseite. Jean Genet, Der Seiltänzer, a. a. 0., »Nicht du wirst tanzen, son dern das SeiJ.«
4 Habims und Trägheit
Auch wenn wir heute über >>das Gute« so nicht mehr denken können, bleibt die klassische Analyse des habitus aktuell; sie ist mutatis mutandis leicht in die Sprache der zeitgenös sischen Trainingspsychologie, der Neurokybernetik und der
Pragmatik übersetzbar. Mit ihrer Hilfe lassen sich die psy chophysischen Bedingungen der Möglichkeit von richtigem, angemessenem und gekonntem Handeln auf hohem Niveau gegenstandsnah erläutern. Sie soll gewiß nicht, wie die kryp ta-marxistische Deutung der »Basis« es möchte, erklären, wie das Soziale in den Körper kommt. Sie sagt vielmehr, wie die Disposition zum Vol lbringen des Guten, Richtigen und An gem es senen dem menschlichen Dasein einverleibt werden kann. Ich füge hinzu: »Gut«, »richtig« und »angemessen« sind Namen für das Außerordentliche, in dessen Natur es liegt, im Gewand des Normalen zu erscheinen. Die ältere habitus-Theorie ist also Teil einer Lehre von der Inkorporation und In-Formation der Tugenden. Sie ist ange wandte Arerologie, ausgeführt in Form einer tiefen Analyse der in den tätigen Menschen wirkenden Kraft, die zum Akt strebt. Eine »informjerte Energie« dieser Art trägt ihr selbst vers t ärkendes Prinzip in sich. Ihrer Optimierung ist von außen keine Grenze gesetzt. Selbst den Heiligen, sagt Prosper von Aquitanien, »bleibt immer noch etwas, worin sie wach sen können sollen« (superest quo crescere possint). Wer di e
habitus-Theorie in ihrem bei Thomas erreichten Stand auf
greift, hat mehr als die Hälfte des Weges zu einer Deutung des
Menschseins als einer Artistik des Guten zurückgelegt. Mit ihr ist uns ein anthropologisches Konzept für die Wirk samkeit innerer Technologien zuhanden, das die jedem Kön nensbereich inhärente Vertikalspannung subtil auf den Be griff bringt. Sie erläutert, wie es möglich ist, daß gerade das, was schon recht gut gelingt, den Sog des Besseren verspü rt, und warum das vorzüglich Gekonnte im Amaktionsfeld eines noch höheren Könnens steh t. Die authentische Form der habitus-Thcorie beschreibt den Menschen in aller Dis-
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
kretioo als Akrobaten der vinus - man könnte auch sagen: als Träger einer moralischen Kompetenz, die in soziale und künstlerische Leistungskraft übergeht. Das ist die weit geöff nete Tür, durch welche die Denker der Renaissance bloß zu gehen brauchten, um die Heiligen in die Virtuosen zu ver wandeln.
Homo bourdivinus: Der andere Letzte Mensch An diesem Standard der Analyse gemessen, erscheint die Bourdieusche Aneignung des Habitus- Begriffs wie eine mut willige Verarmung. Sie ähnelt einer Regression in einen un freiwilligen Vorsokratismus, in dem die Auseinanderlegung der Besessenheiten in bezähmbare Leidenschaften und form bare Gewohnheiten94 noch nicht vollzogen ist. Der homo bourdivinus gleicht einem von der Klasse Besessenen, der auf dem Hexenbesen des Habitus habend-gehabt im Kreis reitet. Er ist der Mensch, der im Basislager agiert, als läge dort das Ziel der Expedition. Für ihn ist die Reise nach oben been det, bevor sie begonnen hat. Man hat diesem jüngsten Bruder des Letzten Menschen drastisch vor Augen gestellt, sämtliche Distinktionen, die er erwerben mag, seien nie mehr als Zu sätze zum Habitus, pseudovertikale Differenzierungen inner halb der Lagerpopulation. Was Bourdieu die Klassengesell schaft nennt, ist ein Basislager, in dem alle Aufstiege intern stattfinden, indessen Aufstiege zu externen Zielen strikt aus geschlossen sind. Da Bourdieu, wie jeder Angehörige einer nicht-utopischen Linken, im stillen sehr gut weiß, daß es die »klassenlose Gesellschaft« aus einer Reihe starker Gründe nicht geben kann, beschränkt sich die Kritik im Basislager darauf, den Schein der Kritik zu wahren - was solange sinn94 Siehe oben S. 164f.
-
4 Habitus und Trägheit
293
voll ist, wie hierdurch Distinktionsgewinne in der Kritiksze ne zu erzielen sind. Daher die Erfolge Bourdieus in dem von den »Konformisten des Andersseins« bevölkerten Milieu.95 Wir haben die Basis gefunden, sagen die Lager-Bewohner und blinzeln. Es dürfte sich auch hier erübrigen zu betonen, daß diese Einwände nicht als destruktive Kritik mißverstanden werden dürfen. Bourdleus direkte und indirekte Beiträge zum Ver ständnis des menschlichen Übungsverhalrens sind in man cher Hinsicht ebenso wenvoll wie Wirtgensteins Sprach spiel-Theorie und Foucaults Diskursanalysen - aber wie jene Entwürfe bedarf auch die Habitus-Theorie in der bei Bour dieu gefundenen Ausbildung einer Drehung, die ihr Anre gungspotential für eine allgemeine Theorie der Amhropo technik freisetzt. Es genügt hierzu, den Habitus-Begriff zu entzerren, ihn von der Fixierung auf Klassenphänomene zu lösen und ihm den Bedeutungsreichtum zurückzugeben, den er in der aristotelischen und später in der empiristischen Tra dition besa.ß. Zu seiner vollen Leistungsfähigkeit entfaltet er sich jedoch erst, wenn man ihn mit Nietzsches Programm verknüpft, die Askesen zu »positivieren<< - so hat man wohl den von Nietzsche gebrauchten, eher ungeeigneten Ausdruck »vernatürlichen« im heutigen Kontext wiederzugeben. Dies verlangt, die von Bourdieu fingierte Singularität »Ha bitus« - ein Kopf, ein Habitus- aufzulösen und die in jedem Einzelnen akkumulierte Fülle diskreter habitueller Hand lungsbereitschaften offcnzulegen. So kommt die unresümier bare Vielheit der elaborierbaren »Gewohnheiten« bzw. der trainierbaren Könnensmodule zum Vorschein, aus denen die realen Individuen »bestehen«. Bourdieus »Habitus« ist das seit der 6. These über Feuerbach gut bekannte, nicht mehr als abstraktes »Wesen« zu denkende »Ensemble der gesell95 Vgl. Norbcrt Bolz, Die Konformisten des Andcrsseins. Ende der
Kritik, München 1999.
294
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
schaftliehen Verhältnisse«, das dem Individuum »inne wohnr«. Freilich hatte schon Marx dieses Innewohnen nicht angemessen konzipiert, weil er den Schablonen der Herr schaftskritik in noch höherem Maß als Bourdieu unterlag. Wenn sich in dem Ensemble der Disziplinen und Übungs komplexe, die de facto das ausmachen, was dem Einzelnen Ieibhaft »innewohnt«, auch klassenspezifische Züge manife stieren, tant mieux für uns, wenn wir bei Bourdieu gelernt haben, sie zu entziffern. Diese Schicht des Einverleibten als »Basis« zu privilegieren, ist eher eine Sorge für Ideologen.
Lehrersein als Beruf: Der Angriffaufdie Trägheiten Bei diesem Stand der Überlegungen kann deutlich werden, warum und in welcher Absicht hier und in der älteren Tradi tion die Rede auf Gegenstände wie Gewohnheit, hexis und habitus gebracht wurde. Die Explikation des Ge-Habes, des Gewohnheitsmäßigen, des psychosomatisch Einverleibten ist, wie mit den Hinweisen auf die Ethik als Erste Theorie angedeutet wurde, ein Teilphänomen des Vorgangs, den ich die Aufteilung der Besessenheit in die Leidenschaften und die Gewohnheiten genannt habe. Diese Wandlung vollzog sich unter dem Druck der ersten Pädagogen, die naturgemäß die entschiedensten Träger des ethisch-asketischen Angriffs auf die bestehenden psychosozialen Verhältn1sse waren. Was die seit zweieinhalb Jahrtausenden anhaltende Menschheitsbelästigung durch Lehrer eigentlich bedeutet, ist erst zu begreifen, wenn man betrachtet, unter welchem Winkel die Wissenden die Noch-nicht-Wissenden angreifen. Nur dort, wo die Säkularisation der Psyche auf der Tages ordnung stand, bei den Einzelnen wie den Kollektiven, wur den für die Lehrenden die inneren Trägheitsverhältnisse bei den zu Belehrenden thematisch. Sie sind es, die, wie man jetzt zu verstehen begann, dafür verantwortlich zeichnen, daß
4 Habitus und Trägheit
Menschen nicht umstandslos den Weisungen ihrer neuen ethischen Direktoren zu folgen fähig sind. Wenn man unter den ersten Philosophen-Pädagogen obsessiv über Gewohn heiten sprach, dann also im Rahmen einer Widerstandsanaly se: Mit ihrer Hilfe sollte verständlich werden, wie das in den Menschen schon Vorhandene, die hexis, der habztus, die doxa (im 18. Jahrhundert kommt das Vorurteil hinzu), die Aufnah me des Neuen, des philosophischen Ethos, des expliziten Logos, der gereinigten Mathesis und der geklärten Methode erschwert oder unmöglich macht. Die »Gewohnheit•, als Wort wie als Sache, steht für die faktische Besessenheit der Psyche durch einen Block von schon erworbenen und mehr oder weniger irreversibel verkörperten Eigenschaften, zu de nen überdies die zähe Masse der mitgeschleppten Meinungen gerechnet werden muß. Solange der Block unbeweglich ver harrt, kann die neue Belehrung nicht beginnen. Daß Beob achtungen dieser Art auch in der asiatischen Welt gesammelt und festgehalten wurden, zeigt die bekannte Anekdote von dem Zen-Meister, der beim Eingießen von Tee in eine Tasse zum Erstaunen seines Schülers nicht haltmachte, als die Tasse voll war, sondern fortfuhr einzugießen: Damü sollte gezeigt werden, man könne einen vollen Geist nichts lehren. Das Studium besteht dann im Nachdenken über die Frage, was zu cun sei, um die Tasse zu leeren. Ob die neu gefüllt werden soll oder ob die Leere, einmal erreicht, als Eigenwert gepflegt wird, ist ein anderes Thema. Die frühen Schulen sind in der Regel Basislager, deren Vorstände imposante Gipfelambitionen hegen, auch wenn die Gipfel schulspezifisch definiert werden. Jeder Schulbe trieb entwickelt spontan eine interne Vertikalität und bildet früher oder später ein Stufensystem aus, das eine »Kiassen« gesellschaft s1�i generis ergibt - wobei man die Herkunft des Begriffs »Klasse« aus nicht-politischen Stufenbildungen noch recht gut erkennt. Jedoch behält die frühe Schule bis auf wei teres eine natürliche Extravertiertheit. Sie orientiert sich an
-
I Die Eroberung des Unwahrscheinlieben
4 Habitus und Trä�heit
297
me dessen garantiert, was mich besitzt. Die Identischen neh
Aufgaben, die ihrem Betrieb transzendent sind - sei es an der Qualifizierung der Schüler für Berufe und Ämter, sei es an einer überschulischen Vollendung: Persönlichkeitsbildung,
Dokumentenmappe unter das weite Dach der Werte mit
Erleuchtung, Philosophenherrschaft - oder wie die großen
Bewahrungsanspruch. Sie stellen sich als Trägheitssysteme
Schüsse ins Blaue sonst heißen. Die späte Schule hingegen räumt mit den transzendenten Prätentionen auf und wehrt
vor und fordern für diese die Verklärung, indem sie dem in ihnen abgesetzten Inerten den höchsten kulturellen Wert zu
die Vorstellung ab, es könne ein reales Außerhalb der Schule
sprechen. Mochten die Stoiker der Antike ihr Leben dem Versuch gewidmet haben, durch stetiges Üben in sich die
geben. Sie wird dann zu dem Basislager, in dem nur noch für Umzüge innerhalb des Lagers gelernt wird - genau wie es Bourdieus primärer Intuition entsprach, wenn er die Ambi cionsspiele in der Klassengesellschaft als pseudovertikale Bemühungen um mehr oder weniger illusorische Distink tionsvorteile beschrieb.
Identität als das Recht auf Faulheit Die Welt der Pseudovcnikalität ist der Tummelplatz der Identitäten. Eine »Identität«, ob sie sich als persönliche oder als kollektive präsentiert, kann ja nur attraktiv und wertvoll werden, wenn Menschen sich voneinander unterscheiden wollen, ohne sich hierarchisch voneinander abheben zu dür fen. l n dieser Sicht bildet der in der zeitgenösssischeu Sozio logie kurante Identitätsbegriff das verallgemeinerte Gegen stück zu Bourdieus Habituslehre. Mir ihm wird die Trägheit von einem zu korrigierenden Mangel zu einem Wertphäno men erhoben. Meine Identität besteht in dem Komplex mei ner unrevidierbaren persönlichen und kulturellen Trägheiten. Während Sartre behauptete: »ich bin das, was ich habe« - »die Totalität meiner Besitztümer reflektiert die Totalität meines Seins«,96 wollen die Identitätsinhaber sagen: Ich bin das, was mich hat. Die Wirklichkeit meines Seins wird durch die Sum96
In dem Kapitel Handeln und Haben aus Das Sein und das Nichts, Versuch einer phänomenologischen Anthropologie, Reinbek bei Harnburg 1993, S. 1011.
men sich als Ready-made und treten mit sich selber in der
Statue aufzustellen, die in unsichtbarem Marmor ihr bestes Selbst herausarbeitete - die Modernen finden sich als fertige Trägheitsplastik vor und stellen sich im Identitäcen-Park auf, gleich, ob sie den ethnischen Flügel wählen oder das indivi dualistische Freigelände bevorzugen. Neben dem Habitus ist darum die Identität der Leitwert der Basislagerkultur - und wenn zur Identität ein Trauma hinzukommt, steht der Verklärung des Wertkerns nichts mehr im Weg. Entscheidend ist, daß der Gedanke an neue Höhen verpönt sein muß - würden solche erklommen, könn te eine Wertminderung bei den eingelagerten Beständen ein treten. Wenn und weil im Basislager das bisher Erreichte als solches unter Kulturschutz gestellt wird, bedeutete jedes Expeditionsprojekt in der Vertikalen einen Frevel, eine Ver höhnung aller gerahmten Wenc. Im Idcntitäten-Rcgirne wer den sämtliche Energien devertikalisiert und der Registratur übergeben. Von dort aus geht es direkt in die permanente Sammlung, in der es weder »progressive Hängung« noch evo lutionäre Stufung gibt. Im Horizont des Basislagers ist jede Identität jede andere wert. Identität liefert folglich den Super Habitus für alle, die so sein wollen, wie sie aufgrund ihrer lokalen Prägungen wurden, und meinen, das sei gut so. Auf diese Weise stellen die Identischen sicher, außer Hörweite zu sein, sollte unvorhergesehen wieder irgendwo der Imperativ ,.Du mußt dein Leben ändern!« zu hören sein.
-
5
5 CUR HOMO ARTISTA VON DER L EICHTIGKEIT DES UNM Ö GLICHEN
Katapulte Im Gang der Untersuchungen scheint ein Punkt erreicht, an dem es sinnvoll wird, den zurückgelegten Weg zu resümieren. Er führt, um es pointiert zu sagen, von anekdotischen An näherungen an den Planeten der Übenden zur Emergenz der Region »Gewohnheiten« - und weiter vom Auftauchen der Gewohnheiten zu den Aufschwüngen ins Übergewöhnliche. Mit diesem Ausdruck ist nicht die durchschnittliebe Unwahr scheinlichkeit von natur- und sozialgeschichtlichen Speziali sierungen auf dem Hochplateau des Mount lmprobable ge meint, sondern die überdurchschnittliche Unwahrscheinlich keit, die erreicht wird, sobald einzelne Menschen, sei es allein, sei es in der Gesellscha.ft Mitverschworener, beginnen, sich aus den Habitusgemeinschaften, denen s.ie zunächst und zu meist angehören, herauszukatapultieren. Hat man die jähe und unheimliche Sezession der Gesteigerten von den Bewoh nern der Basislager in ihrer Schicksalhaftigkeit erfaßt, wird evident, daß Kulturtheorie sinnvollerweise nur als Beschrei bung von Katapulten betrieben werden kann. Hier zeigt sich erneut die explizitmachende Bewegung, von der wir wissen, daß sie den Weg der Zivilisationen zur kognitiven Selbstdarstellung antreibt und begleitet. Explika tion bricht das in konfuser ErscWossenheit Vorgefundene auf und fügt dem Aggregat des schon Entdeckten weitere Ent deckungen hinzu. Dabei verschieben sich die Grenzen zwi schen dem Üblichen und dem Ungewöhnlichen - die Men schen werden mehr und mehr zu Urbebern selbstvollbrachter Mirabilien. Wie jeder zugeben wird, ist nichts selbstverständ-
Cur homo an:ista
299
lieber, als daß Menschen »in Gewohnheiten verstrickt<< sind. Nichts versteht sich jedoch weniger von selbst, als daß Ein zelne, die für ihre Kollektive nicht selten später als Pioniere in Fragen der Weltorientierung fungieren, in eine Sezession von den Gewohnheiten geraten. Ebendies ist die Bewegung zum Übergewöhnlichen hin, die sich an den antiken Geburtsstät ten des Philosophierens, in Griechenland wie in Indien und China, beobachten läßr. Von Kulrurhistorikern wird dieser Vorgang mit Phänomenen wie Urbanisierung und Arbeits teilung assozüert- was zur Erläuterung der Sache wenig bei trägt. Was wirklich zu denken gibt, ist vielmehr die Frage, wie im Verlauf dieser Sezession der Komplex der erworbenen Gewohnheiten als solcher thematisch und wie der Gedanke an Übergewöhnlichkeiten in einzelnen Menschen mächtig werden konnte. Was auch immer man hierauf antwortet: Erst in dieser Absetzung entdeckt sich der hochkultureile Mensch als das gespaltene, das gespiegelte, das neben sich selbst versetzte Tier, das nicht bleiben kann, wie es war. Die Differenz im Menschen wird nun als Differenz zwischen Menschen scharf gemacht. Sie zertrennt die »Gesellschaften« in Klas sen, von denen die Theoretiker der Klassen>>gesellschaft« nichts wissen. Der oberen Klasse gehören die Hörer des Imperativs an, der sie aus ihrem alten Leben katapultiert, den anderen Klassen all die, die in eigener Sache hiervon nie etwas gehört oder gesehen haben - das sind in der Regel Leute, die mit der Bewunderung schnell bei der Hand sind, um klarzustellen: Höhere Anstrengungen können aus schließlich eine Sache der Bewunderten, auf keinen Fall der Bewunderer sein. Diese nicht-politische Klassenspaltung inauguriert die Ge schichte des inneren Zeugen oder des »Beobachters«. In dem Wasser des Habitus, der Lebensformen, der Diskurse und Sprachspiele mitzuschwimmen ist eine Sache; aus ihm her auszusteigen und den Mitmenschen vom Rand aus beim
-
JOO
r Die Eroberung des Uo,vahrscheinlichen
5
Schwimmen im Habitus-Pool zuzusehen ist eine andere. So bald diese Differenz eine eigene Sprache ausbildet, um Lehre und Lebensform zu werden, distanzieren die Uferbasierten sich von den Schwimmenden. Wenn also die alten Inder den Beobachter bzw. das Zeugenbewußtsein entdecken und ihn mit Atman, dem subjektiven Welrprinzip, gleichsetzen, schaffen sie Zugänge zu einem Überschuß an Aufmerksam keit, der die Meditierenden zugleich stillsteHt und mobi lisiert. Und wenn Heraklit sagt, es sei unmöglich, zweimal in denselben Fluß zu steigen, mag dies vielleicht beiläufig auf die irreversible Strömung des Werdens hinweisen - so hat man das Diktum in bequemer Analogie zu »alles fließt« oft gelesen. In Wahrheit erinnert der dw1kle Satz an eine tiefere lrreversibilität: daß nämlich, wer einmal aus dem Wasser ge stiegen ist, nicht mehr zu der ersten Art des Schwimmens zurückkehrt. Mit der Emergenz des Bewußtseins von der Gewohnheits natur menschlichen Verhaltens ist die Schwelle erreicht, die, sobald sie sichtbar wird, auch schon überschritten werden muß. Man kann die Gewohnheiten nicht entdecken, ohne zu ihnen auf Distanz zu gehen - anders gesagt, ohne mit ihnen in einen Zweikampf zu geraten, in dem ermittelt wird, wer Herr im Ring sei. Nicht alle wollen diesen Kampf ge winnen, Konservative aller Zeiten stellen sich schwach, u m von der Gewohnheit besiegt zu werden - und dann der Sieg reichen dienen zu dürfen, als sei sie die Unüberwindliche. Andere hingegen sind überzeugt, die Gewohnheiten seien Fremdherrscher, unter denen es kein richtiges Leben gibt. Diese Position ist diejenige, die Foucaulr in seinen späten Studien über die >>Selbstsorge« bei antiken Autoren ans Licht gehoben hat: Die »Sorge um sich« ist die Haltung derer, die in sich selber auf den Gegner aller Gegner gestoßen sind - den doppelköpfigen daimon, von dem wir sahen, wie er den Men schen besessen hält: einmal als Impulsmacht, das heißt als Komplex der Affekte, die in mir aufwallen, ein andermal als
Cur homo artista
301
Trägheitsmacht, sprich als Komplex der Gewohnheiten, die sich in mir sedimentiert haben. Die Säkularisation der Psy che, von der im selben Zusammenhang die Rede war, besteht in nichts anderem als in der Hervorbringung einer neuen Handhabungskunst, dank welcher aus Besessenbeiren mani pulierbare Dispositionen werden. In diesem Übergang ent zaubern die Zauberer sich selbst und verwandeln sich in Lehrer. Sie sind die Provokateure der Zukunft, die die Kata pulte für Würfe ins Übergewöhnliche bauen.
Achsenzeiteffekt: Die Menschheit der zwei Geschwindigkeiten Die Entdeckung der Leidenschaften wie der Gewohnheiten bildet das psychologische Gegenstück zu dem schon länger gut bekannten Vorgang, den man unter Philosophen und Philologen die >>Entdeckung des Geistes« genannt hat. Karl Jaspers hat diesen Komplex unter dem etwas mysteriösen Titel »Achsenzeit<( zusammengefaßt und fünf Orte des » Durchbruchs« benannt: China, Indien, Persien, Palästina, Griechenland. Sie bilden die Schauplätze, an denen sich der hochkultureHe Fortschritt in der Vergeistigung zuerst w1d mit unvergeßlichen Fernwirkungen vollzogen habe. In der Zeitspanne zwischen 8oo bis 200 vor Christus hätten die Menschen in den bezeichneten Kulturen den »Schritt ins Universale« getan, den wir mit allem fortsetzen, was wir bis heute in authentisch zivilisatorischem Sinne tun. Was später Vernunft und Persönlichkeit hieß, sei damals in ersten Um rissen offenbar geworden. Vor allem aber wuchs die Kluft zwischen den am höchsten gesteigerten Individuen und den Vielen seither ins Unermeßliche. Jaspers: »Was der Einzelne erreicht, überträgt sich keineswegs auf alle. Der Abstand zwischen den Gipfeln mensch licher Möglichkeiten und der Menge wird damals au-
1
-
302
I
Die Eroberung des Unwahrscbeinüchen
ßerordemlich. Aber was der Einzelne erreicht, verän dert doch indirekt alle.«97 Indem die Extremisten auf dem Hochseil der Menschwer dung ihre Übungen vorantreiben, führen sie für die übrigen die Pflicht ein, das kleine Akrobaticum abzulegen, um i n der Übungsgemeinschaft der Menschgewordenen zu ver bleiben. Die einfachen Leute erbalten ihr Zertifikat, wenn sie zugeben, daß ihnen schon beim Zuschauen schwindlig wird. In Wirklichkeit ist die Entdeckung der Leidenschaften und der Gewohnheiten von der Entdeckung der Meinungen nicht zu trennen, da dieselbe Unterbrechung, die den Menschen aus dem Fluß der Emotionen und Gewohnheiten steigen läßt, ihn auch auf die Sphäre der mentalen Raueinen aufmerksam werden läßt. Diese Unterbrechung, mit welcher der Beob achter auf den Plan tritt, schafft irreversibel neue Stellungen zur Gesamtheit der Tatsachen, innen und außen. Aus dem Fluß steigen, das heißt: die alte Habitus-Sicherheit in der ererbten Kultur preisgeben und aufhören, ein Gewächs der ersten Kulturgemeinschaft zu sein. Jetzt gilt es, vom Ufer aus eine neue Welt mit neuen Einwohnern zu gründen. Der Achsenzeiteffekt beruht darum nicht so sehr auf ei nem weltweit plötzlich auftretenden Interesse an erhöhter Vergeistigung. Er geht aus der riesenhaften Habitus-Störung hervor, die auf die vom Uferstandort aus mögliche Ent deckung der in den Menschen verkörperten Trägheiten folg te. Verantwortlich ist hierfür - in ihrem wichtigsten Teil die von den frühen Schriftkulturen ausgelöste innere Beschleunigung. Sie war dafür verantwortlich, daß die Ge hirne der Schreibenden den Habitus der Nichtschreibenden überholen - so wie die Körper der Asketen, Athleten und Akrobaten die Körper der Alltagsmenschen überholen. Die 97 KariJaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (zuerst 1949), München 1963, S. 22f.
5 Cur homo anista
3°3
veloziferische Kraft98 der Schriftübung, die zusätzliche be schleunigende Disziplinen nach sich zieht, macht die Träg heit des in die durchschnittlichen Körper eingesenkten alten Ethos spürbar. Wo das akzelerierende Üben seine Effekte durchsetzt, spaltet sich die kulturelle Evolution. Das Resul tat ergibt eine Menschheit der zwei Geschwindigkeiten. Diese Störung ist es, die die Sezession einer Elite aus Ler nenden und Übenden aus den alten Gemeinsamkeiten er zwingt. Sie führt zur Konstruktion eines neuen Himmels über der alten Erde und eines neuen kainon über den alten Kom munen. Das zu erobernde koinon, jenes Gemeinsame, in dem seit den Milesiern die Sterne, der Logos und die Polis ein und dieselbe Ordnu11g bezeugen sollen, ist viel zu erhaben und liegt zu weir abseits der Alltagsinruitionen, um allen zu gänglich zu sein. Daraus entwickelt sich die Basisparadoxie sämtlicher Universalismen: daß ein für alle Gemeinsames auf gerichtet wird, an dem die meisten nur im Modus des Nicht Verstehens beteiligt sein können. Das Paradigma hierfür ist die seit dreitausend Jahren dominante, seit kaum zweihundert Jahren partiell revidierte Spaltung der Menschheit in ihre al phabetisierten und nicht-alphabetisierten Fraktionen. Virtu ell könnten ja alle Menschen des Schreibens kundig sein, nur wenige aber schreiben tatsächlich -und unbeirrbar werden die Wen igen glauben, sie schrieben für alle übrigen. Dasselbe gilt für sämtlic he Figuren des logischen, ethischen, medialen So zialismus. Wer will, könnte die Aufstellung der Universalis-
�
9g Vgl. Manfred Osten, ,.AIIes veloziferisc « oder Goethes Entdek _ Frankfurt am Mam 2003. Der von Goetbe kung der Langsamken, geprägte Ausdruck deutet auf di�.Tatsache hin, daß am Beginn des r9. Jahrhunderts an ein zweiter Ubcrholvorgang einsetzte, in dem nicht-skripturalc Pacemaker die klassische schriftbasierte Huma nitas zurücklassen. Daß diese aus der Sicht vor-alphabetischer Le bensformen selbst schon eine Beschleunigungsteufelei gewesen war, können Humanisten nicht sehen. Siehe auch P. SI., Regeln für den M enschenpark. Ein Amwonschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt am Main 1999.
-
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
mus-Falle die geistige Seite des Einrritts in die Klassengesell schaft nennen - das unterscheidende Kriterium freilich be steht hier nicht mehr in der Herrschaft eines bewaffneten Herrn über den waffenlosen Knecht: Es liegt in der Aufrü stung der übenden Individuen gegen die Trägbeiren in ihnen selbst-durch Schrift, Logik, Gymnastik, Musik und Kunst im allgemeinen. In dieser übungskulturellen Wende werden die Vorbildfiguren der achsenzeitlichen Spiritualität konstituiert: die Weisen, die Erleuchteten, die Athleten, die Gymnosophen, die heiligen und die profanen Lehrer. Mit Gestalten dieses Typs haben es die Menschen der Hochkulturen in den näch sten Jahrtausenden zu tun (von Künstlern im modernen Sinn ist anfangs noch nicht die Rede). Sie werden dafür sorgen, daß Kulturzeit die Zeit geistiger Vorbilder sein wird.
Auf die andere Seite kommen: Philosophie als Athletik Um weiter im Bild vom Aus-dem-Fluß-Steigen zu bleiben: Der Mensch, der sich auf die Explikation der Trägheit in sich selbst eingelassen hat, sieht sich durch den Gang der Erfah rung gezwungen, gleich dreimal auf die andere Seite des Selbstbefunds zu wechseln. Indem er bemerkt, wie die Lei denschaften in ihm arbeiten, begreift er, daß es darauf an kommt, auf die andere Seite der Passion zu gelangen, um die Leidenschaften nicht nur zu erleiden, sondern zu einem Könner des Leidens zu werden. Indem er bemerkt, in wel chem Ausmaß die Gewohnheiten ihn beherrschen, sieht er unmittelbar ein, daß es ausschlaggebend wäre, auf die andere Seite der Gewohnheiten zu kommen, um nicht nur von ihnen besessen zu sein, sondern um sie zu besitzen. Und indem er bemerkt, daß seine Psyche von konfusen Vorstellungen be siedelt wird, geht ihm ein Licht auf, wie wünschenswert es wäre, auf die andere Seite des Vorstellungsgetümmels zu ge langen, um nicht bloß von wirren Gedanken heimgesucht zu
5 Cur homo artista
werden, sondern um logisch stabile Ideen zu entwickeln. Das Denken beginnt, wenn das Affentheater der Assoziationen aufhört, das neuerdings als Wettbewerb der »Meme« um freie Rechenkapazitäten der Neocortex beschrieben wird. Dieser dreifache Seitenwechsel bildet das ethische Programm in all den Aktivitäten, die Platon unter dem Kunstwort »Philoso phie<< zusammenfaßte. Das Wort »Philosophie« enthält ohne Zweifel eine ver deckte Anspielung auf die beiden wichtigsten Athletenrugen den, die sich zur Zeit von Platons Intervention breitester Zu stimmung erfreuten. Es verweist zum einen auf die aristokra tische Haltung der »Philotimie<<, der Liebe zur time, dem ruhmvollen Ansehen, wie es den Siegern in Wettkämpfen versprochen ist, zum anderen auf die »Philoponie«, was die Liebe zu ponos, Mühe, Last, Strapaze meint. Nicht umsonst hatten sich die Athleten auf Herakles als ihren Schutzpatron berufen, den Vollbringer der zwölf Taten, die ein Weltalter lang als Urbilder der ponoi in Erinnerung gehalten wurden. Wie sich die Philosophen nach Platon als Freunde der Weis heit ausgeben werden, so präsentierten sich schon lange zu vor die Gymnasten und Ringkämpfer als Freunde der Bela stung, die den Mann zum Manne macht, und als Liebhaber der harten, langen Mühe, die die Göner vor den Sieg gesetzt haben. Später nahmen insbesondere die Kyniker Herakles gern als ihren Ahnherrn in Anspruch, um ihre These zu un termauern, wonach allein sie, die philosophischen Totalaske ten, die wahren Athleten seien, i.ndessen die Sportler nur dekadente Muskelprotze wären, die vergänglichen Erfolgen nachjagen, ohne jede Idee von solider Tugend und kosmos\T ·· 99 gemaß er vernunft. 99 Vgl.
Michel Foucaults Vorlesung über das philosophische Duell zwischen Diogenes und Alexander nach der Darstellung des Qua
si-Kynikers Dion Chrysostomos in dessen Buch: Von der Herr schaft; M. F., D iskurs und Wahrheit, Berkeley-Vorlesung I 98 J,
Berlin
1996, S. 128f.
-
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
Der Imperativ: »Du mußt dein Leben ändern!« ertönt also im alteuropäischen Raum seit dem 5 · Jahrhundert vor Christus nicht nur aus den zahllosen Statuen, die die Griechen wie von einem entfesselten Bild-Zwang besessen in Tempelbezirken und auf Plätzen errichteten, als hätten sie zum sterblichen Po lisvolk ein Volk aus Statuen hinzufügen wollen, vermutlich, um auf die Ähnlichkeiten zwischen Göttern und Siegern auf merksam zu machen. 100 Er geht mehr noch aus den neuen Wissensverhältnissen hervor, besser: aus derveränderten Stel lung der Wissenden zu ihren Lebensaufgaben. Sein Leben än dern heißt nun: durch innere Aktivierungen ein Übungssub jekt heranbilden, das seinem Leidenschaftsleben, seinem Ha birusleben, seinem Vorstellungsleben überlegen werden soll. Subjekt wird hiernach, wer an einem Programm zur Entpassi vierung seiner selbst teilnimmt und vom bloßen Geformtsein auf die Seite des Formenden übertritt. Der ganze Komplex, den man Ethik nennt, entspringt aus der Geste der Konversion zum Können. Konversion ist nicht der Übergang von einem Glaubenssystem zu einem anderen. Die ursprüngliche Bekeh rung geschieht als Austritt aus dem passivischen Daseinsmo 101 dus in Tateinheit mit dem Eintritt in den aktivierenden. Daß die Aktivierung und das Bekenntnis zum übenden Leben das selbe bedeuten, liegt in der Natur der Sache. Mit diesen Hinweisen wird präziser faßbar, was Nietzsche gesehen hatte, als er in seinen Überlegungen Zur Genealogie der Moral die Erde als den asketischen Stern charakterisierte. Die Askesis war von dem Augenblick an unumgänglich ge worden, in dem eine Avantgarde von Beobachtern sich genö100 Vgl. Babette Babich, Die Naturgeschichte der griechischen Bron
ze im Spiegel des Lebens. Betrachtungen über Heideggers ästhe tische Phänomenologie und Nierzsches agonale Politik. In: Inter
nationalesJahrbuch für Hermeneutik, Vol. 7, herausgegeben von Gümer Figal, Tübingen :too8, S. 127-190. 1 or Über die Differenz von Konversion und opportunists i cher Kehre siehe unten Kapitel 9, S. 467f.
5 Cur homo anista
tigt sah, über ihren Schatten zu springen - genauer: die drei Schatten, die ihnen in Form von Leidenschaften, Gewohn heiten und unklaren Ideen anhängen. Im Blick auf diesen Klärungs- und Übungszwang, dieses Drei-Schatten-Sprin gen, das am Anfang höherer Kultur auftaucht, ist es gerecht fertigt, Nietzsches Aussage zuzuspitzen und von der Erde als dem akrobatischen Stern zu sprechen. Dieser Ausdruck böte zudem den Vorteil, Nietzsches wichtigster moralphilosophi scher Intuition noch besser gerecht zu werden: Wenn er den Begriff askesis mit aller Macht von den düsteren Spektakeln der christlichen Buß-Askese lösen wollte, um endlich wieder auf die so unverstandenen wie unentbehrlichen Errüchti gungs- und Steigerungsaskesen der alten Eliten hinzuweisen, gab er das Startsignal für eine strikt artistische Auslegung der menschlichen Tatsachen. Sieht man von der irrtümlichen Pro jektion des »Übermenschen« in die Zukunft ab, wird evident, was Nietzsche erfaßt hatte: daß seit dem Eintritt der Völker in die Hochkulturphase jeder Leistungsträger akrobatisch unter Spannung gerät.
Asketik und Akrobatik Akrobatik ist überall im Spiel, wo es darum geht, das Un mögliche wie eine leichte Übung erscheinen zu lassen. Es genügt also nicht, auf dem Seil zu gehen und in der Höhe den salto mortale zu schlagen. Die entscheidende Botschaft des Abrokaten an die Mitwelt liegt in dem Lächeln, mit dem er sich nach dem Auftritt verbeugt. Noch deutlicher spricht sie in der nonchalanten Handbewegung vor dem Abgang, jener Geste, die man für einen Gruß an die oberen Ränge halten könnte. In Wirklichkeit übermittelt sie eine morali sche Lektion, die soviel besagt wie: Für unsereinen ist der gleichen gar nichts. Unsereiner - das sind diejenigen, die das Fach Unmöglichkeit belegt haben, mit Eindruckmachen im
-
308
I
Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
Nebenfach. Manche von ihnen verbleiben bis zum Ende ih
rer Laufbahn in den Arenen und den Stadien, andere wech seln in die asketerfa über und geben dem Steigen auf religiö sen Leitern den Vorzug, viele setzen sieb ab in die Walder und Wüsten, eine weitere Fraktion versucht es mit den bil denden und musikalischen Künsten, wieder andere speku lieren auf höheren und höchsten Staatsdienst. Placon hatte bekanntlich zeigen wollen, daß auch die Kunst der Staaten
5
Cur homo artisra
des 20. Jahrhunderts gern mit bedeutsamer Betonung zu sa
gen, der Mensch könne eben nicht einfach dahinleben, son dern müsse sein Leben »führen«.102 Das ist nicht falsch und drückt eine wichtige Einsicht aus - sie wäre noch wercvoller, könnte man auch erklären, warum es nicht anders sein kann und wie es kommt, daß dennoch unzählige Menschen, vor allem in den Suchtzonen des Westens, eher einen unführen den und ungeführten Eindruck machen.
Lenkung bis zur Perfektion erlernbar sei, sofern die politi schen Artisten sich in einem vierzigjährigen Lehrgang, vom
Anthropotechnik: Die Macht der Wiederholung gegen die Wiederholung wenden
zehnten bis zum fünfzigsten Lebensjahr, auf das Unmögliche vorbereiten. Die Fähigkeit, den Staat nach Ideen zu lenken und nicht nur, wie üblich, wie ein Machtclown von einer Situation zur nächsten zu stolpern - auch sie könnte, wäre der Wille hierzu gegeben, bis zu einem meisterlich be herrschten Handwerk vorangetrieben werden. Man muß nicht wie der Pharao als Gott geboren sein, um es auszu üben. Es genügt, daß sich ein aufgeklärter Grieche unter richtiger Anleitung psychotechnisch zum pharaonischen Ni
Die Antwort ist durch den Hinweis auf die Emergenz der Anthropotechnjk in der Achsenzeit des Übens zu geben. So
bald man weiß, daß mao von selbstläufigen Programmen Affekten, Gewohnheiten, Vorstellungen - besessen ist, wird es Zeit für besessenheitsbrechende Maßnahmen. Deren Prin zip besteht, wie bemerkt, im Übergang auf die andere Seite
veau emporübt.
der Wiederholungsgeschehnisse. Ein solcher Übergang er scheint nach präzisen Regeln vollziehbar, seit man in der Wie
stik zeigen Nietzsche im Einklang mit den Tendenzen des
derholung selbst den Ansatzpunkt für ihre Beherrschung ent
Seine Einsichten zur Konvergenz von Asketik und Arti
späteren 19. JahrhundertS, die ich durch Kennwörter wie »athletische Renaissance« und »Entspiritualisierung der As
kesen« umschreibe. Hat man diese Bewegungen wahrgenom men, ist leichter einzusehen, warum am Anfang asketischer Selbstserge-Regungen keinesfalls die büßerische Selbstdemü tigung steht. Das frühe Übungswesen nahm seinen Ausgang von der elementaren Intuition, es komme um alles in der Welt
darauf an, auf die andere Seite der drei Automatismen z u gelangen. Nur auf diese Weise geriet »der Mensch« in den
Focus der Übungsreihen, die seine »Natur« verändern, um seine »Natur« zu verwirklichen. Hier wird er zu dem Tier, das zum Lenken, Üben, Denken verureeilt ist. In Kreisen philosophischer Anthropologen pflegt man seit dem Beginn
deckt hat. In dieser Entdeckung feiert die anthropotcchnischc DiHerenz Premiere.
Die Erklärung hierfür Üegt in der Zwiespältigkeit der Sache
selbst: Mit der Macht der Wiederholung wird zugleich die Doppelnatur der Wiederholung als wiederholte Wiederho lung und wiederholende Wiederholung begriffen. Das hebt
die Unterscheidung zwischen Aktiv und Passiv im Subjekt der Wiederholung pathetisch hervor. Man versteht jetzt: Es gibt nicht nur den affizierten Affekt, sondern auch den affi zierenden; nicht nur die geübte Gewohnheit, sondern auch die 101
Vgl. jüngst Dieter Henrich, Denken und SelbStSein. Vorlesungen über Subjektivität, Fran kfurt am Main 2007.
-
übende; nicht nur die vorgestellten Vorstellungen, sondern auch die vorstellenden. Die Chance liegt jedesmal im Partizip Aktiv Präsens: Unter dieser Form wird der aktivierte Mensch als eigentätig Fühlender, Übender und Vorstelleoder gegen über dem Gefühlten, Geübten, VorgesteUren auf den Schild gehoben. Dadurch setzt sich allmählich ein Subjektmensch vom Objektmenschen ab - falls man diese ungeeigneten, zu neuzeitlich und zu kognitiv gefärbten Ausdrücke hier ver wenden dürfte. In der zweiten Position bleibt der Mensch, wie er war, das Passive, Wiederholte, kampflos Überwältigte, in der ersten hingegen wird er der Post-Passive, der Wieder holende, der Kampfbereite. Aus der Wahl des ersten Wegs geht der »erzogene Mensch« hervor, von dem noch Goethe wußte, daß er ein ehemaliger Geschundener ist.103 Was dieser im Aufstieg zur Bildung zurückläßt, ist die Naivität, die vor mals auch die seine war - mitsamt der doppelten Stellungnah me zu ihr: als Verachtung für das überwundene Klischee und als Heimweh nach dem Ungebrochenen. Die Entdeckung der ,.eingefleischten« Gewohnheit als ei nem belehrungsresistcnten Trägheitsprinzip ruft also die Summe der Maßnahmen hervor, die wir als die folgenschwer ste Innovation der alten Welt noch heute verspüren und wei tertragen: die Wendung zur Erziehungskunst alias paideia was fürs erste wohl so etwas wie »Kunstam Kind« oder »Tech nik der Knabenzurichtung« bedeutet. Tatsächlich konnten Kinder als Kinder erst nach der Emergenz der Gewohnheiten methodisch in den Blick geraten: Als die Noch-nicht-von Gewohnheiten-Besessenen ziehen sie die Aufmerksamkeit der munter gewordenen Übungsleiter auf sich. In der Lehrer dämmerung, die zugleich eine anthropologische Dämmerung ist, wandelt sich das Kind von einem bloßen Nachwuchsphä nomen zu einem Akteur im Drama der Erziehung.
103
Cur homo artista
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
)10
Motto von Dichtung und Wahrheit: Ho me dMesi an thr6pos oupaideuetai: Der nicht geschundcnde Mensch wird nicht
Vgl. das
erzogen.
)II
Man darf geradezu behaupten, vor dieser Wende zur »Klla benlenkung« seien Kinder kulturell unsichtbar gewesen. Erst nach der Entdeckung der Region Gewohnheit gewinnen sie ein Sichtbarkeitsprivileg, das sich zeitweilig abschwächen kann, wie im europäischen Mittelalter, jedoch nie mehr ganz verlorengeht Nun werden dieJungen zu Objekten einer Sor ge, die sich zu einer veritablen Kunst entfaltet: der Kunst, Gewohnheitsentstehungen zu steuern und komplexe Kompe tenzen auf einem Sockel automatisierter Übungen aufzubau en. Der Vorteil des Kindseins allerdings, seine relative Unge prägtheit und Prägungsoffenheit, muß mit einem natürlichen Nachteil bezahlt werden, der starken Emotionalität und Spontaneität der] ungen- die frühen Erzieher hätten sich aber nicht »Pädagogen<< genannt, wären sie nicht der Meinung ge wesen, hiermit auf die Dauer zurechtzukommen. Hinter dem Pädagogen erkennt man hier, noch kaum verhohlen, die Ge stalt des Dompteurs -wie ja hinter aller Belehrung die Dressur steht. Darum erzählt die wahre Geschichte der Pädagogik auch die gemeinsame Geschichte von Kindern und Tieren. Doch wenn der Dompteur es dahin bringt, Elefanten auf ei nem Seil gehen zu lassen, wie Pünius in seiner Naturgeschichte berichtet,104 oder sie mit dem Rüssel griechische und lateini sche Wörter schreiben zu lassen, wie ein anderer Autor er wähnt, soll der Pädagoge seine Zöglinge über die bloße Ab richtung hinaus befähigen, unter der Fülle möglicher Lauf bahnen die ihren zu erkennen und zu wählen.
Pädagogik als angewandte Mechanik
Kurzum: Weil in der Pädagogendämmerung des ersten Jahr tausends vor Christus die Trägheitsqualität des Habituellen explizit begriffen worden war, drängte der Vorsatz sich auf, 1o4
Plinius Historia naruralis, 8,4f. ,
-
312
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
die Gewohnheit in statu nascendi in den Griff zu nehmen, um aus dem vormaligen Widerstandsprinzip einen Koopera tionsfaktor zu machen. Hier rühren wir an das Prinzip aller älteren Amhropotech nik. Jeder technische Umgang mit Menschen - und nichts an deres ist Pädagogik zunächst - beruht auf der Uridee der klas sischen Mechanik, die Trägheitskräfte in den Dienst der Träg heitsüberwindung zu stellen. Diese Vorstellung feiert in der Entdeckung des Hebel-Prinzips ihren ersten Triumph. Die kleinere Kraft kann, wenn sie mit dem längeren Weg multi pliziert wird, die größere bewegen -ein ähnlicher Ansatz liegt dem der Antike bekannten Flaschenzug zugrunde. Mechane, griechisch: die List, bedeutet daher nichts anderes als die ÜberÜstu ng der Natur mit ihren eigenen Mitteln.105 Die päd agogische mechane erwächst aus dem überlegten Emschluß, die Gewohnheit zu ihrer eigenen Aufhebung einzusetzen man könnte auch sagen: Sie gebraucht das Wahrscheinliche als Medium zur Erhöhung von Unwahrscheinlichkeit. Man nimmt der Gewohnheit ihre Widerstandseigenschaften und spannt sie vor den Wagen ansonsten unerreichbarer Ziele. Dies gelingt, wenn der Pädagoge in der Lage ist, an den länge ren Hebel zu gelangen - das heißt an die Wurzel der Kon ditionierung durch übende Wiederholungen. Von da an gilt: Repetitio est mater studiorum. Die kleinen menschlichen Kräfte können U nmög1iches bewirken, wenn sie mit dem längeren Weg der Übung multipliziert werden. 106 105 Vgl. P. SI., Der andere Logos oder: Die Lisr der Vernunk Zur Ideengeschichte des Indirekten. In: Achim Hecker, Klaus Kam merer, Bernd Schauenberg, Harro von Senger (Hg.), Regel und Abweichung: Strategie und Stratageme. Chinesische Listenlehre im interdisziplinären Dialog, Berlin 2008, S. 87- 1 1 2 . 106 Neben der pädagogischen Erziehung durch aufgeklärte Wieder holungen verfügen die Kulturen von alters her auch über die Technik der Erziehung durch den Schrecken bzw. der Einprägung einer Norm durch schockhaftes Einbrennen einer sakralen Szene.
Cur homo artista
313
Die Entdeckung dieser Mechanik löst die Euphorien aus, die die spirituellen Schulen in statu nascendi prägt, in Asien nicht anders als in Europa. Daher der für das frühe Schul- und Übungswesen typische steile Ansatz der Ausbildungsziele, wie man ihn im esoterisc hen Kern des Platon ismus wie in den meisten Formen des brahmanischen Trainings und in der taoistischen Alchemie findet. Natürlich bedeutet Schul betrieb immer auch Exoterik und Vorbereitung auf Ämter. Im heißen Kern der Lehre steht aber die Hinführung der Adepten zu der senkrechten Wand, an der sie den Aufstieg zum Unmöglichen versuchen sollen. Hinter den Thesen des Werbeprospekts für die Schule, in dem es heißt: »Tugend ist erlernbar<<, verbirgt sich ein esoterischer Radikalismus, re sümierbar in der (auf westlichem Boden unaussprechlichen) Botschaft: >>Das Göttliche ist erlernbar.« Wie, wenn der Auf stieg zu den Göttern nach sicheren Methoden gemeistert wer den könnte? Wenn die Unsterblichkeit nur Übungssache wä re? Wer das glaubt, glaubt auch mit Platon, den indischen Lehrern und den Unsrerblichen des Taoismus, ein Mandat zu besitzen, das Unmögliche zu lehren, obschon nie jenseits eines kleinen Kreises von Geeigneten. Der Lehrauftrag schließt den Einsatz sämtlicher zur Überwindung der Träg heit geeigneten Mittel ein. Bis wohin das geht, zeigt die lange Reihe der spirituellen und athletischen Extremisten, die in den vergangeneo Jahrtausenden das Bild der Menschheit be stimmen.
Vgl. Heiner Mühlmann, Jesus überlistet Darwin, Wien/New York 1.007, wo gezeigt wird, wie die memoaktive Fitness eines Kollektivs durch gemeinsam vollzogene Tötungsdramen (Opfer) erhöht wer den kann. Die christliche Messe erscheint im Licht dieser Analyse
als Doppeleinprägungsform: einerseits als ständig wicderholtes Törungsdrama, andererseits als Einübung in die Ersetzung des B lutopfers durch das symbolische Spiel.
-
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
Didaktische Himmelfahrt: Lernen fürs Leben des Lebens
Doch gleichgültig ob sich die frühe Schule exoterisch oder esoterisch präsentierte, sie hielt sich selbst nie für das Ziel ihres Betriebs. Noch die Maxime mittelalterlicher Schulmei ster non scolae sedvitae discimus108 wollte offenkundig sagen: Wir lernen nicht für das Basislager, was zählt, ist allein die Expedition. Aber so bieder dieses Bekenntnis klingen moch te, in seinen Auslegungen nahm es monströse Dimensionen an. Das Wort vita meint zwar in erster Lesung nicht mehr als Bewährung an der äußeren Front, in den Berufen und Äm tern. Jedem Beteiligten an dem hohen Spiel war dennoch klar, daß damit nur ein Anfangsschritt bezeichnet war. Seinem tieferen Design nach war »für das Leben lernen« eine Parole zugunsren der steilsten Aufstiegsprojekte - Projekte, für die das Göttliche gerade hoch genug lag. Eine solche Gleichsetzung von Gott und Leben war geeig net, die exzessivste Vertikalspannung aufzubauen. Sie zwang dazu, die gewöhnlichen Vorstellungen über den Sinn von »Leben« radikal zu revidieren. Mit einem Mal wurde es mög lich, zum Prädikat »lebendig« einen Superlativ zu bilden und das Nomen »Leben« mit sich selbst zu multiplizieren. Wer »Leben« sagt, wird früher oder später auch »Leben des Le bens« sagen. Dann aber heißt ,,für das Leben lernen« für den 108 Sie ist die Umkehrung des satirischen Satzes von Seneca: non vitae, sed scholae discimus. Episwlae morales ad Lucilium 106, rz.
Dieser konstatiert die Dekadenz der Schule zum Wissensbe das Erlernen des Göttli chen, muß darum auf andere Medien umkopicrt werden, zum Beispiel den Briefwechsel des Philosophen mit einem jüngeren Freund. Es ist also wahrscheinlich, daß Seneca ein älteres, nicht belegtes Sprichwort umgedreht hat - womit die Rückkehr der Schulmänner des Mittelalters zur non-scholae-sed-vitae-Version völlig gerechtfertigt wäre.
trieb. Das eigentliche Schulprogramm,
5
Cur homo arrista
puren Überschuß lernen. Beim Studium des potenzierten Le bens trifft man auf die vita vitalis, die senkrecht zur Achse des empirischen Daseins steht. Das gibt dem primären Surrealis mus die Richtung vor - jenem in allen Hochkulturen wirk samen Vertikalzug, den man im Westen mit dem mißratenen Ausdruck »Metaphysik(< belegt hat: Vielleicht wäre »Meta biotik« der angemessenere Terminus gewesen oder auf latei nischem Boden der Ausdruck »Supravitalistik«, obschon man zugeben muß, beide Wörter hätten es auf der Stelle ver dient, an ihrer Häßlichkeit zugrunde zu gehen. Der Ausdruck »Metaphysik« hielt sich an der Spitze unserer Lehrpläne, bis die andere begriffliche Mißgeburt, die für die Modernen maß gebliche Lehre vom survival, die Oberhand gewann.
Sterbe-Performance: Tod auf der metaphysischen Bühne
Die schwerste Bewährungsprobe für das neue Subjekt der übungsmacht stellt der Tod dar, da er die Instanz bildet, die Menschen am stärksten in die Passivität drängt. Wer also den Tod herausfordert, um ihn dem Herrschaftsbereich des Könnens einzugliedern, wird im Fall des Erfolgs den Beweis geliefert haben, daß es im Radius des Menschenmöglichen liegt, Unüberwindliches zu überwinden - oder mir Schreck lichem eins zu werden. Darum münden alle Übungen, die sich zunächst gegen die Fremdsteuerung der Seele durch die heftigen Affekte, die ungeprüften Gewohnheiten und die Trugbilder des Stammes und des Forums richten, zuletzt unvermeidlich in Maßnahmen gegen die Unterwerfung der Unterwerfungen, die Besessenheit aller Besessenbeiren - die Untertänigkeit des Menschen unter der Macht des Todes. Dies kann auf zwei verschiedene Weisen geschehen: Zum einen durch eine Askese, die zu einer artifiziell erworbenen Haltung des Sterbenkönnens führt: So hat man es an der philosophischen ars moriendi abgelesen, die im Tod des So-
I
Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
krates ihre Urszene besitzt, der folgenreichsten Sterbe-Perfor mance der alteuropäischen Welt; so haben es die indischen Asketen vorgemacht, die die Kunst des Den-Körper-Verlas sens in zahlreichen Varianten deklinierten; und so hat es die japanische Selbsttötungs(seppuku)-Kultur demonstriert, in der es immer höchst bedeutsam war, sich vom Leben zu tren nen, sobald Gefahr bestand, das Leben könne länger dauern als die Ehre. Die Emanzipation von der Tyrannis des Todes kann aber auch durch die Formulierung eines Mytbos gesche hen, der die Zugehörigkeit der Seele zum Reich des lebendigen Gottes behauptet. In solchen Fällen - die äpyptischen Jen seitsiehren und der christliche Platonismus üefern die bekann testen Beispiele - wird das Rückkehrrecht der Seele nicht so sehr durch asketische Zusatzanstrengungen als durch integre Lebensführung gesichert. Das Klima auf dem akrobatischen Stern unterliegt also seit der Heraufkunft der hochkultureilen Surrealismen einem per manenten Wandel, einer Erderwärmung durch ständig stei gende moralische Emissionen vergleichbar. Das erzwinge die Wende vom >>Dahinleben« im Strom des Kollektivhabitus zur Lebensführung unter dem Einfluß individualisierender Schul mächte. Die neuartige Führung bewirkt eine Verfremdung das Daseins bis an den Punkt, an dem die Vorstellungen über die Bereiche Schule und Leben zu dem bizarren Dogma ver schmelzen, das Leben selbst sei nichts als ein großes Pädago gicum und müsse wie ein esoterisches Schulfach gelernt wer den, und mit dem Leben zugleich die Kunst, es exemplarisch zu beenden. Aus diesem Grund bildet die von den Griechen so genannte euthanasia, die Kunst des schönen Todes, die gehei me Mitte der akrobatischen Revolution -sie ist das Seil über einem Abgrund, über das die Übenden zu gehen lernen, um vom Leben ins Meta-Leben zu gelangen. Die alteuropäische Überlieferung besitzt neben dem von Platon beschriebenen Tod des Sokrates mit dem in den Evan gelien geschilderten Tod Jesu eine zweite chanatalogisch fol-
5 Cur homo anista
3 17
genschwere Urszcnc, in der sich die Emanzipation der geistig Übenden von der Tyrannei des Todes auf höchster Höhe be obachten ließ. In beiden Passionsgeschichten liegt der Akzent auf der Umwandlung von Müssen in Können, ein Können, das um so eindrucksvoller ausfällt, als dieUmstände den Op fern eine doppelte Passivität aufzwingen: die erste gegenüber dem Unrecht der Todesurteile, die zweite hinsichtlich der Grausamkeit der Him;chtungen more Romano. Bei Sokrates wird besonders deutlich, wie das Können des Weisen sich den äußeren Zwang aneignet, indem der formal rechtens, sachlich unrechtens zum Tode Verurteilte das Ureeil in seinem Willen rezipiert, um mit der auferlegten Prozedur zu kooperieren, als wäre er selbst der Spielleiter des ihm widerfahrenden Pas sionsdramas. Die Überordnung der Freiwilligkeit über das Müssen ver körpert sich am glänzendsten in der Allegorie der Gesetze, die in dem Dialog Kriton zu Sokrates reden. Die personifi zierten Gesetze sagen dem Todeskandidaten dort sinngemäß folgendes: Alles spricht dafür, lieber Sokrates, daß es dir hier in Athen zeitlebens am besten gefallen hat. Wir, die Gesetze, und diese Stadt, die wir regieren, haben dir bisher offensicht lich vollständig genügt. Nie bist du auf Reisen gegangen, wie viele Leute es tun, um andere Städte und andere Gesetze ken nenzulernen. Wie kein zweiter ha.st du das Schicksal geprie sen, unter unserer Leitung zu existieren, ja noch vor Gericht hast du dich damit gebrüstet, den Tod der Verbannung vor zuziehen. Siebzig Jahre lang hattest du Zeit, uns und dieser Stadt den Rücken zu kehren, doch du zogst es vor, bei uns zu bleiben. Wolltest du also jetzt, angesichts deiner von uns ver fügten Hinrichtung, vor uns fliehen, wie könntest du anders wo jemals wiederholen, was du hier zu sagen nicht müde wurdest: daß nämlich der Mensch die Tugend und die Ge rechtigkeit höher als alles andere achten müsse? Folge daher nicht dem Rat des Kriton, die Flucht zu ergreifen, sondern dem unsrigen, der lautet: Bleibe hier und gehe deinen Weg zu
-
)18
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
Ende! - Daraufhin zieht der Weise die für ihn einzige mög liche Konklusion: »Diese Worte, mein lieber Kriton, glaube ich zu verneh men, so wie die korybanthisch Verzückten Flötenklän ge zu hören glauben; und ihr Schall ertönt in meinem Ionern und macht mich unempfindlich gegen alle an deren Reden . . . Gehen wir den Weg, den der Gott uns führt.«I09
Inwiefem]esus recht hat zu sagen: Es ist vollbracht Die Absorption des äußeren Zwangs in den eigenen Willen wird auch in der Golgatha-Erzählung der Evangelien macht voll in Szene gesetzt, und dies um so eindrucksvoller, als man bei einer Hinrichtung römischen Stils vom zivilisierten De kor griechischer Sterbekunst so weit wie irgend vorstellbar entfernt ist. Die jesuanische Passion übertrifft, was die Unter werfung des Opfers unter äußere Zwangshandlungen angeht, die Passion des Sokrates bei weitem, und doch sollte gerade an ihr die Umwandlung des Müssens in ein unveräußerliches Können arn folgenreichsten demonstriert werden. Die Szene des letzten Augenblicks am Kreuz wird bei den Evangelisten selbst zunehmend mit beispielgebenden Ener gien aufgeladen. Wahrend es bei Markus I 5, 3 7 und bei Mat thäus 27, 50 noch heißt, Jesus sei, nachdem er vom Essig schwamm getrunken habe, mit einem lauten Schrei verstor ben, hat Lukas 2 3 , 46 für dieselbe Szene bereits ein latent könnensgetöntes Übergangswort: »Vater, in deine Hände be fehle ich meinen Geist«, et haec dicens expiravit. Johannes 19, 30 fügt dem ein vollends der Sphäre des Könnens angehöriges Wort hinzu: tetelestai, was auf lateinisch mit consummatum est, auf deutsch mit »Es ist vollbracht!« wiedergegeben wird. 109
Kriton,
54d.
5
Gur homo arrisra
3 19
So altehrwürdig diese Übersetzungen sein mögen, so wenig werden sie dem Geist der johanneischen Hinzufügung ge recht. Was Johannes, der griechische Apostel, an dieser Stelle unternimmt, ist ja nicht weniger als eine Athletisierung des Erlösertodes - weswegen das letzte J esuswort eher mit: Es ist geschafft! Oder gar: Am Ziel! wiedergegeben werden müßte, mag eine solche Wendung auch den Konventionen christli cher Passionsbetrachtung zuwiderlaufen. Das Ziel der Ope ration ist unvermißverständlicb: Jesus soll vom zufälligen Opfer der jüdisch-römischen Justizwillkür in den VoUbrin ger einer von der göttlichen VorhersellUng verfügten Mission verwandelt werden - und dies gelingt nur, wenn das Erlittene restlos ins Vorhergesehene, Beschlossene und Gewollte »auf gehoben« wird. Dasselbe Wort tetelestai, mit dem Jesus am Kreuz sein Leben aushaucht, wird von Johannes unmittelbar davor verwendet, um die >>Erfüllung« bzw. lns-Ziei-Brin gung der Schriftvorhersagen durch das golgathaische Proto koll zu konstatieren. Entscheidend ist, daß Jesus selbst am Kreuz die »Erfüllung« der Mission erkennt und fürvollzogen hält (sciens }esus quia omnia consummata sunt), so daß sein Schlußwort tatsächlich eine skriptural-messianisch-athleti sche Leistungsfeststellung enthält. Die akrobatische Revolution des Christentums erschöpft sich nicht in der am Kreuz erwiesenen Überwindung der Todespassivität. Der Triumph des Könnens über das Nicht Können vollzieht sich zwischen Karfreitagabend und Oster morgen - der pathetischsten aller Fristen. In dieser Zeit prak tiziert der getötete J esus das schJechthi n Unerhörte, das akro bainein in der Hölle - auf Zehenspitzen durchquert er das Totenreich. Mit der Auferstehung »am dritten Tag« feiert in ihm die Antigravitation ihren größten Sieg: Das ist, als hätte Christus, der Erste unter den Akrobaten Gottes, ein Vertikal seil zu fassen bekommen, das ihm und den Seinen den Zugang zu einer bis dahin verschlossenen oder nur mythisch ge ahnten absoluten Senkrechten eröffnete. Durch seinen salto
-
)20
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
vitale sprengt der Auferstandene die Weltform auf, die vom
Glauben an die Vormacht der tödlichen Unterbrechung ge prägt war. Von diesem Moment an ist alles Leben akrobatisch, ein Tanz auf dem Seil des Glaubens, wonach das Leben selbst ewig sei - und zwar in einem unwiderruflich proklamierten Ab-Jetzt. Klaus Berger bemerkt über die arhanasische Theologie des Evangelisten: »An die Stelle des Starrens auf den Tod tritt das Sich-Einfügen in den Zug derer, die über den Tod hinaus wandern. Denn auch der leibliche Tod wird überstiegen, er ist nur ein unwesentliches Stück in der Sequenz der Ereig nisse.« 110 Der Tod, ein »unwesentliches Stück« im Gang der Dinge - die Menschheit hat lange warten müssen, ehe sie solche Frivolitäten hören durfte, oder soll man sagen: solche deliranten Freisprüche vom Bann der Endlichkeit? Sobald eine Doktrin wie diese in der Welt ist, hat das psychopoliti sche ancien regime, die normale Depression alias Realismus, es spürbar schwerer. Der stetige Fortgang der antidepressiven Kampagne provoziert die Geschichte: Sie unterliegt dem Ge setz der Verlangsamung des Wunders. Aus ihm ergibt sich, was Alexander Kluge den immensen »Zeitbedarf der Revo lutionen«1 1 1 nennt.
Todesathleten Die bei Johannes angedeutete Athletisierung des christlichen Todeskampfs erreicht einen ihrer Höhepunkte während der durch Mare Aurel eingeleiteten, von seinen Nachfolgern fort geführten Christenverfolgungen in SüdgaUien, die unter Se verus gegen 202 wieder heftiger aufflammten. Zu dieser Zeit 1 1o
Klaus Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theolo
gie des Neuen Testaments, Tübingen und Basel 1994, S. 661. 1 I 1 Alexander Kluge, Tür an Tür mü einem anderen Leben. 3 50 neue Geschichten, Frankfurt am Main 2.oo6, S. 341 f.
5 Cur homo artista
J21
verfaßte der Nordafrikaner Terrullian seine Trostschrift Ad Martyros, einen stark rhetorisch stilisierten Text, der das ganze Arsenal der antiken Asketologie aufbietet, um den Ge fangenen in den Kerkern von Vienne und Lyon die Vergleich barkeit ihrer Lage mit der von Soldaten vor der Schlacht, mehr noch der von Athleten vor dem Agon, bewußtzuma chen. Nicht ohne Zynismus erinnert der Afrikaner seine gal lischen Brüder und Schwestern daran, daß sie, im Kerker sitzend und ihre Hinrichtung in der Arena erwartend, eigent lich von Glück reden können, da für einen wahren Christen die Außenwelt ein viel schwererer Kerker sei. »Schaffen wir den Namen Kerker ganz ab, nennen wir ihn einen Ort der Zurückgezogenheit.« 112 Die Erwartungen an die Märtyrer haben sich bei diesem ro busten Tröster schon so weit versportlicht, daß er von seinen Glauben sbrüdern in der Arena nichts anderes als Höchstlei stungen erwartet. Diese Glaubensathleten sind es Christus schuldig, ihren Henkern ein großes Match zu liefern. »Ihr seid dabei, euch in einen guten Kampf (bonum agonem) zu begeben, in welchem der lebendige Gott (Deus vivus) selbst der Ausrichter der Spiele (agonothe tes), der Heilige Geist der Stadionvorsitzende (xystar ches) ist. Euer Siegeskranz ist die Ewigkeit, eure Beloh nung die Engelsnatur, das Bürgerrecht (politia) im Himmel und der Ruhm für immer. Deshalb wollte euer Trainer und Mannschaftsfüluer (epistates vester) Jesus Christus, der euch mit dem Geist gesalbt und in diese Kampfgrube (scamma) geführt hat, daß ihr euch vor dem Tag des Agons von der freieren Lebensweise zu härterem Vorbereitungstrainung zurückzieht (ad durio rem tractationem), damit in euch die Kräfte wüchsen. So sondern sich auch die Athleten zu strengerer Übungs1 11. Terrullians private mit
und katechetische Schriften. Neu übersetzt Lebensabriß und Einleirungen versehen von D. K. A. Hein
rich Kellner, Kemptcn und München 1912,
,
S. 218.
-
322
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen
klausur (discipLina) ab, um ganz für ihre Kraftübungen frei zu sein . . . Sie bezwingen sich, sie quälen sich, sie erschöpfen sich (Coguntur, cruciantur, fatigantur) . . . Und das alles, wie der Apostel sage, um einen vergäng lichen Siegeskranz zu erringen. Wir aber, die einen ewi gen Kranz anstreben, deuten den Kerker als unsere Trai ningshaUe (pro palaestra), damit wir in Bestform (bene exercitati) ins Stadion, das zugleich Gerichtsplatz ist, i ) . . . «1 13 treten (ad stadium tribunals Terrullian führt seine Überlegungen fort, indem er daran er innert, wie schon profane Menschen aus heidnischen Völkern dem Tod getrotzt und mutwillig schwerste Qualen auf sich genommen haben, so etwa der Philosoph Heraklit, von dem es beißt, er habe sich mit Kuhmist bedeckt und verbrannt, oder Empedokles, der in die Flammen des Ätna gesprungen sei. In gewissen Heidenstädten lassen die jungen Männer sich auspeitschen bis aufs Blut, nur um zu demonstrieren, was zu ertragen sie fähig sind. Wenn diese Menschen für bloße Glas perlen einen solchen Preis bezahlten, um wieviel leichter soll ten dann Christen den Preis für die echte Perle entrichten können! Zugegeben, gefolterte Christen in römischen Provinzthea tern repräsentieren alles andere als das Ideal des philosophi schen savoir mourir. Doch sogar durch die unerbittlichsten Zuspitzungen der tertulliaruscben Rhetorik dringt ein Echo der agonalen Ethik, nach welcher sich dank askesis und Härte (sklerotes) gegen sich selber auch Überschweres in Leichtes verwandelt.
1 1 3 Tertullian, An die Märtyrer, a.
a.
0.
5
Cur homo artista
Certurn est qttia impossibile: Nur das Unmögliche ist gewiß Terrullians unerscbJ"ockene Traineransprache an die Adresse der Morituri von Lyon verrät mit einer nirgendwo sonst je wieder erreichten Klarheit die Logik des christlichen Akro batismus. Es ist der gute Wille zum strikt Absurden, zum grenzenlos Widersinnigen, zur vollendeten Unmöglichkeit, der die Theologie zur Theologie macht. Er allein hindert sie daran, in eine gewöhnliche Ontologie zurückzugleiten. Was im Sein als Diskontinuität erscheint, ist im Reich Gottes pure Kontinuität. Ist Christus auferstanden, dann ist die Welt, in der niemand auferstehen kann, widerlegt. Wenn wir hier aber niemanden je auferstehen sehen, sollten wir den Schauplatz wechseln und dorthin gehen, wo geschieht, was hier nicht geschieht - hier sein ist gut, dort sein ist besser. Kein Christ, der auf sich hält, würde Tertullian zufolge in einem Circus auftreten, der weniger als das Gegenteil dessen präsentiert, was die Profanen für möglich halten. Wer glaubt, muß das Spießerrum epatieren. In bester Angriffslaune brachte der Autor die Angelegenheit anläßlich seiner Verteidigungs schrift gegen die Markioniren Vom Fleische Christi auf den Punkt: »Gekreuzigt wurde Gottes Sohn: das ist keine Schande, weil es eine Schande ist; gestorben ist der Sohn Gottes: das ist glaubwürdig, weil es abgeschmackt ist. Und be graben wurde er und erstand auf: Das ist gewiß, weil es unmöglich ist.« 1 1 '1 Auf diesem ce7-tum est quia impossibile beruht praktisch alles, was Europäer seit zweitausend Jahren von vertikalen Dingen wissen. Noch durch Sirnone Weils großartige Übertreibungs-
1 t4
Tertullian, De carne Christi,
5·
l Die Eroberung des Unwahrscheinlichen these:
»La vie humaine esr impossible« 1 15 - das menschliche
Leben ist unmöglich - weht der Wind einer Gewißheit, die aus der Unmöglichkeit entspringt. Was wir Wahrheit nennen, ist die Resultierende aus dem Streit zwischen Erdenschwere und Antigraviration. Der von Chr isten beschworene Heilige Geist war die Weisheitskunst, die dafür sorgte, daß die Ver stiegenheit der Märryrer durch die Erinnerung an horizontale Lebensmotive gemildert wurde. [n diesem Sinn steUre der Heilige Geist den ersten Psychiater Europas dar - und die frühen Christen waren seine ersten Patienten. Zu seinen Auf
gaben gehört die Entschärfung der religiösen Imrnunparado
xien, die in dem Moment aufbrechen, in dem die entfesselten
Glaubenszeugen ihre physische Immunität schwächen, weil sie ihrer transzendenten Immunität allzu sicher sind. Was in den Arenen der römischen Massenkultur geschah, war jedenfalls kein Sklavenaufstand in der Moral, um noch einmal an Nietzsches problematisches Theorem zu erinnern es war die Überbierung der Gladiatoren durch die Märtyrer. Hier vollzog sich die Übertragung der physischen Agone in ein athletisches Festhalten an dem Bekenntnis: ego sum Chri
stianus
-
selbst wenn die Bekenner den bei den Römern so
beliebten blonden Bestien, den Löwen, vorgeworfen wurden. Auch wer dem Märtyrertum mißtraut und in ihm die funda mentalistische Sturheit von Menschen wittert, die mit ihrem Leben nichts Besseres anzufangen wissen, als es mit dem Ge stus des schlagenden Beweises wegzuwerfen, muß zugeben, daß in den Märtyrerakten der Verfolgungszeiten gelegentlich
etwas vom Geist des ursprünglichen christlichen Akrobatis mus wahrzunehmen ist. Noch spürt man in manchen alten Leidenszeugnissen den Willen zum Hinübergehen, wie man ihn in den Trainingslagern des höheren Lebens zu üben be
gonnen hatte. Der Wille zum Glauben wurde hier noch nicht mit dem Willen zum �iesseitigen Lebenserfolg gleichgesetzt,
1 1 5 Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, München
195 3·
5
Cur homo anisra
wie man ihn in den puritanischen Spielarten des Protestantis
mus und in den jüngsten Metamorphosen der American Re/• :gzon 116 bcobac h tet. sem . Symptom war der übermütige •
Transvitalismus. Wo dieser sich geltend machte, mußte das
depressivc Realitätsprinzip, der Glaube an die Vorherrschaft des Todes, seinen schwersten Rückschlag hinnehmen. Der Glaube
:m
die Gegenschwerkraft war es, der die Tragödie
suspendierte und das Seil zwischen den beiden Zuständen des Lebens so straff spannte, daß viele den tollkühnen Plan faßten, die Überquerung zu wagen. Noch der abgesrürzte Seiltänzer aus dem Prolog zu Nietz sches Also sprach Zarathustra profitierte von der Spannung zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Seilveranke
rung. Und obschon die neuere Lehre besagt, es gebe für das Leben keinen Halt am Jenseitsufer mehr, findet man in der lmm�nenz immer noch Seile, gespannt genug, um die Schritte . von Oberquerenden zu tragen. Auf ihnen geht man »dem Anscheine nach nur auf der Luft«. Sie bilden einen Boden '
dem alle Eigenschaften des soliden Bodens fehlen. ,.Und doch 1 läßt sich auf ihm wirklich gehen.« 1 7 Auf dem Seil muß jeder
Schritt zehnrausend Mal geübt sein, zugleich ist jeder Schritt dort oben zu setzen, als ob es der erste wäre. Wer für das Seil lernt, unterzieht sich
einer paideia, die
den Bodengewohn
heiten die Grundlage entzieht. Auf dem Seil gehen heißt alles Gewese ne in der Gegenwart sammeln. Nur so läßt sich der Imperativ: Du mußt dein Leben ändern! in tägliche Übungs serien verwandeln. Die akrobatische Existenz detrivialisiert das Leben, indem sie die Wiederholung in den Dienst des
Unwiederholbaren stellt. Sie verwandelt alle Schritte in erste
Schritte, weil jeder der letzte sein könnte. Es gibt für sie nur
eine ethische Handlung: die Überwanderung aller Verhält russe durch die Eroberung des Unwahncheinlichen.
1 r6 Vgl. H:�rold Bloom, Thc American Religion. Thc Emcrgcncc of 1 r7
thc Post-Christian Nation. Nc\V York ctc. 1992. Wingenstcin, Vermischte Bemerkungen, a. a. 0., S. 1 4 1.
II Übertreibungsverfahren
-
.!
3 29 PROSPEKT: RüCKZÜGE IN DIE UNGEWÖHNLICHKElT
Ein wirklich eifriger Mensch ist zu allem bereit.
Gewiß erfordert der Kampf gegen die Leidenschaften mehr Schweiß und Anstrengung als körperliche Arbeit. Wache über dich, ermuntere dich, ermahne dich. Du wirst genau so viel Fortschritte machen, als du dir selbst Gewalt antust.
Gerhard Groote!Thomas von Kempen De imitatione Christi
Der Weg des Übermaßes führt zum Palast der Weisheit.
William Blake, Proverbs of Hell
Sollte man in einem einzigen Satz den wesentlichen Unter schied zwischen der modernen und der antiken Welt re sümieren und mit demselben Satz die beiden Weltzustände bestimmen, er müßte lauten: Modern ist das Zeitalter, das die höchste Mobilmachung der menschlichen Kräfte unter dem Vorzeichen von Arbeit und Produktion zustande brachte, während antik alle Lebensformen heißen, in denen die äußerste Mobilmachung im Namen von Übung und Perfektion geschah. Daraus geht hervor: Das europäische »Mittelalter« stellt, anders als sein Name sagt, keine eigen ständige Mitte zwischen Antike und Moderne dar, sondern bildet ganz unverkennbar einen Teil der Anüke, obschon es aufgrund seiner christlichen Tönung i n oberflächlicher Sicht als nach-antik oder gar gegen-antik gelten könnte. Weil das c hristl iche Mittelalter viel mehr eine Epoche der Übu ng als der Arbeit war, besteht aus aktivitätstheoretischer Sicht an seiner Zugehörigkeit zum antiken Regime kein Zweifel. In der Antike leben und nicht an den Vorrang der Arbeit oder des Wirtschaftslebens glauben - das sind nur zwei verschie
dene Formulierungen für denselben Sachverhalt. Selbst das benediktinische labora, das man zuweilen als ein dem Gebet abgerungenes Zugeständnis an den Geist der Arbeit mißver stehen wollte, bedeutete in Wahrheit nur eine Ausdehnung des meditativen Übens auf den materiellen Gebrauch der Hände. Was Arbeit im neueren Sinn des Worts meint, konn te kein Mönch begreifen, solange die Ordensregel für die S ymm etrie zwischen orare und Iaborare sorgte. Im übrigen muß man wissen, daß der Akzent auf dem labora in der Benediktregel (die der Überlieferung zufolge anläßlich der
330
ll Übemeibungsverfahren
Gründung des Klosters von Monre Cassino zwischen
525
Prospekt: Rückzüge in die Ungewöhnlichkeir
33 1
stellen wollte,1 auch nicht in dem des Arbeitens, Herstel lens und Wirtschafrens, sondern im Sinne einer Assimila
und 529 entstand) die Konsequenzen aus jahrhundertelan gen Beobachtungen an mönchischen Parhalogien zieht: Wahrend die Modernen durch Kuren und Ferien ihre Ar
tion an das niemals müde universale oder göttliche Sein Nichts, das mehr tut und mehr leidet, als jede endliche
beitskrankheiten kompensieren, setzten die Mönche das Ar
Kreatur zu tun und zu Ieideo imstande wäre. Allerdings
beiten ein, um Abhilfe gegen ihre Komemplat.ionskrankhei ten zu schaffen.
kennt sie, wie jenes, auch eine Art von stets in sich blei
Oie These, die Antike stehe praktisch im Zeichen des
Angaben der Eingeweihten in keiner Weise der profanen
Exerzitiums, die Modeme hingegen in dem der Arbeit,
behauptet einen Gegensatz wie einen inneren Zusammen hang zwischen Übungswelt und Arbeitswelt, Perfektions
welt und Produktionswelt. Hierdurch nimmt das Konzept Renaissance eine stark veränderte Bedeutung an. Wenn es tatsächlich ein Phänomen wie die Wiedergeburt der Antike in einer spät- oder nach-christlichen Welt oder vielmehr in
einer Nach-Arbeitswelt geben sollte, es müßte sich durch die Revitalisierung der Motive übenden Lebens bemerkbar machen. Hierfür fehlt es nicht an Indizien. Was beide
Regime auszeichnet, ist ihr Vermögen, menschliche Kräfte
bender, erfüllender und unsrörbarer Ruhe, die nach den Erschöpfungsruhe gleicht. Es ist natürlich kein Zufall, wenn die Wiederentdeckung des übenden Lebensmodus genau zu dem Zeitpunkt einsetz te, in dem die Vergörzung der Arbeit (bis hinauf zum
deutsch-kaiserlichen »Wir alle sind Arbeiter«) ihren Höhe punkt erreicht hatte. Ich spreche hier vom letzten Drittel des 1 9 . Jahrhunderts, für das ich Chiffren wie »athle tische Re naissance« und »Entspiritualisierung der Askesen« vor
schlug. Die beiden Formeln deuteo auf Tendenzen, die über die Ära des Produktivismus hinausweisen. Seit der T.itigkeits rypus Übung - zusammen mit dem ästhetischen Spiel - aus
in Anstrengungsprogramme größten Ausmaßes zu inte grieren, was sie trennt, ist die radikal divergente Ausrich tung der Mobilisationen. 1m einen FaJ1 werden die ge
dem Schatten der Arbeit heraustritt, entwickelt sich auf mo dernem Boden ein neuartiges Ökosystem von Aktivitäten, in
weckten Energien ganz dem Primat des Objekts bzw. des
Übungswerten, Performanzwerten und Erlebniswerten revi diert wird.
Produkts untergeordnet, letztlich sogar dem abstrakten Produkt, das Profit heißt, oder dem ästhetischen Fetisch, der als •Werh exhibiert und gesammelt wird. Im anderen Fall fließen alle Kräfte in die Intensivierung des übenden Subjekts, das sich im Gang der Exerzitien zu immer höhe ren Stufen einer rein performativen Seinsweise entfaltet. Was man die vita contemplativa genannt hat, um sie der
vita activa gegenüberzustellen, ist in Wahrheit eine vita performativa. Sie ist auf ihre Weise so tätig wie das tätigste Leben. Allerdings drückt sich dies nicht im Modus des politischen Handeins aus, das Hannah Arendt auf den Spu
:-en von Aristoteles
an
d ie Spitze der aktiven Lebensformen
dem der absolute Vorrang des Produktwem zugunsren von
Niemand kann heure daher ein glaubwürdiger Zeitgenosse sein, der nicht spürt, wie dje Dimension Performanz an der Dimension Arbeit vorbeizieht. So hat sich das System des Sports zu einem Multiversum mit Hunderten von Neben welten entfaltet - darin feiern die selbstbezügliche Bewe gung, das nutzlose Spiel, die überflüssige Verausgabung, der simulierte Kampf einigermaßen mutwillig ihr Dasei n, in 1 Hannah Arcndt, Thc Human Condition, 1958, deutsch: Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgarr 1960. Kritisch dagegen ein Arendt-Schülcr: Richard Sennetr, Handwerk, München looS, S. 9f.; siehe auch umen S. 4 58.
33 2
Il Übenreibungsverfahren
deutlichstem Gegensatz zum utilitären Objektivismus der Arbeitswelt, mochte auch eine verdumpfte Soziologie noch so oft behaupten, der Sport sei nur das Trainingslager für die Fabrik und die Vorschule der kapitalistischen Konkurrenz ideologie. Immerhin ist zuzugeben, daß die im antiken Sinn »zirkus«haftesten Teile der Sportwelt, vor allem im Umkreis des olympischen Geschäfts sowie in den professionalisierten Segmenten von Fußball und Radsport, inzwischen selber ei nem Resultatfetischismus unterliegen, der dem zwanghafte sten Produktdenken der ökonomischen Sphäre in nichts nachsteht. Aber was bedeutet das, wenn andererseits die Sta tistiken besagen, daß in diesen Bereichen der Sportwelt auf einen Professionellen zehntausend Amateure und mehr kom men? Noch klarerartikuliert sich die Tendenz zur Exhibition des selbstbezüglich-übenden Tuns im Kunstbetrieb des letzten Jahrhunderts: Die ästhetische Moderne ist die Ära, in der sieb das Performative von den Prozeduren und Zielen der Arbeits welt ablöst, um zahllose Bühnen für völlig eigenwenige Dar bietungen zu errichten. Längst hat die Emanzipation der Kunst von ihrer Arbeitsförmigkeit auch systemimmanent den Punkt erreicht, an dem das Werk wieder in den selbst bezüglichen Prozeß des Übens, besser in den Gestaltwandel der kreativen Energien, eingeschmolzen wird. Es steht oft nicht mehr als autonomes Resultat in der Welt, von seinen Entstehungsbedingungen für immer abgekoppelt und durch das Prädikat »fertig« in die Sphäre reiner Objektivierung ver setzt, sondern als momenthaftfixierter Übungskristall-Index einer Drift von einem performativen Zustand zum nächsten. Andererseits haben große Künstler wie Rodin von ihrer unaufhörlich übenden, obschon stets am gegenständlichen Produkt orientierten Tätigkeit als höchster Form von »Ar beit« geredet: toujours travailler, wie um klarzustellen, daß die Kunst, ihrer Selbstbezüglichkeit zum Trotz, die ernsteste wie die selbstloseste Sache bedeute. Sie verrieten damit auf
Prospekt: Rückzüge in die Ungewöhnlichkcit
333
ihre Weise ein Geheimnis von Handwerkern und Fetischma chern alten Schlages, wonach in das gut gemachte Ding im mer die »Seele« ihres Urhebers einfließt, während dieser sein Metier nur meistert, wenn er ständig auf Stimmen des Mate rials hört. Daneben haben die zahllosen psychotherapeutischen Sy steme, die sich im Lauf des 20. Jahrhunderts entfaltet haben, die antiken Praktiken der übenden Introspektion wieder zum Leben erweckt, in der Regel ohne sich der Verwandtschaft mit den alten Modellen bewußt zu sein. Nietzsche hatte mit seiner Forderung, seine Leser dürften, wollten sie ihn wirk lich verstehen, keine modernen Menschen, sondern müßten Meditanten oder »Wiederkäuer« sein, die Rückwendung von der Arbeitslogik zum Exerzitium eingeläutet. Wenn Foucault hingegen um 1980 den antiken Diskurs um die »Selbstsorge« ins gegenwärtige Gespräch zurückbrachte, war dies ein Si gnal, die Ära der therapeutischen Ideologien abzuschließen. Was seither auf der Tagesordnung steht, ist die Wiedergewin nung eines verallgemeinerten Übungsbewußtseins aus den Quellen antiker Philosophie und neuzeitljcher Kunst- und Körperpraxis. Hier und da beginnt man zu begreifen, daß der Therapeutismus des 20. Jahrhunderts seinerseits nur ein Deckphänomen einer Tendenzwende mit epochalen Zügen war. Ich darf daran erinnern: Das psychoanalytische Schlüs selwort »durcharbeiten<< beruht auf der diskreten Übernah me eines stoischen Übungsprinzips, dem Hin- und Herwen den einer Vorstellung oder eines Affekts in der Meditation, das in der griechischen Terminologie der Schule an.apolein bzw. anap6lesis hieß, lateinisch: in animo versare. Es bezeich net den modernen Zeitgeist, daß man auch Sport und Medita tion gern als »Arbeit« präsentiert. Die folgenreichste Unterwanderung des Arbeits- und Pro duktionsglaubeos vollzog sich auf seinem eigenen Terrain, als die Kommunistische Partei der Sowjetunion nach der Okto berrevolution I9I7 der noch überwiegend agrarischen Öko-
334
II Übcrtrcibungsverfahren
nomie des vormaligen Zarenreichs eine Modernisierungskur verordnete. In diesem Umbruch wurden die motivationalen Grundlagen der modernen Erwerbsarbeit, der Zwang zur Schuldenbedienung im Kreditsystem der Eigentumswirt schaft und das persönliche Streben nach Wohlstand so tiefge hend zerrüttet, daß sich im gesamten Wirkungsbereich kom munistischer Herrschaft zu keiner Zeit so etwas wie eine ef fiziente Arbeitskultur modernen Typs ausbilden konnte. D a die Orientierung am eigenen Vorteilapriori suspendiert war, blieb den sowjetischen Werktätigen nur die Wahl zwischen den Haltungen des freiwilligen Rekordproduzenten oder des selbstironischen Roboters - in beiden Attitüden wurde die Orientierung der Arbeit am Vorrang des Ergebnisses unter miniert und in eine mehr oder weniger selbstbezügliche Übung verwandelt. Im Grunde war die Sowjetwirtschaft ein Kompositum aus einer feudalen Tempelökonomie, in der ein zynischer Staats.klerus das Mehrprodukt absorbierte, und einer Gurdjieff-Gruppe: Bekanntlich arbeiten Adepten solcher Veranstaltungen Tag und Nacht bis zur Erschöpfung an irgendwelchen vom Gruppenleiter gestellten Aufgaben, um dann zu erleben, wie das Produkt vor ihren Augen zer stört wird - vorgeblich, um ihre innere Loslösung zu fördern. In diesem Sinn gilt: Der Kommunismus hat mit seinen Po pulationen eine quasi-spirituelle Übung durchgeführt, die unter dem Vorwand des Arbeitskults die Arbeit ad absurdum führte: Er hat das Leben von drei Generationen für die Her stellung eines politischen Ornaments verbraucht, über das die Geschichte hinwegging. Sein Schicksal erinnert von fern dar an, wie tibetische Mönche große Mandalas aus farbigem Sand ausführen, die dazu bestimmt sind, am Tag nach ihrer Fertig stellung vom Fluß weggespült zu werden. In diesem Teil rekonstruiere ich einige Grundzüge des expli cite übenden Lebens. Angesichts der Ungeheuerlichkeit des Materials, das hier zur Sprache kommen müßte, muß ich
Prospekt: Rückzüge in die Ungewöhnlichkeil
335
mich mit Umrißzeichnungen und anekdotischen Kalorierun gen begnügen. Ich beginne, dem Gang der Sache selbst fol gend, mit der seit der Antike zu beobachtenden Heraustren nung der Übenden aus dem sozialen Lebenskontinuum und ihrer Fixierung in einer systematisch zu festigenden Exzen trik gegenüber ihrem bisherigen, von Gruppenzwängen und organischen Trägheiten diktierten Dasein. Dieser Rückzug aus der kollektiven Identität - praktische Matrix jeder geiso gen epoche - bildet ein Merkmal des asketischen modus vi vendi, das von Helmuth Plessner, dem Urheber der Doktrin von der »exzentrischen Positionalität« des Menschen, in sympathischer Übertreibung zu einem allgemeinen Grund zug der conditio humana stilisiert wurde, als ob alle Einzel nen a priori neben sich stünden und wie Schaupieler des AU tags, Naturhysteriker oder Public-Relations-Manager in ei gener Sache ihr Leben von jeher vor dem Spiegel führten. Indessen sollte man daran erinnern, daß Spiegel, obschon in seltenen Exemplaren schon vor mehr als 2000 Jahren in Ge brauch, erst vor annähernd zweihundert zu allgemeinerer Verbreitung gelangten; als schließlich vor hundert Jahren die Sättigung des Spiegelmarkts erreicht war, rief ihre Allge genwart eine gewisse diskrete Exzentrik in den Selbstverhält russen von jedermann und jeder Frau hervor. Sie verführen ihre Benutzer zu dem Glauben, sie seien schon immer reflexiv »neben sich« gewesen, indessen die Spiegel in historischer Sicht ihre Rolle als egotechnische Leitmedien des modernen selbstbildabhängigen Menschen ganz unverkennbar erst vor sehr kurzem zu spielen begannen. Im nächsten Abschnitt zeige ich, auf welche Weise die Innen welt der Übenden von idealen Vorbildmächten durchwirkt wird, und weiter, wie die Intuition einer fernen und doch verbindlichen Vollkommenheit zum Aufbau von starken Ver tikalspannungen führt - das erzeugt ein Reich von ideenbe feuerten Aufschwüngen und subtilen Attraktoren, von de- -
-
II Übenreibungsverfahren
die Modemen in der Regel nur noch so viel wissen, wie durch die unter dem Begriff »Narzißmus« zirkulierenden Karikatu ren sichtbar wird. Hieraus ergeben sich Einblicke in die Zeit formen eines Daseins unter dem Zug des Vollendungsgedan kens. Aus der Zeitstruktur des Seins-zur-Vollendung, sei es in alteuropäischen, sei es in asiatischen Varianten, sind Auf schlüsse über die Macht des Perfektionismus zu gewinnen, ohne den man die Verführbarkeie der Modernen durch die Phantome der Geschichtsphilosopnie nicht verstehen kann. Nach einigen nistorischen und systematischen Hinweisen auf die unentbehrliche Figur des Trainers, den man je nach Re gion, Tradition und Laune als Meister, Guru, Vater, Heiler, Genius, Dämon, Lehrer oder Klassiker bezeichnet, nehme ich das religionswissenschaftlich gut bearbeitete Phänomen der Konversionen neu ins Visier, um zu erläutern, wie Üben de nicht selten in die Verlegenheit geraten, mit einem anderen Trainer weiterarbeiten zu müssen. Dabei zeigt sich: Viele Fach- und Niveauwechsler hatten zuerst mit einem falsch formatierten »Gott« trainiert, einem zu erfolglosen, wie Wo tan, dem zu gegebener Zeit Christus den Rang abläuft, oder einem zu ernsten, wie sich beim neuzeitlichen Übergang vom immer leidenden Christus zur fröhlichen Fortuna beobach ten ließ. Wir werden sehen, wieso ein entlassener Trainer immer eine gute Chance hat, im Seelenhaushalt seines ehe maligen Schützlings ein zweites Leben als Götze, Dämon oder cattivo maestro zu führen. Damit wird eine Revision in der Königsdisziplin der Religionssoziologie, der Theorie der Konversionen, fällig. Ich möchte Zweifel an dem gängi gen Modell der Konversion anmelden (auch wenn ich Os wald Spenglers These, es gebe keine wirklichen Konversio nen, nicht unterstütze), indem ich zeige, daß die eigentliche Bekehrung allein beim Eintritt in eine hochkultureile Diszi plin des übenden Lebens geschieht (die ich die Sezession nen ne), indessen der bloße Disziplin- und Konfessionswechsel-
Prospekt: Rückzüge i n die Ungewölmlichkeil
337
wie bei dem Sprung des Paulus vom jüdischen Zelotenrum ins apostolische Eifern - keinen wirklichen Konversionscharak ter aufweist.
6
33 9
Erste Exzentrik
lieh, schaurig, gewesen, sagt das mehr über das Klima antiker Geistigkeit als jedes esoterische Geflöte. Hatte nicht Epiktee
6 E RSTE ExzENTRIK
tatsächlich gelehrt, wer sein Kind küsse, solle ihm dabei in
VoN DER ABSONDERUNG DER ÜBENDEN
nerlich zurufen: »Morgen wirst du sterben«, damit man sich
UND IHREN SELBSTGESPRÄCHEN
i m Nicht-Haften übe und eine angenehme Vorstellung durch eine unangenehme Gegenvorstellung ausgleiche?3 Dieselbe Härte erklingt in den Reden des Buddha, der die mönchische Vollkommenheit in die Formel faßt:
Entwurzelung aus dem ersten Leben: Spiritueller Sezessionismus
..Wer nicht für andere sorgt, für den es keine Verwand ten gibt, wer sich bezähmt, wer in der Wahrheit befe stigt ist, in dem die Grundübel erloschen sind, wer den
Der Schritt ins übende Leben erfolgt durch die ethische Un erscheidung.2 Die vollzieht, wer es wagt oder wem es � zufallt, aus dem Lebensstrom zu steigen und das Ufer als Aufcnthalt�ort zu wählen. Der Herausgestiegene pflegt eine kampfbereite Aufmerksamkeit für das eigene Innere und be wahrt einen feindseligen Argwohn gegen das neue Außen das bis dahin die tragende Welt schlechthin bedeutet hatte
:
�lle Steige�ngen geistiger und leiblicher Art beginnen mit
e�ner Sez�ss1�n von der Gewöhnlichkeit. Diese geht zumeist et nher mit emer heftigen Abstoßung der Vergangenheit . mcht selten unter Mithilfe von Affekten wie Ekel, Reue und völliger Verwerfung des früheren Seinsmodus. Was
�
?,ft
ma� eut� mit einem etwas zu pietätvollen Zungenschlag . »Sptntuaüta�« nennt, gletcht anfangs eher einer heiligen Per . verst al emer allgemein respektablen geistigen Praxis. Die �� � ursprunghebe Ehrfurcht vor spirituellen »Werten« ist stets durchsetzt von Perversionsfurcht und Grauen angesichts _ _ d �r Mystenen der Wtdernatürlichkeit, gleich, ob es sich um dte monströsen Darbietungen der indischen Fakire und die Versteinerungsübungen der Stoiker handelt oder die Him m �lfahrtsübungen ch �i�tlicher Extremisten. Wenn sogar ein mtt der Stoa s �mpathtsterender Autor wie Horaz über Epik . tet bemerkt, dteser set aufgrund seiner Strenge atrox, cntsetz1
Siehe oben S. 258f.
Haß von sich geworfen hat: den nenne ich einen Brah manen.« Wie tief der Bruch reicht, der aus den Worten des Erwachten spricht, begreift nur, wer sich erinnert, daß noch wenige Ge nerationen zuvor das Heil des Brahmanen :11lein aus der Ver wandtschaft kam, genauer: aus der väterlichen Deszendenz und aus den in der Familie gehüteten Opferkünsten. Man muß demnach immer berücksichtigen: Der Extremismus bei Stoikern, frühen Christen, Tantrikern, Buddhisten und anderen Verächtern der Wahrscheinlichkeit ist kein illegiti mer Zusatz, den spätere morbide Scharfmacher erfunden hät ten, um uns eine an sich gesunde und milde Lehre zu vergäl len. Er geht überall von den Quellen selbst aus. Um die Originalsprache der radikalen Sezessionsdynamik zu hören, genügt es, Matthäus 10, 3 7 nachzulesen: »Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig.« Das ist der
locus classicus
aggressiver Vertikalsprache in der
westlichen Hemisphäre, ein performativer Blitz aus einem Himmel, der Apokalypsen zeitigt und Abschiede erzwingt. 3
P:tul Rabbow, Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike, München 1954, S. 137, nach Epiktct, Enchciridion 3· Dasselbe Motiv bei Mare Aurcl, Selbstbetrachtungen 1 1 , 34·
rr Übertrcibungsverfahren
Die Geschäftsbasis für den Bruch mit dem ersten Leben wird in einem Dialog offengelegt, von dem Markus 10, 28-30 be richtet. Petrus: »Du weißt, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt.<< Darauf Jesus: »Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus und Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen bat, wird das Hundertfa che dafür empfangen.« Auf dieser Grundlage muß die Entwurzelung geübt werden, bis der Adept begreift: Die Trivialität des früheren Lebens ist die abscheulichste Ketzerei; die Wirklichkeit als solche ist eine Seuche. Der Glaube an sie und ihr herrschendes Prinzip ist ein Versunkensein im Miasmus. Ist es monströs, so bat es doch Methode: Der Sezessionis mus der großen transformativen Ethiken wi!J ein für alle Mal statuieren, daß im ersten Leben kein Heil liegt. Die anfäng lichen Bindungen erweisen sich als Fesseln, die die Seelen an unrettbare Zustände binden. Ist die Region Besessenheit, Ver fallenheit, Heillosigkeit erst einmal aufgedeckt, darf die Aus treibung der Geister vor nichts zurückschrecken. Bei den Radikalen genügt es darum nicht, Dorf, Acker und Netze zu verlassen, auch das alte physische u11d psychische Selbst hat zurückzubleiben. Bei Pantanjali, dem mythischen Verfas ser des Yoga-Sutra aus dem 5 . oder 4· Jahrhundert vor Chri stus, der häufig mit dem gleichnamigen Grammatiker aus dem 2 .Jahrhundert identifiziert wurde, rufen die der Medita tion vorangehenden asketischen Reinigungen (tapas) beim Konternplanten einen heilsamen Abscheu vor dem eigenen Körper hervor und drängen ihn zur Unterbrechung jeder Berührung mit den übrigen Körpern.4 Sobald mir die Welt als ein Tümpel voll Schmutz erscheint, ist die Hälfte des We ges ins Freie bewältigt. Die Haltung des richtig Übenden gegenüber seinem früheren Dasein wird im Hinduismus als 4 Pamanjali, Yoga-Sutra
-
II, 4 1 .
6 Erste Exzentrik
vairagya beschrieben, was wörtlich >>Loslösung« heißt und
eine abscheugetönte Gleichgültigkeit gegen alltägliche Ge nüsse und Sorgen bezeichnet. Auch der griechisch-römische Stoizismus kennt und lobt den Bruch mit den Anhänglichkeiten und Aversionen des ersten Lebens - wer sich gegen das Schicksal eine harte Haut wachsen lassen will, muß sich als erstes die natürliche Bevor zugung des Angenehmen abgewöhnen. In leise parodisti schem Ton bemerkt Nietzsche hierzu: »Der Stoiker dagegen übt sich, Steine und Gewürm, Glassplitter und Skorpione zu verschlucken und ohne Ekel zu sein; sein Magen soll endlich gleichgültig gegen alles werden, was der Zufall des Daseins in ihn schüt tet . . . <<5 Mehr noch als auf die Gleichgültigkeit des Magens zielt die stoische Übung auf die Gleichgültigkeit der Augen gegen beliebige Anblicke, der Ohren gegen beliebige Töne und des Geistes gegen beliebige Vorstellungen - das geht, wie Mare Aurel in seinen Mahnsprüchen An sich selbst notiert, bis zu der prinzipiellen Weigerung, sich über irgend etwas zu wundern. »Es hieße lächerlich und ein Fremdling in der Welt sein, wenn man über irgendein Ereignis in seinem Leben staunen wollte.«6 Diese Maxime, kaltblütig, wie sie klingen wollte, läßt die an thropotechnische List durchscheinen, wonach es dem Stoiker bei seiner geziehen Gleichsetzung von Überraschungen und Verletzungen darauf ankommt, sich durch Immunisierung Fröhliche Wissenschaft 306. Analog Mare Aurel, Selbst 10, 3 1 : Alles Menschliche soll dir wie ein Rauch, ein wahres Nichts erscheinen und das Nachdenken über alle Gegen stände als »Übungsmirtcl für die Vernunft« dienen. Man soll mit gründlichem Narurforscherblick auf die Dinge schauen, bis man sie sich angeeignet hat, »gleichwieein starker Magen sich gewöhnt, alles zu verdauen . . ·" 6 Marc Aurcl, Selbstbetrachtungen 1 2, 13. f. N., Die
betrachtungen
II Übenreibungsverfahren
gegen die ersten zugleich das nötige Maß an Wetterfestigkeit gegen die zweiten anzueignen.
Die Spaltung des Seienden durch den Feldu.�g gegen das Gewöhnliche Noch einmal: Ins ethische Denken eintreten heißt mit dem ganzen eigenen Dasein einen Umerschied machen, den zuvor niemand vollzog. Gäbe es einen hierzu gehörigen Sprechakt, er hieße: »Hiermit trete ich aus der gewöhnlichen Wirklich keit aus.« Die Sezession von der Gewohnheitswelt als erste ethische Operation führt eine unbekannte Spaltung in die Welt ein. Sie zertrennt nicht nur die Menschheit asymme trisch in die Gruppen der Wissenden, die weggehen, und der Unwissenden, die am Ort des vulgären Verhängnisses bleiben, sie impliziert unvermeidlich die Kriegserklärung der ersten an die zweiten. Daraus resultiert der unblutige Krieg der als Lehrbefugte Zurückkehreoden gegen alle übri gen, die nun erfahren, daß sie Schüler sind - und in der Regel schlechte Schüler, verlorene Schüler, ja Unerziehbare, die mit der Verdammnis spielen, ohne es zu wissen - Menschen von gestern, aus einer Zeit vor der Entdeckung des großen Unter schieds. Zugleich fehlt es in allen Kulturen, in denen der logisch-ethische Bürgerkrieg losbrach, nicht an Vermittlern, die den Bruch zu überbrücken suchen. Sie nähern die vom Logos Erniedrigten, von den Edlen Wahrheiten Beleidigten, von den heilsamen Übungen Ausgeschlossenen durch senti mentale universalistische Versöhnungsformeln der Partei der Angreifer an - ja vielleicht stellen die sogenannten großen Religionen mitsamt ihren klerikalen Apparaten, ihren Netz werken organisierter Weltflucht und ihren weltzugewandten Schulen, Kliniken und Diakonien insgesamt nichts anderes dar als Unternehmen zur Abmilderung der kränkenden Überspannungen, die durch ihre Gründer in die Welt gesetzt
6 Erste Exzcnrrik
3 43
worden sind. Wo immer Unjversalismen auftreten: Sie leisten durch große Umarmungsgesten mehr oder weniger trügeri sche Wiedergutmachungen fürden Angriff der Radikalen. Die Errungenschaften der Minderheiten, behaupten sie regelmä ßig, sind keine Privilegien für wenjge, sondern Eroberungen für alle. Die Wahrheit ist, daß Universalismus nie mehr errei chen kann als die Umformatierung einer Auserwählungs gruppe. Diese zieht früher oder später ihre Kreise weiter und gruppiert einen größeren Kranz von Neubekehrten und Sympathisanten um den harten Kern. An solchen Peripherien gedeihen die Träume von absoluter Inklusivität. Aufs Ganze gesehen, bleibt der abstrakte Uruversalismus - wie »der M ensch« in Sartres Definition - eine vergebliche Passion, den Untrainierten ein Trost und den Trainierten ein Trugbild. Die Sezession vollziehen heißt die Welt spalten. Der Ope rateur ist derjenige, der, indem er weggeht, die Weltfläche in zwei zunächst unversöhnbar entfremdete Regionen zer schneidet - in die Zone der Weggehenden und die der Blei benden. Durch diesen Schnitt erfahren beide Seiten zuerst, daß die Welt, die zuvor eine allen Menschen gemeinsame, vielköpfige, doch unzertrennliche und unkonfrontierbare Einheit zu sein schien, in Wahrheit eine spaltbare und kon frontierbare Größe ist. Der Rückzug der Asketen ist das Mes ser, das den Schnitt ins Kontinuum setzt. Danach erscheint die Welt in einem völlig veränderten Licht- ja, vielleicht kann vom Bestehen einer »Welt« im Sinne der hochkulturell co dierten moralisch-kosmischen Ausgriffe aufs Ganze erst die Rede sein, nachdem sie von der neuen Klasse der Verncincr entzweit und auf einer höheren Ebene wieder zusammenge setzt worden ist. Bildete das Totum zuvor eine konfuse Viel heit von multiplen Kräften vor vagem Einheitsgrund, gerät es jetzt zu einer angestrengten Syothese über den vom Schnitt erzeugten ungleichen Teilen. Was Heidegger die »Zeit des Weltbilds« nannte, beginnt nicht erst mir den modernen G' ben und Atlanten, sondern bereits mit den achsenzcirlicl -
344
II Übenreibungsverfahren
Kosmos- und Reichsvisionen. Eine Weh, vor der die ethisch
Besten fliehen, kann kein mütterlicher Behälter für alle Le
bensformen mehr sein. Infolge des Auszugs der Asketen, der
Meditanten, der Denker wird sie zum Schauplatz eines Dra
mas, das ihre Fähigkeit, ethisch erregte Einwohner angemes sen zu beherbergen, von Grund auf in Frage stellt: Was ist
diese Welt, wenn die stärkste Aussage über sie in der Abkehr
von ihr besteht? Das große Welttheater handelt von dem
6 Ersre Exzentrik
345
sion erzeugt reale Räume. Sie richtet Grenzen auf, hinter
denen ein wirklich andersartiger Daseinsmodus seinen Wil len diktiert.
Wo Sezessionisten sieb aufhalten, gelten die Regeln des
real existierenden Surrealismus. Ein Kloster, ob am Fuß des Himalaya oder am Rande der Skecischen Wüste, ein paar Ta
gesmärsche südlich Alexandrias, hat nichts mit einer ge
träumten Insel im Atlantischen Ozean gemeinsam - es ist
Duell zwischen den Sezessionisten und den Seßhaften, den
ein konkretes Biotop, bevölkert von hartgegerbten Surreali
ter ist, tritt die Figur des Beobachters auf den Plan. Wenn die
den Höhlen der ägyptischen Eremiten, von den Wald- und
Weltflüclnern und den In-der-Welt-Bleibern. Wo aber Thea ganze Welt eine Bühne wird, so deswegen, weil es die Sezes sionisten gibt, die vorgeben, hier nur Besucher, nicht Mit spieler, zu sein. Reine Theorie ist die Rezension der Welt durch reservierte Besucher. Ihr Erscheinen erzeugt die ethi
sche Herausforderung des »Bestehenden<< durch eine Beob
achtung aus quasi-transzendenter Position: Von der »Grenze der Welt« aus wollen diese Beobachter bezeugen, was an dem erstaunlichen Lokal der Fall ist.
Rückzugsräume der Obenden Mit diesen Hinweisen deute ich eine spirituelle Raumord nung an, die tiefere Grenzen verhandelt, als irgendeine Geo
politik erfassen kann. Die von den Sezessionen geschaffenen
sten, die einem strikten Regime gehorchen. Gleiches gilt von Berg-Refugien der indischen Samnyasins und von allen übri
gen Stützpunkten des meditativen Retreats oder der asketi
schen Weltverlorenbeit - auf paradoxe Weise sogar von den luftigen Camps der syrischen Styliten, die auf den Plattfor
men an der Spitze ihrer Gebetssäulen jahrelange Scharaden über die Redewendung >>dem Himmel näher kommen« in
szenierten - Weltverachtungstheater vor den Augen eines
wundersüchtigen Pöbels, der aus den Städten zu den Ruinen
in der Wüste strömte, um endlich einmal etwas zu sehen, bei dessen Anblick man seinen Augen nicht mehr trauen durfte. Darum scheint es plausibler, für die raumbildenden Re sultate der ethischen Sezession einen Ausdruck wie »Hetero
ropie« zu verwenden, den Michel Foucault in seinem wenig bekannten, im Jahr
1967 vor Architekten gehaltenen Vortrag
Des espaces autres geprägt hat. Heterotopien sind illm zufolge
Räume - man denke fürs erste an die Einsiedeleien, die Klö
»andersartige« Raumschöpfungen, die einerseits dem Gefüge
ditativen und philosophischen Rückzugs - hätte man in den
gehören, andererseits aus dem trivialen Kontinuum heraus fallen, weil in ihrem Inneren eigensinnige, der Logik des Gan
ster, die Akademien und andere Ortstypen des asketisch-me
besseren Tagen des Kulturmarxismus zweifellos als mundane
Stützpunkte des »Geists der Utopie<< bezeichnet. Da aber
Utopien im präzisen Wortsinn nur erzählerisch evozierte Bil
sozialer Stellen
(emplacements) einer bestimmten Kultur an
zen oft zuwiderlaufende Regeln gelten. Als Beispiele für Heterotopien werden Friedhöfe, Klöster, Bibliotheken, Edel
der besserer Welten sind, die an keinem Ort der Wirklichkeit
bordelle, Kinos, Kolonien und Schiffe genannt. Man könnte dje Liste mühelos verlängern u m Phänomene wie Sport
zessionär geschaffenen Ortschaften ungeeignet. Die Sezes-
stärten, Ferieninseln, Wallfahrtsorte, Mirakelhöfe, Parkhäu-
existieren, ist dieser Ausdruck zur Charakterisierung der Se
TI Übenreibungsverfahren
se/ und verschiedene Arten von no-go-areas. Unter den he terotopen Raumerfindungen des späten 20. Jahrhunderts dürfte die Raumstation zu den wichtigsten Innovationen ge hören - es wäre im übrigen leicht, zu zeigen, daß sich dort eine spezifische Form von Astronautenspiritualität heraus gebildet hat, deren Rückwirkung auf die Bewohner der Erd oberfläche zu studieren bliebe.8 Die erste reale Heterotopie ist der Raumtyp, den ich aus gehend vom heraklitischen Bild des Flusses, in den man nicht zweimal steigt, das Ufer genannt habe. Orte mit Ufer-Qualität lassen sich an sämtliche Ränder der bewohnten Welt projizie ren - de facto entstehen sie überall, wo die zur Sezession ent schlossenen Übenden aus dem Gewohnheitsstrom steigen. Sie bilden die ersten Brückenköpfe der Exzentrik. Wo die Flucht aus der Mitte sich affirmativ erklärte, bildeten sich die großen Thesen über die Heilsnotwendigkeit der Entwurzelung her aus, etwa die buddhistische Doktrin des Hausverlassens oder die christliche Pilgerfahrt-Ethik. In einer Sutra des Digha Ni kaya (der »Längeren Sammlung«) heißt es über den Buddha: »Wenn er aber aus dem Haus in die Hauslosigkeit zieht, wird er heilig werden, auferwacht, der Welt den Schleier wegnehmen.« Was die christlichen Topoi vom Leben als peregrinatio und vom Gläubigen als homo viator angeht, sind sie noch heute so bekannt (zudem durch die aktuelle Pilgermode reaktualisiert und spiritualtouristisch aufgewertet), daß ein Hinweis auf ihre Entstehung aus dem Bruch mit dem status quo genügt. Entscheidend ist an solchen Figuren allein die sezessionisti sche Pointe: Da in der ersten Sozialisation, unter der Beses senheit durch den alten Habitus, .im Leben unter den Idolen 7 Vgl. Jürgen Hasse, Übersehene
Räume. Zur Kulturgeschichte und
Hcterotopologie des Parkhauses Bielefeld 2007. ,
8 Vgl. Pctcr Sloterdijk, Starke Beobachtung. Für eine Philosophie der Raumstation, in: Stefan Dech u. a., Globaler Wandel: Die Erde aus dem All, München 2.008.
6 Erste Exzentrik
347
des Stammes, der Tradition und des Theaters, kurzum im Leben unter dem Bann der Anfänge, das Heil unmöglich zu finden sei, müsse der Mensch, der dies begreift, mit seinen alten Solidaritäten brechen. Hauslosigkeit und pilgernde Existenz schaffen exzentri sche Räume durch Flucht, so daß der Hausverlassende, der Pilgernde, der Weltfremdling ständig seine eigene Wüste, sei ne Eremitage, sein Alibi mit sich führt. Ein Aufenthalt am Tatort des gewöhnlichen Lebens kommt für diese noblen Ausweichenden nicht mehr in Frage. Wer seinen Fluchtraum immer um sich hat, muß andererseits nicht mehr physisch weggehen. Die Metaphorisierung der Wüste machte es mög lich, den Extremismus der ersten Sezessionäre abzumildern und eine bürgerliche Variante von Rückzug für jedermann in Umlauf zu bringen. Diesen Trend unterstützt die erbauliche Literatur, vor allem nach der Ersetzung der schweren Codi ces durch das kleine Buch, das es vom 1 4.}ahrhundert an dem Leser erlaubt, seine Taschenwüste mit sich zu tragen.9 Tat sächlich stellen die literarischen Medien der beginnenden Neuzeit in Europa den Laien ein starkes Übungsmedium zur Verfügung. Schlage ein Buch auf, lies einen Satz - und die Minuten-Anachorese ist verwirklicht. Seit Jahrhunderten dient dem Besinnlichen das Buch als Vehikel zum Rückzug »in das Landheim seiner selbst<<. 10 Was Helmuth Plessner »dem Menschen« im allgemeinen zuschreibt, die >>exzentrische PositionaÜtät« seines Selbstbe zugs, ist in Wahrheit ein Effekt des Gebrauchs egotechnischer Medien in der Neuzeit, Medien, die im Lauf weniger Jahr hunderte praktisch jeden Einzelnen mit dem erforderlichen Zubehör für ein mildes chronisches Außersichsein ausgerü9
In diesem Zusammenhang ist an Petrarcas bckanmen Brief vom
2.6. April 1336 zu erinnern, in dem er behaupret, er habe auf dem Gipfel des Mom Ventoux eine Taschenausgabe von Augustins Confessiones bei sich gehabt und darin gelesen. to Vgl. Rabbow, Seelenführung, a.a.O., S. 93·
11 Übertreibungsverfahren
stet haben: Gebetsformel, Beichtspiegel, Roman, Tagebuch, Portrait, Photographie, Zeitungen und Funkmedien und nicht zuletzt: Spiegel von allen Seiten. Mit diesem Equipment an Selbsttechniken ausgestattet, entwickeln die Individuen wie unbemerkt eine zweite Einstellung gegenüber der ersten Position. Kaum einer der Modernen, die das Menschenrecht auf einen »eigenen Raum« reklamieren, ahnt noch etwas von der Herkunft dieser Forderung aus einer weit zurückliegen den Revision der sozialen Topologie.
Die tiefere Unterscheidung: Selbstaneignung und Weltpreisgabe Gleichwohl: Für eine philosophische Evaluierung der ur sprünglichen Exzentrik erweisen sich die bisherigen Hinwei se auf die Spaltung der Welt durch die ethisch-asketische Se zession als unbefriedigend. Zwar gehen sie von der unbe streitbaren Beobachtung aus, wonach vor etwa dreitausend Jahren in einer Anzahl höherer Kulturen eine Serie geistes geschichtlich folgenreicher Absetzungsbewegungen in Gang kam, getragen von einem bis dahin unbekannten Typus aske tischer Eliten. Deonoch vermögen diese Festellungen es nicht, das Agens der Sezessionen hinreichend deutlich her vorzuheben. Dieses Ungenügen hat einen methodischen Grund: Wie es zu einer solchen Abspaltung kommen konnte, läßt sich in sozioJogischer Anschauung allein unmöglich er läutern. Prinzipiell: In äußerer Sicht bleibt der Antrieb des Sezessionsgeschehens unauffindbar. Dessen logische Quelle wird erst evident, wenn man die Opposition zwischen den Asketen und der übrigen Welt unter den Kriterien einer on tologischen Analyse rekonstruiert. Nur sie wird imstande sein, zu verdeutlichen, wie die Gesamtheit des Seienden einer Art von Gebietsreform unterlag, in deren Verlauf die Zustän digkeiten >>des Menschen« für sich selbst und die übrigen
6 Erste Exzentrik
349
Dinge radikal neu aufgeteilt wurden. Ja, man kann behaup ten, daß »der Mensch« aus dieser kosmischen Refom hervor gegangen ist und daß er als Träger einer Heilschance erst durch sie geschaffen wurde. >>Der Mensch« entsteht aus der kleinen Minderheit asketischer Extremisten, die aus der Men ge treten, um zu behaupten, sie seien eigentlich alle. Die Spaltung der Welt durch die Sezessionäre setzt also eine tiefere Unterscheidung voraus, in Folge welcher die Ab setzung der anderswo Übenden von den am alten Ort Weiter machenden erst ihre ganze Radikalität erlangen konnte. Diese Unterscheidung läßt sich mit dem Ausschneiden einer Figur aus einem größeren Bild vergleichen - oder mit dem Heraus stanzen eines geformten Stücks aus einem ausgewalzten Teig. In der Tat bildet sich die primordiale Differenz durch eine Art von Subtraktion, bei der sich der Denkende und Übende aus seiner ersten Umgebung ethisch, logisch und ontologisch herausnimmt- wäre es anders, könnte er sich von dieser nicht auch physisch und affektiv entfernen wollen. Dieses Sich Herausnehmen beruht auf dem Vollzug der Unterscheidung zweier radikal verschiedener Wirkungskreise im Seienden: des Wirkungskreises meiner eigenen Kräfte von dem Wir kungskreis aller übrigen Kräfte. Für den ersten Blick muß dies eine radikal asymmetrische, für mich selbst nahezu ver nichtende Teilung ergeben, da ja meine Kraft und meine Be deutung, verglichen mit der aller anderen Kreise und Kräfte, evidentermaßen gegen Null geben. Andererseits weist mir diese Unterscheidung eine Bedeu tung, obschon nicht automatisch auch eine Kraft, zu, die ge gen Unendlich tendiert, weil hier zum ersten Mal meine Ei gensphäre als Gegengewicht zur Sphäre des Nicht-Eigenen gesetzt wird, ganz so, als sollte ich dazu überredet werden, mich und das Meine gegen den »Rest der Welt« zu stellen. Die Winzigkeit des Eigenen wird durch die ethische Teilung in die Verlegenheit gebracht, dem ungeheuren Block des Nicht-E; genen die Waage halten zu sollen. Man kann diesen Vorß:.:-:-
3 50
Tl
Übenreibungsverfahren
nennen, wie man will -die Erfindung des inneren Menschen, den Eintritt in die Innenwelt-Illusion, die Verdoppelung der Welt durch Inrrojekrion, die Geburt des Psychologismus aus dem Geist der Verdinglichung des Äußeren, die metakosmi sche Revolution der Seele oder den Triumph der höheren Anthropotecbnik - in der Sache bedeutet er die Erfindung des Individuums durch die isolierende Hervorbebung seines Wtrkuogs- und Erlebenskreises aus dem Kreis aller anderen Welttarsachen. Ich setze hier für das Agens, das sich als Ei genes selbst ausschneidet, den Ausdruck »Subjekt« und für den Ausschnitt als solchen den Terminus »Subjektivität« ein, ohne diese Begriffe mir Anleihen beim Deutschen Idealismus oder mit Erinnerungen an die Heideggersche Kritik des neu zeitlichen »Subjektivismus« zu belasten. Es genügt, unter Subjekt, wie oben erläutert, den Träger von Übungsreihen zu verstehen. Die subjektbildende Basisübung, von der im folgenden die Rede sein wird, ist offenkundig keine andere als der methodisch betriebene Rückzug aus dem Komplex der gemeinsamen Situationen, die man »das Leben<< oder »die Welt« nennt. Von nun an soll »in der Welt sein« heißen suum tantum curare: Sich gegen alle Zerstreuung ins Nicht-Eigene um das Eigene kümmern und nur um dieses. Indem ich meine Kraft und ihr Zuständigkeitsgebiet von allen anderen Kräften und Zuständigkeiten trenne, erschließt sich für mich eine eng definierte Wirkungssphäre, in der mein Können, mein Wollen, vor allem jedoch mein Gestalrungs aufrrag hinsichtlich meines eigenen Daseins gewissermaßen zur Allein-Regierung aufsteigen. Die kritische Unterschei dung, die diese Promotion ermöglicht, erscheint auf west lichem Boden expressisverbis zuerst bei den Stoikern, die ihre ganze Energie aufboten, um die Trennung zwischen den Din gen, die von uns abhängen, und den Dingen, die nicht von uns abhängen, in einem immerwährenden Exerzitium durchzu führen. Eigen oder nicht-eigen - das ist die Frage, die den scharfkantigen Kanon, den Maßstab zur Nachmessung aller
6 Erste Exzentrik
35I
Vcrhälmissc, liefert. Dieser Schnitt zerteilt das Universum in zwei Bereiche, von denen der Operateur naturgemäß allein die für ihn maßgebliche eigene Hälfte wählt. Daher beginnen die typischen Merksätze der Stoiker mit »Es liegt in deiner Macht . . « . Wie sich ein Praktikant im Workshop der Sclbstaneignung aus der Welt ausschneidet und sich durch bewußte Oe-Parti zipation vom Trubel der Tagesthemen abkoppelt, zeigt eine berüchtigte Passage aus Epiktees Übungsanleitungcn: »Gleich morgens gehe aus, und was du siehst, was du auch hörst, prüf es, antwone wie auf eine Frage. Was sahst du? Einen Schönen oder eine Schöne. Lege den Kanon an: dem Willen zuhörig, ihm nicht zugehörig? Nicht zugehörig. Fort damit! Was sahst du? Jemanden, der jammert über seines Kindes Tod. Lege den Kanon an: der Tod ist nicht dem Willen zugehörig. Fort damit! Begegnet dir ein Konsul; lege den Kanon an: das Kon sulat, was ist es? Dem Willen zugehörig, ihm nicht zu gehörig? Nicht zugehörig. Fort damit, wirfs weg, geht dich nichts an! Und wenn wir uns so übten, vom Mor gen bis zur Nacht, dann käme erwas heraus, ja bei den Göttern. Statt dessen lassen wir uns gleich von jeder Vorstellung gefangennehmen . . . 1 1 »Fort damit!« ist der Schlüsselsatz des ersten Methodismus. Die anthroporechnische Arbeit an sieb selbst beginnt mit der Evakuierung des Innenraums durch Ausräumung des Nicht Eigenen. Wir sehen jetzt, was mit dem oben gebrauchten Bild von der ontologischen »Gebietsreform« gemeint ist: Es zeigt die Hinwendung zu dem, was von mir abhängt und die Ab wendung von allem übrigen. Der Weisheitsschüler geht von der Jnruition aus, daß seine Chance auf der Trennung der beiden Seinsregionen beruht. Deren klare und deutliche Un.
«
,
11
Epiktel ILI, 3, 14; zitiert nach Rabbow, Seelenführung,
s. ' 3 5 ·
:1. :1.
0.
D Übenreibungsverfahren
3 52
te;·scheidung gewinnt für sein Tun und Lassen in jeder Situa tion die höchste Bedeutung. Die erste bildet die Region des Eigenen - bei den lateinischen Platonikern wird man sie das Gebiet des »inneren Menschen« nennen und behaupten, in ihm allein sei die Wahrheit zu Hause: in interiore homine habitat veritas, 1 2 zumeist unter Ausschluß des eigenen Körpers, indessen die Yogi und Gym nosophen des Ostens diesen in die Innenwelt einschlossen. Innerhalb meiner Enklave darf mir schlechthin nichts gleich gültig sein, weil ich hierfür selbst bis ins Kleinste die Verant wortung trage - es kommt für mich nur darauf an, nichts zu begehren, was mir versagt ist, und nichts zu meiden, was mir bestimmt ist. Das zweite Gebiet umfaßt die gesamte übrige Welt, die mit einem Mal das Äußere, das saeculum, beißt und mir wie ein von Beliebigkeiten bevölkertes Exil gegenübersteht. Was so beginnt, ist der lange Marsch der Seele durch eine »Außen welt«, von der niemand mehr so recht begreift, worin der Grund ihrer Abrückung ins Befremdliche besteh t - nämlich in der ontologischen Abspaltung des Nicht-Eigenen und in der Gerinnung der vormals gemeinsamen umschließenden Situation zu einem Aggregat aus ferngerückten und vergleich gültigten Gegenständen. In Wahrheit tun die Akteure der großen Sezession alles, um die Welt zu alienieren - aber sie bleiben außerstande, nachzuvollziehen, wie ihre eigenen Bei träge dafür sorgen, daß im Panorama der sinnlichen Wahrneh mung die »Gegenstände« hervortreten und aus der Summe der Gegenstände ein Alienum namens Außenwelt entsteht. 1 3 I 1 Aurelius Augustinus, De vera religione, 39, 71.
13 Wie die philosophische Gegenbewegung zur Epoche des Objekti vismus und der Außenweltillusion aussehen könnre, habe ich in meinem Sphären-Projekt (Blasen, Mikrosphärologie I998, Globen, Makrosphärologie 1999, Schäume, Plurale Sphärologie, Frankfun am Main) ausgeführt .
6 Erste Exzentrik
353
M a re Aurel: »Die sinnlieben Gegenstände sind außer uns, einsam stehen sie sozusagen vor unserer Tür.«14 Unter der Vorzeichnung von schlechter Sinnlichkeit und dürrer Gegen ständlichkeit bleibt dem »Äußeren« wirklich nichts anderes übrig, als am Eingang zum abgespaltenen Ich haltzumachen. Es taugt nur noch zum Gegenpol von Rückzug, Flucht und Verachtung (anachoresis, fuga saeculi, contemptus mundi) allenfalls wird es Objekt von zersetzenden und entzaubern den Untersuchungen. In einem späteren Zustand, wenn das Ideal des Rückzugs in die zweite Reihe tritt, wird man es vielleicht auch als Zielgebiet von Fürsorge, Mission und geistiger Eroberung »wiederentdecken«. Entscheidend ist, daß die Vergleichgültigung des Äußeren, die aus der Sezessio nären Unterscheidung folgt, im Individuum einen ungeheu ren Überschuß an Selbstbezüglicbkeit freisetzt. Diesen in Beschäftigungsprogramme einzubinden ist der Sinn des Da seins in der ethischen Abspaltung. Tatsächlich: Ist die äußere Welt erst einmal von mir abgetrennt und ferngerückt, bleibe ich alleine übrig und entdecke mich selbst als unendliche Auf gabe.
Geburt des Individuums aus dem Geist der Rezession Was ich in diesen Überlegungen unter dem Ausdruck Sezes sion diskutiere, gründet somit in einer inneren Handlung, die ich in Ermangelung eines besseren Ausdrucks als Rezession bezeichnen will. Das meint zunächst den Rückzug des Ein zelnen von der im Strombett weltbafter Bewandtnisse ein getauchten Seinsweise oder, um das schon mehrfach verwen dete Bild noch einmal aufzunehmen: den Ausstieg aus dem Fluß des Lebens, um einen Platz am Ufer zu gewinnen. Erst 1 4 Mare Aurel, Selbstbetrachtungen 9, 1 5 .
354
I I Übenreibungsverfahren
durch die rezessive Selbstinsulierung entsteht der Komplex an Verhaltensweisen, den Foucault, vom stoischen Terminus cura sui ausgehend, die »Sorge um sich<< (souci de soi) genannt hat. Diese kann sich nur entfalten, wenn der Gegenstand der Sorge, das Selbst, schon aus dem Situationsstrom des sozialen Lebens herausgetreten ist und sich als Region szti generis eta bliert bat. Wo der Rückzug in sich vollzogen wurde - ob der übende nun die Brücken hinter sich abbricht, wie es die Mönche aller Couleurs in der Regel tun, oder sich im tägli chen Hin und Her zwischen Selbstpol und Weltpol einrichtet, wie es für die Weltweisen stoischen Typs charakteristisch ist -, verstärkt er die Entstehung einer Enklave im Seienden, für die ich, im Bild bleibend, den Ausdruck Ufer-Subjektivi tät verwende. Seit Jahrtausenden ringt diese Subjektivität auf ihrer pre kären Position am Ufer des verfremdeten Flusses um eine ihrer irritierenden Selbsterfahrung angemessene Sprache. Ih re Artikulationsversuche schwanken zwischen extremen Po len: der spirituell-heroischen Überkompensation auf der ei nen Seite, bei der die Fremdheit der Außenwelt durch die Allianz des Inneren mit dem Göttlichen bezwungen werden soll - wie Heraklit in seinen triumphalischen Momenten und die Inder der Upanishadenzeit es vormachen -, und der Flucht in die Zerknirschung auf der anderen, als ob die Un möglichkeit, im Strom des Lebens zu bleiben, sich nur durch eine tiefe eigene Schuld erklären ließe - dies ist der Pfad, den das alte Judentum zuerst beschritt, bevor das Christentum ihn zur Allee ausbaute. Am ehesten kommt die in sich zu rückgezogene Subjektivität der Wahrheit über ihre Lage na he, wenn sie Fragen stellt, die ihrer Verlegenheit im zu äuße ren Tatsachenkomplexen erstarrten Ganzen auf den Grund gehen wollen. So fragt Sören Kierkegaard alias Constantin Constantius stellvertretend für eine mehrtausendjährige Pro zession von Ufersubjekten: »Wo bin ich? Was heißt denn das: die Welt? Was bedeu-
6
Erste Exzentrik
355
tet dies Wort? Wer hat mich in das Ganze hineinbetro gen, und läßt mich nun stehen?« 15
Das Selbst in der Enklave Der Mensch in der Rezession zu sich selber bildet eine Form von Enklaven-Subjektivität aus, in der er es vorrangig und permanent mit sich und seinen inneren Zuständen zu tun hat. Er verwandelt sich in einen Kleinstaat, für dessen Einwohner die richtige Verfassung gefunden werden soll. Niemand hat das Rezessionsgebot, das zur Selbstverwaltung des eigenen Lebens durch den Lebenden auffordert, so deutlich ausge sprochen wie Mare Aurel: >>Denke also endlich daran, dich in jenes kleine Gebiet zurückzuziehen, das du selbst bist, und vor allem zer streue dich nicht << 16 Hiermit ist der Ursprung aller Sammlungsgebote bezeichnet, ohne die die hochkultureHe Subjektivität, sofern sie ein Kon zentrationsprodukt ist, niemals ihre bekannten Ausprägun gen hätte annehmen können. Zugleich liegt es in der Natur der Dinge, daß die Mikropolis, die ich bin, auf lange Zeit mit einer übergangsregierung auskommen muß. Diese Polis wird ja üblicherweise von ihrem Alleinbewohner in einem zerrütteten, nahezu unregierbaren Zustand übernommen. Spiritualität beginnt mit Aufräumarbeiten in einem inneren failed state, einer gescheiterten Seele- nicht umsonst hat der junge Gautama, der spätere Buddha, seinen Weg in die Aske se begonnen, als sein Jünglingsweltbild nach der Begegnung mit dem Leiden der Welt zusammengebrochen war. Oder war dieser Zusammenbruch nur eine fromme Erfindung - und an der Wurzel der Sezession des später Erwachten hätte die as. . .
15
Sören Kierkegaard, Die Wiederholung, Selbstbetrachtungen 4, 3·
16 Mare Aurel,
Düsscldorf 1 9 5 5>
S.
7of.
II Obcrtrcibu.ngsverfahren
ketische Revolte gegen die Idiotie des kriegeradeligen Lebens gestanden?17 Wem ein zeitgenössisches Zeugnis glaubwürdiger er scheint als eine antike Legende, kann nachlesen, wie Bernard Enginger, 1923 -2007, ein junger Franzose am Rande des Ner venzusammenbruchs, den seine Erlebnisse in einem deut schen Konzentrationslager moralisch und psychisch zerrüt tet hatten, durch die Begegnung mit Sri Aurobindo und der »Mutter« (Mira Richard) zu einer neuen spirituellen Gefaßt heit gelangte - und zu einem zweiten Namen: Satprem. Wer auch immer den Pfad der philosophischen Übung oder des Dharma oder der christlichen
exercitationes spirituales be
tritt, tut dies nicht im Vollbesitz der Selbstbeherrschung, son dern aus Einsicht in den Mangel hieran, freilich zugleich in der von realen Vorbildern unterstützten Hoffnung, es eines Tages zur Meisterschaft in der Kunst der Selbstregierung
(enkrateia) zu bringen. Der hinduistische Titel swami (von Sanskrit svämi, eigen, selbst; vgl. lateinisch suus), der in pro fanen Kontexten einen Chef bezeichnen kann, meint in spi ritueller Hinsicht den »Herrn über sich selbst«, den Asketen, der es auf dem Übungsweg zur vollständigen Kontrolle der eigenen Kräfte gebracht hat.
6 Erste Exzentrik
35 7
von dem man annimmt, ihm sei die ethische Reform bereits gelungen. 18 Um die Enklavierung durchzuhalten, ist eine ständige Überwachung der Grenzen und die tägliche Kon trolle der Infiltrationen aus dem Äußeren unentbehrlich. Tat sächlich liegt der schwierigste Teil der Aufgabe des zurück gezogenen Subjekts in der Unterbrechung des Informations stroms, der den Übenden an die frühere Umwelt anschließt. Dabei sind insbesondere zwei Schwachstellen im Auge zu behalten, von denen eine ständige Gefährdung ausgeht: zum einen die sensorischen Öffnungen, zum anderen die sprachlichen Verbindungen zur Mitwelt. Ohne die strikte Kontrolle beider Krisengebiete ist jeder Versuch einer
vita
i von vornherein zum Scheitern verurteilt. Beim contemplatva Thema sensorische Komakte lassen mehr oder weniger alle Kontemplationssysteme erkennen, wie sie an der Unterbre chung des Wahrnehmungskontinuums arbeiten - sie ver schließen vor allem die visuellen Kanäle (um von den oralen oder taktilen zu schweigen) und verordnen dem Übenden einen systematischen Rückzug von allen Sinnenfronren, bis die völlige Desaffektion erreicht ist. Hier hat das horazische nil admirari19 seinen Sitz im Le ben, vorausgesetzt, Leben und
exercitatio gelten bereits als
Synonyme. Seneca spricht gelegentlich davon, der Anblick einer Hinrichtung müsse uns so gleichgültig werden wie die Aussicht auf eine reizlose Landschaft. An solche Rat
Im Mikroklima des übenden Lebens
schläge zur Apathisierung konnten sich Bilder wie die »in
Die enklavierte Subjektivität konstituiert sich somit als ein Provisorium, in dem die Selbstsorge an die Macht kommt. Die übende Lebensform gleicht einem inneren Protektorat mit einer vorläufigen Regierung und einer introspektiven Aufsichtsbehörde. Praktisch läßt sich dieser modus
vivendi
nur durch den asketischen Pakt mit einem Lehrer etablieren,
- .., Siehe unten
S. 417.
nere Zitadelle« oder die »innere Statue« anschließen, mit de nen dem Meditanten Zielvorstellungen für seine plastische Selbstvollendung vor Augen gestellt wurden. Ohne eine ge wisse erworbene Herzlosigkeit sind spirituelle Haltungen wie Apathie, Seelenruhe oder Nicht-Haften nicht realisier
bar. Die hochkultureile Ethik erzeugt eine künstliche Un-
1 8 Näheres hierzu i n Kapitel 8, S. 434-444. 19 Episteln I, 6, 1.
li
Übenreibungsverfahren
menschlichkeit, zu deren Kompensation eine ebenso künst liche Allfreundlichkeit aufgeboten wird.20 Von noch größerem Gewicht ist die Herauslösung des Subjekts aus dem Sprachenstrom der ersten Gesellschaft, weil es dadurch noch tiefer als durch die Sinnesöffnungen an die Fremdherrschaft der Alltagsvorstellungen und -affekte ange kettet bliebe. Daher bilden alle Übungsgemeinschaften sym bolisch ventilierte Mikroklimata aus, innerhalb welcher die Asketen, die Meditanten, die Denkenden grundsätzlich An deres zu hören bekommen und zu sagen lernen als auf dem Dorfplatz, dem Forum oder in der Familie. Das bedeutet nicht, daß sich aufgrund der Rezession immer eine Geheim sprache entwickeln müßte, obschon es an Ansätzen hierzu in vielen spirituellen Subkulturen nicht fehlt.21 Sogar dort, wo die spirituellen Lehrer mit aufgeklärtt:r Schlichtheit die Spra che des Volkes verwenden - wie man es Buddha oder ]esus nachrühmte -, ist die Tendenz zur Ausbildung geschlossener Sprachspielkreise unverkennbar.
Absage an die Selbstsorge: Konsequenter Fatalismus Das rezessive Subjekt kann sich nur unter zwei Bedingungen eine lebbare Verfassung erarbeiten: Zum einen muß es von der Überzeugung durchdrungen sein, die ethische Sezession könne tatsächlich eine Zone erfolgreicher Selbstsorgetätig keiten erschließen, zum anderen muß es einen Modus finden, wie es unterwegs mit sich im Gespräch bleibt und sich in
20 Dies wäre besonders an der Evolution des Buddhismus und an der Umstellung vom Arhat-Ideal des Hinayana zum Bodhisattva-ldeal des Mahayana zu erläutern.
21 Über »Rätselsprache� oder »intentionale Sprache« im Taotrismus vgl. MiJ·cca s. 258f.
Eliade, Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit,
a. a.
0.,
6 Erste Exzentrik
359
seinem vorläufigen Zustand selbst erträgt. Daß die erste Vor aussetzung sich keineswegs von selbst versteht, obschon sie in Kreisen der Übenden seit langem eine Art von common sense bildet, zeigt die Geschichte der fatalistischen Denksy steme. Für ihre Anhänger ist eine spirituelle Absonderung vorn Volksleben zwar nicht völlig ausgeschlossen - auch Fa talisten können Asketen sein -, jedoch wäre ihnen zufolge eine effektive Rezession ein Ding der Unmöglichkeit. Illuso risch erscheint ihnen die Spaltung der Welt in die Dinge, die von uns abhängen, und jene, die nicht von uns abhängen: Für den konsequenten Fatalismus ist alles absolut unabhängig von uns selbst, sogar das eigene Dasein, das die pure Gewor fenheit durch das Fatum bedeutet. Jede menschliche An strengung um Loslösung und Befreiung ist zur Wirkungslo sigkeit verurteilt. Man mag diese Position trotzig und düster nennen, sie entbehrt nicht einer eindrucksvollen Konsequenz.22 Es ist gewiß nicht nur ein Zufall, daß der stärkste Lehrer einer streng deterministischen Verhängnis-Doktrin, der soge nannten niyati-Philosopbie, auf indischem Boden ebenjener Maskarin Gosala war, der seinen Zeitgenossen Gautama Bu ddha zu der einzigen spürbar zornigen Polemik provozier te, die zu dessen Lebzeiten bekannt wurde. Buddha erkannte i n den Lehren des Rivalen die gefährlichste Provokation sei ner eigenen, ganz auf der Heilsmacht der Eigenanstrengung aufbauenden Predigt und bezeichnete den Determinismus der niyati-Doktrin als ein spirituelles Verbrechen, das ihre Anhänger ins Verderben locke. Aufgrund von Gosalas An satz würden die Spaltung der Welt und die Ausgrenzung des rezessiven Subjekts unmöglich, weil ihm zufolge keine Krea2.2
Johann Gonlieb Fichte hat die deterministisch-fatalistische Posi tion im ersten Teil seiner Schrift über· die Bestimmung des Menschen, 18oo, in einer perfekten Simulation vorgeführr, um � die Verzweiflung zu evozieren, die zum praktischen IdealisP--; vorwärtsrreibr.
II Übertre.ibuogsverfahn:n tur, auch nicht der heilsuchende Mensch, einen originalen Willen haben kann:
6 Erste Exzent.rik schwüngen der Dinge mitgetragen werden, wie der Felsbrok
keln sich (ausschließlich) durch die Wirkung des Ge
ken auf dem unmerklich fließenden Gletscher.24 Die Doktrin des rigorosen Determinismus muß ihren Adepten eine verführerische Genugtuung verschafft haben, d a s ie in der Bewegung der Ajivika-Asketen nahezu zwei
schicks . . . «23
tausend Jahre lang überliefen wurde, ehe sie im
»Alle Wesen, alle Individuen . . . alle lebenden Dinge sind ohne Willen, ohne Kraft, ohne Energie. Sie entwik
Wer einen Beweis dafür suchte, daß auch die buddhistische Lehre, hierin der stoischen präzis analog, auf der ontologi schen »Gebietsreform« beruht, die das durch mich Vollbring bare strikt von allem übrigen trennt, hält ihn mit dem Hinweis auf Buddhas Polemik gegen Gosalas Lehre in der Hand. Nach dieser schreiten alle Wesen völlig automatisch durch sämtliche Stadien der Evolution - durch die notwendigen 84 ooo Inkar
nationen, nach anderen Darstellungen sogar durch ebenso viele Mabakalpas oder Weltzyklen. Jede Lebensform und Daseinsstufe zeigt durch sich selber an, wie weit bei ihr der
14. Jahrhun
dert erlosch. Was ihren Reiz ausmachte, läßt sich wohl den ken. In allen Kulturen gibt es Individuen, die eine Art von
dunkler Satisfaktion empfinden, wenn ihnen bewiesen wird, daß sie nichts tun können - außer hinnehmen, was ist, und zusehen, wie die Dinge gehen. Die Askese von Gosalas Ge fährten bestand darin, ihren Streik gegen jede Regung von Wollen und Können ein Leben lang durchzuhalten. Die aB gemein-indische Absage an die Phantome des lch mag ihnen dabei zu Hilfe gekommen sein. Nicht ohne Verwunderung
Prozeß gediehen ist- Askese kann daher bestenfalls die Folge
nimmt man zur Kenntnis, das alte Indien sei der Schauplatz gewesen, auf dem die ersten Positivisten ihren Auftritt feier
von Entwicklung sein, niemals ihr Grund. Dies konnte der
ten.
Buddha auf keinen Fall gelten lassen. Indem er GosaJas In einssetzungvon Sein und Zeit bzw. von Faktizitätund Schick sal angriff, sicherte er den Spielraum fürseine entgegengesetz
Einsamkeitstechniken: Sprich mit dir!
te Lehre, die auf dem Erwerb von Erlösungswissen aufbaute und damit für die Beschleunigung der Befreiung. Nur so
Auch die zweite der genannten Voraussetzungen für die Exi
konnte er die Vernichtung des ontologischen Blocks durch Erkenntnis verkünden. Unnötig zu sagen, daß der Buddha
stenz in rezessiver Subjektivierung, die Spracbkontrolle, muß streng gehandhabt und immer von neuem bestätigt werden,
durch seine Insistenz auf der Möglichkeit schnellerer Befrei
da der Adept seine Mühen auf dem Weg zur Selbstregie
ung den geistigen Bedürfnissen seiner Epoche entgegenkam.
rung nur durchhält, wenn ihm fortwährend stabilisierende
Von da an sollte die Zeit der inneren Anstrengung die träge
Informationen aus dem geschlossenen Sprachspielkreis des Heils- und Übungswissens zufließen. Dieses Erfordernis wird
Weltzeit überholen. Wo die höhere Kultur beginnt, kommen Menschen in den Vordergrund, die hören wollen, daß sie etwas anderes tun können als warten. Sie suchen nach Beweisen dafür, daß sie sich selbst bewegen und nicht nur von den Um-
23
Zitiert nach Mircea Eliade, Yoga. Unsterbljchkeit und Freiheit, a.a.O., S. 198.
24 Unter diesem Aspekt ist der Buddha »gleichzeitig« mit der griechi schen Sophistik, die man ihrer Stoßrichtung nach vor allem als ein humanistisches Ertüchtigungsprogramm ansehen muß. Ihr gilt das in Hilflosigkeit (amechania) versunkene Sich-Gehen-Lassen als das schlechteste Verhalten und der Fatalismus als ein A ttentat gegen cl' areuf, die Bereitschaft zur Selbsthilfe. _
-
n Übertreibungsverfahren
durch die Einrichtung einer methodisch geregelten Selbstge
6 E.rste Exzentrik
zentration auf das, was nun das Wesentliche heißt. Der
sprächspraxis erfüllt. Hier läßt sich übrigens einfach aufzei
grundlegende Zug der einsamkeitstechnischen Prozedur be
Klischees von der mystischen oder überrationalen Qualität
Kontemplanten. Sie liefen ein unentbehrliches Strategem für
gen, daß und warum das übende Leben, anders als beliebte
spiritueller Vorgänge suggerieren, zu einem sehr großen Teil
von nach innen verlegten rhetorischen Phänomenen abhängt
und daß mit dem Stillstand der enderhetorischen Funktio
steht, wie Macho nachweist, in der »Selbstverdoppelung<< des
alle Übenden auf halbem Wege: Sie zeigt ihnen ein Verfahren,
nach dem Rückzug aus der Welt in guter Gesellschaft zu sein,
nen - seltene Zustände meditativer Trance wie der samadhi
in besserer jedenfalls, als sie dem Zurückgezogenen zur Ver fügung stünde, bliebe er unverdoppelt mit sich allein.
kommt. Die sogenannte Mystik ist zum größten Teil eine en
nicht zwei symmetrische Hälften entstehen - in diesem Fall
ausgenommen- das spirituelle Leben als solches zum Erliegen
dorhetorische Praxis, bei der den raren Momenten, in denen nicht gereder wird, die Aufgabe zukommt, endlose Reden von
den Wundern des Nichtberedbaren zu befeuern.
Aus dem Universum der endorhewrischen Praktiken- zu
denen in den theistischen Übungssystemen die Gebete, die
Die Selbstverdoppelung ergibt nur Sinn, wenn aus ihr
begegnete der Konternplant seinem eineiigen Zwilling, der
ihm seine Verworrenheit in einer überflüssigen Spiegelung
noch einn1al vor Augen stellte. Die erfolgreich Übenden ar beiten ausnahmslos mit einer asymmetrischen Selbstverdop
pelung, bei der ihnen der innere Andere als überlegener Part
und die magischen Evokationen hinzukommen, die uns hier
ner assoziiert ist, einem Genius oder einem Engel vergleich bar, der sich wie ein geistiger Monitor in der Nähe seines
die die Existenz von rezessiv stabilisierten Übungsträgern
gesehen, geprüft und streng beurteilt, im Krisenfall jedoch
Ritualrezitationen, die Monologien (Ein-Wort-Litaneien)
nichts angehen - möchte ich drei Typen hervorheben, ohne
Schützlings aufhält und ihm die Gewißheit vermittelt, ständig
mas Macho geprägte Begriff der »Einsamkeitstechniken« an
auch unterstützt zu werden. Während der gewöhnliche De pressive durch Vereinsamung in den Abgrund seiner Bedeu
Menschen im Rückzug sich selbst Gesellschaft zu leisten ler
einem Beachclichkeitsprivileg profitieren, da ihm sein nobler
unvorstellbar ist. Auf all diese Redeformen ist der von Tho
zuwenden - damit sind Vedahren bezeichnet, dank welcher nen.25 Mit ihrer Hilfe gelingt es den rezessiv Vereinzelten, wie die Geschichte der Eremiten und zahlloser anderer Se
zessionäre zeigt, ihre mehr oder weniger rigide Selbstaus
greozung aus der Welt nicht als Verbannung zu erleben. Eher gestalten sie ihre Anachorese zu einer heilsträchtigen Kon-
tungslosigkeit versinkt, kann der gut organisierte Eremit von
Beobachter - Seneca nennt ihn gelegentlich seinen custos,
Wachter - fortwährend mit der Empfindung versorgt, in gu
ter, ja bester Begleitung zu sein, freilich auch unter strenger Aufsicht. In der Benedikrusregel werden die Brüder daran
erinnert, der Mönch müsse sich zu jeder Stunde von Gott
im 25
Thomas Macho, Mir sich allein. Einsamkeit als Kulturtechnik, in: Aleida und Jan Assmann (Hg.), Einsamkeit. Archäologie der Iire
rarischen Kommunikation V1, München 2ooo, S. 27-44. Macho hat seine Thesen über Einsamkeit als medial gestützte Entzweiungs rcchnik und als Form der sozialen bzw. gegensozialen Raumbil dung in einer aufsehenerregenden Vorlesung im Wintersemester 1995-1996 an der Humboldt-Universität Bcrlin entwickelt.
Himmel beobachtet (respici) wissen, er habe zu bedenken,
jede seiner Handlungen werde von einem göttlichen Beob achtungspunkt wahrgenommen (ab aspectu divinitatis videri)
und fortwährend von den Engeln nach oben gemeldet (re
nuntiari).
26
26 Regula Benedicti 7, 1 3 und
7, 28.
ll Übertreibungsverfahren
Dadurch wird plausibel, wie sich die rezessive Subjektivi
tät zu einem Forum für intensive Gespräche, ja leidenschaft
liebe Zweikämpfe zwischen dem Selbst und seinem intimen
Anderen entwickeln kann. Da der Große Andere erst durch
den Rückzug aus der Vielfalt der Tagesthemen zu deutliche
6
Erste Exzentrik
Übenden bekämpfen, in die Erlebnisweise der Weltkinder
zurückzufallen. Es liegt auf der Hand, daß die Position der exklusiven Selbstsorge existentiell um vieles unwahrscheinli
cher und daher bei weitem pflegebedürftiger ist als die vor
mals praktizierte Lebenshaltung des naturwüchsigen par
rer Präsenz gelangt - eine Prozedur, von der im 20. Jahrhun
tizipativen Pluralismus, in der die Einzelnen sich in der
Techniken profitierten -, gewinnt der Zurückgezogene an
Zerstreuung entlasten durften. Heidegger hat bekanntlich,
isoliert. Wer er selbst sein soll, erfährt er von seinem inneren
beschimpfung27 anschließend, in der Man-Analyse aus
dert auch die Psychoanalyse und verwandte therapeutische psychischer Prägnanz, indem er sich selber monothematisch Anderen; wie es um ihn steht, entnimmt er der täglichen
Gruppendrift, der kollektiven Neugier und der mediokren
an Kierkegaards Beispiel einer philosophischen Publikums
und Zeit
Sein
den modus essendi dieser Selbstform beschrieben:
Selbstprüfung. Allerdings ist zuzugeben, daß er in dieser An
Jeder ist der andere und keiner er selbst. Er begab sich auf die
lebt als Einsamer wenn nicht geradezu
über den Rückzug in die Enklavierung, sondern über ein erneutes Mitgehen mit dem zum Ruf des Seins erhobenen
ordnung bis auf weiteres ein gespaltenes Subjekt bleibt - er
coram Deo, so doch
unter dem Auge des Meisters oder des Engels, den zu ent
täuschen er sich fürchtet. Von der Einswerdung mit dem Gro ßen Anderen oder der Aufhebung der Dualität zwischen rea
lem und idealem Selbst, wie sie im Neoplatonismus und in
den indischen Nicht-Zweiheit-Schulen gelehrt wird, kann auf dieser Stufe der Sorge um sich keine Rede sein.
Suche nach einem Weg zur Eigentlichkeit, der nicht mehr
historischen >>Ereignis<< führen sollte. Solange jedoch der
spirituelle Appell zum Rückzug gilt, ist nichts so heftig zu bekämpfen wie die immer wieder auftauchende Neigung, das
gewöhnliche Leben und seine kleinen Fluchten wie kom
munitäre Narkosen attraktiv zu finden. Wer nach dem Aus
stieg doch wieder von den Wonnen der Gewöhnlichkeit
Endorhetorik und Ekelübungen Es sind im wesentlichen drei Formen von Reden, die bei den
psychegymnastischen Exerzitien des rezessiven Subjekts auf
dem inneren Forum gehalten werden: zum einem die Tren nungsreden, die sich der Rezessionsverstärkung widmen;
zum anderen die Ertüchtigungsreden, mit denen der Übende sich um die Verbesserung seiner spirituellen Immunsituation
bemüht; und schließlich die Visionsreden, dank welcher der Konternplant seinen Blick aufs Ganze und in die Höhe lenkt
und aus imaginärer Höhe zurück auf die Niederungen.
Für die Stabilisierung der Rezession sind die Reden des
ersten Typs besonders wichtig, weil sie die Neigung der
träumt, ist spirituell verloren. Daß freilich durch die zuge spitzte Rezession die primitive Wahrheit des Daseins in
Normalsituationen, die partizipative Einbettung in die natur haften und mitmenschlichen Umstände (wie die postmeta
physische sphärelogische Analyse sie in umfangreichen Be
schreibungen expliziert), geopfert werden muß, gehört zum Preis des Lebens unter erhöhter Vertikalspannung. Hier wir-d
immer die Denaturierung der Normalität und die Verwand
lung des Unwahrscheinlichen in zweite Natur verlangt.
Was gegen Anwandlungen von Heimweh nach der verlo
renen Normalität hilft, sind enderhetOrische Übungen vom
27 Sören Kierkegaard, Eine literarische Anzeige (zuerst r846), Gü rersloh 2002.
I! Übertreibungsve.rfahren
Typus der Verekelungsanalyse. Sie sind wirksam, weil sie die Versuchung, die zurückgelassene äußere Welt hin und wieder schön zu finden, an der Wurzel bekämpfen. So notiert Mare Aurel: »Was siehst du beim Baden? Öl, Schweiß, Schmutz, klebriges Wasser - lauter widerliche Dinge. Von eben der Art ist jeder Teil des Lebens und alles, was darin vorkommt.«28 Dies zeigt sehr suggestiv, wie zur Genesis des Äußeren auch ethische und affektive Distanzmechanismen gehören. Der sinnlichen Verekelung der Äußerlichkeit kommt die Ernüch terungs- und Entzauberungsanalyse zur Hilfe: »Siehe denn also im ganzen genommen das Menschliche jeder Zeit als etwas Flüchtiges und Wertloses an! Was gestern noch im Keimen war, ist morgen schon einbal samiertes Fleisch oder ein Haufen Asche.«29 In diesem Kontext finden die antiken Atomtheorien ihren moralischen Ort: Sie zeigen, wie alles phänomenale Leben auf momenthaften Zusammensetzungen der Partikel beruht. Gegenüber der Vanitas des Partikel-Gestöbers kann nur die geistige Seele sich auf Dauer stellen. Unnötig zu sagen, wie viel der Buddhismus dem Gebrauch der Atomtheorie und allgemeiner der Analytik des Zusammengesetzten verdankt und wie heftig in ihm die obligaten Verekelungs- und Er nüchterungsmotive wirksam sind. Auch die für ihn so cha rakteristische Lehre vom Nicht-Selbst (anatman) hat weniger theoretischen als aversiven Sinn: Sie überredet ihre Adepten, einzusehen, daß, selbst wenn es so etwas wie Selbst und Seele gäbe, diese zu den auflösbaren Größen zählten womit uns die Sache von vorneherein verleidet sein sollte. Die Kontemplation der organischen Metamorphosen tut ein übriges: -
28
Selbstbetrachtungen 8, 14.
19 Selbstbetrachtungen 4, 48.
6 Erste Ex.zemrik
»Jedes Sinnenwesen, das du betrachtest, stelle dir als schon in Auflösung, Verwandlung, gleichsam Verwe sung oder Zerstreuung begriffen vor; bedenke, daß jedes Ding nur geboren ist, um zu sterben 3,0 In diesem Kontext läßt sich die Leisrung Ovids, die poetische Rettung der Verwandlungsphänomene, verständlich machen. Es war die Ehre der Poesie, den Normalitätsraum vor der Verwüstung einer zu weit getriebenen Ernüchterungsanalyse zu schützen. Daneben gibt es eine Fülle von Selbstermahnun gen zu dem Zweck, jede affektive Anhänglichkeit an Nicht Eigenes durch ständige Trennungs- und Desaffektionsübun gen zu verunmöglichen - ich verweise noch einmal auf die Empfehlung Epiktees an Eltern, ihr Kind nicht zu küssen, ohne dabei zu denken, sie könnten es schon am Tag darauf durch den Tod verlieren. Solche Sprüche zur Selbstermah nung und Selbstdressur mußte der Übende Tag und Nacht wie einen spirituellen Erste-Hilfe-Kasten »griffbereit« ha ben - in der Terminologie der Schule hieß solches mental Zuhandene das procheiron, und wer noch in unseren Tagen davon spricht, er habe dies oder das »parat«, zitiert von ferne die Usancen einer versunkenen Übungskulrur. .•
Endorhetorische Wendungen von vergleichbarer Tendenz bieten die Übungssysteme des Hinduismus, des Buddhismus, des Christentums, des spirituellen Islam usw. im Übermaß. Jeder kennt Bilder von indischen sadhus, die neben Scheiter haufen an den Leichenverbrennungsplätzen (shmashana) me ditieren. Für die berüchtigen Aghori, die auf Leichen sitzend in die Versenkung fallen, symbolisiert der Friedhof die »To talität des psychomentalen Lebens, das vom Ichbewußtsein genährt wird<<.3 1 Die shivairischen Extremjsten bestehen dar auf, aus Brahmanenschädeln zu essen und z:u trinken - und 30 Selbstbetrachtungen 10, r 8.
3 1 EJjade,
Yoga.
Unsterblichkeit
und Freiheit, a. a. 0., S. 304.
II Übenreibungsverfahren
hiervon lärmend Zeugnis abzulegen. Was sie in ihren inneren Gesprächen auf dem Totenfeld zu sich selbst sagen, läßt sich leicht imaginieren: >>Über das alles mußt du hinausgehen.« Katholisch Erzogene erinnern sich an die ignatianischen Exerzitien, die eine einzige strikt rhetorisch gegliederte Über redung des Merutanten zur Teilnahme an der Passion Christi und zur Abkehr vom Leichtsinn der Weltlichkeit darstellen. Auf protestantischer Seite, namentlich im Puritanismus, wird der Tag des Gläubigen durch Mahnungen zum Rückzug aus weltlichen Versuchungen gegliedert. Aus dem schiitischen Iran kennt man die düsteren Prozessionen, bei denen erwach sene Männer klagend und blutend durch die Straßen der Städ te ziehen und sich in monoton quälerischen Selbstgesprächen breite Messer auf den Kopf schlagen, um des Martyriums Husseins zu gedenken. Es erübrigt sich hier, für die Praktiken der Immunisierungs und Ertüchtigungsreden sowie derVisions-und Weltanschau ungsreden an die Adresse des eigenen Intellekts ausführliche Beispiele anzuführen. Beide hängen eng miteinander zusam men, weil das Streben nach der transvitalen, den Tod über greifenden Selbstsicherung unmittelbar den Übergang in das höchststufige symbolische Immunsystem zum Ziel hat. In den stoischen Doktrinen wird dieses als die Allnatur präsen tiert: Sich in ihr aufzulösen ist als höchste Integration zu denken, auch wenn sie mit dem Zerfall des Konglomerats aus Atomen einhergeht, das ich vorläufig als meinen Körper empfinde. Im Christentum hingegen wird der Tod als Über gang vom jetzigen ins ewige Leben verstanden. In den vom Karma-Gedanken dominierten Sphären wird die letzte Im munität durch die Stillstellung des schuldgetriebenen Kau salimpetus erreicht, weshalb nur das Leben, das völlig aufge hört hätte, Leid zu erzeugen, nicht mehr von den Rückwir kungen des Erzeugten eingeholt werden könnte. In diesem Sinn bezeichnet nirvana weniger einen Ort als einen Zustand,
6
Erste Exzentrik
in dem jede Verletzung und Beschmutzung durch Seinswir kungen aufhörte. Um solche Ideen von Auflösung, Übergang und letzter Stillstellung existentiell für plausibel halten zu können, müs sen die Übenden sich unaufhörlich ihre Endlichkeit verge genwärtigen und deren Aufhebung in die absolute Immunität je nach den Konventionen ihres Kulturkreises enderheto risch vorwegnehmen. Sie reden dabei mit sich selbst aus der Position der vollendeten Lehrer, die sich an diesen Schüler wenden, als wäre es der einzige. Die rezessive Subjektivität nimmt immer Privatuntericht beim Universum, bei Gott, beim Nirvana. Die drei Absoluta wären schlechte Lehrer, wenn sie den Schülern nicht Mut machten, das Unmögliche wie etwas zum Greifen Nahes anzusehen; sie wären es aber auch, wenn sie ihnen nicht hin und wieder damit drohten, den Unterricht einzustellen, falls sie demnächst keine deutlich besseren Leistungen zeigten. Das übende Leben bildet somit ein Kontinuum aus Akten der Selbstüberredung. Ohne sie kann bei den Übenden nicht das geringste geschehen, auch nicht bei denen, die sich einem überwiegend averbalen Modus des Übens verschrieben ha ben, wie es in der Mehrzahl der asiatischen Schulsysteme der Fall ist. Viele Doktrinen betonen unaufhörlich die riesige Differenz der angesteuerten inneren Zustände zur Ebene des Verstandes und seiner sprachlichen Anhaltspunkte. Nichtsdestoweniger driftet der Kult der nicht-verbalisierba ren Zustände auf einen endlosen Strom von Reden über Stu fen und Nuancen des Aufstiegs zu. Alle Exerzitien, ob sie nun yogischer, athletischer, philosophischer �der musikaüsch�r Art sind, können nur stattfinden, wenn s1e von endorheton schen Prozessen getragen werden, in denen Akte der Selbst ennahnung, der Selbstprüfung, der Selbstevaluierung unter den Kriterien der jeweiligen Schultradition und unter stän digem Hinweis auf die ans Ziel gelangten Meister eine ent scheidende Rolle spielen. Ware es anders, fiele die rezessiv
37°
ll Übertreibungsverfahren
abgegrenzte Subjektivität in kürzester Zeit in ihre diffuse Ausgangslage zurück und vermischte sich wieder mit den unkultivierten Umständen.
Der innere Zeuge Zu den Besonderheiten der enklavierten Subjektivität gehört, wie bemerkt, die Technik der Selbstemzweiung, derentwegen sich die Anachorese zum Grenzfall einer nach innen gezoge nen Kunst, in guter Gesellschaft zu sein, ausbildete. Eine vertiefte Selbstanalyse des zurückgezogenen Subjekts zeigt allerdings, daß es bei einer Verdoppelung des Übungsträgers in das beobachtete Selbst und den beobachtenden Großen Anderen nicht bleiben kann. Die dyadische Relation zwi schen der rezessiv isolierten Seele und ihrem inneren Panocr erweist sich ihrerseits als eine Figur auf einem Grund von anonymem Bewußtsein, das beide Pole unterspannt. Zu dem Zwiegespräch zwischen dem Ich, das sich der Übung unterwirft, und seinem Mentor, der die Übung überwacht, ist der innere Zeuge hinzuzurechnen, der als dritte Instanz dem Austausch der beiden immer schon beiwohnt. Mit der Entdeckung der triadischen Struktur des mentalen Raums beginnt zugleich die Integration oder Transfusion des Gro ßen Anderen ins Ich. Dieser stünde ja dem Ich-Pol der Dyade für immer uneinholbar gegenüber, wenn es nicht ein über leitendes Drittes gäbe, eben jenes feldförmige Zeugen-Be wußtsein, das sich von Anfang an neutral über die Pole der inneren Dyade verteilt. Durch die kontinuierliche Übung unter dem Auge des Großen Anderen gewinnt das pathologische Ich des anacho retischen Anfängers, der sich zunächst selbst nur ein Ärger nis, eine Leidensquelle und ein quasi-äußerlicher Gegenstand sein kann, zunehmend Anteil an der Präsenz des Zeugen. Sie ist es, die in den meditativen Übungen der Adepten verstärkt
6
Erste Exzemrik
3 71
wird. Die autoplastische Wirkung des Übens sorgt dafür, daß sich das Zeugenbewußtsein immer tiefer in das Körperge dächtnis des Konternplanten einprägt. Indem sich das An fangs-Ich mehr und mehr von seinen pathologischen Zügen befreit und, was dasselbe ist, sich entdinglicht bzw. entobjek tivierr, zieht es die bedingungslose Präsenz des Zeugen auf seine Seite. So kann es mit der Zeit den seinerseits patholo gischen Habitus des Gesehen-werdens-durch-den-Großen Anderen ablegen. Bei Fortgeschrittenen reicht dies bis zu dem Punkt, an dem es ihnen scheinen mag, ihr erstes Ich sei abgestorben und durch ein zugleich überpersönlicheres und eigentÜmlicheres Selbst erset.zt worden. Gewiß ist jedenfalls: Nur die Stärkung des Zeugen führt zur Integration des Meditierers und verhindert seine Regres sion in die Besessenheit durch den Großen Anderen. Die Geschichte der Fanatismen zeigt, da.ß solche Regressionen auf der Tagesordnung der »Religionen« stehen. Der Fanatis mus läßt das triadische Feld implodieren - wobei das patho logische Ich den Zeugen ausschaltet, indem es sich direkt die Position des Großen Anderen aneignet, um in seinem Namen zu agieren. Im Licht dieser Diagnose wird evident, mit wel chem Recht hier behauptet wird, »Religion« sei zunächst und zumeist nichts anderes als ein mißverstandenes mentales Übungssystem, oft überdies ein psychodynamisch entglei stes, beruhend auf einer Askese zum halben Preis, bei der Anfängerfehler und Merkmale der pathologischen Subjekti vität zum Wesen der Sache überhöht werden. Gefährdet von solchen Fanatismen sind naturgemäß besonders die beiden expansionistischen Monotheismen, wenn und weil sie ihre Qualität als Übungssysteme gegenüber ihren Adepten nicht angemessen zum Ausdruck bringen. Häufig stellen sie sich an ihrer didaktischen Oberfläche als eine reine Bekenntnissache dar und öffnen damit dem pathogenen Irrtum Tür und Tor: Dann führt die Fahnenflucht aus der gescheiterten Ichb!! dung geradewegs in die Besessenheit durch den Großer ·_;:_ _
372
11 Übenreibungsverfahren
deren. Wo man den monotheistischen Populismus am Werk sieht, hat ein mentales Übungssystem wieder einmal ver schwiegen, was es der Sache nach ist: Erneut hat sich ein Trainingsprogramm als »Religion« verkauft. Dann ist es nicht verwunderlich, wenn die Agitation der Introversion den Rang abläuft. Ja, man kann sich fragen, ob nicht der moderne Effekt »Religion« erst dadurch entsteht, daß ein ethisches Übungsprogramm zu Zwecken kollektiver Identitätsbildung umfunk�ioniert wird - auf diese Weise wandele sich die spi . rituelle Ubung von der anspruchsvollen Rückzugsform in die billige Besessenheitsform, die man die Konfession nennt. Dieser »Glaube« ist Hooliganismus im Namen Gottes.
Inquisition gegen das Ich In demselben Zusammenhang läßt sich ein gemeinsames Merkmal sämtlicher aus der Position der rezessiven Subjek tivierung entwickelten Übungssysteme erläutern - ich denke an die allenthalben vorgebrachte pathetische Warnung an die Praktikanten vor der Versuchung durch überwertigen Ich Bezug. Man könnte geradezu von einer weltweiten Inquisi tion sprechen, die den mittelmeerischen und vorderorienta lischen Monoeheismen wie den indischen und ostasiatischen Systemen gemeinsam ist. Seit die hochzielenden existentiellen Akrobatiken in Erscheinung traten, wird unter bemerkens wertem Gleichlaut in Ost und West die Gefahr beschworen' der Mensch könne an seinem Ego, man sagt auch gern: an seinem kleinen Ich, haftenbleiben und dadurch seinen wah ren Platz in den kosmischen Hierarchien wie den sozialen Zusammenhängen verfehlen. Die spirituelle Weltverschwö rung gegen das Ego ist nicht ohne Pikanterie, weil sie von den Bewegungen ausgeht, die das Egophänomen als solches hervorgetrieben haben. Wenn es so etwas wie ein sich selbst zum Maß aller Dinge setzendes Ich je gegeben hat, dann ohne
-
6 Ersre Exzentrik
373
Zweifel zuerst und vor allem im Umkreis der hier beschrie benen egotechnischen Prozeduren - und erst in zweiter Linie auf der Seite der Weltmenschen, die in den Sog von Macht und Geltungsspielen geraten. Das vielzitierte Ego ist selbst der Scharten der Enklavie rung- und dieser tritt plausiblerweise ins Blickfeld, weil nach der ontologischen Gebietsreform das ausgeschnittene Selbst als solches auffällt. Sobald das rezessiv isolierte Subjekt sich umdreht, wird es auf seinen Scharten aufmerksam - er fällt, wie man leicht begreift, auf den gesamten »Rest der Welt«. Wird das bemerkt, kann es nicht ausbleiben, daß der Einzelne erschrocken den Vorwurf an sich richtet, einen derart mon strösen Schatten zu werfen. Sobald Priester und Lehrmeister sich dieser Beobachtung bemächtigen, wird der Vorwurf an aJle Sterblichen weitergereicht, auch an die Mehrheit der ar men Teufel, die noch gar nicht auf den Gedanken gekommen sind, ein Ich zu haben. Was die gewöhnliche Eitelkeit der Sterblichen angeht, die den Spirituellen so sehr ins Auge springt, so ist sie in der Regel kein Hinweis auf erhöhten Ich-Bezug, sie deutet viel mehr auf die Besessenheit der Individuen durch Kollektiv Idole und ihre mehr oder weniger naiven Anstrengungen, sich diesen anzugleichen. Der phänomenal auffällige »Ego ismus« von Weltmenschen zeigt in Wahrheit eine Überwälti gung der Psyche durch ein Trugbild des Anderen an - er bildet daher zumeist nur eine unverstandene Form von inva sivem Altruismus, ein besessenes Glänzenwollen in den Au gen der Eltern oder der Stammesältesten. Die wirklich riskanten Egoismusprogramme hingegen ver bergen sich in den auf der Enklavierung aufbauenden spiri tuellen Übungssystemen als solchen - bis hin zu den Syste
men des »subjektiven Idealismus«. Kein Wunder, daß sie in ihrem ersten Jahrtausend nur unter dem Schutz der archai schen Ständeordnung gedeihen konnten - am offenkundig sten im alten Indien, wo die Neigung zur Flucht aus d _ ·
374
ll Übenreibungsverfahren
sozialen Zwängen schon früh epidemische Ausmaße annahm und nur durch die Integration des spirituellen Ausstiegs in den Normallebenslauf, gleichsam als dessen RentenaJter, ru higgestellt werden konnte: So sah der brahmanische Lebens lauf vor, daß der Ehevater oder die Hausmutter, nachdem sie ihre Pflichten als Schüler und Eltern erfüllt hatten, sich in ihrer dritten Lebensphase zum »Aufbruch in den Wald« (va naprastha) bereitmachten, um zu guter Letzt das Leben eines wandernden Bettlers (bhikshu) zu führen. In christlichen Zeiten mußten die Evasionen der rezessiven Subjektivität durch starke kommunitarische Gegengewichte kompensiert werden, insbesondere durch die obligaten De mutsübungen, deren basales Paradox - durch Erniedrigung an die Spitze zu führen - nur zu gut bekannt ist. Zur internen Stabilisierung der spirituellen Egoismen war es darum unent behrlich, daß sie von Anfang an resolut, j a fanatisch leugne ten, solche Programme zu sein. Als Symptom dieser Leug nung läßt sich das Bertelwesen entziffern, das im Osten wie im Westen für die antisozialen oder »hauslosen« Lebenswei sen charakteristisch wurde. In diesem historischen Kompro miß zwischen dem Rückzug von der Menschenwelt und der Teilhabe an ihren Überschüssen hatten die radikal Übendeo die Form gefunden, sich selbst zu überreden, ihre methodi sche Heraushebung sei in Wahrheit ein Modus des allerde mütigsten Lebens. Ganz folgerichtig setzt mit dem Ausschneiden des inneren Gebiets aus dem Kontinuum des Seienden ein pathetisches Kompensationsprogramm gegen den spirituellen wie den profanen Egoismus ein, ohne das die ethische Sezession we der für sich noch in sozialer Hinsicht glaubwürdig oder auch nur tolerabel geworden wäre. Kurzum: Kaum ist das rezes sive Subjekt erfolgreich ausgegrenzt und in seine ontologi sche Sonderstellung erhoben, wird es einer unermücUichen Demütigungs- und Entsclbstungspropaganda unterworfen. Hierbei darf das, worunter es sich demütigen soll, das Gött-
6 Erste Exzentrik
375
liehe, das Universum, das Ganze, die universelle Lebensmo nade, das Nichts usw. nicht länger unter der problematisch gewordenen Form des Äußeren vorgestellt werden. Das de mutfordernde Große kann jetzt nur noch von der Selbstseite her auftauchen, als Gott von innen, als Kosmos von innen, als Nicht-Selbst von innen. Daher die typische Zweistufigkeit von Subjektivität im hochkulturellen Raum. In ihr muß ein alltägliches und illu sorisches Klein-Ich von einem wahren und wirklichen Groß Ich abgehoben werden, und sclbstverstäncUich soll das erste im zweiten »Untergehen<<. Wenn die als solche titulierte Au ßenwelt überhaupt noch eine Rolle spielt, dann als Gleichnis für die Macht der allesbewirkenden Lebensmonade, als Quel le für transzendente Kraftmetaphern und als Sparringspart ner für die Seele, die testen will, was alles sie schon kaltläßt so prahlten manche Mönche gern damit, sie könnten eine ganze Nacht neben einer jungen Frau liegen, ohne in Versu chung zu geraten. Sobald die Psyche dem Imperativ, ihr Le ben zu ändern, entsprochen hat, indem sie in die Rezession zu sich selbst aufbricht, hört sie den Korrekrurbefehl, die Än derung zu ändern. Darum dürfen Erfolge bei der Bemühung u m Heiligkeit nicht allzu tief ins Selbstbewußtsein der Hei ligen eindringen, weil sie sonst ihre Vorbildlichkeit für andere verlören. Das Paradox dieser Position wird allenthalben sy stematisch abgedunkelt: daß der Heilige nicht wissen darf, wie es um ihn steht, obschon er der erste ist, der es wissen müßte. Heiligkeit scheint nur um den Preis der psychischen Flachheit erlangbar, da sie mit reflektierter Individualität njcht kompatibel ist- ein Merkmal, das, wie man einem Hin weis Luhmanns entnehmen kann, der Heilige mit dem Hel den des neuzeitlichen Romans teilt.32 31 Vgl. Niklas Luhmann, Die Autopoicsis des Bewußtseins, in: Sclbst
chcmatisierung und Selbstzeugnis: Bckcnnnris und Geständnis, herausgegeben von Alois Hahn und Volkcr Kapp, FranMurr am
Main 1987,
S. 64f.
6 Erste Exzentrik
II Übertreibungsverfahren
3 77
gefangenen deprimierten Kameraden im Kerker exaltierten
Tons seine eigene Zukunft vorhergesagt: Er selber sei nicht
Den Egoismus rehabilitieren
niedergedrückt, denn »es kommt eine Zeit, da ich als Heiliger in der ganzen Welt verehrt werde«.33 Um weitere solche
Ich schließe diese Überlegungen zur ursprünglichen Heraus bildung des Übungsraums durch die Sezessionären Bewegun
Zeugnisse spiritueller Karriereträumereien zu vermeiden,
gen und die rezessive Abhebung des Subjekts als Übungsträ
war, en passant gesagt, die Stigmatisierung mit den Wundma
ger mit einer Erinnerung an Nietzsches Bemühungen um die
Rehabilitation des seit Jahrtausenden angeschwärzten Egois
len des Herrn, nach Franz von Assisis großem Beispiel, die einzige tolerable Form der Prätention auf Heiligkeit zu Leb
gen bei, die in der Geschichte der Inquisition gegen das Ich
Selbstbewußtsein des Kandidaten vorbei, wie eine objektive
regelmäßig beiseite gelassen wurden: Zum einen, daß hin
Passionstarsache präsentierte. Die Frage nach dem Eigenbei
sichtlich der meisten Menschen die Egoismuskritik viel zu
trag des Stigmatisierten zur Erzeugung der sakralen Zeichen blieb im Inneren der frommen Zirkel seit jeher tabu.34
zeiten, weil sie den Status der Heiligung, gewissermaßen am
mus. Zu diesen trugen vor allem zwei kritische Beobachtun
früh kam, weil sie noch gar nicht in der Verlegenheit waren,
Sobald man begreift, daß das Subjekt selbst nichts anderes
ein Ich auszubilden, das einen schlechten Schatten hätte wer
rezessive Selbstübernahme zu einem Ich gebracht hatten, die
ist als der Träger seiner Übungsreihen - nach der passiven Seite hin ein Aggregat aus individuierren Habituseffekren,
den Agenten der Anti-Egoismus-Inquisition auferlegt wur
aufrufbarer Dispositionen bespielt -, kann man mit Nietz-
Diese Inquisition bedeutet, wie wir jetzt verstehen, nichts
3 3 Das Leben des heiligen Franziskus von Assisi. Beschrieben durch den Bruder Thomas von Celano, Basel I 921, $. I o8. 34 Kritiker des Stigmarisierungswunders haben die tabubrechende Frage formuljert, wieso die Handwundmale bei Franz und seinen Nachahmern in den Handflächen auftraten und nicht, wie es hi stOrisch richtig wäre, an den Handwurzelknochen. Ihre Antwort: Weil Franz seinerseits die gemalten und skulpturalen Kruzifixe seiner Zeit nachgeahmt hat, bei denen die Handflächennagelung längst zur Konvention geworden war. Damit ist noch nicht die Frage beantwortet, ob die Wundmale durch frommen Betrug, in folge von Selbstverletzung entstanden, oder ob sie auf einer phy siologisch nicht erklärbaren autoplastischen Eigenleistung des frommen Körpers beruhen. Für die erste Version votiert in bezug auf Franz von Assisi Christoph Türcke, der den Heiligen für den größten Schauspieler bzw. den resolutesten Simulanten des Mittel alters hält: Vgl. ders., Askese und Performance. Franziskus als Regisseur und Hauptdarsteller seiner selbst., in: Neue Rundschau 4/zooo, S. 35f. Von dem Verehrer der Großen Mutter Ramakrishna wurde analog behauptet, er habe von ilu· das Gnadenzeichen der Menstruation erhalten.
fen können. Zum anderen, daß auch bei denen, die es durch
nach der aktiven ein Kompetenzzentrum, das die Klaviatur
ses keineswegs immer die Demütigung verdiente, die ihm von de.
anderes als eine unentbehrliche Maßnahme zur Abdunkelung der basalen Paradoxie, wonach der Heilige nicht wissen soll,
daß er ein Heiliger ist, technisch gesprochen: wonach der religiöse »Virtuose« alten Stils - um Schleiermachers fatalen
Ausdruck aufzunehmen - dazu verurteilt bleibt, sein Virtuo
senrum vor sich selbst zu verbergen. Vielleicht muß eine rechte Hand nicht wissen, was die linke tut - doch das Ge
hirn, das wußte, was die Linke tat, hat immer schon auch die
Aktivitäten der Rechten überblickt.
Dennoch konnten die Heiligen vom Selbstbezugsteufel
geplagt werden, ohne seine Präsenz zu bemerken. Das verrät eine Passage aus Thomas von Celanos zweiter Lebensbe
schreibung des heiligen Franz (1246/47): Demnach habe der
junge Mann, noch »unbekehrt«, nach einem Scharmützel
zwischen den Bürgern von Assisi und Perugia vor seinen
I
379
II Übenreibungsverfahren
sehe wieder gelassen zugeben, was über Jahrtausende unaus sprechlich war: Der Egoismus ist oft nur das verruchte
7 VOLLENDETE UND UNVOLLENDETE
Pseudonym der besten menschlichen Möglichkeiten. Was un
WIE DER GEIST DER PERFEKTION DIE
ter dem Licht der humilitas-Hysterie wie ein lasterhaft über
ÜBENDEN IN GESC HICHTEN VERSTRICKT
triebener Selbstbezug erscheint, ist meistens nicht mehr als der natürliche Preis der Konzentration auf eine seltene Lei
stung. Wie anders soll der Vinuose sein Niveau erreichen und halten, wenn nicht durch das Vermögen, sich selbst und den
In der Zeit der Vollendung
Stand seiner Kunst triftig zu evaluieren? Nur wo der Selbst
bezug im Leerlauf dreht, darf man von einer entgleisten
Die Umformung des Menschen in den höheren Kulturen zu
Übung sprechen. In solchen Fällen liegt eher eine Verirrung
Trägern expliziter Übungsprogramme erzeugt nicht nur den
als eine Sünde vor, mehr eine FehJblldung als eine Bosheit.
exzentrischen Selbstbezug des Daseins in spirituellen Enkla
Das von den theologischen Autoren so hoch eingestufte Bö
ven. Sie prägt den Übenden auch einen radikal veränderten Sinn für Zeit und Zukunft auf. Tatsächlich bestehr das Aben teuer der o hkul �uren arin, aus der kosmischen allgemcin � samen Ze1t eme exJStentJel!e Zeit herauszulösen. Nur in die
seseinwollen um des Bösen willen - die oft zitierte augusti
nische
incurvatio in seipsum
inbegriffen - ist vermutlich
�
ebenso selten wie die vollendete Heiligkeit. Wo man den Egoismus vermutete, um ihn in flüchtigen Bösesprechungs
�
sem Rahmen kann man die Menschen zum Übertritt aus den
Verfahren zu verdammen, findet man bei genauerem Hinse
ebenmäßigen Jahren des Seins in die Dramatik einer Projekt
hen die Matrix der herausragendsten Tugenden. Ist dies of
zeit auffordern. Für die existentielle Zeit ist die Beschleuni
fengelegt, sind die Demütigen an der Reihe, zu erklären, wie
gung charakteristisch, dank welcher sich das Dasein von den
sie es mit dem Hervorragenden halten.
Trägheiten des Weltlaufs abkoppelt. Wer ins übende Leben
aufbricht, will schneller sein als das Ganze- sei es, daß er die
Befreiung noch »in diesem Leben« anstrebt, sei es, daß der Aufstieg zur »himmlischen Erhöhung« (exaltatio caelestis)
noch in
vita praesente
gelingen soll. Wenn selbst Benedikt
von Nursia, der Meister des westlichen Mönchswesens, von
einem
raschen
Emporkommen zu Gott sprach, verriet dies
nicht sein persönliches Ungestüm. Er verhielt sich ganz den
Regeln des Lebens in der Zeit des spirituellen Projekts gemäß.
Seine Anweisung zum seligen Leben zog nur die Konsequenz
aus dem apokalyptischen Bald (mox)36 und dem apostolischen Rasch
(velociter)37.
Weil die rezessiv abgesonderte Existenz
; 6 Regula Bcncdicri 7, 67. 3 7 Regula Bencdicti 7, 5·
1
II
Ubt-nr�ibungsvcrfOJ.hrcn
selbst ein Anti-Tragheit progrlmm bedeutet. l:iufr ihr Elan stets der allgemeinen Evolution vor.tus. Dasein und Eile haben
(fescmare) sind dasselbe,
o wie die
örigung zur Eile und der
Wille zur Perfektion zusammcngchören.J In diesem Punkt konvergieren der cheinbar o geduldige Osten und der mani fe t o ungeduldige We�ten. Wie der Buddha den Seinen rät, dieses Leben zu führen, al ob e das letzte sein solle, schärft die christliche Doktrin, jüdische und minelmeeri ches Den ken zusammenfas end, ihren Adepten die Überzeugung ein, dieses Leben ei das ein7ige, da sie je haben werden. und jeder Tag ein Teil der letzten Ch:1ncc.
dem drohenden Endgericht zusammen. bei welchem die Un rechtstatcn zu ihren Urhebern zuruckkehren; im zweiten treibt die gespeicherte Unrechtsmasse selbst den langsamen karmischen Pro:�eß voran. der wie ein permanentes Stand recht dafür sorgt, daß sich in jedem Einzelleben die morali
sche Bilanz seiner Taten während der früheren Verkörperun gen ausdrückt. l n beiden Fällen lassen sich die Lebenszeiten einigermaßen plausibel in den Prozcß der morali icrten Welt zeit einhängen.
Ich will im folgenden erläutern, wie diese Herlcirung der
Ich habe an anderer Stelle zu zeigen versucht, wie das Ver langen nach Gerechtigkeit und Leidensausgleich im ersten vorchristlichen Jahrtausend zur Stiftung einer neuartig ge spannten Temporalstruktur geführt hat, die im Zeichen der verzögerten Rache stand.39 Die er Zeitbogen wird gespannt, indem der durch erlittenes Unrecht entstandene Schmerz ein individuelles wie kulturelles Gedächtnis erzeugt, das alles daransetzt, dem Urheber des Unrechts einen äquivalenten Strafschmerz zuzufügen. Hierdurch entsteht eine existentia lisierte Zeit
7 Vollc:ndc:tc und Um·ollcndct<"
mi
t einer klaren rächensehen Finalität. Da sich
aber nicht jeder Unrechtleidende eigenhändig Satisbktion
existentiellen Zeit aus der Rachespannung bzw. aus der tran szendent
üb('rhöhten
Forderung
nach
Leidensausgleich
durch eine zweite Herleitung aus der Übungsspannung bzw. der Anti:�.ipation der Vollendung ergänzt werden muß. Dies ist nur möglich, wenn sich in den wesentlichen Übungs prozessen eine klare, die Lebenszeir des Übenden durchgrei fende Finalität nachweisen läßt. Diese Bedingung wird von den klassi chen Formen des übenden Lebens unmißverständ Lich erfüllt.
o
wie die Zeit der Rache strukturiert wird durch
die Vorwegnahme des erfüllten Augenblicks, in welchem der Schmerz seinen
crursacher einholt, so wird die Zeit des
Übens strukrurien durch die imaginäre Vorwegnahme der
verschaffen kann, muß ein Großteil der Rache-Energie nach
Ankunft des Übenden im entfernten Übungsziel - ob das
densausgleichs in Regie genommen werden. Daraus resultie
an da.s höchste Gut. Zur Zcidorm des übenden Lebens ge
oben abgegeben und von einer göttlichen Ökonomie des Lei ren die moralisierten Wcltzeitenrwiirfe des Christentums und des Hindui mus. Im ersten System drängt sich die Weltzeit auf die relativ kurze Spanne zwischen der Schöpfung und )S Duum tauchen in der Rcgula Benedicti 73,
l
und ]3, S die Wen
dungen auf: •l:ur Vollkommenh�it des klösterlichen Lebens cilenoc
und •7um himmlisch�n V:atcrl�nd eilen•
fenmare).
(ad patriam raelestem
)9 P. SI., Zorn und Zeit. Politisch-p�ychologischcr Versuch. t=rankfun am Main
2006, S. 8of.
nun Virtuosität heißt oder Erleuchrung oder Angleichung hören unabdingbar die mehr oder weniger zuständlich oder gegenständlich ausgemalten Ankunftsphanta.sien, ohne die sich kein Anfänger auf den Weg begeben und kein Fortge schrittener :IUf ihm halten könnte. Kann man die Zcitstrukrur des Lebens unter rächcrischem Vorsatz als Sein-zur-Rache beschreiben, so ist für den temporalen Modus des übenden Lebens ein Sein-zum-Ziele anzusetzen - oder geradewegs ein
Sein-zur-Vollendung. Für ein ,.ziel« im antiken Sinn d - :. Worres ist es ch:traktcnstisch, schon von weitem sichrbar :
II Ü�nreibungS\•erf:P.hren
sein - daher der griechische Ausdruck skop6s, der den Nach druck auf die Erkennbarkeie des •Augenmerks• aus größe rem Abstand setzt. Oie Ironic der Ziele, sich bei Annäherung zu entgegenständlichcn, wird üblichcnvcisc: ersr den Fortge schrittenen erklärt.
7 Vollendete und Un,·ollcndclc
ideals oder das Versprechen eines unwiderstehlichen Sie gespreises - dem trtblon vergleichbar, um den die griechischen
Athleten rangen. Was die christlichen Märtyrer den Sieges kram�, rtephanos (auch Krone, pi:itcr Bischofsmürz.e), nann ten, kommt einer solchen Prämie gleich. Die Orientierung
des eigenen Handeins an einem mOtivierenden Preis kommt nirgendwo deutlicher zum Au druck als in den bekannren Athleten-Gleichnissen des Paulus, der im Blick auf seine apo
Ergriffenbeil durch das Ziel
stolische Bewegtheit im ersten Brief an dje Korinther 9, z6
Für die Struktur des übenden und eifernden Lebens in seiner Anfangsphase ist es bezeichnend, aus beliebig weiter Entfer nung von seinem Ziel-Bild ergriffen sein zu können. .Es liefert das anschaulichste Bcispiel für das, was in der aristotelischen Lehre von den Ursachen als der vierte Kausaltypus (nach den Material-, Form- und \Xfirkursachen) aufgeführt wird - die
statuierr:
•Darum laufe ich nicht wie einer, der ziellos läuft, und kämpfe mit der Faust nicht wie einer, der in die Luft schlägt." Hier wird die christliche Zielgerichtetheit mit verblüffender Direktbcit zur athletischen Erfolgsorientierung in Bezug ge
cau.sae
setzt. Dies bedeutet nich4 daß Paulus mir den Gepflogenhei
die Wirkung gleichsam •tragen• oder vor sich her schieben,
ten des Athletenwesens besonders vertraut gewesen wäre; er
Zielursache oder causa finalis: Während die übrigen
kommt der finalen Ursächlichkcit die Eigenschaft zu, den zu vollbringenden Effekt durch eine von oben oder ''Orne her wirkende Zugspannung zu fördern. Nach dieser Logik sind
griff lediglich das athlon-Motiv auf, um seinen Mitgläubigen die ungewohnte Vorstellung eines unsterblichen Siegespreises so plastisch wie möglich zu erklären.
Ziele so etwas wie Magncte, die geeignete Objekte in ihrem Anrakcionsbcreich unwiderstehlich zu ihnen hin bewegen. Dies läßt sich sachlich nur so denken, daß das Ziel auf dunkle Weise bereitS in die zu ibm hingezogenen Körper einge pflanzt ist - sei es durch die von Arisrotclcs so benannte, den Organismen jeweils eigentümliche emelechefa (was wörtlich •ln.nenzielstrebigkeit« bedeutet und eine Bewegt
Über den Umerschied zwiscben einem \\'leisen und emem Apostel Was ins Gewicht fällt, isr die TatSache, daß der Apostel selbst nicht vom erreichten Ziel her spricht, sondern aus der Posi
heit a priori bezeichnet), sei es dadurch, daß einem begeh
tion eines Übenden auf halbem Weg - oder um modern zu
bis dah.in nicht bekanntes oder nicht bewußtes Ziel gezeigt
entfernt ist wie jene, an die er sich als spiritueller Monitor
rensfärugen Wesen in einem gegebenen Augenbljck ein ihm wird, auf das es in der Folge wie auf ein nicht meltr aufgeh bares Ideal zustrebt. Diese zweite Art von Zielgerichtetheit, das Ergriffenwer den durch ei_ne Ziel-Erkenntnis
a
posteriori, impli2.iert so et
was wie die Aktivierung eines latenten Vollkommcnheits-
reden: eines Engagierten -, der vom Ziel fast ebenso weit wendet. Um so nachdrücklicher legt er Zeugnis ab für die Bedeutung d<'s Ergriffenseins von der Zielvorstellung. Was das frühe ChriSLcnturn unter �>Glauben« (pstis) i verstand, war zunächst nichts anderes als das vorauslaufende Sich-Fest machen an einem Vorbild oder einem Ideal, über dessen Er-
-
l1 Übertreibungsverfahren
reichbarkeit damit noch nicht entschieden war. Der Glaube ist ein purer Antizipationseffekt insofern, als er schon wirk sam wird, wenn er aufgrund der Antizipation die Existenz der Antizipanten zielwärts mobilisiert. Man mügte dies, in Analogie zum Placebo, den Movebo-Effekt nennen. Genau hierauf nimmt Paulus Bez.ug in seiner Aufforderung an die korinthischen Leser seines ersten Briefs: »Nehmt mich zum Vorbild, wie ich Christus zum Vorbild nehme.« (1 Kor I r, I ) Die Nachahmungswürdigkeit des Vorsprechers liegt hier nicht in seinen erreichten Erfolgen, sondern in seiner Ergrif fenheit vom Ziel. Wer einen solchen Nachahmer Christi nachahmt, läuft hinter eit1em Laufenden her.40 Mit diesem Ansatz ist das Minimum einer Übungskultur vorgezeichnet. Er impliziert die elementare Dreistufigkeit, ohne die es keine organisierte Hinführung von Übungsan fängern zu höheren Zielen gibt. An der Spitze des Feldes steht naturgemäß der ganz ans Ziel Gelangte, der Vollendete, i m aktuellen Fall der Gottmensch, Christus in Person, an dessen Vollkommenheit zu »glauben<< auch schon gleichbedeutend ist mit dem Glauben an seine relative Nachahmbarkeie - da glauben und vorwegnehmen, wie bemerkt, in diesem Zu sammenhang dasselbe bedeuten. Über das Paradox der hochkultureilen Pädagogik, daß sie die Nachahmung des U n nachahmlichen lehrt, wird weiter unten ausführlicher gespro chen.4 1 Im Mittelfeld findet man hier wie überall die Figur des Fortgeschrittenen, im gegebenen Fall den Apostel, der sich als Nachfolger ersten Grades vor das Hauptfeld spannt, bestehend aus Anfängern und Nachahmern zweiten Grades, hier die spirituell labilen, weisungsbedürftigen und durch ih40 Diese dynamjsierte Mimesis wird jn der späteren mystischen Theo
logie Gregor von Nyssas zu der These überhöht, wonach das christliche Begehren, weil es einem grenzenlosen Gegenstand folgr, niemals zur Ruhe kommen könne, sondern in eine paradoxe Ein heit von Lauf und Stillstand münde. 41 Siehe S. 426f.
7
Vollendete und Unvollendete
re Bedürftigkeit den Apostel inspirierenden Mitglieder der jungen Gemeinde von Korinth. Worauf es ankommt, ist die Tatsache, daß mit dieser pri mitiven Stufenlogik, die die einfachste Hierarchie vorzeich net, eine Projektskizze gegeben ist, die in real gelebter Zeit zur Ausführung kommen soll. Was im Anschauungsbild übereinanderliegt, wird auf die Zeitachse projiziert, wonach die Anfängerposition mit dem J erzt, die Fortgeschrittenen position mit dem Später und die Position der Vollkommen heit mit dem Zuletzt identifiziert werden kann. Vorwärts w1d aufwärts bedeuten von nun an dasselbe. Man darf sagen, um greifende Übungsgeschichten sind nicht nur teleologisch ge richtet, sie weisen eine latent eschatologische Struktur auf. Auf diesem Feld zeigen imaginäre Ziele und letzte Dinge die Neigung, miteinander zu verschmelzen. Sobald es dem Übenden nicht nur um ein Handwerk oder eine Kunstlehre geht, die mit dem Erwerb der Meisterschaft abgeschlossen werden kann, sondern u m die existentielle Kunst, bei der das Leben insgesamt nach Erhöhung und Verklärung strebt, rühren Tod und Vollkommenheit unvermeidlich aneinander. Dieses Merkmal ist den spirituellen Übungswegen in den unterschiedlichsten Kulturen gemeinsam; was sie unterschei det, sind die Codierungen des Höchsten und Letzten, die Modi der Annäherung, die Anzahl der zu durchlaufenden Stufen und die Ausformung der mehr oder weniger ausge prägten Härten, mit denen die Fortgeschrittenen zu kämpfen haben. Das Sein-zum-Tode, das der frühe Heidegger allein vom Endlichkeitsbewußtsein des geworfenen Daseins able sen wollte, war Praktikanten des Rückzugs seit jeher be kannt- freilich verstanden sie es als das Sein-zur-Vollendung. Folgerichtig hieß ihr Existential nicht Geworfenheit - die gilt bekanntlich nur für die der Welt Verhafteten. Ihr Dasein stand ganz im Zeichen der Hingezogenbeit zum Höchsten. Die Aufforderung des Paulus an die Korinther, sie mögen seine Nachahmer sein, so wie er Christus nachahme, macht
II Übertrcibungsverfahren
deutlich, wie die Stufenbildung von der Mitte her gesteuert wird. Mitte ist, was das Vollkommene über sich, die Anfänge hinter sich hat. Anders aber als die indische Welt, in der die Lehrbefugnis an die Bedingung der vollkommenen Realisa tion des Meisters geknüpft ist, kennen der Stoizismus und das Christentum das Phänomen des unvollkommenen Lehrers, der sich über seine Schwächen hinwegsetzt, indem er sie zum Teil der Lehre macht. Sofern Paulus meinte, lehren zu können, was er selbst nicht besaß, konnte er sich den Mit gläubigen nur insofern als Vorbild präsentieren, als er ein besonders engagierter >>Läufer« war. Dies spricht weniger für die ihm gelegentlich unterstellte Nähe zu den Denkfor men des griechischen Sports, der ihm als gebildetem Zeloten eher ein Greuel gewesen sein muß, als für seine Begabung, sich selbst beim Schreiben in seine Empfänger zu verwandeln. Hier also, da er zu Griechen sprach, wurde er probeweise zum Griechen, so wie er Römer wurde, wenn es zu Römern zu reden galt. Im übrigen war ihm völlig klar, daß die Voll kommenheit, ohne die der Zielmagnetismus nicht wirksam wird, nicht von seiner Person ausgehen konnte, sondern al lein von dem großen Vorbild, dem er selbst nacheiferte weswegen er sein Magisterium stellvertretend im Namen des sen ausübte, der wirklich hätte lehren dürfen, wäre er, nach der Auferstehung, noch fähig und willens gewesen, in prae sentia zu wirken. Paulus war sein Mangel an persönlichem Charisma schmerzlich bewußt, und er vergaß nie, daß seine schmächtige Erscheinung auf Anwesende wenig Eindruck machte. Folgerichtig verlegte er seinen Autoritätsanspruch in hysterisierte apostolische Sprechakte aus der Ferne. Solche ließen sich in seinen Lehrbriefen, die man auf die Jahre zwi schen 48 und 6o nach Christus datiert, unwidersprochen un terbringen. Auf analoge Weise hat Seneca die Position des Fortgeschrit tenen als literarisch fruchtbare Ausgangslage für eine philo-
7 Vollendete und Unvollendete
sophische Dozentur entdeckt und sich vom Jahr 62 an eben falls als Verfasser von Lehrepisteln hervorgetan. Diese rich teten sich der Form nach an einen gewissen Lucilius, einen jüngeren Mann von unklarer persönlicher Kontur, der sich zum Leben gemäß den philosophischen Übungen bekehrt hatte, sie zielten aber von Anfang an über dessen Kopf hin weg auf ein größeres Publikum. Formaliter näherte Seneca sich seinerseits einer apostolischen Sprechrolle an, indem er als Minelsmann einer Vollendungslehre das Wort ergriff; auch er schöpfte aus Erfahrungen auf halbem Wege, um den Anfänger in die exercitationes spirituales der Schule zu initiie ren und mit ihm zugleich eine breitere Leserschaft anzuwer ben. Ihm war bewußt, selber noch unterwegs zur Perfektion zu sein und ein gutes Stück Wegs vor sich zu haben. Gleich wohl erlaubte ihm sein fortgeschrittener Reifegrad, mit Au torität über das höchste Gut zu sprechen, das jenseits seines aktuellen Status lag. So stellte er die Frage: »Was kann zum Vollkommenen noch hinzukommen?«, um sogleich selbst die Antwort zu geben: >>Nichts - es sei denn, das, zu dem es hinzukam, war nicht vollkommen.« »Sich steigern zu können ist Merkmal von etwas Um,ollkommenen.«42 Wenn schon das Wachstum auf Unvollkommenheit schließen läßt, so die Minderung erst recht.
Todesexamen: Weisheitslehre als Training für das Theater der Grausamkeit Senecas Begriff von Weisheit als Vollkommenheitsziel ist bis in die letzten Fasern vom römischen Realitätsprinzip durch drungen, das die Wirklichkeit des Wirklichen als Härte des Lebens versteht. Erziehung zur Wirklichkeit bedeutet daher 4z
Epistolae morales ad lucilium, 66, 9· Crescere posse imperfectae rei
signum est.
II Übenreibungsverfahren stets die Vorbereitung auf eine Prüfung im Ertragen von Grausamkeiten. Wird römische Macht als Kollaboration mit dem Fatum ausgeübt, kann römjsche Weisheit nur als unbeugsamer Widerstand gegen die Macht des Schicksals be wiesen werden - das betrifft insbesondere jene Art von Schicksal, die Menschen durch die Willkür anderer erleiden. Keine andere Kultur hatte sich je so darauf verstanden, den Schrecken zu theatralisieren und die Auslöschung von Leben ins Zentrum öffentlicher Rituale zu stellen. An welchem an deren Ort konnte man wie hier die Einheit von Entertain ment und Massaker beobachten? Wo man die Welt unter dem Bild eines Theaters der Grau samkeit konzipiert, läßt sich der Weise nur als Schauspieler auf einer solchen Bühne vorstellen. Auf ihr sind keine Simu lationen gestattet, da die Spiele realer als das Leben selbst in Szene treten. Pflegt dieses nur okkasionell grausam zu sein, so erhebt die römische Arena die Grausamkeit zum Prinzip und zur Routine, bis hin zu den tatsächlichen Schlächtereien im Sand und den wirklichen Foltern an der Rampe. Auf einer Weltbühne dieses Typs gibt es nur einen Unterschied, der einen Unterschied macht - der zwischen den Stehenden, die auch am Ende sich noch aufrecht halten, und den Fallenden, die liegen bleiben.43 Folglich kann Weisheit hier nur unter dem Bild des Aufrechtstehens beschworen werden - wenn es je vor Hege) eine Substanz gab, die als Subjekt zu ent wickeln gewesen wäre, dann jene, die sich in der Figur des stoischen Stehers präsentierte. Darum sagt Seneca: Daß ein Ungeprüfter seelenruhig vor sich hin lebe, ist nicht weiter verwunderlich. Aber staunen darfst du, wenn »jemand dort sich aufrichtet (extolli), wo alle sich niederhalten lassen (de primuntur), dort stehen bleibt, wo alle am Boden Liegen: ibi 43 Vgl. Peter Sloter?ijk Sphären l l, Globen, Makrosphärologie, �rankfurt am Ma1� 1999, S. 326-339.: Exkurs 1 : Später sterben 1m Amphitheater. Ubcr den Aufschub, römisch. ,
-
7 Vollendete und Unvollendete
stare ubi omnes iacent«.44 Das einzige Übel, das unter der
Folter droht, ist, daß sie das Organ des aufrechten Stands, den Geist, beugen könnte. Der vollkommene Weise aber ist die Unbeugbarkeit selbst: »Aufrecht steht er da unter jeder beliebigen Last. Nichts macht ihn kleiner, nichts von dem, was man tragen muß, mißfällt ihm . . . er weiß, daß er lebt, um eine Bürde zu tragen.<<�5 Seneca bedarf wie Paulus um der Glaubwürdigkeit seiner Botschaft willen der soliden Verkörperung des Vollkomme nen in einem exemplarischen Individuum, obschon er nicht wie der Apostel auf einen Meister der Beständigkeit verwei sen kann, dessen stabilitas über den Tod hinausreichte. Dar um begnügt sich der Autor mit der Beschwörung des Ideals, das auch dann für uns verbindlich bliebe, wenn es nie einen vollkommenen Weisen gegeben hätte. Die stoischen Siege über den Tod nehmen die Teilhabe des Übenden an einem alternativen Modus von Peifektion in Anspruch, sie zielen auf ein nicht-christliches savoir mourir. Ihr Appell richtet sich an ein summum bonum, das im entfalteten menschlichen Geist (mens) residiert. Solange sich dieser noch nicht bis zur v ölligen Selbstsicherheit durchgearbeitet hat, kennt er weiter Ungewißheit und Flüchtigkeit (volutatio). Ist er vollkom men, geht er in eine bleibende unbewegliche Festigkeit ein (immota stabilitas)46 - und stabilitas heißt im römischen Kontext, wie bemerkt, immer Folterfestigkeit beim Todes examen. Allein an diesem Kriterium ist der Unterschied zwi schen einem vollendeten Weisen (sapiens) und einem Fort geschrittenen (proficiens) festzumachen. Wenn sich Seneca zur Gruppe der letzteren rechnet, so ohne Zweifel, weil er auf Jahrzehnte ernsthaften philosophischen Übens zurück blickte. Doch selbst nach so langer Zeit ist er genötigt zu gestehen, daß er sich bisher nur selber einreden (suadere) 44 Epistolac morales ad Lucilium, 71, 25. 45 Ibid., 71, 26. Seil se esse oneri ferendo. 46 Ibid., 7r, 27.
U Übenreibungsverfahren
konnte, was das Beste für ihn wäre. Zu einer gänzlichen Überredung (persuasio) vermochte er es tn all der Zeit nicht zu bringen. Ja, selbst im Fall geglückter Selbstüberredung wäre er, wie er wußte, immer noch nicht am Ziel, weil dieses erst erreicht wäre, wenn die Weisheitslehre ihm gänzlich in Fleisch und Blut übergegangen und ihm in jeder Lebenslage, auch der widrigsten, verfügbar (parata) wäre. Es genügt nicht, betont er, den Geist mit Weisheit zu tünchen (colorare), er muß in ihr gleichsam gebeizt (macerare), von ihr durch tränkt (inficere) und restlos von ihr verwandelt werden. Das Zeugnis Senecas gewährt nicht nur einen Einblick in die enderhetorischen Prozeduren der lateinischen Swa. Es zeigt auch den Ansatz zu einer Stufenlehre mit der üblichen Dreigliederung von Anfängern, Fortgeschrittenen und Voll kommenen - wobei der Gipfel der letzten Stufe von Wolken verhüllt ist. Wie üblich fällt auch hier das operativ Wesentli che in die Mitte, denn nur in dieser kann sich die Arbeit an der Einverleibung des Unwahrscheinlieben vollziehen. Der Lehrer Seneca ist charmant genug, seine eigene Un vollkommenheit mit der seines Schülers zusammenzufassen. Daher die an sie beide gerichtete Ermahnung: »Mehr, als wir schon bewältigt haben, ist noch übrig, doch hochwichtig für das Vorwärtskommen ist der Wille, vorwärts zu kommen.« Der Weg ist weit, weil, was wir gewinnen wollen, nicht Siege in Perserkriegen sind, sondern Siege über die Mächte, die die größten Völker besiegt haben, die Habsucht, die Ambition, die Todesfurcht.47 An anderer Stelle (insbesondere im 72. und im 7 5 . Brief) entwickelt Seneca die Umrisse einer fünfstufigen Pyramide, indem er bei den fortgeschritten Strebenden in der Mittel zone (medii) noch einmal drei Gruppen und Stufen (gradus) unterscheidet: diejenigen, die wie Rekonvaleszenten auf die Beine kommen, diejenigen, die schon größeren Fortschritt 47
lbid., 7 1 , 37·
7
Vollendete und Unvollendete
39 1
(profectus) aufweisen, obschon noch viel zum Höchsten fehlt (multum desit a summo), und schließlich die dritte Art (ter tium genus), deren Angehörige die vollendete Weisheit schon in Griffweite (in ictu) haben - »sie sind noch nicht auf trok kenem Boden, aber schon im Hafen« (nondum in sicco, iam in portu). Mit jedem Grad des Aufstiegs kommt der Übende dem summum bonum näher, von dem es heißt, unser Begeh ren halte unweigerlich bei ihm inne, »weil über dem Höch sten . . . kein Platz mehr ist<< (quia ultra summum non est locus).48 Je höher der Aufstieg zur Vollkommenheit, desto stabiler die Verankerung in einer letzten Immunität. Die stoische Theologie greift in ihrer Lehre von den letz ten Lebenszielen Elemente der platonischen Geisttheorie auf, wonach der Mensch als Teilhaber an der noetischen Sphäre an deren Unzerstörbarkeit teilnimmt. Die Übungsarbeit bezieht sich allein auf die Aufgabe, aus einer trüben Teilhabe einen klaren M i rbesitz zu machen und den Anteil des Korruptihlen gegenüber dem Nichr-Korruptiblen zu minimieren. Die Chance des Menschen ist die Umwandlung einer labilen Methexis (Teilhabe) in eine stabile Hexis (Habe, Gewohn heit). Er soll an die höhere Sphäre nicht nur gelegentlich rühren, sondern sich fest und unumkehrbar in ihr heimisch machen. Wie das gelingen kann, wird durch den üblichen Perfektionszirkel erklärt: Wir könnten uns niemals vervoll kommnen, wenn wir nicht schon an der Vollkommenheit teilhätten; ja, wir könnten uns dem summt�m bonum nicht einmal nähern wollen, wenn es als Zielbild nicht schon in 4s Epistolae moraJes ad Lucilium, 71, 1 1 . Während die stoische Dok trln keine Vollkommenheit konzipieren kann, ohne diese als sta tisch und sättigend zu denken, eröffnet die christliche Mystik die Aussicht auf eine Perfektion ohne Erlöschen des Begehrens. So statuiert KarJ Rahner in seinem Resümee von Gregor von Nyssas Aufsriegsmysrik: ., Nur das ist ein wirkliches Sehen Gortes, das der Sehnsucht keine endgültige Sättigung bietet.« Vgl. Marcel Villcrl Karl Rahner, Aszese und Mystik in der Väterzeit. Ein Abriß der frühchristlichen Spiritualität, Freiburg/Basel/Wien 1989, S. 144.
-
Tl Überrreibungsverfahren
392
uns wäre, obgleich nur getrübt und gebrochen. Es ist der Sinn aller Übung, die Brechung zu brechen, die Trübung aufzu klären und die vom Schicksal verhängte Abweichung des Vollkommenen ins Unvollkommene zu korrigieren.
Vita a priori Der Weise ist also kein Künstler, dem Neues vorschwebt, sondern ein Restaurator auf der Suche nach dem Originalzu stand. Seine Leidenschaft gilt der Wiederherstellung eines verdeckten Urbildes. Ob die Restauration gelingt, steht auf einem anderen Blatt, da den westlichen Praktikanten der cura sui nur ein Bruchteil der den Orientalen bekannten Mittel zur Verfügung steht - sie müssen ihr Heil hauptsächlich in der durch zahllose Wiederholungen gesicherten Automatisie rung suchen, durch die der unwahrscheinliche Habitus der Seelenruhe ins Körpergedächtnis eingeprägt werden soll: Ob dies den Ansprüchen einer ars moriendi, die diesen Namen verdiente, genügt, bleibt ungewiß -in extremis kommt doch vor allem die psychophysische Konstitution zum Tragen, und nur mitwirkend greift die ein Leben lang geprobte Gewohn heit ein, die Todesfurcht zu unterdrücken und den Phantasien nicht zu erlauben, die Dinge noch schlimmer zu machen, als sie sind. Schon die einfachen Drei-Stufen-Schemata geben zu er kennen, wie die Lebensläufe der Übenden in Aufstiegspläne integriert sind. Die rezessiv ausgegrenzte Subjektivität kann an den gewöhnlichen Lebensläufen der Weltkinder nicht mehr ohne weiteres teilnehmen und ist daher auf curriculare Sonderwege angewiesen. Da die Schicksale des äußeren Men schen vergleichgültigt werden sollen, indessen die innere Ent wicklung alle Aufmerksamkeit fordert, verwundert es nicht, wenn das übende ln-der-Welt-Sein durchwegs die Form eines Aufstiegs auf einer spirituellen bzw. anthropotechnischen
7 Vollendete und Unvollendete
39 3
Leiter annimmt - wobei insbesondere bei den n i dischen Übungsformen immer auch die Fonschritte im Feld der sub tilen Physiologie in Rechnung gestellt werden müssen. Doch gleichgültig, ob man auf östliche oder westliche Systeme blickt, überall ist evident, daß der Akt des Rückzugs als sol cher nur den ersten Beginn einer Laufbahn bezeichnet. Die wirklichen Schwierigkeiten des Daseins am Ufer der Beob achtung enthü1len sich in der Ausarbeitung der curricularen Stufen. Diese sorgen für die Einteilung des übenden Daseins in sinnvoll erlebbare Sequenzen und für die Gliederung der Annäherung an das hohe Ziel in mit der Selbsterfahrung des Aspiranten kongruente Teilstrecken. Was im gelebten Leben (und in den biomimetischen Sportereignissen, den Turnieren und den großen Radrennen) die Zwischenrunden und Tages etappen sind, entspricht i11 der Vita den Kapiteln. Sobald das Motiv des Seins-zur-Vollendung die Existenz ergreift, bewirkt es die Projektion des vertikalen Leiter-Sche mas auf die Zeitachse. Deswegen kann sich der Aufstieg als Fortgang, die Bewegung auf der scala als Lebenslauf begrei fen. Das Sein-zur-Vollendung wird so zum machtvollsten »Biograpbiegenerator« - um einen terminus technicus der jüngeren Literaturwissenschaft aufzugreifcn.49 Er bewirkt curriculare Effekte nicht bloß in dem Sinn, daß aus asketi schen Projekten tatsächlich hin und wieder im Rückblick erzählenswürdig scheinende Viten hervorgehen. Vielmehr bezieht sich die generative Energie der perfektionsgetriebe nen Lebensprojekte schon auf die kommenden Lebensläufe, als seien diese im voraus erzählt. Der Übende bräuehre dem nach nur noch seinen Eigennamen bzw. seinen geistlichen Namen und die lokalen Besonderheiten seines Übungslebens in das biographische Formular einzusetzen. Die Schematie rung des Daseins in den Stufensystemen der Übungswege 49 Vgl. Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Ge ständnis, a. a. 0., S. 1 2f.
394
n Übenreibungsverfahren
7 Vollendete und Unvollendete
395
reicht so weit, daß der Einzelne seiner Geschichte allein
ein für alle Mal aus den Naturgeschichten und Volksgeschich
malung seines Versagens vor den Anforderungen der Askese
Dieser mochte in einigen spirituellen Gemeinschaften auch
durch das Geständnis seines Scheiteros oder durch die Aus eine individuelle Note verleihen könnte. Im übrigen wirkt
der »Weg«, den er betreten hat, wie eine Vita
a priori.
Sie
muß nur noch real gelebt werden, um ihren faktischen Inhalt mit dem Schema abzustimmen.
Unnötig zu sagen, daß das Übergewicht des Schemas über das
ten heraus und plaziert sie unter den Stern der Vollendung.
als der Stern der Erlösung bezeichnet werden - es ist derselbe
Himmelskörper, und die Annäherung an ihn gehorcht dem
seibern Gesetz des Daseins in der Vertikalen. Auf einen Stern
zugehen - nur dieses! - ist also das Grundwort der Existenz
i n der Vollendungszeit. Heidegger allerdings - dem die ge
nannte Wendung zu verdanken ist - hatte in seinem Früh
gelebte Leben keineswegs ein Spezifikum der spirituellen
werk den Stern hinter einer undurchdringlich scheinenden
>>Stände« ebenso regelmäßig auf. Seit Menschengedenken
unter der pseudo-fatalistischen Formel des »Seins-zum-To
Biographien darstellt, es tritt in den Lebensläufen der übrigen wurde in ständisch geschichteten Gesellschaften die Erfül
Wolkendecke verborgen und das indirekte Zugehen auf ihn
de« camoufliert. In Wahrheit hatte schon der jüngere Heideg
lung des Typus zugleich als Erfüllung des Einzelnen ver
ger den noblen Tod, der dem Einzelnen als Vollendungstod
tikale Mobilität, ausdifferenzierte Bildungswege, soziale
wesentliche Zugeständnis an die Sinnzusammenbrüche der
standen. Erst wo neue Schicksalsgeneratoren wie erhöhte ver
Unruhen und epidemischer Neurorizismus (mit seiner Ne
benwirkung: dem Zwang zur kompensatorischen Selbsterfin
dung) auf der Seite der gelebten Leben für stärkere Variation
begegnet, nicht ganz aus den Augen verloren, und das einzige
Moderne, das er im Schatten des Weltkriegs zu machen bereit
war, bestand darin, daß er die undurchdringliche Faktizität des Endes ebenso betont hervorkehrte wie die des Anfangs:
sorgen, können die erzählten Leben vom Schematismus der
Wo Geworfene sind, da sind auch Gefallene. Folglich sprach
wandel zeigt sich im Ausgang des europäischen Mittelalters
Vollendungssinn zu, so daß an jedem Tod implicite ein Ele
Voraus-Biographien zunehmend abweichen. Der Akzent
durch die Emanzipation der Novelle von der Legende. Es war
er dem verfrühten und veräußerlichten Tod einen gewissen
ment von vollendeter Unvollendung oder unvollendeter
vor allem der moderne Roman, der zwischen dem I 7· und
Vollendung sichtbar wurde.50
schematische Biographien artikulierte- nicht ohne seinerseits
Den älteren Traditionen gemäß vollzog sich das Zugehen auf
dem 20. Jahrhundert die Ansprüche der Einzelnen auf nicht Schemata für abweichende Lebensgeschichten zu erzeugen, die dann erneute Distinktionen provozierten.
Wo Individuen sich dem Ruf des Seins-zur-Vollendung
den Stern der Vollendung (oder der Aufstieg zur Höhe der Vollkommenheit - ad celsitudinem peifectionis5 1) unter ei
unterwerfen, konkretisiert sich der absolute Imperativ: »Du
nem Protokoll, für welches die vielfältigen Ordensregeln und Exerzitienbücher der christlichen Hemisphäre ebenso
fektionistischen Imperativ: »Verhalte dich jederzeit so, daß
5o
mußt dein Leben ändern!« zum asketischen bzw. zum per die Nacherzählung deines Werdegangs als Schema einer ver allgemeinerbaren Vollendungsgeschichte dienen könnte!«
Dieser Ruf zum exemplarischen Leben hebt seine Adressaten
p
Das bislang letzte Exempel für eine Existenz unter dem Stern der Vollendung liefert die Autobiographie Jean-Paul Sartres, Les mors, 1964: In ihr wird die Flucht des jungen Sartre in die Künstlervita
a
priori als eine neurotische Fabrikation dekonstruierr.
Regula Benedicti 73> 2.
ll Übertreibungsverfahren
zeugen wie die unüberblickbar variantenreichen spiritueJlen
Curricula der indischen Welt, gleich ob diese zu den yogi
sehen, den tautrisehen oder den vedantischen Schulen zu
rechnen sind. In beiden Universen nimmt das übende Leben
7 Vollendete und Unvollendete
397
an einem Beispiel aus der Frühzeit des westlichen Mönchswe
sens erläutern. Benedikt von Nursia hat in dem entscheiden den 7· Kapitel seiner Regula, das
Von der Demut
handelt,
einen 1 2stufigen Entselbsrungskurs vorgezeichnet, den er als
per se die Form einer Großen Erzählung an. Hier wie dort
klösterliche Analogie zu der Jakob im Traum erschienenen
gespaltenen Einzelnen an das Absolute.
Treppe beschrieben, auf welcher der Mönch aufsteigt in dem
geht es immer nur um das Eine - die Assimilation des ab
Leiter pi-äsentiert. Die Demutsübung wird als eine paradoxe
Maße� wie er sich sei bst- vielmehr den natürlichen Menschen in sich - herabzusetzen lernt. Während auf Jakobs Leiter auf
Benedikts Leiter der Demut
steigende wie absteigende Engel zu sehen sind, der Verschie
Solche Verähnlichungen vollziehen sich in zwei Arten von
asymptotischen Bewegungen - einerseits auf der via perfec
tionis durch die ständige Steigerung der Kräfte, die uns dem
summum bonum
oder der letzten Lebensmonade bzw. der
Leere ähnlich machen, andererseits auf der
via humilitatis,
denheit der angelischen Funktionen gemäß, setzt Benedikt mit erheblicher Willkür die absteigenden Engel den hochmü
tigen Seelen gleich - von denen dann der ältesten spirituellen
Suggestion folgend behauptet werden kann, die Bewegung hinunter sei die gerechte Strafe für die Superbia - kein Gedan
ke mehr daran, daß absteigende Engel selbstlose Boten im
bei welcher der Adept sich seiner selbst entledigt, in der An
Außendienst sein könnten. Die einzige wahre Vertikalität ist
das absolute Selbst oder Nichts Platz nehmen. Die erste Be
gung aufsteigen läßt (humilitate ascendere).52
prägt vorwärtsstrebender Finalität - Elemente hiervon habe
Auf der ersten Stufe wird - in Furcht und Zittern - der Pakt
nahme, an der Stelle des alten Ich werde früher oder später wegung übersetzt sich in einen Leistungsroman mit ausge
ich oben in den beiden großen Sterbeszenen Alteuropas, beim
Tod des Sokrates und der Kreuzigung Christi in der johan neischen Redaktion, nachzuweisen versucht; die zweite muß
hingegen diejenige, die den Übenden durch Selbsterniedri
mit dem jenseitigen Beobachter geschlossenen und der Vor
satz zum Ablassen vom Eigenwillen entschieden gefaßt. Auf der zweiten wird mit der Absage an den eigenen Willen (pro
hingegen, gewissermaßen rückwärts gehend, als die Ge
pria voluntas) ernst gemacht. Auf der dritten wird die innere
den. Während nach dem ersten Formular der unter der Maske
vollzogen - einer ersten Rate der imitatio
schichte einer progressiven Selbst-Evakuierung erzählt wer
trivialer Menschlichkeit verborgene Gottmensch >>realisiert<<
werden soll, geht es im zweiten darum, den sinnlichen oder empirischen Menschen bis an den Punkt zu bringen, an dem
sein »Eigenes« ganz verschwunden wäre, um an seiner Statt
den Großen Anderen bzw. das große Nicht-Selbst zu beher
bergen.
Wie der Austausch des profanen Subjekts gegen das höhere
Selbst in der christlichen Tradition gedacht wurde, möchte ich
Unterwerfung des Adepten unter den Oberen ganz und gar
Christi vergleich
bar. Die vierte Stufe dient der Verschärfung des Gehorsams auch in den Situationen, in denen das natürliche Selbst auf
grund ungerechter Behandlung zur Rebellion neigt. Auf der fünften werden dem Abt alle bösen und niederen Regungen
des Herzens gestanden - Anfang der sakralen Psychoanalyse.
Auf der sechsten ist der Moment erreicht, wo der Mönch 52
Regula Benedicti
7, 7·
I1 Übenreibungsverfahren
zufrieden ist mit dem Gedanken, er sei der Niedrigste und
Letzte unter allen. Nun wiederholt er mit einem ersten Licht
von Einsicht die Worte des Propheten: »Zu nichts bin ich geworden und verstehe nichts . . .«
(Ad nihilum reda.ctus sum et nescivi). Die siebente Stufe sieht den monacus ganz durchdrungen von der Wahrheit, die er auf der sechsten mit den Lippen bekannte. Jetzt sagt er offen heraus: >>Ich bin ein
7 Vollendere und Unvollendete
399
An dieser Stelle- um die Kulmination zu bezeichnen - fällt
der anthropotechnische Hauptbegriff: bona consuetudo - gu
te Gewohnheit. Von Erleuchtung, Vollendung oder Verklä
rung hört man im Schlußstück dieser Vollkommenheitslehre
bezeichenderweise kein Wort. Das Prädikat »perfekt(( kann gar nicht mehr auf den menschlichen Träger angewendet wer
den, sondern nur auf dessen w ichtigste Qualität, die Gottes
achten Stufe hat der Mönch gelernt, nur noch ein Organ des
liebe (caritas dei), von der es heißt, sie weise, da sie voll kom men sei (perfecta), aUe Furcht von sich. Der Ausdruck timor
nicht im Modus des Dienstes nach Vorschrift, sondern im
sich der Anfänger besessen fühlte. Der ans Ziel Gelangte wird
Wurm und kein Mensch« (sum vermis et non homo). Auf der Klosterlebens zu sein: Er tut allein, was die Regel verlangt -
Geist hochmotivierter Verfügbarkeit. Auf der neunten, zehn ten und elften Stufe - von Benedikt bemerkenswert hastig
steht für die Summe der pathologischen Affekte, von denen
von ihnen keine Spur mehr in sich entdecken. Er hat aufge
hört, der Psychopath Gottes zu sein, er ist nun selber gott
ähnlich durch leichteste Verfügbarkeir, reine Freundlichkeit
und ohne Sinn für wirkliche Progression hintereinanderge scbrieben, vermutlich, weil er diese Passagen, wie einige der vorangehenden, etwas mechanisch aus den analogen Ab s chnitten der Regula Cassians übernahm - wird betont, wie wichtig es sei, die Schweigsamkeit zu bekräftigen und das ungebärdige Lachen zu unterdrücken. Das heißt: Wer auf die imitatio Christi Wert legt, muß seine Rede reduzieren, bis nur noch Heilsnotwendiges und Exemplarisches aus sei nem Mund kommt. Am Ziel schließlich, auf der zwölften Stufe, ist der aus der benedi ktinischen Gußform hervorgegangene Mönch gänz lich zu einem Ebenbild des Mönchtums geworden, immer
und gesammelte Spontaneität- gleichwohl bleibt er aufgrund unerbittlichen taciturnitas-Gebots um die schöpferische, die expressive Dimension verkürzt.54 Wenn er dem Höchsten ähnlich geworden ist, dann nicht nach der Seite des Vaters, sondern des bis zuletzt gehorsamen Sohns. Die Verwandlung des M önchs in die lebende Statue des Büßers garantiert, daß er den höchsten gradus auf der scala ersteigt, ohne vom Hochmut gefährdet zu werden. Das ist die Stufe, auf der das Unmögliche leicht geworden ist, das Wunderbare zur Gew ohnheit, die Loslösu ng Alltäglichkeit: velut naturaliter l ebt nun der Mönch schon hier, als wäre er drüben.
und Sünder, gebeugt und erniedri gt, incurvatus et humilia tus.53 Und doch soll am Ende des Kurses die Liebe die Furcht
Scala Pa1·adisi: Die anachoretische Psychoanalyse
des
den Blick zu Boden gesenkt, in jeder Stunde Angeklagter
vertrieben haben; an die Stelle von ständiger Anstrengung
wäre die Leichtigkeit des Losgelösten getreten. Diese liefert die Signatur des geistlichen Erfolgs. Wo Furcht und Zittern
war, soll Mühelosigkeit werden. Man fürchtet die Hölle nicht mehr, sondern hält Freundschaft mit dem Herrn.
53 Regula Benedicti 7, 66.
Man hat vielleicht zuwenig darauf geachtet, in welchem Maß
die benediktinische Regel einer Einpflanzung des Orients in den Weg des Westens Vorschub leistete. Durch die unermeß-
54 Zur Verschwiegenheit des Mönchs vgl. Regula Bencdicti 6, r-8; 7, 9-Il.
n Übenreibungsverfahren
400
liehen Erfolge dieser Mönchsregel kam es zu jener Trans
lation der Wüste, ohne die sich die ältere europäische Sub
jektivitätskultur nicht denken ließe. Erst die Reformation
Luthers hat den Orient aus dem neueren Christentum ausge
trieben - und mit diesem zugleich den Vorrang der monasti
schen Heilsbemühung vor der Laienspiritualität. Durchaus
orientalisch war die Anachorese des Patriarchen Antonius
gewesen, der die Wüste in eine geistliche Palästra verwandelt hatte, eine Trainingshalle des Dämonen-Agons; orientalisch
7 Vollendete und Unvollendete
etwa von 5 So an Abt des Klosrers auf dem heiligen Berg der Exodusvölker, der Verfasser der
deutsch: der
Geistigen Tafeln,
pldkes pneumatikai,
zu
denen schon die ersten Ab
schreiber den Namen klimax, die Leiter, gaben, woraus in der lateinischen Wiedergabe die scala, will sagen die scala
Paradisi, wurde. Das Werk ragt aus der Flut der Mönchslite
ratur nicht nur durch seine Sprachgewalt und Begriffssicher
heit hervor, sondern mehr noch durch seine souveräne Zu
sammenschau der mönchischen Psychagogik. Es bietet nicht
waren die gyrnnosophischen und semj-yogischen Exzesse der
weniger als eine Summe der anachoretischen Psychoanaly
Indien reichte; orientalisch war die Umwandlung des Eremi
der Antoniusvita des Athanasius in einem mehrere Jahrhun
syrischen Säulensteher, deren Ruf bis nach Britannien und tenturns in das rigide Klosterkasernen-System der frühen Coenobiten (von:
koinos bios, gemeinsames
Leben), das die
Matrix des devoten Kommunismus lieferte;55 orientalisch
war die Idee des bedingungslosen Gehorsams, die aus der
Transformation des geistlichen Lehrers in den Dominus,
den Alleinherrscher der Seele, folgte; und orientaüsch war
sen, wie sie sich im christlichen Osten unter der Anregung
derte umspannenden Lernprozeß entfaltet hatten. lo den
psychagogischen Analysen dreht sich alles um die Aufdek
kung und Zuspitzung des Sündenbewußtseins, den Kampf
mit dem Hochmutswiderstand, die Vermeidung von Depres sion
(akedia)
und Gier
(gastrimargia, gula)
sowie die Ge
nesung der Seele durch die völlige Ausrottung der patholo
nicht zuletzt die überschwengüche Idee der Heilserzwingung
gischen Furcht. Daß die Vollendung auch ruer mit dem Aus
listischen Konzepten verriet, wonach es möglich sei, am Ende
zeugt für die Kontinuitäten, die das monastische Übungswe
zu Lebzeiten, wie sie sich in den zeitübüchen krypto-ange
von langwierigen Askesen das profane Ich gegen eine heilige
druck
apatheia
bzw.
transquillitas animi
bezeichnet wird,
sen an die asketischen Künste der vorchristlichen praktischen
Selbsthaftigkeit auszutauschen.
Prulosophie und des metaphorisierten Athletismus zurück
Zweifel Johannes vom Saina1, ca. 525-625, alias Climacus,
Anabasis zum Tode.56
55 Auf die Ähnlichkeiten der frühen asketeria (d. h. des Mönchstrai
sich an diesem ablesen, daß der christliche Methodismus aus
Der Meister des frühkatholischen Orientalismus ist ohne
ningslagers) mit einer mi litärischen Einrichtung weisen schon Mar cel Viller und Karl Rahnerio ihrem Werk As:z.esc und Mystik in der
Väterzcit, a. a. 0., S. 92f. hin. Von da aus crgibl sich eine zwei1e Ableitung des Gehorsamsideals aus dem religiös übercodierten Soldatenrum. In einer dritten Ableitung wäre von der imperialen und ekklesialen Funktionärsethik zu sprechen; zur ekklcsialen Sei tc vgl. Giorgio Agamben, Die Beamten des Himmels. Über Engel, Frankfurt am Main 2007; zur imperialen Seite vgl. Petcr Slotcrdijk, Sphären ll, G loben Makrosphärologie, Frankfurt am Main 1999, S. 729f. -
binden. Hier wie dort bleibt das Leben der Vollendeten eine Wie an kaum einem anderen Dokument des Altertums läßt
der Wüste kommt, anders als der hellenische, der in der Palä
stra, im Stadion und und den Schulen der Rhetoren zu Hause
war; anders auch als der römische, der seine Herkunft vom
56 S. Joannis Abbatis vulgo Climaci Opera Omnia editorc et inrcr preto Mattheo Radero (1633), in: Patrologiae Cursus Cornplerus, accurame Jacques-Paul Migne, Series Graeca 88, Turnhaut ca. 1967, col. r 1 p. Ich verwende im folgenden sowohl das griechische Original als auch die lateinische Übersetzung.
ll Übenreibungsverfahren
7 Vollendete und Unvollendete
Marsfeld nie verleugnete - nicht umsonst hat u. a. schon Ci cero auf den Zusammenhang zwischen dem Namen des Hee res, exercitus, mit seinem spezifischen Üben, dem Exerzieren (exercitatio), hingewiesen. Natürlich kann hier der Bezug zu Jakobs Traumbild zu Berhel nicht fehlen. Auch in den Gei stigen Tafeln kommt das monastisch-mysrische Narrativ von der langen Wanderung der Seele zum Einsatz, beginnend mit dem obligatorischen Auszug aus Ägypten - und Ägypten ist überaU dort anzutreffen, wo es eine begrifflich, moralisch und emotional alienierte »Außenwelt« gibt -, endend mit »der Auferstehung der Seele vor der allgemeinen Aufer stehung«57 und ihrer Entrückung in den Himmel der Apa thie, im höchstmöglichen Maß angenähert an die Gottähn lichkeit (homoiosis theou, similitudo Dei). Die dreißig Logoi bzw. Kapitel der scala wurden schon früh mit den Stufen (gradus) der Himmelsleiter gleichgesetzt, und dies, obschon die Reihenfolge der Kapitel sich nicht immer zu einem planvoll fortschreitenden Curriculum zu sammenfügt - andernfalls wäre es kaum vorstellbar, daß das Gebet, von dem Johannes Exaltiertes zu sagen weiß, erst auf der drittletzten Stufe ausführlich Erwähnung findet. Wie in dem Demutskapitel der Benedikrusregel bildet die scala der sinai:tischen Mönche eine Erniedrigungsleiter, deren erste Sprossen im Verzicht auf das weltliche Leben, im Abwerfen sozialer Sorgen und im Aufbruch zur Pilgerfahrt bestehen die peregrinatio wird hier kurzerhand mit der Flucht aus der Zeit ifuga saeculi) und dem Eintritt ins »religiöse Leben« gleichgesetzt58 - womit im übrigen erneut sichtbar wird, daß es ausschließlich um den monastischen und asketischen modus vivendi geht, wenn die älteren Autoren das Beiwort religiosus benutzen, indessen der moderne Popanz »Reli gion« in weiter Ferne liegt; selbst bei Diderot heißt die Non-
ne noch kurzerhand La religieuse, und das heißt: eine Person, die Weltentsagung als Beruf gewählt hat - im gegebenen Fall mit tragischen Konsequenzen. Wenn es etwas gibt, was auf dieser Srufc beginnender Loslösung von der Trivialwelt schlechthin vei-pÖnt sein muß, so ist es jede Anwandlung von Heimweh nach Ägypten. Will einer der Welt fremd (xe nos) werden, so sieht er diese als eine umfassende Fremde an. Wer sich umdreht, wird wie Lots Weib in eine Bildsäule ver wandelt.59 Haben die drei einführenden Logoi über die heilsame Se zession von der Außenwelt gehandelt, so überreicht der Au tor seinem Leser mit dem vierten Kapitel die Einberufung in das Trainingslager Gottes: Dies kann unter keiner anderen Überschrift geschehen als der vom »seligen Gehorsam« (de beata obedientia). Bei diesen Darlegungen handelt es sich nicht wirklich um eine Stufe in einem Curriculum, sondern um die Plattform für das gesamte Dasein dieser »Faustkämp fer und Athleten Christi«, denen es darum geht, >>den eiser nen Brustpanzer der Gewohnheit (zu) zerschmettern«.60 Hier zeigt sich, daß Weltflucht unzulänglich bleibt, wenn ihr nicht die Selbstflucht zu Hilfe kommt. Gehorsam lauter das monastische Codewort für den Inbegriff der Techniken, die geeignet sind, die Lossagung vom alten Menschen nach den Regeln der Kunst zu vollziehen. Die BeispielesammJung, die Johannes in diesem Kapitel ausführt, dem bei weitem umfangreichsten des Buches, zeugt für das prozedurale Be wußtsein der alten Äbte, denen die Aufsicht über die mona stischen Metamorphosen anvertraut war. Hier zeigt sich, wie sehr das alte Selbsterfahrungswissen kumulativ verfaßt ist: Nach zweihundertfünfzig Jahren psychagogiscber Experi mente in der Wüste war das Schatzbaus der mönchischen Empirie bis unters Dach gefüllt. Den Verwaltern dieses Wis-
57
59 lbid., col. 674· 6o Ball, Byzantinisches Christentum, a. a. 0., $. 26.
Ibid., col. I 147. 58 Ibid. col. 663. ,
n Übertrcibungsverfahren
7 Vollendete und Unvollendete
sens stand klar vor Augen, alle weiteren Aufsriege ihrer
Seine-Besorgen
Adepten würden von den Weisungen abhängen, die Lhnen
Code seinen gebührenden Platz; es steHt sicher, daß, wer sich
(sua tantum curare) erhält im monastischen
im ersten Semester der Himmelsstudien erteilt wurden - da
allein um sich kümmert, niemanden außer sich selbst ver
her ihre aus heutiger Sicht unfaßbare Strenge, in der Un
dammt. Daß der sechste Schritt auf der paradoxen Leiter
menschliches und Übermenschliches aneinander rührten.
direkt zur Meditation des Todes führt, versteht sich aus der
Wenn es in der Leiter des Johannes an einer Stelle eine
Logik der ZerknLrschung. Die vorauseilende Vernichtung des
zwingende Progression gibt, dann am ehesten beim Über
Vernichtbaren verspricht diesen verlorenen Arbeitern an der
gang von der vierten zur fünften Stufe, auf welcher von der
Vollkommenheit die Annäherung ans Ziel, aus wie großer
Buße und vom Karzer gehandelt wird. Zeitgenössische Leser
Ferne auch immer. Den ersten Vorsehern einer Aufhellung
kommen nicht umhin, bei de r Schilderung der Bußübungen
bietet hingegen die auf der siebenten Stufe angesiedelte Be
Analogien zu den heftigen Formen moderner Gruppenthera
trachtung über den Jammer (penthos,
pien zu bemerken, während das Pathos der Abschnitte über
schafft. Unnötig zu sagen, daß die Klage über die eigene Kor
luctus), der die Freude
den Karzer am ehesten an zeitgenössische Regressionsverfah
ruption den Weg des Mönchs bis auf die höheren Stufen be
ren wie Prima! Scream Therapy, Rehirrhing und dergleichen
gleiten wird.
denken lassen - wobei man hier wie dort das psychisch e Zer
brechen der Patienten am Übermaß der Prüfungen mit from mer bzw. pseudoerlöserischer Skrupel losigkeit in
Kauf
nimmt. Auch hinsichtlich der Bedeutung von Tränen sind sich die alten und die modernen Kathaniker seltsam nahe; schon die Wüstenväter haben die Gabe der Tränen als eine
Der theomimetische Glanz Ich möchte auf die weitere Ausführung der scala verzichten (die auch im weiteren eher ein Handbuch der monastischen
heilversprechende Mitgift gefeiert.61 Sünde, so erfahren wir,
Psychologie als ein glaubwürdiger Roman einer Seelenreise
ist kein vereinzelter Sachverhalt, der ganze alte Mensch muß 2 so heißen.6 Im übrigen begegnen uns hier durchwegs die aus
bleibt) und begnüge mich mit einem kurzen Blick auf die Endstufen. Auf der 27. Sprosse des Aufstiegs isr von der hei
athletischen und philosophischen Kontexten bekannten Be
ligen Seelenruhe die Rede
griffe askesis und p6nos63 wi eder. Auch das stoische Nur-das-
dem Abstreifen der profanen Ichheir erreicht werden soll.
6t Zugleich kannten die monastischen Psychagogen den Unterschied zwischen den falschen Tränen des Selbstmitleids und den wahren der Reue bzw. der Hingabe. Analog: Milindapaiiha. Die Fragen des Königs Milinda. Zwiegespräche zwischen einem Griechenkönig und einem buddhistischen Mönch, herausgegeben und teilweise neu übersetzt von Nyanaponika Thera, Interlaken 1985, ,.zweierlei Tränen•. 62 . All' h61os ho palai6s ämhropos hamanfa kaJeitai . Non enim unum est pcccatum, sed totus verus homo peccatum appellarur. Col. 781/82. 63 Joannis Climaci, Scala Paradisi, a. a. 0., col. 782. . .
(peri hieras hesychias), die nach
Auf diesen Zustand deutet die Redewendung »im Geiste wandeln«. Gleichwohl ist immer noch Wachsamkeit geboten; begründete Furcht vor dem Rückfall umgibt sogar die Zellen der fortgeschrittensten Übenden. Es folgen Ausführungen über das Gebet, von denen, neben ihrer überhöhten Tonart, vor allem ihr spätes Auftreten bemerkenswert scheint, als ob den Adepten dieses machcvolJe Instrument nur in letzter Mi
nute in die Hand gegeben werden dürfte - und doch prakti
zieren die Mönche es vom ersten Tag an. Auf der 29. Stufe gelangt das Grundwon der monastischen Anthropotechnik:
li
Übertreibungsverfahrcn
Vollkommenheit (teleiotetes, perfectio), zu seinem Triumph. Kein anderer Ausdruck kann zu ihrer Definition mehr bei tragen als die schon im Titel djeses gradus auftretende Wen
7 Vollendete und Unvollendete gelisierung eines Menschen mit seiner Enthebung aus der und seiner Überführung ins transhumane
conditio humana
Seinsregister gleichbedeutend. Zugleich bedeutet die ange
dung von der "thcornimetischen Apathie« - der Seelenruhe,
lische Individuation, wenn es nach den spirituellen Autoren
die Gott nachahmt. Allein im Blick auf diesen Zustand kann
ginge, nicht mehr als die Rückkehr des Menschen zu dem,
sich Johannes dazu verstehen, den so konventionellen wie
was
überschwenglichen Ausdruck von der »Einwohnung Gottes«
imitatio di.aboli dazwischengekommen wäre, immerzu hätte
in dem sterblichen Gefiiß Mensch zu verwenden,64 nicht oh
sein und bleiben sollen.
er, wenn nicht die Korruption seiner Natur durch die
ne sich an der paulinischen Formel für den integralen Sub jektwechsel rückzuversichern: »Ich lebe, doch lebe nicht ich selbst, sondern Christus lebt in mir.« 65 Die Apathie führt zur
Pe,fektionismus und Historismus
Loslösung nicht bloß von menschlichen Angelegenheiten je der Art, sondern selbst von der Erinnerung an diese. In voll
Nach diesen gewiß viel zu eiligen Hinweisen auf einige Aus
endet platonischer Manier gewährt sie die Gabe, in der
prägungen der »abendländischen Teleologie«68 ist eine Tatsa che offenkundig: Die Orientierung an Vollkommenheit be
Schönheit die Unsterblichkeit zu sehen.66 Der dreißigsten und letzten Stufe bleibt eine Meditation
traf in der Frühzeit des Perfektionsmotivs ausschließlich die
über die Dreiheit der evangelischen Tugenden Glaube, Hoff
Lebensläufe der Weisen und der Heiligen.69 Wie es dazu kam,
nung und Liebe vorbehalten. Hier verwandelt sich der
daß die perfektionistische Tendenz auf das »Volk« und das
menschliche Leib in eine lebende Monstranz. »Denn wo
Menschengeschlecht im ganzen, ja gelegentlich auf das Uni
das Herz erheitert ist, blüht das Gesicht.<<67 Manche Mönche
versum ausgedehnt wurde, müßte an anderer Stelle mit ge
vergessen auf dieser Stufe Essen und Trinken. Wie Moses, der
bührender Ausführlichkeit erörtert werden. Zur Stunde fehlt
das Vorrecht, Gott zu sehen, genoß, sind sie von der Glorie umflossen. Überschwemmt von der göttlichen Liebe, geht
ein kritisches Referat über die gemeinsame Geschichte von Perfektionismus und Universalismus. Andeutungen hierzu
von dem ganzen Menschen ein heller Glanz aus. Nun darf
sind seit zweihundert Jahren unter Tendenzbegriffen wie
sogar das Wort vom
Status angelicus fallen,
das den christli
"Aufklärung« oder »Evolution« und in den entsprechenden
chen Suprematismus resümiert - es erklärt zugleich, wie
großen Erzählungen in Umlauf. Kaum jemand ahnt, daß in
Höchstes in Nicht-Höchstem anwesend zu sein vermag. Weil
diesen Ausdrücken anonyme Perfektionsideen weiterwirken,
die ontologische Differenz zwischen Gott und Mensch bis zuletzt in Kraft bleibt, braucht es ein Mittleres, um die Teilha be des Unteren am Oberen sicherzustellen. Sofern die Engel näher bei Gott stehen als bei der Menschenwelt, ist die An-
64 lbid., col. 1 149/J 150. 65 Galater 1, 10. 66 Joannis Climaci, col. I rniS4· 67 Ibid., col. n s7/s8.
68 Vgl. Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie Zü rich 1947, Neuausgabe Bcrlin 2007. 69 Dieentsprechende Literatur leistet wohl Lippendienste an die Mög lichkeit der ..Vollkommenheit außerhalb des Mönchstums«, doch wenn man sieht, in welcher Kürze selbst Autoren wie die oben mehrfach ziriertenjesuiten Viller und Rahner in ihrem Abriß früh christlicher Spiritual ität mir diesem Thema fertig sind (§ 36), weiß man, wie es um die Sache steht. Vor dem Beginn dcrdevotiomodemtt gilt praktisch: Außcrhalb der Orden nu!la salus. ,
11 Übenreibungsverfahren
die unter strikt individuellem, auf die Einzelseele bezogenem Vorzeichen in der christianisierten Wüste erbrütet worden waren. Nur weil die Seele dort eine Geschichte gewonnen hatte, konnte die Kirche, die Fähre zum Jenseits, eine analoge Geschichtlichkeit erobern. Da die Kirchengeschichte ihr Per fektionsgeheimnis nicht für sich behalten konnte, wurde es an die Weltgeschichte verraten und von der Philosophie pub1i ziert.70 »Beeilen wir uns, die Philosophie populär zu machen« - Diderots Slogan sollte zum Kennwort der Anonymen Per fektionisten werden, die unter dem Namen von Aufklärern eine Erzählform alten Datums weitertrugen. Was man den Historismus nennt, wäre demnach nur an der Oberfläche die Betrachtung aller Dinge unter dem Blickwin kel des Werdens; seiner tieferen Bedeutung nach ist er we sensgleich mit der progressiven Ausdehnung der perfektio nistischen Infektion auf größere Einheiten - bis hin zum real existierenden Maximum, ob es nun Volk heißt oder Mensch heit oder Universum. Da das zur Vollkommenheit führende Curriculum aus einer Sequenz von Reinigungsleiden besteht, ist die Ausdehnung der Perfektionsidee vom Einzelnen auf das Kirchenvolk und von diesem auf die Gattung gleichbe deutend mit der stetigen Größerformatierung des kathartisch zu prüfenden Kollektivs. Es sind anfangs die Eremiten, die die Wüste als Schaubühne des Individualpurgatoriums ent decken; ihnen folgen die Coenobiten als Erfinder des Grup penpurgatoriums, das man die asketerfa, später das monaste rium und das Kloster nennt - das erste Trainingslager der Vollkommenheit in der Gruppe und Herd des religiösen Kommunismus; das hohe Mittelalter popularisiert dann die Vorstellung eines jenseitigen »dritten Orts« (Martin Luthers Ausdruck), der nun amtlich den Namen Purgatorium trägt 70
Hierzu noch immer maßgeblich: Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Ge
schichtsphilosophie (zuerst 1949!1953), in: dcrs., Sämtliche Schrif ten, Band 2, Sruttgart 1 983, S. 7-239.
7 VoUendete und Unvollendete
und in dem - frühdemokratisch -die christlichen Mehrheiten für das Paradies nachbehandelt werden.7 1 Hier gewinnt eine transzendente Übergangsgesellschaft erste Konturen. Die Aufklärung schließlich erfindet die fortschrittliche »Ge schichte« als innerweltliches Purgatorium, um in ihm die Bedingungen der Möglichkeit einer perfektionierten »Gesell schaft<, zu erarbeiten. Nun waren die Voraussetzungen er füllt, unter denen die offensive soziale Theologie der Neuzeit der politischen Theologie der Reichsepochen den Abschied geben konnte. Was war die Aufklärung ihrer Tiefenstruktur nach anderes als ein Versuch, den antiken Reim von Lernen und Leiden - mathein pathein - ins Kollektive, Gattungswei te zu übersetzen? Wollte sie nicht die Vielen dazu überreden, sich den Übergangsleiden auszusetzen, die der großen Opti mjerung aller Dinge vorhergehen? Die Erfahrungen mit der »Geschichte« und ihrer Göttin "GeseiJschaft« sind allerdings so wenig ermutigend, daß man die antiteleologische Reaktion, die den postmodernen (oder postperfektionistischen) Zeitgeist durchdringt, in jeder Hin sicht verständlich finden kann, ihre Übertreibung bis zum Rausch der ziellosen Drift inklusive. Vor dem Hintergrund dieser Entzauberung läßt sich Chateaubriands tiefe Bemer kung würdigen: »Das Purgatorium übertrifft an Poesie den Himmel und die Hölle, weil es eine Zukunft darstellt, die diesen beiden fehlt.«72 Zukunft bedeutet in den Augen des Romantikers die Dimension, in der sich die Poesie der Un vollkommenheit entfaltet. Anteil hieran gewinnt, wer der Versuchung durch Vollendung ebenso widersteht wie der Versuchung durch Trägheit- der höllischen Parodie der An kunft. Ist es noch nötig zu sagen, daß Nietzsche der letzte wahre Historist gewesen war? Er war es, der das eremitische Geheimnis, das Indjvidualpurgatorium, das den größeren 7r Vgl. Jacqucs Je Goff, La naissancc du purgatoire, Paris 1981. 72 Von Jaques Le Goff, a. a. 0., S. 7 als Motto zitiert .
410
11
Übenreibungsverfahren
Menschen erzeugt, inmitten eines Jahrhunderts verflachter Allgemeinbildung hütete.
7 Vollendete und Unvollendete
411
sehen als die griechischen Verhälmisse.73 Die Folge der gött üchen Überbevölkerungen ist, daß Elemente des vorstel
lenden Denkens die reine Gewärtigung des Zeugen-Selbst
Indische Teleologie Ich möchte abschließend einen summarischen Blick auf die elementaren Formen des indischen Perfektionismus und sein
Verhältnis zu den Zeitstrukturen des übenden Daseins wer
fen. Wenn es je ein Denken gegeben hat, das selbst die Zu spitzungen des abendländischen Seins-zum-Ziele noch hinter
sich ließ, so ist es die orientalische Teleologie, wie sie auf dem
Boden des indischen Subkontinents zur Entfaltung kam. Man spricht eine Trivialität aus, wenn man feststellt, daß der Ma
gnetismus der Vollkonunenheit in keiner Zivilisation so
mächtige Wirkungen auszuüben vermochte wie in der des
alten und oeuen Indien. Die indische Spiritualität ist die pla netarische Kornkammer des Narzißmus - vorausgesetzt, man
darf diesen von der Psychoanalyse geprägten, obschon nicht
mehr monopolisierten Begriff für eine Neubeschreibung spi ritueller Selbstverhältnisse im allgemeinen freimachen.
Während sich Narziß, der egotechnisch nicht aufgeklärte
Jüngling, über den Rand des Wassers neigt und sein reizendes Spiegelbild umarmen möchte - woraufhin er das Gleichge
wicht verliert, vornüberfällt und ertrinkt, beugt sich der in
überlagern. Unwillkürlich schiebt sich das theologische
Phantasma vor die bildlose Präsenz der All-Seele in der Ein
zelseele. Solche Überlagerungen abzubauen und die Rück
stände der pathologischen Individualität aus den früheren
Leben und aus der aktuellen Kindheit in der »Flamme der Aufmerksamkeit« zu verbrennen ist der deklarierte Sinn all
der auf indischem Boden entfalteten spirituellen Techniken,
von deren Formenreichtum, Gipfeln und Nuancen sich
extenso
in
einen angemessenen Begriff zu machen für Inder
wie Nicht-Inder ein nahezu gleich hoffnungsloses Unterfan gen sein dürfte.
Die Anfänge der indischen Anthropotechnik weisen auf ei
nen archaischen mentalen und psychagogischen Athletismus zurück, der sich bis in die vor-arische Epoche verfolgen läßt.
Nicht umsonst lautet hier einer der ältesten Namen für den
Asketen shramana, der Sich-Abmühende - ein Wort, das un mittelbar die Erinnerung an den griechischen p6nos und die
Athleten wachruft, die sich ihrer
philoponia
rühmten. Das
Wort ashramas, das von der Sanskrit-Wurzel shram hergelei
tet wird und das die vier Stadien des brahmanischen Lebens
wegs zusammenfaßt/4 soll anfangs die Übungen der Asketen
dische Konternplant über sein Inneres - und beginnt aufzu
und Walderemiten bezeichnet haben - hiervon scheint auch
ihm entgegenscbauen, vielmehr möchte er das Feld seines
Einsiedelei, das heißt den Übungson eines Asketen, meinte,
Zeugen öffnen, obschon dieser auch hier zunächst und zu
ehe er auf alle möglichen Eimichtungen des meditativen Retreats einschließlich der klosterartigen Siedlungen in der
steigen. Er hält sich nicht lange mit den Spiegelungen auf, die
Bewußtseins tunliehst für dje Präsenz des transzendenten
der Begriff »Ashram« abhängig zu sein, der ursprünglich eine
meist mit der Figur des Großen Anderen amalgamiert wird.
Nähe eines spirituellen Lehrers ausgedehnt wurde. Die Ana-
überstieg, mußte das geistige Leben zu einem unaufhörlichen
73
Diktum, alles sei voll von Göttern, trifft viel eher die indi-
74 Vgl. oben S. 36of.
In einer Kultur, in der die Zahl der Götter die der Menschen
Turnier der Großen Anderen geraten - das vorsokratische
Romain Rolland deutet in seinem Buch La vie de Ramakrishna, Paris 1929, auf den Augenblick demographischer Parität zwischen 300 Mi ll ionen Göttern und ebenso vielen lebenden Indern.
Jl Übenreibungsverfahren
7 Vollendete und Unvollendete
logien zu den (mehr als eintausend Jahre jüngeren) Phänome
Verschwinden; Enthaltung von Tat und Arbeit; Ablassen von,
die hier wie dort gegebene Affinität des athletisch-somati
Handlungen und Gefühlen; Gemütsruhe, Weltabgeschieden
nen des christlichen Eremitismus drängen sich auf - wobei
Aufgeben von, Verzichten auf; Einstellen von weltlichen
schen Übens zur yogiseben und spirituellen Selbstsorge mit
heit; Ruhe, Frieden, Glückseligkeit.«75
Indien (wo der heilige Mann
der Stumme, genannt
turen unter der Optik hoher Abstraktionen verfolgen, so wä
genbrachte, deutet in dieselbe Richtung. An beiden Zentren
sprüngliche asketische Sezession und die Ausbildung von
lichen Sprechens einer Profanierung gleichkommt, durch die
sale der indischen Antbropotechnik unterscheiden sich von
Händen zu greifen ist. Auch die Hochachtung, die man in
muni,
wird) wie in den ägyptischen Wüsten dem Schweigen entge
der Askese hatte man verstanden, daß jede Art des gewöhn
sich die Seele wieder in das verstrickt, wovon sich zu befreien den Sinn ihres Rückzugs ausmacht.
Möchte man die Entwicklung der indischen Übungskul
re auch hier nach dem Modus zu fragen, in dem sich die ur
Kulturen rezessiver Subjektivierung vollzogen. Die Schick
ihren westlichen Gegenstücken nur in einem Punkt ganz
grundlegend: Aufgrund des Kastensystems fällt den ältesten
Wie radikal die indische Spiritualität auf der Elaborierung
Brahmanen die Sezession gewissermaßen als familiäres Erbe
auf den Wortschatz, mit dem die Konternplanten dort von
sierte Reaktion auf den absoluten Imperativ erworben zu
von Sezessionsmotiven aufhaut, verrät schon ein kurzer Blick
zu und braucht daher fürs erste nicht durch eine individuali
alter Zeit her ihre geistigen Ziele artikulieren. Die vier
werden. Die Antwort auf den Appell »Du mußt dein Leben
ti und niv?-i.tti sind ausnahmslos dem Wortfeld des Rückzugs,
vor, die in ihrer Summe nichts anderes als eine kollektive
Grundworte des geistigen Lebens moksha, apavarga, nirvrit
der Abwendung, des Verschwindens, des Ablassens und des Erlöschens zuzurechnen - zu jedem von ihnen gehört ein
ändern ! « liegt in der brahmanischen Lebensform als solcher Sezession repräsentiert. Sie bedeutet ihrem Wesen nach die
Implantierung einer Kaste von Gottmenschen oder besser
umfangreicher Apparat anthropotechnischer Prozeduren,
von Menschengöttern inmitten und oberhalb der nicht-brah
Ich folge ohne weiteren Kommentar der Übersicht Heinrich
trachtet, verspricht die älteste brahmanische Existenz ein
denen die Einverleibung der rezessiven Qualitäten obliegt.
manischen Populationen. Unter diesem Blickwinkel be
Zimmers über die Sinnfelder der höchsten Ziel-Worte:
ruhiges Hineinwachsen in eine fest etablierte Struktur erb
sen, entbinden, entfesseln, befreien; verlassen, zurücklassen,
Westens, um ein Bonmot Shakespeares aufzugreifen, als eine
»Moksha, aus der Wurzel muc, >lösen, freimachen, gehenlas
licher Übermenschlichkeit. Wie der gewöhnliche Mensch des
hinterlassen<, bedeutet >Befreiung, Flucht, Freiheit, Erlösung,
wohlorganisierte »Republik von Fehlern« definiert werden
apavrij, >abwenden, zerstören, zerstreuen; abreißen, auszie
der
Errettung; letzte Loslösung der Seele<. Apavarga, vom Verb
hen, wegnehmen<, bedeutet >Abwerfen, Fortschleudern (ei ner Wurfwaffe), Abladen, Aufgeben; Vollendung, Ende<;
auch das >Erfüllen oder Vollbringen einer Tat<. Nirvritti heißt •Verschwinden, Vernichtung, Rast, Ruhe, Frieden, Vollen
dung, Erfüllung, Befreiung vom weltlichen Dasein, Befrie
dung, Glück, Seligkeit<; und nivritti: Stillstand, Beendigung,
könnte/6 die den Zuzug keiner einzigen Tugend duldet, wäre
modus vivendi des brahmanischen Menschengons als
eine stabile Republik von unergänzbaren Vorzügen zu be schreiben.
75 Heinrich Zimmer, Philosophie und Religion Indiens, Frankfurr am Mai n 1973, S. 50. 76 Much Ado Abour Nothing, 5· Akt, Zweite Szene.
....
li Übenreibungsverfahren
Das Geheimnis der zweiten Sezession: Karma-Verdunkelung und Streben nach Befreiung Gleichwohl stelle sich auch in einer solchen Kultur die Frage
nach der persönlichen Aneignung des Erbes - vor allem in der
7 Vollendete und Unvollendcre
Fortpflanzungspflichten, nach der Weitergabe des göttlichen
Geheimnisses an den Nachkommen, sondern schon in der
ersten Hälfte, unter Verwerfung des prokreativen Drangs und unter Abschung von der bis dahin allesbeherrschenden Weitergabe des heiligen Feuers vom Vater auf den Sohn. Hierdurch vor allem - mehr noch als durch die in Indien
Zeit sozialen Wandels, als in den frühen Städten die erste
von alters her bedrückende reale Misere - konnte die pessi
Pfarrhaus die geistigen Probleme der Pfarrersöhne im Pro
stenz die Oberhand gewinnen.
Herkunft aus einer Brahmanenfamilie nicht alle Ungewißhei
kaum erklärliche Öffnung der indischen Kultur für die den
nensprößlings gegeben sein mochten. Die damit verlangte
der Wiedergeburten begreiflich machen. Der mysteriöse Er
der Sache gemäß nur durch eine zusätzliche Sezession des
in ihr das von den Asketen gewählte Mittel sieht, die fällige Verdunkelung des Weltbilds im Geist der zweiten Sezession
Individualisierung einsetzte. Wie die Abstammung aus einem testantismus nicht automatisch regelte, so konnte auch die
ten aus der Welt räumen, die mit der Existenz eines Brahma
Individualisierung des ständischen Hochgefühls ist der Logik
Einzelnen von der sezedierren Gruppe zu leisten. Dieser
mistische Trübung des Urteils über die Gesamtheit der Exi
Allein in diesem Zusammenhang läßt sich die ansonsten
vedischen Sängern noch unbekannte Vorstellung vom Rad
folg der Wiedergeburtslehre ist nur zu würdigen, wenn man
Zwang zur zweiten Sezession treibt den cvolutionären Motor
voranzutreiben. Sie liefert dem Asketismus der Frühausstei
dadurch bezeichnet, daß sie einen unübertreffbar scheinen
esse daran haben, das Universum als eine Seelenfalle, ja als
Folglich lag die einzige Dimension der brahmanischen Exi
zeugten und Geborenen allesamt Wiedergezeugte und Wie
der altindischen Kultur an. Deren Ausgangsparadoxie war den Gipfel als Startpunkt weiterer Differenzierungen vorgab.
ger die ontologische Grundlage. Nur dieser konnte ein Inter
eine Straf- und Illusionsanstalt zu beschreiben, in der die Ge
stenz, die sich für Steigerung und Überbietung anbot, im Be
dergeborene sind, die von Gefangenschaft zu Gefangenschaft
gesamt. Zwar war ein gewisses Maß an Weltentrückung auch
den Wiedergeburten nicht nur eine sublime Metaphysik der
reich der negativen Stellungnahmen zu Welt und Leben ins
vorrücken. Aus dieser Perspektive artikuliert die Lehre von
schon dem frühesten Brahmanenrum vertraut. Diese ergab
fortzeugenden Schuld -hierin das funktionale Äquivalent der
treten aus der Sinnenwelt - von alters her als Königsweg zur
gewissem Maß ein Vehikel des metaphysizierten Ressenti
sich schon durch den Akzent auf dem ekstatischen Heraus Erfahrung der letzten Wirklichkeit gepriesen -, doch die prie
sterlieben und familiären Bindungen der brahmanischen
ägyptisch-christlichen Gerichtsmythologie, folglich auch in
ments -, sie ist ebenso die conditio sine qua non für die Sezes sion einer Klasse von jungen Berufsasketen. Diese Rebellen
Haushaltsvorstände setzten, zusammen mit ihrem göttlichen
machten sich die chronische Auflehnung gegen das Verhäng
Grenzen. Wer sich von den Jüngeren das ekstatische Erbe
gekommen war, diese unmittelbar als die Fortpflanzung des
Selbstbewußtsein, der verwirklichten Weltflucht spürbare
vertieft aneignen wollte, wurde somit wie von selbst auf die Radikalisierung des Rückzugs verwiesen - nicht erst in der
zweiten Lcbenshälfte, nach Ableisrung der brahmanischen
nis der Fortpflanzung zu eigen, seit es ihnen in den Sinn
Verhängnisses zu begreifen. Von da an kann die Wirklichkeit des Wirklichen nicht allein durch das Elend definiert werden,
das sich die Menschen synchronisch gegenseitig antun, sie
11 Übertrcibung svcrfahrcn
macht sich ebenso diachronisch als Proliferation gespeicher ter Schuld geltend. Das große Leitwort Befreiung
(moksha)
bezeichnet von da an weniger die Möglichkeit der Wiederan
knüpfuog an der ursprünglichen Ekstase, es wandelt sich zum Paßwort für die Flucht aus dem unreinen und beillosen Sein. Man erkennt, wie unter solchen Bedingungen die Befrei
ung zu einem Phänomen der Longue
duree
mutieren mußte.
Als solches eignete sie sich noch nicht zur Zuspitzung in ein
existentielles Projekt - denn »existentiell« ist immer syn
onym mit »in diesem Leben bewältigbar«. Solange die Ein
zelnen auf den langen Bahnen der karmischen Zeit wandern,
7 Vollendete und Unvollendete
gegen die Ideen der progressiven Heilspolitik haben ihr west
liche Ideologen durch das Prädikat »ahistorisch« vergolten.
Vor diesem Hintergrund läßt sich der anschwellende Nega tivismus begreifen, der sich von den Tagen der frühen vedi
schen Menschengötter an der indischen Spiritualität be
mächtigte, um schließlich in der Generation Buddhas und
Mahaviras (nach jüngeren Datierung im vierten vorchristli
chen Jahrhundert) zu den vollendeten Systemen allseitig re
flektierter Welt- und Lebensverneinung zu reifen. Zur Zeit
dieser großen Lehrer hatte der Impuls zur asketischen Sezes
herrschen bei der Pilgerfahrt zur Befreiung die trägen Rhyth
sion längst auch auf die übrigen Kasten übergegriffen und sie
lehre alle wesentliche Zeit als Zeit der Erlösung erkannt - und
vor dem Hintergrund der alten, allgemein indischen Sorge
men vor. Zwar ist nach dem Eindringen der Wiedergeburts
Erlösung ist stets strikt einzelseelisch zu denken -, doch erst die Lehre des historischen Buddha wird die träge karmische
Maschine sprengen und für ihren Stillstand in diesem Leben
sorgen wollen. Entscheidend ist jedoch, daß die indische Askese, wie die der christlichen Wüste, letzdich nur indivi
mit dem Geist der radikalen Negation affiziert - gewiß stets
u m Reinigung von Tatfolgen und Berührungen. Naturgemäß liegt solchen Wertungen immer auch ein Antetl authentischer existentieller Gestimmtheit zugrunde. Man muß die Erschüt terung des jungen Siddhartha bei seinen ersten Ausgängen aus
dem väterlichen Palast, als er die Übel der Welt in Gestalt des
dualpurgatorische Prüfungen und individualeschatologische
Kranken, des Alten und des Toten erstmals mit eigenen Au
Welterlösungszeit zu konzipieren, so am ehesten vielleicht
zination durch den Asketen, dem er angeblich zuletzt be
Erlösungen kennt. Wäre sie imstande, so etwas wie eine
gen sah, nicht in Abrede stellen, ebensowenig wie seine Fas
unter dem Btld eines dicken Seils aus zahllosen karmischen
gegnete, als er den Palast durch das Nordtor verließ, und
heit. Die Immunität Indiens gegen die Versuchw1g durch die
wurde. Es muß hingegen erlaubt sein zu vermuten, er habe
Einzelfäden von verschiedener Länge, Farbe und Gediegen
Idee einer allen gemeinsamen Geschichte beruht darauf, daß
durch dessen Anblick er auf den Pfad der Erlösung gezogen
zuerst den Asketen gesehen und infolge dieser Erscheinung
seine Meditationskultur das Phantom der allgemeinsamen
einen Hinweis auf die Notwendigkeit erhalten, sich von
Erlösungsgeschichten auflöste - eine Operation, die den so
der Legende käme je auf den Gedanken, den Anblick armer
Weltzeit schon früh in Aberrntllionen von individualisierten
Krankheit, Alter und Tod zu befreien. Kein Prinz außerhalb
in den Ho
oder kranker Leute auf sich selbst zu beziehen. Dergleichen tut nur, wer aufgrund des schon geweckten Interesses an As
sche und in diesem Sinn historistische Kultur, kam die indi
Gunsten. Ein Fürstensohn fragt nicht nach Impfstoffen gegen
zialholistisch verzauberten Europäern mutatis mutandis erst durch die Nachaufklärung des
20. Jahrhunderts
rizont kommen sollte. Obschon eine zutiefst perfektionisti sche niemals auf den Gedanken, Kollektivperfektionen als
ernsthafte Optionen gelten zu lassen. Ihre Gleichgültigkeit
kese auf der Suche ist nach empirischen Argumenten zu deren
die Übel des Daseins, er interessiert sich für einen Kampf, den
zu gewinnen ihm nobler erscheint als ein fürstliches Erbe. Es
n Übenreibungsverfahren
geht bei den großen Systemen des Pessimismus auch weniger
um idiosynkratische Tendenzen, die der existentiellen Ge
stimmtheit der Protagonisten entspringen, als um die Gesetz mäßigkeit der ethischen Sezession zweiten Grades bzw. d es Bruchs mit dem Welt leben aus der nicht-brahmanischen Po sition. Für Asketen, die diese Geste gewählt hatten, war der Weg in die Negativierung der Existenz allein noch offen. Diese Verhältnisse schlagen sich in sämtlichen Ausgestal tungen indischer Vollkommenheitsprojekte der nach-vedi schen Epochen nieder. Das höchste Ziel - die Vereinigung mit der absoluten Wirklichkeit, ob diese nun als letztes Selbst oder Nicht-Selbst gefaßt wurde (in systemischer Verfrem dung: das Streben nach totaler Immunität im Sein oder im Nichts) - steht a priori fest, und entsprechend stereotyp tritt die Behauptung auf, dem Menschen dürfe zu seiner Erlan gung keine Mühe zu groß sein. Darum ist es mehr als berech tigt, von der »orientalischen Teleologie<< zu sprechen. Wo ein
so hohes Maß an Zielbewußtheit, ja an suprematistischem Furor zu den Grundmerkmalen einer Übungskultur gehört, bleibt es nicht aus, daß die Zielvorstellungen sich differen Zieren.
Die langsamen und die schnellen Wege Die fundamentale Spaltung des indischen Denkens hinsicht lich der Konzeption letzter Ziele hat Mysore Hiriyanna auf
den schlichtesten Begriff gebracht: »Soweit das Wesen des Lebensziels berührt ist, kann man die indischen Systeme in zwei Klassen unterteilen - jene, die in ihm nu r die absolute Freiheit von Elend sehen, und jene, die i n ihm auch Seligkeit erkennen wollen.7 (Von der altruistischen Kehre des Ma-
77 Mysore Hiriyanna, Vom Wesen der indischen Philosophie (zuerst London 1949), München 1990, $. '45·
7 Vollendete und Unvollendete
hayana-Buddhismus nimmt der Autor keine Kenntnis, ver
mutlich, weil er in der Erhebung des Mitleids zu einem Le bensziel höchsten Ranges ein der indischen Grundtendenz
fremdes Element wahrnimmt.) Im allgemeinen dürfte gelten,
daß ein Übungssystem um so entschiedener für die erste Op tion eintritt (die typologisch mit der stoischen apatheia
kor
resp ondiert), je stärker die Motive der Weltverneinung und
der Erlösung vom Daseinszwang in ihm ausgebildet sind, während die weit- und lebensbejahenden Tendenzen natur gemäß die größere Nähe zur Kulmination der Askese in einer göttlichen, übergöttl ichen Verzü ckung aufweisen. Desglei chen ist die Affinität der negativ erlösenden Systeme zur schnellen, noch in diese m Leben zu erreichenden Lösung eb enso plausibel wie die Verträglichkeit der Lehren von fina ler Seligkeit mit dem langsamen Vorrücken der Seelen auf den Schul b änken der Reinkarnation. Hins ic htlich d er Zeitp rofile übenden Lebens weist kein System so extreme Variationen auf wie der B uddhismus: Wo er sich, wie in Tibet, mit Überl ieferungen archaischer schamaniseher Magie vermischt, erreicht er Exzesse an aske tischer Negativität, die weltweit ihresgleichen suchen - hier bei verliert die erlöserische Ungeduld des frühen Buddhismus praktisch jeden Einfluß, indessen sich der Wiedergeburtsfa talismus triumphal zu rückmeldet, durchsetzt von den dun kelsten Ausprägungen einer lebenverschlin genden Opfer gesinnung. Sogar die extremsten K ontemplanten, darunter lebend Eingemauerte und andere Athleten der Selbstauslö schung, sehen sich hier vor die Aussicht auf zahlreiche Wie derkehren gestellt. Auch bei härtester Askese geht es da nur in kleinen Schritten voran. Am anderen Pol der Skala findet man die für den Zen-Buddhismus charakteristischen Über legungen zu der Frage, ob die Erleuchtung plötzlich und bald oder allmählich und spät eintrete: Dazu heißt es im Podium Sutra des chinesischen Meisters Hui-Neng (636-71 3): »Verehrte Zuhörer, ursprü nglich gibt es in der Lehre der
II
Übenreibungsverfahren
Wahrheit weder plötzlich noch allmählich. Aber in der
7
42 1
Vollendete und Unvollendete
Dispositionen- insbesondere die beiden ersten, die einer mo
Natur der Menschen gibt es gescheit und dumm, schnell
ralischen Propädeutik gleichkommen, und die drime und
Die Überlegung läßt allein die Frage offen, ob die Loslösung
Selbstbeherrschung liefern - i n die höherstufigen Übungen
und träge.«78
innerhalb von Minuten oder von Jahrzehnten stattfindet. Doch gleich, ob eine Schule des Zen-Buddhismus die plötz liche oder die allmähliche Linie favorisiert, die Strömung ins
gesamt erweist sich aufgrund ihrer therapeutischen und atheoretischen Grundhaltung als ungeduldig genug, um für
die spirituellen Aspirationen westlicher Menschen, die das Leben nur als Finale kennen, attraktiv zu sein.
Es hätte im gegebenen Kontext keinen Sinn, auf prozedu rale Details der indischen Selbsttechnologien einzugehen, zum einen, weil sich angesichts dieses Themas ein Ozean an Differenzierungen auftäte, dessen Erforschung mehr Zeit und Energie erfordert, als einem sterblichen Interessenten zur Verfügung steht, zum anderen, weil mit fast jedem termi
nus technietiS
auf diesem Feld für westlichen Beobachter
vierte, die so etwas wie die Grundschule der physischen mitgenommen und liefern für diese den Sockel, der in
actu
athematisch bleiben kann und soll. Analoge Aufstiege sind aus der buddhistischen Selbsttech nologie bekannt, wie sie im Potthapada-Sutta erläutert wer 0 den.8 Dieses neunstufige Itinerarium des Geistes ins Nirvana führt über die vier elementaren
jhana,
d. h. Meditationen
(Reinigung, Konzentration, Entleerung, Reinheit), sowie die vier höheren
samapatti oder
»Erlangungen« bis zu dem
letzten Zustand, der als Stillstand in absolut leerer Enstase beschrieben wird.81 Naturgemäß macht sich in den stets zu Übertreibungen bereiten indischen Stufensystemen das Es kalationsgesetz bemerkbar, wonach jede noch so hoch getrie bene Formulierung einer Endstufe durch zusätzliche Schika nen, Iterationen und Aufstockungen der Abstraktion weiter
kaum überwindliehe semantische Probleme verbunden sind.
gesteigert werden kann, ohne daß jemand imstande wäre,
tet, ist die Tatsache, daß auch sie wie ihre westlichen Pendants
Kriterien anzugeben, ob den hinzuerfundenen Höhengraden
Was an den indischen Übungslehren dennoch vertraut anmu praktisch überall in Stufensystemen angeordnet sind - unter diesen haben es, um nur ein Beispiel zu erwähnen, die acht
angas oder »Glieder« aus Patanjalis Yoga-Sutra zu besonde rer Reputation gebracht: 1. Die Bezähmungeo (yama), 2. die Disziplinen (niyama), J. die Körperstellungen (asana), 4· die Atemkontrolle (pranayama), 5. der Rückzug der Sinne von den Objekten (pratyahara), 6. die Konzentation (dharana), 7· die Meditation (dhyana), 8. die t:nstatische Trance (sama dhi).79 Wie in allen Systemen progressiver HabiruaJisierung werden auch hier die auf den früheren Stufen erworbenen
78 Hui-Ncng. Das Sutra des Sechsten Patriarchen. Das Leben und die Zen-Lehre des chinesischen Meistcrs Hui-neng, Bern 1989, S. 67. 79 Vgl. den ausführlichen zeitgenössischen Kommentar von B. K. S. l yengar Lumicrc sur lc Yoga Sutra dc Patanjali, Paris 2003. ,
nach wenn schon nicht überprüfbaren, so doch mitteilbaren noch irgendein zuständlicher Gehalt zugeordnet werden könne. Im mongolischen Lamaismus soll sogar der samadhi, der hier freilich nur nominell an den sagenumwobenen End zustand indischer Versenkungsübungen erinnert, in 1 1 6 Stu
fen auseinandergelegt worden sein - ein Beschäftigungspro
gramm für viele prallvolle Reinkarnationen.82 Der Verdacht
drängt sich auf, manchen Vollkommenen sei die Vollkom menheit zu langweilig geworden, um nach ihrer Erlangung die Hände in den Schoß zu legen. Wie die westliche Welt den Schrecken der Arbeitslosigkeit kennt (der soziologische NaSo Vgl. Oigha Nikaya, Die längeren Reden Buddhas, Neunte Rede. 81 Vgl. Eliade, Yoga, a. a. 0., S. 176-182. 82 A. M. Podzncjcv, Ohyana und Samadhi im mongolischen Lama ismus, Hannover 1927.
422
II Übenreibungsverfahren
me der Depression), so die östliche den Horror der Übungs losigkeit. Was liegt da näher, als die Verklärung aufzustok ken? Nichts scheint einfacher, als nach dem Nirvana ein Nir vana und ein halbes zu »erreichen«. Ein anderes Movens für die Aufblähung der Perfektionen ist ohne Zweifel in der psy chodynamischen Instabilität der Endzustände zu sehen, von welcher auch die westliche Mönchsliteratur unter den Stich worten »Versuchung«, »Prüfung« und »Rückfall« einiges zu sagen hatte. Was die semantische Seite der indischen Übungstermino logie angeht, so reichen ihre Komplikationen weit über die bekannte Kluft zwischen Wahrnehmung und Kommunika tion hinaus. Die Welt der meditationstechnisch induzierten Zustände ist ein weites Land oder besser: eine Galaxis mit ungesicherten Routen und von unbestimmten Grenzen. Wer in ihr unterwegs ist, kann nie sicher sein, ob andere Reisende dieselben Sterne in denselben Milchstraßen gesehen oder betreten haben. Zwar versichern die Meister, sie besäßen zuverlässige Karten für die Weiten des meditativen Raums, doch ist über ihre Kunst, Karten zu lesen, nur Widersprüch liches bekanntgeworden. Es hieße einer Mystifikation erlie gen, wollte man annehmen, die Fahrpläne zur Vollendung führten letztlich alle zu demselben Ziel. Tatsächlich eröffnet die Meditation, dem Traum vergleichbar, eine Sphäre nicht beobachtbarer Beobachtungen, so daß man hier, wie beim Traum und seiner Deutung, auf sekundäre Mitteilungen und tendenziöse Nachbearbeitungen angewiesen bleibt. Für die mystischen Zustände ist überdies charakteristisch, daß ihre Träger das Schweigen als Form der Mitteilung privilegie ren. Es wäre gewiß ein Fehler, vom Schweigen auf die Er leuchtung zu schließen. In puncto Nichtmitteilbarkeit kann es jede Dumpfheit mit der Entrückung in den dritten Himmel aufnehmen. Vielleicht war es das Unglück der indischen Spiritualität, daß sie die Kultur der inneren Zustände zu früh und zu
7
Vollendete und Unvollendete
kampflos von der Sphäre des Ausdrucks abgekoppelt hat das spricht für ihre Überwältigung durch den immunitären Imperativ, vulgo durch die »Religion«, der man, wie gesehen, überall begegnet, wo das Interesse an Letztversicherung die affektive und ästhetische Besetzung der vorletzten Dinge sa botiert. Wie die Alternative hierzu hätte aussehen können, läßt sich am ehesten beim Hören der klassischen indischen Musik erahnen. In ihr findet man die suggestivste Analogie zu der Chromatik der Erleuchtungen, sofern sie sich ganz aus einer Dynamik von Stimmungen, Schwellungen, Katarakten und Beruhigungen entwickelt. Obschon es keine griffigen Notationen für die artifiziell erzeugten inneren Zustände der Asketen gibt, liegt doch auf der Hand, daß sich in ihnen vielfältige Endasphären verbergen, die uns so unzugänglich bleiben wie die Träume von Fremden. Von denen wüßten wir schlechthin nichts, wären wir nicht selber des Träumens und des Gleitens zwischen den Tonarten des mentalen Lebens fähig.
8
Aus realitätsgeeichtem Gutdünken verfügt sie über die bei den wichtigsten Kategorien der praktischen Vernunft - das Ernstfallurteil und das PrioritätsurteiL Das heißt, sie erkennt Ausnahmezustände und entscheidet über die Reihenfolge, in der die wichtigsten Dinge zu erledigen sind. Daß Fehlbarkeit z u ihren Arbeitsbedingungen gehört, entwertet die Tätigkeit dieser Urteilskraft in keiner Weise.
8 M EISTERSPIELE
VoN DEN TRAINERN ALS GARANTEN DER Ü BERTREIBUNGSKUNST
Cura und cultura Der Begriff »Kultur« bezeichnet in sein�: am welligsten kon fusen Definition Dressur-Systeme zur Ubertragung von re gional lebenswichtigen kognitiven und m? ralischen Gehalten auf folgende Generationen. Weil diese Ubert�agung allent . halben die Que1le ernsthafter Intelligenzarbeit btldet, ent . wickeln alle real erfolgreichen, hinreichend reproduktions fähigen Kulturen eine Art von ontologisc em Zentralo�gan, . i_n dem das Urteil über die Lebensw1chugke1t oder Nlcht Lebenswichtigkeit von »Dingen« gefällt wird - sechstausend Fuß jenseits der philosophischen Umerscheid� ng zwisc en Substanziellem und Akzidentiellem. »Dinge« smd daher Im mer schon Verhandlungssachen auf dem Forum der Überle bensintelligenz - in verwandtem Sinn hat Bruno Latour den »Ding«-Begriff für die Agenda einer Welt pluraler Parlame? te zukunftweisend reformuliert.83 In diesem Organ, das m .. älterer Zeit durchgehend presbyterokracisch, das heißt in Al testenräten, in jüngerer Zeit tendenziell demokratisch, das heißt aus einer Mischung aus lnstitucionenintelligenz, Exper tenmeinung und Mehrheitsmeinung, verwaltet wird, residiert eine unspczialisierte »totipotente« Urteilskraft, die schon lange vor dem Auseinandertreten der Realitätsfelder in Ethi sches, Politisches und Ästhetisches ihren Aufgaben nachgeht.
�
�
83 Vgl. Making Things Public. Atmospheres of Dem�cracy. Cam . bridgc und London, ed. by Bruno Latour, Peter Weibel bcs. Kapitel 4: From Objects to Things, S. 250-295·
Meisterspiele
a. a. 0.,
Die »Pflege«-Dimension von cultura bezieht sich hier auf die Sorge um dje ewige Wiederkehr des Ähnljchen in den Nach kommen. Wo cura und cuftura, Sorge und Pflege, auftreten, stehen sie fürs erste im Dienst der Ähnlichkeit. Sie verlangt von den Mitgliedern einer Population, sich immer so zu ver halten, daß aus der Summe der Handlungen in der Gruppe hinreichend ähnliche Junioren hervorgehen können. Wer sich hier sorglos oder nicht-pflegend verhält, läßt Wildwuchs zu, der öfter dekadent als originell erscheinen muß. In diesem Zusammenhang ist erneut an die neophobe Grundstimmung .. der älteren Kulturen zu ennnero.84 Das Wunder der spaten, liberal aufgebrochenen Zivilisationen läßt sich vor diesem Hintergrund noch einmal ausdrücklich bezeichnen: Es be deutet die Möglichkeit, daß eine gegebene Population ihrer Reproduktionsfähigkeit, ihrer didaktischen Techniken und der Attraktivität ihres Lebensmodus hinreichend gewiß ge worden ist, um es sich leisten zu können, auf die altherge brachte Unterdrückung von unwillkommener Variation zu verzichten und sich statt dessen zu dem ncuen, riskanten Habitus breiter Variationstoleranz zu bekennen. Daraus er geben sich die typischen Spätkulrurprobleme, die uns heute täglich beschäftigen - sie erwachsen aus der nicht-friedens fähigen Koexistenz von variationsfeindlichen und variations freundlichen Gruppen innerhalb einer zivilisatorisch un gleichzeitigen Staatsbevölkerung. •
84 Siehe oben S. 1 89f.
II Übenreibungsverfahren
Stabilisierte Unwahrscheinlichkeit: Die Aufrichtung der Leitbilder Um so erstaunlicher erscheint vor demselben Hintergrund das Auftauchen der frühen Hochkulturen. Zu deren Defini tion greife ich auf meine Ausführungen über die Stabilisie rung hoher Vertikalspannungen in sezessionär isolierten Gruppen zurück. Hiernach bedeutet Hochkultur nichts an deres als ein System zur Reproduktion hyperbolischer oder akrobatischer Funkeionen in Rückzugsräumen für Eücen deren allgemeine Form in einer Ethik stabilisierter Unwahr scheinlichkeit erscheint. Darum rückt der Akrobat, im buch stäblichen wie im übertragenen Sinn des Worts, als Träger einer auf Dauer gestellten Beinahe-Unmöglichkeit ins Zen trum der Aufmerksamkeit - im übrigen auf Kosten der kon ventionellen Gleichsetzung von Aristokratie und Elite. Es war Nietzsche, der zuerst bemerkte, wirkliche Aristokratie zeige sich darin, wie beim spirituellen Führer die »ungeheure Unmöglichkeit seiner Aufgabe« sich in eine verfeinerte Kör perhaltung übersecze.85 Wir wissen freilich, daß sich die Stabilisierung von Höchstunwahrscheinlichkeiten im allgemeinen nur über die Aufrichtung von Leitbildern vollziehen kann. Diese sind be greiflicherweise nicht bloß innerfamiliär transferierbar, son dern müssen über das kollektive Imaginäre, das heißt durch die mentalen Übungs- und Raakingsysteme einer Kultur, tra diert werden (Shortcuts gibt es allein in den Milieus, wo Fa milie und Hochkultur ineinanderfallen: bei den Brahmanen, den Rabbinern, den protestantischen Pfarrhäusern). Wenn von Leitbildern die Rede ist, hat man vor allem an die exem plarisch verkörperten Typen des heroischen, des sakralen und 85 Fricdrich N ictzschc Morgcnröthe. Gedanken über moralische Vorurteile, Erstes Buch, 6o. ,
8
Mcis[crspiele
des sportlichen Agons zu denken, also an die Helden des Schlachtfelds, die Gonmenschen in den Wäldern und im röt lichen Staub der Feldwege, die Heiligen der Wüste und des Klosters und die Athleten in der Palästra, im Stadion und in der Arena. Sie alle haben noch etwas von der Aura ihrer Vor gänger um sich, den Wundermännern archaischer Zeiten, den Zauberern und magischen Diplomaten, die mit den Kräften und den Dämonen verhandelten - sie waren die ersten gewe sen, die als RebeLlen gegen den Block der Realität ihre Mit welt in Bann zogen. Erst in sehr viel späterer Zeit kommen zu dieser Liste die Künstler hinzu, ein jeder in seinem eigenen Genre ein Mirabilien-Macher und da!lllt ein Blasphemiker gegen das Prinzip Unmöglich. Mit diesen figuren sind die Rollen u11d Räume hochkul turell stabilisierter Unwahrscheinlichkeit klar genug umris sen. Sind sie erst einmal etabliert, müssen die Modi erklärt werden, nach denen sich in jedem einzelnen Bereich die Übersetzung des Unwahrscheinlichen und Unwiederholba ren ins Wahrscheinliche und Wiederholbare - mithin die Er richtung des ursprünglichen schulischen Feldes - geschehen kann. Gewiß ist hier zunächst nur eins: Was man in späteren Zeiten Schule nennt, ist anfangs weniger ein pädagogisches als ein thaumarurgisches Phänomen. Zuerst das Wunder, dann die Erziehung. Daher die enge Liaison zwischen Ethik und Artistik. Wenn Plaron und Aristoteles versichern, am Anfang der Philosophie stehe das Staunen (thaumazein), so erfassen sie gerade noch das letzte Ende einer Ordnung, in der alle höheren Leistungen am Maßstab des Unglaublichen gemes sen wurden - erst sehr viel später konnten Trivialisierungen und Nachahmungen zum halben Preis die Tagesordnung dik tieren. Die Einführung ins Unwahrscheinliche hat fürs erste jedenfalls nichts mir Kinderführung zu tun, sie wendet sich an Erwachsene, die auf halbem Lebensweg begreifen, daß das gewöhnliche Menschsein nicht mehr genüge. Am Anfang war nicht Erziehung, sondern die Verführung durch das Er-
..
11 Übenreibungsverfahren
8 Meisterspiele
staunliche. Von der Schule des Wunders allein gehen die Wir kungen aus, die Menschen zur Sezession bewegen.
ner »Seele«, eines ba, einer psyche, eines atman, allgemeiner gesprochen einer dauerreflexiv irritierten Innenwelt antwor ten können.
Paradoxien und Passionen: Die Entstehung der Innenwelt durch chronische Überspannung
Die Seele emergiert als die Instanz, in der das Unmög)jche wie eine ständig zu bedenkende Möglichkeit vergegenwärtigt werden muß. »Seele« im Sinne eines innenweltliehen oder mjkrokosmischen Organs zur Verdoppelung des Seienden im ganzen ist keineswegs eine überzeitliche Instanz, in der sich das Für-sich-Sein der Menschen aller Zeiten und Völker manifestiert hätte. Sie entsteht erst als das Symptom einer Überreizung durch ein unausweichliches Paradoxon - durch eine Forderung, die sich weder erfüllen noch ignorieren läßt. Das »menschliche Innere« hört dann auf, nur derTransitraum von »aufwallenden« Affekten zu sein, wie man es etwa in der homerischen Ansicht vom thym6s noch deutlich erkennt;8(' auch ist es nicht mehr nur die Rezeption für die Besuche von Dämonen, Träumen und »Ideen«. Es gleicht eher einer chro nischen Entzündung der Selbstwahrnehmung, provoziert durch die Zumutung, daß sich das Begehren der Einzelnen an unmöglich nachzuahmenden Beispielen ausrichten soll. Die paradoxe Entzündung und das stabilisierte Für-sich sind gleichaltrige Größen. Umgekehrt wird die hochkulturelle Ethjk nur dadurch attraktiv, daß sie es lernt, mit den höchsten Faszinationen, dem physisch und moralisch Wunderbaren, für sich zu werben. Das Wunderbare ist das Lächeln des Un möglichen. Allein durch die Verwandlung des Unglaublichen ins Vor bildliche kann das Arbeitsklima der Hochkultur sich stabili sieren: Wenn sie zu den Ihren spricht, dann nie ohne den Hinweis auf die Vollendeten zu vergessen, die gerade da durch, daß sie Nicht-Nachnahmbares geleistet haben, zur
Daher ist Hochkultur keineswegs bloß, wie Oswald Spengler dozierte, die Resultierende aus der Begegnung zwischen einer Landschaft und einer Gruppenseele - oder das Amalgam aus einem Klima und einem Trauma. Sie ist aber auch nicht ein fach »Reichtum an Problemen«, um Egon Friedells geistvolle Definition von Kultur im Sinn von Bildung zu zitieren. Viel mehr wurzelt jede Hochkultur in ihrem robusten Eigentum an einem überlieferungsfähig gemachten Paradoxon. Sie ent springt aus der grausamen Naivität, mit der sich das bas�le Paradoxon in seinen frühen Stadien verkörpert. Grausam JSt die Naivität der frühen Hochkulturen in dem Maß, wie sie ihre Forderung nach der Ermöglichung des Unmöglichen gegen ihre Adepten durchsetzt. Erst wenn solche harten Aus gangsparadoxjen sich zu Problemen entspannt haben, kön nen sie wie Reichtümer genossen und wie Bildungsgegen stände gesammelt werden. In ihren frühen Zuständen werden Paradoxien nicht als Schätze erlebt, sondern als Passionen erlitten. Sprechen wir aus, worin die Basisparadoxie aller Hoch kulrur besteht: Sie folgt aus ihrer Orientierung an hyper bolischen oder akrobatischen Exzessen, die stets unter der Annahme betrachtet werden, sie seien zur Nachahmung und Normalisierung geeignet. Indem die Hochkulturen Aus nahmeleistungcn zu Konventionen erheben, erzeugen sie ei ne pathogene Spannung, eine Art von chronischer Höhen krankheit, auf welche die hinreichend intelligenten Teilneh mer an dem paradoxen Spiel nur noch durch die Ausbildung eines internen Ausweich- und Simulationsraums, mithin ei-
86 Vgl. Bruno Snell, Die Auffassung des Menschen bei Homcr, in: dcrs., Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen Harnburg 1946, $. I s-37· ,
--
JI Übcrtrcibungsverfabren
430
Nachahmung empfehlbar werden. Sobald das
akro bainein,
das blickebannende Wandern auf dem Seil über dem Ab
8 Meisterspiele
43 1
nachahmliehen Anderen angesammelt hat. Daher sind die
frühen Anläufe zu den Hochlagen der Unwahrscheinlichkeit
grund, vom physischen aufs moralische Feld überspringt,
psychedynamisch keineswegs hilflos. Alle expliziten Hoch
schwenglichsten Art entstehen durch die Erhebu11g des Un
machung ein, die nichts Geringeres im Sinn hat als die Ent
ist das Paradoxon im Spiel: Die Vertikalspannungen der über
kulturen setzen zu ihrer Befeuerung eine mimetische Mobil
nachahmlichen in den Rang des Exemplarischen.
eignung des Vorbilds. Auch hierin ist Stillschweigen die erste Betriebsbedingung: So wie es bei ungestörtem »Kulrurbe
rrieb« nie in Frage kommt, das basale Paradoxon offenzule
gen, so bleiben auch die im Nacheifern wirkenden Antriebe
Trainerdämmerung
ungestehbar.
Vor diesem Hintergrund läßt sich die Figur des Trainers als
des Führers in die Unwahrscheinlichkeit begründen. In sy
stemischer Sicht fällt ihm die Aufgabe zu, das Paradoxon der Hochkultur unsichtbar zu machen, wonach gerade das un
Nur unter diesen Prämissen kann man die Auftritte der ersten
Trainer mit der gebührenden szenegraphischen Aufmerk
samkeit ins Auge fassen. Für eine solche Rolle kommen zu
möglich Nachzuahmende als Ansporn zur intensivsten
nächst nur die Ausnahmemenschen selbst in Frage; denen die
Edgar Allen Poe in The Purloined Letter dargelegte Strategie,
de Monstrosität, gelungen ist. Von ihnen geht die numinose
Nachahmung eingesetzt wird. Hierbei bewährt sich die von wonach das beste Versteck in der sichtbarsten Obedläche
liegt. Es ist für den heroisch-heilig-athletischen Komplex be zeichend, daß er seine Verführung
zwn
Unmöglichen unter
Selbstmirabilisierung, die Verwandlung in die real existieren Aura aus, von der die höchsten Magisterien umgeben sind.
Weil auf dieser Stufe der Lehrer in seiner mirabilischen An
dersheit die Lehre selbst ist, legt er eine neue Art von Auto
einem aufwendigen Iegendarischen Lärm verbirgt: In erster
rität an den Tag - es ist nicht mehr die Gravität der Ältesten,
Betrachtung sofort bemerkbare Widersprüchlichkeit seiner
verführt, sobald sie gesehen und empfunden wird. Das ergibt
Instanz hat dieser keine andere Aufgabe, als die bei gelassener
sondern die Leuchtkraft der reinen Ausnahme, die sofort
Botschaft durch Überbelichtung und Überbetonung unsicht
den neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Pädagogik:
mimetischen Instinkte mobilisieren, die es nicht dulden,
der Vater sind eins«;88 »Ich bin ich, aber auch der andere . . .
bar und unhörbar zu machen. In zweiter Reihe soll er die
daß Vorzüge an anderen gelobt werden, die am eigenen Da
sein ganz fehlten sollten. Die aretologische Propaganda er
füllt ihren Sinn, wenn sie auf die Frage: »Was hat der Andere,
»Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«;87 »Ich und
Von Ehre und Unehre und von Eigenschaften bin ich frei. Ich bin Shiva.Von Einlleit und Zweiheit und von Gegensätzen bin ich frei. Ich bin er.«89 Um die Erstgeborenen des Uner
was ich nicht auch haben können soll?« die Antwort: »Wir
hörten sammelt sich bald eine Corona aus Schülern, die das
Fahrzeug der
nieren.
werden sehen!« provoziert. Die Bewunderung ist das große Eifersucht.
Die
duldet keine
absoluten
Bevorzugungen - und wenn es etwas gibt, war ihr zutiefst
gegen die Natur gebt, so ist es ein Privateigentum an Siegen über die Unmöglichkeit, das sich bei einem vorgeblich un-
Privileg verkörpern wollen, direkt aus der Ausnahme zu ema 87 Johanncs 14, 6.
88 Johanncs 10, JO.
89 Maitreya Upanishad uo, 125.
432
11 Übcrrreibungsverfahn:n
Schon in der ersten Runde des Übertragungsexperiments tritt ein Phänomen auf, das alle Schulbildungen als deren quasi tragischer Schatten begleitet - die Trennung der Geeig neten von den Ungeeigneten. Der effiziente spirituelle Trai ner entwickelt nicht nur die Klugheit des antiken Arztes, der von unheilbaren Fällen die Finger läßt, er bildet auch die spezifische Witterung des Menschenfischers aus, der unter den bloßen Interessenten die Besitzer einer natürlichen Affi nität zum Geist der Lehre herausfühlt. Man wird sie in scho lastischen Zeiten die Talentierten, in bürgerlieben die Be gabten nennen - und aus verständlichen Gründen wird das
8 Meisterspiele
433
zuerst den Guru der brahmanisch-hinduistischen Tradition sodann den Meister der buddhistischen Befreiungslehre, da-
)
nach den Apostel bzw. den Abt als imitatores Christi, schließ
lich den Philosophen als den Zeugen der Wahrheitssuche und
zuletzt den Sophisten als Polytechniker der
ars vivendi.
Es
dürfte kaum nötig sein zu erklären, warum jeder dieser Typen eine Ausprägung von Lehrbefugnis an der enthusiastischen Fakultät unseres anthropologischen Polytechnikums verkör pert. In einem noch rascheren Durchgang möchte ich diesen Figuren eine analoge fünfgliedrige Reihe von pragmatischen bzw. artistischen Trainern zur Seite stellen - den Athleten
abstrakt universalistische Ressentimenteines Tages gegen den
trainer, den Meister eines Handwerks oder einer virruosen
Begriff »Begabung« überhaupt Sturm laufen.90 Nicht bloß die alte Manto liebt den, der Unmögliches begehrt,9 1 jeder
rer und den Aufklärungsschriftsteller. Warum bei dieser
Verkörperer des Hochkulturelans tut das. Wichtiger, als den absurd Begehrenden zu lieben, ist es jedoch, ihn aus den Zahllosen herauszufinden, bei denen es verlorene Liebes mühe wäre, in ihnen den Eros des Unmöglichen heranbilden zu wollen. Wie Charon, der Unterweltfährmann, den nach Helena brünstigen Faust übersetzt, so begleitet jeder der gro ßen Trainer die Schüler, die von ihrem Begehren nicht ab lassen, »hinüber«.
Kunstübung, den akademischen Professor, den profanen Leh Gruppe von Lehrbefugten von vorneherein mit flacheren und anonymeren Ausprägungen der VertikalspamJUng zu rechnen ist, ist evident: Sie alle haben es mit der Popularisie rung und Standardisierung von Mirabile-Effekten zu tun und sind auf die eine oder andere Weise schon unterwegs zu dem, was die Moderne -nach den triumphalen Anfangserfolgen der allgemeinen Alphabetisierung- unter dem Begriff Allgemein bildung auf ihre Fahnen schreiben wird. Nichtsdestoweniger praktizieren auch diese Lehrenden eine wenn auch zuneh mend begründungsbedürftige Vorstellung von Spitzenlei
Zehn Typen von Lehrern Ich werde im folgenden fünf Typen des spirituellen Trainer wesens summarisch portraitieren, von denen ein jeder auf sei ne Weise die Aufgabe wahrnimmt, prima vista unlebbare, ins Überwirkliche zielende Übertreibungen mit dem Anschein von Realisierbarkeit und Lebbarkeit zu umkleiden. Ich nenne 90
91
stungen: Demokratie, so dozieren sie implicite, ist als solche kein gültiger Grund, warum alle Arten von Vertikalspannun gen außer Kraft gesetzt werden dürften. Sie bleiben, obschon in verändertem Modus, in Geltung, und wäre es nur aufgrund der kräfte-ökologischen Tatsache, daß selbst in einer strikt egalitär verfaßten Welt nicht alle alles können könnten, schon gar nicht alles gleich gut.
Symptomatisch hierfür der Aufsatz des marxistischen Bildungs theoretikers und Psychologen Lucicn Seve, Les >dons• n'existent pas, in: L'Ecole ct Ia Nation, Oktober 1964. Faust ll, Vers 7488.
-
43 4
II Übenreibungsverfahren
8
43 5
Meisterspiele
beruht - genau dies ist das Merkmal, durch welches das guru
zentrierte Studienmodell des alten Indien für die neuzeitliche
Der Guru In dieser Aufzählung soll die Figur des indischen
Guru
an
erster Stelle angeführt werden - ein Name, der im zeitgenös
sischen westlichen Kontext kaum jemals ohne Ironie ge
Lernkultur des Okzidents unannehmbar wird. Wir haben
Einführungen in dieses oder jenes Wissensgebier anzubieten, wir lassen jedoch keine Einweihungen zu - ganz abgesehen davon, daß in unseren Breiten Erleuchtung als Studienab
braucht wird, a.ls wolle man damit eine Person bezeichnen,
schluß nicht vorgesehen ist. Auch unterstellen wir bei unseren
und dies wohl nicht ohne sich zuvor der Selbstüberschätzung
über die Immatrikulation bis zum Examen, während das Ler
die ihren Anhängern Gelegenheit bietet, sie zu überschätzen,
hingegeben zu haben. Natürlich besagt diese gewohnheits mäßige Ironie nicht das geringste über indische Verhältnisse,
Studenten die Kontinuität der Person von der Einschulung nen bei einem Guru zwei diskontinuierliche Momente kennt,
den einen bei der Initiation in den modus essendi des Schülers,
sehr viel jedoch über den antiautoritären Mentalitätswandel
die eine Art von symbolischem Tod impliziert, den anderen
hensverfall ihrer Lehrberufe im besonderen. Sie verrät die
nach indischer Konvention als die psychosomatisch-zuständ
bei den Okzidentalen im aUgemeinen und über den Anse
in der Alten Welt seit geraumer Zeit epidemisch verbreitete
bei der eventuellen Erlangung des höchsten Ziels, welches
lich vollzogene Einsicht in die Identität von Einzelseele und
Skepsis hinsichtlich der Vorstellung, irgendein Sterblicher
Allseele beschrieben wird. Darin zeigt sich, wie das initiati
nisse von Welt und Leben etwas voraushaben - und zwar
der Stufenvita hinaus, seiner dramaturgischen Form nach in
könne irgendeinem anderen an Einsicht in die Grundverhält
nicht bloß im Sinne eines zufälligen Mehrwissens aufgrund
längerer Erfahrung, sondern dank einer tieferen Durchdrin
gung von verhüllten Scrukruren der Existenz. So wie in Eu ropa der Begriff des Meisters ruiniert ist, der
maestro
des
sche Lernen, über seine Fa�onierung durch die Erzählform
ein Wiedergeburtsschema eingehängt ist - weswegen sein Ziel
weniger in einer Qualifikation als in einer Transformation zu
suchen bleibt.
Musikbetriebs einzig ausgenommen, so hat auch die Idee ei
Noch skandalöser als die initiatische Allianz, die mit dem
praktisch jeden Kredit verloren. Wenn Martin Heidegger,
westliche Empfinden seine konviviale oder geradezu promis
ner höheren Lehrbefugnis in existentiellen Angelegenheiten
über Meister Eckhart sprechend, gelegentlich noch mit ern
indischen Meister-Schüler-Verhältnis einhergeht, ist für das
kuitive Verfaßtheit. Das Bekenntnis zu einem Meister impli
ster Miene den Ausdruck »Lese- und Lebemeister« verwen
zierte in der Regel, sofern es sich um ortsfeste brahmanische
überhören. Er verstieß damit sehr spürbar gegen den neueren
schaft, üblicherweise für eine Periode, die kaum kürzer als
dete, war der archaisierende Ton schon zu seiner Zeit nicht zu
Consensus, wonach die Disziplin Leben unter keinen Umstän den meisterschaftsfähig sei.
Verhältnisse handelte, den Eineritt in dessen Hausgemein
zwölf Jahre sein konnte - so lange dauerte zumeist schon das
Memorieren der vedischen Schriften, deren Einverleibung
Das Skandalon der Guru-Funktion läßt sich einfach auf den
von den Adepten erwartet wurde, gleichgültig mit welchen
Lernens, der auf einer Initiation und damit auf dem Übenritt
Transformationsarbeit heranging. Dieses hausgemeinschaft
Begriff bringen: Sie impliziert einen Modus des Lebrens und
in die Sphäre des sakralen oder nicht-öffentlichen Wissens
praktischen Übungen
(asanas) man
an die psychophysische
liehe Element der Meister-Schüler-Beziehung implizierte ein
IJ
Übenreibungsverfahren
8 Meisterspiele
437
offen psychofeudales Abhängigkeitsverhältnis. Hierbei hatte
zu Lebzeiten und die Verwandlung in den jivanmukti, den
sondern auch dienende Rollen zu spielen - daher der Sans
Schüler gehen so miteinander eine Allianz wenn nicht auf
der Schüler in bezug auf den Meister nicht nur empfangende,
kritnahme des Schülers antevasin: »derjenige, der den Gum
begleitet und der ihm aufwartet«. Noch häufiger heißt der
Schüler shisia oder chela, was sinngemäß den »zu Füßen des
Meisters Sitzenden<< bezeichnen soll - ein Wort, das die Er
innerung an eine versunkene Welt vor der Erfindung des an
thropotechnischen Universalgeräts der Moderne namens
Schulbank wachruft. In attitüdengeschichtlicher Sicht ist
Moderne übrigens gleichbedeutend mit der Abhängigkeit vom Stuhl oder anderen Sitzmöbeln und
eo ipso
dem Aus
sterben der Fertigkeit, auf dem Boden zu sitzen, ohne den eigenen Körper als Last zu empfinden.
Die wirkliche Bedeutung des guru-zentrierten Lernmo
dells besteht freili ch nicht in den häuslich-gemütlichen Mo
hier und jetzt Erlösten, zu verwirklichen. Der Guru und sein Leben und Tod, so doch auf Leben und Hyperleben ein.
Im Licht des jüngeren okzidentalen psychologischen Wis
sens betrachtet, handelt es sich bei diesem singulären Verhält nis um einen magnetopathischen bzw. einen psychoanalyti schen rapport
-
das heißt um einen stabilisierten Ausnahme
zustand des seelischen Felds, in dem sich der Meister als
Projektionsfläche für die intensivsten Idealisierungen seitens
des Schülers zur Verfügung stellt. Anders aber als in der ma
gnetistischen oder psychoanalytischen Situation, in der, den
gängigen Nüchternheitsnormen gemäß, langfristig an der
Auflösung der idealisierenden Übertragung gearbeitet wird,
zielt die Guru-Antevasin-Beziehung nicht auf die Aufhebung,
sondern auf die abklärende Steigerung der Idealisierung - zu
menten, die von ferne an die Lebensformen mittelalterlicher
gleich eine identifikatorische Intensivierung, die bei orthodo
auch die Androhung schrecklicher Folgen für den Schüler,
präobjektive und präpersonale Register voranzutreiben ist.
Handwerkerhaushalte in Europa erinnern. Daher im übrigen der es sich einfallen lassen sollte, mit der Gattin des Meisters ein Verhältnis anzufangen - obschon dies nicht ganz so fern
liegend schiene, da hier eine informelle Minne-Situation be
steht: hohe Dame, niederer Aspirant, auf engstem Raum
durch ein starkes Tabu voneinander getrennt und aufeinander aufmerksam gemacht. Ihr Sinn enthüllt sich erst, wenn man den psychodynamischen Aspekt des Meister-Schüler-Ver
hältnisses in Betracht zieht: Es handelt sich hierbei ja um nicht weniger als einen Vertrag zur Regelung einer hyperbo lischen Transaktion. Sobald der Guru einen
chela in sein Gefolge aufnimmt,
antevasin oder hat er mit ihm implicite eine
Art von Perfektionierungskontrakt geschlossen. Dieser be deutet ein zugleich metaphysisches und pragmatisches Bünd
nis mit dem Ziel, zumindest einige Schritte auf dem Weg zur real existierenden Unmöglichkeit voranzukommen, wenn
nicht gar das
magnum opus
als solches, die Yergöttlichung
xer und sachgerechter Durchführung bis ins überbildliche,
Aus der Sicht des Gurus gehen die idealisierenden Antizipa
tionen des Schülers nicht darin fehl, daß sie zu hoch ansetzen, vielmehr ist der Schüler nur insofern zu einer Art von unent
behrlichem Irrtum verurteilt, da er noch nicht wissen kann,
um wieviel das reale Ziel höher liegt, als seine träumerischen
Vorwegnahmen zu vermuten imstande sind. Nichtsdestowe
niger ist die Identifikation die wichtigste affektive Ressource,
mit welcher die transformative Arbeit zu wirtschaften hat weswegen es zum Handwerk der Guru-Pädagogik gehört, das Feuer der Anfängerillusion so lange wie nötig am Brennen zu
halten. Daß eine institutionalisierte Kunst des Unmöglichen
nicht an den Maßstäben der westlichen Trivialontologie und
der entsprechenden psychologischen Normalitätskonstrukte zu messen sein kann, ist immerhin einsichtig.
Solche Hinweise auf die hyperbolische Dimension im Ver
wandlungsvertrag zwischen Meistern und Schülern können
U Übenreibungsverfahren
die Skepsis gegen die guru-zentrierte Form von Studien na turgemäß nicht entkräften. Es ist daher alles andere als zu fäHig, wenn ein großer Teil der westlichen, jedoch auch der anschwellenden einheimischen Literatur über das Guru-Phä nomen - nicht selten aus der Feder von irritierten Psychia tern, engagierten Sozialpsychologen und nervösen Sektenbe
439
8 Meisterspiele
Biographie der letzten Jahrzehnte deutlicher beobachten als an der des indischen Erleuchtungspredigers und Sekten gründers Bhagwan Shree Rajneesh, 1931-1990, alias Osho, der neben Ramana Maharshi, Jiddu Krishmamurti und Sri Aurobindo Gosh, seiner Umstrittenheit zum Trotz, die vierte weltweit ausstrahlende Gestalt indischer Spiritualität im 20.
auftragten92 - dem Problem der falschen Meister und des
Jahrhundert darstellt. Seine Ausnahmestellung verrät sich vor
psychischen Mißbrauchs Abhängiger gewidmet ist. Ihre Ver
allem an der Übernahme westlicher Performance-Techniken in die überall sonst in frommer Routine versunkenen Formen
fasser postulieren durchwegs die Stärkung der Qualitätskon trolle für Produkte auf den Religionsmärkten. In ihren Augen stellen sich die Dinge zumeist so dar, als sei im Gang der
spiritueller Unterweisung. Wie ein Duchamp des spirituellen Feldes verwandelte er alle einschlägigen Traditionen in reli
Globalisierung auch der spirituelle Weltmarkt in Umbruch geraten. So wie heute manche gefährlichen Erreger von den
Für seine Luzidität sprach nicht zuletzt, daß er auf dem
Reiseerleichterungen des Weltverkehrs profitieren, können
Höhepunkt des Erfolges sich selbst in ein Ready-made um
auch die Meme des »Gotteswahns« sich leichter über die
formte und sich mit klarem Gespür für den Umschwung des Zeitgeistes von seiner hindilisierenden Vergangenheit abstieß.
Grenzen ihrer Ursprungsgebiete ausbreiten. Noch beunruhi gender ist die Anmutung, die Psychose sei übermütig gewor den und wolle sich von einer klassifizierten Krankheit in eine mißverstandene Form von Fitness umtaufen lassen. Am provozierendsten freilich ist die Epidemie des mystischen Amoralismus, die sich aufgrundder Missionserfolge hindui sierender Meister in der allzu aufnahmebereiten westlichen Hemisphäre auszubreiten begann. Der Virus, der sich seither in entsprechend disponierten Klienten eingenistet hat, be steht in der gefährlichen Einsicht, daß Gewissenlosigkeit und Erleuchtung unter einem bestimmten Blickwinkel gese hen identisch sind. Die Wahrheit ist wohl: Auch die Welt der Erleuchtungs spiele ist von der Mediatisierung edaßt worden, und das Auf treten von Performance-Talenten unter den Lehrern der wohltemperierten Unmöglichkeit konnte unmöglich lange
gionstechnische Spielsachen und mystische Ready-mades.
Allzusehr war diese, wie er noch rechtzeitig erkannte, an die Mentalitätswelle der europäisch-amerikanischen Nach-68er Romantik gebunden gewesen. Indem er 1989 den japanisie renden Namen Osho annahm - »the joke is over« -, griff er geistesgegenwärtig die neuere neoliberal-buddhophile Stim mung im Westen auf und erfand für sich ein ZUkunftsträchti geres Label. Mit dieser Geste setzte er ein Zeichen, wonach nun auch auf dem Gebiet der guru-zentrierten Anthropo techniken das Zeitalter des Re-Branding begonnen hat.
Der buddhstische i Meister Was die buddhistischen Ausprägungen des Lehrerbildes an
ausbleiben. Dieser Umschwung ließ sich an keiner Guru-
geht, so nehmen sie an zwei evolutionären Umschwüngen teil, die den Sinn der Lehre profund modifizieren: in antiker Zeit schon an dem Akzentwechsel von der elitären Selbst
92 Auch spöttische Journalisten fehlen nicht: vgl. Gita Mehta, Karma Cola: Marketing ehe Mystic East, New York 1994.
erlösungskunst des Hinayana (Kleines Fahrzeug) zum barm herzigen Populismus des Mahayana (Großes Fahrzeug); in
Tl Übertreibungsverfahren
Jungerer Zeit an der epochalen Umstimmung von einer Grundhaltung der radikalen Welt- und Lebensverneinung zu der einer prinzipiellen Welt- und Lebensbejahung. Die wichtigste Information über das Profil des ersten Lehrers auf dem Pfad der neuen Lehre stammt wohl aus der Erleuch tungsiegende selbst, wie sie in einer ceylonesischen Redak tion erzählt wird: Hiernach habe der Erwachte sieben Tage schweigend und von allem unangerührt unter dem Badbi Baum ausgeharrt, »das selige Gefühl des Erwachens nach empfindend«, habe sich dann erhoben, um sich unter einem anderen Baum für weitere sieben Tage in seine Loslösung zu versenken, und dasselbe noch einmal unter einem dritten Baum. Die Botschaft der Erzählung ist unmißverständlich: Was hier geschehen ist, liegt jenseits aller Lehrbarkeit. Zu einem solchem Ziel führt kein beschilderbarer Weg, das Er eignis hat den Versuch, es zu erzeugen, überholt. Zwischen Wahrheit und Methode ist das Band zerrissen. Nichtsdestoweniger knüpft sich an diese Episode und an den späteren Entschluß des Buddha, als Lehrer wirksam zu werden, das verzweigteste scholastische Phänomen der Zivi lisationsgeschichte. Die Lehre erwächst aus dem paradoxen Akt eines Schweigenbrechens im vollen Bewußtsein der Tat sache, daß die gesprochenen Worte nie bloß bei ihrem pro positionalen Wert genommen werden dürfen, sondern über wiegend als therapeutische Direktiven zu gelten haben. Die Sätze des geistlichen Lehrers sind »indirekte Mitteilungen« von eher hygienischer als dogmatischer Tendenz. Mit einer Ausgangsparadoxie von solcher Mächtigkeit ausgestattet, hat der Buddhismus sich, indem er die Saaten des Unrnitteilbaren ausstreuen wollte, zu einer der redefreudigsten Strömungen der spirituellen Weltkultur entfaltet. In seinem ersten halben Jahrtausend bleibt er, was er seinen Anfangsbedingungen gemäß allein sein konnte - eine Ange legenheit für die Wenjgen, die gleichwohl unter indischen und hinterindischen Bedingungen zahlreich werden mußten.
8 Meisterspiele
441
Wenn die buddhistischen Trainer, die Vorsteher der Klöster und die Berater von Hilfesuchenden von ferne gesehen nur die Fortsetzung des Guru-Wesens mit geringfügig anderen Mitteln zu verkörpern schienen, so zeigt sich doch bei nähe rer Betrachtung, daß sie in vielen Punkten dessen Gegenteil darstellten. Sie betreten die Bühne der Geistesgeschichte als eine Bewegung von Therapeuten, denen es, ihrer heilenden Mission gemäß, nicht so sehr um die Übermittlung einer re ligiösen Doktrin, einer esoterischen Weltanschauung oder ei ner mystischen Visionskunst zu tun ist. Was sie im Sinn haben, ist allein die Aufhebung der Bedingungen des Leidens - re solut mit der eigenen Verstrickung in die leiderzeugenden mentalen Prozesse beginnend. Indem sie das seit 500 vor Christus in ganz Nordindien vorherrschende Erlösungsmotiv auf die Spitze treiben, unterwandern sie, den Zeitgeist ganz auf ihrer Seite verspürend, die kastenmäßigen Grundlagen des Brahmanismus und dessen metaphysischen »Überbau«. Nur hinsichtlich der zivilisatorischen Haupttendenz, die zu pro gressiver Verinnerlichung und Subtilisierung des Opfers strebt, kann der Buddhismus auch als evolutionäre Entfaltung spätbrahmanischer Potentiale angesehen werden. Wenn es in älterer Zeit stets um die Gleichung von Mensch und Opfer ging,93 so wird das Opfer jetzt ganz ins Innere verlegt - in letzter Instanz werden sich die Dinge so darstellen, als sei gar nichts geopfert worden: Denn wenn der Mensch seine An haftungen preisgibt, trennt er sich von etwas, das ohnehin zu keiner Zeit sein substantieller Besitz war. Man könnte hierin eine Verinnerlichung des herkömmlichen asketischen Nudis mus sehen, bei der nicht der Körper im Luftkleid umhergeht, wie die digambara es praktizierten, sondern die Seele, die als Nacktgehende paradox ihr Nicht-Sein enthüllt. Freilich erliegen nicht wenige von Buddhas Schülern 93
Vgl. hierzu das Kapitel: Das Hcjl der Identifikationen, in: Axel Michaels, Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München 1998, s. 357-377·
442
li Übertreibungsverfahren
schon wenige Generationen nach seinem Tod dem massivsten Fetischismus hinsichtlich der Auslegung der Mönchsregel die erste größere Schulspaltung vollzog sich bekanntlich un ter anderem anläßlich einer erbitterten Debatte zwischen Klostervorstehern über Fragen wie: Ob ein Mönch Salz in einem Büffelhorn aufbewahren darf - was einem Verstoß ge gen die Aufbewahrungsregel für Lebensmittel gleichkam oder ob die Schlafmatte des Mönchs Fransen haben darf was im Fall einer positiven Antwort die Regel hinsichtlich der Mattengröße verletzt hätte.94 Auch Streitfragen philoso phischer Art gaben zu Schulspaltungen Anlaß, so daß schon wenige Jahrhunderte nach dem Ableben des Meisters die be kannten achtzehn »Klassischen Schulen« Konturen annah men, eine jede von ihnen aufgegliedert in zahlreiche Unter gruppierungen und sektiererische Ränder, die sich gemäß den universellen Gesetzen des Narzißmus der kleinsten Differenz aneinander abarbeiteten. Ich beschränke mich hier allein auf die Frage nach der Art und Weise, wie buddhistische Meister und Schüler ihre Ver träge überdas Unmögliche handhaben. Grundsätzlich kehren hier alle Motive wieder, die wir von der Beziehung des Guru zu seinem jünger her kennen, verkompliziert durch den Ne gativitätszuwachs, der die buddhistische Lehre gegenüber der brahmanischen auszeichnet. Wahrend der Guru über weite Strecken als Komplice der Projektion des Schülers agieren kann, obliegt dem buddhistischen Lehrer die Aufgabe, die Projektion von seiner Person abzulenken und sie auf das Dharma, die Heilslehre, umzuleiten, wie es der Lehre vom Nicht-Selbst entspricht. Die Erfüllung des Unmöglichkeits kontrakts wird hier um eine Dimension abgründiger, weil das schulische Pensum von den Adepten einen noch tieferen Bruch mit ihren volksontologischen Intuitionen fordere. 94 Vgl. Michael von Brück, Einführung in den Buddhismus, Frankfurt am Main 2007, S. t88-189.
8 Meisterspiele
443
Um schematisch zu sprechen, könnte man sagen, der Guru in.itiiert den Schüler in die einfach kontraintuitive Wahrheit, wonach das große Selbst der Welt und das kleine Ich-Selbst identisch sind - eine Erkenntnis, die zweifelsohne intensive Modifikationen auf der Seite des Lernenden zur Vorauset zung hat. Hingegen steht der buddhistische Lehrer vor der Schwierigkeit, dem Schüler eine doppelt kontraintuitive Wahrheit plausibel zu machen: die Identität von Welt Nicht-Selbst und privatem Nicht-Selbst. Der Vollzug dieser Gleichung ist gleichbedeutend mit der Erleuchtung more buddhistico. Ihrer Natur gemäß erfordert sie eine Art von Unterricht, bei dem die Schüler ständig auf die selbstbezüg liche Struktur ihrer Suche zurückgeworfen werden. Sie haben zu lernen, das befreiende Nichts in sich selbst zu finden, sodann auch die Welt als ein Nichts zu durchschauen und schließlich die beiden Nichtse als ein und dasselbe zu erken nen. Jede Begegnung soll ihnen Gelegenheit zu einem Ab schied sein. Wo andere sich niederlassen und sammeln, sol len sie lernen, wegzugeben und weiterzugehen. Daher der abundante Gebrauch von Paradoxien, den man bei vielen buddhistischen Lehrern beobachtet. Wenn religiöse Ortho doxien sich ex officio an der Entparadoxierung und Vernünf tigmachung ihrer Lehre interessiert zeigen - jüngstes Beispiel die vielbeachtete Regensburger Rede von Benedikt XVI. -, erkennt man die buddhistische Unterweisung - soweit sie nicht ihrerseits religoid korrumpiert ist - häufig an ihrem Bemühen, ihren paradoxen Charakter bis an die Grenze des Selbstdementis hervorzukehren, nicht selten bis an den Punkt, an dem das Dharma als bloße Luftspiegelung bezeich net wu·d. 95 Die verbalen Paradoxien sind allesamt Projektio nen des asketischen Basisparadoxons, mittels dessen man 95 Vgl. die Sammlung von Aussprüchen von Kodo Sawaki ( 1 88o196 5), eines der markantesten Zen-Meister der jüngeren Zeit, um er dem Titel: Zen isr die größte Lüge aller Zeiten, Frankfurt am Main 2005-
I! Überrreibungsverfahren
444
dem Adepten die Botschaft vermittelt, es sei gar »nichts zu
erlangen« - um das zu begreifen, müsse er aber zunächst drei
mal zehn Jahre meditierend sitzen, am besten vierzehn Stun
8 Meisterspiele
44 5
buddhistischen Traditionen kennt. In ihr wird die Wesens gleichheit zwischen der Selbstlosigkeit der Welt und der Ab
wesenheit einer substantiellen Seele im Individuum »reali-
den am Tag.
stert«.
teste Stilmittel des jüngeren Buddhismus sein, insbesondere
Entscheidendes auszusetzen: An der ersten Variante ist zu
Neben dem Paradoxon dürfte die Tautologie das markan
in seinen japanischen Ausprägungen, die dem zeitgenössi
schen Individualismus des Westens weit entgegenkommen -
vermutlich jedoch nur, weü wir dazu neigen, die Tautologien
An beiden Mustern hat die jüngere Analyse nun etwas
beanstanden, daß sie der Welt mehr Intelligenz und Seele
unterstellt, als ihr zukommt. Was die anorganische Sphäre
angebt, wird man ihre Teilhabe an psychischen und geistigen
unseres Positivismus mit denen des Negativismus in der Leh
Vermögen sehr zurückhaltend beurteilen. Aber auch die or
Rose ist: das zelebriert im okzidentalen Kontext die Einwer
kommt, eher ein Schlachtfeld von konfus verteilten Lebens
sich der Intellekt ausruht. Daß diese Kirschblüte da diese Kirschblüte ist, bedeutet hingegen, daß eine Gestalt des
man ihr so etwas wie eine umfassende Beseelung zusprechen
re vom Nicht-Selbst zu verwechseln. Daß eine Rose eine
tigkeit, man könnte auch sagen: die Idiotie des Seins, in der
schwachen Nichts, eine rosa Vergänglichkeit, in diesem Au genblick ein vergängliches Auge streift, eine andere Gestalt des schwachen Nichts, beide vor den Hintergrund des star ken Nichts gesetzt.
ganische Welt ist, nach allem, was man von ihr zu sehen be
willenspunkren als ein vernunftvoll beseeltes Torum. Wenn
konnte, so nur kraft einer durchschaubaren Projektion. Diese
geschah, indem man von der selbstevidenten Beseeltheit der
animalisch-noetischen Sphäre bei Mensch und Tier ein Dar
lehen nahm und dieses, im Imaginären mit dem Wert »unend lich« multipliziert, an das Weltganze auslieh. In dieser Hin
sicht sind das alte Indien und Alteuropa Bündnispartner, die
sich untereinander blind verstehen: Sie wollen beide in puncto
Intermezzo: Kritik der Erleuchtung
Seele seit jeher zuviel, und sie stürzen sieb in tolle Unkosten,
Ich darf in Parenthese anmerken, warum der Begriff der Er
Beseeltheit am Leben zu halten. Auf der anderen Seite sieht
seinen Sinn verloren hat. In typologischer Sicht sind bislang
Selbst- und Seelenlosigkeit der Weltmaschine ausgehend,
leuchtung für die Philosophen der europäischen Moderne
nur zwei philosophisch beachtliche Typen von Erleuchtung
bekanntgeworden: Auf der einen Seite die Erleuchtung des
u m die willkommene Verwechslung von Totalität und AJI man, wie der Buddhismus, von der teilweise plausiblen
die ihm dank seiner nüchternen Sicht auf das Spiel der Zu
sammensetzungen und Auflösungen für eine ausgemachte
»Substanz«- bzw. geist-ontologischen Typs, wie sie in den
Tatsache gilt, die Selbst- und Seelenlosigkeit des menschli
christlichen Derivaten vorliegt: Hier wird die Gleichsetzung
tären Fehlschluß aus: Wie man im ersten Fall beim mensch
unendlichen und dem endlichen Intellekt mehr oder weniger
Sicherheiten an den »Kosmos« auszuleihen, borgt man im
Erleuchtung des nirvanologischen Typs, wie man sie aus den
u m sie aufs menschliche Selbstverhältnis zu übertragen, auf
hinduistischen Systemen sowie im Platonismus und seinen zwischen der Allseele und der Einzelseele bzw. zwischen dem
gründlich vollzogen. Auf der anderen Seite begegnet uns die
chen Inneren postuliert. Dies sieht nach einem komplemen
lichen Selbsterlebnis Seele borgte, um sie ohne ausreichende
zweiten Fall bei der »äußeren« Welt Nicbtselbsthaftigkeit,
Il
Übcrrrcibungsverfahreo
die Gefahr hin, dessen kostbarste Eigenart, die endliche Be seeltheit, zu verfehlen und sie zu Spekulationen zu verleiten, bei denen sie nur verlieren kann - sofern nicht Gewinne an anderer Stelle, etwa hohe ethische Sensibilisierungen, die Ver luste kompensieren. Ich schließe diese Digression mit der Bemerkung: Für eine zeitgenössische philosophische Psy chologie scheint nur der mittlere Weg noch offen, gleich weit entfernt von der hinduistischen und platonischen Überbesee lung wie von der buddhistischen Über-Nichtbeseelung. Da her rät sie vom Sprung ins Sein ebenso ab wie vom Sprung ins Nichts. Statt für das Selbstopfer nach der einen oder anderen Seite zu werben, p lädiert sie für die Verbindung von Anstren gung und Selbsterfahrung. Aus dieser Allianz entspringen die Wege zur Steigerung und Verwandlung, auf denen die Mo dernen ihre Optimierungen suchen.
Der Apostel Vor solchem Hintergrund läßt sich die dritte Figur des spiri tuellen Trainerwesens, die für die christliche Transmission des Unmöglic hen auf immer neue Generationen von Adepten ver
antwortlich zeichnet, ohne größeren Aufwand verständlich machen. Ihre Grundform ist die der apostolischen Sukzession, innerhalb welcher die als »Glauben« codierte Kunst der Un sterblichkeit weitergegeben wird. Wie oben am B eispiel des Paulus illustriert wurde, ist hierzu keine Erleuchtung voraus zusetzen, es genügt die Resultierende aus Ergriffenheit und Engagement. Die beiden Höchstformen der imitatio Christi sind einerseits das Martyrium, das von seinen Beobachtern als direkter Übergang in das Reich Gottes verstanden wurde (weswegen nach einzelnen Autoren die Märtyrer von jeder Art eventueller Nachläuterung im Jenseits ausgenommen wä ren), andererseits die christomorphe Verwandlung des Men schen, die bis an den Punkt führen soll, an dem der Logos und
8
Meisterspiele
447
die Caritas von der ganzen menschlichen Person Besitz ergrei fen. Was den größten Performance-Künstler des hohen Mit telalters, Franz von Assisi, auszeichnete, war seine Entschlos senheit, die beiden Extreme der imitatio in seiner Person zu vereinigen, was nur durch die Gleichsetzung des Lebens in völliger Armut mit dem Märtyrer-Agon zu erzielen war.96 Die allgemeine Form des christlichen lmitatio-Kontrakts ist in der Wahl der apostolischen Existenz als solcher zu se hen, die stets auf einer Art von Subjektwechsel aufbaut. Des sen Schema hat Paulus in dem Spruch aus Galater 2, 20: »Ich lebe, nun aber nicht ich, sondern lebt Christus in mir« vor gegeben. Dadurch wird die imitatio als ein Zwei-Seiten-Ver hältnis ausgewiesen, in dem sich eine imitatio subiectiva und eine imitatio obiectiva unterscheiden lassen. Mittels der sub jektiven Nachahmung bezieht sich der Nachahmer auf Chri stus selbst bzw. auf einen Christusnachahmer ersten Grades, etwa einen Märtyrer oder einen wundermächtigen Heiligen. Indem er Unnachahmliche nachahmt, kann der christliche Eiferer selber Objekt von Nachahmung durch Dritte werden. Auf der Position des nachahmliehen Nachahmcrs folgt er dem Ruf zur Vorbildlichkeit und ordnet die eigene Existenz dem Formgesetz des exemplarischen Lebens unter. In diesem Sinn zitiert Eugippus in seiner Einleitung zur Vita Sancti Severini, des Heiligen von Mautern bei Krems an der Donau aus dem 5 . Jahrhundert, das Wort des Petrus an seine Diako ne: >>Ihr sollt Vorbild für die Herde sein« (jorma estotc gregi)
ebenso wie das Pauluswort an Timotheus: »Du sollst Vorbild für die Gläubigen sein« (jorma esto fidelibus) - die griechi schen Originale haben hier an Stelle vonforma den Ausdruck typos. Der christliche Lehrer ist folglich dazu bestimmt, nicht nur selbst ein Nachahmer Christi zu sein, sondern auch die Position des Nachahmbaren einzunehmen und sich den Ge meinden als »Formant«, als prägender »Typus«, zur Verfü-
ll Übcrtrcibungsverfahren
gung zu stellen. Daher das Diktum: Christ ist, wer andere zu Christen macht. Die säkularen Abzüge von diesem Klischee führen zu den Thesen, gebildet sei nur, wer andere zur Bil dung anleitet, und aufgeklän sei allein, wer Aufklärung ver breitet. Dank der zweiseitigen imitatio nimmt die apostoli sche Sukzession die Form eines Pyramidenspiels an, in dem jeder Teilnehmer zugleich Nachahmender und Nachgeahm ter ist, die einfachen Gläubigen an der Basis ausgenommen, die nur nachahmen, ohne nachgeahmt zu werden - ihr Vor recht ist es, die Fortgeschrittenen durch materielle Zuwen dungen zu fundieren. Sie sind naturgemäß am weitesten von der Spitze der Pyramide entfernt, wo sich die Fortgeschritte nen in der Kunst des Unmöglichen drängen. Unter diesen findet man neben den deklarierten Heiligen und Wundertä tern auch den »Typus« des Abtes, von dem es in der Bene diktusregel heißt, er habe die Aufgabe der Menschenführung (animas rege,·e) übernommen und müsse eines Tages in Furcht und Zittern für seine Schutzbefohlenen Rechenschaft ablegen. Die Staatskunst des Klosterführers bestehe darin, zur richtigen Zeit das Richtige zu tun, das heißt: die Schmei chelei mit dem Schrecken und die Strenge des Herrn mit der Güte des Vaters zu verbinden.97
Der Philosoph Werfen wir nun einen Bück auf die vierte Trainerfigur unserer Liste, die durch den Philosophen repräsentiert wird, so fällt sofort ihre Zersplitterung in den erotischen, den statuarischen und den gnostischen Typus ins Auge. Wie Pierre Hadot sehr schön gezeigt hat, verkörpert Sokrates den ersten, Mare Aurel den zweiten - diesen wäre allenfaUs Platin, der Meister der
97 Regula Bencdicti 2, 24: miscens temporibus tcmpora, terroribus blancümenta, dirum magistri, pium patris ostendar affecrum.
8 Meiseerspiele
449
logischen Aufstiege über die physische Welt, als Vertreter des dritten Typs zur Seite zu stellen. Hadot verdanken wir auch eine klare Rekonstruktion des sokratischen Verfahrens als Verführung im Dienste des Ideals: Indem der Meister mit verantwortbarer Ironie so tut, als liebe er den Schüler, ge winnt er dessen Gegenliebe - und lenkt diese sodann von seiner Person auf die Weisheit als solche um.98 Er selbst kann ausschließlich »aufwärts« lieben und möchte diese Art des Liebens als die allein wahrheitsgemäße lehren. Während die Schüler mit dem Meister trainieren, trainiert der Meister mit dem agathon. Indem er die Liebe zur Liebe des Unbedingten vermittelt, gleicht er von ferne gewissen Psychoanalytikern, die ihre Patienten weltimmanent zu ihrer verrückten Liebe befreien möchten. Daher: »Liebe dein Symptom wie dich selbst«99 und: »Niemals von seinem Begelu·en zurückwei chen<< {Lacan). Die erotische imitatio philosophi konnte nur in dem Maß angeregt werden, wie der Meister einen hinrei chend eindrucksvollen typos des philosophischen Lebens dar stellte. In diesem Sinn dürfte man von der Geburt der Philo sophie aus dem Geist der Performance sprechen - der Tod des 100 Während Sokrates bestätigt diese Diagnose vollkommen. aber die moderne ästhetische Performance in der Regel so selbstbezüglich wie folgenlos bleibt und die Nachahmung kaum ermutigt.,'01 ist die klassische ganz auf Exemplarität angelegt. Noch Nietzsche konnte sagen, ein Meister nehme sich selbst nur in bezug auf seine Schüler ernst. 98
99 too 101
Pierre Hadot, La figure dc Socrate, in: Exercises spirituels et philosophie amique, deuxieme edition revue et augmemec, Paris 1987, s. 77-1 16. Slavoj Zizek, Liebe dein Symptom wie dich selbst!: Jacques La cans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 1 991. Siehe oben S. 3 1 5. Als zeitgenössische Ausnahme wäre der sokratische Perfor mance-Philosoph Bazon Brock zu nennen; vgl. P. SI., Der Jahr hundenmensch, in: Bazon Brock, Lustmarsch durchs Theoriege lände. Musealisiert Euch! Köln 2008, S. 6-24.
4 5°
li Übenreibungsverfahren
Noch deutlicher treten die Komuren der philosophischen Mimesis bei den statuarischen Philosophen ans Licht, die sich großteils der stoischen Richtung zurechnen - Seneca nennt sie üblicherweise einfach »die Unseren<<. Sie verkörpern den Typus von praktischer Philosophie antiken Stils, der beim Publikum den tiefsten Eindruck hinterließ: das Charakter bild des asketischen Weisen, der vor dem Hintergrund einer Ontologie der Weltgöttlichkeit an der Gleichung von Leben und Sterbenkönnen arbeitet. Im Stoizismus war es schließlich auch, wo dank der metaphorischen Gle.icbsetzung von phi losophischer Sorge um sieb und bildhauerischer Arbeit an der inneren Statue ein regelrechtes Trainingsbewußtsein ent 0 stand. 1 2 Seneca nimmt die Erfolge dieser Arbeit nicht bloß für seine eigene Person in Anspruch, er reklamiert zugleich, nur halb humoristisch, ein Urheberrecht an den geistigen Fonschritten seines Schülers, ja, er sagt ihm ins Gesicht: me um opus es, »du bist mein Werk«.103 Darum mache der Schü ler nichts falsch, wenn er sich selbst dem Lehrer als »großes Geschenk« (ingens munus) 104 offeriere. Zugleich erinnert er den Schüler an den Grundsatz, die Lehrer seien nicht unsere Herren, sondern Führer (non domininostri sed duces). 105 An der Notwendigkeit, bei einem Meister zu studieren, lassen die stoischen Dozenten kaum je einen Zweifel, obschon bei ih nen - man denke an Mare Aurels An mich selbst- die Ansätze zur Verinnerlichung des Meisterprinzips mit Händen zu grei fen sind.106 Hieran können die moderneren Schulen anschlie ßen, die den äußeren Meister bloß zu einem vorübergehenden Ergänzer des inneren erklären. 102 Pierre Hadot, La citadelle intcrieure. Introducrion aux Pensees de
103
Mare Aurcle. Paris 1992.
Episwlae morales ad Lucilium,
104 lbid., s. 105 Ibid., S.
194· 190.
106 Die gleiche Tendenz Buddhismus auf.
tritt
in
34· Brief. manchen jüngeren
Schulen
des
8
Meisterspiele
45 1
Der Sophist als universaler Könner Es mag befremdlich scheinen, wenn in dieser summarischen Übersicht über Trainerfiguren im Feld des Unmöglichkeits elans an letzter Stelle auch die Gestalt des Sophisten zur Spra che kommen soll. Diese Irritation ist leicht zu beheben, so bald man sich vergegenwärtigt, daß die Sophisten, geht man von ihrer Leistung und von lbrem Selbstverständnis aus, kei neswegs nur die intellektuellen Leichtgewichte gewesen sind, als welche sie in der platonischen Gegenpropaganda erschei nen sollten. Setzt man die Karikaturen beiseite, so zeigt sich, daß die Sophistik ihrem Wesen nach eine Artistik des Wis sens, ja sogar eine Kunstlehre des Alles-Könnens und Alles Wissens gewesen ist, ohne die sich die Attraktivität der phi losophischen Lebensform für die Menschen der Antike nicht ohne weiteres erklären ließe. So widersprüchlich es klingen mag: Indem sie auf ihre Weise das Unn1ögliche lehrbar ma chen wollte - weit über das sokratisch-platonische Verspre chen hinaus, die Tugend (arete) schulisch einzufangen -, hat sie, was die westliche Überlieferung angeht, die erste umfas sende Trainingswissenschaft im engeren Sinn des Worts her vorgebracht. Dies tat sie, indem sie die prozeßhafte Seite von Erziehung (paideia) und Lehre (didaskalia) durchwegs auf die Form des Trainings (askesis und melüe) bezog. Damit verwies sie energisch auf ein Fortschrittsprinzip: auf die Allmählichkeit der Leistungssteigerungen und das so un merkliche wie effektvolle Hineinwachsen in den unwahr scheinlicheren Habitus. Weil das Lernen für sie mehr ein Ge prägtwerden durch Umgang und repetitive Übung als ein aktives mentales Ergreifen der Stoffe bedeutet, haben die So phisten wohl als erste den Akzent auf die Früherziehung ge setzt, um die Naturalisierung des Unwahrscheinlichen von Kindertagen an sicherzustellen. Alles Können wird damit in einen Tüchtigkeitszirkel ge-
45 2
Il Übcrtrcibungsverfahren
bannt: Man tut nur, was man kann, und man kann nur, was man ständig wiederholt. Bei dieser rein »hexischen«, das heißt auf aktive Gewohnheitsbildung abgestellten Analyse bleibt allerdings das Agens der Steigerung in der Wiederho lungspraxis, das erst in jüngster Zeit aufgedeckte Netzwerk neurorhetorischer Regeln, verborgen und wird nur implicite in Anspruch genommen. Bis auf weiteres ist alJe Didaktik in der Mahnung: Üben, üben, üben! enthalten - ein Slogan, der noch in Lenins »lernen, lernen und noch mal lerncn« nach klingt und auf den selbst das sublime toujours travaller i Ro dins von ferne antwortet. Die sophistische Theorie kann dar um ihrerseits nur übende Praxis des Denkens und Vorstellens sein. Das Paradigma eines Könnens, das ohne Rest in stetige Übung eingebettet ist, liefert die Muttersprache, die wir nicht beherrschten, wären wir nicht immer schon in einen schein bar selbstverständlichen, in Wahrheit durchaus mirakulösen Zirkel aus Können und Anwenden, Üben und Bessern ein bezogen. An ihr läßt sich das Wunder illustrieren, das hier zum Schulfach werden soll: Zwar reden alle immer schon irgendwie, doch nur der Sophist redet auf der Höhe seiner Kunst wie niemand sonst - über alles, in jeder Lage, immer gut und meistens siegreich. Darum gilt es, durch stetiges Üben mit dem richtigen Lehrer inmitten der Muttersprache zur All-Sprache aufzusteigen. Die Pointe des sophistischen Lernmodells zeigt sich darin, wie der Sophist den Sprung von der Sprachkompetenz zur allgemeinen Lebenskompetenz, ja zur angewandten Allwis senheit vollzieht. Indem der Sophistenzögling ständig mit einem Artisten des Könnens überhaupt, dem Rede- und Le be-Meister seiner Schule, zusammen ist, der insofern alles weiß, als er über alles redet, ja insgesamt alles kann, was zum höheren Lebenkönnen gehört, färbt die Übung des Al leskönnens zunehmend auf den Adepten ab, bis auch er so weit ist, als ein pantechnisch durchgeformter Alleswisser und Alleskönner ins öffentliche Leben zu treten. Was durch die
8 Meisterspiele
453
Übung allein nicht vorweggenommen werden kann, die si tuativen Unwägbarkeiten, lauscht der wahre Könner dem Geist des Augenblicks (kair6s) ab, und selbst dieses Balancie ren auf der Spitze des günstigen Moments ist in Grenzen trainierbar. Hierdurch geht die sophistische Erziehung auf ihre Weise über die Physis hinaus - ihr Konzept von »Metaphysik« ist unmißverständlich als Artistik aufzufassen. Die sophistische Artistik formuliert die existentielle Antithese zur Hilflosig keit. Die Heranbildung von Nie-Hilflosen bildet das Ziel aller paidefa nach solchem Muster. Nichts kommt dem prak tischen Ideal des Polis-Bürgers und mehr noch des Polis Politikers so nahe wie der Entwurf eines Menschen, der im mer im Training ist und sich in jeder Lage zu helfen weiß. Aus diesem Grund schauen wir, wenn wir richtig hinsehen, auch immer gern den Circus-Artisten zu: Sie verbreiten die frohe Botschaft von der unbesieglichen Beweglichkeit des Kör pers - und aus demselben Grund geht eine gut gebaute und effektvoll vorgetragene Rede uns immer etwas an. Sie erinnert uns an das Menschenmögliche aus nächster Nähe. Wo der untrainierte Mensch in seiner Unbemitteltheit verstummt, zeigt der sophistische Lehrer dem Erzogenen, wie er die Worte findet, mit denen er in jeder Situation das Leiden an der amechanfa, der Unbemitteltheit und Ratlosigkeit, über windet. 1 07 Sosehr auch diese Erziehung den Akzent auf das allmäh liche Hineinwachsen in die artistische Überlegenheit über jede Herausforderung setzt, so sehr ist sie zugleich eine per formative, ja theatralische Größe. Das verrät sich nirgendwo deutlicher als in einer Anekdote über Gorgias: Dieser soll eines Tages in das voll besetzte Theater von Athen gekommen Komplex sophistischerpaide(a als Heranbildung zu uni versaler Könnerschaft vgl. Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde des normalen Lebens, Harnburg 1968, S. xo8-127; zum sophistischen Umgang mit dem Kairos dort S. 82f.
107 Zu dem
454
II Übertreibungsverfahren
sein, bereit, eine beliebige Rede zu improvisieren, und dem
8 Meisterspiele
455
Ich schließe diese Beobachtungen mit dem Hinweis, daß die
Publikum tollkühn zugerufen haben: »Stellt mir irgendein
sophistische Idee der Alleskönnerschaft im 20. Jahrhundert
steht, wer sich klarmacht, daß Gorgias hier zwar äußerst
der von J acques Derrida entwickelten Dekonstruktion. Diese
Thema! « (proballete) 108 Was dieser Auftritt bedeutete, ver selbstbewußt, jedoch in keiner Weise unangemessen agierte,
da er tatsächlich bereit und fähig war, in jeder Lebenslage eine Probe seines pansopruschen und panrhetorischen Könnens
zu geben. Mit einer ähnlichen Geste traten bis zum Ende
des r 8 . Jahrhunderts manche Pianisten vor ihr Publikum,
um wie Sophisten am Klavier über beliebige »Themen« Spon
tandissertationen in Tönen abzufassen - in diesem Sinn war
eine unerwartete Auferstehung erlebt e - und zwar in Gestalt stellt ihrem Grundverfahren zufolge nichts anderes dar als eine Wiederherstellung des sophistischen Allwissens unter der Form des Allkommentars bzw. der immanenten AlJwi
derlegung. Bekanntlich hatte der Schlüssel zur sophistischen
Allwissenheitskunst in dem Kunststück
(mechane)
bestan
den, immer die anderen Redner mit einer These, einer aus
gearbeiteten Rede, ja einer ganzen Theorie in Vorleistung
der junge Mozart einer der großen Sophisten der Musikge
gehen zu lassen und daraufhin die Technik des Widerspre
selbst zurief, sofern er den Zuruf nicht den Librettisten über
auch das Verfahren des Sokrates gewesen. Das antilegein geht
schichte, immerhin einer, der sich seine Themen überwiegend
chens
ließ. Auch Franz Liszt, der Erfinder des Solo-Klavierkon
von der durch die Vorlage schon gesicherten, obschon oft nur
blikum über spontan aufgegriffene Themen zu improvisieren.
mittelbar zur Ebene des Besser-Wissens aufzusteigen. Dieses
zerts (1839), ließ es sich noch nicht nehmen, vor großem Pu Daß bei den Piano-Sophisten das Lernen restlos in die Praxis
(antilegein) einzusetzen - dies war, wie Platon
zeigte,
von ihr geborgten Basis des Gleich-gut-Wissens aus, um un ist immer leicht gewonnen, wenn man bedenkt, wie einfach
des Übens eingebettet sein mußte, ergab sich aus der Natur
der Nachweis unweigerlich vorhandener Schwachstellen im
des von den Sophisten gepflegten pansophischen und pan
Meisterdiskursen quasi mühelos, wenn man an die Selektio
ihres Metiers und der Art seiner Ausübung.109 Was die Magie technischen Habitus angeht, so reichte sie sehr viel weiter,
als man nach Platons Abwehrschlachten gegen die sophisti
Vortext zu führen ist - solche Stellen findet man selbst in nen erinnert, auf denen jede entschiedene These aufbaut. In der Person von Derrida, so scheint es, haben Gorgias, der
sche Herausforderung zu glauben geneigt ist. Es war niemand
Allwissende, und Sokrates, der Allnichtwissende, wieder zu
sten Ehre erwies, indem er mit deren Anspruch, zu allem
phistischer Wissenskunst bzw. eine fortwährend zu übende
ein Nachahmer des Gorgias als Platons. Seinen Tribut an den
aus der Taufe zu beben. Daß eine neue akademische Reaktion
Geringerer als Aristoteles, der den Prätentionen der Sophi
etwas zu sagen, buchstäblich ernst machte - hierin viel eher eigenen Lehrer entrichtete er, indem er den panrhetorischen
sammengefunden, um eine neo-akrobatische Form von so
und nur in der Übung existente philosophistiscbe Sophistik
sich hiergegen zur Wehr setzen wird, ist so gut wie sicher.
durch den panepistemischen Habitus ersetzte.
108 Jbid., $. I 14.
109 Über djc Geschichte
des Klavierabends und seine zunehmende Sterilisierung vgl. Kenneth HamiltOn, After the Golden Age: Romantic Pianism and Modern Performance, Oxford 2007.
Der profane Trainer: Der Mann, der will, daß ich will Von der Figur des noblen Sophisten- die ich aus den angege
benen Gründen näher bei den spirituell-artistischen als bei
n Überueibun!;sverfahrcn
den pragmatischen Lehrern plazieren wollte - ist der Weg zur zweiten Gruppe von Trainern nicht mehr weit. Hier soll in Kürze von solchen Lehrern die Rede sein, die es mit der Weitergabe von spezielleren Techniken und praxisbezogenen Könnenskomplexen zu tun haben. Hierbei mit dem Trainer der Athleten zu beginnen, drängt sich auf, da dieser die prä gnanteste Gestalt auf dem Feld der technisch vermittelbaren Unwahrscheinlichkeiten verkörpert. Wie jeder Trainer prak tiziert auch der des Athleten im Verhältnis zu seinem Schütz ling ein Unterstützungsverfahren, das man am besten als »TechJ1ik der Motivationsverschränkung« beschreiben könn te. Wenn schon jeder Athlet von sich aus eine gute Portion Erfolgswillen mitbringt, obliegt es dem Trainer doch, in die sen Willen einen zweiten Willen einzupflanzen, seinen eige nen, der den ersten steigert und über seine Krisen hinweg trägt. Indem so ein gewollter Wille den wollenden Willen überformt, kann der Athlet zu Höhen der Leistung getragen werden, die sich ohne die Verschränkung der beiden Willen nie hätten erreichen lassen. Im Athletismus liegt somit das ursprüngliche Übungsfeld der gebundenen Spontaneität, auf dem später - unter monotheistischem Vorzeichen - so seltsame Blüten wie die scholastischen Diskussionen über den freien oder unfreien Willen hervorgetrieben werden (de Libero vel servo arbitrio). Auf dem Sportplatz war dieses Pro blem längst gelöst, bevor die Philosophen sich in es verstrick ten. Den Theologen, die das Mysterium des Widerspruchs von menschlicher Freiheit und göttlicher Allmacht durch dringen wollen, indem sie dozieren: wir sollen frei wollen, wovon Gott will, daß wir es wollen, ist in der Regel nicht mehr klar, daß sie Gott hiermit zu einer Nachfolgerfigur des Athletentrainers gemacht haben. Dessen Definition besteht genau darin, daß er will, der Athlet solle wollen, was er, der Trainer, für ihn will.110 Unnötig zu sagen, daß der Athlet • 10 Siehe oben S. 91f.
8 Meisterspiele
457
etwas wollen soll, was zwar nicht ganz unmöglich, aber doch wenig wahrscheinlich ist: eine nie unterbrochene Folge von Siegen.11 1 Notieren wir die sprachgeschichtliche Merkwür digkeit, daß die Titel magister und doctor, die bei den Römern zuerst auf dem Feld der militärischen Exerzitien verwendet wurden (man nannte beispielsweise den Fechtmeister campi doctor), später auf die Trainer der Gladiatoren und der übri gen Zirkuskämpfer übertragen wurden, bevor sie dank einer zweiten Translation ins Akademische übersprangen.
Der Handwerksmeister und die zwei Naturen des Kunstwerks Den zweiten Typus auf dem pragmatischen Feld verkörpert der Handwerker oder, um philosophisch zu reden: der Könner einer beruflich-alltägljchen techne. Könnerschafren dieses Typs sieht man es nach ihrer Routinisierung und Tri vialisierung (auf griechischem Boden gar nach ihrer »Banau sifizierung«) nicht mehr an, daß jede einzelne von ihnen aus einer langsamen kumulativen Revolte gegen die Unbehol fenheit hervorgegangen ist, einem leisen Aufstand gegen die Verlorenheit, Unbemitteltheit und Listlosigkeit, für wel che die Griechen das tiefinnige Wort Amecbanie geprägt hatten - Abwesenheit von mechane, Fehlen von Kunststück und truc, Hebel und Hilfsmittel. Insofern stellt jedes Hand werk ein kollektives und anonymes Gegenstück zu einer der zwölf Arbeiten des Herakles dar, diesen pantechnischen Heldentaten, deren Sinn unmißverständlich darin bestand, zu beweisen, daß es in der Natur des Menschen liegt - im gegebenen Fall des Halbgotts -, mit unlösbar scheinenden Aufgaben fertig zu werden. Darum soll, wer von Handwert 1 t Dem erfolgreichsten Athleten der Antike, Milon von Kroton (ca.
5 5 6 -nach po v. Chr.), gelang es, über ein ViertcljahrhunJcrt, von der 6o. bis zur 67. Olympiade (540-5 12), unbesicgt zu bleiben.
II
Übenreibungsverfahren
kern nichts wissen will, auch von den Heldeo schweigen. Unter dem Gesichtspunkt des Etwas-Tun-Könnens gehören die Helden, die Handwerker und schließlich auch die Poli tiker viel enger zusammen, als die zumeist aristokratisch verkanteten Handlungslehren alteuropäischen Typs zu er kennen vermochten - sogar Harrnah Arendts ansonsten in jeder Hinsicht bewundernswertes Buch The Human Condi tion, zu deutsch: Vita activa, 195 7lt958, zollte den überlie ferten Verzerrungen einen viel zu hohen Tribut, indem es das Macben und erst recht das bloße Arbeiten ziemlich kraß gegenüber dem Handeln, sprich dem politischen Auftreten der Menschen, mit weitem Abstand in die zweite und dritte Reihe rückte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur als eine akademi sche, sondern als eine geistesgeschiehtliebe Großtat zu be zeichnen, wenn Richard Sennett jüngst den Versuch unter nahm, die Handwerke (crafts) aus ihrer Mißachtung durch die philosophische Theorie zu befreien und diesen unbeach teten Grundgrößen den ihnen gebührenden Rang unter den 1 12 Das Prinzip Phänomenen der vita activa zurückzugeben. Handwerk gründet i n der Koinzidenz von Herstellen und Üben - dies endlich wieder erkannt zu haben macht die Be deutsarnkeit von Sennetts Vorstoß auf aktivitätstheoretischem Gebiet aus. Wer die Handwerke verteidigt, nimmt eo ipso das repetitive Lernen mitsamt seiner Langsamkeit und seiner Ori ginalitätsferne in Schutz. Eine solche Geste setzt voraus, daß man der in der Moderne verleumdeten Wiederholung ein neues Ehrenzeugnis ausstellt. Wer dies versucht, muß die Ver einbarkeit zwischen dem Repetitiv-Mechanischen und dem Persönlich-Spontanen nachweisen - ein Unternehmen, das geradewegs auf das Lob der individuell verkörperten Ge dächtnisse hinausläuft, mithin aufdas, was man mit Nierzsehe 112
Richard Sennen, Handwerk, München zoo8, englisch: The Crafrsman, New Haven und London 2008.
8
Meisterspiele
45 9
»Einverleibung<< oder mit Ravaisson das System der erwor benen Fähigkeiten nennen kann. Daß die Meister nicht vom Himmel fallen, weiß jeder, der sich an das Curriculum der älteren Handwerksberufe erin nert. Nach diesem muß ein Lehrling zunächst mindestens sieben Jahre in die Handgriffe seines Metiers initiiert werden, bevor er sein Gesellenstück vorlegen darf. Danach vervoll kommnet sich der Geselle weitere fünf bis zehn Jahre in seiner Kunst, und erst nach zwölf- bis achtzehnjähiger Lehr und Übungszeit kann er an die Herstellung eines Meister stücks denken. Um ein tüchtiger Handwerker oder ein pas sabler Musiker zu werden, sind einer alten Faustregel zufolge mindestens zehntausend Stunden übender »Praxis« vonnö 113 zieht man höhere Grade meisterlichen Könnens in ten; Betracht, darf man die Zahl getrost verdoppeln, ja verdrei fachen. Was man Genie nannte, war bis vor kurzem nichts anderes als ein Hinweis auf Fälle von spektakulärer Abkür zung der durchschnittlichen Übungszeiten - man denke an die musikalischen Wunderkinder, ohne die sich die Musik geschichte der letzten dreihundert Jahre kaum denken ließe. Schließlich hat eine genieästhetische Pest ganze Populationen von Künstlern befallen, die alles andere als Wunderkinder sind und doch das Abkürzen bis zum völligen Weglassen der Übung vorantreiben wollen. Das Phänomen der handwerklieben Meisterschaft besitzt eine paradigmatische Bedeutung für das Verständnis der anti ken wie der neuzeitlichen vita activa, weil mit ihr die Ver alitäglichung des artistischen Mirabile beginnt. Ob es um den Schiffsbau geht - eine Disziplin, die Platon gern in seine Erörterungen über das Wesen der techne einflicht - oder um Chirurgie oder Töpferei oder Goldschmiedekunst (an letzterer findet Sennett als Kritiker der modernen Fragmen tierung der Fähigkeiten und der Demoralisierung bloßer JobI I3
Ibid., s.
3J.
ll
Übertreibungsverfahren
Arbeit ein ganz besonderes Gefallen 1 1 4) -, in jedem Fall sind die hiermit befaßten Handwerker Erzeuger von Artifizien, die den Kreis der natürlichen Dinge mehr oder weniger auf fällig überschreiten. Diese »Kunststücke« haben aufgrund ihres typisierten, seriellen und alltäglichen Charakters zu meist aufgehört, Gegenstand von Bewunderung zu sein, ohne daß deswegen ihre Herstellung aufhören könnte, ein gutes Maß an Übung, Erfahrung, Sorgfalt und Wachheit zu erfor dern. Diese Tatigkeit auf dem Feld einer anonymisieneo und degradierten Artifizialität liefert die idealen Voraussetzungen für die Entstehung eines Typs von Herstellung, der genau auf der Grenze zwischen Fabrikation und Meditation angesiedelt ist. Er stimuliert ein übendes Arbeiten, bei dem der Agent im selben Maß seine eigene Kompetenz, ebendiese Tatigkeit aus zuüben, reproduziert und erweitert, wie er sich in die Her stellung des Objekts oder die Bewirkung des Effekts ver tieft. 1 1 5 Hierdurch wird begreiflich, wieso aus jeder gewissenhaft ausgeführten handwerklichen Arbeit ein spiritueller Mehr wert entstehen kann. Wenn sich in den spätmittelalterlichen Städten Europas eine massive Bewegung der Laienreligiosität entwickelte, die in der devotio moderna des 14· Jahrhunderts und in der Reformation des frühen r6. Jahrhunderes kulmi nieren sollte, so hatte das kaum etwas mit der vorgeblichen Affinität zwischen Kapitalismus und Protestantismus zu tun, 114 115
lbid., s. 79-102. Diese auf den Übend-Herstellenden rückwirkende Funktion des »handwerklichen« und fabrikarbeiterliehen Tuns hatte schon Lu cicn Seve in seinen Studien zu einer marxistischen Pcrsönlich keitstheorie erfaßt, obschon er sie durch eine einseitige produk rivisrische Terminologie praktisch unkenntlich machte. L. S., Marxisme er theorie dc La personnalire, Paris 1969, deutsch: Mar xismus und Theorie der Persönlichkeit, Frankfurt am Main 1973; hierin auch bemerkenswerte Anregungen zu einer Theorie des subjektiven Kapitals und der »wachsenden organischen Zusam mensetzung der Persönlichkeit«.
8 Meisterspiele von der Max Weber in seiner bekannten Studie zuviel Auf hebens gemacht hatte, sondern viel mehr mit den schlagenden Analogien zwischen den klösterlichen Exerzitien und den in den Werkstätten beheimateten Übungen: Aus dem übenden Arbeiten der Handwerke- das Pariser Livre des metiers zähl te im Jahr 1268 bereits über einhundert zünftig verfaßte ar tisanale »Berufe<< auf116 - mußte ein Persönlichkeitstypus hervorgehen, der sich seiner potentiellen spirituellen Eben bürtigkeit mit den Berufsklerikalen zunehmend bewußt wur de. Wie für die Mehrzahl der Mönche seit langem das ora et labora gegolten hatte, so legte sich den weltlichen Brüdern des anisanalen Lebens das zeitgemäßere labora et ora drin gend nahe. Auch sind direkte Übergänge einzelner Handwer ker von Klosterwerkstätten zu städtischen Werkstätten viel fach belegt, so daß der Transfer des spirituellen Habitus, die Selbstformung des Handelnden im regelmäßigen achtsamen Tun, auf die handwerklichen Milieus hier und da sogar auf dem kürzesten Weg nachvollzogen werden kann. In diesem Sinn sind die Werkstätten nicht bloß die Orte, wo gediegenes »Zeug« ins Dasein gerufen wird, sie sind zugleich Pflanzstät ten einer zwischen Produktion und Kontemplation schwe benden Subjektivitätsform und Prägestöcke selbstgewiß frommer Singularitäten. Gelegendich springt dieser Funke ins religiöse Feld zurück, wie bei den britischen Methodisten, die das Handwerk des gläubigen Enthusiasmus auf die eigene Psyche anwandten. 1 1 7 Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zur Sezession der Künste von den Handwerken-jenem größten aktivitätstheo retisch relevanten Schauspiel der Neuzeit vor dem Einsetzen des einzigen noch größeren Dramas: der Auskristallisierung der modernen »Arbeit überhaupt, Arbeitsansphrase<<, mithin jener Arbeit ohne Eigenschaften, in welcher Marx die sy-
1 1 6 Sennctt, Handwerk, a. a. 0., S. 8z. 1 17 Vgl. Roben E. Cushman, John Wesley's Experimental Divinity. Studies in Methodist Doctrinal Standards, Naslwille, Tenn. 1989.
n
Übenreibungsverfahren
stemische Definition der proletarischen Kondition als schein freier Selbstverkauf der allseitig disponiblen »Ware Arbeits kraft<< gefunden hat. 118 Wie alle Sezessionen steht auch diese im Dienst einer gesteigerten Subjektivierung, im gegebenen Fall: der Aufstockung des Handwerkerkönnens zum Künst lerkönnen. Was die Kunst vom Handwerk unterscheidet, ist ihre Entschlossenheit, das Kunstkönnen als solches im Werkslück (opus) zur Schau zu stellen. Sennett hat diesen Sprung vom einfachen Gebrauchsgegenstand in die werk narzißtische Dimension anhand von Benvenuto Cellinis be rühmtem, für Fran�ois I in mehr als dreijähriger Arbeit her gestelltem Salzfaß (der Wiener Saliera, r 5 40-1 5 4 3) illustriert. Solche Objekte dulden keinen alltäglichen Gebrauch mehr, sie beugen den Benutzer unter den ihnen eingeformten Zwang zur Bewunderung. Es hat langwierige dogmatische Streitigkeiten gekostet, bis die zwei Naturen des Kunstwerks mit der angemessenen Klarheit statuiert waren: ganz Handwerk und ganz Mirabile. Mit der einen Seite bleibt jedes Werk durch und durch ein Geschöpf des Metiers, mit der anderen bezeugt es den Ein bruch des Überhandwerklichen in die Werkstatt. Die beiden Naturen bestehen unvermischt nebeneinander und werden mit verschiedenen Rezeptionsvermögen erkannt. An diese Doppelbestimmung sind aJI die Aufwertungen des Meister status wie auch des Meisterwerkbegriffs geknüpft, die seit der Renaissance die Reden über Kunsl und Künstler animieren. So wie die Kunst die Wiedereroberung des Wunderbaren von den Werkstätten aus bedeutet, so impliziert das Künstlerrum 1 1 8 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie
(zuerst 1 8 57!J8s8), Wien o. ] .. S. 2 5 . Marx betont io diesem
Zusammenhang und an derselben Stelle, es sei ein »verteufelter Unterschied•, ob unzivilisierte russische Sklaven alles mit sich
machen lassen, •oder ob Zivilisierte (z. B. Amerikaner, P. SI.) sich selbst zu allem verwenden«. Das ist der Unterschied, zu dessen Durchleuchtung man Marx zufolgc die ganze Entwicklung der abstrakten Arbeit im Kapitalsystem verstanden haben muß.
8
Meisterspiele
die Wiederherstellung der schöpferischen, quasi göttlichen Kompetenz innerhalb der Werkstatt - mit der Nebenwir kung, daß Europäer seit fast einem halben Jahrtausend einer ständigen inneren Mission durch Kreativitätstheologen und ihre kritischen Diakone ausgesetzt sind, freilich auch einer etwas später einsetzenden arianischen1 19 bzw. humani stisch-materialistischen Gegenmission, nach welcher sogar die größten Kunstwerke nur höhere Produkte, sprich Vortäu schungen von Höherem seien, und die größten Künstler auch bloß Menschen.
Professoren, Lehrer, Schriftsteller Ich schließe diese Übersicht mit einem summarischen Hin weis auf die drei übrigen Typen pragmatischer Lehrbefugnis, die Professoren der Universitäten, die Lehrer an den Grund schulen und höheren Schulen der modernen Nationen sowie die Aufklärungsschriftsteller bzw. die politisch-kulturell en gagierten Journalisten: Aus historischer Sicht sind diese Lehr und Redebefugten zu guten Teilen in ein Drama involviert, das man als die progressive Selbstaufhebung des Bildungs privilegs oder die Demokratisierung der Eljten beschreiben könnte. In einem über mehrere Jahrhunderte zerdehnten Prozeß haben sich viele von ihnen - nie, ohne daß gegen läufige Tendenzen den Gang der Entwicklung verkompliziert und umgebogen hätten - mit zunehmender Explizitheit dem Vorsatz verschrieben, den Trainer durch das Training über flüssig zu machen. Sie stärken die Tendenz zur Depersonali1 1 9 Die Doktrin des alexandrinischen Presbyter Arius (ca. 260-336) wurde auf dem Konzil von Nicäa 325 als häretisch verworfen; sie behauptete die Ges�haHenh.eit Christi und seine Unterorduung unter Gott Vater; hteraus Jetteten manche Nachfolger die These von der rein menschlichen, obschon illuminierten Natur Christi
ab.
II
Übenreibungsverfahren
sieruog der ertüchtigenden Übungen, indem sie den Akzent von der Person des Lehrers auf das Lernfeld (die Fakultät, die Schule, die Presse) verschieben - eine Tendenz, die seit dem Aufkommen der lnternet-Communities, in denen das Phä nomen sich heute am prägnantesten darstellt, auch rück wirkend als eine schon im Gutenbergzeitalter, ja sogar im Handscluiftenzeitalter, latente Möglichkeit besser erkennbar wird. Blickt man auf die Figur des alteuropäischen Professors zurück, so springt sofort ins Auge, in welchem Maß dieser seit jeher nur eine Charaktermaske seines Fachs sein sollte und wollte und wie wenig von ihm anfangs ein Originalbei trag zur Voranbringung seiner Wissenschaft erwartet wurde. Ein origineller Professor war bis vor kurzem eine contradictio in adiecto - und isr es eigentlich noch heute, nur haben die Kontradiktionen heute etwas bessere Lebensbedingungen, zu mal in den Geisteswissenschaften, wo die Lehrenden nicht nur professoral, sondern auch in Grenzen bekennend und expressiv reden dürfen. Schon der Name Professor indiziert seine Berufung zur Wiedergabe und Weitergabe dessen, was jeweils der Stand der Kunst verlangte, und wenn der Träger eines solchen Titels den staalichen Ehrensold bezog, dann in Würdigung der energischen Unoriginalität, mit welcher er sein Fach als ganzes zu referieren wußte. Die Professoren gehören einer Ökonomie des ordi11ierten säkularen Wissens an, in welcher der strikte Primat des Lehrstuhls vor seinem Inhaber gilt, so wie auf der nächsthöheren Ebene der Vorrang der Fakultät vor dem Lehrstuhl nie in Frage steht. Die Fakul tät ist das unpersönliche Selbst einer Disziplin, indessen die einzelnen Professoren de facto und de iure nur als Personifi kationen eines längst überpersönlich institutionalisierten Lehr- und Lernprozesses fungieren. Blicken die Lehrstuhlin haber auf zwanzig- bis dreißigjährige Qualifikationsprozesse zurück, liegen sie im Durchchnitt ihrer Disziplin. In ihrer. Gesamtheit bilden sie ein Kollektivsubjekt, das man am Be-
8 Meisterspiele
ginn der Neuzeit nicht ohne Grund mit dem Titel res publica litteraria alias Gelehrtenrepublik belegte. 120 Sollte man erklä ren, worin deren Aufgabe besteht, müßte man zuerst auf die erweiterte Reproduktion der kognitiven Kapitale verweisen, mit der das akademische Leben befaßt ist. Vielleicht noch nachdrücklicher wäre davon zu reden, daß diese res pMblica letztlich einen kryptoplatonischen politischen Körper dar stellte: die Ersetzung der simplen Pyramide »Philosophen königtum« durch den komplexen Vielflächer »Philosophen republik«. Jenes wollte eine Stadt lenken, die mittels einer abgeschlossenen Prinzipienwissenschaft vor dem Hincer grund einer statischen Natur regierbar wäre; diese hat es mit der Selbstverwaltung eines Gemeinwesens zu tun, das sowohl in bezug auf die Prinzipien wie in bezug auf die Natur einer unabsehbaren Dynamisierung ausgesetzt ist. Ist man bereit, die Fakultät, die Universität, die Gelehr tenrepublik als Kollektivierungen, Anonym.isierungen und Perfekcionierungen der Meisterfunktion zu verstehen - und das heißt über die »Aufklärung« höher urteilen, als sie ge wöhnlich über sich selbst urteilt-, dann darf man auch über die beiden nächsten Stufen der pragmatischen Trainer funktionen, die der Lehrer sowie die der Schriftsteller und Journalisten, analoge Aussagen treffen. Sie tragen den Er tüchtigungsprozeß, auf dem die res publica der Wissenden beruht, zu den jeweils breiteren Ebenen weirer, zuerst in den Klassenzimmern, aus denen die alphabetisierten Urreils und Handlungsfähigen von morgen kommen werden, sodann in den Publikumsmedien, die der Gesellschaft der Wissenden von heute zu ihrer Selbstverständigung dienen. In dieser Siehe sind die Lehrer Charaktermasken des Systems Schule, so wie die Journalisten Personifikationen der Presse sind - auch sie dienten also, wenn sie sich so verstehen wollten, einer posi120
Res publ ica ljneraria: Die lnstirutionen der Gelehrsamkeit der frühen Neuzeit, hg. von Sebastian Neumcister, 2 Bde., Wiesbaden 1987.
II Übenreibungsverfahren
tiven Kollektivierungsdynamik, die auf »die Gesellschaft« im ganzen ein Merkmal auszudehnen bestrebt wäre, von dem man lange hat glauben wolJen, es könne nur wenigen Einzel nen zukommen: das der Meisterschaft, ob sie nun die Bewälti gung einer sachlichen Aufgabe oder die Kunst der Lebensfüh rung überhaupt bezeichnet. Doch solange die Kollektivierung der Meisterschaft - philosophisch: die Selbstbestimmung der »Gesellschaft« (als ob »Gesellschaft« ein Selbst besitzen könnte) - auf sich warten läßt, tun die Einzelnen gut daran, weiterhin so zu üben, als wären sie die ersten, die ans Ziel kommen.
9 TRAINERWECHSEL U N D REVOLUTION
Ü BER K oNVERSIONEN UND OPPORTUNISTISCHE K EHREN
Umwendungskunde Zum Abschluß dieser Untersuchung zur Struktur der ortho doxen Rückzüge ins übende und artistisch gesteigerte Leben möchte ich noch einen kurzen Blick auf ein Phänomen wer fen, ohne welches die asketischen Radikalismen, die hier zur Sprache kommen, unverständlich blieben - ich meine jene Momente der existentiellen Verdichtung, Sammlung und Umwendung, die man in religionsgeschichtlicher Sicht die Bekehrungen nennt. Es dürfte klargeworden sein, daß es sich hierbei keineswegs bloß um ••religiöse« Erscheinungen han deln kann. Sie gehören vielmehr zum Gesamtbestand des as ketischen Verhaltens aus der rezessiven Position - das heißt aus der Haltung, die sich in Antwort auf den absoluten Im perativ entwickelt. Den »religiösen« Anschein erwecken sie durch die Verknüpfung des übenden bzw. radikalethischen Verhaltens mit den Sprachspielen des Opfers, gleichgültig ob man diese als äußere oder innere vollzieht. Die Opfer der ersten Art werden von alters her mit Blut und Feuer erbracht, die der zweiten als Willensverzicht und Wunschver 121 Wahrend das Opferdenken den symbolischen wandlung. Code für Operationen des gewalthaften Austauschs bereitr21 Die ersten Opfer gehören zum Universum der älteren Gleichge
wichtsreligionen, die �theokosmische« Balancierungen bewirken
möchten; in ihnen ist das Weltganze zugleich das erste Immun
system - daher stammt das kaum unterdrückbare Interesse der
»wcltkindlichen« Menschen an einer »heilen Welt«; die zweiten
n
Übenreibungsverfahren
stellt, liefert das übende Leben als solches die Basis zu allen Zivilisierungen, insbesondere denen, die auf den verinner lichten Formen des Opfers beruhen. Im folgenden werfe ich einen zweiten Blick auf die Vorgänge, die ich unter den Begriffen Sezession und Rezession, Abset zung von der Mitwelt und Rückzug in sich, beschrieben habe. Bei näherem Umgang mit den Phänomenen zeigt sich nun, daß diese Ausdrücke zur Kennzeichnung der ersten ethischen Bewegung nicht ausreichen. Die Vorsprecher der großen as ketischen Zäsur haben sich nie damit begnügt, ihr Verhalten bloß als Distanzierung, als Zurücktreten (epoche) ans Ufer der Beobachtung oder als Ausweichen vor dem Realen zu benennen, obschon es in ihren Selbstaussagen an Ausdrücken dieser Tendenz nicht fehlt - man denkt an weit verbreitete Distanzierungsmetaphern wie Weltflucht (juga mundi), Flucht aus der Zeit (fttga saeculi), Leidenschaftslosigkeit (aptitheia), Loslösung (vairagya) oder Zuflucht zum Dhar ma-Pfad. Das letzte große Distanzsymbol dieses Typs ist der »Engel der Geschichte« in Walter Benjamins Auslegung, der vor der Flut des Unheils Schritt fürSchritt zurückweicht, den Blick fassungslos auf die Weltszene geheftet. Worum es den entschiedensten Sezessionären zu tun ist, meint nicht bloß einen faszinierten Rückzug von einer nicht mehr zurTeilhabe einJadenden WLrklichkeit, sondern eine vollständige Um wendung - eine Abwendung vom vordergründig Gegebenen, die mit der Hinwendung zum Besseren, zum Wahren und höherstufigen Wirklichen identisch wäre. reclncn zum System der Ungleichgewichtsrcligionen, die zur � Pre1sgabe der unheilen Welt um des Seelenheils willcn aufrufen· in ihnen schließt die Zuflucht der Seele zu Gott die höchst� lmmunallianz; �iese Tbeozentriker und ihre Nachfolger, die . Agenten des •kntJschen Bewußtseins«, erkennt man nicht zuletzt daran, daß sie alles tun, um die bloße Idee einer »heilen Welt« lächerlich zu machen.
9
Trainerwechsf'l und Revolution
Was ich skizzieren möchte, kann nicht mehr sein als eine kleine Vorstudie zu der allgemeinen Wendungskunde, die mit den älteren Radikalismen des übenden Lebens untrenn bar verbunden war. Diese Lehre von der philosophischen und asketischen Konversion gibt den sezessionären und rezessi ven Operationen erst Gegenstand und Richtung vor, und ich verrate kein Geheimnis, wenn ich hinzufüge, daß selbst die modernen Revolutionslehren noch immer die ferneren De rivate ältester Aussagen über heilsame Kehren und rettende Richtungsänderungen darstellen. Es gibt hiernach eine Bewe gung aller Bewegungen, ohne die sich der Begriff Wahrheit, dieser Denktradition zufolge, nicht angemessen konzipieren 122 läßt. Von dieser Bewegung, die nicht nur Rückzug, sondern Drehung ist, hat in der altabendländischen Tradition Platon zuerst Rechenschaft gegeben. Die kritische Bewegung er scheint bei ihm zunächst als ein rein kognitiver Akt, der von der korrupten sinnlichen Welt zur inkorruptiblen geisti gen Welt führen soll. Zu seiner Ausführung ist eine Wende des Gesichtsinns aus dem Dunklen ins Helle vonnöten, eine Wende, die aber »nicht anders als mit dem gesamten Leibe zugleich« (h6lo to s6mati) geschehen kann.123 Damit ist das Motiv der integralen Wende erstmals expressis verbis hinge schrieben. In analoger Weise muß man mit der »ganzen Seele« (hole te psyche) vom Hinschauen auf das Werdende »abge führt« (Schleiermachers Aussdruck) werden, bis man gelernt hat, allein auf das immer Seiende zu achten und unter diesem das Glänzendste (phan6taton) zu bevorzugen und auszuhal ten: die Sonne des Guten. Unnötig zu sagen, daß die »gewen dete« Seele den ganzen Menschen in ihre subtile Bewegung mitnimmt. Diese Reorientierung der Blick- und Daseinsrich1 z2
1 z3
Vgl. P. SI., Abs �urz und K�hre. Rede über Heideggers Denken in der Bewegung, m: ders., N1chr geretret. Versuche nach Heidegge[' Frankfurt am Main 2001, S. 12-81. Politeia (Übersetzung Schleiermachcr), 5 18b.
47°
ll Übenreibungsverfahren
tung soll nu1.1 aber nicht zufällig und einmalig geschehen, sondern zu einer förmlichen »Kunst der Umlenkung« (techne periagoges)124 bzw. einer Asketik der existentiellen Gesamt umkehr ausgebildet werden. Diese beruht auf der Annahme, die Umzulenkenden brächten zwar den Erkenntnisapparat bereits vollständig mit, dieser sei jedoch bisher »nicht recht gestellt« und blicke aufgrund eines uralten Haltungsfehlers zunächst und zumeist in die falsche Richtung. Der Philosoph kennt sich hiermit aufgrund eigener Erfahrung aus, weil er den Höhlenausgang entdeckt hat. Er versteht, was es heißt, sich umgedreht zu haben und draußen gewesen zu sein. Was ihm selbst gelungen ist, sollte, wie er meint, den Mitmenschen nicht unmöglich sein. Nie ist er, der erste Orthopäde des Geistes, großzügiger und weltfremder, als wenn er hierin von sich auf andere schließt.
Alle Erziehung st i Konversion Die Konsequenzen aus diesen scheinbar harmlosen Überle gungen sind buchstäblich ungeheuerlich. Sie stellen nicht we niger dar als die erste Skizze einer Subversionslehre, der zu folge die Pädagogik more platonico geradezu als integrale Revolutionswissenschaft zu definieren ist. Die Lehrbefugnis auf diesem Feld wird erworben, indem zuerst ein einzelner Pionier der neuen Sehweise sich aus der Kollektivhöhle den Weg ins Freie bahnt und sich danach - fürs erste unvermeid lich widerwillig, sich selbst überwindend - bereitfindet, wie der zu den falsch Eingestellten im Schattenkino hinunterzu steigen, um auch ihnen den Zugang zu den Befreiungen zu erläutern. [n diesem Sinn ist die platonische Pädagogik eine reine Konversionskunst - revolutionäre Orthopädie. Nur weil der Philosoph selbst schon ein »Konvertit«, ein Umge124
Politcia, 518c.
9 Trainerwechsel und Revolution
471
drehrer ist, und zwar der erste seiner Art, kann er sich die Aufgabe zu eigen machen, die Umdrehung an andere weiter zugeben. Bliebe er nur ein Erleuchteter auf eigene Rechnung, könnte er sich in seinem Privatglück sonnen. Wird er von der Sorge um den Staat ergriffen, muß er vom Privatismus abrücken und seine Erleuchtung mit den Vielen zu teilen suchen. Pierre Hadot bringt den Überschuß, der aus der radikalen Umwendung fließt, gelassen auf den Punkt: >>Alle Erziehung ist Konversion.« 125 Man muß hinzufügen: Alle Konversion ist Subversion. In der Anleitung zu dieser Bewegung liegt ein unausschöpfliches »revolutionäres« Potential, zumindest so lange sie sich nicht mit der individuellen Umkehrung zu friedengibt. Sie mußte anfangs j a - aufgrund des strikten Parallelismus zwischen Psyche und Polis - stets die Univer salisierung der Drehung im Sinn haben und virtuell alle Mit glieder der zu reformierenden Kommune in die andere An der Lebensführung einbeziehen wollen. Erst die späteren PhilosophenschuJen, die Stoiker, die Epikuräer und die Neu platoniker, haben den Privatunterricht in den Vordergrund gerückt. Für sie wurde es Zeichen von Weisheit, sich mit der Bekehrung der Einzelnen zu begnügen und die unver besserlichen Vielen verloren zu geben - weswegen es ihnen zufolge keine Weisheit gibt ohne Resignation und keine Resignation ohne eine gewisse Einwilligung in die »Grau samkeit des Lebens<<. Sie ließen den Plan fallen, die See.len und den Staat zugleich reformieren zu wollen- nicht nur weil sie an den Parallelismus zwischen den beiden Größen nicht mehr glauben wollten, sondern auch, weil sie begannen, im Staat das kalte Ungeheuer zu erkennen, das nach ihrer Überzeugung unmöglich das gültige Analogon der Seele sein kann. 125
Pierre Hadot, Conversion, in: ders., Phi losophie anrique ct excr cises spirituels, a. a. 0., S. 176.
4]2
I I Übenreibungsverfahren
Der individualistische Rücktritt von dem platonischen Überschwang, diesem Zuviel an Bekehrungswillen, dem die Neuzeit das Prädikat »utopisch« verleihen sollte, geschah zu seiner Zeit nicht ohne gute Gründe. Tatsächlich war mit der Lehre von derperiagoge, der Umdrehung der Seele (die später häufiger mit dem Ausdruck epistrophe verknüpft wurde), ei ne erste explizite Fassung des absoluten Imperativs: »Du mußt dein Leben ändern!<< aufgetreten, gefaßt in die Auffor derung, sich mit dem ganzen Wesen nach der geistigen Seite umzudrehen. Dieser Imperativ wurde zuerst in einer holisti schen Variante abgefaßt, die zu zahlreichen schwerwiegenden Mißverständnissen Anlaß gab. In ihrer Tiefenstruktur war die platonische Ethik des Lernens an der Wahrheitssonne noch immer eine okkultierte Opfertheorie geblieben - hierin den gleichzeitigen asiatischen Askesesystemen verwandt -, da sich die Umwendung der Seele letztlich nur als Preisgabe des Besonderen zugunsren des Allgemeinen bestimmen ließ. 126 Daraus ergab sich, daß in dieser Fassung des absoluten Imperativs zwei profunde Mißverständlichkeiten zum Tra gen kamen: Die erste betraf das Verbum, sofern »ändern<< hier soviel wie »sich dem Allgemeinen opfern« bedeutete, die zweite das Possessivpronomen, insofern dem Adepten insge heim das Eigentum an »seinem« Leben abgesprochen wurde, um es an das noch zu erzeugende wahre Ganze zu übereig nen. Du bist um des Ganzen willen in der Welt und nicht das Ganze um deinetwillen, lautet die entsprechende Ermahnung in Platons Nomoi. »Wir gehören nicht uns selbst<<, heißt es bis heute in Traditionen dieses Typs. Hier entspringen die an thropotechnischen Tendenzen, die den absoluten Imperativ pervertieren, indem sie »das Leben« lesen, wo es »dein Le-
u6 Vgl. P. SI., Sphären III, Schäume. Plurale Sphärologie Frankfurt am Main 2004, S. 261ff.: »Nicht Vertrag nicht Gewächs. Annä herung an die Raum-Vielheiten, die bedauerlicherweise Gesell schaften genannt werden«; Argumente zu einer Kritik des polüi schen Holismus bcs. S. 277f. ,
,
9 Trainerwechsel und Revolurion
473
ben<< heißt - freilich besitzt der Ausdruck »das Leben« hier, auf antikem Boden, eher noch politische als biowissenschaft liche Bedeutungen. Demgegenüber waren die unpolitischen spirituellen Systeme der späteren Antike allemal im Recht, wenn sie darauf beharrten, die Einzelnen als Einzelne ernst z u nehmen. Nur deswegen war ihnen daran gelegen, sie in das Handwerk des Lebens, die Sorge um sich selbst, lege artis einzuführen. Sie heben - einem antiken Vorgriff auf die mo derne Beschränkung des Verhaftungsrechts (den Habeas Cor pus Amendment Act von 1679) vergleichbar - die Veifallen heit des Einzelnen an das Ganze auf und statuieren den unab tretbaren Anspruch des Individuums auf die eigenmächtige Führung seines Lebens, sollten sie auch als Häftlinge der Realität gewisse Einbußen an ihren FreiheitSrechten hinneh men müssen. Es wird anderthalb Jahrtausende dauern, bis mit dem holisti schen Putsch des christlich-nachchristlieben Neoplatonikers Hegel und seines materialistischen Gefolges die Idee der All Konversion wieder auf die Agenda der Moderne zurückkehr te und die bekannten Folgen zeitigte - überwiegend blutige Folgen, die summa summarum auf die Amalgamierung der graeco-germanischen Befreiungsphilosophie mit den Ideen der Französischen Revolution zurückgehen. Ich werde im 1 1 . Kapitel zeigen, wie dieses Amalgam zu einer Anthropo technik führte, mit deren Hilfe der Neue Mensch erzeugt werden sollte, diesmal als Geschöpf einer politischen Kon version, die den Umbau der Körper nicht ausschloß - be denklicberweise noch immer auf der Linie der holistischen >>Gesellschafts<
474
IJ
Übenreibungsverfahren
9 Trainerwechsel und Revolution
475
eine wesentliche Variante, indem dort betont wird, die Be
Die Katastrophe vor Damaskus
gleiter seien sprachlos dabeigestanden, weil sie zwar die Stim
In der Zwischenzeit war das Motiv der Umkehrung - das
m e hörten, jedoch niemanden sahen (Apg 9,
7).
Im Blick auf diese Erzählung ist evident: Von den sublimen
anfangs vor allem eine Domäne der politischen Theorie und
platonischen Erwägungen über die Umwendung der Seele
der philosophischen Lebenskunst gewesen war - durch reli
und ihre Herausführung aus der Höhle der sinnlichen Kol
giöse Interpretationen monopolisiert worden. Deren Para
lektivillusionen sind wir hier bereits Lichtjahre entfernt. Kei
digma liefert die unzählige Male kommentierte Bekehrung
ne Rede mehr von den Sorgen des griechischen Rationalismus
des Paulus auf dem Weg nach Damaskus. Die Erzählung
um die Wende zur Wahrheitssonne. Das Liebt, das den Eife
von diesem Einschnitt ist in der Apostelgeschichte zweimal
rer auf dem Weg nach Damaskus blendet, ist ein Gemenge aus
überliefert, einmal in autobiographischer Form als Element
Mittagsdämon und Halluzination. Die Geschichte spielt be
der Verteidigungsrede des Paulus vor den Juden in Jerusalem (Apg 22), ein anderes Mal in der dritten Person (Apg
9).
In
reits ganz auf dem Boden eines magischen Weltbilds (Speng ler ordnete es sogar dem Stimmungsraum der »arabischen
beiden Fassungen wird hervorgehoben, Paulus sei durch das
Kulturseele« zu), dessen Atmosphäre von Apokalypsebereit
Ereignis auf dem Weg nach Damaskus »umgedreht« worden
schaft, Erlösungspanik und einer wundersüchtig supranatu
und habe sich von einem Verfolger der Christen zu einem Verkünder des Christentums gewandelt. In der personalisier
ralistischen Hermeneutik geprägt ist. Vor allem verrät sich in ihr der Geist eines nach allen Seiten aufbruchsbereiten Eiferertums, dem es fast gleichgültig zu sein scheint, ob es
ten Version lautet die Geschichte wie folgt: »Als ich nun unterwegs war (um Anhänger der neuen Lehre zu verhaften) und mjch Damaskus näherte, da geschah es, daß mich um die Mittagszeit plötzlich
sich in die eine oder die andere Richtung erhitzt. Vor den Hintergrund des philosophischen Begriffs von conversio oder epistrophe gesetzt, handelt es sich bei dem Erlebnis des Paulus
Ich
in keiner Weise um eine Bekenruog, mit der sich sein persön
stürzte zu Boden und hörte eine Stimme zu mir sagen:
licher Habitus von Grund auf geändert hätte. Auch ging es
Saul, Saul, warum verfolgst du mich? 8 Ich antwortete:
keinen Augenblick um Erkennntis, sondern um die Begeg
vom Himmel her ein helles Licht umstrahlte.
7
Wer bist du, Herr? Er sagte zu mir: Ich bin Jesus, der
nung mit einer göttlichen Stimme, die keine Scheu kennt, sich
Nazaräer, den du verfolgst. 9 Meine Begleiter sahen
diesseitig zu manifestieren. Aufs Ganze gesehen bedeutet das,
zwar das Licht, die Stimme dessen aber, der zu mir
was Paulus widerfuhr, nicht mehr als die »Reprogrammie
sprach, hörten sie nicht. ro Ich sagte: Herr, was soll
ich tun? Der Herr antwortete: Steh auf und geh nach «127 Damaskus, dort wird dir alles gesagt werden . . .
rung« eines Zeloten im präzisen Sinn des Wons. D�:r Aus druck ist gerechtfertigt, insofern das »Betriebssystem« der paulinischen Persönlichkeit nach dem erlebten Umschwung
Oie Erzählung derselben Geschichte in der dritten Person,
mehr oder weniger unverändert weiterverwendet werden
die sich am Anfang der acta apostolorum findet, enthält nur
konnte, nun jedoch für eine außerordentliche theologische Kreativität freigesetzt.
127 Zitiert nach: NeueJerusalemer Bibel, Frciburg/Basei/Wien, 198 5, s.
•597·
Die Bekehrung des Paulus gehört also in eine ganz andere Kategorie von »Drehungen«, die nicht einen ethisch-»revo-
Il Übenreibungsverfahren
lutionären«, sondern einen apostolisch-eifernden Charakter aufweisen. Hierfür bietet die theologische Tradition den Ter minus metanoia an, den man seiner allgemeinen Tendenz nach am ehesten mit »Gesinnungswandel«, in seiner christ. 128 .. · >>Buße« w1. ederzugeben harte liehen Zuspttzung m1t Aus . psychodynamischer Sicht gehört der Ausdruck ins Kraftfeld der inneren Sammlung, wie sie vor oder nach großen Ereig nissen am Platz scheint - sei es nach einer persönlichen oder politischen Niederlage, die zur Überprüfung des Decorums, der lebensleitenden Max1men, zwmgt, 129 se1 es 10 der \1 vorwegnahme eines nahe bevorstehenden Ereignisses, das einen apokalyptischen Schanen vorauswirft. Metanoia ist vor allem ein Panik-Phänomen, sofern sie mit der Geste des Sichzusam mennehmens in der Krise und des Emstmachens vor dem bedrängenden Ende einhergeht. Nicht umsonst war auch die Ära der europäischen Reformation, in der es vor Men schen wimmelte, die ernst machen wollten, wieder eine Hochzeit des dunklen Sterneneinflußglaubens und der End zeitangst. Ihr modus operandi ist nicht die Umwendung der Persönlichkeit, sondern die Sammlung und die Beherzigung des längst Gewußten, mit dem man sich in Ermangelung ei nes zwingenden Anlasses bisher noch nicht in aller Folge richtigkeit befassen wollte. Dies gilt in ganz besonderer Weise auch für Paulus, der während seiner Nachstellungen nach den jüdischen Dissidenten, die sich der jesuanischen Sekte ange schlossen hatten, ausreichend Gelegenheit gehabt hane, zu •
•
•
•
128 Über die Differenz von epistrophe und metanoia vgl. Pierre Ha
dot, Conversion, a. a. 0., sowie Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am College de Francc 1981/82, Frankfurt
am Main 2004. 129 Zum einem verallgemeinerten Begriff von Dec?rum vgl. Hein�r
Mühlmann, Die Natur der Kulturen. Entwurf e�ner kulturgeneti schen Theorie, Wien/Ncw York 1996. Zu Mctanoia in politischer Perspektive vgl. auch: P. SI., Theorie der Nachkriegszeiten. Be merkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945> frankfurt am Main 2008.
9 Trainerwechsel und Revolution
477
begreifen, daß sie im Grunde bereits die kohärentere Deu tung der Überlieferung besaßen w1d daß sie es waren, die dem messianischen Element der jüdischen Lehre die aufregendste aller möglichen Deutungen verliehen hatten. Was Paulus auf dem Weg nach Damaskus erlebte, war demnach eine metanoetischc Episode, die zur Reorganisation des Bewußtseins von einem neugebildeten Zentrum der höchsten Überzeugtheit her führte. Dies stellt einen Vorgang dar, zu dessen Deutung William James in den beiden den »Bekehrungen« gewidmeten Kapiteln seiner klassischen Gif ford Lectures von 1901 Die Vielfalt der religiösen Erfahr�ng ein suggestives allgemeines Schema vorgeschlagen hat: Hier nach bereitet sich im subliminalen Bewußtsein des Subjekts ein neuer epizentrischer Persönlichkeitskern vor, der in ei nem opportunen Moment mit dem hot spot des operativen Selbstbewußtseins verschmilzt und dabei eine intensive Wandlungserfahrung bewirkt.1 30 Die Anwendung dieses Modells auf den Fall des Paulus ergibt unmittelbar ein stim miges Bild. In übungstheoretischer Siebt hatte Paulus bereits eine ganze Weile »mit dem Gegner trainiert«. Er war durch die Befeindungsübung gegenüber den Jesuanern hinreichend in Form gekommen, um im geeigneten Moment auf die Posi tion des bisherigen Opponenten übergehen zu können. Von dessen Stärken hatte er sich auf vorbewußter Ebene längst einen klaren, wenn auch noch unwillkommenen Begriff ge bildet. ln diesem Kontext erscheint es signifikant, daß er in der »autobiographischen« Version der Szene auf dem Weg nach Damaskus den Sprecher, der ihn aus der Höhe anruft, schon mit dem Titel »Herr« (kjrie) anredet, noch bevor die ser sich als der von ihm verfolgte Jesus zu erkennen gab. Alles spricht dafür, seine zweite Person habe auf diesen Zwischen ruf gewartet. 130 WiUiam Jamcs, Die Viclfalt religiöser Erfahr�mg. Mit �in�m Vor .. wort von Peter Slorerd1)k, Frankfurt am Ma1n und Le1pZ1g 1997, Vorlesungen lX
und X, S. 209-272.
Il Übenreibungsverfahren
Paulus war in dieser Sicht weder ein Konvertit noch gar ein »Revolutionär«, wie man in jüngeren neo-jakobinischen Deutungen des Paulus-Phänomens lesen kann,1 31 sondern ein Opportunist - im Sinne der Lehre MachiaveUis von der Gelegenheit (opportunita) -, der sich malgre lui seit geraumer Weile von den hohen spirituellen Chancen der anfangs be kämpften neuen Doktrin überzeugt hatte. Er hatte intuitiv und später expiidte verstanden, daß nur ein wirklich ge kommener Messias dem politisch aussichtSlosen und geistig stagnierenden Judentum seiner Zeit aus der Verlegenheit hel fen konnte. Natürlich hat er in keiner Weise »den Universa lismus« oder auch nur eine subjektive Variante desselben be gründet bzw. auf den Weg bringen wollen, sondern sich ausschließlich für die Umformatierung einer Auserwäh lungsgruppe stark gemacht (genau so wie es die Berufsrevo lutionäre leninistischen Schlages taten, die stets mehr elitäre Exterministen als inklusionsbereite Universalisten waren, und wie es noch heute die nicht mehr sehr zahlreichen Nach kommen Robespierres in Frankreich tun). Es ist für »Bekeh rungen« dieses Typs charakteristisch, daß sie eher im Modus des Nachgebens gegenüber einer vorbewußt bereits vorhan denen Evidenz als dem der Übernahme einer gänzlich neuen Doktrin geschehen - tatsächlich zitiert James ausführlich aus den Zeugnissen von starken Trinkern, denen es durch eine Art von religiöser Sammlung (zumeist in einem protestanti schen Umfeld mit ausgeprägten Konversionsstereotypen) ge lungen war, sich mit ihrem schon bestehenden, doch bisher ohnmächtigen besseren Wissen zu verbünden und so von ihrer Sucht Abstand zu nehmen.
131
Vgl. Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, München
2002.
9 Trainerwechsel und Revolution
479
Es gibt keine Konversion: Das augustinische Paradigma In diesem Kontext haben wir Gelegenheit, Oswald Spenglers starke These zu re-evaluieren, wonach es im Grunde über haupt keine Konversionen gebe, sondern nur Umbesetzun gen zwischen freien Stellen in dem fest strukturierten Optio nenfeld einer Kultur. 132 Durch aJle Oberflächenwendungen der Konfession hindurch bleibe die basale Seelenstimmung eines Hochkulturkomplexes identisch, und was sich in äuße rer Sicht wie eine r 8o-Grad-Drehung darstelle, könne in Wahrheit nie mehr sein als eine letzdich beliebige (obschon gelegentlich für die Mit- und Nachwelt folgenreiche) Varia tion innerhalb eines definitiv umrissenen Möglichkeitsraums. Darum soll auch in spirituellen Dingen gelten: plus fa change
plus c'est la meme chose.
Die Suggestivität dieser These läßt sich vor allem an dem zweiten Bekehrungshelden der christlichen Überlieferung, Aurelius Augustinus, erläutern, von dem bekannt ist, wie er in seinen Confessiones seine gesamte Jugendgeschichte als ein langgezogenes Zögern vor der »Konversion« des Jahres 386 stilisierte. Gerade im Blick auf ihn scheint Spenglers Theorem durchschlagend plausibel. Man kann an seiner Lebensge schichte - wie der zahlloser analoger Konfessionswechsler und Ernstmacher späterer Zeiten - mühelos zeigen, daß bei ihm in der Tiefenstruktur seiner Persönlichkeit nie die ge ringste >>Konversion« stattgefunden hat. Vielmehr hat er nur innerhalb einer seit jeher bestehenden Ausrichtung auf die Überwelt mehrfach die Adressen bzw. den Großen An deren, den transzendenten Trainer gewechselt - vom Mani chäismus zum Platonismus, vom Platonismus zum philoso phischen Christenrum, vom philosophischen Christentum zu
132 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, a. a. 0., $. 440f.
n Übenreibungsverfahren
einem theozentrisch nachgedunkelten Unterwerfungskult. Hierin war er keine Singularität, da schon seit dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert unter den Gebildeten der römi schen Ökumene »Bekehrungen« zur Philosophie auftraten, die sich organisch in Übertritte zum Christentum fortsetzten - so etwa im Fall von Justin dem Märtyrer, des katholischen Patrons der Philosophen. Bei diesem mehrmaligen Umbau seines Überzeugungs haushalts hat Augustinus zu keiner Zeit eine komplette epi strophe vollzogen, sondern nur den schon in den manichäi schen Anfängen vorgezeichneten Bruch mit dem weltlichen Leben Zug um Zug radikalisiert, bis zuletzt eine persönlich verdichtete und ohne Rest verkörperbare Form der asketi schen Abstoßung von »dieser Welt« erreicht war. Auch das berühmte »Nimm und lies« enthielt keine neue Entdeckung, sondern nur eine Erinnerung an altbekannte Motive, die in seiner »epizentrischen Persönlichkeit« für die innere Macht übernahme herangereift waren. Er verkörperte hierdurch in idealtypischer Reinheit die Merkmale der »kranken Seele« bzw. des depressiv »gespaltenen Selbst«, von welchem Wil liam James gezeigt hat, wie es die Sammlung seiner Kräfte in einer allmählichen oder plötzlichen Einswerdung nicht selten auch ohne religiöse Kehre erlangt. 133 Was Konvertiten gern als die Wirkung der Gnade beschrieben, manifestiert sich in psychologischer Sicht vor allem als persönlicher Energiege winn infolge der erhöhten Integration. Eine solche tritt auf, wenn der gesamte psychische Antriebsapparat einer einheit lichen Sinnperspektive untergeordnet wird. Diesem Effekt ist es zu verdanken, daß nunmehr alle Partialkräfte unter der Regie eines bis dahin latenten neuen Überzeugungszentrums zusammenspielen. Ein derart »geeintes« Subjekt erlebt sich zugleich als berufen und bewegt- der Movebo-Effekt134 tritt 133 134
Jamcs, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, a. a. 0., S. Siehe oben S. 384.
1 68f.
9 Trajnerwcchsel und Revolution
bei ihm in doppelter Stärke auf. Im Fall von Augustmus schien die »Einung« in dem Moment erreicht worden zu sein, als ihm die Konzentration aller Teilenergien in der Geste der christlich-platonischen Selbstaufgabe gelang. Das lange Zö gern des Kandidaten beweist im übrigen auch, daß eine voll ständige Bekehrung zum Christentum zu seiner Zeit als Eintritt in ein von asketischen Schrecken umwittertes Trai ningslager, die oströmische asketeria oder das westliche mo nasterium, vollzogen werden mußte - es ging daher nie allein um den seit Paulus vielbeschworenen »Glauben«, sondern viel eher um die tOtale Unterordnung der Person unter das harte Übungsgesetz der imitatio mit tödlichem Ausgang oder deren mönchische Metaphorisierung. Darum erscheint es nur konsequent, wenn sich die anfängliche cutonische Ba lance zwischen Philosophie und Religion in den frühen au gustinischen Schriften mit der Zeit zugunsten der verdüster ten Spättheologie auflöste. Die Originalität der augustinischen »Bekehrung« zeigt sich aUein in der Entschlossenheit, mit welcher der Bekehrte die mit ihm geschehene Wandlung ins Exemplarische em porzuheben wußte. Seine Confessiones sind das erste Muster christlicher Performance-Literatur die Verwandlung einer Vita in ein Lehrstück der Gnade. Zu dieser performativen Wende verhalf Auguscinus vor allem seine christliche Radika lisierung der platonischen Lehre von der ursprünglichen Fehlstellung der Psyche. Was bei Platon bloß die faktische Fixierung der in der Höhle Gefesselten auf die Schattenspiele an der Höhlenwand gewesen war- neutral gesprochen: der bei Weltkindern unvermeidliche Vorrang der empirisch orientier ten Wahrnehmung vor der reflektierenden Erkenntnis -, wird bei Augustinus geradewegs zu einer Folge der Erbsünde er klärt: zu einer Wiederholung der ersten »Perversion<<, kraft welcher sich das Geschöpf von seinem Schöpfer abkehrte, um sich selbst seinem Ursprung vorzuziehen. Von da an lenkt der sündhafte Egoismus alle Schritte, weil Leben in der Per-
1l
Übenreibungsverfahren
version immer bedemet: vergötzen, was man benutzen sollte (die sinnlichen und weltlichen Dinge), und benutzen,was man verehren sollte (die geistigen und göttlichen Dinge).135 Die komplementäre Rückwendung, die den dabei entstandenen metaphysischen Schaden wiedergutmachen könnte, vermag das pervertierte Geschöpf, nach Augustinus, nicht mehr aus eigener Kraft zu vollziehen- es bliebe in der gefallenen Posi tion, der Abkehr vom Ursprung, unheilbar fixiert, käme ihm nicht Gott selbst in der Person Christi entgegen, um ihm die Re-Konversion zu ermöglichen. Gewiß hatte Oswald Spengler übertrieben, wenn er die Möglichkeit der Konversion innerhalb einer gegebenen Kul tur von vorneherein abstritt, dennoch erhob er seinen Ein wand nicht ohne gute Gründe, da der größte Teil der real erlebten Bekehrungen tatSächlich nicht im Modus einer epi strophischen Gesamtumkehrung, sondern des Übergangs zu einer mehr oder weniger naheliegenden Alternative ge schieht: Eine wirkliche Umwälzung vollzieht sich letztlich nur beim Eintritt auf den Hochkulturpfad als solchen, der dje Sterblichen auf die hohen Formen der Vertikalspannung ausrichtet, indem er sie impft mit dem Wahnsinn des Verlan gens nach dem Unmöglichen. Den individualrevolutionären Charakter dieser Wende bringt Seneca spät, aber deutlich auf den Begriff, wenn er deklariert: Desinamus quod voluismus velle! »Laß uns aufhören zu wol len, was wir bisher wollten! « 136 Der Wille zum Anderswollen setzt die permanent gespannte Sorge um die neue, ungewohn te und unwahrscheinliche Haltung in Gang. Ähnliches ließe sich von der Lehre Epikurs sagen, die auf ihre Weise eine Übung des Bruchs mit dem vulgären modus vivendi darge
9
Trainerwechsel und Revolution
stellt hatte: Weil Weisheit die Emanziption vom falschen Glauben an die Übermacht der Tyche bzw. der Fortuna im pliziert, zielt sie auf ein radikales Schlußmachen mit den ge wöhnlichen Besorgnissen: Wo Götterfurcht war, soll Furcht losigkeit werden. Damit kündigt sich bereits die Aufklärung an die Bekehrung des Geistes zu einem religiös nicht ein geschüchterten Gebrauch des eigenen Lebens. Die religiös codierten Bekehrungen weisen hingegen zumeist nur den Charakter eines Übertritts in ein alternatives Kultsystem mü umgeschichteten Zwängen auf. Diesen Vorgang darf man sich in der Regel als eine flache Operation vorstellen - auch die effektvolle Inversionsfigur des »Verbrenne, was du ange betet hast, und bete an, was du verbrannt hast«137 macht die Prozedur in keiner Weise innerlicher, sie formuliert lediglich die Anordnung, in Zukunft Christus die rituellen Aufmerk samkeiten zukommen zu lassen, die man bisher dem Wotan oder irgendwelchen Wald-, Wind- und Berggöttern erwiesen hatte. Auch bei zahlreichen anderen religiös codierten Be kehrungen beobachtet man vor aJlem die metanoetischen Ak zentversetzungen innerhalb eines stark vorstrukturierten Feldes. Im übrigen ist noch in der Psychoanalyse des 20. Jahr hunderts ein Nachhall der antiken conversio zu vernehmen. Die Freudsche Maxime »Wo Es war, soll ich werden« verrät von ferne ihre Zugehörigkeit zu den metanoetischen Prak tiken, bei denen der Wandel der Lebensgewohnheiten mit einem Subjektwechsel, das beißt einer Um besetzun g der Leitfigur auf dem Platz des Großen Anderen, einhergeht. Dabei entspricht das Es typologisch dem trüben Register der dämonischen Besessenheit, das Ich der monotheistischen Aufhel lung. -
-
13 5 Über die Verkehrung von uti (benutzen) und frui (genießen) bei Augustinus vgl. Augustinus-Lexikon, hg. von Cornelius Maycr, Vol. 3, Fase. 1!2, Basel 2004, Spalten 7o-75. I 36 Epistolae morales ad Lucilium 6 . 1
137
Siehe oben S. 10.
ll Übertreibungsverfahren
Bekehrung als Trainerwechsel: Franziskus und lgnatius L1 übungstheoretischer Sicht kommen die Bekehrungen des
metanoetischen Typs einem Trainerwechsel gleich, da sieb die Bekehrten in der Regel nicht nur einem veränderten morali schen Regime- und eo i'pso einem neuen Großen Anderen - , sondern auch einem neuen Übungsplan unterwerfen. Die Persönlichkeitsstruktur als solche jedoch wird in der Regel über die Wende hinweg mitgenommen. So hat sich das längst habitualisierte Eifererrum des Paulus »nach Damaskus« von pharisäischen auf jesuanische Inhalte umgestellt - um sie i n der Folge um christologische Zusätze aus eigener Werkstatt zu ergänzen. Gewiß macht es einen Unterschied, ob man mit Gamaliel, dem rabbinischen Lehrer, trainiert oder mir Jesus, dem Auferstandenen. Man täte dem Völkerapostel unrecht, wollte man das von ihm in Gang gesetzte opus Christi aus schließlich auf einen zelotischen Nenner bringen. Paulus hat auf dem Weg des Nachgebens gegenüber der christlichen Lehre in puncto Liebe (agape oder caritas) eine bemerkens werte Persönlichkeitserweiterung erfahren. Auch wäre die Erfolgsgeschichte des Christentums ohne die paulinische Dehnung des Auserwählungshorizonts (die, wie bemerkt, nicht mit Universalismus verwechselt werden darf} schlech terdings nicht vorstellbar. Für die weitere Entwicklung des Christentums als des wich tigsten Übungsfelds und Habitusgenerators im antik-rnittel alterlichen Übergangsraum sollten sich die metanoetischen Umwendungsformen durchwegs als die folgenreichsten er weisen. Neben ihnen blieb das eigentlich intitiatische Sakra ment, die Taufe, eine momenthafte Äußerlichkeit. Eine ef fektive Neuformung des Menschen hängt nicht von einer ein maligen Geste ab, sondern kann sich nur infolge von nachhaltigen Selbstkuratorischen Bemühungen durchsetzen.
9 Trainerwechsel und Revolution
Die Deutung der Taufe als Wiedergeburt verleiht dem Akt eine symbolische Tiefe, der auf der Seite der Einverleibung keine adäquate Entsprechung gegenübersteht. Wie sehr die cluisdiche Metanoia einem Wechsel des Übungssystems und der Trainerfigur gleichkommt, geht nicht zuletzt aus den beiden populärsten Konversionslegenden des hohen Mittelacers und der beginnenden Neuzeit hervor- der des Franz von Assisi und der des Ignatius von Loyola. Sieht man sich die Umkehr des jungen Franziskus näher an, so war sie alles andere als ein plötzlicher Sprung ins christliche Lager. DerJüngling war auf die spätere Wendung, deren akuter Aus löser der bekannte Autoritätskonflikt mit dem Vater war, in gewisser Weise längst vorbereitet, seit er in seinen formieren den Jahren eine robuste Form von ritterlichem Idealismus und eleganter Minnerhetorik proven�alischen Typs verinnerlicht hatte - man verweist in diesem Zusammenhang zumeist auf die französische Herkunft der Mutter. Als Franziskus sich in der spektakulären Lossagung von der väterlichen Autorität scheinbar »gegen seine Herkunft« wandte, begann er erst recht mit deren Verwirklichung. Im symbolischen Raum war es von den hohen Damen der Troubadourlyrik nur ein Schritt zu der »Dame Armut«, der er nun seinen Dienst wid mete, und von dem eleganten Platonismus für die höheren Stände, der sich im höfischen Damen- und Ehrenkult verbarg (und der sichtlich auf die bürgerlichen Schichten Assisis über gegriffen hatte), warder Weg nicht weit zu jenem Platonismus für das Volk, den das spätantike und mittelaJrerliche Christen rum anbot. Das Novum liegt wieder ausschließlich in der Dezision - in der Sammlung auf das eine, das die Kraft in dem Punkt sam melt, wo »es not tut«. Der junge Franziskus war unverkennbar vom Zeitgeist ergriffen: Das Christentum derfrühen Städtezeit suchte den Superstar. Mit der Rolle des Armutstroubadours harte er eine Position gefunden, die es ihm erlaubte, die imitatio Christi in eine Minne-Allegorie zu transponieren. Inden' .: ·
JJ
Übenreibungsverfahren
lerme, aus der Bitterkeit Süße zu gewinnen, gewann er Spiel räume für die Entfesselung psychischer Energie, um die Dauerdepression der kommenden Jahrhunderte zu kompen sieren: den wachsenden Skandal der unfreiwilligen Armut in einer Epoche, die sich mehr und mehr dem Reichtum ver schrieb. Durch die Entsagungsübung der Herrin Armut wlie be erzeugte er Kraftüberschüssevon der schwächsten Stelle aus -um einen Preis allerdings, der schon die Zeitgenossen schau dem machte. Er entrichtete ihn in der Form einer triumphali schen Selbstkasteiung, die nicht zur Ruhe kommen wollte, bevor nicht die totale Imitation, die Nachahmung des Gekreu zigten durch die Wundmale, erreicht war. Thomas von Celano erfaßte den kritischen Punkt präzise: »seine Seele war seit An fang ganz von jenem wunderbaren Kreuze erfüllt«. ns Hieraus ergab sich für den imitator Christi unweigerlich die Notwen digkeit, nicht älter zu werden als das Vorbild: Ohne den Im perativ, dem Herrn auch hinsichtlich des Lebensalters Nach folge zu leisten, wäre seine vorsätzliche Selbstzermürbung nicht denkbar gewesen. Wie sehr er hierbei noch in den Tra ditionen des asketischen Agon und des christlieben Athletis mus dachte, zeigte seine Sterbe-Pantomime: »Als er nämlich von jener schweren Krankheit, die allem Siechrum ein Ende setzte, ganz erschöpft war, ließ er sich nackt auf den nackten Boden betten, damit er in seiner letzten Stunde, da er noch den Feind zum letzten Mal reizen könnte, nackt mit dem Nackten (nudus cum nudo) kämpfe. Er erwartete furchtlos den Sieg, und mit gefal teten Händen ergriff er die Krone der Gerechtigkeit.« Die Denkform der imitatio reichte bei ihm und seinem Gefolge so tief, daß von der kleinen Gemeinde, die den Sterbenden umgab, auch das Abschiedsmal des Herrn zelebriert wurde in gefährlicher Nähe zur blasphemischen Parodie. Natürlich 138 Thomas von Celano, Das Leben des heiligen Franziskus, a. a. 0., s. 171.
9
Trainerwechsel und Revolution
konnte in diesem Vorstellungsfeld die Wiedererscheinung des Verstorbenen vor einigen Brüdern in verklärter Gestalt nicht ausbleiben: Man erkannte seine Person und die Christi zu ein und derselben Person verschmolzen - ein Indiz dafür, dag in tensive Supranaturalismen feldförmig auftreten und sich in Räumen synchron geübter Suggestibilität entfalten. Auch der Fall des Ignatius von Loyola weist all die Merkmale auf, die für einen klassischen Trainerwechsel unter dem Vor zeichen der Metanoia sprechen. Zwar sind sie von dem sa kralen Expressionismus des Performance-Künstlers Franzis kus bereits weit entfernt, jedoch manifestiert sich der Kon versionsmechanismus auch bei lgnatius in strikt analogen Formen. Die Persönlichkeitsstruktur des jungen Adligen ist gemäß dem Ehrencodex seiner Epoche voll ausgebildet- sein Ambitionshorizont ist gesättigt von den landläufigen Kon zepten des ritterlichen Lebens und des Damenkults. Nach der Katastrophe der Schlacht von Pamplona 1 5 2 1 , bei welcher der Offizier im Alter von 3 0 Jahren zum Krüppel wird und aus den Rängen der Prätendenten um weltlichen Ruhm aus scheidet, ergreift auch ihn der Geist der Zeit, der für dieses Mal eine imitatio Christi in den Formen des Militantismus nahelegt. Ignatius wechselt den Trainer, indem er von Amadis von Gallien, dem Helden des Ritterromans, auf Christus um stellt - dieser tritt jetzt unter den Zügen eines göttlichen Generals auf, der nur noch von irdischen Elitetruppen nach geahmt werden kann. Von den unabsehbaren Konsequenzen der ignatianischen Wende für die weitere Geschichte katholischer und allgemein moderner Subjektivierungsformen habe ich an anderer Stelle ausführlicher gesprochen. 1 39 Sie sind untrennbar von der Mo139
P. SI., Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt am Main 2006, Kapitel 1 1 : Die Erfindung der Subjektivität - Die primäre Enthemmung und ihre Ratgeber, S. 93f.
II Übenreibungsverfahren
dernisierung des Übens - im gegebenen Fall von der Über tragung des militärischen Trainingsgedankens auf die neuen religionspolitischen Leistungsrollen, die auf den Schlachtfel dern der Gegenreformation geformt werden. Loyolas Platz in der Geschichte der Subjekttechniken ist darum von so
überragender Bedeutung, weil sich in ihr alle früheren
Schichten des autoplastischen Übcns in vollkommener Klar heit übereinander sedimentiert haben: Was mit dem Exerzie ren der griechischen und römischen Soldaten begonnen hatte und von den Athleten bzw. den Gladiatoren übernommen worden war, ehe sich die christlichen Eremiten und Coeno biten die Askesegeheimnisse dieser Agonisten aneigneten das alles kehrte in der Existenz des gescheiterten Soldaten nach 1 5 2 1 zurück, um den stärksten Schub neuerer psycho technischer Exerzitien auszulösen, diesmal jedoch - dem neo-rhetorisch aufgebrochenen humanistischen Milieu ent sprechend - in der Form eines Imaginationstheaters, bei dem der Übende sich nach strikter Anleitung von seiner ei genen Nichtswürdigkeit und seiner unermeßlichen Schuld gegenüber dem Erlöser überzeugt. Die jesuitischen Exerzi tien, dieses autogene Training der Zerknirschung in dreißig harten Tagen und Nächten äußerster Sammlung, bilden zu ihrer Zeit offensichtlich die jüngste Schicht in dem Strati gramm der alteuropäischen Übungskulturen, deren alte und älteste Schichten bis in die Anfänge des Heroismus und Ath letizismus zurückführen. Jüngere neurorhetorische For schungen zeigen im übrigen, daß die in Übungen erzeugten »künstlichen« Affekte von den Naturaffekten physiologisch
nicht zu unterscheiden sind. Der quasi instrumentelle Griff der jesuitischen Technik nach der gläubigen Psyche, die selbst aus der Meditation ein Trainingslager machte, kündigt in aller Deutlichkeit das
Zeitalter an, das sich später die »Neuzeit« nennen sollte. Des
sen Bewohner entwickeln sich zu »modernen Menschen« in
dem Mag, wie sie sich einreden, sie hätten das Geheinmis der
9 Trainerwechsel und Revolution
Selbstbestimmung entdeckt, als sie die schlechthinnige Ab hängigkeit von Gott gegen die humane Selbstbehauptung austauschten. Wir werden sehen, daß nichts von den wirkli chen Verhältnissen weiter entfernt sein könnte.
III Die Exerzitien
der Modernen
49 3
PERSPEKTIVE: WIEDERVERWELTLICHUNG DES ZUR ÜCKGEZOGENEN SUBJEKTS
Von der Macht der Parole Denn es ist wirklich Zeit, daß man nach allen vorhergegangenen Jahrhunderten Größeres sowohl erhoffe als auch versuche.
johann Amos Comenius, Vorläufer der Pansophie, London 1639
>>Größeres sowohl erhoffen als auch versuchen«: 1 E s gehört zu den Stärken der modernen Welt, daß sie nie in Verlegenheit war, wenn es galt, durch den Mund ihrer Protagonisten Pa rolen zu verkünden, an denen die Teilnehmer exzessiver Feldzüge sich erkannten. Was Lorenzo Ghiberti, der floren tinische Goldschmied und Humanist, zu Beginn des r 5 . Jahr hunderts seinen Mitverschworenen beim Beginn der Argo nautenfahrt zu den Ufern der universalen Kunst ins Ohr gesagt hatte: »Die Menschen können von sieb aus alles, so bald sie wollen<<,2 ist zweihundert Jahre später den musischen und technischen Virtuosen, den modernen Könnensmen schen, den Unternehmern des eigenen Lebens sowie den in Scharen aufziehenden Präfekten für das Leben der anderen schon fast zur Selbstverständlichkeit geworden. Allen peri odisch wiederkehrenden Konjunkturen der historischen Ent mutigung und des Rufs nach Selbstverkleinerung zum Trotz wird das stolze Motto der Neuzeit nie wieder ganz vergessen werden - noch die sowjetischen Pädagogen der Aufbruchs zeit um 1920 wiederholen die revolutionär-optimistische These in allen Tonlagen, allenfalls die Ergänzung hinzufü1
Maiara enim post omnia anteacta saecula et sperandi et tentandi tempus est. ]. A. Comenius, Vorspiele. Prodromus pansophiae. Vor
läufer der Pansophie, herausgegeben, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Herben Hornstein, Düsseldorf 1963, 2
s.
69.
Zitiert nach: Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch (zuerst r86o), Stuttgart 1988, S. ro6.
lU
494
Die Exerzitien der Modernen
gend: vorausgesetzt, es sind, außer dem resoluten Willen zur Tat, die sozialen Voraussetzungen gegeben. Der große Comenius, I 5 92-1 670, Kirchenvater der barok ken Pädagogik und Ideengeber zu einem neuzeitlichen Lern maschinenbau im Großen, wußte, was es hieß, nach so vielen verlorenen Jahrhunderten Größeres zu unternehmen: Die Gnade ist groß, doch größer ist die auf den Menschen ange wandte Technik; die Erwählung führt weit, weiter jedoch führt die neue Erziehungskunst. Wo Ausnahme war, soll Re gel werden. Es gilt jetzt, den Buchdruck auf junge Seelen anzuwenden und Schülerjahrgänge zu publizieren, die wie Prachtexemplare aus einer druckfehlerfreien Menschenverle gerei hervorgeh en Der visionäre Pädagoge sprach nicht um sonst von seinem Schulprojekt als einem typographaeum vi vum, einer lebendigen Setzerei, welche die Welt mit Meister werken des Menschendrucks bevölkern sollte. Er brachte damit eine Idee vor, die von den Medientheoretikern des spä ten 20. Jahrhunderts neu gewürdigt werden kann - obschon diese weniger vom Druck des Subjekts in einer Presse als von seiner psychischen Formatierung sprechen werden. Das frü he 20. Jahrhundert verriet seine Anliegen als Leo Trotzkij im Stil des schwärmenden Hardware-Ideologen dozierte: »Wenn die Menschheit die Kontrolle über die anarchi schen Kräfte ihrer eigenen Gesellschaft (sie) gewonnen hat, wird sie sich selber im Mörser und der Retorte des Chemikers zugänglich werden. Das erste Mal wird sich die Menschheit selber als Rohmaterial oder höchstens als physisch und psychisch halbfertiges Produkt ansehen. «3 Dem revolutionären Wissenschaftskult zufolge konnte die Endfertigung nirgendwo anders als in den Prägewerken des Neuen Menschen erfolgen, die der Sowjetstaat erstellen woll.
,
3 Leo Trotzkij in einer Ansprache an Vertreter einer dänischen Stu dentenorganisation am 27. November 1932, zitiert nach: Torsten Rüting, Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinie rung in Sowjetrussland, München 2002, S. 179f.
Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts
495
te. Die Zeiten nach Trotzkij zeigten, daß die Arbeit am Men schen in ganz anderen Behandlungszentren fortging. Das Halbfabrikat Mensch hat seine Tücken, die sich gegen die Weiterverarbeitung sträuben, gleich ob zum Bildungsmen schen, zum Übermenschen oder zum Neuen Menschen. Im merhin, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs pfeifen es die Sparzen von den Dächern: »Der Mensch bat es soweit ge bracht, die Menschheit als Rohstoff zu behandeln.<<4
Der neue Zeitgeist: Experiment mit Menschen Der Weg ins Zeitalter der Herstellung, die in der Herstellung des Herstellers kulminiert, ist lange vor dem 20. Jahrhundert betreten worden. Wann immer es auf dieser Route voranging, wurde den Zeitgenossen rnit großem Pomp verkündet, wie der Mensch sich selber »zugänglich« wird. Es scheint, das effek tive Zentrum neuzeitlicher Aktualitäten bestehe in fortlaufen den Berichten davon, auf welche Weise der Radius der Verfü gung des Menschen über sich selbst und seinesgleichen wächst. Solche Neuheiten riefen - unterhalb der Ebene ihrer generellen Ablehnung aufgrund ihrer Unheimlichkeit - seit jeher bejahende und verneinende Leidenschaften hervor, ja man schlug apokalyptische Töne an, wenn wirklich Neues von dieser Front zu melden war, so zuletzt um das J ahr zooo, als die Entschlüsselung des menschlichen Genoms be vorstand. Tempus est, schreibt Comenius im Jahr des Herrn r639 rnit feurigen Lettern an die Wand: »Es ist an der Zeit« dieser Formel gemäß werden bis heute die Tagesordnungen für die futurisierte Welt erstellt. Das Dringendste, was auf ihnen anberaumt wird, ist die systematische Fertigung von 4
L'homme en estvenu a traiter l'humanite comme une matiere. Zitiert nach: Lucien Gauthier, Von Montaigne bis Valery. Der geistige Weg Frankreichs. Eine Auswahl französischer Originaltexte mit deut scher Übertragung, Reutlingen o. J. (ca. 1950), S. XXVI.
lll
Die Exerzitien der Modernen
Menschen, die den höchsten Ansprüchen an Menschenför migkeit genügen - wir sprechen vom europäischen 17. Jahr hundert, in dem die Zeitgeister des Aufbruchs prägnant wer den, obschon das Wort »Zeitgeist<< erst um r8oo ins moderne Vokabular gelangt. »Menschenförmigkeit« - das bedeutete damals noch unverkürzte Gottebenbildlichkeit. Sie schließt für den entflammten reformatorischen Theologen allseitige Belesenheit in den drei Grundbüchern des Seins ein, wie sie in der Natur, der menschlichen Seele und der Heiligen Schrift niedergelegt sind.5 Die Menschheit soll jetzt in Serie gehen, um jeden Landstrich dieses Erdteils -später des Planeten - mit Individuen auf der Höhe des Menschenmöglichen zu besie deln. Die Geduld mit den vorgefundenen Unzulänglichkeiten ist aufgebraucht: Der Mensch muß aufhören, ein Gewächs des moralischen Zufalls zu sein. Wir, die ungeduldig gewordenen Selbst- und Menschenbildner der technischen Jahrhunderte, sollen und wollen nicht länger abwarten, ob dann und wann ein Einzelner sich dazu bequemt, mit seiner gewöhnlichen Exütenz zu brechen und sich durch Metanoia, Askese und Studium ein zweites, ein gesteigertes, ein exemplarisches Le ben zu schaffen. An hohen Spalieren sollen künftig schon die jungen Kreaturen in den Menschengärtnereien des Barock staats zu wohlgeratenen Exemplaren ihrer Gattung aufgezo gen werden.6
6
Als Quellen der Drei-Bücher-Lehre des Comenius sind einige von Paracelsus inspirierte Autoren des 17. Jahrhunderts identifiziert worden, namendich die Verfasser der rosenkreuzerischcn Manifeste, ferner johann Heinrich Alsted, Theologia naturalis (161 5), sowie Benedictus Figulus, Pandora magnalium naturalium, Straßburg t6o8. Vgi.Johann Amos Comenius, Der Weg des Lichts, Via Lucis, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Uwe Voigt, Harnburg 1997, S. 208. Zu Comenius' pädagogischer Meta physik im Vorfeld der Aufklärung siehe auch unten S. 541f. Die Ungeduld des Comenius erklärt sich aus den Endzeiterwartun gen des ausklingenden Reformationszeitalters; die der Späteren setzt bereits die Umstellung von Apokalypse auf Geschichtsphilosophie
Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts
497
Die neuen Pädagogen glauben zu wissen, wie man in Zu kunft den zufälligen Überdruß des Einzelnen an seinem bis herigen Leben überholt: Das ganze System der Menschen formung wird von Grund auf metanoetisch ausgerichtet, ja, die Grundordnung der >>pädagogischen Provinz« selbst zeugt von dem Impuls, der späten Reue Einzelner durch die frühe Erziehung aller zuvorzukommen. Diese »Anthropogogik« verrät einen naiven Perfektionismus, von dessen Elan noch die spätere Aufklärung zehn. In ihr reimt sich Disziplin auf Streben nach Vollendung, Pflicht auf freies Entgegenkom men, Studium auf inneren Überschuß. In zweiter Reihe erst muß über die Notwendigkeit nachgedacht werden, dem menschlichen Wildwuchs auch mit den Mitteln des Überwa chens und Strafens entgegenzutreten. Es ist höchste Zeit, ein von Foucault mitbewirktes Mißver ständnis zu korrigieren: Es sind nicht die Gefängnisse und die Orte untcrdrückcrischer Überwachung, sondern die oft strengen Schulen und Hochschulen der Neuzeit, daneben auch die Werkstätten der Handwerker7und die Ateliers der Künstler, in denen die wesentliche Human-Orthopädie der Moderne praktiziert wird, sprich die Formung der Jugend nach den Maßst.1ben christlieb-humanistischer Disziplin. Das eigentliche Ziel des Aufbruchs ins Zeitalter der Künste und Techniken ist die Heranbildung immer neuer Generatio nen von Virtuosen. Gewiß, im »heterotopischen« Hinter grund, den die Scharen der »infamen Menschen« bewohnen (sie bilden im Zeitalter der absolutistischen Bevölkerungs politik unvermeidlich eine massive Gruppe), zeigt der diszi plinäre Imperativ sein zweites Gesicht- von dem muß reden, wer die »Geburt des Gefängnisses« aus dem Geist der Auf-
voraus, somit die Verbürgerlichung der Apokalyptik, zugleich ihre ·evolurionäre Entschärfung, indessen die Ideologen der Revolution die neo-apokalyptische Verschärfung predigen. 7 Über die formenden Effekte handwerklicher und instrumentelley Übungen siehe oben S. 457f.
IJI Die Exerzitien der Modernen
Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts
499
sichtspflicht für die Ü berzähligen rekonstruieren möchte.
von Versuch zu Versuch.10 Die Neuzeitmenschen fügten
allgemeinen auf die pönitentiären, repressiven und überwa
schen und artistischen, schließlich den politischen hinzu.
Absurd wäre es jedoch, den Begriff der Disziplinierung im
chungsstaatlichen Bedeutungen festzulegen, die Foucault in
dem asketischen Experimentalismus der Alten den techni
den Schriften seiner mitderen Periode mit gezielter Übertrei
Sie nahmen sich allen Ernstes vor, den Tex1: der conditio hu mana umzuschreiben - teils mit aktualisierten christlich-hu
Wer die Fertigung des Neuen Menschen in all ihren Sta
christlicher und posthumanistischer Existenzentwürfe. Essay
bung hervorkehrte.8
dien kennenlernen will, muß seine Sonden jedenfalls bis ins
manistischen Prozeduren, teils gemäß den Richtlinien nach
und Experiment sind nicht bloß literarische und wissen
17. Jahrhundert schicken, ja bis in die Turbulenzen der Re
schaftliche Verfahren, sie prägen den Daseinsstil der Moder
alterlichen Mystik. Noch wer wie der junge Gorkij, spürbar
der nationalen und globalen Ökonomie. Experimentator ist,
formation und weiter zu deren Präludien in der spätmittel
unter Nietzsches Einfluß, den »Menschen mit Großbuchsta ben« schreiben wollte, reihte sich, fast unwissend, in eine
nen im ganzen - nach
r
789 auch den der großen Politik und
wer es auf jedes Ergebnis ankommen läßt, überzeugt, wie er
ist, daß das Neue immer Recht hat. Unnötig zu betonen, daß
in den ägyptischen Wüstenklöstern sowie den paulinischen
der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt, als er 1 899 the great work ofuplifting mankind beschwor, sich in diesel
pneumatischen Aggregationen, an denen der Heilige Geist,
den zivilisatorischen Messianismus vertauschend. ' '
Tradition ein, deren Anfänge sich bei den Rekruten Christi Gemeinden Griechenlands und Kleinasiens zeigen, jenen
be Überlieferung stellte, die christliche Weltmission gegen
unterstützt von den Übungen der Fleischeskreuzigung, eine »neue Schöpfung«9 bewirken sollte.
Schon die frühen Christen begannen, ihr ganzes Leben
in ein Experiment umzuwandeln, um sich dem Gottmen
schen anzugleichen:
nos autem in experimentis volvimur, Bekenntnssen i nur Gott
schreibt Augustinus in seinen
-
bleibt immer sich selber gleich, wir aber werden gewälzt
oben S. 234f. Im übrigen ist die Neigung, den Begriff Disziplin mit Despotismus zu assoziieren, kein Proprium des Zeit geists nach 1945 oder nach 1968. Sie läßt sieb schon bei johann
8 Siehe hierzu
dem Nachfolger Kants auf dem Kö nigs berger Lehrsruhl, der den von Kant sorglos verwendeten Begriff der Disziplin verwarf, um ihn durch eine noch p roblematischere Ersatzbildung wie »Regierung« zu ersetzen ein Vorsch lag, der an Foucaults Idee des Selbstgouvernements erinnert. Vgl. Chrs i ropher Korn, Bildung und Disziplin. Problemgeschichtlich-systematische Untersuchung zum Begriff der Disziplin in Erziehung und Unter richt, Frankfurt am Main 2003, S. 1o5f. Friedrich Herbart emdecken,
,
9 Galater 6, ' 5 und 5, 24.
Die moderne Unruhe Die Anfänge der Wende ins Größere lagen schon mehrere
Jahrhunderte zurück, als Comenius angesichts der endzeit
lieh gedeuteten Wirren des Dreißigjährigen Krieges den Feld zug der All-Erziehung
(Pampaedeia)
lancierte. Im Men
schenpark der beginnenden Neuzeit war infolge der Großen
Pest von
1348 eine Unruhe losgebrochen, die sich nie wieder
sedieren ließ. Über die Ursprünge des neuen Zeit- und Welt
geists ist viel gerätselt worden. Man hat sie in der Mystik der
nordwesteuropäischen Städte oder in der frühkapitalistischen
Wirtschaftsweise verorten wollen; man hat sie mit dem Auf kommen der Räderuhren ebenso in Verbindung gebracht wie
1 o Confessiones, 4· Buch, Kap. 5. 1 1 Hamilton Club Speech, Chicago,
ro. April 1899·
500
In Die Exerzitien der Modernen
mit der doppelten Buchhaltung der Venezianer, dje Luca Pa cioli, der Franziskanerpater, in seinem europaweit gelesenen Buch über Arithmetik von 1494 propagierte. Man hat die faustische Seele beschworen, um der modernen Rastlosigkeit eine metaphysische Quelle anzudichten, und hat umgekehrt den Doktor Fausrus, den Alleskönner und »weitbeschreyten Scbwarzkünsder«, der seine Seele für erhöhten Selbstgenuß verpfändete, zur Personifikation des Kredits erklärt, jener fünften Essenz, die tüchtigen Schuldnern in die Knochen fährt, um sie auf stets erweiterten Bahnen über Land und Meer zu treiben. Auch hat man die moderne Unruhe mit dem Raumerweiterungsschock in Zusammenhang gebracht, der von der atlantischen Seefahrt und der Entdeckung der Neuen Welt ausging, als habe die globale Beweglichkeit der schwimmenden Kapitale auf den Ozeanen sich bis in die Le bensgefühle der verlorensten Städte auf dem Festland fort gepflanzt. "Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, daß die Erde um die Sonne, sondern daß das Geld um die Erde läuft.«12 Im folgenden ist zu zeigen, daß die spezifisch neuzeitliche Unruhe im Feld der Menschenbildungen, die in ihren jüngsten Ausläufern noch immer, ja mehr denn je, die unsere ist, vor allem endogenen, das heißt hier: übungsgeschichtlich bzw. asketalogisch relevanten Quellen entspringt. Im Rückblick auf die Programme und Werkstätten des übenden Lebens in der vormodernen Welt wird begreifljch: Die junghegeJjani sche und Marxsche Einsicht, wonach »der Mensch den Men schen erzeugt«, läßt sich in aller Konsequenz erst nachvollzie hen, sobald man hinter dem Wort »erzeugen«, das einseitig bei der modernen Arbeitswelt und ihren industriellen Prozedu ren entliehen wurde, das Universum des übenden Verhaltens, des Trainings und der Routinen bewußten wie unbewußten 1 2 P.
SI., Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt am Main 2005> S. 79·
Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts
501
Sich-in-Form-Haltens mit wahrnimmt, wozu ironischerwei se auch das Sich-Außer-Form-Bringen durch Fehltraining und Unterlassungsübungen gerechnetwerden muß. Man wird dieses Zugeständnis wohl leichter für Athleten und Mönche einräumen als für Bauern, Fabrikarbeiter und Handlanger. Und doch: Noch in den massivsten Tatigkeiten vom Typus Arbeit ist eine der zahlreichen Masken des übenden Lebens zu erkennen. Wer sie lüftet, durchschaut die Mystifikationen der produktivistischen Ära und überzeugt sich von der All gegenwart des Übungsmoments inmitten der Arbeitsphäno mene. Dann wird bis ins kleinste Detail demonstrierbar, wie sich die Tätigen durch regelmäßig wiederholte Tatigkeiten selbst modellieren. Es gilt zu begreifen, warum und infolge welcher Rückwirkungen aufs eigene Dasein der Mensch ef fektiv als Erzeuger des Menschen gelten kann.
Autoplastisches Handeln: circulus virtuosus
Die Explizitmachung der Basisdaten über die Produktion des Menschen durch den Menschen läuft über das Studium der vita activa - das hatten die Pragmatiker des 19. Jahrhunderts begriffen. Indem sie das tätige Leben studierten, deckten sie das anthropotcchnische Grundgesetz auf: das der autoplasti schen Rückwirkung aller Handlungen und Bewegungen auf den Akteur. Das Arbeiten setzt den Arbeitenden in die Welt und prägt ihm auf dem kurzen Weg des übenden Sich-For mens den Stempel seines eigenen Tuns auf. Keine Tatigkeit entgeht dem Prinzip der rückwirkenden Prägung des Opera teurs - und was zurückwirkt, wirkt auch voraus. Die Tat er zeugt den Tatigen, die Reflexion den Reflektierten, die Emo tion den Fühlenden, die Gewissensprüfung das Gewissen selbst. Die Gewohnheiten formen die Tugenden und Laster, Gewohnheitskomplexe die »Kulturen<<. Die europäische.. Seefahrer, die die Welt umrunden entdecken noch au·� : ,
__
IIl Die Exerzitien der Modernen
Perspektive: Wiedervcrwelrlicbung des zurückgezogenen Subjekts
503
fernsten Inseln Völker mir eigenwilligen, zum Teil bizarren
Leistungssteigenmgen wird die Hyperkompensation durch
lokalen Sitten die Macht der Übungssysteme und beschreiben
ven- und Bewegungssysteme gewissen regelmäßigen Stimu
Lebensweisen; die Anthropologen an Bord erkennen in den
eine Artvon Hyperadaptacion ergänzt. Sie bewirkt, daß Ner
diese autOplastischen Menschenformungsregeln, in Analogie
lationen unter günstigen Bedingungen durch eine Arr von
mangelung eines besseren Ausdrucks, als »reljgiöse« Ri
so können selbst hochunwahrscheinliche Bewegungen wie
Doch erschöpft sich das übende Leben nicht in der ein
lern (französisch: prestidigitateurs, wörtlich: Schnellfingerer)
zu entsprechenden europäischen Phänomenen und in Er tuale.
fachen Reproduktion der Handelnden durch ihre Handlun gen. Alle Erweiterungen der Könnenskreise, alle Steigerun
vorauseilender Ausführungsbereitschaft entgegenkommen Prestissimo-Läufe am Klavier oder Tricks von Taschenspie
ins Körpergedächtnis eingeprägt und zu einem virtuosen Ha bitus stabilisiert werden. Dabei wird besonders die antizipa
gen bis zu den letzten Höhen der Artistik vollziehen sich auf
torische Intelligenz angeregt. Jüngere Forschungen auf dem
Das Rätsel, wieso Leistungen unter gewissen Bedingungen
rik und der Neuroästhetik konsolidieren und differenzieren
der Basis von Selbstformung durch Übung.
zum Wachstum neigen, isc bis heute nicht ohne Rest auf
geklärt, für einige Formen von Aufwärtsspiralen stehen je
doch präzisere Beschreibungen zur Verfügung. Im Bereich
Gebiet der Lerntheorie, der Neuromotorik, der Neurorheto
didaktische Intuitionen, deren Anfänge aus den frühen Aske sen und Artistiken stammen. Alle höheren Kulturen nutzen
die Beobachtung aus, daß jeder Tatige in der Lauge seiner
physischer Kraftsteigerung beispielsweise hat die explizite
Tätigkeiten gefärbt wird, bis sich an ihm das Wunder der
modernen Sportphysiologie für eine einschneidende Verste
gleichsam mühelos von der Hand geht.14
ten vermochten im Detail zu zeigen, wie der muskuläre Ap
tet also: Können, das unter anhalcender Förderspannung
Darstellung des Hyperkompensationsmechanismus in der
hensausweitung gesorgt. Die jüngeren Trainingswissenschaf parat nach starken Belastungen sein Kraftreservoir bis zu
>>zweiten Natur« ereignet: daß ihm das fast Unmögliche Der oberste Lehrsatz der expliziten Trainingstheorien lau
steht, erzeugt gleichsam »aus sich selbst« gesteigertes Kön
einem Niveau wiederauffüllt, das über dem vorherigen Fit
nen. Dank exakter Beschreibungen des
holungszeit eingeräumt. In den Regenerationsrhythmen
Erfolg in erweiterten Erfolg. Das jesuanische >>Wer hat, dem wird gegeben werden«, 1 5 ist kein Beleg für einen galiläischen
ness-Status liegt, vorausgesetzt, ihm wird die benötigte Er verbirgt sich das Geheimnis der Verausgabung, die zur Erhö
circulus virtuosus
wird erklärlich, wie Gelingen in höheres Gelingen mündet,
hung des Leistungsniveaus führt. Von alters her erschloß sich
Frühkapitalismus, sondern eine der ältesten Formulierungen
in der Antike für Intensivtrainings ausgenutzt; andererseits
anstrengung ([atigue, sunnenage) durch exzessive Übungen ge schün, wohl nicht nur aufgrund ihrer Voreingenommenheit für
dieses Phänomen dem intuitiven Begreifen und wurde schon
haben bereits die Alten Übertrainierungsphänomene ge
kannt, wie sie infolge von Mißachtung der Regenerations rhythmen auftreten. 13 Bei mentalen und feinmotorischen 13
Noch im 1 9· Jahrhundert haben Vorsprecher populärer Hygiene· und Gymnastiksysteme die Furcht vor der Ermüdung und Über-
14
Gleicbgewichtsvorscellungeo, sondern auch, weil sie das Hyper kompcnsationsprinzip noch nicht verstanden. Vgl. Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Franfurt am Main 1001, S. :p7f. Vgl. Peter Sloterdijk, Die Färbung der Bürger, in: Making Things Public, a. a. 0.
15 Matthäus 25, 29.
Iri Die Exerzitien der Modernen
des Glückszirkels, der in der Soziologie auch unter dem Na men >>Matthäus-Effekt« bekannt ist. Wer kann, dem fliegt das weitere Können zu. Nicht umsonst neigen Erfolgsmenschen der verschiedensten Sparten zu der Ansicht, sie könnten aus der Ferne voneinander lernen. Sie ahnen, daß Virtuosen der verschiedensten Disziplinen aus vergleichbaren Steigerungs zirkeln hervorgehen. Sie sehen den Menschen an der Kreu zung stehen, an der die positiven Rückkopplungen vor beimüssen. Gemeinsam werden sie hierdurch Träger der könnenden Tugend, von welcher der Weg zur schenkenden Tugend oft nicht weit ist - diese Beobachtung schafft die Möglichkeit, die mittelalterliche Lehre von der connexio vir tutum auf modernen Grundlagen zu bestätigen. 16 Schon aU tägliche Intuitionen besagen, daß Nicht-Müßiggang der An fang der Tugenden ist. Umgekehrt hatten die christlichen Mönche in der Trägheit die Mutter der Verzweiflung er kannt - begleitet von ihren übrige n unattraktiven Töchtern: Abschweifung, Verbositas, ziellose Neugier, Unbändigkeit und Wankelmut.1 7 Es ist die tägliche Zeile, die den Künstler formt, der tägliche Verzicht den Asketen, der tägliche Um gang mit den Machtbedürfnissen anderer Menschen den Di plomaten, die tägliche Freude an der Stimulationsbereitschaft der Kinder den Lehrer. Wer sieb Ritualen und Regelmäßigkeiten unterzieht, ent wickelt sich nolens volens zu deren Vermittler. Was ist ein Kul.turträger, wenn nicht der Hüter der Wie derholung ? Wie Übung den Meister macht, so Training das Subjekt - voraus gesetzt, wir verstehen Subjektivität im Licht der allgemeinen Übungstheorie als Trägerin ihrer Aktivitätsserieo, als Prak tikamin der trainierbaren Module und als Inhaberin ihrer habituellen Erwerbungen, ohne daß man der üblichen Deu16 Vgl. Peter NickJ, Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des habi rus , Harnburg 2005, S. 48f. 17 Vgl. joscf Pieper Über Verzweiflung, in: dcrs., Werke, Band 4, Harnburg 1996, S. 274-283. ,
Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts
5 05
tung der Subjektivität als Regungsherd von Ausdruck, Re flexivität und Innovation ihr relatives Recht bestreiten müß te. Hat man begriffen, wie jede ausgeführte Geste vom zweiten Mal an ihren Akteur formt und fortbestimmt, so weiß man auch, warum es keine bedeutungslose Bewegung gibt. Die Wiederholung bat in der anthropologischen Aufklä rung ihre Unschuld verloren: Auf ihr ruht, wie man explicite begreift, der Bestand der Welt womit gegen das Einmalige nichts gesagt ist, außer daß man es mißbraucht, wenn man um das Goldene Kalb »Ereignis« tanzt. Es liegt in der Natur der Naturen, Wiederholungssysteme für das Bewährte zu sein, und für Kulturen gilt das in nahezu gleichem Maß. Gott selbst muß das meiste durch die Routinen der Natur tun lassen und kann nur hin und wieder von seiner ontologischen Geheimwaffe, dem Wunder, Gebrauch machen. Kierkegaard spricht schon vom Reflexionswissen der Modemen her, wenn er konstatiert: >>Wenn Gott nicht selber die Wiederholung gewollt hätte, dann wäre die Welt nie entstanden . . . deshalb besteht die Welt und besteht dadurch, daß sie eine Wieder holung ist. Wiederholung, das ist die Wirklichkeit und der Ernst des Daseins.«1H Dem fügt Nietzsche hinzu, was er in langen Selbstversuchen in Erfahrung gebracht hatte: Der Stil ist in der Tat der Mensch selbst, vorausgesetzt, man ist sich im klaren, daß Stil eine Kulturgestalt der Wiederholung bezeich net Wer Stil hat, sieht auch im Glück die gute Gewohnheit des Glücklichseins.19 Selbst das Genie ist nur eine Gruppe guter Gewohnheiten, deren Kollision Funken sprüht. -
.
1 8 Sören Kierkegaard, Die Wied erholung Ein Versu ch in der expe rimentellen Psychologie von Constantin Constantius, in: Die Wie derholung I Die K rise und eine Krise im Leben einer Schauspie lerin, Frankfun am Main, 1984, S. 8. 19 Dem widerspticht Sanre mit seiner These: Es gibt keine guten Gewohnheiten, weil Gewohnhei ten als Träg heiten per se schlecht .
sind.
lU Die Exer�tien der Modernen
Möchte man die Matrix alt- und neueuropäischer Menschen formungstechniken aufdecken, so muß man zunächst die über den ganzen Kontinent verstreuten Trainingszentren be trachten, in denen die mit Christus Übenden sich auf ihre höchsten Agone vorbereiteten, in Form gebracht von ihren Äbten, ihren Seelsorgern, ihren Heiligen und ihren gelehrten Mentoren. Auch was man seit dem 16. Jahrhundert die »Pro fessoren(( nennt, waren anfangs bloß Trainer an VerkJärungs schulen, und die später so bezeichneten Studenten waren zu nächst die Suchenden, in denen der Eros des Unmöglichen more academico am Werk war. Sie unterlagen willig der für alle Hochkultur unentbehrlichen Tauschung, das Unnach ahmliche sei nachahmbar und das Unvergleichliche wieder holbar. Sobald die äußerste Ambition sich in ihnen festsetzte, gerieten sie unter den Bann des Paradoxons, ohne dessen ständige Re-Inszenierung keine Kultur ihren hohen Pol zu fixieren vermag. Du mußt dein Leben ändern! - das bedeutete darum für sie nichts anderes als die Aufforderung, sich an die göttlichen oder gottmenschliehen Vorbilder zu halten, unter deren Einfluß die Grenzen zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen verschwimmen.20 Mit dem Anbruch mo derner Zeiten ändert der absolute Imperativ seine Stoßrich tung. Künftig besagt er: Du sollst dich jederzeit so verhalten, daß du in deiner Person die bessere Welt in der schlechten vorwegnimmst. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem der Sinn des Satzes sich ganz in eine Anleitung zur »äußeren Anwen dung« verkehrt: Du mußt die Welt verändern, damit du, wenn sie im richtigen Sinn umgestaltet ist, dich guten Ge wissens an sie anpassen kannst. Die Moderne ist die Zeit, in der die Menschen, die den Appell zur Veränderung hören, nicht mehr wissen, womit sie beginnen sollen: mit der Weh oder mit sich selbst- oder mit beidem zugleich.2 1 20 Siehe hierzu oben S •p6f. 2 1 Dieser Befund läßt sich am klarsten an einem der einflußreichsten .
moralphilosophischen Werke der letzten Jahrzehnte ablesen: Alas-
Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts
507
Die Entdeckung der Welt im Menschen Die Unruhen, die sich vom r4. ]ahrhunden an manifestieren, sind vor allem aus den Überschüssen an Subjektenergien herzuleiten, wie sie in dem tausendjährigen Reich der Rück züge von "dieser Welt« morephilosophico und more christiano erbrütet wurden. Man könnte geradezu von einer ursprüng lichen Akkumulation eines Kapitals aus Konzentrationen, ln tensitäten, Handlungsbereitschaften sprechen, das sich eines Tages nach geeigneten Anlageformen umsehen mußte. Tat sächlich gehören die Jahrhunderte nach dern Schwarzen Tod in Europa einer beispiellos neuartigen Ökonomie, bei der neue Übungsmittel - Maschinen, Werkzeuge, Medien und dair Mnclntyre, Verlust der Tugend, Frankfurt am Main 1995 (Af
r 9 8 r). Man hielt dem Autor oft zugute, er habe eine heilsam korrigierende Rückkehr zur neo-aris totelischen Tugenderhjk vollzogen - was angesichts der morali schen Konfusion der Modernen durchaus begrüßenswert sei. Zieht man jedoch Maclmyres Schlußplädoyer in Betracht, wonach es gelte, den heiligen Benedikt und Trotzkij in einer Person zu ver einigen, um eine neue Richtschnur zu gewinnen, wird evident, daß von einer Überwindung der Konfusion keine Rede ist. Weder Benedikt noch Trotzkij können für die Rückkehr zu den Tugenden das Geringste leisten. Beide unterliegen dem Eros des Unmögli chen, der erste im Modus der Heiligkeit der zweite im Modus des polirischen Verbrechens im Diensee des Guten. Man schuldet Mac lntyre Dank für die Aufklärung, daß hinter dem neo-aristoteli schen Juste-Milieu-Diskurs noch immer die Ethik des frühkatholi schen heiligen Exzesses wirksam ist. Keine Figur könnte die moderne Unschlüssigkeit deodieher verraten: Der Zwitter Bene dikt-Trotzkij wäre nie imstande, sich zu entscheiden, ob er lieber im Kloster an der Verbesserung seiner selbst oder mirreis terroristi scher Praxis an der Verbesserung der Welt arbeiten soll. Der kon struktive Impuls, der von Maclntyres Reflexionen ausgeht, läßt sich also nicht durch eine restaurative Tugendethik auffangen. Was auf der Tagesordnung steht, ist eine Trainingsethik, die auf d en erhabenen metanoerischen Imperativ unserer Tage antwortet. Siehe unten S. 699f.
ter Virruc, Nocre Dame, lndiana
,
Ill
Die Exenitien der Modernen
Gelder - neue Übungsverhältnjsse hervorrufen - an erster Stelle Schulen und nochmals Schulen, dazu Ateliers, Theater, Konzertsäle, Kasernen, Fabriken, Kliniken, Zuchthäuser, Rednerkanzeln, Märkte, Versammlungsstätten, Stadien und Sportstudios. Was mit der Neuzeit beginnt, ist nichts weniger als ein neuartiges anthropotechnisches Regime im Großen, eine von Grund auf veränderte Schlachtaufstellung der Diszi plinen. Ob es wohl nötig ist, zu wiederholen, daß es Foucault war, der mit seinen vorbildlosen Studien zur Geschichte der neuzeitlichen Disziplinierungsverfahren unseren Blick auf dieses zuvor fast unbemerkte Feld geschärft hat? Die entscheidenden Veränderungen beziehen sich vor al lem auf die überlieferte Grundeinteilung in der Welt des übenden Lebens, die ich die »Ontologische Gebietsreform« nenne. In deren Verlauf hatten die Übenden des Altertums, die Adepten des philosophischen
modus vivendi,
später die
Mönche, die Bußkämpfer und Athleten Christi, sich aus den weltlichen Angelegenheiten zurückgezogen, um sich nur noch dem zu widmen, was ein jeder als ,.das Seine« ansah. Ihr ganzes Dasein galt der Sorge um das eigene Heil- und Ganz-Sein-Können inmitten des unheilträchtigen Jahrhun derts. Ihnen ging es um nicht weniger als um die Letztimmu nisierung des eigenen Lebens angesichts stets zu gewärtigen der Verletzungen und allgegenwärtiger Zerstreuungen. Sttum
tantum curare hatte die Heilsformel für die
Ära der Selbst
findung im Rückzug von der Welt gelautet, philosophische
Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts
509
und Lebensbejahung des »modernen Individuums« ist zu mißtrauen. Nicht wenige unrer den Geistreichen der Neuzeit stellten ihr Leben programmatisch unter das Zeichen Sa turns - das Gestirn des Wcltabstands. Die homines
novi, die
seit dem 14. Jahrhundert, der beginnenden Virtuosenzeit, auf
die Bühne treten, sind keine entlaufenen Mönche, die sich jäh den Wonnen des extravertierten Lebens zugewendet hätten, als ob sie ihre rausendjährige Rezession wie eine bedauerns werte Episode vergessen machen wollten. Sie halten an ihrem ontologischen Exil zumeist beharrlich fest, ja, sie reklamieren
mehr denn je eine noble Exterritorialität gegenüber der schlechten Gewöhnlichkeit - selbst ein exemplarischer Neu mensch wie Petrarca, der als einer der ersten unter den Mo dernen die Dichterkrone trug, das Hoheitszeichen einer Ari stokratie neuen Typs, wußte sehr gut, warum er sich so viele Jahre in seinem Refugium in der Vaucluse verbarg, einem nicht-mönchischen Typus der
vita solitaria
auf der Spur.
Wo sonst sollte er seine noble Krankheit, den Welthaß des Mannes von schwarzgalliger Konstitution, beherbergen, das Übel, das die Klostervorsteher in der ägyptischen Wüste un ter dem Namen akedia entdeckt und bekämpft hatten, wenn nicht in seiner Studierzelle fern von vulgären Sorgen? Für die frühen Modernen setzt die Hingabe an die geistige Sphäre noch immer die Verweigerung der Teilnahme am profanen Betrieb voraus. Und doch geraten sie, die Proto Virruosen, schwankend zwischen den älteren Mönchsklausen
und religoide Lebensentwürfe übergreifend.
und den neueren Studios der Humanisten,22 in eine ge
Man kann in keiner Weise behaupten, die Neuzeit habe die
Selbstintensivierung erfaßt, die mit den herkömmlichen mo
weltscheuen und radikal metanoerischen Formen der religiös oder philosophisch codierten cura sui über Nacht außer Kraft gesetzt. Nichts wäre illusionärer, als zu meinen, in der frühen
Moderne seien aus Weltflüchtern von gestern plötzlich neue
Weltkinder geworden, die ihre düsteren Absencen bereuten. Der Legende von der mit einem Mal wiedergefundenen Welt-
steigerte Lerndynamik. Sie werden von einer Drift in die nastischen Entselbstungsdressuren nur noch eine wider sprüchliche Einheit bildet. Aus diesen lntensivierungen re-
22 Zu den Übergängen zwischen der monasrischen und der humani stischen Sphäre im q . und t6. Jahrhunden vgl. Harald Müller,
Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog, Tübingen
2006.
510
III Die Exerzitien der Modernen
sultieren Tendenzen einer bedingten neuen Teilhabe der Spi rituellen an der Welt. Unter modifizierter Verwendung eines Ausdrucks des Neo-Phänomenelogen Hermann Schmitz be zeichne ich diese Rückwendung als »Wiedereinbettung« des ausgegrenzten Subjekts.23 Dank erster Einbettung nehmen Individuen unmittelbar an ihren Situationen teil, durch Wie dereinbettung finden sie nach Phasen der Entfremdung in sie zurück. Wer das Eintauchen in die Situation bejaht, ist auf dem Weg, zu werden, was Goethe in eigener Sache gelegent lich »das Weltkind in der Mirten<<24 nannte. Gleichwohl, die Exile der Übenden werden auch am Be ginn der Neuzeit so entschieden gewählt wie in der Antike, als die ethische Unterscheidung ihre Wirkung zu entfalten begann. Wie anders wäre die Popularität der Hieronymus Ikone zu erklären, an der man in der frühen Neuzeit die Wonnen des Rückzugs vom Jahrhundert in unzähligen Varia tionen dekliniert? Noch immer bezeugt der Gelehrte mit dem Löwen zu Füßen die Anziehungskraft des kontemplativen Lebens am Rande einer konvivial verwandelten, ja einer ver bürgerlichten Wüste - und das in einer aufgewühlten Zeit, die, wie man denken möchte, von allem etwas versteht, nur nicht von Wüsten und Refugien. Doch man beachte: Die Weltflucht der Neuen ist ebenso dringend motiviert wie in den Tagen des frühesten Ekels vor den Verhältnissen. Noch immer macht sie weltlich Hoffnungslosen Hoffnung, noch immer gewährt sie sozial Aussichtslosen Aussicht auf eine alternative Existenz. Nichtsdestoweniger laden sich die neu-
23 Der Ausdruck kommt auch in der englischsprachigen Soziologie
vor: Hier redet man von Einbenung, Entbettung und WiedereiD bet tung (embedding, disembedding, reembedding) im Verhälmis
24
des Einzelnen zu traditionalen Lebensformen. Siehe vor allem Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1990. Johann Wolfgang Goethe, Dine zu Coblenz im Sommer 1774, in: ders., Sämtliche Gedichte, Frankfun am Main und Leipzig 2007, s. 326.
Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts
51I
eren Rückzüge häufiger mir welthaften Bedeutungen eigenen Werts und Umfangs auf, bis der Punkt erreicht ist, an dem die rezessiv ausgegrenzte Subjektivität in ihrer Selbstsarge-En klave als eine Weltgestalt eigenen Rechts hervor1:ritt. Aus der methodisch gesuchten Weltfremdheit erblüht eine Virtuosen Industrie. Deren Meister greifen sich selbst als Werkstücke der Lebenskunst auf, um sich zu humanen Preziosen zu gestalten. Nietzsches Geständnis in Ecce homo: >>Ich nahm mich selbst in die Hand«, bringt neben dem selbsttherapeutischen Impuls eines chronisch Kranken Obertöne zum Klingen, die an die Hinwendung der Frühmodernen zur Verwandlung ihrer selbst in lebende Artifizien erinnern. Mag sein, daß die Kutte nicht den Mönch macht, das Studium aber bringt den Gelehr ten in Form, die Schriftübung macht den Humanisten zum Könner seines Fachs, die virtu läßt den Virtuosen glänzen. Inmitten der im Rückschritt zu sich selbst ausgegrenzten Sub jektivität entdecken die Übenden eine innere ferne Küste- ein Weltversprechen unbekannten Typs. Mehr als hundert Jahre vor dem realen Kontinent taucht ein symbolisches Amerika am Horizont auf: An seiner Küste setzen die neuzeitlich Übenden den Fuß in die Kleine Welt, die sie selbst sind. Was Jacob Burckhardt, den Spuren Michelets folgend, als Renaissance-Formel ausgegeben hatte: »die Entdeckung der Welt und des Menschen« war also - scheinbar paradox - an fangs ein Innenweltereignis. Sie führt zur Entdeckung der Welt i m Menschen oder besser zur Entdeckung des Men schen als t:ines Wdonodelb, als mikrokosmischer Abbrevia tur des Universums. Noch Friedrich Hebbel besaß von dieser Wendung eine Vorstellung, als er in seinen Tagebüchern no tierte: »Große Menschen sind Inhaltsverzeichnisse der Menschheit.<< Das Geheimnis des humanen Ganz-Sein-Kön nens wird nicht länger allein durch die biblisch beglaubigte Gottebenbildlichkeit begründet: Es verweist ebenso auf die Weltebenbildlicbkeit, aufgrund welcher der leidende, tätige und nachdenkliche Mensch sich selbst als Allspiegel und kC's-
TII Die Exerzitien der Modemen
misches Orakel begreifen darf. Hier setzt sich der Zug in Bewegung, der erst bei der barocken Gleichung von Gott und Natur wieder haltmacht- mit dem Menschen als Kopula und lebendem Gleichheitszeichen. Für das Subjekt der Neu zeit bedeutet dies, daß es sich als wirklichkeitshungriges Po tential begreifen soll. Menschsein heißt von da an sich als Werkstatt der Selbstrealisierung betreiben.
Homo mirabile Die Neudeutung der menschlichen Totalitätspotenz bewirkt die Transformation der Weltflucht in die welthaltigste Seins weise, mit welcher Individuen unseres Kulturkreises bis da hin Bekanntschaft schlossen. Aus der Anreicherung des Rückzugs zu einer Lebensform, die dem extravertierten Dasein an Fülle und Vielfalt in nichts nachsteht, geht die grenzenlos kultivierbare Selbststruktur hervor, die unter dem anthropologischen Programmwort der Neuzeit: »Per sönlichkeit« angesprochen wird. Die modernen Persönlich keiten - das sind die mikrokosmischen Lebenskunstwerke, die aus der althergebrachten Position rezessiver Selbstbil dung entstehen, nun aber nicht mehr im Geist klösterlicher humilitas und mystischer Sterbekunst, sondern angerrieben von einer enzyklopädischen artistischen Dynamik, die in un abschließbare Virtuositäten und Virtualitäten mündet, stau neoerregende Resultate einer Extraversion nach innen. Der Imperativ: »Du mußt dein Leben ändern!<< impliziert nun: sich selbst in die Hand nehmen, um aus dem eigenen Dasein einen Gegenstand der Bewunderung zu formen. Wo der Mensch selbst das Mirabile werden soll, das leben de Anificium, dem die Bewunderung der Mitwelt gilt (und das ist weit mehr als Achtung, Liebe oder Mitgefühl), kann er nicht dauerhaft in seiner weltflüchtigen Klausur verharren. Er muß sich eines Tages auf die Bühne bringen und aus der
Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts
513
inneren Performance eine äußere machen. Petrarca war genö tigt, sein Refugium zu verlassen, als er sich auf dem römi schen Kapitol zum Dichter krönen ließ -so geschehen am 6. April iJ4I, einem Schlüsseldatum in der Geschichte des »mo dernen Ruhms«. Am Outing des geistreichen Menschen auf den neuen Foren der Bewunderung hängt ein Gutteil dessen, was die herkömmliche Renaissance-Forschung unter dem Stichwort »neuzeitliches Individuum« vorzubringen wußte nicht umsonst hatte schon Burckhardt die Verknüpfung zwi schen Ruhm und Individualitätskultur als Epochenmerkmal hervorgekehrt. Was man neuerdings »das Archiv« nennt, war zunächst nur die Sammelstelle des Ruhms und der Berühm ten im kulturellen Gedächtnis - eine Funktion, die aus noch zu klärenden Gründen in die Regie des modernen Staats übergehen mußte - genauer: der semantischen Staatsbanken, der Museen und Großbibliotheken, denen die Verwaltung der Bedeutungshaushalte bzw. der »kulturellen Werte<< ob liegt.25 Was wie ein Jahrmarkt der Eitelkeiten erscheint, ist in Wahrheit der Staatsschatz an Prestige und Exzellenz, Keim zelle einer neuen Ökonomie kultureller Wertschöpfung. Daß diese säkularen Sammlungen dem Heilsschatz der Kirche den Rang streitig machen, spricht für die Atcraktivität des neuen Wertsystems. Wir erinnern uns: In der Sphäre der klösterlichen Anthro potechniken hatten die Mönche daran gearbeitet, sich in die Statue des Mönchs zu verwandeln, die exemplarische Plastik 2.5 Zur Begründung der nicht-monetären Bankenphänomene vgl.
P.
Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt am Main 2006, S. 2o8f. Zur philosophischen Deduktion der Idee des Wehmuseums vgl. Beat Wyss, Trauer der Vollendung. Von der Ästhetik des Deutschen Idealismus zur Kulturkritik an der Moderne, Berlin 198 5, Neuausgabe Ostfildern 1997; zur Metaphy sik des Archivs vgl. Boris Groysffhomas Knoefel, Politik der Unsterblichkeit, München 2002; zur Transformation der Unsterb lichkeit in eine praktische Idee vgl. die untenstehenden Hinweise auf Nikolaj Fedorov S. 5 57 und 624f.
lli Die Exerzitien der Modernen
des dienen den Gehorsams, deren Legende incurvatus et hu
miliatus sum lautete, ein Beweisstück für die Wirksamkeit des
Perspektive: Wiederverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts
515
Menschen bezog-vermutlich ist in heutiger Zeit die Oper die
letzte Kuostform, in der die sublime Konfusion überlebt.
Heiligen Geistes am menschlichen Werkstoff.26 Unter der
Jeder Festspielsommer beweist, daß die Disposition fortbe
und der klösterlichen Kontrolle (der Abt nimmt von jeder Regung seiner Herde Kenntnis) wollten die geistlich Üben
Tenöre wie sonore Gottesbeweise zu hören. Das Virtuosen
den sich an das Urbild ihres
gnung mit dem menschengemachten Mirabile - es war der
göttlichen Beobachtung (die Engel melden ja alles nach oben)
modus vivendi, den leidenden
Gottmenschen, assimilieren. Die vollendete Verwandlung in
den Heiligen setzte freilich die Intervention der Überwelt
steht, singenden Göttinnen
zu
huldigen und die acuti der
turn modernen Typs entstand aus der Einladung zur Bege
Appell an die willkommene Verwechslung von Kunst und
Leben und die ebenso willkommene Vermischung von Hel
voraus - weswegen hier die Bewunderung nur dem Wunder
den, Heiligen und Artisten.
lein das Jenseits vermochte dem verklärten Menschen eine
Komplexitäten des strategisch gefalteten und artistisch ge
gelten darf, das irdische Regelmäßigkeiten durchbricht. Al
Beglaubigung von oben zu gewähren.
Ganz anders lauten die Spielregeln in der Sphäre der hö
fischen, der humanistischen und der artistischen Anthropo
techniken - um von denen des massenmedialen, des neo athletischen und des biotechnischen Zeitalters noch zu
schweigen. Sie stehen im Zeichen des gemachten Wunderba
ren (mirabile), das sich nicht mehr an den Glauben wendet, sondern an den gebildeten Kunstgeschmack. Sie appellieren
an eine Gläubigkeit zweiten Grades, die sich als Sachver stand für gekonnte Unglaublichkeiten äußert.
Wenn der Sinn für das Wunder dem Sinn fürs Wunderbare
Platz macht, entsteht die moderne >>Kultur«. Wie man leicht
begreift, kann diese nicht mehr eine Sache der Heiligen und Stillen im Lande sein, die das Höhere als Winke der Überwelt
deuten. In der Wende zum Wunderbaren debütiert die Ge
Menschenkenntnis ist jetzt nur noch als Einsiehe in die
steigerten Lebens möglich. Daß der Mensch »strukturell«
sich selbst überlegen ist, daß er ein Gefälle in sich trägt, in dem er sich formt und geformt wird: Diese im Lauf der mo dernen Jahrhunderte konsolidierten Einsichten legen ein
exzentrisches Potential im Menschen offen, das nicht mehr auf die grobstofflichen Daten der politischen »Herrschaft des
Menschen über den Menschen« zurückgeführt werden kann um an die verbrauchte Formel der Saint-Simanisten zu erin nern. Im Gang der anthropologischen Aufklärung wird deut
lich, in wie hohem Maß jeder Einzelne in Vertikalspannungen
und Hierarchie-Effekten nicht-politischen Typs verfangen ist.
Wenn Dasein die persönliche Aktualisierung von Könnens
chancen bedeutet, dann bewegt sich jeder immer schon auf einer Leiter des Mehr oder Weniger, auf der er sich durch die
Ergebnisse seiner Anstrengungen selbst plaziert, ohne daß er
sellschaft des Spektakels, die Guy Debord zu Unrecht ins 20.
die vor ihm Liegenden als Unterdrücker abtun könnte. Das
rück, als die Virtuosen aus dem Schatten der Heiligen heraus
wahl seiner Talente betreut und die Mannschaft seiner Ge
Jahrhundert datierte. Sie reicht bis ins späte Mittelalter zu
Individuum erscheint nun eher wie ein Trainer, der die Aus
traten. Das Goldene Zeitalter der Kunstbewunderung konnte
wohnheiten antreibe. Ob man dies »Mikropolitik« nennt oder
gleichermaßen auf Kunstwerke wie kunstvollbringende
ist bloß eine Geschmacksfrage.
gerade so lange währen, wie die Bereitschaft zu staunen sich
26 Gekrümmt bin ich und gedemütigt; Regula Benedicti 7, 66-70.
»Lebenskunst« oder »Selbstdesign« oder »Empowermem«,
lll Die Exerzitien der Modemen
Homo anthropologicus Aus der unaufhaltsamen Potenzierung der Menschenkennt nis zur Theorie des Artisten läßt sich der Zug zur Anthropo logie begreiflich machen, die seit dem 18. Jahrhundert die manifeste Mitte des modernen Philosophierens bildet. Das Phänomen Anthropologie zeigt an und spricht aus: Bei der technischen Explikation sind Verhältnisse angebrochen, in denen die Menschen den Menschen von Grund auf neu er klärt werden müssen. Es genügt nicht länger, geradezu so Mensch zu sein, wie man vermeintlich aus der Hand der Natur hervorging - der Traum von einfacher Selbstbegrün dung aus der Herkunft ist ausgeträumt. Die erste Ausgabe der Menschlichkeit bleibt nur noch von ethnologischem Interes se - Rousscaus Ausflüge ins Grüne können daran nichts än dern. Noch schwerer wiegt, daß auch die seit der Antike bekannten Maßnahmen der asketischen Revolte gegen den alten, von Gewohnheiten, Leidenschaften und mentalen Trägbeiren regierten Ad�m in uns27 und die Aufstockungen des Menschseins durch religiöse, philosophische und athleti sche Übungen inzwischen nicht mehr zureichen. Die spiritu eU Interessierten unserer Tage saUten zur Kenntnis nehmen, daß die großen Lehrer der Menschheit von Lao Tzu bis Gau tama Buddha, von Platon bis Jesus, und warum nicht auch Mohammed, im strengen WortSinn nicht mehr unsere Zeit. 8 genossen smd.2
Über die Trias von Gewohnheiten, Leidenschaften und mentalen Trägheiten (auch bekannt als •Meinungen«) und ihre Überwin dung durch die erste ethische Unterscheidung siehe oben S. 264. 28 Ich deute weiter unten (S. 666-671) an, warum ihre Lehren durch weg auf Verhältnisse des Eisernen Zeitalters im Hesiodschen Sinn bezogen sind, während die moderne Zivilisation als ein zweites Silbernes Zeitalter begriffen werden muß: Dieses stellt andere Fra gen und sucht andere Antworten.
2.7
Perspektive: Wicderverwclrlichung des zurückgezogenen Subjekts
517
In der a nthropologischen Explikation gerät der Mensch in eine moralisch und epistemologisch ekstatische - nach Pless
ner »exzentrische« - Position gegenüber sich selbst. Deren Präzisierung ergibt das Bild eines ontologischen Zwitterwe
sens: Es zeigt einen seit jeher zum übenden Selbstbezug ver urteilten Spielleiter, der vor der Aufgabe steht, das Skript der
eigenen Existenz auf der Bühne umzusetzen und dabei zu beobachten, wie andere ihn beobachten. Man kann es nun
expresssi verbis sagen:
Im homo artista sind der Akteur und der Beobachter zu einem dynamischen Dual zusammenge zogen. Schon die frühen Asketen hatten diese Verhältnisse
ausgeleuchtet; die Moderne wollte die entsprechenden Ein sichten in ihrem diskursiven Stil und mit technischem Zu behör verbindlich machen. Niemand soll noch Mensch sein können, ohne zugleich Anthropologe, ja Anthropotechniker
zu werden. Diese Titel erhält, wer für seine Form und Er scheinung Verantwortung übernimmt. Der anthropologische Merksatz, wonach der Mensch rucht einfach lebt, sondern
sein Leben »zu führen hat«, übersetzt sich am Ende des
20. Jahrhunderts in die aus allen Medien tönende Forderung,
aus dem eigenen Ich ein Projekt und aus dem Projekt ein
Unternehmen zu machen, Selbstkonkursverwaltung inklu9 SJVe.2 •
Auf dem ersten Höhepunkt des großen subjektiven Rü stungszyklus konnte BaJtasar Gracian in dem Satz, mit dem er sein 1647 unter einem Pseudonym erschienenes Handora die klügste Trainingsanleitung für den Mann von Welt,
kel,
die auf europäischem Boden formuliert wurde, zum Abschluß brachte, noch die umfassende Lebensmaxime aufstellen:
»Mit einem Wort, ein Heiliger sein,
und damit ist alles
auf einmal gesagt. Die Tugend ist das gemeinsame Band
29
":'gl. Ulri �h �r?ckling, Das Unternehmerische Selbst. Soziologie emer Subjeknvterungsfonn, Frankfurt am Main :z.oo7.
p8
lii Die Exerzitien der Modernen
aller Vollkommenheiten und der Mittelpunkt aBer Glückseligkeit. Sie macht einen Mann vernünftig, um
ro
sichtig, klug, verständig, weise, tapfer, überlegt, redlich,
KuNsT AM MENSCHEN
lN DEN ARSENALEN DER ANTHROPOTE C H N I K
glücklich, beifällig, wahrhaft und zu einem Helden in
jedem Betracht.«30 Man würde in der Literatur der Moderne vergeblich nach
Passionsspiele
einer Stelle suchen, an der die Wendung »ein Heiliger sein«
so kunstvoll irreführend verwendet wird wie an dieser. Was hier der Heilige heißt, ist eine Maske des wiedergekehrten Weisen stoischer Provenienz, der seinerseits ein Deckbild des noch unbegriffenen modernen Menschen darstellt, des Virtuosen,
des
Erfolgskünstlers,
des Unternehmers,
ja
schlechthin des Mannes - und der Frau - mit weitreichenden Absichten und komplexen Hintergedanken. Es mag im Zeit alter der lch-AGs nicht ohne Interesse sein, daran zu erin nern, daß das, was heute Fitness heißt, in der frühen Moderne unter dem Namen Heiligkeit empfohlen werden konnte. Von der wahren Qualität der neuen Persönlichkeitskultur gibt der erste Satz des Handorakels einen klareren Begriff als der letz te:
Nach dem Gesagten wird die moralgeschichtliche Zäsur der Neuzeit prägnant: Dieses Weltalter vollzieht die Umstellung von der individuellen Metanoia zum massenhaften Umbau der
conditio humana
»von der Wurzel her«. Die Moderne,
die immer nur radikal sein konnte, säkularisiert und kollek tiviert das übende Leben, indem sie die althergebrachten As kesen aus ihren spirituellen Kontexten herausbricht, um sie ins Fluidum der modernen Trainings-, Ausbildungs- und Ar beitsgesellschaften aufzulösen. Unnötig zu sagen, daß damit der altehrwürdigen
vita contemplativa der Boden
entzogen
wird. Der Aktivismus der Modernen drängt die monastische Lebensweise an den Rand; die Reformation vertreibt den Orient aus dem Christentum. Reste der Kontemplation über
»Alles hat heutzutage seinen Gipfel erreicht, aber die
leben im Kunstsystem, wo man das Glauben in Staunen, das
Kunst, sich geltend zu machen, den höchsten. Mehr ge
Beten in Bewundern umwandelt. Hier lernen die Einzelnen,
hört jetzt zu einem Weisen als in alten Zeiten zu sieben:
ihr Affiziertwerden durch die Werke großer Meister mehr
und mehr ist gefordert, um in diesen Zeiten mit einem
oder weniger devot als Kunstgenuß zu erleben. Im 1 5 . Jahr
einzigen Menschen fertig zu werden, als in vorigen mit einem ganzen Volke. «3 1
hundert sprang die
devotio moderna
als popularisierte My
stik aus den Klöstern in die Städte über. Sie brachte die Idee zum Ausdruck, auch Bürger sollten künftig ein Recht auf Kreuzigung neben dem Herrn haben - als Könnensform
des Leidens richtete die Nachahmung des Gottmenschen
auf der via crucis einen erhabenen Attraktor für die Laien auf. Zu Beginn der Kunstzeit wechselt der Wille zur Passion 30
Baltasar Graci:in, Hand-Orakel und Kunst der Welrklugheit, über tragen von Arthur Schopenhauer, Frankfurt am Main 1986, S. 1 30 Gracian, Hand-Orakel, a. a. 0., S. 1 1 .
.
31
das Lager. Er drückt sich jetzt als Bewunderung für Artisten aus, in deren Darbietungen Leiden und Können ineinander übergehen. Was ist Kunst, wenn nicht eine Könnensform des
520
111 Die Exerzitien der Modemen
Leidens, die zugleich die Leidensform des Könnens ist? Das Mitleiden und Mitkönnen mit dem Virtuosen wird zur Grundlage des modernen Applauses. Kreuzigungen alten Stils bleiben in einer Welt voller Künstler eher unbeachtet. Die nachmittelalterliche Welt ist darum von Passionen erfüllt, die ihre Herkunft nicht nennen oder nicht mehr kennen. Die ser Umstand mag begreiflich machen, warum sich die aske tischen Praktiken in der Moderne unter einem dreifachen Pseudonym verbargen - dem der Kunst, dem der Bildung und schließlich dem der Arbeit, um sich erst im Sport wieder unter eigenem Namen fast unverhüllt - zum Training mo dernisiert - zu präsentieren. In diesen Masken setzten sich die disziplinarischen Imperative der Moderne an allen Fron ten der menschlichen Selbstintensivierung durch. Die Übun gen, die den Künstler, den Bildungsmenschen und den Ar beitsmenschen formten, erfüllten bereits die Bedingung, die Nietzsche formulierte, als er die vermeindich revolutionäre Aussicht auf die Wieder-Vernatürlichung der Askesen ins Auge faßte.32 Wenn der Wanderer von Sils Maria die Abkehr von der christlichen Mortifikations- und Entsdbstungs übung forderte - wobei wir die Frage offen lassen, ob er das Wesen des christlichen Asketismus richtig erfaßr hatte und die Steigerungsaskese, die Selbstbemächtigungsübung, das Entfaltungstraining an ihre Stelle setzen wollte, sprach er weder als vorauseilender Rufer vom Berge noch als wun derlicher Prophet vom Rande, sondern aus der Mitte des Tendenzstroms, der sich seit dem Anbruch der Virtuosenzeit im europäischen I 5 . Jahrhundert formiert hatte. Das Ereignis Nietzsche bleibt nicht deswegen epochal, weil der Autor ganz Neues über die menschliche Bedingung gesagt hätte schließlich lag die Forderung nach der Überhöhung des Men schen, sei sie individuell, sei sie kollektiv, seit antiken Zeiten 3 2 Si eh e oben
S. r94f.
10
Kunst am Menschen
in der Luft, sie hatte das Fluidum des Christentums in seinen ersten anderthalb Jahrtausenden gebildet/3 und sie lieferte weiterhin die erste Selbstverständlichkeit aller aufgeklärten Kommunikationen über den Weltlauf, selbst wenn der Kon servatismus mit seinem pessimistischen Leitsatz »der Mensch ist immer derselbe« ihr seit der Französischen Revolution chronisch widersprach. Nietzsches Intervention bleibt denk würdig, weil sie eine Erhöhung der Artikulationsstufe im Prozeß der anthropotechnischen Explikation bewirkte und diese Explikation, ich wiederhole es, ist für u ns die tech nische und epistemologische Form des Schicksals. Weil der Mensch jetzt als das animal technologicum begriffen wird, liegt in jedem weiteren Vorstoß der Technik zur Anwendung auf ihn selbst ein pro nobis von unausweichlicher Verbind lichkeit.
Impfung mit dem Ungeheuren: Nietzsche als lmmunologe Mit Nietzsche verbindet sich das wenig verstandene logische Hauptereignis des 19. und 20. Jahrhunderts: die Transforma tion der Metaphysik in Allgemeine Immunologie - ein Ereig nis, an dessen Nachvollzug die moderne Philosophie ebenso wie die Theologie und die konventionelle Soziologie bis heu te gescheitert sind.34 Durch die Offenlegung von Immunität als System und Prinzip wird der Mensch sich selbst neu er klärt. Er expliziert sich als ein Wesen, das sich im Ungeheuren - Heidegger sagt: ln-der-Welt - sichern muß, selbst um den 33
34
Das erste Vorkommnis des Worts superhomo (nach dem griechi schen hyperanthropos) findet sich in einem päpstlichen Dokument des späten 1 3· Jahrhunderts: in der von Bonifaz VIII. veröffentlich ten Heiligsprechungsbulle für Ludwig IX. von 1297. AJlcin die Luhmannsche Systemtheorie hat aufgrund ihres meta biologischen Ansatzes den immunologischen Imperativ in ihre Grundlagen integriert. Vgl. N. L., Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 504f.
po
ITT Die Excniticn der Modernen
Leidens, die zugleich die Leidensform des Könnens ist? Das
Mitleiden und Mitkönnen mit dem Virtuosen wird zur
Grundlage des modernen Applauses. Kreuzigungen alten Stils bleiben in einer Welt voller Künstler eher unbeachtet.
Die nachmittelalterliche Welt ist darum von Passionen erfüllt,
10
Kunst am Menschen
52r
i n der Luft, sie bane das Fluidum des Christentums in seinen ersten anderthalb Jahrtausenden gebildet,33 und sie lieferte
weiterhin die erste Selbstverständlichkeit aller aufgeklärten Kommunikationen über den Weltlauf, selbst wenn der Kon
servatismus mit seinem pessimistischen LeitSatz »der Mensch ist immer derselbe« ihr seit der Französischen Revolution
die ihre Herkunft nicht nennen oder nicht mehr kennen. Die
chronisch widersprach. Nietzsches Intervention bleibt denk
tischen Praktiken in der Moderne unter einem dreifachen
Prozeß der anthropotecbnischen Explikation bewirkte -
ser Umstand mag begreiflich machen, warum sich die aske
würdig, weil sie eine Erhöhung der Artikulationsstufe im
Pseudonym verbargen - dem der Kunst, dem der Bildung und schließlich dem der Arbeit, um sich erst im Sport wieder
und diese Explikation, ich wiederhole es, ist für uns die tech
dernisiert - zu präsentieren. In diesen Masken setzten sich
liegt in jedem weiteren Vorstoß der Technik zur Anwendung
unter eigenem Namen fast unverhüllt - zum Training mo die disziplinarischen Imperative der Moderne an allen Fron
ten der menschlichen Selbstintensivierung durch. Die Übun gen, die den Künstler, den Bildungsmenschen und den Ar beitsmenschen formten, erfüllten bereits die Bedingung, die
Nietzsche formulierte, als er die vermeintlich revolutionäre Aussicht auf die Wieder-Vernatürlichung der Askesen ins
Auge faßte.32 Wenn der Wanderer von Sils Maria die Abkehr von der christlichen Mortifikacions- und Entselbstungs
übung forderte - wobei wir die Frage offen lassen, ob er das Wesen des christlichen Asketismus richtig erfaßt hatte und die Steigerungsaskese, die Selbstbemächtigungsübung, das Entfaltungstraining an ihre Stelle setzen wollte, sprach er weder als vorauseilender Rufer vom Berge noch als wun
derlicher Prophet vom Rande, sondern aus der Mitte des
Tendenzstroms, der sich seit dem Anbruch der Virtuosenzeit
im europäischen 1 5. Jahrhundert formiert hane. Das Ereignis
Nietzsche bleibt nicht deswegen epochal, well der Autor
ganz Neues über die menschliche Bedingung gesagt hätte schließlich lag die Forderung nach der Überhöhung des Men
schen, sei sie individuell, sei sie kollektiv, seit antiken Zeiten
3.2 Si ehe oben S. 194f.
nische und epistemologische Form des Schicksals. Weil der Mensch jetzt als das
animal technologicum
auf ihn selbst ein pro
nobis von
begriffen wird,
unausweichlicher Verbind
lichkeit.
Impfung mit dem Ungeheuren: Nietzsche als Immunologe Mit Nietzsche verbindet sich das wenig verstandene logische Hauptereignis des 19. und 20. Jahrhunderts: die Transforma tion der Metaphysik in Allgemeine Immunologie- ein Ereig
nis, an dessen Nachvollzug die moderne Philosophie ebenso
wie die Theologie und die konventionelle Soziologie bis heu te gescheitert sind.34 Durch die Offenlegung von Immunität als System und Prinzip wird der Mensch sich selbst neu er
klärt. Er expliziert sich als ein Wesen, das sich im Ungeheuren
- Heidegger sagt: In-der-Welt - sichern muß, selbst um den
33 Das erste Vorkommnis des Worts superhomo (nach dem griechischen hyperanthropos) findet sich in einem päpstlichen Dokument des späten 1 3· Jahrhundens: in der von Bonifaz Vlll. veröffenr.lich ten Heiligsprechungsbulle für Ludwig IX. von 1297. 34 Allein die Luhmannsche Systemtheorie hat aufgrund ihres meta biologischen Ansatzes den immunologischen Imperativ in ihre G rundlagen integriert. Vgl. N. L., Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 50,V.
IlJ Die Exerzitien der Modernen Preis monströser Bündnisse. Klärungen dieses Typs hätten
ro
Kunst am Menschen
5 23
Schädigung des Lebens, dem unbedingt gewissen, wahr
den Status der >>Religion« als der (neben dem Rechtswesen)
scheinlich gewaltsamen Tod, die Möglichkeit einer Rückver
umfassendsten immunitären Praxis symbolischen Typs un
sicherung in einem unzerstörbaren Leben entgegen. Um der
mittelbar affizieren müssen -doch hat es ein ganzes Jahrhun
gleichen versprechen zu können, lag es nahe, sich mit einem
Theologie von den neuen Reflexionspotentialen Gebrauch
xis tauchte unter zahllosen Deklinationen in nahezu allen
dert gedauert, bis jüngere Formen von Kulturtheorie und machten. Dabei waren schon in der deutschen Romantik die Wei
chen gestellt worden: Wenn Religion nach der halbmodernen Definition Schleiermachers als >>Sinn und Geschmack für das Unendliche« zu begreifen ist, bedeutet dies vor dem Hinter
todüberwindenden Prinzip zu verbünden. Diese AlJianzpra
Kulturen auf. Sie wurde von den frühen christlichen Theolo
gen mit dem römischen Ausdruck
religio recodiert, um das
Bündnis zwischen dem Menschen und dem Gott, der den Tod widerlegt hatte, in seine definitive Form zu gießen. Daher rührt der Anspruch des Christentum, die »wahre Religion«
grund der immunologischen Kehre nichts anderes als die Op
zu sein: Sie ist die Allianz, die die höchsten Versicherungs
tion für eine Höchstform symbolischer Immunität, also für
leistungen bietet.
chen stabilisiert - sie mug also mit dem Umfang der Verlet
einen Schritt vorangegangen war, heißt die Prozedur der
Bei Nietzsche, der in der Explikation dieser Phänomene
eine Version der Letztversicherung, die sich im Größtmögli
zungen wachsen. Schleiermacher steht der logischen Moder ne nahe genug, um zu verstehen, daß dieses Resultat nur durch eine neue Operationalisierung der religiösen Akte zu erreichen ist: gleichsam durch die Impfung mit dem Unend
Infinitisierung: Impfung mit dem Wahnsinn.35 Deren Sinn lag für ihn allerdings nicht nur in der Absicherung gegen Lebensrisiken, sie bezweckte darüber hinaus die Erhöhung
der Einsätze. Den Menschen mit dem Wahnsinn impfen
lichen. Genau hierin hatte die bewußtseinstechnische Ent
heißt: die Einzelnen mit ihrem
deckung der Romantik bestanden: Nach der Aussage des
chen und in ihnen eine Willensreaktion hervorrufen, dem
Status quo
unzufrieden ma
Novalis ist Romantisieren identisch mit der Kunst, dem End
trivialen Dasein einen nicht-trivialen Sinn zu geben. Seit
liehen einen unendlichen Sinn zu verleihen - deswegen galt
Nietzsche kann man wissen, warum funktionale Erklärungen
die Religion jetzt als allgemeine Anwendung des romanti
des »religiösen<< Phänomens unvollständig bleiben: Wie das
schen Verfahrens. Für Novalis und Kollegen waren die rezi
Übungssystem Kunst reagiert das Übungssystem »Religion«
proken Übergänge von Kunst in Religion und von Religion in
nicht bloß auf Defizite. Sie löst keine Probleme, sie manife
Kunst folgerichtig eine ausgemachte Sache. Rückwirkend
ließ sich nun auch darlegen, was die Menschen bei ihren frü
hesten »religiösen« Handlungen bewegte. Diese vollzogen an
erster Stelle diplomatische Prozeduren, um Allianzen gegen
Schadensmächte zu schließen. Sie handelten Glücksbedin gungen des menschlichen Daseins mit unglückbringenden Mächten aus. Darum war stets dafür zu sorgen, daß dem Heil mehr Energie zufließt als dem Unheil: Gott ist größer. Insbe
sondere setzte man von alters her der größten annehmbaren
stiert Überschüsse, die sich in keiner realen Aufgabe verbrau chen lassen. Die Frommen sagen hierzu: >>Es gibt nicht nur den Nutzen - es gibt auch den Segen.«36 Die nicht so From men übersetzen: Es gibt nicht nur den Mangel, es gibt auch
das Zuviel. 3 5 F. N., 36
Zarathustras Vorrede 3· Vgl. Heinz-Theo Homann, Das funktionale Argument: Konzepte und Kritik funktionslogischer Religionsbegründung, Paderborn/ München/Wien/Zürich 1997.
524
lli
Die Exerzitien der Modemen
Der religioide Akt par excellence, den Schleiermacher konventionell den »Glauben<< nennt, geht folgerichtig Wahnsinn verpflichtet - mit einer Suspension der Empirie einher. Nur der ist in der Lage zu glauben, der imstande ist, sich gegen die Autorität des Augenscheins zu entscheiden, im gegebenen Fall gegen den Schein der Endlichkeit, bei Fichte sogar gegen den Schein der Priorität des Objektiven. Wer nicht in gewissen Grenzen verrückt werden kann, hat unter Gläubigen nichts zu suchen - man könnte statt ver rückt auch kindlich sagen. Warum dies so ist, verdeutlicht die Einsicht in die Funktion symbolischer Immunsysteme. Sie trennen die Einzelnen aus dem Kontinuum prosaischer Daten heraus. Ihre Basisoperation zielt darauf, das Un wahrscheinlichste als das Gewisseste einzuüben. Noch einmal Terrullian: certurn est quia impossibile.37 Ohne Ab kopplung vom Realitätsprinzip gibt es keine Immunität ge gen Rückschläge, ohne den Willen zum Glauben keine Zu versicht, die Berge, die heute hier stehen, könnten schon morgen an anderer Stelle auftauchen. 38
Das europäische Trainingslager Wenn ich nun das Drama der Explizitmachung menschlicher Existenz durch technische und symbolische Ergänzungen in 37 Zum christlichen Surrealismus siehe oben S. 323f. 38 Trotzkij hat dieses Motiv aufgenommen, um die Stoßrichtung der sozialistischen Technik zu erläutern: »Wenn der Glaube nur ver sprochen hat, Berge zu versetzen, so ist die Technik, die nichts >auf Treu und Glauben< hinnimmt, tatsächlich imstande, Berge abzu tragen und zu versetzen . . . entsprechend den Erwägungen eines allgemeinen Produktions- und Kunstplanes.« Zitiert nach: Die Neue Menschheit. Biopolitische Ucopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Boris Groys und Michael Hagemeister unter Mitarbeit von Anne von der Heiden, Frankfurt am Main 2005. S. 417f.
1 0 Kunst am Menschen
525
einigen wesentlichen Aspekten skizziere, so nicht i n der Ab sicht, die ganze Geschichte der neueren Anthropotechniken zu erzählen - das wäre ein Projekt, das sich von einem For scherteam kaum in Jahrzehnten abarbeiten ließe. Ich kann in diesem Kapitel nicht mehr versprechen als einen vorläufigen Versuch, einige minimale logische und sachliche Vorbedin gungen für das Verständnis der behandelten Fragen zu be nennen. Der Phänomenkomplex, den ich exponieren möchte, zeigt bereits auf den ersten Blick seine entmutigende Kom plexität, auf den zweiten auch seine Unheirnlichkeit. Er umfaßt nicht weniger als die Umwandlung Europas in ein Trainingslager für menschliche Steigerungen an einer Viel zahl von Fronten, gleich ob es sich um das Schul- und Militärwesen, die Welt der Werkstätten oder um die eigen sinnigen Universen der jüngeren Medizin, der Künste und der Wissenschaften handelt. Als vom mittleren 19. Jahrhun dert an der Sport, begleitet vom Hygienismus und zahl reichen Gymnastiksystemen, zu dieser Reihe hinzukam, er gänzte er die bekannten Praxissphären um eine eigenwenige Disziplin, die nicht weniger beinhaltete als die Reindarstel lung des neuzeitlichen Steigerungsverhaltens in spezifischen Theatralisierungen. Mit dem Sport fand der Geist der kom petitiven Intensivierung des Daseins seine nahezu universal verständliche, daher weltweit nachgeahmte Ausdrucksform. Er brachte nicht nur die »Wiedergeburt der Antike« zum Abschluß, er lieferte die bandfesteste Illustration für den performativen Geist der Moderne, sofern diese ohne die Entspiritualisierung der Askesen nicht zu denken ist. Ent spiritualisierte Askese heißt Training39 und korrespondiert 39 Das Wort, das seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhu.nderts nachweisbar is� macht zusammen mit der Sache von der Jahrhun dertmitte an Furore (.auf französisch: entraznement, auf deutsch zuweilen auch Trainirung«). »
p6
1II Die Exerzitien der Modernen
mit einer Wirklichkeitsform, die von den Einzelnen Fitness überhaupt, Fitness
sans phrase40 verlangt.
10 Kunstam Menschen
527
Die eben genannten Gruppen von Disziplinen bilden eine
Konstellation, die nur im Rahmen einer allgemeinen Ge
Training ist Methodismus ohne religiösen Bezug. Darum
schichte systemischer Intensivierungen zu begreifen ist. Wie
Weltgesellschaft des I 9., des 20. und des beginnenden 2 1 . Jahr
schichte der Ordnungs- und Disziplinarsysteme, integriert
rialismus«; es besaß einen tieferen Grund in der Tatsache, daß
zeit im ganzen nur gerecht werden, wenn man sie auf einen
Übungsvorsprünge alle übrigen Zivilisationen auf dem Plane
und technischen Wandel bezieht: Das Dasei1 1 der Modernen trägt Züge einer globalen Fitnessübung, bei welcher die oben
entsprang das Übergewicht des Westens in der Evolution der hunderts nicht nur aus dem zu Recht viel getadelten »Impe es die Menschen dieser Weltgegend waren, die aufgrund ihrer ten nötigten, sich in die von ihnen eingeleiteten Trainingszy
klen einzuklinken. Der Beweis hierfür: Unter den abgehäng
ten Nationen schafften nur diejenigen den Sprung nach vorn,
die sich darauf verstanden, mittels eines zeitgemäßen Schul
bemerkt, berührt sich dies mit Foucaults Studien zur Ge
diese jedoch in einen weiteren Horizont. Man kann der Neu
bislang nie angemessen dargestellten mentalen, moralischen
so genannte »ethische Unterscheidung«, der intensive Appell zur Erhöhung des Lebens - in vormoderner Zeit nur von den
wenigsten vernommen-, in einen universell adressierten und
vielfältig beantworteten metanoetischen Imperativ umge
wesens ein ausreichendes Maß an didaktischem Stress zu im plantieren. Das gelang am besten dort, wo, wie in Japan und
wandelt wird. Dessen Übermittler sind in erster Linie der
gang zu den modernen Disziplinen erleichterte. Inzwischen
gisch unterstützt von der Geistlichkeit aller Konfessionen.
China, ein elaboriertes System feudaler Dressuren den Über
haben die Tigerstaaten des Übens aufgeholt, und während der
Modernismus des Westens über Imitation und Mimesis hoch
mütig die Nase rümpft, haben neue Konkurrenten in aller
Welt das älteste Prinzip des Lernens zur Grundlage ihres Er
folgs gemacht. Was eine alte Großmacht des Übens wie China
neuzeitliche Staat und die ihm gemäße Schule,42 anfangs ener
Daneben haben sich auch andere Agenturen, nicht zuletzt
die Schriftsteller der Aufklärung, Fragmente des Mandats
angeeignet, zur Änderung des Lebens aufzurufen. »Kultur ist eine Ordensregel« - das bedeutet für die Modernen: Sie
stehen ständig vor der Aufgabe, sich einem Leistungsorden
ihm verdankt, werden die Okzidentalen wohl erst begreifen,
einzufügen, der ihnen seine Regel aufprägt, mit der bemer
wenn die Konfuzius-Institute der neuen Globalmacht bis in die letzten Winkel des Planeten vorgedrungen sind.4 1
Stücken beitreten, sondern in ihn hineingeboren werden. Ob
40 Zur Verwandtschaft zwischen abstrakter Arbeit und abstrakter
Fitness vgl. die in Fußnote 1 1 7 zu K ap itel II ziti erte Marxsche These über die Differenz zwischen Sklaverei und Jobberei; der Autor erkennt in dieser Differenz elne geschichtliche Bewegung, zu deren Deutung der gesamte Apparat einer Kritik der Produk tionsverhältnisse vonnöten sei; um die Emergenz von abstrakter Fitness zu begreifen, ist nicht weniger als eine umfassende Rekon struktion der Übungsverhältnisse erforderlich. 41 Manfred Osten, Konfuzius oder Chinas neue Kulturrevolution, in: China. Insel-Almanach auf dasJahr 2009, Frankfurt am Main 2009, .3. 266-297·
kenswerten Nuance, daß sie dem Orden nicht aus freien
sie wollen oder nicht, ihre Existenz ist von vorneherein in allgegenwärtige disziplinäre Milieus eingebettet - dagegen kommen Aussteigerbewegungen, Faulheitsromantiken und Große Weigerungen nicht auf. Wie um zu beweisen, daß es
ihrn mit seinem Leistungsimperativ ernst ist, kennt auch der Leistungsorden, der sich im Gewand der bürgerljchen »Ge
sellschaft« verbirgt, so etwas wie Konfirmationen fürden Elan der Jungen: Zertifikate, Examina, Promotionen, Prämien.
42 Über die antagonistische AUianz Staat/Schule siehe unten S. 548f.
p8
IIl Die Exerzitien der Modernen
Sobald der absolute Imperativ in die Breite wirkt, ist das Weltalter der Propaganda angebrochen. Es ist nicht allein der christliche Glaube, der nach universaler Ausbreitung und Durchdringung strebt (wie es die berüchtigte, von dem ge genreformarorischen Papst Gregor XV. im Jahr 1622 einge richtete Congregatio de propaganda fide sich zur Aufgabe setzte), es ist der Imperativ des menschlichen In-Form-Kom mens im allgemeinen, der die europäischen Populationen, angeleitet von ihren kirchlichen und weltlichen Mentoren, unter Trainingsdruck setzt. Auch im Antagonismus der Kon fessionen war von Anfang an ein Zwang zur Erhöhung des Glaubenstonus wirksam. Die Zugehörigkeit zu einem Glau benslager implizierte, zumal in Kampfzeiten, ein erhöhtes Maß an Nötigung zu religionspolemischem ln-Form-Sein. Auch die ignatianischen Exerzitien stellten nur eine von vie len Ausprägungen des frühmodernen Fitness-Imperativs auf religiösem Gebiet dar. Die weit verbreiteten, für ihre Strenge wie für ihre Lehrerfolge berühmten Jesuitenschulen bildeten das greifbarste Zeugnis für entsprechende Vorstöße an der pädagogischen Front. Sobald die Erfassung größerer Bevölkerungen durch mo ralisch und artistisch anspruchsvolle Vertikalspannungen auf der kulturellen Agenda steht, müssen ungewohnte Wege zur Popularisierung der Askesen gebahnt werden. Die elitären Anfänge des Asketismus bleiben dabei auf der Strecke. Darum sprengen die Exerzitien der Modernen die Klöster, die Kathe dralschulen, die mittelalterlichen Waffensäle auf und schaffen neue Übungszentren. Mit der Zeit verwandeln die renovierten Trainingseinheiten die >>Gesellschaft« insgesamt in einen vom Steigerungsstress erfaßten Übungsverband -was vormals vor allem die Weltflüchter betrieben, rückt in die Mitte des Sy stems. Eremitagen bezeichnen jetzt galante Rückzugsorte oder launische Paläste am Ufer kalter Flüsse, doch dem Zwang zur Fitness entgehen auch die Herrschaften nicht, die sich solche höheren Spielformen der Entspannung leisten können.
10 Kunst am Menschen
529
Die großen Aufbrüche des 17. Jahrhunderts zu den pädago gischen Utopien dürften die >>Sattelzeit« des neuen Lei stungsuniversalismus anzeigen - ja, noch die Einflüsterer der aktuellen »Informationsgesellschaft«, die die Parole »le benslanges Lernen« ausgeben, tun dies in unbewußrer Fort setzung der barocken Mobilmachungen. Wer verstehen möchte, wieso die Neuzeit sich als die Ära der Technik und zugleich der anthropologischen Selbsterklärung erwies, muß auf die Tatsache achten, daß das sozialgeschichtliche oder besser: lebensstilgeschichtliche Hauptereignis dieser Epoche in der Transformation der ••Gesellschaften« in übende Ver bände, in stressgesteuerte Mobilmachungsgruppen und inte grale Trainingslager besteht - die Ausdifferenzierung der Teilsysteme übergreifend. Dabei werden ständig erneuerte Technologien mit Menschen konfiguriert, die ständig über sich selbst umlernen müssen. Diese Verbände sind »interdis ziplinär« verfaßt, da die diversen Übungssysteme mittels en ger und loser Kopplungen ineinander verschränkt sind - wie die Waffengattungen eines Armeeverbands oder strategische Rollen innerhalb einer Mannschaft. Was man die arbeitsteili ge »Gesellschaft« nennt, ist defacto das übungsteilige Kom petenzenfeld eines modernen Leisrungskollektivs, das sich auf das Stressfeld >>Geschichte« begibt. Geschichtsschreibung wird die Berichterstattung von konkurrierenden Schicksals gemeinschaften unter gemeinsamem Stress. Jedoch darf man hierbei nie außer Betracht lassen, in wie hohem Maß die na tionalen Formate der neu-europäischen Leistungskultur vom anfangs noch selbstverständlichen Internationalismus der Künste, der Literaturen, der Wissenschaften, der militäri schen Drillverfahren und in jüngerer Zeit auch der sportli eben Athletismen durchkreuzt wurden. Von der Neuzeit reden heißt somit die kulturelle Erzeu gung eines allesdurchdringenden Reizklimas der Leismogs steigerung und der Fähigkeitsentfaltung zur Sprache brin gen - eines Klimas, das sich in den absolutistischen Staate'!
lll Die Exerzitien der Modernen
53°
lange vor der sozialdarwinistischen Proklamation der Kon
kurrenz zum vorgeblich naturgeschichtlichen Gesetz durch
gesetzt hatte. Es ist durch die stetige Veräußerlichung der
Übungsziele und die Verwandlung der Sammlung in Fitness geprägt.
Der aktuelle Schlüsselbegriff für diese veräußerlichten
Steigerungen auf der Linie der äußeren Anwendung heißt
enhancement,
ein Wort, das wie kein anderes den Akzent
wechsel von der vormaligen übend-asketischen Selbstinten sivierung (und ihrer bürgerlichen Übersetzung in »Bildung«)
10 Kunst am Menschen
subjekts, das sich in langwierigen Askesen an das Gesetz des Kosmos assimilieren wollte oder durch Entselbstung in sei nem Inneren für Gott Platz schuf (eine »Ästhetik der Exi
stenz«, wie Foucault sie wiederentdeckt haben wollte, hat es in der Antike allerdings nie gegeben, und das Mittelalter kann
dergleichen unmöglich erfunden haben), tritt das Lifestyle Subjekt, das auf die gängigen Attribute zur Darstellung von
existentieller Souveränität nicht verzichten will.43
zur chemischen, biotechnischen und chirugischen Erhöhung
individueller Leistungsprofile zum Ausdruck bringt. Das zeitgenössische enhancement-Fieber artikuliert den Traum
531
Zweite Kunstgeschichte: Der Henker als Virtuose Im folgenden möchte ich Elemente einer zweiten Kunstge
oder das Trugbild einer Modernisierung, die auch vor ehe
schichte präsentieren, die von angewandter Kunst berichtet.
haltmacht. Aus der Sicht Arnold Gehlens wäre über diesen
terial nimmt - nach Trotzkij: sofern sie den Menschen »als
mals innerlichen Zonen menschlicher Selbstverhältnisse nicht
Sie handelt von der Kunst, die den Menschen selbst zum Ma
Trend die Diagnose zu fällen, daß das Prinzip Entlastung bis
physisch und psychisch halbfertiges Produkt« aufgreift. Ich
Durch die Entlastung vom Ich wird die Suggestion unter
schen« beiseite - insbesondere die altbekannten Praktiken
in die Kernzonen des ethischen Verhaltens vorgedrungen ist.
stützt, es sei für den Einzelnen möglich und wünschenswert, auf sein eigenes Leben wie auf ein äußeres Datum zuzugrei
fen, ohne daß er sich bequemen müßte, sein Dasein selber übend zu gestalten. Ein Blick auf die jüngsten Effekte der weltweit operierenden
enhancement-Industrie
- mit ihren
Sektionen plastische Chirurgie, Fitness-Management, Well ness-Service und systernisches Doping - läßt rückwirkend die
lasse die naheüegendsten Phänomene der >>Kunst am Men
der Tätowierung und die vielfältigen Formen von Körperbe
malung, Kosmetik und dekorativer Deformation. Auch auf die phantastische Welt statusbezeugender Kopfbedeckungen
wie Kronen, Hüte und Helme werde ich hier nicht näher ein gehen, obschon sie für die Beobachtung von »aufgesetzter«
Kunst am Menschen ergiebig wären. Was den Fu ndus der
Kleidungsmoden, des Schmucks und der Accessoirs anbe
Vermutung aufkommen, die Übungen der Modernen hätten
langt, begnüge ich mich damit, auf die entsprechende Litera
möglicherweise seit jeher insgeheim auf nichts anderes gezielt
tur zu verweisen.44 Aus ihr geht, en passant gesagt, hervor, daß
und die Umgehung des Subjekts bei der Definition seines
schichte von Mensch und Kleiderkasten erzählt werden kann.
wird die Erhöhung des Leistungsniveaus wie eine Dienstlei
43
als auf die vollendete Veräußerlichung der »Sorge um sich«
Fitness-Status. Wo der enhancement-Gedanke dominiert,
die vestimentäre Modernisierung nur als gemeinsame Ge
stung in Anspruch genommen, bei der die Eigenanstrengung
des Einzelnen sich auf den Hinzukauf der aktuellsten Pro :!eduren beschränkt. An die Stelle des klassischen Übungs-
44
Über den aktuellen Stand der enhancement-Debane informiert von einem pragmatischen Blickpunkt aus Bernward Gesang, Perfek tionierung des Menschen, Berlin/New York 2007. Vgl. Barbara Vinken, Mode nach der Mode. Kleid und Geist am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfun am Main 1994·
5) 2
111 Die Exerzitien der Modernen
Statt dessen setze ich am makabren Extrem eines auf den Menschen angewandten Kunsthandwerks an, dem Metier des Henkers. Es dürfte außer Frage stehen, daß Michel Foucault die grausamen Strafrituale der frühen Neuzeit im Sinn hatte, als er seine so berühmte wie problematische Definition der Biopolitik in alter und neuer Zeit verfaßte, nach welcher sich die Biomacht im klassischen Zeitalter zum Ausdruck brachte, indem sie »sterben machte und leben ließ«, indessen die mo derne vorgeblich »leben macht und sterben läßt<<. Nicht um sonst hat der Autorvon Oberwachen undStrafen. Die Geburt des Gefängnisses (auf französisch 1975) seine disziplinenge schichtlichen Untersuchungen mit einer fasziniert-faszinie renden Schilderung des opulentesten Hinrichtungskunst werks eröffnet, das einem Publikum des r8. Jahrhunderts geboten wurde - der Folterung, Vierteilung und Verbrennung des Königsattentäters Robert Franyois Darniens im Jahr I 7 5 7 i n Anwesenheit des Hofstaats auf der Pariser Place d e Greve. Foucaults Darstellung ruft die Erinnerung an die mit dem Ancien regime untergegangene Ära des chatiment spectacle herauf, in der die Strafe als Triumph des Gesetzes über die Untat und als Ausschluß der Delinquenten aus der sittlichen Gemeinschaft inszeniert wurde - ein Grund mehr, die »Ge sellschaft des Spektakels« bis in die Zeit der klassischen, sogar der mittelalterlichen, wenn nicht schon der archaischen Staat lichkeit zurückzudatieren.45 Daß dem von Foucault wiederaufgedeckten art de punir tatsächlich ein Kunstcharakter eigenen Rechts zukam, hat un ter den Autoren der Restauration niemand genauer wahrge nommen als Josepb de Maistre- der Verfasser der berüchtigten Seiten aus den Soirees de St. Petersbourg ( r 821 ), die dem Hen ker, dieser verfemten Stütze der sozialen Ordnung, gewidmet
45 Zum Zusammenhang zwischen der symbolischen Ordnung der »Gesellschaft« und der Thearralisierung des Rechts vgl. Pi erre Le
gendre, Die Fabrikation des abendländischen Menschen. Zwei Es says, Wien 2ooo.
10
Kunst am Menschen
533
sind. Auf ihnen wird - mit katholisch-königstreuem Trotz ge gen den Geist der Bürgerzeit zielend - an die vergessene und verpönte Strafkunst vorrevolutionärer Epochen erinnert: »Ein unheilvolles Zeichen wird gegeben. Ein verwor fener Diener der Justiz klopft an seine (des Henkers) Tür und teilt ihm mit, daß man seiner bedarf. Er macht sich auf den Weg und kommt auf einen öffentlichen Platz, auf dem sich eine aufgeregte Menge drängt. Man wirft ihm einen Giftmischer, einen Vatermörder, einen Tempelschänder hin. Er streckt ihn auf ein waa gerechtes Kreuz und bindet ihn fest; er hebt den Arm. Dann tritt eine fürchterliche Stille ein. Man hört nur noch das Krachen der unter der Eisenstange berstenden Knochen und das Heulen des Opfers. Er bindet ihn los, trägt ihn auf ein Rad; die zerschmetterten Glieder ver schränken sich in den Speichen, der Kopf hängt herab, die Haare sträuben sich, und der wie eine Esse geöffnete Mund entsendet nur nur dann und wann einige blut triefende Worte, die den Tod heischen. Er hat sein Werk beendet, sein Herz klopft, aber vor Freude. Er zollt sich Beifall, er spricht in seinem Herzen: >Niemand versteht besser zu rädern als ich< (Nul ne roue mieux que moi).<<46 Der de Maistresche Henker erscheint als ein Könner seines Fachs, der den romantischen Künstler vorwegnimmt: Wie dieser muß er die tägliche Geselligkeit entbehren, da seine Kunst ihn den menschlichen Beziehungen entfremdet; wie dieser (Flaubert: l'impassibilite) entwickelt er eine spezifische Unberührbarkeit, die ihn zur sachlichen Ausführung seines Metiers befähigt; und wie bei diesem kommt der Selbstbeifall dem Urteil der Menge zuvor, vorausgesetzt, er darl seinem 46 Joseph de Maistre, Oie Abende von St. Petcrsburg oder Gespräche über das zeitliche Walren der Vorsehung, Wien und Leipzig 2008, S. 78; ich habe die schwerfä!Jige Übersetzung von Morirz Lie:e�
aus dem Jahr 1824 durch eine jüngere Übertragung von L;;-:.:� Bertelsmann ersetzt.
534
ili
Die Exerzitien der Modernen
savoir faire ein geglücktes Werk zuschreiben. Seine Einsam
keit reicht tiefer als die des Künstlers, da sie nicht einmal durch das Gespräch mit Kollegen durchbrochen wird - er empfängt keine Besucher, von denen er Hinweise auf die Perfektionie rung seines Handwerks erhielte; ihm kann es nicht passieren, daß ein »ernster Hergereister« auftaucht, der mehr weiß »und zeigt uns zitternd einen neuen Griff«Y Der Henker ist Virtuose einer auf den Menschen augewandten Kunst, deren Fokus die Zurschaustellung eines in Qualen gewunde nen Körpers bildet. Anthropotechnik ist im Spiel, insofern der Delinquent als Ausgangsmaterial für kunstgerechte Manipu lationen erscheint - ein Halbfabrikat, das binnen weniger Stunden in ein fatales Endprodukt verwandelt wird.
Beginn der Biopolitik: Schon der klassische Staat macht leben Auf den ersten Blick könnte es scheinen, für Foucaults erste Version der Biomacht-Formel: »sterben machen und leben lassen« ließe sich keine überzeugendere Bestätigung denken als die Darbietungen jenes »Theaters des Schreckens« in den Strafritualen der frühen Neuzeit.4!l In Wahrheit hat sich der frühneuzeitliche Staat gerade nicht damit begnügt, seine Un tertanen »leben zu lassen«. Im Gegenteil, schon der flüchtig ste Blick auf die bevölkerungspolitischen Dispositionen des r6. und 1 7. Jahrhunderts macht klar, daß der Staat in seiner beginnenden absolutistischen Phase entschlossen war, seine Untertanen ebensosehr »leben zu machen« - in einem Aus maß, neben dem die sogenannte Biopolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, die angeblich »leben macht und sterben läßt«, wie ein hilfloses Postludium erscheint, hilflos insbe47
Vgl. Rainer Maria Rilke, Das Stundenbuch/Das Buch vom mön chischen Leben.
48 Vgl. Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafri tuale der frühen Neuzeit, München 1995.
10
Kunst am Menschen
535
sondere hinsichtlich des demographischen Haupttrends des europäischen 20. Jahrhunderts: des jähen Rückgangs der Reprodukrionszahlen, der durch die Wiederkehr der Ver hütungskunst in Wechselwirkung mit dem neuen Erstarken privater Fortpflanzungskalküle zu erklären ist. Tatsächlich ist der Staat des vorklassischen wie des klassi schen Zeitalters, und er vor allem, ein lebenmachender Staat, und zwar aus dem so einfachen wie fatalen Grund, daß er, als merkantiler Staat, als Steuerstaat, als Infrastrukturstaat und als Staat der stehenden Heere, eine Form von Souveränität anstrebt, die bereits die Entdeckung des demographischen Massengesetzes zur Voraussetzung hat: Demgemäß bedeutet Macht in ihrer jüngeren Deklinationsform vor allem Herr schaft über die größtmögliche Zahl von Untertanen - wobei der Untertan im Rahmen der expandierenden Eigentums ökonomie schon durchwegs als eine nicht-sklavische Ar beitskraft, als ein Regungszentrum von Wertschöpfung und als besteuerbare Eigennutz-Zentrale konzipiert wird. Mit dieser weiß sich der moderne Staat in einem schicksalhaften Bündnis - Makroegoismus gedeiht nicht ohne blühende Mi kroegoismen. Zeitgemäße Machtausübung findet unter sol chen Prämissen in der Weise statt, daß der Staat- unterstützt durch seine providenrielle Komplizin, die Kirche als Hüterio der Familienmoral - die Quelle des Bevölkerungsreichtums unter seine Kontrolle bringt. Er greift in das generative Ver balten der Untertanen ein, um mittels geeigneter Maßnah men, speziell durch Terror gegen die Trägerinnen des Verhü rungswissens, die Hebammen, für den größtmöglichen Reichtum an Nachkommen bei der größtmöglichen Zahl an Reproduktionsfähigen zu sorgen. Die Maßnahme aller Maßnahmen auf diesem Feld besteht in der staatlich und kirchlich verfügten Maximierung der »Men schenproduktion« - selbst Adam Smith spricht in seinem Hauptwerk von 1776 ruhigen Tons von der production o(
lfl Die Exerzitien der Modemen
10
men, die von der »Nachfrage nach Menschen« gesteuert wer de.49 Sie kommt in Gang durch die systematische Zerstörung
des informellen Gleichgewichts zwischen dem manifesten Patriarchat und dem latenten Matriarchat, somit durch die Aufhebung des historischen Kompromisses zwischen den
Geschlechterparteien, der sich unter dem Deckmantel der
Kunst am Menschen
53 7
Mit dem Terror gegen Hebammen-Hexen überreicht der
frühe Nationalstaat seine Visitenkarte an die sich moderni
sierende »Gesellschaft«. Die Frage, ob man den »weisen
Frauen« jener Zeit wirklich ein »hochentwickeltes Experten
rum« in Verhütungsangelegenheiten zuschreiben darf, mag
unentschieden bleiben; immerhin sollen vor dem Einsetzen
kirchlichen Lebensschutzethik seit der Spätantike in Europa
der Repression über einhundert Prozeduren zur Verhinde
her die beispiellose Offensive zur Unterwerfung der Frauen
Prozeduren, an deren Effektivität im einzelnen Zweifel er
bene Zerstörung des Geburtenverhütungswissens, die unter
Konsequenzen der »Hexenunterdrückung« mit Händen grei
eingespielt hatte und bis ins Spätmittelalter gültig blieb. Da
unter das Reproduktionsgebot und die systematisch betrie dem irreführenden Titel >>Hexenverfolgungen« in die Ge
rung unerwünschten Nachwuchses bekannt gewesen sein -
laubt seien. Bald lassen sich jedoch, davon abgesehen, die
schichtsbücher eingegangen ist. Wie Gunnar Heinsohn in
fen- und statistisch darstellen. Wahrend einer langen Periode rigider Populationspolitik weigert sich der moderne Staat im
Jahrzehnten gezeigt hat, 5° dürfen die misogynen Exzesse des
Kontrollfunktion der Ehefrau en über die »Menschenquelle«
Kooperation mit Otto Steiger und Rolf Knieper schon vor
16. und 1 7. Jahrhunderts in Europa mit ihren zahllosen Le
bendverbrennungen von Frauen nicht als Rückfall der früh
modernen »Gesellschaft« in »mittelalterliche Barbarei« ver standen werden, auch nicht als epidemische Sexualneurose,
wie psychoanalytische Kommentare üblicherweise unterstel
len. Sie sind das Erkennungszeichen der frühen Moderne
selbst, insofern diese ihrem Hauptantrieb gemäß dem neuen demographischen Imperativ Folge leistet: dem Gebot der entgrenzten Bereitstellung von UntertanenmateriaL 49
50
Im 8. Kapitel des Ersten Buches von The \Vcalth ofNations heißt es: " . . . thedemand of men, like that ofany othercommodiry, necessarily regulates the production of men.« Smith hält für einen Markteffekt, was in Wahrheit eine Folge von Bevölkerungspolitik ist. Gunnar Heinsohn/Rolf KnieperlOtto Steiger, Menschenproduk tion. Allgemeine Bevölkerungslehre der Neuzeit, Frankfurt am Main 1979. Die These der Autoren blieb nicht unwidersprochen, insbesondere aufgrund des Arguments, daß die Akten der Hexen prozesse eher für die Denunziation der Hexen durch Nachbarn und Dorfgenossen als durch staatliche Ermittler und Lnquisitoren sprechen. Dies ändert nichts an der Richtigkeit der Fesmellung, wonach die Herstellung des Hexenjagdklimas auf klerikokrarisch gestützte politische Maßnahmen zurückgeht.
Bündnis mit dem christlichen Klerus, die herkömmliche
im geringsten zu dulden, geschweige denn zu respektieren.
Den Kindermord erklärt die gelenkte Sensibilität der frühen
Moderne zum exemplarischen Verbrechen gegen die Mensch
heit und zum direkten Angriffauf die Staatsraison -hier ist der
seltene FaH einer totalen Kongruenz von Familienmoral und Staatsmoral gegeben.
Alles andere als zufällig ist es daher, wenn der größte neu
ere Staatsdenker nach Machiavelli, der Jurist Jean Bodin,
1 5 30-1 5 96, ein ehemaliger Karmelitermönch, sich als einer
der wütendsten Hexenjäger aller Zeiten hervortat: Der Ver
fasser der epochemachenden Six livres de Ia republique,
I 5 76,
signierte zugleich als Autor der brutalsten Hexenverfol
gungsschrift aller Zeiten, erschienen zu Paris 1 5 8o unter
1 dem Titel De Ia demonomanie des sorciers.5 Was er in seiner Doppelfunktion als Begründer der modernen Souveränitäts51
Schon r 591 unter dem Titel: Vom ausgelassenen wütigen Teufels heer i.ns Deutsche übertragen von Johannes Fischart (Nachdruck Graz 1963). Vgl. Gunnar HeinsohnlOtto Steiger, Inflation and Witchcraft or The Birrh of Polit.ical Economy: The Case of Jcan Bodin Reconsidered, Washington 1996.
m Die Exerzitien der Moderneo
lehre und als Meisterdenker der Inquisition gegen gebär
10
Kunst am Menschen
539
Form der Verantwortung vor Gott«.53 Dazu mag man beden
fähige, doch eigenwiUige Frauen bewirken wollte, ist klar
ken: Der Begriff Verantwortung spielt weder in der Theo
alias
er rückt erst im Lauf des 20. Jahrhunderts in die Mine der
erkennbar. Den springenden Punkt hatten schon hundert
Jahre zuvor die Autoren des
Hexenhammers
Malleus Maleficarum
verraten: »Niemand schadet dem katholi
schen Glauben mehr als die Hebammen.«52 Katholischer Glaube impliziert von nun an die bedingungslose Unterwer
logie noch in der klassischen Moralphilosophie eine RoUe;
ethischen Reflexion, als das explosiv angewachsene Problem
der nicht-intendierten Handlungsfolgen einen Großteil der
moralischen Aufmerksamkeit auf sich zieht. Unbestreitbar
fung von Eheleuten unter die Folgen des ehelichen Verkehrs,
ist jedoch, daß in der christlichen Sexualethik, namentlich
ein ausreichendes Erbe und damit eine sinnvolle Zukunft
Wille zur Folgenblindheit steckt, der mit Gottvertrauen ver
ohne Rücksicht darauf, ob sie imstande sind, ihren Kindern
zu versprechen, ja selbst ohne Zugeständnis an die Sorge, ob eigentumslosen Arbeitern überhaupt Nachkommen zu
gemutet werden dürfen. Die Politik der »Reichtumsgewin
in ihrer offiziellen katholischen Ausprägung, bis heute ein
wechselt werden möchte.
De facto
fungierten die neuzeit
lichen Kirchen aller Konfessionen aufgrund ihres an sich
sehr ehrenwerten bedingungslosen Eintreteos für den Schutz
nung durch Bevölkerungsvermehrung« ging über Bedenken
des ungeborenen wie des geborenen Lebens als Erfüllungs
völkerungsexplosion der Neuzeit gerade durch die exten
Zeiten.
dieser Art »souverän« hinweg. Tatsächlich wurde die Be
sive Einbeziehung der eigentumslosen Arbeiterschaft, des
gehilfinnen der zynischsten biopolitischen Operation aller
nachmals vielbeachteten und regelmäßig falsch erklärten
»Proletariats«, in die Familien- und Fortpflanzungspraxis
Menschenüberproduktion und Proleta1·isierung
der spätaristokratisch-bürgerlichen »Gesellschaft« mit aus
gelöst.
In puncto
Fortpflanzung gebärdeten sich die Theologen
der Reformation zumeist noch katholischer als das Papsttum.
Martin Luther, der mit Katharina von Bora ein halbes Dut
I n seinem maßlosen Verlangen nach Untertanen ordnet der neue Leviathan die gewaltigste Deregulierung an, die je in der
Geschichte menschlicher Reproduktionen zu beobachten
war - die demographischen Explosionen während des 20.
zend Kinder in die Welt setzte, dozierte, vom eigenen Glau
Jahrhunderts in der islamischen Sphäre und einigen Zonen
schen, davon überzeugt zu sein, Gott werde, wenn er den
nen weniger Generationen sind, dank konsequenter »Hexen
benselan berauscht, es gehöre sich für einen Christenmen
der vormals so genannten Dritten Welt ausgenommen: Bin
Frommen Nachwuchs gibt, ihnen auch die Mittel zu seiner
politik« von oben wie von unten in den führenden Nationen
den Tag legen. Heinsohn und Kollegen haben die Maxime
völkerungskatastrophe des 14. Jahrhunderts zurückblicken und die periodisch wiederkehrenden Seuchen fürchten), zu
Aufzucht nicht vorenthalten, solange sie den nötigen Fleiß an solchen Denkens schneidend auf den Begriff gebracht: >>Ver
allgemeinerung individueller Verantwortungslosigkeit in der 52 Johann Sprenger, Hei nrich lnstitoris, Malleus Maleficarum (zuerst
1487), deutsch 1906, s. 159·
von]. W. R.
Europas (die im übrigen noch immer angstvoll auf die Ent
erst konstant steigende, dann explodierende Geburtenraten zu verzeichnen. Über eine Zeitspanne von kaum mehr als
Schmidr, Der Hexenhamrner, Berlin
53
Heinsohn u. a., Menschenproduktion, a. a. 0.,
S.
78.
II! Die Exerzitien der Modemen
zweihundertfünfzig Jahren summieren sich die Effekte der absolutistischen Biopolitik (obschon vorübergebend von
den Folgen des Dreißigjährigen Kriegs gedämpft) zu einem Menschemsunami, dessen Wellenkamm sich im 19. Jahrhun
dert überschlägt - eine der Mitbedingungen nicht nur für die Entstehung eines zur Frustration verurteilten »Proletariats«, sprich einer Klasse von eigentumslosen Arbeitern, die sich
auf Märkten außerhalb der Familienwirtschaften verdingen müssen, sondern auch für einen von Marxisten als »Imperia lismus« mißverstandenen, überbordenden Menschenexport, der das Personal zur Neubesiedlung von drei Erdteilen, Süd
ro Kunst am Menschen
54 I
scheint an der Zeit, ruhig zu konstatieren, daß Foucault, vor allem zu Beginn seiner disziplinologischen Recherchen, ei
ner enormen optischen Tauschung erlag, indem er die staat liche Erfassung der irrekuperablen überschüssigen Men
schen, deren Dasein oft durch nicht mehr als eine Notiz in
den Akten der absolutistischen Administrationen bezeugt wird,55 auf das Wirken einer prinzipiell repressiven etatisier
ten Disziplinarmacht zurückführen wollte. In Wahrheit sind
die Maßnahmen des frühmodernen Staats an der armutspo litischen Front nur als eine mehr oder weniger mechanjsche
Gegenwehr gegen seine eigenen übergroßen Erfolge auf dem
amerikas, Nordamerikas und Australiens, sowie zur partiel
Gebiet der Menschenproduktion verständlich zu machen.
reitstellt.54
quintessentielle Manifestation von »Disziplinarmacht« er
len Okkupation der übrigen Kontinente durch Europäer be Dieselbe demographische Flutwelle überschwemmt die
europäischen »Gesellschaften« mit einer Unzahl von Unver wendbaren, Unordentlichen und Unglücklichen, die weder durch Arbeitsmärkte noch durch Regimenter zu absorbieren sind, geschweige denn durch die Marine oder überseeische Destinationen. Sie sind es, die seit dem 17. Jahrhundert die Etat providence, her
ersten Vorformen des Sozialstaats, des vortreiben und
zum Eingreifen provozieren. Auf ihre
Schicksale stieß Foucault in seinen Studien zur Gescruchte
der modernen Disziplinarsysteme. Man tritt ihm nicht zu
nahe, wenn man feststellt, der erklärende Wert seiner Unter suchungen werde durch die unzureichende Rücksicht auf die
Was aus der Sicht der Genealogie des Gefängnisses wie eine
scheint, ist aus staatsfunktionaler Perspektive bereits als eine
Form der Fürsorgemacht zu begreifen, die den modernen
Sozialstaat konstituiert56 - lange bevor das 19. Jahrhundert eine kapitalismusspezifische »soziale Frage« aufwirft. Tat
sächlich enthalten die Maßnahmen zur Disziplinierung der Armen im klassischen Zeitalter bereits das Zugeständnis an den Grundsatz der anthropologischen Aufklärung, wonach nicht die Nahrung den Menschen macht, sondern die Ein beziehung in die symbolische Ordnung - im Jargon des 20. Jahrhunderts: die »Sozialisation«. Was ist Sozialisation frei lich anderes als eine der Masken, unter denen sich das üben
de Leben in einer von Arbeit und Herrschaft vehexten Epo
demographische Dimension seines Gegenstands gemindert
che verbirgt?
tiges Renommee fast ausschließlich auf seiner vorgeblichen
ten Menschenproduktion in Europa zwischen dem r6. und
ein befremdlicher Befund bei einem Gelehrten, dessen heu Entdeckung der Biomachtmechanismen beruht. Was ist Be völkerungspolitik anders als der Ernstfall von Biopolitik? Es 54
Für eine makrohistorische Beschreibung der demographischen Anomalie Europas zwischen dem r6. und dem 19. Jahrhundert vgl. Gunnar Hcinsohn, Söhne und Weltmac ht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen, München 2008.
Die kulturpathologischen Konsequenzen der deregulier
dem 19. Jahrhundert sind von unabsehbarer Tragweite. Sie 5 5 Michel Foucault,
Das Leben der infamen Menschen, herausgege ben, übersetzt und mit einem Nachwort von Walter Seiner, Berlin
2001.
56 Vgl. James L. Nolan, The Therapeuric State. Justifying mcnt at Ccntury s End, New York 1998. '
Govern
UJ
Die Exerzitien der Modernen
summieren sich zu einer Modenusierung der Grausamkeit, die sogar die gezielten Verrohungstrainings der Antike über trifft. Gleichwohl darf man auch hier Intentionen und Ne benwirkungen nicht miteinander verwechseln. Gunnar Hein sohn und seine Kollegen haben der Bevölkerungspolitik der frühen Neuzeit ihre »Unfähigkeit zur Feinabstimmung«57 attestiert, wodurch sie früher oder später ihrer fehlenden Steuerung zum Opfer fallen mußte. 58 Überhaupt ist zu be zweifeln, ob man die Bevölkerungspolitik schon als eine prä gnante Form moderner Anthropotechnik bezeichnen darf, da sie das Merkmal des Technischen, die Meisterung des Ver fahrens, das in diskreten, expliziten und kontrollierten Schrit ten das gewünschte Ergebnis erbringt, ganz offenkundig nicht besitzt. Daß sie den Menschen zum Rohstoff für poli tische und sonstige Weiterverarbeitungen macht, steht außer Zweifel. Ebenso evident ist ihre Verpflichtung auf den bereits von Nietzsche diagnostizierten Experimentalstil moderner »großer Politik«: Ohne einen hohen Va-banque-Faktor sind der Dynamismus und Futurismus des neuen Zivilisationsmo dells nicht zu denken. Unter diesem Aspekt betrachtet, ist Bevölkerungspolitik absolutistischen Stils eine Form von Projektemacherei im Großen - ein epochentypisches Mittel ding zwischen Technik und Hasard.59
57 Heinsohn u. a., Menschenproduktion, a. a. 0., S. 70-77. 58 In diesem Zusammenhang weisen sie darauf hin, daß Foucault bei seiner Analyse der »Mikrophysik der Macht« ein Datierungsfehler unterlief, den er mit bordeigenen Mitteln, beengt durch die me thodischen Schranken der Diskursanalyse, nicht mehr korrigieren konnte. Er stellte an das 18. Jahrhundert Fragen, auf die schon das 16. Jahrhundert die Antworten gegeben hatte - darum sind fast alle Aussagen Foucaults über moderne Biomacht an den entschei denden Stellen durch Anachronismen und Erklärungslücken be lastet. 59 Vgl. Markus Krajewski (Hg.), Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns, Berlin 2004.
10
Kunst am Menschen
543
Geburt der Sozialpolitik aus der Verlegenheit des Menschenüberschusses In unserem Zusammenhang kommt es allein auf die Tatsache an, daß die populationistische Politik des frühneuzeitlichen Staats auf mittelbare Weise die ungestüme Entwicklung zahl reicher konkreter Amhropotechniken ausgelöst hat, gleich, ob sich diese an den bildungspolitischen und pädagogischen, den militärischen, den »poJiceylichen« oder den wohlfahrts staatlichen Fronten manifestierten. Die an unbedingtem Wachsrum orientierte Bevölkerungspolitik führte in den mo dernetypischen Teufelskreis, in dem die unaufhörliche, bald schicksalhaft scheinende Menschenüberproduktion eine massive Überforderung der erzieherischen Potentiale in den Familien und infolgedessen ein erhöhtes Risiko epidemischer Kindesverwahrlosung nach sich zog. Gegen diesen Mißstand wurde aus naheliegenden Gründen zunächst und zumeist an das moderne Schulwesen appelliert, nicht allein, damit es dem modernen Gemeinwesen die nötigen Zahlen an Leistungsträ gern liefere, sondern auch, damit es aus der Unzahl der Aus sichtslosen und Überflüssigen doch noch so etwas wie nütz liche, zumindest unschädliche Mitglieder der Gesellschaft forme - eine Aufgabe, an der die Pädagogen des frühmoder nen Staats nur scheitern konnten.60 Wo die Ertüchtigungs disziplinen der Schule und die Integrationseffekte des Berufs lebens versagen, ist ein zweites Auffangsystem erforderlich, um die überschüssigen Menschen zu »erfassen<<. In diesem Regime administrativer Härten kommen die Foucaultschen 6o Von diesem Scheitern gibt noch Herbart Zeugnis, wenn er in: Pädagogische Briefe oder Briefe über die Anwendung der Psycho logie auf die Pädagogik ( 1832) schreibt: »Der Staat (kümmert) sich um den minder Tauglichen auch minder . . . Seine Schulen sollen ihrn die Subjekte liefern, die er braucht. Erwählt die brauchbarsten: die übrigen mögen für sich sorgen.« (3. Brief)
544
111 Die Exerziricn der Modernen
10 Kunst am Menschen
545
Phänomene, cüe Verwahrungs-, Sedierungs- und Maßrege
lungsdisziplinen der klassischen Staatlichkeit zur Entfaltung.
Bildungspolitik unter dem absoluten Imperativ
zunächst nichts anderes als das Kreisen des modernen Staats
Die moderne Pädagogik reagiert auf die neue Auftragslage in
Was man in heutiger Terminologie Sozialpolitik nennt, ist
in seinem selbstgeschaffenen circulus vitiosus. Zu ihm steuert
ihrer Weise: Sie zieht aus der chronischen Not des Staates
der »Kapitalismus« erst nach der Industriellen Revolution
Vorteil, indem sie sich dem modernen Gemeinwesen für Jahr
merwährenden Kreuzzug zur Senkung der Kosten für den
sie sich zur Disziplin der Disziplinen auf. Sie verknüpft den
des späten 18. Jahrhunderts das Seine bei, indem er den im Faktor Arbeit beginnt. Dieser allzu siegreiche Feldzug be reitet noch dem postmodernen Therapie- und Umvertei
lungsstaat chronische Sorgen, da er nicht weiß, welchen Reim
er sich auf das irritierende Zugleich von hoher Arbeitslosig
keit und niederen Geburtenraten machen soll: Defacto deutet
hunderte unentbehrlich macht. Geistesgegenwärtig schwingt groben bildungspolitischen Imperativ, dem modernen Staat brauchbare Menschen zu liefern, eigensinnig mit dem zeit
gemäß abgetönten absoluten Imperativ: >>Weil du dein Leben
nicht erst nachträglich ändern sollst, sollst du dich von An
fang an durch uns verändern lassen.« Diesem Gebot sind die
das auf den übergroßen Erfolg des Wirtschaftssystems bei
Erzieher zu Beginn ihrer Offensive nahezu ausnahmslos ver
einen Erfolg, der unvermeidlich massenhafte Freistellung
gehen - in unserer Übersetzung: aus den institutionalisierten
seiner Suche nach Wegen zur Senkung der Arbeitskosten,
von Arbeitskraft mit sich bringt, jedoch nur zu Lasten des
Sozialsystems zu erzielen ist. Doch schon der absolutistische Staat, der von Anfang an zuviel >>leben machte«, indem
pflichtet, weil sie fast alle aus kirchlichen Traditionen hervor
Übungsformen der ethischen Differenz. Sie wissen aus alt ehrwürdigen Quellen und morgendüchen Introspektionen,
daß der Mensch das Wesen ist, das gegen den Strich gebürstet
er durch Komrolle der sexuellen Rahmenbedingungen be
werden muß. Noch sind cüe Zeiten nicht angebrochen, in
lien, die Schulen und die Manufakturen - mit humanisieren
unters Volk bringen; noch ist niemand auf den Gedanken
ausstatten konnte, war dazu verurteilt, seine sich immer hö
gungen folgen lassen, um freie Bürger entstehen zu sehen.
über einem Substrat von Elenden und Überzähligen zu er
Pierre Tempere gemünztes Wort zu zitieren, den Rektor des
trächtlich mehr Menschen erzeugte, als er - bzw. die Fami
den Qualifikationen und wirtschaftlichen Erwerbschancen her auftürmenden Pyramiden polytechnischer Virtuosität richten. Für sie wies die Zwangsdisziplinierung den einzigen
Weg zu einer wie auch immer kläglichen Abwicklung. Wer
denen Rousseau und die Antiautoritären ihre Konfusionen
gekommen, man müsse die Kinder nur in allem ihren Nei Auch der schlimmste fouetteur d'enfants - um Rabelais' auf
Pariser College Montaigu (an dem Ignatius von Loyola stu
dierte), der als Prügelmeister zur Legende wurde - ist uner
aber nur auf diese Erscheinungen schaut, wird von dem cüszi
schütterlich überzeugt, er tue als Christ und Schulmann nicht
greifen - weder in seinen artistischen und anisanalen noch in
Erwachsene zu formen. In der Gewißheit, daß alle Laster aus
pünologiscben Abenteuer der Neuzeit im ganzen nichts be seinen gelehrten, epistemologischen und ingenieurstechni
schen Dimensionen, um von den neo-athletischen und an tbropopolitischen Aufbrüchen des späten 19. wie des gesam ten 20. Jahrhunderts hier noch nicht zu reden.
mehr, als was nötig ist, um aus kleinen Bestien charaktervolle
dem Müßiggang entspringen, setzen die frommen Erzieher jener Zeit alles in Bewegung, um dem Teufel keine Chance zu lassen, den Kopf eines Zöglings unbeschäftigt zu finden.
Ill Die Exerzitien der Modernen
10 Kunst am Menschen
547
tion entwickelt sich die frühmoderne Schule zur Ambitions
Emendatio mundi
zelle der zu verändernden Welt, ja zum Inkubator aller späte
Vielleicht konnte nur so das schlechterdings Unerwa.rtbare
schlechten vorbereiten, sie möchte die Welt insgesamt auf die
eintreffen: Aus dem Aufbruch des modernen Staats zur Men
bessere Seite ziehen, und zwar durch die Produktion von
schenproduktion emergiert durch das Dazwischentreten der Erzieher die wirkungsmächtigste Idee des vergangeneo hal ben Jahnausends: Die Vorstellung der Weltverbesserung trat
ren »Revolutionen«. Sie will nicht nur die bessere Welt in der
Absolventen, die für die Welt, wie sie ist, zu gut sind. Die
Schule muß der Ort werden, an dem die Anpassung des Men
schen an die schlechte Wirklichkeit hintertrieben wird. Eine
auf den Plan, als die barocke Schule den Auftrag annahm, die
zweite Überproduktion soU die Schäden der ersten wieder
Humankatastrophe abzuwehren, die der frühmoderne Staat
gutmachen.
durch seine Politik der zügellosen Menschenproduktion aus löste. Weltverbesserung bedeutet in dieser Situation: Men schenverbesserung en
masse.
Da sie nicht mehr als Selbstver
besserung einer asketischen Minderheit praktikabel ist, bedarf sie der Verbesserung der Vielen durch erzieherische Institu tionen. Darum wenden die Pädagogen der frühen Moderne den metanoetischen Imperativ erstmals unmittelbar auf Kin der an. Nun erst wird sichtbar, was die These bedeutet, wo nachalle Erziehung Konversion sei.61 Die späteren totaDtären Systeme werden die invasiven Schulen beerben und das Vor recht der totalen Erfassung der Jugend für sich reklamieren. Mit dem starken (weil demographisch kompetenten) und verlegenen (weil pädagogisch inkompetenten) Menschenpro
Die Änderung des Lebens in die Lebensanfänge einpflan zen: Dies erfordert fürs erste nicht weniger als die Übertra gung der Klosterdisziplin auf die Schule - um einen gerin geren Preis ist das Projekt der Moderne nicht zu haben. Von Anfang an ging es in ihm um nichts anderes als um die Korrektur des fehlerhaften Welttexts, die
emendatio mundi.
Sie besteht in der Ersetzung des aktueiJ verderbten Wortlauts
durch eine verschollene, allein von Theologen, Philosophen
und jetzt auch von Pädagogen wieder lesbar zu machende Urfassung. Diese Idee, die allein den Setzern und Druckern,
den Korrektoren und Verlegern des Gutenberg-Zeitalters und ihren Komplizen, den Schulmeistern und den Erwach senenbildnern, in den Sinn kommen konnte, die sich nur
duktionsstaat im Rücken stellt sich bei den Erziehern am
wenig später die Aufklärer nennen, war auf keinen Gegen
Vorabend der Aufklärung die Einsicht ein, daß sie ihr Amt
st.and so plausibel anwendbar wie auf die Seelen der Kinder
nur unter einer Bedingung erfolgreich ausüben können: Sie müssen im Schüler nach dem ganzen Menschen greifen. Im Kind intendieren sie schon den Bürger. Folglich fassen sie den
Beschluß, der Metanoia, der ethischen Revolution auf halbem Lebensweg,62 zuvorzukommen, indem sie die Änderung des Lebens in dessen Anfänge legen. Aufgrund dieser Disposi-
61 Siehe oben S. 47of. 62 Nicht zufällig liefert die größte metanoetische Erzählung des eu ropäischen Mittelalters die Divina Commedia, den Hinweis, die ,
Initiation des Dichters in die jenseitigen Dinge habe damit begon-
i n der beginnenden Buchdruck-Ära. Schon früh erweist sich
die Schule als der moralische Destillierkolben der modernen »Gesellschaft«, da sie den Ort bildet, an dem der metanoe tische Appell zum Rückzug von der Welt durch eine säku
lare Institution übernommen und auf profane Ziele gelenkt werden sollte. Den Schein der Unterordnung unter den
staatlichen Auftrag galt es dabei immer zu wahren - keine
nen, daß er sich um die Mitte seines Lebenswegs (nel mezzo di nost1·a vita) in einem Wald verirrte.
cammin
,. _
II I Die Exerzitien der Modemen
öffentliche Schule in der Zeit zwischen Erasrnus und Hart mut von Hentig hat jemals offen heraus erklärt, sie habe die Hervorbringung von sozial unverwendbaren Charakteren zum Ziel - oder gar die von modernen Eremiten. Nichts destoweniger durfte man sämtlichen Pädagogen von Rang unterstellen, daß sie hinsichtlich der wahren Ziele ihres Me tiers ganz eigene Gedanken hatten, die nicht ohne weiteres
10
Kunst am Menschen
549
immer auch, zuweilen sogar manifest, am Staat und an der »Gesellschaft« vorbei. In dem resonanzreichen deutschen Wort »Bildung« kristallisiert sich diese Verfehlung. Der Son derstatus von »Kultur« in der modernen Konstruktion von Wirklichkeit läßt sich ohne die organisierte Abweichung der Erziehung von ihrem äußeren Zweck nicht verstehen. Wer möchte, kann hierin schon eine Spur der beginnenden »Aus
mit den Erwartungen der Staatlichkeit zusammenfielen.
differenzierung der Teilsysteme« wahrnehmen - der verharm
Dies also erweist sich als die höchste Kunst am Menschen im
freilich mehr als anderswo ins Auge. Wie der modernen Be
Zeitalter des christlichen Humanismus und seiner schuli schen Projektionen: die Verfügung über Prozeduren, die ho hen [mperative der Menschwerdung in die Erziehung einzu bauen und die Wasserzeichen des Ideals unauslöschlich in die Seelen der Jüngsten einzuprägen. Die Prämissen dieser Wen de liegen in dem dissonanten Bündnis zwischen Staat und Schule: Der merkantilistische Staat der frühen Neuzeit iden tifi:t.ien die noch immer massiven Ströme klösterlicher Welt flucht als eine ihm unwillkommene Tendenz, ja geradezu als subversives Ausweichen potentieller Arbeitskräfte vor dem sich ausbreitenden universalen Nützlichkeitsgebot. Er glaubt in seinem wohlverstandenen Interesse zu handeln, wenn er die Pädagogen ermächtigt, die Jungen früh an die Hand zu nehmen, um sie von ihren ersten Schritten an in ein Curricu lum zu allseitiger Verwendbarkeit einzuspannen. Da.ß er die
Rechnung ohne den Wirt gemacht hat, wird sich im Lauf der Jahrhunderte zeigen. Wer auf Pädagogen setzt, um Bürger zu erhalten, muß auf unerwartete Nebeneffekte gefaßt sein.
i Schulraison versus Staatsrason Die List der pädagogischen Vernunft artikuliert sich darin, daß die neuzeitliche Schule ihre Zöglinge zwar nominell auf
:ie-1 Staat und die »Gesellschaft« hin erzieht, insgeheim aber
losende Sinn der Rede von Ausdifferenzierung spränge hier völkerungspolitik die Feinabstimmung ihrer demographi schen Instrumente mißlingt, so mißüngt der etatisierten Päd agogik die Feinabstimmung ihrer Erziehungsmaßnahmen. Aufgrund der Eigenlogik der Schule wird die moderne Kultur von riesigen Überschüssen nicht anschlußfähiger Idealismen überschwemmt - Personalismus, Humanismus, Utopismus, 3 Moralismus6 sind ihre offiziellen Ausprägungen. Dieses Zuviel provoziert eine Serie von kulturpathologischen Reak tionsbildungen - von Eskapismus und innerem Rückzug bis zu Romantizismus, Revoltismus und Immoralismus. Die Charaktermaske des Zynikers erobert vom r 8. Jahrhundert
an die spätaristokratische und bürgerliche Bühne - schon Mo
zarts und da Pontes Opern kommen nicht mehr ohne die Figur des abgebrühten Philosophen aus, der - eingehüllt in seine 4 übelriechende Eselshaut6 - unter Menschen stets mit dem Schlimmsten rechnet. Gleichzeitig entfaltet der moderne Ro man eine veritable Phänomenologie der aus Enttäuschung
63 Auf �ie Tendenz zur Entstehung von intellekrueller Hypermoral, begleitet v?n massenhafter moralisierender Illoyalität gegenüber dem Gememwesen hat Arnold Gehlen des öftcren in rüdenTönen hingewiesen. Niklas Luhmann spricht von Phänomenen dieses Typs abgeklärter: Vgl. Die Moral des Risikos und das Risiko der Moral, in: N. L., Oie Moral der Gesellschaft. Herausgegeben von Detlef Horster, Fr:�nkfurt am Main, 2oo8, S. 362-374. 64 Vgl. die Pelle di asino-Arie aus dem 3· Akt von Mozarts und -!.:. Pontes Le nozze di Figaro.
lll Die Exerzitien der Modemen
böse gewordenen Privatvernunft. Die Hegeische Philosophie
ist in ihrem didaktischen Kern nichts anderes als eine Maschi
ne zur Verarbeitung von frustiertem Idealismus, denn was bei
ihm B ild u ng heißt, ist wesentlich Enttäuschungsmanagement.
Sie meint nicht das dezentrierte Herumschweifen der bürger lichen Neugier in diesem und jenem, wie es die heutige Gleich setzung von »Kultur« mit Freizeitlaune impliziert. »Bildung«
verlangt die harte Nacherziehung des aufbrausenden idealisti
10
Kunst am Menschen
55 1
ihnen den ungetarnten Staatswillen wahrnimmt, die Kom
mandohöhen der kognitiven Menschenproduktion im Dienst der Arbeitswelt und der Machtpolitik zurückzuerobern.
Hatte nicht schon Wilhelm IL vor deutschen Gymnasial
lehrern reklamiert, man brauche keine neuen Griechen an
unseren Schulen, sondern deutsche Jungmänner? Den »Bil dungsplanern« konnte ihr neu-realistisches Vorhaben natur
gemäß nur gelingen, wenn sie geeignete Maßnahmen er
sehen Subjekts, das den Wahn aufgeben muß, die Welt schulde
griffen, um den noch immer reichlich überschießenden Hu
wartungen. Es dürfte unnötig sein zu betonen, daß der ver
der Geisteswissenschaften - falls nicht die reorganisierten
ihm ihre Angleichung an seine moralisch überspannten Er
nünftige Protestant Hege! im Kampf mit der modernen Pro testkultur auf ganzer Linie unterlegen ist.
Wer eine räsonnierte Geschichte der modernen Pädagogik
erzählen woJlte, käme nicht umhin, sein Augenmerk auf den
tiefsten Systembruch innerhalb der Semantik der Neuzeit zu
richten: das Auseinandertreten von Schulraison und Staats
raison. In der Pseudosymbiose von Staat und Schule verber
gen sich einige der rätselhaftesten Dysfunktionalitäten der modernen Kultur - sie erzeugt Reibungen, deren Dissonanz
potential über den alten symbiotischen Dualismus von Staat und Kirche hinausreicht. Eine Nacherzählung dieser gefähr
lichen Liaison müßte nicht nur zeigen, wie zahllose Absol
manismus der Faku.ltäten zu eliminieren, insbesondere den Fachbereiche das zu ihrer Anpassung Nötige aus eigenem
Antrieb auf den Weg bringen: Vorauseilende Entgeisterung
ist seit Jahrzehnten der Zeitgeist s elbst 65 .
Die ganze Welt ist eine Schule Wer Unterricht geben will, wird Mitglied bei der mächtigsten Organisation der modernen Welt: Lehrer ohne Grenzen. Ih
ren Aktionen ist es zu verdanken, wenn künftig Weltzeit und Schulzeit konvergieren. Lebenszeiten und Lehrpläne ant
worten aufeinander. Wie weit die neue Pädagogik vordrang,
venten der modernen Schule bis heute systematisch an den
hat kein Autor der beginnenden Lehrer-Epoche elanvoller,
auch von den chronischen Versuchen des Staates zu berich
menius. Sein Werk läßt sich lesen, als habe er das Shake
Verhältnissen der »Arbeitswelt« vorbeiträumen; sie hätte ten, den Eigensinn der >>pädagogischen Provinz« aus pragma
tischen und utilitarischen Gründen zu brechen. Anläufe hier
zu liefern den roten Faden, dem folgend die Geschichte der
Schule als Geschichte der Schulreformen zu referieren wäre stets von der Idealschule zur Realschule, wie sich versteht
.
Noch die vielzitierten Hochschulreformen des 20. Jahrhun
derts in Deutschland, ob die von 1933 oder die von den späten
sechziger Jahren an, um allein die symptomatischsten Zäsu
=�n zu nennen, fügen sich in ein kohärentes Bild, wenn man in
umfassender und radikaler formuliert als Johann Amos Co speare-Wort: »Die ganze Welt ist eine Bühne/und alle Män
ner und Frauen bloße Spieler«66 zurechtrücken wollen, um es durch die Gegenthese zu ersetzen: Die ganze Welt ist eine
Schule- und aUe Menschen bloße Schüler. Wir sind Einwoh ner einer Schöpfung, in der alles auf Belehrung angelegt ist.
65 Vgl. Paul Konrad Liessmann, Theorie der Unbildung: Die Irrtümer
der Wissensgesellschafr, München 2oo8; zur Implosion der Schule in der Postmoderne siehe unten S. 674f. 66 Shakespeare, As You Like lt, II. Akt, 7· Szene.
111 Die Exerzitien der Modernen
552
2. Daß die Welt zu Recht eine Schule genannt wird, zeigt zunächst die Sache selbst . denn was ist eine Schule? Sie wird gemeinhin definiert als Versammlung derer, die Nützliches Lehren und lernen.67 Ist das richtig, dann . .
10
Kunst am Menschen
553
die ihnen dank der göttlichen Lehrmittelfreiheit geboten wurden. Eigensinnig versteiften sie sich auf eingebiJdetes Sonderwissen und versanken in Finsternis und ewigem Streit. Infolgedessen ist der Zustand der Welt heillos, in ihm
handelt es sich bei der Welt um eine Schule. Denn in
herrscht der Bürgerkrieg zwischen Scheinwissenden und
ihrer Ganzheit besteht sie aus einem Gefüge von Leh
Ignoranten: Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Aussa
renden, Lernenden und Disziplinen.
gen blickt Comenius nicht nur auf den Dreißigjährigen Krieg
3· Denn alles, was es i n der Welt gibt, das lehn oder lemt
oder es tut beides wechselweise.
zurück, den er in seiner ganzen Dauer miterlebt hatte, er hat auch schon die Anfänge des immerwährenden kalten Krieges
5. Von daher ist alles erfüllt mit Disziplinen, d. h. mit
vor Augen, den neuere Völkerrechder als das im Westfäli
verschiedenem Rüstzeug zum Ermahnen, Zuraten und
schen Frieden etablierte und vom
Antreiben: Deshalb läßt sich die Welt nicht zu Unrecht 68 als ein Haus der Disziplin bezeichnen.
rationalisierte »europäische Staatensystem« schönschreiben.
Jus publicum europaeum
Die geschaffene Welt bedeutet für den Menschen ein »Vor spiel der Ewigkeit«: Sie bietet ein Propädeutikum, das wir
Vor-Aufklärung: Weg des Lichts
besucht haben müssen, bevor wir die Zulassung zur himmli
schen Akademie erlangen. 69 Beim Stoff, den der Mensch
Für Comenius, den enthusiastischen Vordenker der böhmi
während seines Aufenthalts im Haus der Disziplin zu bewäl
schen Brüderunität, ist der Weg zur Heilung der Weltkrank
tigen hat, hegt Comenius keine Zweifel: Es sind drei elemen
heit nicht auf den Friedenskonferenzen der Potentaten zu
tare Bücher, die der Weltschüler durcharbeiten muß, um aus
finden. Vorgezeichnet ist er allein in den Hinweisen der im
ihnen die Fülle des Wissens zu erwerben:
merwährenden Philosophie und der Offenbarung. Der Heils
»Das erste und größte Gottes-Buch ist die sichtbare
weg für die zerfallene Welt kann nur der Weg des Lichts sein
Welt; sie ist geschrieben mit so vielen Buchstaben, wie
so der Titel von Comenius' chiliastischem Manifest von 1668,
es in ihr Geschöpfe zu sehen gibt. Das zweite Buch ist
das in seinen wichtigsten Teilen mehr als zwanzig Jahre zuvor
der Mensch selbst, der nach dem Ebenbild Gottes ge-
in London entstanden war. In dem epochalen Traktat werden
schaffen ist . . . Doch gab ihm Gott noch ein drittes Buch in die Hand . . . die Heilige Schrift.«70
konventionelle neo-platonische Denkfiguren (wie die Lehre
Stellt man die verderbte Natur des Menschen in Rechnung,
von der dreifachen Aktion des Ur-Lichtstroms, der neben
verwundert es nicht, wenn die Sterblichen bislang von den
dem In-sich-Ruhen das schöpferische Ausströmen und die genugtuende Rückkehr in die Quelle kennt) im Geist einer
ihnen gereichten Hilfsmitteln in der Mehrheit keinen guten
pädagogischen Apokalyptik scharf gemacht. Hier kann man
Gebrauch machten. Sie verschmähten die universalen Bücher, 67 Docentium et discentium setilia coetus. 68 Comenius, Weg des Lichts, Via lucis, a. a. 0., S. 21-22. 69 Ibid., S. 23. 70
Ibid.
die Hauptmotive der späteren Aufklärung - sofern sie auf einem kaum verhohlenen Totalitarismus der Schule beruht in ihrer christlich-millenarischen Originalgestalt mit Hände: greifen. In unserem Kontext ist die Beobachtung von Belang,
:
__
-
554
ILl Die Exerzitien der Modernen
für den großen Schulmann der Weg des Lichts den Weg der Schule vorzeichnet, während der Weg der Schule auf die Voll endung des Buchs verweist. So beantwortet er die Frage: »Wie läßt sich für die Welt ein größtmögliches Verstandes-Licht
10 Kunst am Menschen
555
Gelehrten geläufigen Ausdruck wohl am besten mit »Allwis senheitskunst«. In unserem Jahrhundert, doch vermudich schon seit den Tagen Diderots und seiner Kollegen, ist die Tatsache in Vergessenheit geraten, daß das Weltwissen der
entfachen?1 mit der Auskunft, es gelte, die drei Lichtquel
Neuzeit seine Reproduktionszyklen unter dem Leitwert All
len, sprich die sich selbst mitteilende Natur, die angeborenen
wissenlJeit begonnen hatte - einem Won, an dessen Verfalls
Begriffe der Menschenseele und die Heilige Schrift, in einer
geschichte man die vielzitierte >>Abklärung der Aufklärung«
einzigen überhellen Flamme zu vereinigen. Dieses universale
ablesen kann. Der Lehrplan des Allwissenheitsschülers (und
Geisteslicht vermag sich durch reflektierte Strahlen schritt
andere Schüler sind im Augenblick nicht der Rede wert) ergibt
weise allen Völkern mitzuteilen: Weil es bereits in den neuen
sich aus den genannten Prämissen: Wer lernen will, mug das
Büchern leuchtet und künftig noch heller strahlen wird, so
Ganze lernen, gemäß den drei Totalitätsschlüsseln oder »Bü
bald verbesserte Bücher vorliegen, können die >>unbedingt
chern«, die der Schöpfer, der comenischen Quellenlehre zu
erforderlichen Bücher in die gebräuchlichen Sprachen über
folge, den Menschen an die Hand gegeben hat. Dementspre
tragen werden«.72 Dank der rechtzeitig erfolgten Erfindun
chend hat jeder Einzelne Zögling sich in ein Allwissenheits
gen des Buchdrucks und der Hochseeschiffahn ist die Aus
kunstwerk zu verwandeln, gedruckt in den typographischen
breitung des stärksten und strahlendsten, alle Widerstände
Werkstätten der neuen Pan-Disziplinen. Comenius, neben
der Dunkelheit überwindenden Lichts tatsächlich nur zu ei
Athanasius Kireher und Leibniz einer der Großmeister der
ner »Frage der Zeit« geworden: Am Horizont der Gegenwart
Pansophie, wird nicht müde, zur Mutterdisziplin ständig neue
leuchten die Vorzeichen künftiger Panharmonie. Zu diesen
Sparten und Spielanen hinzuzuerfinden: neben der Pampae
darf man auch die weit verbreitete Sehnsucht der Menschen
deia (Allerziehung) die Panurgia (Alltechnik), die Panglottia (Allsprachlehre), die Panorthosia (Allverhaltenslehre), die Pannuthesia (AJlermahnung), die Panergesia (Allweckruf), die Panaugia (Allerleuchtung). Die Definition der Schule im comeoischen Orbis sensuaiium pictus (»Die sichtbare Welt«,
nach einer besseren Welt rechnen. Comenius wäre kein Meta physiker klassischer Tradition, wenn er nicht von der Sehn sucht auf deren Erfüllbarkeie schlösse - Gott hätte das Ver langen nach dem Guten nicht in uns eingepflanzt, wenn er nicht für seine Erlangbarkeit gesorgt hätte. In analoger Weise galt noch dem letzten naiv-großen Denker der Weltverbesse
Nürnberg 1 6 5 8, dem ersten Schulbuch der Neuzeit) als einer >>Werkstatt, in der die jungen Gemüter nach der Tugend ge
rung, Ernst Bloch, die Hoffnung selbst als Agens zur Wahr
formt werden«/3 ist darum unvollständig. Es geht in Anstal
machung des Erhofften.
ten dieser Art längst nicht mehr bloß um die
virtus des fürs
Die Höchstform der neuzeitlichen Kunst am Menschen
Leben brav gemachten Schulkindes; ihr Ziel ist es, die Schüler
zeigt sich in dem überschwenglichen Projekt, jeden Schüler zu
seele in einen sprechenden Totalitätsspiegel zu verwandeln.
einem Zögling der Pansophie heranzubilden. Man übersetzt
Das Abitur erlangt, wer zu einem Gesamtkunstwerk des Welt
diesen seit dem r6. Jahrhundert unter den enzyklopädischen
wissens und des Mitwissens von den göttlichen Dingen wurde.
71 Comenius, Weg des Lichts, a. a. 0., 72 lbid., s. 95·
73
S. 93·
Schola est officina, in qua novelli animi ad virtutem formantur; zitiert nach Comenius, Via lucis, a. a. 0., S. 206.
Ill Die Exerzitien der Modernen Angesichts derart monumentaler Vorhaben läge es nahe zu vermuten, ihr Urheber selbst hätte die größten Zweifel an ihrer Verwirklichbarkeit hegen müssen. Der unentmutigte Totalitätspädagoge bestand jedoch darauf, mit allen Mitteln zu beweisen,
es
sei tatsächlich an der Zeit, das »Größere« zu
hoffen und zu versuchen. Folglich mußte den sechs Lem schritten der Menschheit, die der Autor im 13. Kapitel der
V za lucis zusammenfaßt -einer der frühesten Skizzen zu einer
Stadientheorie der Gattung von Adam und Eva bis Guten
berg und Magellan -, ein siebenter Schritt hinzugefügt wer den: der Schritt in die globale Lichtgesellschaft. Unschwer läßt sich in dieser Vision der euphorische Originalzustand der entzauberten »Wissensgcsellschaft« erkennen. In dem letzten Manöver sind für Comenius Auftrag und Abenteuer der Jetztzeit enthalten. Wer es vollzieht, steht dem operie renden Licht bei seinem aktuellen Werk bei: Er fördert den Durchbruch zur totalen Didaktik, die ohne falsche Beschei denheit verspricht,
allen alles auf allseitige Weise zu vermit
teln. Hier hören wir den Schlachtruf des pädagogischen Mil lenarismus:
omnes omnia omnino, der das comenische Werk
durchzieht - vierzig Jahre lang unbeirrt die Balance zwischen Enthusiasmus und Methode wahrend.
10 Kunst am Menschen
557
Es hätte alles zu enthalten, was dem besonnenen Menschen zu wissen ansteht, Himmlisches und Irdisches, Natürliches 5 und Künstliches.7 I n ihm soll das evangelische Potential des Profanwissens geborgen werden. Merkwürdig ist hier, wie das Weltwissen, das ins Weite ausgreift, und das Heilswissen, das die Beschränkung auf das not tucnde Eine fordert, mit einem Mal scheinbar wider spruchsfrei harmonieren. Tatsächlich kann man das intellek ruelle Wunderdes 17.Jahrhunderts darin sehen, wie es Enzy klopädismus und Apokalyptik in einer Brust koexistieren läßt - Vergleichbares wird man erst wieder im spirituellen Wetterleuchten vor der Russischen Revolution beobachten, namentlich bei Nikolaj Fedorov, x829- 1903, dem Ideengeber der Biokosmisten, der nicht allein ein allumfassendes Welt museum und einen universalen Friedhof für alle Verstorbe nen der Menschheit postulierte, sondern auch die Aufer stehung der Toten aller Zeiten mit Hilfe der hierzu eigens zu schaffenden Lebenswissenschaften in Aussicht stellte: Für ihn bestand der wahre Universalismus in der Zurück weisung des Todes, der die letzte Ursache von Ungleichzei
tigkeit, Endlichkeit und Unverbundenheit bildet.76
Der Ruf zur Allerziehung verkündet den apokalyptischen Ruf zur Tagesordnung für diese » Abendzeit der Welt«: Weil nur wenig Zeit bleibt, ist es höchste Zeit, das Verstreute ein zusammeln und alle Zusammenfassungen in Zusammenfas sungen der Zusammenfassungen zu bündeln.74 Die Agenda der Epoche verlangt nach einem neuen Buch der Bücher, ei ner Hyperbibel, die den Ansprüchen des Gutenbergzeitalters genügt. Ein Buch dieser Art, gewissermaßen ein Neueres Testament, das unsere Fähigkeit, bis drei zu zählen, auch bei den heiligen Schriften unter Beweis stellte, müßte der Sache nach das endgültige, wenn nicht das letzte Buch sein. 74
lbid., s. 124.
7 5 Zu diesem Stichwort bietet Comenius ein para-baconisches Argu ment: "Aber auch das Künstliche darf nicht übergangen werden. Denn die Künste bringen die �atur zum Ausdruck oder setzen sie sogar unter Druck und nehmen sie gefangen, wodurch sie dazu gezwungen wird, uns allmählieb ihre Geheimnisse zu gestehen. Dadurch werden diese Geheimnisse immer bekannter. Zudem die nen die Künste dazu, die Annehmlichkeiten des Lebens zu mehren (und im Erleuchteten Zeitalter wird es doch eher einen Überfluß als einen Mangel an solchen Annehmlichkeiten geben müssen).« Weg des Lichts, a. a. 0., S. 1 1of. 76 Vgl. Nikolaj Fedorov, Das Museum, sein Sinn und seine Bestim mung, in: Die Neue Menschheit.. Biopolitische Utopien in Russ land zu Beginn des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Boris Groys und Michael Hagemeister unter Mitarbeit von Anne von der Heiden, Frankfurt am Main 2005, S. I27-232.
III Die Exerzitien der Modernen Von ferne Vergleichbares galt auch im apokalyptischen
10
Kunst am Meoscben
559
Verbesserungsidealismus- genauer: seine Rückbildung zu ei
Denken des Barock: Christen können und sollen Enzyklopä
ner »traurigen Wissenschaft«. Ist es noch nötig zu sagen, daß
disten sein, seit zwischen dem Theomorphismus der Seele
der barocke Idealismus in seinen besten Jahren die Übertra
und dem Kosmomorphismus des ganzen Menschen kein grundlegender Widerspruch mehr existiert. Ein Universum,
ein Buch, eine Psyche: Die Buchförmigkeit der Welt erlaubt
gung der Reformation von den Glaubensdingen auf die Wis sensdinge vollzog? Nach ihm sollten wir nicht allein durch den Glauben, sondern auch durch das Wissen gerettet werden.
es der alphabetisierten Seele, sich ganz auf ihre Weltförmig
Die Aufklärung beginnt als pädagogische Gnosis.
die großen Übenden der Moderne sich nicht mehr in die
Auftrag der
Wüste zurückziehen. Ihnen genügt es künftig, nach der Regel
gen auf: Was eiligst zu schaffen ist, sind universale Bücher
keit einzulassen. Dies ist der letztgültige Grund, weswegen
nulla dies sine pagina zu leben. Viele Seiten ergeben das Ka
pitel, aus vielen Kapiteln entsteht die Welt. Die Vertiefung der Gelehrten in das totale Buch erzeugt eine mehrwertige Be wegung, in der Rückzug und Exodus ineinanderfallen: Mo
dernes In-der-Welt-Sein realisiert ein Mittleres zwischen Flucht in die Welt und Flucht aus der Welt. In dieser Bewegung, die stets nach vorn und oben weist, ist die ursprüngliche Geste der Weltverbesserung zu verorten.77
Den Menschenkünstlern des 17. Jahrhunderts drängt der
emendatio mundi eine Fülle weiterer Folgerun
(der Plural wird hier übrigens nur noch pro forma verwen
det), universale Schulen, ein universales Kollegium und eine
universale Sprache. »Dabei wird kein Winkel der Erde, keine Völkerschaft, keine Sprache und kein Stand vernachlässigt
werden.«78 An allen Ecken und Enden des Universums wer
den die Bücher des Lichtes, die Schulen des Lichtes, die Kol
legien des Lichtes, die Sprachen des Lichtes dringend benö tigt; der zwanglose Zwang der Evidenz wird überall sich
Die Welt verbessern heißt den korrumpierten Text mit dem
durchsetzen, dem comenischen Motto gemäß:
integren vergleichen und ihn dem Original entsprechend kor
fluant, absit violentia rebus:79 Urlicht und technisches Licht
rigieren. Hat man keinen originalen Welttext vor Augen, müs
sen Verbesserer auf die dialektische Annahme setzen, die Ne gation des Schlechten werde per se das Richtige ergeben. Vor
Omnia sponte
engagieren sich in derselben Kampagne: Die Bücher sind die Lampen der Welterhellung, die Schulen die Lampenträger,
die Gelehrten die Lampenanzünder, die Sprachen der Brenn
diesem Hintergrund leuchtet ein, daß noch die Kritische
stoff für die Flamme der universellen Erleuchrung.80
Theorie der älteren Frankfurter Schule, besonders nach ihrer Reduktion zu einer negativen Dialektik, nicht nur ein camou
daß man mübelos von einer Seite auf die andere gelangt. Die
bildete zugleich ein spätes Zerfallsprodukt des barocken Welt-
solches im ganzen überschaubar - darum stellen die Enzy
Hannah Arendt hat in ihrem ansonsten bewundernswerten Buch
dar, die alle Kontinente und Länder des Seins in anschauli-
flierter Marxismus ohne Revolutionsperspektive war; sie
77
Vita activa (The Human Condition, 1958) das modernekonstituie
rende Verhältnis zwischen Flucht aus der Welr und Flucht in die Welt verkannt und aus ihrer Mißdeutung des neuen Modus von
fururisierter Weldichkeit die völlig abwegige Folgerung gezogen, der Mensch der Moderne leide in beispiellosem Ausmaß unter
»Weltlosigkeit«.
Noch stehen die Wörter und die Dinge so eng beisammen, Welt ist das wohlgeordnete Tableau der Wesenbeiren und als
klopädien der frühen Neuzeit noch eine Art von Atlanten
78 Comenius, Weg des Lichts, a. a. 0., S. 125. 79 Alles fließe von selbst - Zwang sei den Dingen fern. Hierin wirkt dje quinrilianischc Einsicht nach, alles Lernen gründe im Willen,
der jedoch nicht zu zwingen sei. So Comenius, Weg des Lichts, a. a. 0., S. 126.
10
III Die Exerzitien der Modemen
Kunst am Menschen
der Schöpfung hat es sich auf die Arbeit der Weltdurchdrin
chen Karten »topisch« wiedergeben. Gott und Mensch haben dasselbe »Weltbild«. Die Lexika des späteren 18. Jahrhun
gung eingelassen, in unseren Tagen tritt das Unternehmen in
dens hingegen lassen das metaphysische Überblicksdenken
die letzte Phase. Hat es je eine Klartextversion des »Projekts
fallen und widerspiegeln die Desintegration des Ganzen in
der Moderne« gegeben: bei Comenius ist sie nachzulesen.
unzusammenhängenden oder nur schwach vernetzten Stich 8 wörtern. 1 Daher begnügen sich die neueren »Nachschlage
fremd und befremdlich gewordcnc Zeit, als unter Wissen
werke« seit Zedlers Universallexikon und der französischen
noch fast ausschließlich qualitatives und in der Natur der
Encyclopedie mit der alphabetischen Aneinanderreihung der
Sachen fundiertes Wissen verstanden wurde. Es legte sich
Artikel. Den formierenden Effekt der alphabetisch »geord
selbst als Wesenserkenntnis aus und nahm in Anspruch, die
Das Postulat des Allwissens erinnert an eine uns längst
neten« Lexika des 18. Jahrhunderts darf man nicht niedrig
durchdringende Einsiebt in die Struktur des abgerundeten
einstufen. Sie dienen den Späteren als Übungsmedien des In
Essenzenkosmos zu bieten. Es bezog sich auf eine im Prinzip
kohärentismus. Ihre bloße Struktur verstärkt die implizite
vollendete, obschon phänomenal in Unordnung geratene,
Überzeugung der Modernen, die Welt sei ein Aggregat aus
somit reparaturbedürftige und insofern unfertig scheinende, jedoch auch reparable Welt. Weltverbesserer ist zu dieser
isolierten Einzelheiten; kein Holismus kommt bis heute ge gen diese Prägung auf - der ökologische so wenig wie der
Zeit, wer der Welt ihre ursprüngliche Vollkommenheit zu
philosophische.
rückgeben möchte - während heute von der Erkenntnis aus
Das comenische Manifest der pädagogischen Internationa
gegangen werden muß, daß jede Repararur neue Ungleich
le deckt wesentliche Prämissen für weltverbesserndes Han
gewichte, neue Unvollkommenheiten nach sich zieht. Die
deln auf: Wer denWegdes Lichts betrin, fürden ist Eile ebenso geboten wie die Überzeugung, allseitige Erkenntnis weiter
Forderung nach Allwissen schloß bei den Pansophen des
geben zu können. EinhundertJahre später fängt einer der Her
die unausweichliche Konsequenz aus den Grundannahmen
Encyclopedie den von Comenius geworfenen Ball. Diderots Elanwort Hatons-nous de rendre La philosophie populaire läßt sich darum ebensogut umkehren: Um die Phi
fekten und überschaubaren Welt beruhte. Zu ihr kann allen
losophie populär und wirksam zu machen, ist Beschleunigung
Ganze einheilt.
t6. und 17. Jahrhunderts keine Vermessenheit ein; sie zog
der klassischen Metaphysik, die auf einer Ontologie der per
ausgeber der
falls eine Therapeutik hinzutreten, die den Menschen ins
geboten. Nur aufgrund seiner Eile sieht man es dem Fort
Diese Annahmen hallen nach in der Mahnung der comeni
schritt noch an, daß er die Apokalyptik ist, die sich ein bürger
schen Pädagogik, die neue Schule habe auf der Zusammen
liches Mäntelchen umgehängt hat. Für den philosophischen
fassung aller Zusammenfassungen aufzubauen, damit sich
Apokalyptiker ist der Weg zum Licht der Weg des Lichts
der künftige Unterriebt auf ein All-Buch stütze. Auch All
selbst - es ist das Absolute in der Geschichte. Seit Beginn
wissenheit kann kindgerecht aufbereitet werden. Unver kennbar basiert das pan-pädagogische Vorhaben auf anderen
8r Vgl. Wilbelm Schmidt-Biggemann, Enzyklopädie und Philosophia perennis, in: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung, herausgegeben von Franz M. Eybl, Wolfgang Harms, Hans-Henrik Krummacher und Werner Welzig, Tübingen 1995,
Prämissen als die antike Einübung ins Allwissen: Bei den Sophisten entsprang es nicht einer Gesamteinsicht in den durchgezogenen Wissenskreis; es ergab sich aus der Forde
s. r 5 t
rung, der Artist im immerwährenden rhetorischen Trainir.�.:-
-
111
Die Exerzitien der Modemen
Iager müsse über jedes beliebige Thema spontan und sieg reich reden können?9
10 Kunst am Menschen könne demnächst mit dem Nachbau von Naturmaschinen ernst machen.
Kaum hundert Jahre später waren die menschenförmigen
Automaten aus den Werkstätten des Barons von Kempelen
Exzentrische Positionalität: Der Menschenautomat als Provokation der Anthropologie Die Modernität der comenischen Schulprojekte erhellt nicht
so sehr aus ihrem grenzenlosen Optimismus, der heute
(der seit 1769 mit seinem vorgeblichen mechanischen Schach
türken auftrat), von Pierre Jacquet-Droz (der r774 seine un sterblichen Androiden:
Die Organistin
Der Schreiber, Der Zeichner,
und
vorstellte), und von Friedrich Kaufmann
(der dem Publikum seinen automatischen Trompeter präsen
entschieden veraltet anmutet. Sie geht aus der radikal tech
tierte) in aller Munde. Die romantische Literatur, die Oper
schine hervor. Nicht umsonst hatte Comenius betont, die
von Statuen und Menschen, von Puppen und Menschen,
nischen Definition der Schule als einer integralen Lernma reformierte Schule, diese Werkstatt
(officina)
der Mensch
lichkeit, müsse wie ein automaton funktionieren. Zum Ver
ständnis des Ausdrucks ist zu bedenken, daß das 17. Jahr
hundert begann, Gott selbst als den ersten Automatenbauer
zu verehren. Die spätere Gleichsetzung von Automatismus
und Seelenlosigkeit - ohne Zweifel der größte Erfolg der
inbegriffen, deliriert von da an über die Verwechselbarkeit
von Maschinen und Menschen - und nichts spricht dafür,
dieses Motiv könne in der technischen Zivilisation j e wieder fallengelassen werden.
81
Die Amhropotechnik eröffnet somit bereits im 17., spä testens im 1 8 . Jahrhundert eine zweite Front, indem sie den
antimodernen Semantik nach 1750 - liegt den Ingenieuren
Impuls der artifiziellen Menschenformung auf androide Ma
jener Zeit noch fern. Comenius bemühte sich in eigener Per
schinen projiziert. Schon Comenius ließ keine Zwiefel auf
son um die Konstruktion eines perpetuum
mobile.
Er war,
wie seine Notizen zeigen, entschlossen, ein solches Objekt,
sollte ihm die Herstellung gelingen, als einen neuen Gottes
beweis aus der Technik an die Öffentlichkeit zu bringen weswegen er zum Himmel betete, er möge ihm, nicht zuletzt
im eigenen Interesse, die Vollendung der perfekten Maschine gewähren.
80
Das Abenteuer der kognitiven Modernisierung
kommen: Die Schule soll eine Maschine werden. Ihre Aufga
be ist es, vollendete Reproduktionen von Menschen in die
Welt zu setzen - als echte und wohlgeratene Menschen. Wer wissen will, wovon die Pädagogik einmal zu träumen
wagte, kann sich die nötigen Aufschlüsse hier besorgen. Im
übrigen wird damit eine Disposition reaktiviert, die bereits
den Lehrern der Stoa vertraut war: Wenn sie den Schülern, die
hängt hier an der Identifizierung der Natur als eines Inbe griffs von gottgebauten Automaten. In ihr gründet die Pro
den philosohischen Weg betraten, die Aufgabe stellten, an der
co-operator Dei,
empirische Mensch müsse zugunsten der idealen Figur bei
gnose, der Mensch, nach Comenius der
79
Siehe oben den Abschnitt über die Sophistik als rhetorische Version der Allwissenheitskunst, S. 451f.
8o Vgl. Klaus Schaller, Die Maschine als Demonstration des leben digen Gottes: Johann Amos Comenius im Umgang mit der Tech n ik, Hohengehren 1997.
»inneren Statue« zu arbeiten, enthielt dies die Suggestion, der seite treten. Die Konjunktur der Anthropologie seit dem 1 8. Jahrhun-
81 Vgl. Klaus Völker (Hg.), Künstliche Menschen. Dichtungen über Golems, Homunculi, Androiden und Liebende Statuen, München 1972.
Hl
Die Exer.citicn der Modernen
dert wird nicht zuletzt durch die Verdoppelung des Men
ro
Kunst am Menschen
Aufführung kamen, dargeboten von Blutgefäßmännern, Ner
schen in Androiden und ihre menschlieben Beobachter
venrnännern, Organmännern in allen möglichen Schnitten und
warum die Plessnersche »exzentrische Posirionalität«, reche
naturkundlichen Sammlungen des Adels, später auch als De
ausgelöst. Wer dem Rechnung trägt, kann nachvollziehen, verstanden, nicht bloß das triviale Sich-Versetzen auf den
Stand- und Blickpunkt der anderen oder das altbekannte Aus-sich-heraus-Treten des Menschen vor dem Spiegel be deutet. Sie reflektiert nicht nur die Zunahme der Ansprüche
multi-situativer »Gesellschaften« an die Kunst des Rollen
spiels; auch ist sie nicht auf den von Blumenberg durchleuch teten Nachteil, gesehen zu werden, zu reduzieren, geschwei ge denn auf den Versuch, aus dem Nachteil der Sichtbarkeit einen Vorteil zu machen - sosehr diese Beobachtung eine plausible Erklärung für die essentielle Theatralität der Kul
turen bietet: Theater ist die Flucht aus der Sichtbarkeit als
Flucht in die Sichtbarkeit.82 Das Exzentrik-Bewußtsein der Modernen rationalisiert in erster Linie den Schock, der von der Fähigkeit zur Herstellung von Menschenautomaten ausgeht; es spiegelt zugleich das
Amüsement, das aus dem Spiel mit den technischen Doppel gängern zu ziehen ist. Daß die Statue lebt, daß sie womöglich von unberechenbaren Intentionen erfüllt ist, daß sie sieb auf die Menschen zubewegt - ohne diese Suggestionen ist die neuere Theorie des Menschen nicht vorstellbar. Wenn die Modernen
Projektionen? Trugen die menschlichen Skelette, die in den monstrationsobjekte in den bürgerlichen Schulen auftauchten, nicht vor allem eine anthropologische Botschaft, indem sie das
Grundgerüst des Androiden präsentierten? Und haben die Pla stinate des Beuys-Imitators von Hagen, die unter dem Titel »Körperwelten« seit 1996 weltweit Furore machen, in Wahr heit nicht nur die Idee der modernen, das heißt der den inneren Androiden bloßstellenden Statue verdeutlicht? Die Plausihilicät des anthropologischen Reflexionsmodus seit dem 18. Jahrhundert verdankt sich dem Umstand, daß nun jeder Zeitgenosse mit der Anregung konfrontiert ist, sich
selbst als Kompositum aus dem Androiden und dem echten
Menschen zu verstehen.83 Damit präseneiert sich die altehr würdige Körper-Seele-Unterscheidung in einem neuen Ag gregatszustand. Die Hochkonjunktur der Körper-Diskurse in Europa seit zweihundert Jahren verdeutlicht diese Kon
stellation bis heute. Nach der Publikation von La Mettries
L'Homme machine
1748 überzeugen sich die Rezipienten der
physiologischen Aufklärung davon, wie es zugeht, wenn Au tomaten sprechen lernen und Maschinen nervös werden. Nicht umsonst ist der Somnambulismus - neben der Furcht,
noch immer Standbilder errichten, so nicht mehr nur, um mo
lebendig begraben zu werden84 - das psychopathalogische
weil sie vom Inneren der Statuen Neues wissen wollen. Waren
sentiert den inneren Androiden, der nach Abzug des Ich-Be
ralische und kulturelle Vorbilder aufzustellen; sie tun es auch, nicht schon die anatomischen Karten des Vesalius in Wahrheit makabre Statuen, die offenJegcen, wie es in der »Fabrik des
menschlichen Körpers« aussieht - obgleich der Betrachter der Vesalischen Tafeln weniger an eine Werkstatt als an einen
Ballsaal denken mußte, in dem modernisierte Totentänze zur
82 Vgl. Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Manfred Sommer, Frankfurt am Main, 2oo6, Zweiter Teil, Kontingenz und Sichtbarkeit S. 473-895. ,
Leitsymptom des 19. Jahrhunderts. Der Nachtwandler prä wußtseins selbständig agiert, während das Lebendbegräbnis
8 3 Jean Paul hat in seiner satirischenJugendschriftvon 1 798-Einfältige,
aber gut gemeinte Biographie einer angenehmen Frau von bloßem Holz, die ich längst erfunden und geheiratet- hieraus die Möglich keitder legalen Bigamie abgeleitet:"· . . jedermann kann zwei Weiber auf einmal ehlichen, falls eine davon aus bloßem Holz besteht.« Zitiert nach: Künstliche Menschen, a. a. 0., S. 140. 84 Henry F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, Bern 1973, Band 1.
566
lii
Die Exerzitien der Modemen
10
Kunst am Menschen
das komplementäre Phänomen beschwört: das reine Ich, wie
zeigen die alltäglichsten Beobachtungen: Nicht nur stellen
es nach der Sarglegung seines Körpers sich selbst erscheint.
Menschen bereits seit geraumer Zeit eine verschwindende
Noch die Psychoanalyse des frühen 20. Jahrhunderts (eine
Minderheit gegenüber den Bildern dar - auf eine westliche
zeitgemäße Maske des übenden Lebens inmitten einer Welt,
Person des 20. Jahrhunderts entfallen zahllose visuelle Er
in der selbst die Trauer als eine Form von Arbeit beschrieben
fassungen und Wiedergaben -, sie sind auch dabei, eine Min
wird) versucht den Verkehr der beiden Instanzen auf das in 85 terne Verhältnis zwischen Es und Ich abzubilden.
derheit gegenüber den anthropomimetischen kognitionsmi metischen Maschinen, den Computern, zu werden.
Im ständigen Hin und Her zwischen den Polen des an droidischen Es und des menschlichen Ich entspringt das See
Der interdisziplinäre Kontinent
lendrama der jüngeren Neuzeit, das zugleich ein technisches ist. Sein Thema ließe sich am besten mittels einer Konver genztheorie umschreiben, wonach zum einen der Android
Es gehört zu den begriffsgeschichtlichen Mißgeschicken der
seiner Beseelung entgegengeht, indessen immer größere Teile
Neuzeit, daß sie den Ausdruck »Scholastik« für das höhere
des Daseins wirklicher Menschen als höhere Mechaniken
Schulwesen des Mittelalters und seine philosophisch-theolo
entmystifiziert werden. Das Unheimliche (von dem Freud
gischen Traktate reservierte. Nach dem Gesagten ist nicht zu
etwas verstand) und das Enttäuschende (von dem er zu
verkennen, in welchem Ausmaß die Modeme selbst eine
schweigen vorzog) bewegen sich aufeinander zu. Der Besee
scholastische, von didaktisch-disziplinarischen Impulsen be
lung der Maschine entspricht strikt proportional dje Entsee
stimmte Weltform hervorbrachte, weit jenseits dessen, was
de facto
lung des Menschen. Wie die bisher erste und einzige philoso
die mittelalterliche Schulkulrur, in ihrer Zeit
phisch durchgebildete Theorie der Technik, die von Gotthard
mehr als eine marginale Größe, zu erreichen vermochte. Die
Günther, erläutert hat, macht das Abfließen von transzendent
Moderne ist eine Hyperscholastik. Sie beruht auf der univer
mißverstandener Subjektivität in die äußere Welt das meta 8 physische Schlüsselereignis der Moderne aus. 6 Wie dadurch die Menschen an zwei Fronten zugleich unter Druck geraten,
Das ist einer der Gründe, warum die Psychoanalyse nur in westlichen Kulturen mit historisch gewachsenem Technikbewußtsein plausibel scheLnen kann, indessen sie in Japan, China oder Afrika, das helßt in Kulruren ohne nennenswerte Es-Ich-Polarisierungen und ohne eigene Tradition des höheren Mascrunenbaus, praktisch unrezipierbar war. 86 VgL Gotthard Günther, Das Bewußtsein der Maschlnen. Eme Me taphysik der Kybernetik (zuerst 1957), Baden-Baden 2002. Für Günther ist noch unentschieden, ob das Abfließen von Reflexivität in die zweite Maschine als bloße Innenweltentleerung oder als Vertiefung der Subjektivität dank ihrer Spiegelung in geistmimeti schen Maschinen von ständig wachsender Komplexität zu deuten sei. Siehe auch: G. G., Die amerikanische Apokalypse, a. a. 0.
Ss
nicht
sellen Invasivität der Schule wie auf dem reziproken Diszi plinentransfer zwischen den Teilsystemen der »Gesellschaft«. Von der Übertragung der Klosterdisziplin auf das schulische Leben war andeutend schon die Rede. Sie hatte die Verschü lerung des Menschen zur Folge, durch alle zeitbedingten Re formen der Pädagogik hindurch - die Schulhaßbewegungen des 20. Jahrhunderts inbegriffen. Eine ausreichend komplexe Zivilisationsgeschichte der Neuzeit müßte darüber hinaus aufzeigen, wie sämtliche so zialen Handlungssysteme sich in einem permanenten Spiel 87 des Disziplinentransfers ineinander verzahnen: So über-
87
Einen Aspekt hiervon hat Bourdieu in seinen Beobachtungen :wm Habitustransfer zur Sprache gebracht.
III Die Exenitien der Modernen
setzt sich nicht nur der monastische
modus vivendi
in den
schulischen, auch die Militärdisziplin wirkt auf die Religions disziplin zurück - bekanntestes Beispiel: das Amalgam aus
Ordenszucht und sublimiertem Kombattanztrainung in den
10 Kunsr am Menschen
ruierte Anregungszusammenhang von Selbersehen, autopsia,
und Selberrun,
autopragmasia,
zerrüttet wird), wäre durch
eine Analyse von Negativtrainings zu erklären.
Kompanien der Societas]esu. Alle drei Disziplinbereiche, der
klösterliche, der schulische wie der militärische, fungieren als Matrizen nicht nur für die Ordnungsprojekte der »Policey<<
und die professionelle Formung des Beamtentums,88 sondern
strahlen in die Sphäre der Handwerksateliers, der Manufak
Kunstgeschichte als Askesengeschichte Ohne das allgegenwärtige Neuzeitfluidum disziplinärer Stei
gerungseffekte hätte namentlich der Kunstbetrieb der Renais
turen, Fabriken und Handelsunternehmen aus. Wer in diesen
sance und der folgenden Jahrhunderte unmöglich funktionie
fahren hatte, konnte in den Künsten das glückliche Mitein
neuzeitlichen bildenden Künste und der Musik als die Ge
Europa seit dem
würde nicht nur das Phänomen Kunst unter einem veränderten
Bereichen die strenge Allianz von Disziplin und Zwang er
ander von Disziplin und Freiheit erleben. In diesem Sinn war
take-off der
Virtuositäten im 15. und I 6.
Jahrhundert der interdisziplinäre Kontinent und blieb es bis
ren können. Es wäre an der Zeit, die ofterzählte Geschichte der schichte der artistischen Askesen darzustellen. Hierdurch
Licht gezeigt, ein neues Spotlight fiele auch auf die Kunst der
heute. Als solcher bildet er ein Netzwerk der totalen Beschu
jüngeren Moderne, die unter wesentlichen Aspekten als Pro
kurrenten gehört zu den Effekten der zunehmenden Netz
handwerklichen Disziplinen zu begreifen ist. Wenn die hier
lung. Die permanente Stimulierung der Könner durch Kon dichte. Oft hat man unter Pädagogen übersehen, daß der wichtigste Lehrer der Rivale ist.
Die neuen Medien der Gutenbergära tragen das Ihre zu
den Ausweitungen der Übungszonen bei. Dank voranschrei tender Alphabetisierung entstehen in allen Nationalstaaten Lesevölker, die einem penetranten Medienfitnesstraining
ausgesetzt sind - in ihnen verkörpert sich die Gleichung
dukt einer zunehmenden Suspension der artistischen und
so genannte »zweite Kunstgeschichte<< von Kunst am Men schen handelt, insbesondere von der Kunst seiner Weiter
bringung zu höheren Leistungen, so gebührt eines ihrer wichtigsten Kapitel der Hervorbringung der Künstler im früh modernen »Haus der Disziplin«. Es mag genügen, noch einmal
an Richard Sennetts Ausführungen über das Ethos der Hand
werke, namendich seinen Exkurs über die Goldschmiede der
von Mensch und Leser. Zu ihnen kommen im 20. Jahrhun
Renaissance, zu erinnern.89
zuletzt in das Weltvolk des Internets aufheben. Medienfit
musik besteht eine ungebrochene und selbstverständliche
dert die Telefonvölker und die Radiovölker hinzu, die sich
ness ist das Element, in dem moderne Populationen ihre
Allein im Bereich des Kunstgesangs und der Instrumental
Tradition des ÜbungsbewußtSeins, die alle Wandlungen des
globale wie spezifische Fitness elaborieren. Warum dennoch
Stils, des Geschmacks, der Kompositionstechnik und der
mündet (technisch gesprochen: wie der von Comenius sta-
derne überdauert hat. Ironischerweise sind es die großen In
passiver Medienkonsum fast unvermeidlich in Unfitness
88 Vgl. Foucault, Überwachen und Srrafen, a. a. 0.; Fran�ois Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfun am Main '993·
Aufführungstradition von der Renaissance bis zur Postmo strumentalisten, die fast täglich an der Rampe stehen, ge-
89 Siehe oben S. 462f.
570
lii
Die Excrzicieo der Modernen
schult in »anständiger Dreistigkeit« vor dem Publikum, im Applaus baden und so das willkommene Trugbild hoher Künstlerfreiheit nähren, an die man zuerst denken möchte, wenn von repressiver DiszipJiruerung die Rede ist. Aufgrund ihres erdrückenden Übungspensums scheinen diese Virtuo sen für foucaultianische Analogien offen wie kaum eine an dere Gruppe von Disziplinierten. Vielen von ihnen leuchtet es ein, wenn man ihre Übungsräume mit Gefangenenzellen und ihre Etüdenqual mit Einzelhaft am Instrument ver gleicht.90 Dennoch ist bei ihnen die relative Freiwilligkeit des Leidens an der Disziplin nicht zu leugnen. Mag es auch auf den ersten Blick plausibel scheinen, die Geschichte der neueren Instrumentalmusik als einen klassi schen Fall von »Disziplinarmacbt« darzustellen: In Wahrheit bildet sie ein Kapitel in der Metamorphose der Passionen. Blickt man von Czernys berüchtigten klavierdidaktischen Werken wie Schule der Geläufigkeit, op. 299, Vierzig tägliche Studien, op. 337, oder Nouveau Gradus ad Parnassum, op. 822, auf die devotionsdidaktischen Schriften des 15. und 16 . Jahrhunderts wie die lmitatio Christi des Themas von Kem pen (zuerst anonym um 14r8) oder die Exercitaliones spiritua les des Ignatius von Loyola (spanisch 1 533, lateinisch 1 54 1 ) zurück, so geben sie eine Vorstellung von der Spannweite der Wandlungen, die die Passionsbereitschaft neuzeitlieber Men schen im Lauf von kaum mehr als vier Jahrhunderten durch messen bat: Sie reichen von der instrument.losen Passion der seelisch Mitgekreuzigten, Mitgestorbenen, Mitauferstande nen, die den mystischen Instruktionen folgen, bis zum Instru mentalvirtuosenturn des frühen 19. Jahrhunderts, in dem sich der romantische Kamprarniß zwischen Artistenbravura und Entselbsrung vor den Forderungen des Instruments verkör pert - um von den interpretativen Ansprüchen der Kunst-
90
Vgl. Grete Wehmcyer, Czerny und die Einzelhaft am Klavier oder Die Kunst der Fingerfertigkeit und die industrielle Arbeitsideolo gie, KasseVBascVLondon/Zürich 1983, besonders S. 1 p - 1 8o.
10
Kunst am Menschen
57 I
werke nicht zu reden. Wer diese Strecke überschaut, dem wird unmittelbar klar, warum die Kunstgeschichte der Neuzeit nicht allein als Werkegeschichte verständlich zu machen ist. Sie stellt immer auch die Geschichte von Passionsübungen und ihrer Umwandlung in Kunstpassionen dar. Was ich die zweite Kunstgeschichte nenne, ist also in erster Linie für die Verfahren der Schulung von Künstlern in ihren Disziplinen zuständig. Sie hat somit auch den Prozeß der Entdisziplinierung in der jüngeren Kunstgeschichte zum Ge genstand. Mit diesem doppelten Fokus verschiebt sie das Au genmerk vom Kunstwerk auf den Künstler, indem sie die Er zeugung der Kunsterzeuger als eine eigene Dimension der Kunstgeschichte definiert - was im übrigen das Gegenteil des gewöhnlichen Biographismus bedeutet. Hierdurch wird die umakzentuierte Kunstgeschichte zu einem Zweig der all gemeinen Übungs- und Trainingsgeschichte. Sie gibt zum einen technisch präzise Antworten auf die Frage nach der Ent.stehung von hoher Kunst, soweit dies durch die Analyse der Übungsformen zu klären ist. Zum anderen kann sie neue Deutungen für die Paradoxien der Massenkultur anbieten etwa für das Phänomen, daß manche Weltstars der Popmu sikszene auch nach Jahrzehnten auf der Bühne noch immer nicht singen können - was nur mäßig verwundert, wenn man weiß, daß sie in den Gesang bloß einen Bruchteil ihres Übungspensums investieren, während sie ohne weiteres da von ausgehen, weniger als drei Stunden work out im Fit nessstudio seien für ihre Bühnenperformance nicht genug. Versetzt man die Geschichte der Kunst in den Rahmen einer Geschichte der Askesen, gewinnt man nicht zuletzt eine neue Sicht auf den Phänomenkomplex, den Hans Belring in seiner Studie Bild und Kult als eine »Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst« präsentiert hat.91 Bei dieser
9 1 München r990.
-
Ill Die Exerzitien der Modernen
5 72
JO
Kunst am Menschen
573
kenntnisreichen Synopse der Ikonenmalerei von der Spätan
Der Monothematismus zeigt an: Das Bild ist allein im Dienst
Zone »VOr der Kunst« vorzustoßen - das hieße ja den säku
darum keine Rede. Durch die Begrenzung auf wenige Arche
tike bis zur Renaissance ging es nicht wirküch darum, in eine
laren Künstler delegitimiereo und .ihm den Priester-Maler überordnen. Belting hat in seinem Ikonenbuch vielmehr die Möglichkeit entdeckt, die Kunstgeschichte als Medium einer Geschichte kunsttragender Askesen neu zu denken. Aller dings zögerte der Verfasser auf halbem Weg und hob die
Kunstgeschichte a
contre creur in
eine allgemeine »Bildge
der Erlösu.ng zulässig. Von einer Freiheit der Motivwahl ist typen ist die spirituelle Malerei imstande, die Weltflucht bzw.
die ethische Sezession zu fördern. Zu keiner Zeit durften Ikonenmaler sich dem Glauben hingeben, das vollkommene
Bild fertiggestellt zu haben. Einer satanischen Versuchung erlägen jene, die glaubten, das jenseitige Urbild habe sie aus
erwählt, um durch sie diesseitig zu erscheinen. Die Fülle der
schichte« auf - für ihn, einen der wenigen entschiedenen
Vollkommenheit kommt nur dem überweltlichen Archety
Lösung, bei welcher der Sinn für Qualitäten noch nicht auf
nicht dem Maler als untergeordnetem lkonopoieten, sei er
Kunstessentialisten der Gegenwart, gewiß nur eine vorläufige
pus zu, nicht seiner innerweltlichen Projektion, erst recht
seine Rechnung kommt.
auch seinem Ich noch so sehr erloschen.
schichte zugunsten einer allgemeinen Bildgeschichte auf der
schen Maximum - und auf dem Minimum an Weltzuwen
In Wahrheit steht nicht die Liquidierung der Kunstge
Tagesordnung - sonst wäre die massenhafte Ablichtung von
allem und jedem die Kulmination der Geschichte der Bild
erzeugungen. Was ins explizite Licht zu rücken wäre, ist die
historische Allianz von Kunst und Askese, von der bislang
Ikonenmalerei verkörpert somit Kunst an ihrem asketi
dung. Hat man diesen Punkt fixiert, läßt sich die Kunstge schichte Europas nach der Ikonenzeit als ein etappenreicher
Prozeß der Verschiebung, der Ausweitung, der Lockerung
und der Auflösung der kunstermöglichenden Askesen prä
stets nur indirekt die Rede war. Akzeptiert man diese The
sentieren. Bei der Aufhebung des Monopols religiöser The
gangspunkt einer großen Erzählung von der Prozession der
die Fenster auf. Die Freisetzung des Polythematismus ist die
menstellung, kann die Ikonenmalerei den plausibelsten Aus
bilderzeugenden Energien durch die Zeiten abgeben, jedoch
men stößt die bildende Kunst der Renaissance buchstäblich
wahre Mission der »Kunst der Perspektive«. Perspektivisch
nicht, weil sie als eine Form von kunstloser Bildlichkeit an
sehen meint ja, der Welt die dritte Dimension, die Tiefe, zu
Werk der Askese verkörpert: Hier ist Kunst angewandte As
keit. Nun ist die Ikone überall, jedes Bild könnte ein heiliges
zusetzen wäre, sondern weil die Ikone das exemplarische kese, und hohe Askese zuweilen hohe Kunst. Vor dem heili
gen Bild wird nicht nur selbstlos gebetet und meditiert; der
malerische Akt, aus dem es entsteht, ist seinerseits eine der
konzentriertesten Formen von Gebet, Meditation und Ent selbstung. Wenn Generationen von Ikonenmalern zeitlebens
gestehen, und mit der Tiefe die Würde der Kontemplierbar
sein, jedes Fenster öffnet sich auf eine wahre Erscheinung.
Erlösung meint nicht mehr Befreiung von der Verführung der
Welt, sondern Befreiung zur Fülle irdischer Mirabilien. Die
Welt wird alles, was des Zeigens wert ist.
Wo die elaborierteste Disziplin auf die umfassendste Welt
ein und dasselbe Motiv ausführen, so aus dem Grund, weil sie
zuwendung traf, waren die Voraussetzungen für extreme
halten sind, sich immer von neuem dem einen transzendenten
keit solcher Höhen s i t natürlich nicht auf die klassischen
im Geist des hellenistisch-östlichen Christentums dazu ange Bild zu unterwerfen, das sich durch sie materialisieren soll.
Kulminationen des Kunstgelingens geschaffen. Die Möglich
Jahrhunderte beschränkt, sondern prinzipiell in jeder spä·:::-
lll Die Exerzitien der Modernen
5 74
10 Kunst am Menschen
5 75
ren Periode - warum nicht auch in der Gegenwart - möglich,
ciceronische Zurückführung des römischen Worts für das
doch wie bekannt bietet diese für neue Gipfelproduktionen
Heer, exe1·citus, auf dessen Hauprfunktion, die tägliche Waf
ein erschwerendes Umfeld, weil die allesinfiltrierende Mas
fenübung, exercitatio, in Europa nie ganz vergessen. Oben
senkultur aufgrund ihrer siegreichen Mischung aus Simplifi
drein enthält die Überlieferung aus alter Zeit die Erfahrung,
kation, Respektlosigkeit und Unduldsamkeit jeder norma
daß in der Schlacht die Gruppenfitness, die sich in effektvol
tiven Vorstellung von Höhe abgeneigt ist, erst recht von
len Aufstellungen und kohärenten Kollektivbewegungen be
Höhen, an denen sie sich messen sollte.
währt, die Einzelfimess im Kampfvon Mann gegen Mann bei weitem überwiegt. Obschon das mittelalterliche Militärwe
Es erübrigt sich nachzuzeichnen, welche problematische Rol le die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts bei der Auflösung
sen diese Hinweise nicht zu ignorieren vermochte, hat das Rinertum eine völlig anders geartete Vorstellung von Kampf
der »Maßstäbe« spielte, auch und vor a!Jem auf dem hochkul
und Sieg geltend gemacht, und erst die beginnende Neuzeit
tureilen Flügel. Eine ihrer Leidenschaften galt ja der Propa
brachte wieder einen aktuellen Typus von Kriegführung auf
gierung einer Kunst ohne disziplinäre Prämissen - das Thema
der Basis von resolutem Formationsexerzieren hervor. Ohne
>>Duchamp und die Folgen« wird die künftige Kunstkritik
dieses lassen sich die beherrschten »Evolutionen« der Trup
noch lange beschäftigen, und es ist nicht ausgemacht, ob die Reputation des Kirchenvaters der Kunst nach der Kunst aus 92 der Überprüfung unbeschädigt hervorgeht.
pen im Feld wie auf dem Ü bungsplatz zwischen dem 1 7·
Jahrhundert und den Innovationen des napoleonischen Be wegungskriegs nicht verstehen.
Man hat in den gängigen Darstellungen frühneuzeitlicher Wiederanknüpfungen an griechische und römische Kultur Vom militärischen Drill
muster auf dem Feld von Architektur, bildenden Künsten
Ein bedeutender Seitenzweig der jüngeren Kunst am Men
ge Generationen versetzt - auch eine miJitärische >>Wieder
schen, der beim heutigen Publikum nur noch auf geringes
kehr der Antike« stattfand. Sie ist vor allem mit dem Werk des
und Literatur oft übersehen, da.ß fast gleichzeitig - um weni
Interesse und noch geringere Sympathien stößt, zeigt sich
Heerführers Moritz von Oranien (mit Beiträgen Wilhelms
im frühneuzeitlichen Militärwesen. Bekanntlich reicht das
von Nassau und Johanns von Nassau) verbunden, das neben
soldatische Üben bis in die frühen Perioden der mesopota
zeitgenössischen militärkundliehen Anregungen vor allem in
mischen und mediterranen Staatenbildungen zurück - die
der Wiederbelebung des Interesses an antiken Militärschrift
berühmte griechische Phalanx und die römischen Legionen
stellern gründet. Aufgrund seiner soliden Kenntnis antiker
galten schon den Zeitgenossen als Wunderwerke der Kampf
Sprachen war Moritz imstande, Autoren wie Xenophon,
dressur und der Überwindung der psychologischen Wahr scheinlichkeit (sprich der menschlichen Neigung zur Flucht
Polybios und Onasandros sowie Caesar, Livius und Sueton,
angesichts gegenwärtiger Lebensgefahr). Auch hat man die
insbesondere jedoch die Taktiken des Ailianos und des by zantinischen Kaisers Leo VI. im Original zu studieren. Aus diesen Schriften schöpfte er präzise Anleitungen zur Ausge
92
Über den Zerfall des Imitationsbewußtseins in der bildenden
Kunst des
20.
Jahrhunderts siehe unten S. 686f.
staltung eines zeitgemäßen Exerzierreglements. Insbesondere übernahm er für seine Heeresreform bei den niederlänC.:-
III Die Exerzitien der Moderneo
10 Kunst am Menschen
577
sehen Truppen im anti-spanischen Freiheitskrieg nach 1 5 89
nornische Präzision erst die Untersuchungen der frühen po
die von den Griechen erprobten Vorschriften hinsichtlich der
sitivistischen Sportwissenschaft im 19. Jahrhundert und die
Aufstellung der Heerhaufen nach Reihen und Gliedern, eine Einteilung, deren Wirkungen noch auf den Kasernenhöfen
Anleitungen für Fließbandarbeiter in der Ära des Tayloris 93 mus wieder anknüpfen. Übertroffen werden diese Studien
des 20. und 2 1 . Jahrhunderts zu beobachten sind. Die grie
ihrerseits nicht vor dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts,
unfreiwilligem PlatOnismus den Grundgedanken der Politeia
senschaft Bewegungsstudien mit bildgebenden Verfahren,
chische wie die römische Soldateska hatten in einer Art von
als in der quantifizierten Sportphysiologie und Trainingswis
übernommen, wonach der »Staat« nichts anderes als ein Gro
Diagramme zur Erfassung des Stoffwechsels von Hochlei
ßer Mensch (makranthropos) sei - wobei man den »Staat«
stungsathleten und individualisierte Trainingsanleitungen
(polis) unbefangen mit einem disziplinierten Heerhaufen
für sportliche Disziplinen aller Art und jedes Niveaus auf
gleichsetzte. Solche Ideen kamen den Intuitionen der Renais
die Tagesordnung kamen.
sancestrategen entgegen, weil sie die Projektion geometri scher Figuren und homogener Bewegungen (Evolutionen) auf größere Massen von »politischen Lebewesen« erlaubte.
Menschenausstatter im allgemeinen
Konsequenterweise entnahm Moritz den antiken Taktik lehrbüchern die partiell äußerst präzisen Beschreibungen der
Wir haben uns davon überzeugt, wie das Privileg, den ab
»Elementarbewegungen<< von Heeresgruppen, zu denen Fi
soluten Imperativ
guren wie Kehrtwendungen, Schwenkungen, Kontremärsche
den Inhabern religiöser Sprechämter entgleitet und auf eine
und anderes rechneten. Hier wird der Soldat als der laterali
Anzahl von säkularen Agenturen übergeht. Unter denen ra
sierte Mensch geprägt, der links und rechts um nichts in der Welt verwechseln darf. Ü berdies hatten schon die Alten die
z.u
übermitteln, zu Beginn der Neuzeit
gen hervor: der frühneuzeitliche Fürst als Schirmherr der Menschenproduktion, der barocke Pädagoge als Experte
Bedeutung einer einfachen und effektvollen Kommandospra che entdeckt, durch die sich Befehle unmißverständlich auf
der pansophischen Menschenformung und der Renaissance
die Truppenkörper übertragen lassen. Unter ihrer Anregung
ter Menschenaufstellungen im Formatiooskrieg. Neben sie
entwickelten alle Armeen der entStehenden europäischen Nationalstaaten nach dem Vorbild der Oranier landeseigene
Feldherr als der an der Antike geschulte Virruose massenhaf treten im Laufe der Zeit Scharen von Beratern und Einflüste rern, die sich an ihre Mitmenschen nicht mehr als Überbrin
soldatische Codes, bestehend aus knappen Kommandowör
ger des metanoetischen Imperativs wenden, sondern als Ver
tern, die den Übenden auf den Kasernenplätzen in Fleisch
mittler von praktischen Neuerungen, die eher technische
und Blut übergehen sollten, um schließlich im Feldzug be folgt zu werden. In den Abschnitten der neuen Reglements, die dem Waffengebrauch gewidmet sind, vor allen dem der damals noch sehr schwerfälligen Feuerwaffen - einem Sujet, bei dem die Pioniere der oranischen Reform von den Alten wenig lernen konnten -, finden sich sogar schon erste Se �·.:enz.ierungen komplexer Bewegungsabläufe, an deren ergo-
93 So ist beispielsweise eine Sequenz von 43 Bewegungen mit entsprechenden Kommandos für das Exerzieren an der Muskete aus d em frühen 17. Jahrhundert überliefert, wiedergegeben in: Werocr Hahlweg, Die Heeresreform der Oranier und die Antike. Studien zur Geschichte des Kriegswesens der Niederlande, Deutschlands, Frankreichs, Englands, Italiens, Spaniens und der Schweiz vom Jahre 1589 bis zum Dreißigjährigen Kriege (zuerst 1941), Osna brück 1987, S. 34f.
5 78
IIT Die Exerzitien der Modernen
Vorteile als moralische Besserungen zum Inhalt haben. Ich
to
Kunst am Menschen
5 79
prothesen der Götz-von-Berlichingen-Zeit bis zu den High
nenne sie die Menschenausstarter der Neuzeit. Ihnen kommt
Tech-Implantaten der Gegenwart, von den Kursehen der Ära
Materie« ihrer Zeit zu, weil sie sich nie auf die für Philoso
elite der letzten Benzinjahre.
ten Menschen cinließen.94 Die neuen Ausstatterwählen zum
oder Marktschreier für Accessoirs zum zeitgemäßen Leben.
eine hohe Bedeutung für die Formung der >>menschlichen
phen verführerische Ideologie des unbemittelten, un-beding Menschen den pragmatischen Zugang. Sie sehen in ihm in
erster Linie den Klienten, das heißt den von beschaffbaren
Kaiser Maximilians bis zu den Luxusjeeps für die Mobilitäts Die Menschenausstarter sind keine bloßen Verkäufer
Nimmt man ihre Funktion so ernst, wie es angesichts ihrer
Bedeutung für die dingliche Ausstattung der Existenz der
Dingen umgebenen, von Dingen stimulierten, mit Dingen
Modernen unbedingt erforderlich ist, bemerkt man, daß ihre
übenden Teilhaber an der Güter- und Sachenwelt. Sie spre
Angebote oft nicht weniger sind als Weltverbesserungen in
Innovationen werben können. Sie legen den Zeitgenossen
Erfindung der Brille, ohne die das Lesen und Leben im Gu
chen nie von dem einen, das not tut, solange sie für nützliche nahe, ihr Leben durch Teilnahme an aktuellen Künstlichkei
ten zu verändern und ihren existentiellen Tonus, nicht zuletzt ihre Wettbewerbsfähigkeit, durch neue Informationsmittel, neue Komfortrnittel, neue Distinktionsmittel zu heben. Die
ser neue Markt zersetzt das archaische Entweder-Oder der ethischen Differenz. Jetzt köm1en sich Fundamentalisten in
Kunden verwandeln, aus Gläubigen dürfen Leser werden, aus Weltflüchtern manifeste Medienbenutzer. Wer sein Leben än
dern will, sieht sich in einen ständig wachsenden Horizont
von Lebensergänzungsmitteln und Lebenssteigerungsmitteln
versetzt - sie bilden die stärksten Attraktoren in der moder nen Flut der Waren, die man zu Unrecht oft allein unter dem Konsumaspekt beschreibt. Mit ihrem Erwerb ist die Teilhabe
an gehobenen Fitnesschancen und erweiterten Genugtuun
gen verknüpft. Das reicht von den ersten Editionen der hu manistischen Autoren bis zu den Flatrate-Zugängen in die
vernetzte Welt, von Gewürzen aus den Molukken bis zu Par ker-notierten Grands Crus du Medoc, von den groben Hand-
94
Zur Erläuterung der Gegenthese vgl. Friedrich W. Heubach, Das bedingte Leben. Theorie der psycho-logischen Gegenständlichkeit der Dinge. Ein Beitrag zur Psychologie des Alltags, München r987. Sowie Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 2.008.
diskreten Quanten - man denke an die spätmittelalterliche
tenbergzeitalter unvorstellbar wäre.95 Schon von Petrarca ist die Notiz überliefert, er habe von seinem sechzigsten Lebens jahr an eine solche Lesehilfe in Anspruch genommen. Auch
das neuzeitliche Papier fällt in die Kategorie der Weltverbes
serungen aus Manufakturen; aus ihm entsteht das Pandämo
nium der Waren, die durch Drucker, Verleger, Zeirungsma cher, Kartographen, Schriftsteller, Gelehrte und Journalisten
an das Neuzeitpublikum gebracht werden. Die Angehörigen
der papierbezogenen Berufe fungieren hier als diskrete Exer
zitienmeister für moderne Menschen. Sie verändern das Leben jedes Einzelnen, ohne nach dessen ganzem Dasein zu grei fen.
Die anthropotechnischen Wirkungen - die kompetenzhe
bende Dynamik und die Erweiterung des Operationshori zonts - dieser Dienste und Produkte wird im allgemeinen
nur in den Anfangszeiten uneingeschränkt begrüßt. In der
Frühzeit einer Innovation fällt vor allem die Differenz zwi schen Benutzern und Nicht-Benutzern ins Auge, indessen in
der Phase der Marktsättigung eher die emropischen und miß bräuchlichen Effekte die Blicke auf sich ziehen. Darum kön95
Vgl. Chiara Frugoni, Das Mittelalter auf der Nase: Brillen, Bücher, B ankgeschäfte und andere Erfindungen des Mittelalters, München 2.00)·
-
III Dir E.xrnitirn der Modemen oen Comenius und Karl Kraus über djc
cgouogcn der
ro Kunst ;�m
gnum
der
Menschen neuzeitlichen
Eigenrumswircschafr entspringt.
Schwanen Kunst nicht einer Mcinung sein. Solange nur die
Bringt man es in explizite Form, stößt man auf den katego
wenigsten imstande sind, zu lesen und zu schreiben, erscheint
rischen Imperativ der Schuldcnbedienung: Wirtschafte so,
allgemeine Alphabctisicrung wie ein mc si;�nischcs Projekt.
daß du durch cffizil·ntcn Einsatz der Ressourcen jederzeit
Wenn alle dazu in der Lage sind, bemerkt man die Katastro
die Gewißheit gcnid�c.:n darfst, K rcditc fristgereein zurück
phe, daß es fast niemand richtig kann.
zahlen zu können. Ocr Krcditstress. der wad1scnde Popula
Vor diesem Hintergrund wird eine für die heutige Sarurie rungsphase symptomatische Tatsache begreinich: Unzählige möchten sich der Allgegenwart der Reklame entziehen,
ja,
ihr wie einer Pest ausweichen. Auch in diesem Fall ist die Unterscheidung von vorher und nachher hilfreich. Aus der
tionen von
chuldnern in Form zwingt, ist eine Quelle von
lnnovationsbcreiuchaft, von der noch keine Kreari,r1täts theorie richtig Kenntnis genommen hat. Sobald man verstan den hat, daß an der Basis neuzeitlicher Oisziplinicrungcn weder die Rclacion von ,.Herr und KJ1cdn• noch der Gegen
Sicht der entStehenden modernen Güterwelt konnte man die
satz von • Kapital und Arbeit .. zu finden ist, sondern der
Reklame damit legitimieren, das Weitersagen der Nachrich
symbiotische Antagonismus von Gläubiger und Schuldner,
ten von der Existenz neuer Lebenssteigerungsmittel sei unab dingbar, da die Bevölkerungen der Handels- und Industrie nationen ansonsten um wesentliclles Wissen über diskrete Wclcverbesscruogcn
betrogen blieben.
Als
Botschafterio
neuer Vorteilsbringer ist die frühe Rckhmc das allgemeine Trainingsmedium der aktuellen
Leistungskollektive,
die
man in kulturkonservativen Milieus leidnfertig als •Kon sumgesellschaften• denunziert. Ocr Widerwille gegen die Re klame, die die gesättigten Infosphären der Gegenwart durch zieht, geht jedoch von der richtigen Intuition aus, wonach sie in ihren meisten Erscheinungsformen längst zu einem Trai ning nach unten gehört. Sie sagt nicht mehr weiter, was Menschen wissen sollen, um an vorteilhafte Innovationen zu kommen; sie erzeugt Trugbilder von käuflichen Sclbster höhungeo, die de facto meisteo.s Schwächungen bringen.
Zuletzt wäre von den neuzeitlichen Bankiers zu sprechen, die sich aufg.rund ihrer Tätigkeit als Kreditgeber f-ür Men schen, die ihre Lage verbessern wollen und als WirtSchafts akteure oft tatsächlich verbessern, als die effektivsten Moti vatoren für intensivierende Veränderung erweisen. An ihrer Praxis ist abzulesen, wie ein Gutteil der Steigcrungsimpcra
tive., unter denen die Modernen leben, aus dem arcarmm ma-
muß die gesanm Geschichte der geldbewegten •Gesellschaf ten" von Grund auf neu geschrieben werden.
11
Im auto-opcr.u:i'• gckrilmmtc:n R;�um
Zeloten vor Damaskus I I
IM AUTO-OPERATIV G E K R Ü M MTEN RAUM NEUE MENSCHEN
ZWISCHEN ANÄSTH E S i E U N O B I O P O L I T I K
w
Boden wirft. Der helle Streif am
Horizont, dem man in der Ebene cntgegenwaodcrt, erhäJt jetzt neuen spirituellen und moralischen Wen. Ist der Osten rot, kann es nicht f:�.Jsch sein, auf ihn zuzugehen. Die Refor mation hob die spirirucUen Privilegien des Ordenslebens auf, da jeder Punkt in der Weit von der Gn:�.de gleich weit entfernt ist. Damit erschienen die Voraussetzungen für den radikalen
Lob der Horizontalen
Bruch mit der Weh am scnsiti,,sren Punkt verändert. Sind die Asketen in den strengen Orden dem Licht nicht näher als die
Der meranoetische imperativ hat sich in der Moderoe w
Laien in den Ämtern und Werkstätten, können auch diese
nehmend in e.ine Vorschrift zur •äußeren Anwendung« ge
sich Chancen ausrechnen. auf weltlichen Wegen geistlich vor
wandelt. Seine Dissemination aus der philosophischen und
anzukommen. Daran konnte die Aufklärung direkt anknüp
monastischen Sphäre in spätaristokratische und bürgerliche
fen. Mehr noch: Seit den Anfängen der Lichtpoütik. aus der
lumii!res wurden, durfte man
sich den Weg zur Aufhel
Kreise, später auch in proletarische und kleinbürgerliche
die
Schichten verstärkte die Tendenz zur Entspirirualisierung,
lung aller Dinge als eine Route mit mäßiger Steigung \'Or
zur Pragmatisierung und zuletzt zur Politisierung des Än
steUcn, auf der sieb vorwärtsbewegte, wer halbwegs guten
derungsgebots. So konnten zahllose Individuen in den Jahr
Willens war und die Zeichen der Zeit verstand. Ein dunkler
hunderten der Modemisierung dem Aufruf zur Transfor
Drang von innen soll nun zum Enden des rechten Wegs
mation ihres Lebens Folge leisten, indem sie den typischen
genügen. Wo Drang ist, da ist auch ein Weg nach vorn. Das
Produkten ihrer Zeit die Tur öffneten. Die magischen Papier
stetige Ausschreiten auf moderat ansteigenden Wegen wird
waren des Gutenbergzeitalters, Bibeln und Nicht-Bibeln, ge
vom 1 8. Jahrhundert an als der authentische Modus des Fort sehrins rationalisiert. Cultura nonfadt salt1ts.96 Die Wclrver
langten mit den Jahren, den Jahrzehnten, den Jahrhunderten in viele, wenn schon nicht alle Haushalte. Wer mit ihnen
eo ipso
bcsserung ist das Gute, das Zeit braucht.
auf dem besseren Weg. Die Druck
Man kann dit Folgen der Wende zur Moderierung der
schriften gewöhnten ihre Benutzer an die für sie selbst noch
ethischen Ansprüche nie hoch genug einstufen. Durch die
ganz undurchschaubare Dynamik ihres Zeitalters: daß neue
Mäßigung kehrt der Sinn für die moralische Chromatik des
umging, schien
Medien alte Inhalte verbreiten, bis veränderte Verhältnisse entstehen. die neue Inhalte liefern. Die werden von den al ternden Medien in Umlauf gehalten, bis neuere Medien auf tauchen, die die alten Medien samt ihren alten und neuen Inhalten rezyklieren. Entscheidend für das Weitere ist die Beobachtung, daß die
Realen zurück. Die ethische Unterscheidung wandert in die
Nuance. Sie erstattet nicht nur den lauen Christen das gute Gewissen zurück; sie spricht den Weltkindern sogar ein Prius
bei der Suche nach dem guten Leben zu; ja, sie macht es
nach Jahrtausenden spiritueller Diskriminierung möglich, das wehliehe Leben als gute Bewegung in der Horizontalen
Forderung nach Selbstveränderung und Umkehr nicht mehr nur von oben auf das wandJuogsbereite Bewußtsein trifft. Es
muß nicht immer das Licht aus der Senkrechten sein, das den
96
Dieter Cl:.c.sscns. 0:1s Konkrete und das Abstrakte. Soziologische
Sk.izz.en
zur Anthropolgie, Frankfun am �hin •994·
-
III Die Excni1icn der Modemen
11
I m :ruto-oper.uiv gckrumnncn R:rum
zu rehabilitieren, vorausgesetzt, es weist eine gewisse Ten
rung der ethischen Unrcrschcidung- oder, wenn man so will:
klärt, ist unmittelbar Reaktionär; wem sie nicht genügt, der
ehemals große \Von Fonschritt. Die diskrete spirituelle Sen
denz nach oben auf. Wer diese leugnet oder für nichtig er
Deverrikalisicrung der Existenz. Genau dies bezeichnet das
träumt früher oder später vom vertikalen Ausstieg aus allem,
sation der Neuzeit liegt darin, daß es nun die mittleren Wege
was horizontal, kontinuierlich und vorhersagbar erscheint:
sind, die zum Heil führen solJcn. Die Ermiißigungen der For derungen nach radikalem Bruch mit dem alten Adam und
von Revolution.
seinem korrupten Milieu gaben der Wcldicbkeit eine neue Würde. Sie trugen das Ihre dazu bei, die Kulturklimawende zugunsren prinzipieller Neophilie einzuleiten. Wie die Nei
Fortschritt als Metanoia zum halben Preis So erweist sieb der Fortschrins- und Entwicklungsgedanke i n der Modeme als schlimmster Feind der radikalen Metanoia alten Stils. Er bringt die steile alt-asketische Vertikale um ihre Plausibilitär, er relegiert sie in die Ecke des •Fanatismus'�. Diese Wandlung verbirgt sich ltinrer dem tausendfach wieder holten Mißverständnis der Modeme als Ära der Säkularisie rung. Gewiß, das Christentum verlor seit dem 1 8 . Jahrhun dert in Europa seine Prädominanz, doch nur bei wenigen Zeloten der Aufklärung setzte sich eine Art von Mensch-al lein-Bewegung durch, die :Ule Türen zum Jenseits zuschlug und schlechthin alles in die Immanenz verlegen wollte. Die breite Masse hatte auch in den Jahrhunderten, die man dem Säkularismus zurechnet, immer ein vages Transzendenzbe wußtsein bewahrt - William James hat für die populäre Nei gung zur gläubig-ungläubigen Vermutung einer höheren Wirklichkeit den Ausdruck
piecemeal supranaruralism
ge
prägt und diesen für sich selbst in Anspruch genommen. Di.e
se Disposition vertrug sich ausgezeichnet mit dem pragmati schen lmmaoearismus der Neuzeit wie mit den guten logi schen Manierender Akademia und des gebildeten Publikums, und diese altbekannte Haltung ist es, die in den heute zirku Üerenden Gerüchten vom Auftauchen einer •postsäkularen
gung, das Neue 'W begrüßen, der Neuzeit ihre futurische Orientierung verlieh, erübrigt sich ruer zu demonstrieren.
Was sie der Rehabilitierung der Neugier verdankt, ist seit Hans Blumenbergs Hauptwerk bekanm.97 Die neuere Ära war in iJ1rcn rultigeren Perioden, insbeson dere von 1648 bis 1789 und von 1 8 1 5 bis 1 9 1 4, dann wieder von r945 bis heute, in summarischer Sicht ein \Veltalrer der
Metanoia zum halben Preis. In diesen Zeiten konnte man getrost mit der •Entwicklung• gehen, die
grosso modo
vor
wärtsstrebte, und den alten Adam im bürgerlichen Gewand leben lassen. Es genügte, auf der Höhe der Zeit zu sein und sich am Fonschrirt zu orientieren, um glauben z.u dürfen, man gehöre zu den Gerechtfertig�en, den Guten. Von einem
kritischen Punkt an sollte die Umkehrung des Bewußtseins
sogar gratis erfolgen, indem sich der Mensch
simpliciur auf
seine natürliche Güte z.urückbesann: Rousseau brachte es da hin, den alten Adam als den wahren Menschen auszurufen und sämtliche Versuche der Zivilisation, iltn
z.u
bilden, zu
bessern und nach oben auszurichten, als Verirrungen zu de nunzieren. Man weiß bis heute nicht, was in den letzten Jahr
hunderten den tieferen Kulturbruch bewirkte - der Rous seauismus mit seiner Lehre, die wahre Narur sei umsonst,
GeseUscbaft• wieder einmal auf sich aufmerksam macht. Das moralgeschichJiche Hauptereignjs dieser Epoche heißt darum nicht Säkularisierung, sondern Enrradikalisie-
97 Hans Blumcnbcrg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am
Main 1988 (Erwcilertc
Ausgabe).
s86
111 Die Excn.ilicn der Modemen
oder der Leninismus mit seiner heftigen Wiedennhebung des Preises für die Ver.anderung der Welt und des Menschen. Dieser eruugte Aktivisten, deren Stolz darin bestand, in gro
1 1 Im auto-opclllri'' gdcrummtcn Raum
mcn: Ihre lebensverändernden Intentionen stehen außer Fra ge; ihr Angriffswinkel ist aber so gewählt. daß nie am Vorrang der äußeren Einwirkung zu zweifeln ist. Der frühe Schuldrill
ßem Maßstab für das Gute z.u töten, jener verführte uhllose
kommt der Eigenleistung des Schülers seit jeher zuvor. Auch
Gebildete de
legen die Lehrpläne die Studien fest, ehe die Zöglinge auf den
19.
und des 10. Jahrhunderts zu der Vorstel
lung, man könne dem Menschen durch das W�lassen der
Gedanken kommen können, sich aus eigenen Srücken für
kulturellen Zügelungen und der artistischen Überbauten sei
dieses oder jenes Sujet zu interessieren; und bei den Abneh
ne innere Wahrheit z.urückgeben.9 Die Metanoia zum halben Preis, die den moralischen
modus operandt
der fortschrittlichen, semi-säkuJaren •Ge
mern kompetenzerweiternder Appar:ate fällt ein möglicher eigener Beitrag gegenüber der Leistung der Angebotsseite von vorneherein kaum ins Gewicht. JedesmaJ bebaJten die
seUschaft• seit dem Barock bestimmt, ermöglicht den histo
Optimierungen von außen die Oberhand, selbst wenn die
rischen Kompromiß zwischen Selbstverbesserung und Welt
inneren Sedimente des Unterrichts und die Gewohnheiten
verbesserung. Wahrend die erste nach wie vor ganz. in die Kompetenz. des wandlungswilligen Einzelnen fällt, hängt
des Gebrauchs von Lebenssteigerungsmitteln - Kunstwer ken, Prothesen, Fahrzeugen, Kommunikationsmedien, Lu
und der Unternehmer ab, die das soziale FcJd mit den Re
xusartikeln usw. - den Schülern und Anwendern zur zweiten Natur werden.
die letztere von den Leistungen der Lehrer, der Erfinder sultaten ihrer Tätigkeit bevölkerten, p:idagogischen Resul taten auf der einen Seite, technischen und ökonomischen Resultaten auf der anderen. Unter dem Aspekt des Metho denwandels fällt dabei auf, wie sich der Schwerpunkt von der übenden Einwirkung des Einzelnen auf sieb selbst zu
nehmend zur quasi von außen kommenden Einwirkung der Lehrer und Erfinder auf die Vielen verschiebt. Als Seneca an seinen einzigen Schüler schrieb: meum opus es, 99 war dies kaum mehr aJs eine anspornende Wendung und obendrein eine charmante Äußerung von pädagogischem Eros. Er selbst
wußte am besten, daß auch in der anspruchsvollsten Relation
\Veltverbesserung als Selbstverbesserung Man kann diese Beobachtungen in eine Unterscheidung über setzen: l m übenden Leben des spirituell-asketischen, des vir tuosen oder des athlecischen Typs wirkt der Agent auf dem kurzen Weg des t3glichcn Trainings selbstVerbessernd auf sich ein. Auf dem Weg der Wehverbesserung hingegen wan delt er sich zum Anwender sachlicher Opcimierungsminel, die seinen ethischen Status aJienfalls indirekt, obschon nicht
zwischen Meister und Schüler letzdich alles von der Selbst
unbedeutend modifizieren. Diese Unterscheidung betrifft
formungswilligkeit des let�tcren abhängt.
unmittelbar die Art und Weise, wie die Forderung nach Ver
und die Gilde der Menschenausstarter ihre Arbeit aufneh-
Wo der mctanoetische Imperativ zum vollen Preis angenom
98 Vgl. Bernud Yack, Thc Longing ror Tot;\1 Revolution: Philosophie
bleiben, gerät das Dasein, wie gesehen, unter eine steile Ver
Anders stehen die Dinge, wenn die neuzeitliche Schule
Sources or Soci:al Discontcnt rrom Roussc:au to Marx and Nictz sche, Berkeley 1986. 99 Epistolae moralcs ad Lucilium, H· Brief.
änderung des Lebens die Existenz des Einzelnen modifiziert. men wird, um bei der kaufmännischen Sprachregelung zu
ti kalspannung: Sie prägt dem Leben die Passionsform des vom
Einzelnen gewählten Bereichs auf- sei es die der •religiösen•
111 Oil' Exl'l"liticn dl'r Modeml'n
5 ss
der anist.ischen, der politischen und 1..cirwcilig auch der sport lichen Sphäre. Wird hingegen der I mpcr:niv zum halben Preis mitgenommen, wie in den fl:tchcrcn Auspri:iguogen von Auf
1 1 Im auto-opcnti•• gekntmlntcn R.-aum
zur Verinnerlichung surrealistischer Annahmen
-
i t es die
Pflicht jedes anständigen Menschen, die Ü ben.eugung zu ver
treten, es gebe tröme, die bergauf fließen.
klärung, Fonschrinsdcnkcn und Gutmcnschentum, setzt sich ein Daseinsmodus durch, der
ich an Lcbcnserleichtcrung,
Abbau von Vertikalspannung und Pas ionsvcrmcidung orien tiert. Solange es der gcmäßigt.cn Tendenz gelingt, sich als das
Sch-Operieren-Lassen: i Das Subjekt m der auco-opt!rartvm Kmmmwng
Vernünftige darzustellen, das im Begriff ist. das \\:lirkliche
Es ist nötig. auf diesen im Prinzip bekannten und abgeklärten
zu werden, und daher universelle Geltung beansprucht, kann
Beobachtungen zu insistieren, weil die Komplikationen, mir
man den Fonsehrirr der Technik einigermaßen sorglos mit
denen wir es im folgenden zu tun bekommen, nur ''Or ihrem
dem moralischen und sozialen parallelisieren, vielleicht sogar
Hintergrund begreiflich sind. Sie betreffen zum einen die
gleichsetzen. Die Bewegung nach vorwärtS und aufwärts ist
heftigen Reibungen zwischen der starken und der schwachen
man
Form des metanoctischcn Imperativs in der M oderne zum
für den üblichen Progressismus e i ne Wanderung, die
eigener
,
Kraft in voller Länge zurückzulegen
anderen das Verhältnis zwischen den Optimierungcn, die ich
braucht; sie gleicht einem Strom, von dem man sich tragen
selbst an mir bewirke, und den Lebcnsverbesserungen, die ich
lassen darf. An fernen Quellen entsprungen, hat er gan�:e
als Zeitgenosse avancierter Erfindungen und Dienstleisrun
Wehalter durchmessen; unser Fonschrinsschiff wäre nicht
gen seitens anderer in Anspruch nehme. Für die .Einwirkun
nicht aus
schon so weit gekommen, triebe es nicht seit langem auf
gen, die aus dem ersten Modus hervorgehen, verwende ich
der Strömung - doch erst seit kun.em segelt es unter bewuß
den Ausdruck Sich-Operieren; für die, die dem zweiten Mo
ter Steuerung auf den Hafen zu. Ein Schelm, wer Mühe hat,
dus entsprechen, liegt folglich der Ausdruck Sich-Operieren
sich Ströme von.ustcllen, die bergauf fließen. Heute nennt
Lassen nahe. Beide bc1..cichnen miteinander konkurrierende
man komplexe Massen in qualifizierter Bewegung •cvoluie
Modi anthropotechnischen Verhaltens. Im ersten werde ich
rende Systeme•, um das Paradoxon zu neutralisieren, das sich
als Objekt direkter Selbstmodifikation durch eigene Maß
in der Forderung verbirgt, das Vorwäns solle zugleich das
nahmen geformt; im zweiten setze ich mich der Einwirkung
Hinauf bedeuten.100 Kleinlaut notieren die Postmodemen
durch die Operationskompetenz anderer aus und lasse mich
die blassen Reste des Fonschritt unter der Rubrik •Kom
von ihnen formen. Im Zusammenspiel von Sich-Operieren
plexitätssteigerung•. Solange jedoch die frühe Aufklärung,
und Sich-Operieren-Lassen vollzieht sich die gesamte Sorge
die den •positiven Religionen• ironisch über die Schulter
des Subjekts urn
schaut, selbst wie eine Religion funktioniert - für Gruppen als Wusionstrainingsverein, für Einzelne als
Übungssystem
100 Über die Evolutions-theorie 11ls :allgemeine Form der P1ausibelm:a·
chung kontraintuitiver Annnhmcn über den •Strom.. der Ereig nisse siehe oben den Passus über Nietuches Verbindung von Anistik und Natunhcoril', S. 1 9 1 f.
sich sclbst 1 0 .
101 Diese Differenl' scheint mir
1
geeignet,
die von Foucault vorge
bnchlcn m:tchlkritiscltl'n Überlegungen über die souveränma chende Umwendung von Beherrscht-Werden in Sich-Beherrschen
zu ersetzen. Ich bin davon übcruugt, mit dieser Übcrseuung den Intentionen des Autors näher z.u kommen, als es ihm selbst im Rahmen seiner ße�ri(flichkcit gelingen konnte. Insgesamt ist d
111
Die Exenitien der Modemen
1 1 Im auto-opcrni\• gekrummu:n !Uum
591
Moderne Verhälmissc zeichnen sich dadurch aus, daß die fürsich selbst kompetenten Einzelnen in steigendem Maß die
Das behandelu Selbst
operative Kompetenz der anderen für ihre Einwirkungen auf sich selbst in Anspruch nehmen. Die Rückbeziehung des
Willkommene Passivität prägt sich in zahlreichen Varianten
Sich-Operieren-Lassens auf Ws Sich-Operieren nenne ich
aus: als Sich-Jnformjl.'rcn-Lassen, Sich-UmerhaJten-Lassen,
die auto-operative Krümmung des modernen Subjekts. Sie
Sic.h-Bedienen-Lasscn, Sicb-Beliefcro-Lassen, Sich-Erregen
gründet in einer starken Evidenz: Wer anderen erlaubt, direkt
Lassen, Sieb-Heilen-Lassen, Sich-Erbauen-Lassen, Sich-Ver
erwas an ihm zu tun, tut mittelbar etwas für sich. Dies führt
sichern-Lassen, Sieb-Transportieren-Lassen, Sjch-Vertreten
zu einem veränderten Modus der Eingliederung des Leidens
Lassen, Sich Beraten-Lassen, Sich-Korrigieren-Lassen. Un
in das Tun. Das kompetente Subjekt muß nicht nur auf die
wiUkommcnc Formen von Passivität fügen sich dieser Reihe
Erweiterung des Radius seiner eigenen Handlungen achten,
an: In nenne an erster StciJe das Sich-Erpressen-Lassen -
es ist zugleich gehalten, seine Zuständigkeit für •Behandlun
etwa durch die von Marx herausgearbeitete Dtmension der
gen• durch andere auszubauen.
unvorteilhaften Arbeitsverträge, an denen der Mehrwert
Warum dies in einer modernisierten Weh nicht anders sein
theoretiker den Tatbestand ·Ausbeutung• ablesen wollte:
kann, ist völlig plausibel. Die Einzelnen sind nicht nur außer
woraus im übrigen hervorgeht, daß Ausbeurung, sobald sie chronisch wird, nicht ohne ejne gewisse Bereitschaft der
stande, die ganze Arbeit der Weltveränderung auf sich zu nehmen, sie vermögen nicht einmal aUcs zu ihrer persönli
passiven Seite zustande kommt. Zuletzt ist das Sich-Betrü
chen Optimierung Nötige in eigener Regie hervorzubringen.
gen-Lassen anzuführen: Es wird in Lagen aktuell, in denen
Indem sie sich den Effekten des Handelnkönnens anderer
das Subjekt seinen Bedarf an Sclbm�uschung nicht mit eige
aussetzen, eignen sie sich eine Form von Passivität an, die
nen Mitteln decken kann und sich, um in seinem Begehren
eine umwegige bzw. aufgeschobene Weise von Eigentätigkeit
nicht nachzugeben, an einen ausgewiesenen Ulusionenanbie
implizien. Die erweiterte Passivitätskompetenz der Moder
ter wendet, der das Benötigte bereitsteUt.
nen äußert sich durch die Bereitschaft zum Sich-Operieren Lassen im eigenen Interesse.
Was auch immer das Subjekt mit sich machen läßt: Es eigoer sieb die •Behandlungen« nicht nur nachträglich an, es geht aus eigenen Srücken auf sie zu und integriert, was
Fdd der Übungen und der reflexiven Pnktiken von den naiven
Überpolitisierungc:n wc:gzuriicken, die den gingigc:n Formen der Rede von ,.ßiopolitik• zugrunde liegen. Zugleich läßt sieb so die: Kririk an Foucaults späten Arbeiten aus feministischer Perspek tive abwehren, die sich auf seine mißverstiindlichc Begriffswahl bc::zieht, ohne auf die: für beide Geschlechter emanzipatorische Perspektive seiner Arbeit zu achten - Beispiele: Lin Fox:hall, Pandora Unbound: A FeminiSt Critiquc of Fouc:�ults History ofSex:uality; sowie: Amy Richlin, Foucaults History of Scxualit)': A Useful Thc:ory for Womcn?; beide in; David H. J. Larmour, Paul Allen Millc:r, Charles Planer (ed.), Rethinking scxualit)': Foucault and classical a.ntiquity, Princc:ton 1998.
mit ihm getan wird, in das, was es selbst mit sich tut. Sartres ermattete Wendung, es komme darauf an, erwas aus dem z.u machen, was mit uns gemacht wurde, ist aus dieser Perspek tive als eine einäugige Fassung der Passiv-Aktiv-Verschrän kung zu durchschauen. Wie bekannt setzte Sartre stets den Akzent auf den Akt der Sclbstaneignung, die der bi.sherigen Einwilligung in die Fremdbestimmheit ein Ende bereitet. Mit ihm reißt sich das Subjekt von seinem Objekt-Sein für andere los und akruaJisicrt so seine Freiheit; zugleich hebt es die eigene Unaufrichtigkeit auf, aus welcher es vorgab, ein ohn-
lll 0Je Exerriurn der Modernen
1 1 lm auto-openuiv gekrümmten �um
593
mächtiges Erwas zu sein: Wer Ding unter Dingen zu sein
werks als Paradigma einer listig-freiwilligen Objektwerdung
behauptet, hat ursprünglich sich selbst betrogen. Unschwer
für den anderen hervorgckchn103 - literarisch glanzvoll,
erkennt man, wie hier das Modell der Ris.stance i auf die phi
sachlich irreführend. Das Feld eigener Interessen an gekonn
losophische Existenzanalyse übcrtr:1gen wird - und im Hin
ter Pa.ssivität ist sehr viel ausgedehnter, als es der perverse
tergrund der Projektion z.eichner sogar der dramatische
Kontrakt des Leidenssuchers mir seinem angestellten Miß
Schatten der Französischen Revolution sich ab. lm übrigen
handler ausdrückt; es ist auch um vieles breiter, als man unter
hat diese rue Wende zur Vcräußerlichung des Wandlungs
dem Blickwinkel der Macht- und Herrschaftskritik w erfas
gehots bescblcunigY, weil ihr ambivalenter Ausgang die
sen vermag. Wenn ich mit einem Transportunternehmen ver
modernen Formen des RadikaJismus ins Leben rief: Die
abrede, mich von A nach ß bringen zu lassen, nehme ich den
Unzufriedenheit mit dem Ergebnis der Revolution erzeugte
mir angebotenen Fahrdieost als ein passables Leiden in Kauf
das konkrete Verlangen nach ihrer Wiederholung; die Unzu
- nur an gewissen Tagen werden Fahrten auf gemieteten Ach
friedenheit mit den Wiederholungen erzeugte das abstrakte
sen wirklich zu masochistischen Prüfungen. Suche ich mei
Verlangen nach ihrer Permanenz. Same war luzide genug,
nen Arzt auf, begrüße ich in der Regel auch die unangeneh
um rue chromsehe Unzufriedenheit von der äußeren Front
men Untersuchungen, die er mir krah seiner sachlichen
an rue in.nere zurückzuversetzen. Die Folgen sprechen für
Kompetenz angedeihen läßt; ich unterziehe mich invasiven
sich: Wenn Selbstverwirklichung als cin fortwährend voo
Behandlungen, als tiitc ich sie mir letzdich selbst an. Schalte
neuem zu vollziehender Bruch mit der Passivität vorgestellt
ich e.inen von mir bevorzugten Sender ein, akzeptiere ich
wird, greift das Irrlicht der permaoenren Revolution auf das
nolens volens meine Überschwemmung durch das laufende
Selbstverhältnis des Einzelnen über - tatsächlich sprach Sar tre unter Bezug auf Trotzkij von der wahren Sittlichkeit als
einer ronversion pennanence. 102 Dieser Ansatz konme nur ein Ergebnis zeitigen: die synchrone Zerstörung der Politik
und der MoraJ.
Programm. Das Wortspiel McLuhans, wonach message
gleich ma.ssage sei, ergibt philosophisch Sinn, sobald man darin eine kompetente Stellungnahme zur •Frage des Sub jekts• im Medien.l'.citalter erkennt. Sich-Massieren-Lassen symbolisiert die Lage all derer, die auf sich einwirken, indem
Worauf es in Wahrheit ankommt, ist die freie Kultivierung
sie anderen erlauben, auf sie einzuwirken.
der passiven Momente im Selbstbezug der Einzelnen, wie sie
An sämtlichen FäiJen von freiwillig gesuchter Passivität isr
der auto-operativen Verfaßtheit moderner Existenz ent
unschwer eine Rückbeziehung der passiven Momente auf die
spricht. Ich muß hierzu ketneswegs die perverse Ausnutwog
Eigentätigkeit nachweisbar. Hierzu gehört, daß djese für dje
der leidenden Position, den Masochismus, wählen, bei dem
Dauer der Fremdeinwirkung suspendiert wird, ohne daß die
die sexuelle Beziehung in ein Unterwerfungsspiel eingebettet
Aussicht auf ihr Wiedereinsetzen aufgegeben würde. Damir
wird. Sartre hat diesen Modus von Sich-Operieren-Lassen
trin das Phänomen auf, das ich nier die auco-operarivc Kriim
auf einigen der eindrucksvollsten Seiten seines friihen Haupt102 VgLJean-Paul Sante, Entwürfe für eine Moralphilosophie, Rcin
bck bei Harnburg zoos. S.
28. An derselben Stelle heißt es:
·Die
guten Gewohnheiten: sie sind niemals gut. weil sie Gewohnhci1eo sind.•
mung des Handeins in einem stark arbeitsteiljgcn, besser
kompetcnzteiligen und übungstciligcn Aktionsraum nenne. IOJ Jean-Paul Same, Das Sein und das Nichts. Versucl1 einer phäno
menologischen Ontologie, Rcinbck 1990, S. 66of.
594
111 Oae Exerzitien der Modemen
Aus der Sicht des Su bj ekts markiert seine E infügung i n die Krümmung sein Handeln durch Lcide.nkönr\en. Sie bedeutet
It
lrn
auto-opcr:ui" gckriimmten Raum
595
technischer Oberflichcn.1C>I Bazon Brack har die Figur »Pas sivitätskompctenz.. auf dem Gebier der Kunstbetrachtung
nicht die Beugung unter Herrschaft, sondern die Teilhnbe an
schon vor Jahrzehnren vorweggenommen, als er seit 1968
Fremdkompetenz. Führt die erlittene Operation zum ge
seine berühmten ,.ßcsuchcrschulen• auf der Kasseler doat
wünschten Ergebnis, wird das .leidende Subjekt de r Meinun g
mema einrichtete, die er in7.wischen zum Vierfach- Konzept
sein, es habe für sieb selbst gesorgt� indem es das Gesetz des
des Diplomkonsumentcn, des Oiplompacienren, des Diplom
Handeins an d en Operateur abgab. An Stelle des Satzes: ,. k h
wählers und des Diplomrezipienten fortentwickelte.
oabm mich selbst in die Hand• tritt die komplexere \X/en dung: Ich gab mich aus der Hand, um mich nach erfolgter Behandlung wieder selbst in die Hand nehmen zu können. Diese Figur einer von Eigentätigkeit unterspannten Passivität
Im operariven Kreis: Medizinische GelAssenheit Eine der wichtigsten Modifikation von Gelassenheit kommt
wäre als die für die Moderne konstitutive Ausprägung von
ins Spiel, wenn das Subjekt seinen »behandelnden• Arzt auf
•Gelassenheit• zu kennzeichnen, falls es gelänge, die pietisti
sucht. Obwohl die neuere Kultur des Etwas-mir-sich-Ma
schen Konnotationen des Ausdrucks fcrnzuhahen. Gelassen
chen-Lassens - das ich hier als allgemeines Sich-Operieren Lassen bezeichne - die Figur des Klienten verallgemeinert
heit meint Passivirätskompetcnz - sie ist die kleine Münze des Könnens, das größere Passionen trägt. Sie kommt in Situa
hat, tritt im medizinischen Feld eine ältere Passivitätsform
tionen zum Zuge, in denen das Subjekt bereit und willens ist,
auf, für die traditionell der Ausdruck »Patient« reserviert
die Position eines Klienten einzunehmen, um vom savoir
faire des Operan ten Partners zu profitieren Sie ist daher eher .
ein Modus von Klu gheit als das moderne Substitut für Weis
ist. Es käme nicht überraschend, wenn er im Lauf des 2 1 .
Jahrhunderts aus dem Vokabu la r des Medizinsystems ver schwände, um nur noch in konservativen Subkulturen zu
heit, das Heidegger in ihr sehen wollte. Wir erinnern uns: Der
überleben, in denen man die Krankheit als Ch ance und den
PhiJosoph hatte »Gelassenheit• empfohlen, damit der vom
Unfall als Medium der Selbsterfahrung hegt. Defacro ist aucb
eigenen Tunkönnen benommene Mensch der Modeme sich
auf diesem Gebiet die KJiemisicrung seit längerem im Gange,
erneut der Behandlung durch das Sein selbst aussetze. [n
wozu die juridisierung des Arz.t-Patienr-Verhältnjsses nicht
Wahrheit gehört das passivitätskompetente Verhalten zur
wenig beitriigt. Gleichgültig jedoch, unter welcher Bezeich
SpielinteUigenz von Mensc hen in einer entfalteten Nenwelt,
nung man die Beziehung zwischen dem Arzt und seinem
in der man keinen eigenen Zug machen kann, wenn man nicht
zugleich mit sich spielen läßt. Gelassenheit in diesem Sinn ist untrennbar vom Selbstvers tändnis erfahrener Akteure, für die die philosophische Schimäre des Subjekts, das in der Mine seiner Handlungskreise residie.rt, verblaßt ist, besser: ihren Gebrauchswert als diensthabende Selbstbeschreibung verlo ren hat. An ihre Stelle treten allenthalben Konzepte für ope .:trt-operierende Agenten, •Prosumenten• und Benutzer
Gegenüber auffaßt, ihr Ernstfall tritt ein, wenn der letztere sich dem erstgenannten aus Anlaß einer chirurgischen Opera104
Bruno L:uour h21 hier:1us die Konsequenz gezogen, den Gegen stand der klassischen Soziologie, die als Assoziation von Subjek ten verstandene • Gesellschaft•, zu ''erabschieden und durch Agenten-Netzwerke zu ersetzen. Vgl. B. L., Eine neue Soziologie für eine neue Ge dlschnfc. Einführung in die Aktcur·Nepr·�··· Theorie, Frunkf\lrt am Main l008.
111
Oae l:..xcntur"n dl"f Mod�=
rion anvertraut. Nun spricht man im konventionellen Sinn vom Sich-Op�rieren-U.ssen und meint &amit, der P:n.ient müsse aufgrund einer ernsten Diagno c bereit sein, ich einer invasivcn Behandlung auszusetZen. Was auf der ärztlichen Seite der alte Leitsatz artikuliert fmlnerando sanamus, wir heilen, indem wir verletzen, übersetzt sich auf der Patienten seite in die Hypothese: Indem ich mich gekonnt verletzen lasse, crwci e ich meiner Gene ung einen Oien L b chon das Gefälle zwischen der Rolle des Patienten und der des Operareurs hier tief ausfällt, besteht kein Zweifel daran, daß der Patient auf indirekte Weise mithandelt und damit den Tatbestand des Handeins im auto-operativ gekrümmten Raum erfüllt. Die Krümmung rundet sich zum kompletten Kreis, wenn der Operateur der Operierte ist - eine seltene Ausnahme, die jedoch medizingeschichtlich mehrfach belegt ist. .Ein heraus ragendes Beispiel bietet der Arzt L. Rogozov, der während eines Aufenthalts auf der russischen For chungssrarion No waJazarewskayot i.n der Antarktis 1961 zu einer Selbstopera tion am Blinddarm gezwungen war. Ein bekanntes Photo zeigt ihn, wie er im Habit eines Chirurgen mit Atemschutz maske auf einem TtSch liegt, indessen er sich die rechte untere Bauchdecke geöffnet hat. Noch aufsehenerregender war der Fall des amerikanischen Bergsteigcrs Aron Ralston, der cine spektakuläre Selbstamputation durchführte: Nach einem Un fall während einer Bergwanderung in Utah im April 2003, bei dem sein rechter Arm von einem herabgefalleneo Felsen ein geklemmt wurde, beschloß er nach fünf Tagen vergeblicher Befreiungsversuche, sich die Unterarmknochen zu brechen und das Fleisch mjr einem stumpfen Taschenmesser zu durchtrennen; späte:r reiste er aJs Referent um die Welt und berichtete vor vollen Sälen von dem ungewöhnlichen Akt seiner Sorge um sich. Zu medialer Aufmerksamkeit brachte es im Jahr 2000 auch die damals 29jährige britische Pcr cormance-Künstlerin Heather Perry, als sie sich unter Ver-
1 1 Im �uco-openu• gckrummccn R;aum
?
597
wen ung eines Lokabn:istheticums und eines Spezialbohrcrs �u emer :rrepanation am eigenen Schädel cntschloß, angeb lich, um chrc chroni ehe Müdigkeit zu bekämpfen und eine höhere Ebene von Bewußtsein zu erlangen. Im übrigen ist aus der Lebensgeschichte dc indi chen Weisen Ramana Maha rshi, 187J-19 50, bekannt, daß er sich gegen Ende seines Le bens wegen eines Krebsgeschwürs am Ann mehrere Male c irurgischen Opcr:nioncn unterzog, bei denen er jedesmal d1e Anästhesie ablehnte und sran dessen auf eine Art von yogischer Schmerzneurralisierung zurückgriff. Für einen Er leuchteten alter Schule war es offensichtlich unzumutbar, ei ne Behandlung nach westlichen Merhoden zu akzeptieren, die gegen das spirituelle Axiom stetiger Wachheit verstößt. In der Regel weist die auto-operative Rückbeziehung auf sich selbst, kraft welcher das Subjekt tedmische Modifikatio nen seines Körper duldet, eine flachere Krümmung auf. Sie artikuliert sich etwa seit dem 18. Jahrhundert in dem exten siven Gebauch, den aufgeklärte Europäer von Scimulantien machen. Deren Anwendung steigert sieb seit dem zo. Jahr hundert biszum massiven Ein atz von Dopingmitteln in allen möglichen Disziplinen. l n welchem Maß Autoren wie Vol taire und Balzac von Koffein abhängig waren, ist bekannt; wieviel Sigmund Frcud einem Nikotinismus verdankte, ebenso. ln welche Extreme Sanres Pendeln zwischen Alko holismus und Amphetaminismus führte, ist den Kennern sei ner späteren Karriere gleichfalls kein Geheimnis. In diesen Fällen kam es offensichtlich immer darauf an, was die Stimu lierten aus dem machten, was die Stimulatien aus ihnen ge macht hatten. Sartrcs Amphetaminsucht war nicht ohne lro �ie, weil sie ihn von einem Mirtel abhängig werden ließ, das chm das Gefühl völliger Unabhängigkeit geben sollte.
�
lll Die Exenitien der Modemen
1 1 1 m auto-oper.ui, gekrümmten Raum
599
day in die Annalen der Mcdi�n eingegangen ist. hat die an
Oktoberrevobaion: Die Achernarkose
thropotcchnische Situation der Modeme radikaler verändert
Seit der Mitte des 19. jahrhundens kommt bei chirurgischen Operationen die Anästhesie ninzu, ohne die das Sich-Operie ren-Lassen im engeren Wortsinn heute nicht mehr zu denken
aJs jedes einzelne politische Ereignis oder jede sonstige tech nische Lnnovation seither - die biopolitischen E.'l:perimeme der Russischen Revolution und alle bisherigen Versuche ge nerischer und gentechnischer Manipulationen inbegriffen.
ist. Mit ihrem Erscheinen auf der Bühne än.tlicher Optionen
Wahrend die Bastille als vorgebliches •Symbol des Despotis
verbindet sich eine der riefsten Modifikationen des Selbstver
mus• umgehend abgerissen wurde (der •Patriot« PaJioy, ein
hältnisses von Menschen in moderner Zeit. Wenn je das Wort
geistesgegenwärtiger Bauunternehmer, der unmittelbar nach
•Revolution• in bezug auf eine technische Innovation legitim
der Einnahme der Festung mir Abbrucharbeitern angerückt
gebraucht wurde, dann für die Wiedereinführung der Vollnar
war, bat angeblich schon am 16. juJi den offiziellen Auftrag
kose. Sie wurde erstmals am 16. Oktober t8-t6 tn einem De monstrationsraum des Massachusserts General HospitaJ bei
zur Demolierung des Gebäudes
erhalten),
haben die ameri
kanischen Ärz.te den chauplatz des AufStal1ds gegen die
der Entfernung einer Hals-Geschwulst des Parienten Gilbert
Despotie des Schmerzes pietätvoll bewahrt. Den Ether Dome
Abbot erfolgreich durchgefühn, wobei ein eigens für diesen
im Massachusserts General Hospital kann man noch heute im
Anlaß konstruierter kugclförmiger Äther-lnhalator zum Ein
Originalzustand
sarz gelangte. Die Operation vollzog sich im Beisein der än.t
Hinckley aus dem Jahr 1 8 8 2 hält die Szene fest. Die Nach
licben Prominenz von Boston, eines durchaus skeptischen Publikums, nachdem ein ähnlicher Versuch mit Lachgas an gleicher Stelle vor demselben Auditorium ein Jahr z.uvor febJ
besichtigen.
Ein
Gemälde von
Roben
richt aus Amerika gelangte in nahezu zwanzig voneinander unabhängigen Mitteilungen pcr Schiffspost binnen weniger Tage in die Alre WeiL Die europäischen Ärzte rezipierten sie
geschlagen war. Als William Monon, der Konstrukteur der
fast durchgehend begei ten, ja begrüßten sie wie eine säku
Ätherkugel, den Patienten dazu gebracht hatte, ein:ige tiefe
lare Frohe Botschaft und ahrnrcn sie mit durchschlagendem
Atemzüge aus ihr zu nehmen, führte der Chirurg, Dr. Warrea,
Erfolg nach - nur eine Gruppe von Skeptikern und aJgophilen
den Eingriff in knapp drei Minuten (vor der Rückkehr der
Tradirionalisten, die den Schmerz aJs Teil der conditiJJ huma
Operateure zur Vollnarkose war Schnelligkeit die Seele der
na vencidigtcn, weigerte sich zunächst, die neue Methode der
Chirurgie) bei völliger Schmerzlosigkeic des Patienten durch.
Scbmerzausschal[Ung in Betracht zu ziehen. Bei der großen
Warren soU sich nach Beendigung der Demonstration an die
Mehrheit breitete sich eine Nachahmungswelle aus, die nicht
Anwesenden gewendet haben mit den Worten: Gentlemen, this is no humbug. Durch das größte Understatement der Me dizingeschichte wurde die stärkste neo-evangelische Bot schaft übermittelt.105
auf mimetischer Rivalität beruhte, sondern auf einem seit langem empfundenen Bedürfnis nach Erlösung von einem epochaJen Übel. Der 16. Oktober 1846 ist das Schlü.sseJdarum in der Ge
Dieser 14. Juli der Chirurgie, der unter dem Namen ether
schichte des operablen Menschen: Der Radius des Sich-Ope rieren-Lassens durch Chirurgen hat aufgrund der wiederge
1os
rtlustrierte Geschichte der Anilnhcsic, herausgegeben
wig Brandt und ?.ahlreichen Mit.arbcitem, Stungan
von Lud
1997, S. 6_;.
fundenen Möglichkeiten des Sich-Anästherisieren-Lassens seither eine enorme Ausweitung erfahren. Infolge der Ent-
6oo
Ill Die Exerzitien der Modernen
11 Im auto-operativ gekrümmten Raum
6or
rückzutreten und sich ganz in die Position eines bewußtlosen An-Sich zu begeben. Es willigt nicht allein in die Verletzung im eigenen Interesse ein - Voraussetzung jeglichen Sich-Operie ren-Lassens im engeren Wortsinn -, es bejaht zusätzlich die
w:icklung neuer Narkosemittel wie Evipan (1932) oder Pro pofel ( 1977) sowie hochwirksamer Opiumderivate stehen der professionalisierten Anästhesie seit geraumer Zeit auch effi ziente Kurznarkotika zur Verfügung, die eine nennenswerte Reduktion der Aufwachzeit gestatten; die Tiefe der Narkose ist dank intensiver Forschung ebenfalls fast vollkommen be herrschbar geworden; die ständige Verbesserung der appara tiven Unterstützung trägt das übrige zur Optimierung der Anästhesie bei. Von wiedergefundenen Möglichkeiten muß gesprochen werden, weil die europäische Medizin zwischen 1490 und r 846 die anästhetischen Techniken der Antike und des Mittel alters, insbesondere die vormals gut bekannten und häufig eingesetzten »Schlaf-Schwämme« auf der Basis von hoch wirksamen Pflanzenextrakten aus Schlafmohn, Bilsenkraut, Alraune und Schierling so gut wie restlos vergessen hatte. Diese noch immer kaum erklärliche Amnesie war mitprägend für die Härte des Realitätsklimas während der gesamten Neu zeit bis in die Mitte des 19. JahrhundertS - in dieser Epoche waren chirurgische Operationen fast immer Torturen und für die Patienten mit Agonien gleichbedeutend.
künstliche Ohnmacht um eines eigenen Vorteils willen. Be denkenswert ist dieser Sachverhalt, weil mit ihm eine bis dahin undenkbare These explizit statuiert wird: daß dem Menschen nicht mehr jeder Zustand wachen In-der-Welt-Seins zuzumu ten ist. Erwähnenswertscheint in diesem Kontext der Hinweis, wonach vor der Durchsetzung des Ausdrucks »Anästhesie« im frühen 19. Jahrhundert gelegentlich die Formel suspended ani mation benutzt wurde. Sie brachte den Grundgedanken der Vollnarkose besser zum Ausdruck: die Befreiungdes Patienten von der Pflicht zur �>animierten« Passion. Es gibt seit dem Oktober 1846 gewissermaßen ein Men schenrecht auf Ohnmacht - ein Recht auf Nicht-Dabei Sein-Müssen in gewissen Extremsituationen der eigenen psy chophysischen Existenz. Die Beanspruchung dieses Rechts war durch eine Mode-Geste des späten r8. und frühen 19. Jahrhunderts vorbereitet worden: das sprichwörtliche ln Ohnmacht-Fallen bei Übererregung, das besonders sensiblen Personen, namentlich solchen weiblichen GeschlechtS, als Zeichen kultivierter Schwäche zugestanden wurde und das in den hysterischen Symptombildern des späteren 19. Jahr hundertS ein blühendes Nachleben führte. Überdies hatten die nach 1785 europaweit rezipierten Praktiken des animali schen Magnetismus und des künstlichen Somnambulismus, beides Vorformen der ab 1840 so genannten Hypnose, das Nötige getan, um moderne Subjekte mit den Vorteilen der »suspendierten Animation« vertraut zu machen. Diese Tech niken, die seit dem späten 18. Jahrhundert unter dem Namen Mesmerismus geläufig waren - im übrigen auch im Rahmen von Gesellschafts- und Varietebelustigungen -, dienten den Ärzten nach 18oo gelegentlich als Vorläufer der chemischen Narkose. Von den Romantikern und den deutschen Idealisterr
Vom Menschenrecht auf Ohnmacht Unter philosophischen Gesichtspunkten markiert die Wieder einführung der vollständigen Anästhesie einen Einschnitt in die Selbstverhältnisse moderner Menschen. Dies gilt nicht nur, weil die EinstelJung des zeitgenössischen Subjekts zu sei ner Physis und deren Operabilität schlechterdings nicht mehr zu begreifen ist, solange man nicht die neue Möglichkeit seiner Einwilligung in die Ausschaltung seiner Schmerzempfindlich keit in Rechnung stellt. Da mit dieser zugleich oft auch das SelbstbewußtSein ausgelöscht wird, eröffnet sich dem Subjekt die dramatische Wahl, von seinem Für-sich-Sein zeitweilig zu-
-
IIl Die Exerzitien der Modernen
i
1 1 Im auto-operatv gekrümmten Raum
wurde der Mesmerismus intensiv rezipiert, weil er als Königs
weg ins Jenseits des Tagesbewußtseins gedeutet werden konn
Revolutionäre Ungelassenheit
te, gleichsam als eine Art von experimenteller Theologie.106
Das Spiel mit der artifiziellen Ohnmacht kulminierte in
den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, als Lachgas in
der britischen Oberschicht zur Party-Droge wurde. Zur sel
ben Zeit konnten elegante Opium-Esser und gebildete Nar
komanen sicher sein, ihre Bekenntnisse würden von einer an
Betäubungen aller Art interessierten Öffentlichkeit aufmerk
sam gelesen. Noch zwei Generationen später fanden die Pro pagandisten der
I 875
gegründeten Theosophischen Gesell
schaft, Helena Blavatsky, 1833-1891, Annie Besant, t 847-
1933, und Charles Leadbeater, 1 847-1934, die mit präzisem
Gespür für geistige Marktverhältnisse europäische Mystizis
men mit indischen Psychotechniken vermischten, ein Publi
kum vor, das mehr denn je nach Unterweisungen in der Kunst
der Selbstaufgabe im Dienst des Selbst verlangte.
In all diesen Formen von bedingter Selbstaufgabe wurden
typisch moderne Techniken zur Erweiterung der Passivitäts kompetenz eingeübt, gewiß nicht immer in ich-stärkender
Perspektive. Bei der medizinisch indizierten Vollnarkose
Neben der subjektiven Aneignung des technischen und so zialen Fortschritts im Rahmen der Gelassenheitskultur bzw.
des Systems der bedingten Passivitäten bringt die Moderne
eine Kultur der Ungelassenheit hervor, die auf dem erklärten Unwillen basiert, die Ergebnisse des langsamen Fortschritts abzuwarten. Sie schließt ein tiefes Mißtrauen gegen die mei sten Formen des Etwas-mit-sich-Geschehen-Lassens ein. Re gelmäßig kommt hier das herrschaftskritische Motiv ins
Spiel, wonach Macht und Machtmißbrauch Synonyme sind.
In Ungelassenheit und allgemeiner Passivitätsverweigerung
wurzeln die Extremismen, die seit dem 19. Jahrhundert in
Westeuropa und Rußland um sich griffen und in die »Revo lutionen« des zo. Jahrhunderts mündeten.
Der medizinische Fonschritt dagegen ordnete sich dem
Allmählichkeitsmodell der bürgerlichen Aufklärung ein. Diese lehrte ihre Adepten, jede erreichte Verbesserung als
Ausgangsstufe für weitere Optimierungen anzusehen - das
galt nicht zuletzt für die anästhesiegestützte Chirurgie, die
kommt das Element der auto-operativen Krümmung am
trotz ihres großen Sprungs nach vorn um die Mitte des
gehenden Nicht-Selbst-Seins im Dienst des Selbst-Seins vor
tiven Könnenswachstums auf der Linie fortschrittlicher Mä
klarsten zum Vorschein, da bei ihr ein Grenzfall des vorüber
liegt. Mit ihr ist eine liminale Zone bezeichnet, die nur durch
das künstliche Koma in noch weiter selbstferne Gebiete ge
rückt werden kann - vorausgesetzt, die Aussicht auf eine
kontrollierte Rückkehr ins Wachleben ist gewährt. Die Ein
willigung in die »suspendierte Animation« dieses Typs meint 07 Gelassenheit auf der letztmöglichen Stufe. 1
106 Vgl. hierzu Peter Sloterdijk, Sphären 1, Blasen Mikrosphärologie, Frankfurt am Main 1 998, Kapitel 3: Menschen im Zauberkreis. Zur Ideengeschichte der Nähe-Faszination, S. 202-268. 107 Nur im Rahmen der Science-Fiction-Literatur wird auch über diese hinausgegangen, etwa wenn sich menschliche Akteure von .
19. Jahrhunderts insgesamt eine Angelegenheit des kumula
ßigung blieb. Mit dem Zugleich von Optimismus und Realismus im Standardkonzept des Fortschritts war eine anspruchsvolle
Kultivierung der Zeitgefühle verbunden: Zu jedem Moment sollte die Genugtuung über das Erreichte der Ungeduld ange
sichts des noch zu Vollbringenden die Waage halten; jedes
Schon-Mögliche mußte von der Aussicht auf das Noch
Nicht-Machbare relativiert werden. Die Teilnahme an dem Materie in Energie umwandeln lassen, um sich dank Beamin� :: andere Orte des Universums zu projizieren. �
III Die Exerzitien der Modemen »großen Werk der Hebung der Menschheit« war ohne ein ständiges Gedulds- und Ungeduldstraining nicht zu erlangen. Beide Haltungen beruhten auf der stillschweigenden Voraus setzung, der Weg zu weiterer Zivilisierung sei selbst eine zivilisierte Reise. Den Ungelassenen der Moderne ist die Demonstration zu
1 1 Im auro-operariv gekrümmten Raum
»Produktivkräfte<< zugunsren der Arbeiter, zumeist sorglos mit dem »Volk<< gleichgesetzt, unmöglich mache. Weite Re sonanz fand auch die anarchistische Parole, die Verhinderer seien an erster Stelle unter den Repräsentanten des Staates und seines notorischen Alliierten, der Kirche, zu suchen, weswegen allein direkte Gewalt gegen beide die notwendige
verdanken, was geschehen kann, wenn diese Voraussetzung
Destabilisierung der Verhältnisse bewirken könne. Nur tote
weigerten sich der Balance-Übung zwischen Geduld und
schritts ein. Wer moralisch noch am Leben ist, hört auf die
verneint wird. Die Anhänger extremistischer Positionen ver
Ungeduld und votierten für radikale Beschleunigung. Nach ihnen liegt die Wahrheit in der Unausgewogenheit: Das Gute ist für sie einseitig und parteilich. Niemals von seiner Unge duld ablassen, lautet das Axiom des Begehrens, das sich der Radikalität verschreibt. Der einzig respektable Fortschritt der die soziale Frage von der Wurzel her lösen würde kommt den Vertretern des Extremen zufolge nicht allmäh lich, er muß einen plötzlichen und unversöhnlichen Bruch
Seelen lassen sich auf das Prinzip des allmählichen Fort Stimmen, die hier und jetzt von der Unerträglichkeit der Zu stände Zeugnis geben. Von ihnen erhält der Revoltierende das Mandat zum sofortigen Umsturz. Unvergeßlich hat der junge Marx den kategorischen Imperativ der Revolution formu liert: Es ist die absolute Pflicht des Aktivisten, »alle Verhält nisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.108
mit dem gewohnten Gang der Dinge darstellen. Er ist kein zusätzlicher Schritt auf einem vorgegebenen Weg - eher die wilde Fahrt in ungebahntem Gelände. Die Revolution baut sich ihre Straßen selbst in die von ihr festgelegte Richtung. Kein Zubringer aus der Vergangenheit kann vorgeben, wohin sie sich bewegen soll. Bei der Eroberung des Unwahrschein lichen sind Realisten von gestern als Routenplaner fehl am Platz. Die Anhänger solcher Vorstellungen stützen sich auf den Einwand, man dürfe dem Schein der notwendigen Allmäh lichkeit des Fortschritts keinen Glauben schenken. Denn hin ter ihm verbirgt sich die schuldhafte Verlangsamung der Ent wicklung durch eine Klasse von herrschenden Verhinderern, die insgeheim fest entschlossen ist, das Volk bis zumJüngsten Tag warten zu lassen. Sie sagen Fortschritt und meinen die
Verewigung des status quo. Man kennt die These am besten in ihrer marxistischen Version, wonach es allein die »Profitgier«
der Kapitaleigner sei, die die allgemeine Freisetzung der
Radikale Metanoia als der Wille zum Umsturz In Wirklichkeit war die Zurückweisung des Allmählichkeits modells der Standardaufklärung, dem ebenso die Liberalen des 19. und
20.
Jahrhunderts wie die Sozialdemokratie und
die Christliche Demokratie anhängen, in keiner Weise allein durch den Druck sozialer Notstände zu erklären. Sie erfolgte aufgrund einer moralischen Option, die ihrer eigenen Logik nach den Bruch mit dem Gegebenen fordert. Diese Wahl bildet die politische Fortsetzung der ursprünglichen ethi schen Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Nicht-Eigenen, wie sie seit den Anfängen der asketischen
Sezession getroffen wird. Die wesentliche Nuance zeigt sich darin, daß jetzt aUes, was als nicht-eigen aufgefaßt werden ro8 Kar!
Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosphie, MEW Band 1, Berlin 1973, S. 385.
6o6
lii Die Exerzitien der Modernen
soll, der Vergangenheit zugerechnet wird, während das Eige
ne ausschließlich in der Zukunft liegt. Die ethische Unter
scheidung wird temporalisiert und spaltet die Welt in ver worfenes Vergaugenes und begrüßbares Zukünftiges. Im
11
lm auto-operativ gekrümmten Raum
Welt, sprich: die gegebene »Gesellschafts<
solange unverbesserlich bleiben, wie ihre basalen Konstruk tionsfehler, die Klassenherrschaft und die ungleiche Vertei
lung der materiellen und immateriallen Reichtümer, nicht
Heutigen und Kontinuierlichen liegt keine Hoffnung - das
behoben sind. Darum muß die Welt des »Bestehenden« nicht
gilt für die antike Weltflucht wie die moderne Entwertung
progressiv verbessert, sondern revolutionär vernichtet wer
aller alten Regime. Seit aber die Ontologie des fertigen Seien
den. Unter Zuhilfenahme wiederverwendbarer Elemente der
den preisgegeben und das Werden einer »anderen Welt« zu
alten Konstruktion kann nach dem großen Bruch der Neubau
nehmend plausibel, ja als unvermeidlich erwiesen wurde,
aus dem Geist der Gleichheit vor den »Errungenschaften<<
empfiehlt sich die Zukunft als die Heimat derer, die von neu
beginnen - den schon erreichten wie den noch zu erreichen
em die große ethische Unterscheidung treffen.
den. Der gewöhnliche Progressismus ist zurückzuweisen,
Deswegen wird es verwerflich, die Herstellung befriedi
damit die guten Absichten, die ihm zugrunde liegen, zum
gender Verhältnisse auf den flachen Steigungswegen der bür
Tragen kommen. Ein für aUemal scheint die Naivität der Pro
gerlichen Weltve rbesserung erreichen zu wollen. Wer diesen
gressiven durchschaut: Sie meinen
bona fide,
der Sache der
Weg wählt, hat sich im Grunde schon dafür entschieden, alles
Freiheit einen Dienst zu tun, wenn sie für kontrollierte kleine
beim alten zu belassen, mögen noch so viele Verbesserungen
Schritte votieren. In Wahrheit verbünden sie sich mit der
hältnisse sei im Zunehmen begriffen. In Wirklichkeit bleibt
dem Privateigentum an Weltverbesserungsmitteln beruhen.
im Detail den Anschein erwecken, die Bejahbarkeie der Ver der Primat der Vergangenheit in Kraft, solange im Verhältnis
Quintessenz des Schlechten - mit den Verhältnissen, die auf Der Gedanke, daß das Eigentum das Mittel zu allen Mit
zwischen der Vertikalen und der Horizontalen die letztere
teln darstellt, ist unter den neuen Radikalen ausgeschlossen.
Dimension dominiert. Woran es der Welt mangelt, sind nicht
Das tief eingewurzelte Ressentiment gegen das Privateigen
Leute, die bereit sind, Fortschritte in der Ebene mitzuma
tum, ja gegen alles Private, blockiert die Konklusion, die sich
chen. Was sie braucht, sind Menschen, in denen der Sinn
bei jeder unvoreingenommenen Untersuchung der reichtum
für die Senkrechte neu erwacht. Einer der profiliertesten Au
erzeugenden und freiheitsbegünstigenden Mechanismen auf
toren des biopolitischen Utopismus in der frühen Sowjet
drängt: Die effektive Weltverbesserung würde die möglichst
union, der Dichter Alexander Svjatogor, 1889 - nach 1937,
generelle Vereigentümerung verlangen. Statt dessen begei
hatte wenige Jahre vor der Oktoberrevolution eine Gruppe
sterten sich die politischen Metanoetiker für die allgemeine
gegründet, zu deren Programm die Abschaffung des Todes,
Enteignung - hierin den christlichen Ordensgründern ver
die wissenschaftlich betriebene Auferstehung der Toten und
wandt, die alles gemeinsam und nichts für sich besitzen woll
die technische Herrschaft über den Kosmos gehörte: Die
ten. Ihnen blieb die wichtigste Einsicht in die Dynamik der
Gruppe trug den Namen »die Vertikalisten<<. Nur wer die Idee der Weltverbesserung völlig ernst nimmt,
stößt zu der Auffassung vor, daß Weltverbesserung nicht ge
ökonomischen Modcrnisierung unzugänglich: Das durch
Beleihung von Eigentum geschaffene Geld ist das universale
WeltverbesserungsmitteL Erst recht will ihnen nicht ein
nügt. Die Identifikation mit dem Prinzip der nach außen ge
leuchten, daß bis auf weiteres nur der moderne Steuerstaat,
wendeten Metanoia treibt die Einsicht hervor, die bestehende
der anonyme Hyper-Milliardär, als allgemeiner Weltver-
6o8
ILl Die Exerzitien der Modernen
besserer fungieren kann, gewiß in Allianz mit den lokalen
1 1 Im auto-operativ gekrümmten Raum erinnere an Arthur Koestlers Aufsatz Der
Yogi und der Kom
Melioristen - nicht allein aufgrund seiner traditionellen
missar,
20. Jahrhunderts bis ins Unglaubliche angewachsenen Um
moralischen Situation der Zeit den Titel gab. 1 1
Schulmacht, sondern vor allem dank seiner im Lauf des
der 1942, im Herz der Finsternis Europas, erschien
und 194 5 einem weltweit beachteten Band mit Aufsätzen zur 0
verteilungsmacht. Der aktuelle Steuerstaat seinerseits hat nur Bestand, solange er sich auf eine Eigenrumswirtschaft stützt, deren Akteure es widerstandslos akzeptieren, wenn ihnen
Politischer Vertikalismus: Der Neue Mensch
durch die sehr sichtbare Hand des Fiskus Jahr für Jahr die Hälfte des Gesamtprodukts zugunsren von Gemeinschafts
Der »Vertikalismus« konnte also bei seinem Wiederauftau
aufgaben abgenommen wird. Was die Ungelassenen am we
chen am Vorabend der Russischen Revolution nicht mehr
nigsten verstehen, ist die schlichte Gegebenheit, daß bei
seine ursprüngliche Form annehmen, in der er ausschließlich
Staatsquoten um 50 Prozent der Tatbestand des real existie
renden
liberal-fiskalischen
Semi-Sozialismus
erfüllt ist,
gleichgültig, unter welchem Etikett dieser Zustand an den Mann gebracht wird, ob er Marktwirtschaft« oder
»
New Deal heißt oder
»soziale
Neoliberalismus«.109 Was dem Sy
stem zur Vollendung fehlt, ist die Etablierung einer weltweit homogenisierten Steuersphäre und die längst überfällige Vereigentümerung der armen Welt. Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Anfänge einer Geschichte der ethischen Differenz erkennt man unmittelbar, wie in ihr durch die offensive Artikulation der kommunisti
eine Sache der Einzelnen gewesen war. Seit den Anfängen der
ethischen Sezession hatte es allein an ihnen gelegen, das Un
mögliche zu erzwingen und sich durch unermüdliche Askese zu Weisen, zu Gottmenschen, zu neuen Menschen umzu schaffen - allenfalls in Gemeinschaft mit Gleichentschlosse nen. Selbst die Weisen auf dem Thron, Antoninus Pius und Mare Aurel im Westen, Milinda und Ashoka im Osten, ver
fielen keine Sekunde auf die Vorstellung, ihre individuelle philosophische Metanoia zu einer Staatsmetanoia, einer Urn
kehr für alle, auszuweiten. Auch Paulus, dessen Botschaft
vom Ende der Todeswelt scheinbar an alle gerichtet war, sprach in Wahrheit nur zu den wenigen, die aus Sorge um
schen und anarchistischen Radikalität ein neues Kapitel auf
ihr Heil imstande wären, vor dem nahen Ende ins Lager
geschlagen wurde. Es handelt vom Durchbruch des metanoe
der Geretteten überzutreten.
tischen Imperativs in die politische Dimension. Seine steilste
Ausprägung schließt sich mit der stärksten Tendenz zur äu ßeren Anwendung zusammen. Darum war das 20. Jahrhun
dert das Zeitalter der »Kommissare<<, die an die Veränderung der Welt mit äußerlichen und äußersten Mitteln glauben - ich
109 Man kann demnach Frie,drich August von Hayeks antisozia listische Argumente aus Der Weg in die Knechtschaft (zuerst englisch 1944) konstruktiv aufnehmen und sie für eine positive Strukturdiagnose über den modernen Sozial- und Therapiestaat einsetzen.
Bei seinem Durchgang durch das Immanenzzeitalter ist
aus dem absoluten Imperativ das Gebot geworden: »Du mußt die Welt verändern, und zwar bis in die letzten Elemente ihrer Konstruktion und unter Einbeziehung aller.« Wer dieses Ge bot als bloße ständige Progression - durch die Synergie von Schule, Markt und Technik - verwirklichen wollte, wäre von
Anfang an der gefährlichsten aller Versuchungen erlegen. Er
110 Arthur Koestler, Der Yogi und der Kommissar. Auseinanderse: zungen, Frankfurt am Main 1974, S. I 1-22.
6ro
l l l Die Exerzitien der Modernen
hätte dem Sirenengesang der Bourgeoisie nachgegeben, den Weg der Anpassung zu wählen, auf dem unter dem Anschein stetiger Verbesserung die alten Grundstellungen beibehalten werden. Der Revolutionär jedoch läßt sich wie Odysseus am Mastbaum festbinden. Unbeirrt fährt er durch die ambivalen ten Zonen, in denen liberale und sozialdemokratische Töne locken. Je besser er weiß, worauf er verzichtet, desto kaltblü tiger widmet er sich seiner Mission. Die große Wende ist demnach allein durch eine kategori sche Lossagung vom Gestaltungsprinzip der alten Welt zu vollbringen: die entschiedene Abkehr von der Spaltung der Menschheit in Privilegierte und Nicht-Privilegierte, in Ha bende und Nicht-Habende, i n Wissende und Nicht-Wissen de, in Herrschende und Beherrschte. Diese Neufassung des metanoetischen Imperativs wirkt unmittelbar auf den Agen ten, der sich ihm unterwirft, zurück: Sie verlangt von ihm nicht weniger, als sich von seinem alten Leben zu trennen und sich in den Revolutionär zu verwandeln. Dies kann nicht leisten, wer sich damit begnügt, eine Partei zu wählen, die lauthals Revoluzzer-Parolen verkündet; erst recht nicht, wer meint, es genüge, klammheimliche Freude zu empfinden, wenn die bürgerlichen Medien von blutigen Akten »revolu tionärer Gewalt« berichten. Die Revolution verlangt eine in tegrale Disziplin, die an absorbierender Energie den großen Askesen der Antike und des Mittelalters in nichts nach steht. Vor allem ist das Revolutionär-Werden keine bloße Ent
schlußsache: Man kann sich nicht von einem Tag auf den an
deren in den Menschen der Zukunft transformieren. Der Neue Mensch ist für sich selbst ein großes Noch-Nicht, auch wenn die fiebrigsten Antizipationen ihn herbeiziehen. Dar um ist der Eintr.itt in den revolutionären Prozeß zunächst nur der Anfang einer langwierigen Selbstentäußerung. Wer für die Revolution als neue Form von Angehörigkeit optiert hat, muß als erstes zugeben, daß er selbst noch durch und
1 I Im
auto-operativ gekrümmten Raum
6II
durch der alte Mensch ist - durchdrungen von den Erb ungerechtigkeiten der gesamten Menschheitsgeschicbte, an gefüllt von den inneren Sedimenten der Klassengesellschaf ten, verdorben durch die Fehldressuren aller vergangeneo Geschlechter, pervertierr und verzerrt bis in die intimsten
Regungen seiner Sexualität, seines Geschmacks und seiner alltäglichen Kommunikationsformen. Er bleibt der alte Mensch auch insofern, als er bis auf weiteres zur Brüderlich keit unfähig ist - vor allem weil er nach wie vor als Opfer
eines verzerrten Lebensinstinkts existiert oder, wie Trotzkij
schrieb, »einer verklemmten, krankhaften und hysterischen J Angst vor dem Tode«, 11 der tiefsten Quelle der Unsolidari
tät unter den Sterblichen. Der einzige Unterschied zwischen dem Revolutionär und dem alten Menschen besteht darin,
daß der erste begriffen hat, wie es mit ihm und den anderen beschaffen ist, während die übrigen entweder sprachlos lei den oder sich einer der zahllosen Selbsnäuschungen hinge ben, die die historische Menschheit entwickelt hat, um sich an ihre Lage zu akkommodieren. Die Wahl einer Existenz in der Revolution schließt Ver stummen wie Akkomodierung aus. Weil sie den schweren Weg bevorzugt, ist sie der Zuflucht eines Adepten zum Dhar
mapfad oder dem Eintritt eines Novizen in einen christlichen
Orden vergleichbar. Mag sein, daß die Elite der Leuinsehen Berufsrevolutionäre diese Analogie zumindest in idealtypi scher Perspektive rechtferrigte. Schwer fällt jedoch der Un
terschied ins Gewicht: Für diese Aktivisten gab es zu keiner Zeit eine verbindliche Ordensregel, wenn man von dem abstrakten Imperativ der totalen Selbsrinstrumentalisierung absieht; noch schwerer wiegt, daß alle ethischen Instanzen, seien sie weltlich oder überweltlich, die imstande gewesen
wären, den Gang der Revolution unter allgemeingültigen GeI I 1 Leo Trotzkij, Literatur und Revolution (zuerst 1924), Ber.= .�!�. s. 214.
612
UI Die Exerzitien der Modernen
sichtspunkten zu beurteilen, in ihrem Machtbereich außer Kraft gesetzt wurden. Die real geschehende Revolution for
Im auto-operativ gekrümmten Raum
11
als Gott oder Stalin will, sollte er auch meine Verdammnis wollen. 1 1 2
derte für sich die ethische Souveränität und immunisierte sich
hierdurch gegen jedes äußere Urteil. Wenn die Partei immer
Kommunistische Menschenproduktion
recht hatte, dann, weil die Revolution immer recht hat; folg lich hatte derjenige recht, der die Revolution real vollzog. Selbst ihre Perversionen sollten darum ausschließlich ihrer Selbstdeutung unterliegen. Niemandem, der nicht selbst an der Spitze der Revolution stand, war ein Urteil über die von ihr zu wählenden Mine! erlaubt. Sie allein konnte wissen, wie hoch der zu ihrem Erfolg nötige Tötungsaufwand ausfallen mußte; nur sie selbst legte fest, wieviel Terror den Sieg ihrer Prinzipien garantierte. Es war Georg Luk:ics, der mirren im Krieg zwischen weißen und roten Terroristen für die freie Wahl der Mittel durch die Träger der Revolution den Titel ••Zweite Ethik« prägte. Dies resultierte in einer Situation, in der allein die aktuel
len Führer die geschehende Revolution noch verstanden. Nur für Lenin und Stalin, die im bot spot des Ereignisses lebten, entsprach der Satz: »Die Revolution bin ich« theoretisch und praktisch der Wahrheit, während alle übrigen, sollten sie auch bewährte Kämpfer gewesen sein, nie sicher sein konnten, die Revolution zu begreifen. Sie alle lebten mir dem Risiko, von einem Tag auf den nächsten als Konterrevolutionäre enttarnt
In unserem Kontext erübrigt es sich, auf die »religiösen« oder religionsparodistischen Dimensionen der Russischen Revo lution näher einzugehen.1 1 3 Es genügt, in Andeutungen zu zeigen, wie der revolutionäre Ereigniskomplex das seit der Aufklärung virulente Motiv der Menschenproduktion auf griff und es zu seinen vorerst letzten Zuspitzungen steigerte. Für das kommunistische Experiment war bezeichnend, daß es von vorneherein an beiden antbroporechnischen Fronten gleichzeitig ansetzte, um die spirituell-asketische Kompo
nente mit der biotechnischen so direkt wie möglich zu ver binden. Diese Doppelstrategie ist immer mitzudenken, wenn man die oft beschworene Formel vom Neuen Menschen zi tiert. Dessen Herstellung vollzieht sich zum einen in den Elite kadern der »Partei«, den Trainingszentren der revolutionären
Moral: In ihnen sammeln sich L1dividuen, die nach einem inicialen Akt radikaler Metanoia an der Aufhebung des alten Menschen in sich selbst arbeiten. Es dürfte unnötig sein, im
zu werden. Es genügte nicht mehr, rechtgläubig in bezug auf die revolutionären Prinzipien zu sein; was nun verlangt wur de, war Rechtgläubigkeit in bezug auf das Unbegreifliche in
den täglichen Manövern der Führer. Die Revolution wollte selbst dann noch recht haben, wenn sie die Treuesten der Treuen verhaftete, folterte und erschoß. Die Gläubigen, die
solches mit sich geschehen lassen sollten, waren keine
Zeugen, deren Andenken in einem Moskauer Martyrologium gesammelt würde; sie glichen Mystikern, die sich der an spruchsvollsten geistlichen Übung, der
r·;zm,
resignatio ad infer
unterzogen - dem Versuch, nichts anderes zu wollen,
r 12
I 13
Übe r das exemplarische Ende von Stalins Chef-Folterknecht Ja goda T.938 vgl. Bazon Brock, Lustmarsch durch Theoriegelände,
a.a. 0., S.
141-143·
Das Thema ist von Arthur Koescler, Albert Camus, Alcxandcr Solscheruzyn, Alexander Var,Andrej Sinjawskij, Boris Groys und jüngst wieder von Michail Ryklin, um nur einige herausragende Interpreten zu nennen, nach vielen Seiten abgehandelt worden. Dieser Literatur habe ich in meinem Essay Gones Eifer. Vom Kampf der drei Monothcismen, Frankfurt 2007, eine Fußnote hinzugefügt, indem ich den Kommunismus als einen vierten Mo notheismus, genauer als die praktische Realisierung der Rousseau scben »Religion des Menschen«, interpretierte.
fll
Die Exerzitien der Modemen
1r
im auto-operativ gekrümmten Raum
6q
einzelnen nachzuzeichnen, wie hier die immer noch wirksa
das produzierende Kollektiv die Stufe der Rückbezüglich
men Dispositionen orthodoxer Spiritualität nut ihrer tau
keit. Was vormals transzendente Moral war, wird Teil eines
nach 1917 den Neuen Menschen postulierte, brauchte nur
ein kybernetisches Optimierungssystem.
sendjährigen Emselbstungskultur zum Tragen kamen. Wer den kleineren Teil für die moralische Evidenz dieser Forde rung mit den modernen Argumenten zu bestreiten, wie sie in
Regelkreises: An die Stelle der immergleichen Askesen tritt 115
Viele Autoren, darunter Trotzkij, haben sich nicht mit der
Forderung nach dem Umbau der Psyche begnügt, sie haben
Rußland seit r863, dem Erscheinungsjahr von Tscherni
auch den genetischen Neubau des Menschen in Aussicht ge
tschewskijs epochemachendem Trivialroman
\Vas tun?, ver
stellt, ja sogar seine kosmische Reform postuliert: Ganz oben
breitet waren - Rahmetov, einer der Helden der Erzählung,
unter den revolutionären Forderungen stand die physische
war ein moderner Asket, der auf einem Nagelbrett schlief,
Optimierung des Menschen durch Ausmerzung der kranken
seine Muskulatur trainierte und seine Diät streng überwach
und minderwertigen Vatianten - kaum anders als in den
te. Wie viele Replikanten Rahmetovs in Lenins und Sealins
gleichzeitigen sozialdemokratischen, bürgerlichen und völki
Rußland a m Werk waren, ist eine Frage, die sich nie klar beantworten lassen wird. Gewiß ist nur: Wer angesichts der revolutionären Umbrüche von sich selbst das Äußerste ver langte, stand in einer Tradition, die über die
Philokalie, das verspätete russische Gegenstück zur lmitatio Christi, bis zu den Wüstenvätern und den Athosklöstern zurückreichte und
ein noch immer virulentes Reservoir für metanoetische Pro zeduren bereithielt. Zum anderen wird die Forderung nach dem Neuen Men schen in soziotechnischer und biotechnischer Sprache formu liert. Weil die vom Marxismus beschworenen Produktivkräf te ihrer moralischen Potenz nach Weltverbesserungskräfte sind, dürfen und müssen sie nach der Revolution auf das
Menschenmaterial angewandt werden. Will man den Sozia lismus planmäßig herstellen, sind die Erbauer des Sozialismus
ihrerseits planmäßig herzustellen. Bucharios bekannte These von 1922, die eigentliche Aufgabe der Revolution bestehe in der »Umformung der menschlichen Psyche selbst<<, 1 1 4ver deutlicht den Dimensionssprung in der revolutionären An thropotechnik: Mit der Herstellung des Herstellers erreicht
1 1 4 Vgl. Andrej Sinjawskij, Der Traum vom neuen Menschen oder Die Sowjerzivilisarion, Frankfurt am Main 1989, S. 164.
schen Programmen; dem sollte die Hebung der geistigen
Qualitäten folgen - hier springen die Analogien zu den züchterischen Spekulationen des »wissenschaftlichen Rassis
mus« während der NS-Diktatur in Deutschland ins Auge.116 Als letzte Vollendung der großen Reform wurden jedoch Ideen vorgebracht, von denen kein bloßer »Eugeniker<< linker oder rechter Provenienz zu träumen wagte: die Emanzipation des Menschen vom Raum und Zeit, von der Schwerkraft, von der Vergänglichkeit des Körpers und von der herkömmlichen Fortpflanzung. In letzter Instanz bedeutet Revolution dem nach: den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik außer Kraft setzen. Unschwer erkennt man selbst in den utopischsten Kon zepten, wie die Figur des Handeins im auto-operativ ge krümmten Raum auf die Ebene der großen Politik übergreift, um neben der revolutionären Aktivitätskultur eine revolutio näre Passivität
zu
erzeugen. Wer viel vorhat, muß viel über
1 1 5 Ein Widerhall der neuen Stufe von Anthropotecbnik findet sich noch in der Vorliebe der DDR-Gewaltigen fürdie Kybernetik und deren Weiterentwicklung auf aiJen Gebieten. r 16 Vgl. Peter Weingart/jürgen Kroll/Kurt Bayerrz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutsch land, Frankfurt am Main 1988.
III
r1
Die Exerzitien der Modernen
Im auto-operativ gekrümmten Raum
sich ergehen lassen. Tatsächlich erlegte schon der Alltag nach
palais und dem Tod Stalins die Leiden der »Übergangszeit«
ren-Lassen durch die Funktionäre des revolutionären Staates
näre bestand ohne Zweifel darin, die Revolution auszuhalten und sie im Modus des Leidens an ihr zu fördern. Daß die
ertrugen. Das wichtigste »gemeinsame Werk« der Revolutio
1917 den breiten Massen die Bereitschaft zum Sich-Operie
auf. Der Neue Mensch war nur zu erzwingen, wenn die ge genwärtigen Menschen bereit waren, sich einschneidenden
Russen und die ihnen assoziierten Völker auf diesem Feld
Metaphern in der Sprache der Revolutionsführer verdiente
Auch wenn in der einschlägigen Literatur die These von
Großes geleistet haben, bestreitet niemand.
Operationen zu unterziehen. Die Rolle der chirurgischen
der »religiösen« Natur der Revolutionsideologie bis zum
eine eigene Untersuchung. Sie machen klar, welchen Preis
jeder politische Holismus fordert: Wer »Gesellschaften« als
Überdruß wiederholt wurde: Es gilt trotzdem, zu betonen,
daß die Russische Revolution ihrem Design zufolge kein
Organismen denkt, steht früher oder später vor der Frage, an
politisches Ereignis, sondern eine anthropotechnische Bewe
welcher Stelle das Amputationsbesteck anzusetzen ist.
gung im sozialpolitischen Gewande war, gegründet auf die
Allein in diesem Kontext ist die Rolle der ästhetischen
totale Veräußerlichung des absoluten Imperativs. Von blei
Avantgarde in der Russischen Revolution zu würdigen: Sie
widmete sich der titanischen Aufgabe, die Passivitätskompe
bender Bedeutung ist ihr Beitrag zur Explizitmachung der
historisch erforderliche Niveau zu heben. Der agitatorische
synthetischen Illusionsübungsvereine der Moderne, von de
schenden Projekt, erstmals in der Geschichte der Menschheit
zeigt habe, wie sie bei der Herstellung von autohypnotisch
Natur von �>Religion« - sie gehört damit zur Gruppe jener
tenz der verelendeten Massen binnen weniger Jahre auf das
nen ich eingangs am Beispiel der
Grundzug der Revolutionskunst ergab sich aus dem berau
Church of Scientology
ge
geschlossenen Gegenwelten verfahren. Hier wie dort ver
die Passion für alle zu proklamieren. Dies ist der Sinn der didaktischen Wendung, die sich in den vielfältigen Aus
schränkte sich das individuell wirksame psychotechnische
Höchstformen des Leidens wurden nun von den ästhetischen
rerkultischen und gruppennarzißtischen Prozeduren beru
Moment mit massenpsychologischen Effekten, die auf füh
prägungen revolutionär engagierter Kunst manifestierte: »Kommissaren« den Vielen angetragen, die bisher nur vulgä
hen. Indem das kommunistische Experiment einen großfor
zigung verweigert werden, obschon die technischen Fragen der Grablegung und der Auferstehung noch nicht in jedem
unternahm, unter denen der Mensch zum Erzeugnis des
res Leiden kannten. Niemandem durfte das Recht auf Kreu
matigen Anlauf zur Machtergreifung über die Bedingungen
Menschen wird, demonstrierte es, woran Aktivisten glauben
sollen und, mehr noch, was sie mit sich machen lassen müs
Detail geregelt waren. U m das Angebot in angemessener
Breite zu vermitteln, griff man auf die Fiktion zurück, jeder
sen, bis der alte Mensch zum neuen umgeformt ist.
der Revolution geschlossen, wonach er bereit und willens
ten Ernstfall von extensiver Biopolitik in der Neuzeit aus -
De facto löste die kommunistische Umwälzung den zwei
einzelne Volksgenosse habe einen Behandlungsvertrag mit
wäre, alles zu dulden und zu bejahen, was ihm von den Agen
vom ersten war oben in den Erinnerungen an die Bevölke
werde. Nur im Licht dieser Hypothese läßt sich die unfaß
war die Feinabstimmung ihrer Maßnahmen eklatant mißlun
genossen zwischen dem legendären Sturm auf das Winter-
rnehr gesagt werden muß. Auch die Biopolitik der Russischen
rungspolitik des frühneuzeitlichen Staats die Rede. Dieser
tut·en des großen Wandels zu seinem eigenen Besten angetan
bare Passivität nachvollziehen, mit welcher unzählige Zeit
gen, mit Konsequenzen, über deren Düsterkeit hier nichts
--
lU
Die Exerzitien der Modemen
r 1 Im auto-operativ gekrümmten Raum
Revolution konnte ihrer Ergebnisse nicht sicher sein, jedoch
politischen Revolution durchlief bei ihrer Aneignung durch
ein Maximum an Untertanen erzeugen wollte und einen rie
die russische Intelligenz eine Metamorphose, die sie ten denziell entpolitisierte und zu einem radikal-metanoetischen
aus völlig anderen Gründen. Während der frühmoderne Staat senhaften Überschuß an Unverwendbaren in Kauf nahm, strebte der revolutionäre Staat nach einem organischen Kol lektiv von Überzeugten - und ließ es auf den Verlust der
Experiment umformte. Man müßte geradezu von einer Unterwanderung der Politik durch Orientalisierung reden jedoch nicht nur, um die sowjetische Staatsmacht als »orien
Unüberzeugten ankommen. Die erste Biopolitik suchte die
talische Despotie« zu bezeichnen. »Osten« meint hier die
Lösung ihres Problems in massenhaftem Menschenexport
Tendenz zur Suprematie des spirituellen Faktors. Eine
und extensiver Internierung, die zweite fand die Lösung in
Revolution auf russischem Boden konnte wohl nicht gesche
massenhafter Internierung und noch massenhafterer Men
schenvernichtung.1 1 7
hen, ohne zum Analogon einer Konversion zu geraten. Was dabei entstand, war das enorme Schauspiel einer Konversion von außen.
Konversion bedeutet, das eigene Leben spirituell auf Null
Die Biopolitik des Wunders und die Kunst des Möglichen Das anthropotechnische Geheimnis der Revolution von 1 9 1 7 ist somit ausgesprochen, und zahlreiche Autoren haben es in
verschiedenen Diktionen offengelegt: Die westliche Idee der II7
Der dritte biopolitische Ernstfall, der des Nationalsozialismus, fügte den Populationismus neuzeitlichen Stils und den Extermi nismus nach aktuellem sowjetischem Muster zu einem operativen Komplex zusammen - mit schwachen Ergebnissen auf der einen, verheerenden auf der anderen Seite. Daneben blieben die »kon struktiven« Versuche zur Kreuzung zwischen Menschen und Großaffen, die schon zu Stalins Zeit (nach Vorspielen in der kolonialistischen Ära) durchgeführt wurden, bloß episodisch, kaum anders als die Versuche zur Hervorbringung von biologisch korrektem Nachwuchs in gewissen Befruchtungsanstalten der SS. Der histOrische Befund legt den Schluß nahe, daß es sowohl u1 der UdSSR als im NS-Staat die massivsten Formen von Eliminierungs politik, von Ausrottung »unbrauchbarer Elemente«, von Ver nichtung »lebensunwerten Lebens«, jedoch kaum Eugenik im präzisen Sinn des Worts gegeben haL Die sachlich kaum zu recht fertigende Gleichsetzung von Eugenik und Ausrottungspolitik (hierzulande über den Zwischenschritt "Rassenhygiene« vermit telt) bestimmt bis heute die polemischen Einlassungen gegen die humanistische gentherapeutische Forschung der Gegenwart, der man vorhält, eine »liberale Eugenik« zu sein.
stellen. Revolution impliziert die Geste, die Welt von einem Nullpunkt aus neu zu entwerfen. Sie verwandelt die histo risch geronnene Realität in eine Masse ohne Eigenschaften, aus der in der rekonstruktiven Phase buchstäblich alles wer
den kann. Im Kolben der Revolution transformiert sich die in Qualitäten erstarrte Materie zu einem totipotenten Potential, das von neuen Ingenieuren für freie Entwürfe benutzt wird. Wo der Primat der Weltverbesserung gilt, ist der Neue Mensch als Funktion einer Neuen Gesellschaft zu denken. Die Neue Welt entsteht als das Produkt aus Revolution und
Technik. Die Forderung nach der technischen Wiederholung des Wunders ist das intimste Agens des großen Aufbruchs. Für ein Unternehmen dieser Größenordnung ist die Umstel lung der Gläubigkeit vom Wunder auf das Wunderbare nicht
genug. Wahrend die christlichen und yogiseben Traditionen
mit ihrem Kult der Heiligen und Lebend-Erlösten das Un mögliche den Wenigen vorbehielten, reklamiert die spirituell unterwanderte Revolution das Unmögliche für alle.
Die Definition der Politik als der Kunst des Möglichen hat
- so meine Prämisse - ihre historische Bewährungsprobe
grosso modo
bestanden. Der deutsche Reichskanzler Otto
von Bismarck, dem die Formel zu verdanken ist, war sich
62o
111 Die Exerzitien der Modernen
1 1 Im auto-operativ gekrümmten Raum
vermutlich nicht dessen bewußt, daß er eine Wendung ge prägt hatte, die ihn mit den Klassikern der politischen Theo rie für einen Moment auf eine Ebene stellt. Wovon er sprach, wußte er allerdings genau, da er die Gegenposition, die Poli tisierung des Unmöglichen und die Umformung von Tag träumen in Parteiprogramme, in allen Abschanungen von links bis rechts täglich vor Augen hatte, im Berliner Reichstag ebenso wie in der zeitgenössischen deutschen und europäi schen Publizistik. Gleichsetzungen des Wünschbaren mit dem Verwirklichbaren bildeten von der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts an das Verfahren, das der »Zeitgeist« bevor
zugte, um seine Parolen auszustreuen. Zur selben Zeit hatte
die Massenpresse im Transport von Illusionen zu den End abnehmern ihre wichtigste Aufgabe erkannt - tatsächlich sind die Medien in der Ära der hohen Auflagen weniger Auf klärungsorgane für ein lernendes Publikum als Anbieter von Diensten im auto-operativ gekrümmten Raum des massen haften Sich-Tauschen-Lassens. Allein im Kontrast zur lakonischen These des letzten deut schen »Realpolitikers« läßt sich verstehen, was infolge der Oktoberrevolution in Rußland geschah. Sie schuf eine Bühne für die Politik als Kunst des Unmöglichen. Sehenden Auges gab sie das Standardmodell des rationalen Realismus zugun sren einer unverhohlen surrealistischen Praxis preis, auch wenn sie sich das blutbefleckte Gewand einer »Realpolitik der Revolution« überstreifte. So sehr sie grausam-realistisch
auftrat, um ihren Anfangssieg zu sichern: Sie wußte, daß sie nur bestehen konnte, solange auf sie ein Licht von ganz oben
»Gesellschaft« konnte die Himmelfahrt der Revolution wahrhaft beginnen. Sie eilte von einer Abschaffung zur an deren, von einer sichernden Maßnahme zur nächsten - die Abschaffungsära bedeutete unvermeidlich auch für Maßnah men aller Art eine hohe Zeit. Was Abschaffungen anging, reichte der Elan der Intellektuellen naturgemäß weiter als der der neuen Kremlherren, obschon auch diese das Nötige
taten, um sich als Abolitionisten ihre Sporen zu verdienen.
Nach der Machtergreifung hatten sie binnen kurzem die Ab schaffung des Privateigentums deklariert - ihrem Kommu nismusverständnis zufolge legte diese Änderung der Rechts ordnung den Grundstein zu allen weiteren Beschlüssen. Die Abschaffung der bürgerlichen Freiheiten folgte, die des bür gerlichen Menschen sollte sich nahtlos anschließen. Die Funktionäre hatten begriffen, warum der Staatsumsturz nur mittels einer Kulturrevolution, das heißt der Liquidierung des bürgerlichen Individuums und seiner Bildungsinhalte, zu stabilisieren war. Für sie war der Bürger nicht nur der Klassenfeind, der Weltverbesserungsmittel monopolisierte und das de iure Gemeinsame in das deJacto Private verfälsch
te. Er war die Inkarnation des Allmählichkeitsmenschen, der
sämtliche Irrtümer des überkommenen Realismus und alle Laster des ich-bezogenen Rationalismus in sich vereinigte. in der politischen Revolution geformte Nicht-Bürger, der die
zu gewinnen. »Vertikalisten« waren nicht mehr bloß die uto
tikale
Nach dem gewonnenen Bürgerkrieg gegen die Reste der alten
Die erste Vorsrufe zum Neuen Menschen verkörperte der
fiel. Ihre Rechtfertigung war nur in der steilsten Senkrechten pischen Dichter um Svjatogor, der seine
Ära der Abschaffung
vorgeblich natürliche Egozentrik des alten Menschen hinter
Verse über die Ver
sich gelassen habe. Mit dieser streifte der »Rohling« des
schon im Jahr 1914 publiziert hatte - die gesamte
Zukunftsmenschen zugleich die Ethik der historischen Hoch
revolutionäre Elite war von Vertikalistischen Engagements
kulturen ab, die sich um das Verbot des Menschenopfers orga nisierte - allgemein: um das Verbot der Tötung unschuldigen
beflügelt.
Lebens. Die Abschaffung der Gewissenshemmung in bczug
-
622
Ill
Die Exerzitien der Modernen
auf das Töten bildete eine entscheidende Etappe auf dem Weg zur Erzeugung der nach-bürgerlichen Persönlichkeit. Was daraus hervorging, war nicht weniger als die Figur des gewis
1 1 lm auto-operativ gekrümnuen Raum sagt: •Lüge!< - so sollst du lügen, I Und wenn sie sagt: •Töte!< 11 so sollst du töten.« 9 Fast schon wie eine legendenhafte Schablone erscheint in
senlosen Heiligen - der originellste Beitrag der bolschewisti
diesem Zusammenhang der biographische Hinweis, wonach
schen Revolution zur moralischen Universalgeschichte.
dieser Mann, der für die Liquidierung Hunderttausender ver antwortlich zeichnete, in seiner Jugend Mönch oder Priester
Sein 1md Zeit, sowjetisch Andrej Sinjawskij hat in seinem Buch über die Sowjetzivilisa
tion den Protoptypus des Neuen Menschen in der Person des Vorsitzenden der frühen sowjetischen Gehcimpolizei, der be rüchtigten Tscheka, Felix Emundowitsch Dserschinskij, 1878-1 926, portraitiert. Er beschreibt den gefürchteten Mo
dell-Funktionär, der zwischen 1897 und 1 9 1 7 insgesamt elf Jahre in der Verbannung und in zaristischen Gefängnissen, diesen Trainingslagern der zu allem Entschlossenen, zuge bracht hatte, als einen stahlharten Mann »mit einer kristaUrei nen Seele«. Die Rolle des Obersten Henkers der Sowjetunion sei ihm nicht aufgrund grausamer Neigungen zugefallen, son dern weil er bereit war, nicht bloß sein eigenes Leben, son dern auch sein Gewissen auf dem Altar der Revolution zu opfern. Als vollendeter Leninist hatte er die Doktrin seines Meisters verinnerlicht, wonach der Revolutionär sich bewußt die Hände schmutzig macht. Nur seine moralische Besude lung konnte seine Loyalität gegenüber der großen Sache aus 1 18 Wie viele historisch erregte Zeitgenossen der
drücken.
zwanziger Jahre, auch solche aus dem Lager nicht-bolsche wistischer »Revolutionen«, hatte Dserschinskij gelernt, das Sein als Zeit auszulegen. Er wollte folglich nur noch tun,
hatte werden wollen. Daß er als Kryptokatholik zwischen grausamen Verhören oder am Ende von hinrichtungsreichen Tagen heimlich zur Heiligen Jungfrau gebetet habe, mag eine tendenziöse Erfindung sein. Plausibel ist die überlieferte Aussage seiner Frau, er, der selbstlose Aktivist, der rund um die Uhr arbeitete, auf einem schmalen Eisenbett in seinem Büro schlief und im Alter von 48 Jahren an Erschöpfung starb, habe davon gesprochen, eines Tages das Amt des Ober sten Henkers der Revolution niederzulegen, um sich als Volkskommisar für Bildung ganz der Erziehung der Kinder und Jugendlichen für die kommende »Gesellschaft« zu wid men. Sinjawskij nennt das eine »phantastische Perspekti 120 der Henker als Pädagoge, der Massenmörder als Men ve«: scbenbildner. Jedoch: Der Übergang von der Vernichtung unbrauchbarer und unüberzeugter Menschen zur Heranbil dung brauchbarer und überzeugter Menschen erscheint viel weniger absurd, sobald man die Logik eines Handeins vom Nullpunkt aus in Rechnung stellt, die der einen wie der an deren Funktion zugrundelag. Was den sowjetischen Henker von dem Henker de Maistees trennt, ist die Unmöglichkeit, sich vorzustellen, Dserschinskij habe insgeheim zu sich ge. . h.« 121 . sagt: »Ntemand 1·1q01.d1ert besser aIs JC 119 Zwei Zeilen aus dem Gedicht ,.Tbc« des sowjetischen Dichters
was die Zeit durch ihn tun wollte. Mit der Hörigkeit des »Gelassenen« härte er auf ihre Signale, die damals scheinbar unversehlüsselt empfangen werden konnten: »Und wenn sie rr8 Sinjawskij, Der Traum vom neuen Menschen, a. a. 0., S. 18of.
12.0
Bagritzkij aus dem Jahr 1929, das dem Andenken Dserschinskijs gewidmet ist; vgl. Sinjawksij, Der Traum vom neuen Menschen, a. a. 0., S. 187. Wer Belege für die explizite Aufhebung des Fünf ten Gebots im 20. Jahrhundert sucht, wird zuerst bei den intel lekruellen Interpreten der Russischen Revolution fündig. Jbid.,
$. 183.
121 Siehe oben S. S 33·
J1l
Die Exerzitien der Modernen
11
Im auto-operativ gekrümmten Raum
Prämissen, Perspektiven und Methoden sie in ihren Schriften
lmmortalismus: Liquidierung der Endlichkeit
der zwanziger Jahre explorierten. Wenn die Revolution es ermöglichte, auf der Leiter der
In den Augen der philosophisch Radikalen unter den Vertre
Abschaffung überkommener Mißstände emporzusteigen,
tern der revolutionären Intelligentsia reduzierten sich Phäno
waren die Abschaffung des »Privateigentums an Produkti
mene wie die beschriebenen auf Oberflächeneffekte, wie sie
onsmitteln« und der bürgerlichen Persönlichkeit sinnvolle,
in einer Zeit fundamentaler Transformationen nolens volens
obgleich vorläufige, um nicht zu sagen inferiore Stufen in
hingenommen werden mußten. Zur Gruppe dieser ontologi
einem Aufstiegsprogamm, von dessen Höhe sich keiner der
schen Utopisten rechneten neben dem bereits erwähnten
in den Turbulenzen des großen Umbruchs befangenen Zeit
Alexander Svjatogor, r 889 - nach 1937, namendich Konstan
genossen eine Vorstellung zu machen imstande war. Beide
tirr Ciolkovskij, r8 57-193 5, ein Esoteriker und Raketentech
Operationen, so einschneidend sie den Tatern wie den
niker, der als Vater der russischen Raumfahrt Berühmtheit
Opfern des Umbruchs erschienen, stellten aber nicht mehr
erlangte, Alexander Jaroslavskij, um I89I -I 9JO, Vertreter ei
da.r als die Fortführung der bürgerlichen Revolution von
nes »kosmischen Maximalismus«, Valerian Murawjev, t88 s
1789, die es kaum weiter gebral:ht hatte als bis zur Ab
I93 1 , der die Überwindung der Zeit und eine Technologie der
schaffung der Adelsprivilegien, zur Freisetzung bürgerlicher
Auferstehung (Anastatik)
postulierte, sowie Alexander
Ambitionen und zu einer zwiespältigen Menschenrechtsrhe
Bogdanov, 1873-1928, Verfechter des »physiologischen Kol
torik Aus russischer Perspektive setzten sie die zaristischen
lektivismus« und Gründer einer Bewegung für den >>Kampf um die Vitalität«.122 Für sie, die metaphysischen Revolutio
Reformen von r86r fort. In der Sicht der metaphysischen
Revolutionäre bedeuteten diese Errungenschaften aUenfalls
näre, die sieb praktisch ausnahmslos auf Nikolaj Fedorov
vorbereitende Episoden zu einer Revolte von ganz anderer
beriefen (obwohl einige, wie Svjatogor, seinen Einfluß negier
Spannweite.
ten), der mit seiner
Philosophie des gemeinsamen Werks die
Nach der Ära der Vorversuche war ein
opus hominis grö
Grundlagen für eine Politik der Unsterblichkeit gelegt hatte,
ßeren Umfangs an der Zeit. Die anstößig gewordene Herr
bedeuteten die bolschewistischen Anfänge der Kulturrevolu
schaft des Menschen über den Menschen bildete ja nur das
tion kaum mehr als ein grobes, wenn auch in Grenzen nütz
Epiphänomen einer viel älteren und umfassenderen Knecht
liches Präludium zu der wirklichen »Weltrevolution«, deren
schaft. Lebte der sterbliche Mensch nicht seit unvordenkli cher Zeit unter der Despotie der äußeren und inneren Natur?
122
Eine Auswahl aus den Schriften dieser Autoren isr im Rahmen des von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Projekts The Post-Communist Condicion unter der Leitung von Boris Groys und unterderSchirmherrschaft von Peter Weibel am Karls ruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie erarbeitet und unter dem Titel Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Rußland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, a. a. 0., großteils in deutschen Ersrübersetzungen, teilweise in Neuübersetzungen präsentiert worden, nahezu ein Jahrhundert post eventum.
War nicht die Natur selbst die Biomacht, die auf der einen Seite willkürlich leben machte, um auf der anderen nicht weniger willkürlich sterben zu lassen? Lieferte nicht ihre uni versale Herrschaft die Matrix aller sekundären Herrschaften? Mußte darum nicht die Abschaffung des Todes auf die Tages ordnung einer metaphysischen Revolution gesetzt werden und gleichzeitig die Aufhebung des Geburtenfataüsmus? Was half es, den absolutistischen Staat zu beseitigen, solange m�.
lll Die Exerzitien der Modernen
fortfuhr, dem Gottesgnadentum der Natur zu huldigen? Wo zu den Zaren und seine Familie auslöschen, wenn man die vor aller Zeit vollzogene Krönung des Todes zum Herren der Endlichkeit weiter gelten ließ?
1 1 Im auto-operativ gekrümmten Raum unter die Knechtschaft der Natur. Unaufhörlich korrumpie ren die Ideologen des Todes die moderne »Gesellschaft«, in dem sie nicht müde werden, ihr die Formel »der Tod ist
unausweichlich« einzuimpfen. Sie liefern den Treibstoff des
Individualismus, der zu Gier anstachelt - sofern man Gier als
Die Epoche des Todes und der Bagatellen beenden Die spekulative Avantgarde der Russischen Revolution mein te begriffen zu haben, daß man sofort bei der obersten Spros se der Abschaffungsleiter anzusetzen hat, wenn man den ent
scheidenden Unterschied markieren will. Andernfalls bleiben die Beseitigung von Mißständen und Ungleichheiten zwi schen den Menschen, ja sogar die Abschaffung des Staates
und aller repressiven Strukturen vorläufig und vergeblich.
Streben nach Maximierung von Erlebnissen und Seinsvonei len im engen Fenster der existentiellen Zeit definiert. Von einem »Sein zum Tode«, das in Heideggers Haupt werk von 1927 als Strukturmerkmal der Existenz hervorge kehrt wurde, konnte nur die Rede sein, weil die am weitesten zielende Revolution der Gegenwart selbst von den radikal
sten Denkern des »agonisierenden Bürgertums« nicht mit vollzogen wurde. 192 1 postulierte Alexander Svjatogor eine neue Agenda, ausgehend von der Festst ellung:
»dass die Frage der Verwirklichung persönlicher Un
Sie verschärfen eher noch das Bewußtsein der Absurdität,
sterblichkeit jetzt in vollem Umfang auf die Tagesord
das die egalitäre »Gesellschaft<< heimsucht, solange die Ab
nung gehört. Es ist an der Zeit, die Unausweichlich keit . . . des natürlichen Todes zu beseitigen.«123
schaffung des Todes nicht gelungen ist - sämtliche Formen physischer Unvollkommenheit inbegriffen. Wer den letzten
Hier hören wir erneut das tempus est, mit dem die christliche
Grund schlechter Privatheit in der menschlichen Existenz
Apokalyptik in das Projekt Geschjchte übergeht: Die Zeit
ausschalten will, muß die Einklemrnung jedes Einzelnen in
selbst ist an den Punkt gelangt, das Kennwort für das letzte
sein kleines Stück Lebenszeit aufheben. An d ieser Ste!Je bat
geschichtliche Unternehmen auszugeben: Hebe die Zeit auf!
das erneuerte »gemeinsame Werk« anzusetzen. Nur Unsterb
Wer den Zeitgeist versraaden hat, muß dafür sorgen, daß
liche können die wahre Kommune bilden, indessen unter den
demnächst von Endlichkeit nicht mehr die Rede ist. Die
Sterblichen immer die Selbsterhaltungspanik dominiert. Die Gleichheit der Menschen vor dem Tod befriedigt nur jene Internationale reaktionärer Egalitarisren, die es gern sehen, wenn auch Reiche und Mächtige dahinfahren »wie Vieh«.
Von alters her sympathisieren Leute dieses Schlages mit dem Tod in seiner Rolle als Leveller, wie er im
jedermann
Salzburger
seit 1920 unter zeitgerecht kitschiger Aufma
>>
Epoche des Todes und der Bagatellen« geht zu Ende - was
beginnt, ist »die Ära der Unsterblichkeit und der Unend lichkeit«.124 »Der Biokosenismus allein kann die gesamte
Gesellschaft definieren und regulieren.«125 Ein Jahr später proklamierte Alexander Jaroslavskij den
malismus,
Kosmischen Maxi
der den Immortalismus, den Interplanetarismus
und die Suspension der Zeit einschloß, während Alexander
chung auf die Bühne gebracht wird. Was diese Freunde des
Bogdanov gleichzeitig seine Ideen zur einer
te Tatsache, daß der Tod das reaktionäre Prinzip schlechthin
123 Die Neue MenscbJ1eit, a.a. O., S. 393·
darstellt. Jedes Memento beugt den Menschen nur noch tiefer
xzs
gerechten Endes für alle nicht zugeben wollen, ist die schlich
S. 395· Ibid., S. 403.
1 2 4 Ibid.,
Tektologie des
rt
III Die Exerzitien der Modernen
Im auto-operativ gekrümmten Raum
Er begeisterte sich für
erstmals der Terminus »Anthropotechnik« auftaucht, weitge
sobald man ganze Populationen durch extensive reziproke
»Anthropourgie«, der eher auf die Produktion eines höheren
Kampfes gegen das Alter publizierte.
hend synonym mit dem gleichzeitig geprägten Ausdruck
die Vorstellung, daß man den Sozialismus physisch vollziehe,
Typs von Menschen abhob. 127 Aufgrund seiner Beschäfti
Bluttransfusionen zu artifiziellen Verwandtschaftskreisen
gung mit den spiritueUen Traditionen des Ostens wie des
und Immunitätsallianzen ausbaut. Mit dieser Physizierung
Westens hatte Mouravjev den Zusammenhang zwischen der
der Brüderlichkeit erwiese sich das »Blut«, ansonsten eher
asketischen und der technischen Revolte gegen die Narur
eine Domäne der Rechten, als Medium einer realen kommu 26 nistischen Zirkulation. 1
deutlicher als die übrigen Autoren der biokosrnistisch-im mortalistischen Tendenz im Blick. Nach seiner Aufassung stießen die Errungenschaften aus herkömmlichen Formen von »Askese und Yogi-Bewegung« unweigerlich an eine
»Anthropotechnik«
Grenze, weil sie aufgruod der uralten idealistischen Materie
verachtung von der »Vernachlässigung des körperlichen Mo
Unter den Autoren der metaphysischen Revolution der
ments<< bestimmt blieben. Die »Umgestaltung des Menschen«
zwanziger Jahre war, wenn ich recht sehe, Valerian Moura
sei aber »nicht als lediglich geistige und moralische denk
vjev derjenige, der die Frage nach der Herstellung des Neuen
bar«.128 Sie sei heute auf umfassend neue GrundJagen zu stel
Menschen am umfassendsten erörterte, indem er ihre tech nologischen
len - das heißt auf technische, serielle und kollektiv gesteuerte
Aspekte unter den weitesten Perspektiven
durchdachte. Natürlich war die zeitgemäße Denkform der
127 Schon 1926 übernimmt die Große Sowjetenzyklopädie im dritten Band den Ausdruck »Anthropotechnik«; sie definjert diese als »angewandten Zweig der Biologie, der sich die Aufgabe stellt, die physischen und geisrigen Eigenschaften des Menschen mit den selben Methoden zu verbessern, welche die Zootechnik zur Ver besserung und Züchtung neuer Haustierrassen anwendet.« Zitiert nach Michael Hagemeister, a. a. 0., S. 54· Bereits im Jahr 1922 hatte Pawel Blonski, ehemaliger Neoplatooiker, in seiner weit verbreiteten Schrift Pädagogik doziert: »Die Pädagogik muß in einer Reihe mit der Zootechnik und der Phytotechnik (Pflanzen zucht) ihren Platz finden Zitiert nach: Alexander Etkind, Eros des Unmöglichen. Die Geschichte der Psychoanalyse in Rußland, Leipzig 1996, S. 330. 128 Die Neue Menschheit, a. a. 0., S. 466. Mouravjev blendet in die sem Argument aus, was er über die körperliche Dimension der indischen Übungssysteme weiß, offenbar unter dem Einfluß des vorherrschenden Technizismus, der den Unterschied zwischen Sich-Operieren und Sich-Operieren-Lassen ignoriert und aus schließlich auf äußere Behandlungen setzt. Die Einseitigkeit die ser Option wird durch gleichzeitiges insistieren auf »psychophy sischen« Methoden beim »Neubau des Menschen« dementier..
»Herstellung des Herstellers« in der gesamten Sowjetsphäre längst ein allgegenwärtiges Klischee, nicht zuletzt in der Ar beitswelt, wo sich der Imperativ der Zwangsmodernisierung am nacktesten präsentierte: E r schrieb die massenhafte Pro duktion sozialistischer Proletarier als dringlichste Planaufga be vor- man mußte den vorgeblieben Träger der Revolution ja wenigstens nachträglich ins Leben rufen. Ebenso fest war das Sprachspiel von der Menschenherstellung in der sowjeti schen Pädagogik verankert. Soviel bekannt ist, war es jedoch
. . .«
Mouravjev, in dessen Schriften der frühen zwanziger Jahre
126 Zu Bogdanovs Blut-Politik vgl. Margarete Vöhringer, Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahr nehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion, Göttingen 2007, S. 173-229; dies., Im Proletformat - Medien für Transfor mationen und Transfusionen im Russland der 20er Jahre, in: Transfusionen. Blutbilder und Biopolitik in der Neuzeit, heraus gegeben von Anja Lauper, Zürich/Berlin 2005, S. 199-210.
-
fll Die Exerzitien der Modernen Verfahren. Unter diesen könne die Eugenik, wie Mouravjev
11
[m auto-operativ gekrümmten Raum
tion nicht mehr unterlägen. Zugleich käme durch die neue
meint, ihrer Schwerfälligkeit wegen nur eine untergeordnete
Menschenkreationstechnik eine unerhörte Höhe der Indivi
Funktion behaupten. Zwar gingen die eugenischen Verfahren
dualisierung in Reichweite. Der Schablonenmensch von heu
der Gegenwart, so der Autor, weit über die Primitivität der
te verschwände mit der Zeit, der Vulgarität würden nicht nur
paracelsischen Versuche zur Heranzüchtung von Homunculi
sozial und ästhetisch, sondern auch biologisch die Grund
in Kalbsmägen oder Kürbissen hinaus, blieben aber den Miß
lagen entzogen. Dann schaffen Künstler vom Rang Shake
lichkeiten der zweigeschlechtliehen Fortpflanzung und den
speares und Goethes keine Dramen mehr, sondern Menschen
häßlichen Exzessen der natürlichen Geburt verhaftet, in der
und Menschengruppen - anthropische Singularitäten und so
man einen »außerordentlich komplizierten, schmerzhaften
ziale Plastiken, neben denen die Werke der älteren Kunstge
und unvollkommenen Vorgang<<129 sehen müsse. Die züch
schichte wie leblose Vorübungen aussehen.130
terische Eugenik, die bei Pflanzen und Tieren zu guten Er
Die Grundoperation des biopolitischen Utopismus in Ruß
gebnissen führt, sei auf den Menschen nur begrenzt übertrag
land läßt sieb auf eine einfache Formel bringen: Was bisher
bar. Folglich ist über neue Prozeduren nachzudenken, bei de
ausschließlich im Imaginären möglich schien, ist jetzt auf der Ebene technischer Verfahren zu verwirklichen. Wo Kunst
nen die Teilung der Menschheit in Mann und Frau bedeu
werk war, soll Kunstleben werden. Die moderne Technik reißt
tungslos würde. Die Abschaffung des Gebärens und die Er
die Grenze zwischen Sein und Phantasma nieder und verwan
zeugung des Menschen im Labor müsse zu einem »vierten
delt Unmöglichkeiten in Schemata des real Möglichen - leere
Verfahren zur Umgestaltung des Menschen« führen - die an deren drei sind asketisch-didaktische, therapeutisch-medizi nische und eugenisch-züchterische Maßnahmen. Hier taucht für einen Moment der Gedanke an das später so genannte
Mengen, deren Füllung durch real existierendes Seiendes jetzt beginnt. Der Begriff »Antizipation«, der die marxistischen Kommentare zu den »Errungenschaften« früherer Kulturepo chen wie ein roter Faden durchzieht, bezeichnet künftig Phan
Klonierungsverfahren (»Knospung«) auf, das nach Moura
tasmen nach Plan. Dieselbe Grenzüberschreitung liegt im
vjev keineswegs nur für eine Domäne der niederen Lebens
übrigen der gleichzeitig aufblühenden amerikanischen Mas
formen zu halten sei. Käme dergleichen auch bei höheren Lebewesen, schließlich bei homo sapiens zum Einsatz, wäre
senkultur zugrunde, die insbesondere seit der Übernahme
der »Traumfabrik« Hollywoods durch europäische Ernigran-
der Mensch nicht länger das Resultat der sexuellen Beziehung zweier mehr oder weniger bornierter Individuen, sondern das Werk einer auf höchste Ziele verpflichteten Forschergemein schaft. Wenn diese sich der Herstellung von Menschen wid
met, zelebriert sie ein technisches Sakrament - in freier Syn these außerhalb der alten Natur. Mit den neuen Menschen treten neue Körper in Erschei
nung, die sich von Licht ernähren könnten und der Gravita129 Die Neue Menschheit, a. a. 0., S. 468.
130 Von Leo Trotzkij ist die analoge nietz.scheanisch inspirierte These bekannt, durch kommunistische »psychophysische Selbsterzie hung« werde sich »der durchschnittliche Menschentyp der Zu kunft zum Niveau eines Aristoteles, Goethe und Marx empor schwingen Und über rueser Gebirgskette werden sich neue Gipfel erheben.« ·Die menschliche Gattung, der erstarrte Homo sapiens, wird abermals eine radikale Revision durchlaufen und - unter den eigenen Händen - zum Objekt kompliziertester Methoden der Auslese und des psychophysischen Trainings werden.« Zitiert nach: Die Neue Menschheit, a. a. 0., S. 421 .
und 419.
6p
111 Die
Exerzitien der Modemen
r1
Im auto-operativ gekrümrmen Raum
ten eine einzige Serie von Variationen über das Motiv dreams
gnose, dieser werde sieb durch die revolutionäre Behandlung
liefert.131 Aron Zalkind, r 889-I936, ein sowjeti
in ein immer stabileres, immer leistungsfähigeres, immer mehr
come true
scher Psychologe, der in seiner »Pädologie« der zwanziger
von Lebensfreude durchpulstes, von Grund auf soziophiles
Jahre die Ansätze von Freud und Pavlov zu synthetisieren
Wesen verwandeln; er werde eine Art von holistischem Im
versuchte (um das Feld der Eniehung für die damals viel
munsystem entwickeln, in dem die Selbsterhaltung zu einer
benutzte Theorie der »bedingten Reflexe« zu reklamieren und die Kulturtheorie als Anwendungsgebiet der höheren Re
flexologie zu annektieren), nennt dies das »wissenschaftlich
Funktion der Gemeinschaftserhaltung werde - anders als in der westlichen Gesellschaft, in der die individualistische Zer setzung unaufhaltsam voranschreite. Für Zalkins opportuni
fundierte Phantasieren«.132 Auf ihm beruhe die Kunst der
stisch-optimistische Argumentation ist die Verwischung der
sozialistischen Prognostik.133 Sie bildet das real-utopische
Grenze zwischen Didaktik, Therapie und Politik charakteri
Gegenstück zu Oswald Spenglers nicht weniger prätentiösem
stisch: Sie konzipiert den kommunistischen Menschen als
Versuch, die Erzählbarkeit der Zukunft durch Einsicht in die
grenzenlos plastischen Patienten der Veränderung, der immer
Ablaufgesetze der »Kulturen« auf wissenschaftliche Grund lagen zu stellen. In einem Gurachten über die psychosoziale Zukunft des sozialistischen Menschen stellte Zalkind die Pror
3 1 Zur Rolle der europäischen Emigranten bei der Restrukrurierung
der amerikanischen JIJusionsiodustric vgl. Neil Gabler, Ein eige nes Reich. Wie jüdische Emigranten Hollywood erfanden, Berlin 2.004· r 32. Aron Zalkind, Die Psychologie des Menschen der Zukunft (zuerst 1 928), in: Die Neue Menschheit, a. a. 0., S. 612. 133 Zalkind lieferte in der genanmen Schrift ambivalente Proben dieser Kunst: Einerseits sagte er »kolossalen Fortschritt der Fort bewegungsmirtel und der Kommunikationstechnik. Ungewöhn liche Dynamisierung des Lebens« vorher (a. a. 0., S. 645); ande rerseits wagt er die Prognose, der sozialistische Mensch werde so sehr von Lebensfreude durchströmt sein, daß die letzten jenseits bezogenen Regungen des »Mystizismus« absterben, so wie der Schwanz des Menschenvorfahren, des Affen, verlorengegangen sei (a. a. 0., S. 647). Der Aufwärtstrend der Menschheitsentwick lung werde nicht mehr durch Konkurrenz zwischen Menschen erzeugt; er entstehe zum einem dadurch, daß das Weltall zum neuen »grausamen Klassenfeind« erklärt wird, zum anderen da durch, daß man die unentbehrliche Unzufriedenheit jeder nach folgenden Menschengeneration mjt dem Wohlstandsniveau der vorhergehenden dank sozialistischer Erziehung systematisch sti muliert. Der Motor der Geschichte soll weiter auf hohen Touren laufen, doch an die Stelle von Egoismen treten soziophile Trieb kräfte (a. a. 0., S. 65of.).
nur gewinnen kann, wenn er sich grenzenlos operieren läßt.
Was Zalkind verschweigt, sind die Methoden der kommuni
stischen Anästhesie. Lenin wußte: Der Staatsterror bildet das funktionale Äquivalent der Vollnarkose bei schweren Opera tionen an großen Kollektiven.
Postkommunistisches Nachspiel: Die Rache des Allmählichen Ich verzichte hier darauf, das empirische Schicksal der im morralistischen und biokosrnistischen Impulse in der Früh
phase der Russischen Revolution zu kommentieren. Es dürfte niemanden verwundern, wenn bei solchen Projekten die Fall höhe zwischen dem Programmatischen und dem Pragmati schen dramatisch ausfiel. Gäbe es ein Pantheon ikarischer Phänomene - die russischen Bio-Utopisten hätten darin An spruch auf eine eigene Kapelle. Die Protagonisten der höch sten Abschaffung gingen fast ausnahmslos in den Turbulen zen der von ihnen so lebhaft bejahten Revolution unter:
Außer Konstantin Ciolkosvskij, der, »als genialer Sohn des
Volkes« von den sowjetischen Offiziellen vereinnahmt und geehrt, im Jahr 1 93 5 hochbetagt verstarb, fanden alle übrigen
Ill
Die Exerzitien der Modernen
Akteure der biopolitischen Revolte ein zeittypisches Ende: Svjatogor verschwand 1937 im Alter von 48 Jahren in einem >>Besserungsarbeitslager«; Mouravjevs Spuren verlieren sich um 1930, als er circa 45 Jahre alt war, in einem Straflager, wahrscheinlich auf den berüchtigten Solovki-Inseln im Wei ßen Meer; Jaroslavskij wurde, im Alter von etwa 3 5 ]ahren, nach einem gescheiterten Fluchn•ersuch aus diesem Lager im Dezember 1930 erschossen; Bogdanov kam 1928 bei einem Selbstexperiment mir einer Bluttransfusion ums Leben, 5 5jährig; Zalkind starb 1936 im Alter von 48 Jahren an Herz infarkt, als er die Nachricht erhielt, das Zentralkomitee der KP habe seine »Pädologie« als »antimarxistische Pseudowis senschaft« verurteilt und verboten. Ebenso überflüssig scheim es, ausführlich zu begründen, warum nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - und erst recht nach der Implosion der Sowjetunion und des Ostblocks um r 990 -praktisch niemand mehr in Ost und West auch nur das Geringste von einer Revolte gegen die conditio humana, den alten Adam, das Unbewußte und das gesamte übrige Sync.L-om der Endlicbkeiten hören wollte - es sei denn in den Simulationsräumen des entgrenzten modernen Museums, in dem jede Revolte ihren Kurator findet. Es wäre jedoch ein gravierender Trugschluß, wollte man aus dem globalen Ami-Utopismus nach 1945> der nur durch die dritte Ju gendbewegung des 20. Jahrhunderts, die internationale Stu demenrevolte, aufgelockert wurde, die Folgerung ziehen, das System der modernen »Gesellschaften<< hätte seine Orientie rung »nach vorn« verloren und seine Qualität als universales Ausbildungslager für ständig wachsende Virtuositäten bzw. >>Qualifikationen<< und »Kompetenzen« aufgegeben. In Wahrheit hat das globale System nach 1945 nur die fällige Kurskorrektur vollzogen. Es hat den Modus Revolu tion aus dem Katalog seiner operativen Optionen eliminiert und sich statt dessen ganz für den Modus Evolution entschie den. Das Auftauchen von neu-revolutionären Diskursen um
1 1 lm
auto-operativ gekrümmten Raum
1968 war nur eine erweiterte Romantik, die sich historische Figuren wie Lenin, Stalin, Mao, Brecht und Wilhelm Reich als Ready-mades aneignete. Im Hauptstrom der Zeit kam die Allmählichkeitspartei wieder an die Macht - angeführt von einer Elite entschlossener Berufs-Evolutionäre. Unter der an tirevolutionären Grundstimmung, die sich auf diskursiver Ebene als Antitotalitarismus bzw. Antifaschismus artikulier te, verbarg sich die Rückkehr zu den progressiven Traditio nen des Barock und der Aufklärung, deren pragmatischer Kern in der relativ stetigen und rational überwachten Erwei terung menschlicher Optionsräume besteht. Um an diesen Optimierungsbewegungen teiJzunehmen, brauchte man we der das Wort Fortschritt in Großbuchstaben zu schreiben noch den Glauben an die Göttin Geschichte zu heucheln. Die Entwicklung des westlichen Zivilisationskomplexes nach 1945 scheint den Gemäßigten nahezu uneingeschränkt recht zu geben. Sie brachte die Sättigung der Umwelt mit leicht zugänglichen Weltverbesserungsmitteln für die mei sten. Deren Verbreitung erfolgte teils über freie Märkte, teils durch Leistungen des Umverteilungsstaats und des überbor denden Versicherungswesens - den beiden unpolitischen Operationalisierungen der Solidaritätsidee, die für die prak tische Implantation linker Motive mehr bewirken, als eine politische Ideologie je vermocht hätte. Die wichtigste geistesgeschichtliche Reorientierung be stand jedoch darin, daß die Metanoia erneut die Richtung wechselte: Nach einer Ära blutiger Phrasen und maligner Ab straktionen erschien das Alltägliche wie etwas, worauf man sich erneut »besinnen« konnte. Unzählige begriffen: Das Hier und Jetzt war eine ferne Insel, auf die sie noch nie einen Fuß gesetzt hatten. Damit war eine Voraussetzung für die Wieder entdeckung der ethischen Differenz in ihrer ursprünglichen Form gegeben - der Unterscheidung zwischen der Sorge um sich und der Beschäftigung mit allem übrigen. Nichts war für die entzauberten Revolutionäre hilfreicher als die Reaktuali-
01
Die Exerzitien der Modemen
sierung dieser Unterscheidung. In dem Film Passion vonJean Luc Godard, 1982, spricht eine Figur den Schlüsselsatz der
1 1 Im auto-operativ gekrümmten Raum westlichen »Gesellschaften« unter Führung der USA den Steigungswinkel der ökonomischen und technischen Evolu
Zeit: »Man rettet sich nicht selbst, indem man die Welt rettet.«
tion seit den sechziger Jahren stetig angehoben - bis ein
gen tauchte sogar ein Wesen wieder auf, von dem man lange
Populationen mit ihrem davoneilenden Wirtschafts- und Me
Nach einem halben Jahrhundert militanter Jugendbewegun
.nichts gehört hane: der Erwachsene. Sein Wiedererscheinen sorgte für die Belebung von offensiven Pragmatismen, die leere Begriffshülsen wie »Demokratie«, »Zivilgesellschaft« und »Menschenrechte<< mit lohalt füllten. So entstand neben dem Bewußtsein des Erreichten eine breite Agenda von näch sten Optimierungsschritten an zahllosen Angriffspunkten progressiver Praxis. Sie bildet heute die reale Arbeitsform einer dezentralisierten Internationale, die sich in Zehntausen den von Projekten in den Traditionen des Weltverbesserungs elans artikuliert, ohne daß ein Zentralkomitee den Ak(iven sagen müßte oder auch nur sagen könnte, worin ihre nächsten Operationen bestehen sollten. 134 Der allesdurchdringende Pragmatismus der Nachkriegs zeit darf darum nicht als Restauration abgetan werden, wie ewige Jakobiner möchten. Er drückt zudem keine Rückkehr
Punkt erreicht war, von dem an das Mitgehenkönnen der diensystem problematisch wurde. Dies wird vor allem seit dem neo-liberalen Putsch gegen den Secni-Sozialismus der »gemischten Ökonomie<< manifest, die den Westen nach 194 �
bis zum thatcheristisch-reaganistischen Einschnitt der späten siebziger Jahre beherrscbte.135 Durch diese Klimaverschär fung erweist sich der globale Kapitalismus als die Agentur der »permanenten Revolution«, die die Ideologen der kom
munistischen Befehlswirtschaft vergeblich forderten. Die ge
mischte Wirtschaft war populär, solange sich ein sozialstaat
lieb domestizierter Kapitalismus als die Macht präsentieren konnte, die halbwegs hielt, was der deklarierte Sozialismus versprochen hatte. Inzwischen geht von der beschleunigten
permanenten Revolution, die seit zwei Jahrzehnten >>Globa lisierung« heißt, für Unzählige die Nötigung aus, erneut an
der Erweiterung ihrer Passivitätskompetenz zu arbeiten. Den
zur Bescheidenheit aus. In Wirklichkeit hat der Komplex der
letzten Liebhabern der »permanenten Revolution« in Europa
134 Vgl. Jean Zicglers Aufsatz: Gier gegen Vernunft, in: Tugenden und
renen Bequemlichkeit des Rheinischen Kapitalismus. 136 Den
Laster. Gradmesser der Menschlichkeir, herausgegeben vom ZDF-Nachtsrudio, Frankfurt am Main 2004, S. 2pf.: »Wo ist Hoffnung? Ganz neue soziale Bewegungen, eine mächtige Zivil gesellschaft . . . entstehen. Widerstandsfronren brechen überall auf dem Planeten auf. Ihre Methoden des Kampfes sind überall ver schieden, die Motivation überall dieselbe: der moralische Impera tiv . . . Über rooooo Menschen aus fünf Kontinenten - stellver tretend für über Sooo Bauernsyndikare, Industriegewerkschaften, Frauenbewegungen, Nicht-Regierungsorganisationen, die für Menschenrechte, Umwelt, gegen Folter und Hunger kämpfen fanden sieb im letzten Januar (2004) zum Weltsozialforum in Bombay zusammen. Ohne Hierarchie, ohne Zentralkomitee, oh ne ein ausgeklügeltes imperatives Programm. Als Bruderschaft der Nacht, als lebendige Figur der Solidarität. Wir wissen genau, was wir nicht wollen.«
_ _.....
mißfäUt das sehr - sie träumen unnachgiebig von der verlo
Härten des erweiterten Weltmarkts ausgesetzt, spüren sie den
r 3 5 Die Existenz des •gemischten Wirtschaftssystems• von den Ncw Deal-Jahren bis zum Beginn der Thatcher-Ära wird von der ideo logisch verzerrten Kritik am »Kapitalismus« regelmäßig überse hen. Ironischerweise fiel die Bewegung von 1968, die in der Sache die Umstellung von Stalinismus auf Maoismus bzw. auf alternativ linke Positionen brachte, in die beste Zeit des real existierenden Rheinischen Semi-Sozialismus. Vgl. Daniel Yergin/Joseph Stanis law, Staat oder Markt. Die Schlüsselfrage unseres Jahrhunderts, Frankfurt/New York 1999, S. 22-87. 136 Beim Studium der Parteiprogramme der drei trotzkistischcn Kan didaten bei den französischen Präsidentschaftswahlen im Apri' 2007, Olivier Besancenot, Arletre ArguiUer und Gerard Schivardi,
lll
Die Exerzitien der Modernen
Zwang, sich wieder einmal operieren zu lassen - diesmal, um ihre Wettbewerbsfitness auf den unberechenbarer geworde nen Weltmärkten zu verbessern. In der großen Finanzkrise des Jahres 2oo8 jedoch holt die Notwendigkeit, sich operie
I 2 ÜBUNGEN UND FEHLÜBUNGEN ZuR KRITIK DER WIEDERHOLUNG
ren zu lassen, auch die Operareure ein. Die epochenübergreifende Tendenz der Moderne zur Dever
Zur Unterscheidung der Wiederholungen verdammt
tikalisierung der Existenz setzte sich auch unter den aktuellen Bedingungen fort. Zugleich verlangten die symbolischen Im
Die ethische Unterscheidung wurde von dem Augenblick an
munsysteme nach Feineinstellungen, die manche Automatis
wirksam, in dem die Wiederholung ihre Unschuld verloren
men des allzu groben Säkularismus durchbrechen. Daher
hatte. Mit dem Auftauchen von Asketen und Askesen in
rührt das weitverbreitete neue Interesse an )>religiösen« und
der Dämmerung der Hochkulturen manifestierte sich eine
spirituellen Überlieferungen - und der diskret wiedererwa
Differenz, die in früheren Zivilisationsstufen nicht explizit
chende Sinn für vertikale Imperative. Tatsächlich hatte sich in
entfaltbar war: Indem sie den Rückzug wählten, betrieben
resoluter Antivertikalismus durchgesetzt: im Existentialis
Formen und Haltungen des Lebens. Sie kündigten die ein
mus als Kult der Endlichkeit, im Vitalismus als Kult der Ver
geschliffenen Wiederholungsreihen auf, um andere Reihen,
den dominierenden Spielarten des Zeitgeistes nach 1 945 ein
ausgabung, im Konsumismus als Kult des Stoffwechsels, im
die frühen übenden Ethiker den Bruch mit den gewöhnlichen
andere Haltungen an ihre Stelle zu setzen - nicht beliebig
Tourismus als Kult des Ortswechsels. In dieser entgeisterten
andere, vielmehr heilsträchtig andere. Wo die ursprüngliche
Zeit fiel den Spitzensportlern die Rolle zu, das heilige Feuer
Unterscheidung der hohen und heilsamen Lebensformen von
der Übertreibung zu hüten. Sie sind die Übermenschen der modernen Welt, geköpfte Übermenschen, die in Höhen stre
den heillosen gewöhnlichen ihren Einschilitt setzt, tut sie dies im Modus einer neuro-ethischen Programmierung, die den
ben, wohin der alte Mensch nicht folgt - auch nicht in ihnen
ganzen alten Apparat gegen sich selbst wendet. Hier gibt es
selbst. Es sind die inneren Androiden, die jetzt immer weiter
anfangs keine Zwischenformen. Gemeinsam gewinnen Leib
über sich hinausgehen. Dem alten Menschen in den Athleten selbst bleibt nur ein dumpfer Kommentar zu den Darbietun gen des Überandroiden, den sie verkörpern.
und Seele das andere Ufer oder keines von beiden. The whole
man must move at once. Durch die radikale Absetzung der Asketen, der Heiligen, der Weisen, der übenden Philosophen und später der Artisten und Virtuosen vom Daseinsmodus derer, die im Durch schnittlichen, Ungefähren, Unqualifizierten weitermachen, wird die primäre anthropologische Entdeckung bezeugt:
die zusammen 2,2 MiUionen Stimmen auf sich vereinigten, ergibt sich ein paradoxer Befund: Sie plädieren ausnahmslos für die Suspension der permanenten Revolution des Kapitals und für die Rückkehr ins Zeitalter der sozialen Sicherheit.
Der Mensch ist ein Lebewesen, das zur Unterscheidung der Wiederholungen verdammt ist. Was man in späteren Philoso phien Freiheit nennt, manifestiert sich anfangs in dem Akt, mit dem die Dissidenten sich gegen die Herrschaft der innere11
Ill Die Exerzitien der Modernen
u
Übungen und Fehlübungen
und äußeren Mechanik auflehnen. Indem sie den gesamten
Dekontamination. Darum setzen viele spirituelle Schulen das
Bereich der eingefleischten Leidenschaften, der erworbenen
Schweigen ein, um das Phrasendepot zu leeren - eine Pro
Gewohnheiten, der übernommenen und sedimentierten Mei
zedur, die in der Regel länger dauert als eine große Psycho
nungen auf Distanz bringen, schaffen sie Raum für eine um
analyse. Pythagoras soll von seinen Schülern zu Beginn der
fassende Verwandlung. Nichts kann am Menschen bleiben,
Lehrzeit ein fünfjähriges Stillschweigen gefordert haben.
wie es war- die Gefühle werden reformiert, der Habitus wird
Noch Nietzsche praktiziert in dieser Tradition: »Alle Un
neu geprägt, die Gedankenwelt von Grund auf restrukturiert,
geistigkeit, aJle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen,
das gesprochene Wort saniert. Das ganze Leben erhebt sich als
einem Reize Widerstand zu leisten - man muß reagieren, man folgt jedem Impulse.<< 1 37 Spirituell ist die Übung, die
Neubau auf dem Fundament der guten Wiederholung. Eine erste Aufklärung geschah, indem die spirituellen Leh
solches Müssen außer Kraft setzt.
rer zeigten: Der Mensch ist nicht so sehr von Dämonen be
Diese Deautomatisierung, diese Befreiung von der Anscek
sessen als von Automatismen beherrscht. Nicht böse Geister
kung durch das Ungeprüfte, das sich blind reproduziert, muß
setzen ihm zu, es sind Routinen und Trägheiten, die ihn zu
vom methodischen Aufbau einer neuen spirituellen Struktur
Boden drücken und deformieren. Was seine Vernunft trübt,
begleitet werden. Nichts könnte den Pionieren der ethischen
sind nicht zufällige Irrtümer und okkasionelle Wahrneh
Unterscheidung fremder sein als der moderne Spontaneismus,
mungsfehler - es ist die ewige Wiederkehr der Klischees,
der den Schock, die Irritation und die Unterbrechung des Ge
die wah.res Denken und freies Wahrnehmen verunmöglichen.
wohnten per se als ästhetische Werte kultiviert, ohne zu fragen,
Platon war neben Gautama Buddha der erste Epidemiologe
was an die StelJedes Unterbrochenen treten soll. Das ursprüng
des Geistes: Er erkannte in der alltäglichen Meinung, der
liche ethische Leben ist reformatorisch. Stets will es die
doxa,
die Pest, an der man zwar nicht stirbt und die doch
schlechte Wiederholung gegen die gute tauschen. Es möchte
von Zeit zu Zeit ganze Gemeinwesen vergiftet. Phrasen, die
korrupte Lebensformen durch integre ersetzen. Es strebt da
in den Körper abgesunken sind, erzeugen »Charaktere«. Sie
nach, dem Unreinen auszuweichen und ins Reine einzutau
formen die Menschen zu lebenden Karikaturen der Durch
chen. Daß diese binären Entgegensetzungen teuer zu bezah
schnittlichkeit, sie machen aus ihnen fleischgewordene Plati
lende Simplifikationen mit sich bringen, tut hier fürs erste
tüden. Weil das Dasein in der ethischen Unterscheidung mit
nichts zur Sache. Wichtig ist nur: In diesem Rahmen emergiert
der Vernichtung der Phrasen beginnt, mündet sie unweiger
individualisierte Freiheit in ihrer ältesten und heftigsten Ge
lich in der Aufhebung der Charaktere. Zum Charme freier
stalt. Sie geht aus der verlegen machenden Entdeckung hervor:
Menschen gehört es, daß sie die Karikatur durchscheinen
Es gibt eine Wahl, die alle Vorzeichen menschlieben Verhaltens
lassen, zu der sie hätten werden können. Wer auch die aus tilgen wollte, wäre der Mensch ohne Eigenschaften, befreit zur Urteilslosigkeit, zur Charakterlosigkeit, zur Geschmack losigkeit. Ein solcher Mensch dürfte wie Monsieur Teste kon statieren: »La betise n 'est pas mon fort.« Er wäre der Mensch,
der die Marionette in sich getötet hat. Die Wandlung ge
schieht durch psychische Deautomatisierung und mentale
verändert. Die ersten Ethikerstehen vor der Entscheidung zwi schen einem Leben in den zumeist unbemerkten eisernen Ket ten der unwillkürlich erworbenen Gewohnheiten und einem Dasein an der ätherischen Kette frei angenommener Disziplin. 137
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Was den Deutschen
abgeht 6.
Ul Die Exerzitien der Modernen
Man könnte aus diesen Hinweisen keinen falscheren Schluß ziehen, als anzunehmen, das Auftauchen des förmlichen Übungsbewußtseins gehe allein die Aktiven etwas an. Mögen die Sadhus in ihren Waldeinsamkeiten sich mü komplizierten Atemübungen quälen; sollen die Styliten auf ihren absurden Säulen sich dem Himmel näher fühlen, mögen die Philoso phen ihren zweiten Mantel verkaufen und auf dem Boden schlafen - die durchschnittlichen Sterblichen werden trotz dem an der Meinung fcsthaltcn, diese extravaganten Verfrem dungen des Gewöhnlichen seien für sie bedeutungslos, sie seien Angelegenheit eines heilig-perversen Privatissimum zwischen dem unbegreiflichen Gott und seinem artistischen Gefolge. Wer daran nicht teilnehmen kann, darf im alten Ha bitus fortfahren, der, obwohl nicht vollkommen, fürs tägliche Leben gut genug scheint.
Das Lebewesen, das nicht nicht üben kann
In Wahrheit wird durch die Sezession der Übenden das ge samte Ökosystem menschlichen Verhaltens auf veränderte Grundlagen gestellt. Wie alle Explizitmacbungen bewirkt auch das Auftauchen der frühen Übungssysteme eine radika le Modifikation des jeweiligen Bereichs - das heißt des gan zen Feldes psychophysisch konditionierten Tuns. Die expli ziten Übungen, ob es die asanas der indischen Yogi sind, die stoischen Experimente mit dem Weglassen des Nicht-Eige nen oder die exercitationes spirituales christlicher Kletterer auf der Himmelsleiter, werfen einen Schatten auf alles, was ihnen auf der impliziten Seite gegenüberliegt - das ist nicht weniger als die Welt des alten Adam, das riesenhafte Univer sum der unbeleuchteten Üblichkeiten. Die Schattenzone um faßt den Bereich, der durch Wiederholungen von nicht-de klariertem Übungscharakter beherrscht wird. Man darf die Frage offenlassen, ob es die von Freud reklamierte psycho-
12 Übungen und Fehlübungen
analytische Kränkung des Menschen je wirklich gegeben hat, ausgelöst durch die vorgeblich unwillkommene Entdeckung, das Ich sei nicht Herr im eigenen Hause. Mit Gewißheit gibt es die behaviouristische Kränkung des Menschen, die eben sogut die asketologische heißen kann. Sie folgt aus der Fest stellung, wonach unser Dasein sich zu 99,9 % aus Wieder holungen zusammensetzt, von denen die meisten strikt mechanischer Natur sind. Diese Kränkung ist nur durch die Einbildung zu bewältigen, man selbst sei trotzdem origineller als so mancher andere. Setzt man sich einer anspruchsvolleren Selbstbeobachtung aus, gerät man in den psychosomatischen Maschinenraum der eigenen Existenz. Dort ist für die übliche Spontaneitätsschmeichelei nichts zu holen, auch Freiheits theoretiker bleiben besser oben. Bei dieser Untersuchung dringt man in ein nicht-psycho analytisches Unbewußtes vor, das alles umfaßt, was zu den normalerweise unthematischen Rhythmen, Regeln und Ri tualen rechnet, gleich ob es auf kollektive Muster oder auf idiosynkratische Spezialisierungen zurückgeht. In diesem Bereich ist alles höhere Mechanik, intime Einbildungen von Nicht-Mechanik und unkonditioniertem Für-sich-Sein inbe griffen. Die Summe dieser Mechaniken erzeugt den Überra schungsraum Persönlichkeit, in dem doch nur äußerst selten Überraschendes geschieht. Die Menschen bewohnen nicht Territorien, sondern Gewohnheiten. Radikale Umzüge grei fen zuerst die Einwurzdung in den habits an, erst dann die Orte, in denen die Gewohnheiten gründen. Seit die Wenigen explizit üben, wird evident, daß implizit alle üben, ja mehr noch, daß der Mensch ein Lebewesen ist, das nicht nicht üben kann - wenn üben heißt: ein Aktions muster so wiederholen, daß infolge seiner Ausführung die Disposition zur nächsten Wiederholung verbessert wird. So wie Herr K. stets seinen nächsten Irrtum vorbereitet, so tref fen Menschen insgesamt immerzu die notwendigen Vorkeh rungen, um zu bleiben, wie sie bis zu dieser Minute ware::-.
In
Die Exerzitien der Modemen
Was nicht ausreichend oft wiederholt wird, atrophiert- man
kennt das aus alltäglicher Anschauung, wenn etwa die Mus kulatur stillgelegter Gliedmaßen sich schon nach wenigen Tagen zurückbildet, als ob sie aus ihrem zeitweiligen Nicht gebrauch auf ihre Überflüssigkeit schlösse. In Wahrheit muß man wohl auch den Nichtgebrauch von Organen, Program
men und Kompetenzen für Übungen in absteigender Linie halten. Wie es implizite Fitnessprogramme gibt, so auch im plizite Unfitnessprogramme. Darum warnt Seneca seinen
Zögling: »ein einziges Winterquartier ließ Hannibal erschlaf fen.«138 Andere Schwächungszustände setzen zuweilen jah relange Verwahrlosungsarbeit voraus. 139 Hieraus folge: Schon die einfache körperliche, besser: neu ro-physische Formbewahrung ist nur als Effekt eines nicht deklarierten Trainings zu begreifen. Hierunter sind Roucinen zu verstehen, durch welche die Standardbewegungen eines Organkomplexes in unauffälligen Prozeduren hinreichend häufig abgerufen werden, um diesen auf seinem aktuellen Fitnessstatus zu stabilisieren. Die Selbstakcivierungen von Organismen in stets von neuem durchzuspielenden Abläufen nicht-deklarierter Übungsprogramme summieren sich zu einer stummen Autopoiese: \'qas ao den Lebewesen wie ein fache Identität mit sich selbst erscheint, ist de facto das Resul tat einer permanenten Selbstreproduktion dank der Bewälti gung unsichtbarer Trainingsprogramme. Wahrscheinlich sind die nächtlichen Gehirnakcivitäten, von denen man einen Teil als Träumen erlebt, in der Hauptsache Back-up-Prozesse für das Selbstprogramm in seinem Zustand vor der letzten Wach phase. Das Selbst ist ein Gewitter aus Wiederholungsreihen
unter einem Schädeldach. 138 Senec� Epistolae morales ad Lucilium, 5 1 . Bri ef.
139
Vgl. Emjf Szittyas Bericht von einem seltsamen Heiligen in As cona um 1910, der sich mit siebtbarem Erfolg zu der Auffassung bekannte, der Mensch müsse daran arbeiten, bei lebendigem Leib
zu verrotten. In: Das Kuriositäten-Kabinett, Konstanz 192 3, S. 99·
-
12 Übungen und Fehlübungen
Personale Identität liefert daher keinen Hinweis auf eine psychische Essenz oder eine träge Form, sie zeige vielmehr die tätige Überwindung einer Zerfallswahrscheinlichkeit an. Wer mit sich selbst identisch bleibt, bestätige sich hierdurch als ein funktionierendes Expertensystem, das auf fortlaufende Selbstwiederherstellung spezialisiert ist. Bei überraschungs
offenen Lebewesen vom Typus homo sapiens ist nicht einmal Trivialität umsonst. Sie ist nur durch eine ständige Identitäts pflege zu erreichen, deren wichtigstes Hilfsmittel in der Selbst-Retrivialisierung nach innen wie nach außen gefunden wird. Retrivialisierung meint die Operation, dank welcher lernfähige Organismen imstande sind, Neues zu behandeln,
als wäre man ihm nie begegnet - sei es durch seine mechani sche Gleichsetzung mit Bekanntem, sei es durch offene Leug nung seines Belehrungswerts. Daher hat das Neue zunächst und zumeise keine Chance auf Integration in den Apparat der operanten Gesten und Ideen, weil es entweder dem Bekann ten oder dem Bedeutungslosen zugeordnet wird.
140
Wenn im Gegenzug die neoiatrische Kultur der Moderne
dem Neuen per se Bedeutung untersteHt, bewirkt das eine
Aufhellung des globalen Lernklimas - der Preis hierfür ist eine historisch nie dagewesene Verblendungsbereitschaft, die Trugbildern des Neuen unbegrenzten Kredit gewährt.
Im übrigen darf man selbst manifeste Dummheit nicht mehr als simples Datum nehmen: Sie wird durch ein langes Training in Lernvermeidungsoperationen erworben. Nur nach einer hartnäckig fortgesetzten Serie von Selbst-Knock-outs der In telligenz kann sich ein Habitus zuverlässiger Stupidität stabi-
t4o Folglich kann der von Alasdair Maclntyre vorgeschlagene »narrative Begriff des Selbst« (Der Verlust der Tugend, a. a. 0., S. 29of.), der die Möglichkeit persönlicher Identität begründen soll, nicht leisten, was er verspricht, weil diese nur zu einen klei nen Teil auf bewußren und erzählbaren Veränderungen beruht, zum größten hingegen auf automatischen und nicht-erzählbaren Veränderungsverweigerungen sowie auf unbewußren und mime tischen Anpassungen.
Ill Die Exerzitien der Modemen
lisieren - und sogar dieser läßt sich jederzeit durch einen Rückfall in die Nicht-Dummheit dementieren. Umgekehrt ist jeder lerntheoretischen Romantik mit Skepsis zu begeg nen, auch wenn sie unter klassischen Namen auftritt. Aristo teles sprach als Romantiker, wenn er im ersten Satz der .Me taphysik statuierte: »Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.« In Wahrheit stößt jedes Wissensstrebe n - von Aristoteles vor allem als primäre Augenlust aufgefaßt - an seine Grenzen, sobald Neues auftaucht, das man nicht sehen will. In der Regel sind das Anblicke, die mit dem Imperativ der Identitätsbewahrung nicht verträglich sind. Der vielge lobte Wissenstrieb des Menschen verwandelt sich dann im Nu in die Kunst, nichts gehört und gesehen zu haben. Durch die ethische Unterscheidung wird nicht nur der kaschierte Übungscharakter des gewöhnlichen Lebens ent hüllt. Sie legt auch das Gefälle zwischen dem bisherigen Da sein im Gewohnten und den neu zu wählenden metanoeti schen Lebensformen offen. Diese Unterscheidung verlangt Grausamkeit gegen sich selbst und andere, sie erzeugt Über forderung im nacktesten Zustand. lhre Originalstimme ist zu hören, wenn Jesus sagt: Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.141 Wer sich nicht lossagt von allem, was er hat, kann nicht mein Schüler sein. 142 Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. 143 D ie Klinge der Unterscheidung ist die Apoka lypse, die jetzt geschieht oder nie.
Umübung aller Übungen So wie der unerwartete Selbstmord eines Bekannten dessen gesamte Mitwelt in Frage stellt, so problematisiert die Kon141 Matthäus 10, 37· 142 Lukas 14, 33. 143 Mattl1äus 10, 34·
12 Übungen und Fehlübungen
version eines Einzelnen zur Philosophie oder sein Eintritt in eine ethische Gruppe den modus vivendi all derer, mit denen er bis dahin unter einem Dach lebte, denselben Sitten ver pflichtet, von denselben Gewohnheiten imprägniert, in die selben Geschichten verstrickt. Jede Konversion impliziert den Sprechakt: »Hiermit trete ich aus der gemeinsamen Wirk lichkeit aus« oder zumindest die Absichtserklärung: »Ich will das Kontinuum des Falschen und Schlechten v erlassen. Da zu braucht der Adept nicht das Schiff zu besteigen, das ihn zur Insel Utopia brächte. Die Zielorte liegen oft nur ein paar Wegstunden von den aussichtslosen Dörfern entfernt oder eine Tageswanderung weit von der agitierten Stadt. Wer diese Heterotopien aufsucht, weiß, daß er, dort angekommen, viel weitere innere Wege zurückzulegen hat als äußere. Wird ein Bewerber in eine Gemeinschaft von Übenden auf genommen, besteht sein weiteres Leben in der systematisch betriebenen Umwertung der Werte. Die Prozedur hieß bei den Kynikern »die Münze umprägen« -paracharattein to n6misma -, was auch »die Sitten ändern« bedeutet. Eine Geld fälschermetapher liefert das Schlüsselwort zur Geschichte der höheren Moral. Die ethischen Münzstätten sind Trainings lager für das umzuformende Ethos. Bei den Kynikern des 4· Jahrhunderts vor Christus implizierte das: sämtlichen Ver haltensweisen eine Absage erteilen, die auf willkürlicher Men schensatzung beruhen, um künftig ausschließlieb aufdiephy sis zu horchen. Diese ungenierten Dissidenten dürften die einzigen Weisen gewesen sein, die meinten, man könne der gleichen mitten in der Stadt tun - eine freie Tonne vorausge setzt. Den übrigen Adepten der ethischen Differenz war klar, daß man dem gewohnten Aufenthaltsort besser den Rücken kehrt. Da Ethos und Topos zusammengehören, verlangt das andere Ethos nach dem anderen Obdach- an den Ursprung darf nur zurückkehren, wer am neuen Ort und im anderen Habitus so tief verankert ist, daß er am alten keinen Rückfall riskiert. Bis dahin ist es gut, einen geschützten Raum zu b::<<
12
111 Die Exerzitien der Modernen
asketeria, des indischen ashram, der oberägyptischen Eremi
wohnen, in dem das, was die Vielen für richtig halten - ton
pollon doxa 144 -,
Übungen und Fehlübungen
tenklause war jedoch die gesamte empirische Menschenwelt
am besseren Wissen der Wenigen abprallt.
schon früh nichts anderes als ein korruptes Trainingslager, in
Bei den frühen griechischen Christen nannte man ein abgele
dem bei Tag und Nacht umfassende Falschheirsübungen ab liefen - unter der Leitung halbklarer Könige im Rang von
genes Trainingzentrum unbefangen nach dem, was in ihm ge trieben wurde: asketerfa, gelegendich auch hesychasterfa, Ort
Göttern, scheinwissender Ältester und trüb-strenger Priester,
des Stille-Exerzitiums. Das indische Wort ashram, bis heute
die sich nur auf die Weitergabe konventioneller Regeln und
lebhaft in Gebrauch, bezeichnet den »Ort der Anstrengung«.
leerlaufender Rituale verstanden: Sie übersetzten äußere Not
Hingegen bedeutet sannyasin, der indische Name der Verzich
wendigkeiten in heilige Sitten, um dann die Sinen wie heilige
tenden, wörtlich: der, der alles abgelegt hat -einschließlich der
Notwendigkeiten zu verteidigen. Der Rest ist »Kultur« - so
Bindungen an die profane Bleibe. Noch von dem indischen Weisen Tota Puri, ca. 1 8 1 5 - ca. 1 87 5> dem Lehrer Ramakrish
fern damit die Kopiermaschine bezeichnet ist, die uns die
liefert, er habe zeitlebens nie Kleider getragen, nie unter einem
nes Memplexes) durch die Übertragung geltender Muster von
nas, der den Beinamen »der Nackte«
Selbsterhaltung des Konventionenkomplexes (neuerdings: ei
(nangka) trug, ist über
einer Generation auf die nächste und übernächste garantiert.
Dach geschlafen und sich nie länger als drei Tage an einem Ort
Alle Moralphilosophie ist darum oberflächlich, die nicht in
aufgehalten. Für Nietzsche, nur eine Generation jünger als der
einer Unterscheidung der Gewohnheiten gründet. Auch eine
ausweichende Inder, hieß der andere Ort Sils Maria, am Fuß
Kritik derpraktischen Vernunft lebt von ungarantierten Vor
von Bergen, die sich in derstrengen Glätte des Silvaplaner Sees spiegeln, •sechstausend Fuß jenseits von Mensch und Zeit«.
aussetzungen, solange nicht die wichtigste anthropologische
Die ethische Umerscheidung löst die Katastrophe der Ge
festen schlechten Gewohnheiten herausgelöst werden können
Prämisse geklärt ist: ob menschliche Wesen überhaupt aus und unterwelchen Bedingungen es ihnen gelingt, sich in guten
wohnheiten aus. Sie stellt den Menschen bloß als ein Wesen,
Gewohnheiten neu zu verankern. KantS bekanntes Argument
das sieb an alles gewöhnt. Die »Tugend« ist eine Möglichkeit
aus der Friedensschrift, selbst »ein Volk von Teufeln«, wenn es
von Gewöhnung unter anderen. Ebenso aber ist der Mensch
nur Verstand habe, müsse sich, um einen passablen modus vivendi zu finden, eine Rechtsordnung geben, die einer bür
imstande, sich das Schlechteste zu eigen zu machen, bis es ihm wie eine unantastbare Selbstverständlichkeit erscheint. Wer
gerlichen Verfassung zum Verwechseln ähnlich sähe, leidet an
beute als Bewohner eines etwas freieren Landes auf die Ver
der Verkennung der antimoralischen Gravitation: »Teufel
hältnisse in manifesten Diktaturen schaut, hat hierfür reiche
sein« - ob arm oder böse, sei dahingestellt - ist ja nur eine
Evidenz, ob sie den Tagesnachrichten entstammt oder dem
Metapher für die Fixierung eines Akteurs in einem unverstän
Archiv. Man muß einen Nürnberger Reichsparteitag, eine Moskauer Parade am
I.
digen Habitus, und ebendessen Aufhebung macht sich Kant in
Mai oder eine massengymnastische
seinem Plädoyer
Performance in Pjöngjang gesehen haben, um einen Begriff davon zu erhalten, bis wohin die Anhänglichkeit ans Abscheu
145
lichste reichen kann. Aus der Perspektive der griechischen 144
Vgl. ]ulian Apostata, Oratio 7, 225 D-226 A.
...
zu
leicht.145 Die Kamischen Teufel sind
Zumindest an der genannten Stelle. In seinen früheren Vorlesun gc� z�r P:idagogik blickt Kam tiefer, indem er punktuell auf pralog1sche Voraussetzungen des Vernunftannehmenkönnens ei ngeht. In Rinks Nachschrift heißt es in Artikel 7: ,.Derjenige.
1!1 Die Exerzitien der Modernen Kaufleute, die wissen, bis wohin sie zu weit gehen dürfen,
1 2 Übungen und Fehlübungen
6p
schöpfung folgen oc..ler aus dem durchschlagenden Sieg einer
brave Egoisten, die ihr Rational-choice-Seminar besucht ha
Partei. Systemiker sagen darum, zum Zubehör des Bösen ge
ben. Ein wirkliches Volk von Teufeln verkörpert ein Kollektiv
hört die Unfähigkeit zu siegen.
aus Fatalisten, bei denen die Entdisziplinierung das funda mentalistische Niveau erreicht. Sie hausen nicht bloß in den Kellerlöchern von St. Petersburg, sie sind in j�der aussichts
Woher die schlechte Gewohnheit kommt: Zur Metaphysik des Eisernen Zeitalters
losen Banlieue, jeder chronischen Kampfzone beheimatet. In solchen Lagen ist der Einzelne überzeugt, nichts sei normaler als die Hölle, die man sich gegenseitig bereitet, seit man den
Bevor man die Frage entscheidet, ob Menschen aus schlechten
ken kann. Kein Teufel ohne seinen Kreis, keine Hölleohne den
Gewohnheiten zu entwurzeln sind und, falls ja, auf welche
Kreis aus Kreisen. Wer sich an die Hölle gewöhnt hat, ist gegen
Weise, sollte man rekapitulieren, wie es dazu kommen konnte,
die Aufforderung immun, sein Leben zu ändern, und wäre es
daß sie jemals in ihnen Fuß faßten. Statt 1mde malum? fragen
im eigenen Interesse. Was eigenes Interesse heißt, ist bereits
wir jetzt
vom Laufen im schlimmen Kreis eingefangen. Unter solchen
gischen Antworten liegen in Form von Lasterkatalogen vor,
Bedingungen ist fast gleichgültig, welche Vorgaben man wählt, um die Insassen je eigener circuli vitiosi zur Vernunft
unter denen die siebenteilige Liste Gregors des Großen aus dem späten 6. Jahrhundert am erfolgreichsten wurde. 147
zu bringen, der Mißerfolg ist so oder so gewiß: Weder darf
In ihnen wird statuiert, der böse Habitus sei Folge eines
man sich von der inneren »moralischen Besserung der Men
bösen Beschlusses, hervorgegangen aus dem Müßiggang, an
schen« etwas erhoffen, die auch Kam lebensklug zurückstellt,
getrieben vom Hochmut. Manche mythischen Antworten
noch vom äußerlichen »Mechanism der Natur durch selbst
reichen tiefer, weil sie über das Individuum hinausblicken
unde maiA habitudo? Die klassischen
moraltheolo
süchtige Neigungen«, von deren gegenseitiger Neutraüsie
und die üble Gewohnheit mit dem Zwang in Verbindung
rung der Philosoph sich zumindest den erzwungenen Frieden
bringen, eine karge Welt zu bewohnen. Wäre dies eine kul
verspricht. Erfahrung zeigt, Frieden zwischen Bewohnern
turhistorische Untersuchung, hätte hier ein Passus über die
von Höllenkreisen resultiert nicht aus der gegenseitigen
Naturgeschichte des Mangels und seine Übersetzung in die
Temperierung der »selbstsüchtigen Neigungen«, sondern
Humansphäre zu folgen. In unserem Kontext genügt der
aus handfesten Asymmetrien. Die können aus einseitiger Er-
Hinweis, daß die frühesten Artikulationen der Verlegenheit,
der nicht kultiviert ist, ist roh, wer nicht disz.i.r. liniert ist, ist wild. Verabsäumung der Disziplin ist ein größeres Ubel, als Verabsäu mung der Kultur, denn diese kann noch weiterhin nachgeholt werden; Wildheit aber läßt sich nicht wegbringen, und ein Ver sehen in der Diszip�n kann nie ersetZt werden.« Vgl. lmmanucl Kant, Werke, Band XII, S. 700 (zitiert nach Christopher Korn, Bildung und Disziplin, a. a. 0. S. toof.). 145 Imrnanuel Kant, Zum Ewigen Frieden, in: Schriften zur Anthro pologie, Geschichtsphilosophie und Pädagogik, Erster Teil, Darmstadt 1968, S. 224f.
ein Mensch zu sein, in die Ära der mesopotamischen und mediterranen Imperien zu datieren sind. Hier sprechen an onyme Autoren zum ersten Mal von einem Unbehagen in der Welt, das über jedes Unbehagen in der Kultur hillausweist. Aufschlußreiche Aussagen über die Entstehung negativer
147 Sie umfaßt die fünf spirituellen Laster: mperbia, acedia oder tri stitia, avaritia, invidia, ira sowie die beiden fleischlichen Laster luxuria und gula (Stolz, Faulheit/Depression, Geiz, Neid, Zorn, Geilheit, Völlerei/Maßlosigkeit).
-
6p
lii Die Exerzitien der Modemen
Habitualisierungen liefern uns die beiden großen Mythen über die conditio
hu.mana, die die Anfänge des altabendländischen
Zivilisationskomplexes markieren-auf jüdischer und christ licher Seite die biblische Erzählung von der Vertreibung des ersten Menschenpaares aus dem Paradies, auf griechisch-römi scher Seite die Lehre vom Goldenen Zeitalter, das aufgrund einer dunklen Verschlechterungskausalität über die Zwischen stufen des Bronzenen und des Silbernen in das gegenwärtige Eiserne Zeitalter gemündet sei. Beiden Erzählungen ist der Vorsatz gemeinsam, die Normalität des Schlechten zu erklä ren. Was sie in scharfen Gegensatz zueinander steiJt, sind die Mirtel, mit denen sie dieses Ziel anstreben. Die erste erläutert den Aufenthalt der nach-paradiesischen Menschheit in einer chronisch unbefriedigenden Wirklichkeit mittels eines mora lischen KatastrophenmodeiJs, genannt der Sündenfall, die zweite leitet die Verlegenheiten des Menschengeschlechts aus einem Schicksalsgesetz ab, nach dem die Gegenwart als dritte Verfallsstufe in einem providentiellen Verschlimmerungspro
1 .z. Übungen und Fehlübungen
da Menschen, wie empirische Befunde zeigen, deutlich lei densfähiger werden, wenn sie ein klares Wozu vor Augen haben-oder in Ermangelung eines Wozu zumindest ein War um und Woher. Der christlichen Rezeption der Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies verdankt man die Ent stehung einer Zivilisation, deren Angehörige nicht in Not geraten können, ohne zu denken, sie hätten ihre Malaise ver dient. Die Bereitschaft, sich für sein Leiden schuldig zu füh len, wird von uns regelmäßig wie ein Beitrag zu einer seman tischen Krankenkasse erbracht, ja, was man das Bekenntnis zur christlichen ,.Religion« genannt hat, war oft nicht mehr als unser Pflichtbeitrag zu diesem Schuldsystem. Im aktuellen Zusammenhang kommt es jedoch auf das gemeinsame Engagement der jüdischen wie der griechisch römischen Erzählungen an, die Situation des Menschen in der Welt als Daueraufenthalt in einem malignen Milieu auszule gen. Beide gehen von der Evidenz aus, das menschliche Da sein sei in seiner jetzigen Erscheinungsform von Grund auf
zeß erscheint. W ährend der üble status quo im moralistischen
ein In-der-Not-Sein-die Notwendigkeit der Gewöhnung an
erklärt wird, braucht der Weltaltermythos drei Stufen abwärts,
täre Evidenz aufrecht, die aktueUe Lage sei nur durch den
Modell als Folge des Überscbreitens einer einzigen Schwelle um die Befangenheit der Menschen in den Mißverhältnissen des Eisernen Zeitalters zu deuten. Ich möchte mich hier nicht mit dem Befund aufhalten, daß die fatalistische Deutung die moralistische an kontemplativer Weite wie an geschichtsphilosophischem GehaJt bei weitem
übertrifft, indessen die moralistische ihren Adressaten wegen
ihrer invasiven Tendenz tiefer unter die Haut dringt. Aus
systemäseher Siehe enthält die biblische Erzählung ein be
trächtliches Element von moral insanity, da sie den chronisch
belasteten Menschen den Stachel noch tiefer ins Fleisch drückt, um ihre Lage als Erblast und wohlverdiente Strafe
zu interpretieren. Zugleich entbehrt das kulpabilistische Ar rangement nicht einer gewissen psychagogischen Klugheit,
die Not inbegriffen. Gemeinsam halten sie die komplemen Abfall von etnem ursprünglich ganz anderen Zustand zu be greifen. Das chronische Elend tritt erst infolge von epochalen Verschlechterungen auf, seien sie graduell und auf Wieder holung angelegt oder einmalig und katastrophisch. Das habi tualisierte Elend wird hier wie dort differentiell erfahren: Im Realen kontrastiert es mit dem
modus vivendi
glücklicher
Einzelner, denen es auch heute besser ergeht als den meisten; im Imaginären mit den Vorstellungen von Zeiten, in denen es alle besser hatten. Diese Differenz üefert die Matrix für die Suche nach dem anderen Zustand. »Wo das Leben selbst eine Entziehungskur ist, gedeiht der Boden für die Sucht . . .
«
148
148 Pccer Weibel unter Mitwirkung von Loys Egg, Lebenssehnsucht und Sucht, Berlin 1001, S. 31·
-
ITI
Die Exerzitien der Modernen
1 2 Übungen und Fehlübungen
Wie Sucht und Suche zusammengehören, erklären Etymolo
bekommt nie mehr genug. Einer unvergebbaren Verfehlung
gen und Psychologen.
wegen wird der Ur-Habitus des Aushaltens angesichts stän digen Nicht-genug-Habens ins Weltverständnis des vorgebli chen »Mänge1wesens«1 50 Mensch eingebrannt. Er bildet eine
Realismus, Knappheit, Entfremdung
primäre Disziplinierung im Rang einer Grundstimmung. Aus
Die Anpassung an eine chronisch unangemessene Umgebung
Härte-Regler führt, und der Ur-Eskapismus, der die Einrich
erzeugt i n den Menschen nach dem Zeugnis der ältesten Ver
tung von imaginären Fülle-Reservaten postuliert.
ihr folgen die Ur-Resignation, die zum Realismus als innerem
haltenstheorien einen Habitus, den man in einem nicht-phi
Hierdurch wird der Fremde in dje Rolle dessen erhoben,
losophischen Sinn als Realismus bezeichnen kann. Er läßt
der dje Knappheit dramatisiert, indem er zu konsumieren
sich am ehesten als verfestigtes Durchhalten unter chroni
droht, wovon mein Überleben und die Selbstbehauptung
schem Druck charakterisieren. In der biblischen Erzählung
meiner Gruppe abhängen. Der erste Fremde ist der Herr,
fällt der Akzent auf das geduckte Aushalten - »im Schweiße
von dem ich abhängig wurde und der mich zwar am Leben
deines Angesichts« - unter den Zwängen des Ackerbaus, in
erhält, mir jedoch jeden Überschuß abnimmt, der mich besser
den mediterranen Zeitaltererzählungen eher auf die neuartige
erhielte, könnte ich ihn behalten; er ist die Einheit aus mei
Nötigung zu einem Dasein im Dauerkonflikt mit feindseli
nem Ausbeuter und meinem Retter. Der zweite Fremde ist
gen und korrupten Nachbarn. Das wichtigste Vertreibungs
der Feind, der nimmt, bis nichts mehr übrig bleibt. Entfrem
resultat sind dem 1 . Buch Mose zufolge der Arbeitsfluch und
det ist daher, wer einen Herrn und einen Feind hat- egal ob er
die schweren Geburten, nach Hesiod die chronische Unver läßlichkeit der sozialen Beziehungen und die Verkehrung der
nachbarschaftsethischen Normen. 149
Beide Modelle enthalten rudimentäre Sozialphilosophien und elementare Hermeneutiken der Not, die sich auf moderne
im Ernstfall, wie in den psychepolitischen Standardsituatio nen, mit dem Herrn gegen den Feind zu Felde zieht oder mit dem Feind gegen den Herrn - wie man es in der Auflösung der Loyalitäten bei Palastrevolten, Aufständen und Revolu tionskriegen beobachtet.
Entfremdungslehren abbilden lassen: Laut ersteren wäre der
Was Sartre in seinen Untersuchungen zur entfremdeten
Sturz aus der paradiesischen Nicht-Arbeitswelt in die Sphäre
»Praxis« über den »Menschen, der in Knappheit lebt«
des Arbeitszwangs durch das traumatische Auftauchen der
(l'homme de la rarete), zu sagen weiß,151
Knappheit bedingt. Das Lebenmüssen im Knappheitsmilieu
eine Exegese des biblischen Vertreibungsmythos, gelesen
resultiert aus der menschlichen Urschuld: Wer gesündigt hat,
durch ein Hegelsches Begriffsgitter. Die Knappheit verhängt
149
Nicht ist gerne gesehn, wer wahr schwört, nicht der Gerechte Oder der Tüchtige, sondern den Unheilstifter, den Frevler Ehren sie lieber; die Hand weiß nichts von der heiligen Zucht mehr, Nichts vom Recht; es verletzet den edleren Mann der Yerworfne, thn durch tückische Worte verstrickend, und schwört noch den Meineid. Hesiod, Werke und Tage, V. 190-194·
ist im Grunde nur
die Unmöglichkeit der Koexistenz über das Kollektiv. Sartre 1 50 Zur Widerlegung der Mängelwesen-Ideologie vgl. Perer Sloter
dijk, Sphären Ill, Schäume, Frankfurt am Main 2004, Kapitel
1p
3,
Auftrieb und Verwöhnung. Zur Kri tik der reinen Laune, S. 67 1 859·
Vgl. Kritik der dialektischen Vernunft, Reinbek bei Harnburg 1 9S6.
lll
Die Exerzitien der Modernen
12
Übungen und Fehlübungen
657
fundiert dieses infernalische Existential um eine Dimension
ten und Machtcliquen auszutauschen; sie müssen sich von
zu tief, um es mit dem marxistischen Konzept der Ausbeu
ihren gewachsenen Intuitionen für Recht und Unrecht tren
tung in Übereinstimmung bringen zu können; auch verlegt er
nen und sich an den Vorrang der institutionalisierten Ge
Konkurrenz und gegenseitige Verdinglichung kraft des bösen
richtsverfahren gewöhnen. Gemeinsam ergeben diese Um
»Blicks« in solche Abgründe, daß keine Versöhnung oder Be
stellungen einen Habituswechsel, der von den Anhängern
freundung sie je überwinden könnte - weder innerhalb noch
älterer Werte wie dem Dichter-Bauern Hesiod nur als Ein
außerhalb der Sphäre der Knappheit. Dadurch verkennt er
übung in eine verkehrte Welt wahrgenommen werden konn
nicht nur die mögliche Produktivität der Konkurrenz, auch
te. Ich füge en passant die Bemerkung hinzu, daß der Koran,
der faktisch vollzogene Austritt aus der Mangelwelt infolge
obschon zwölfhundert Jahre später entstanden, seinem mora
der modernen Eigentumswirtschaft gerät ihm gar nicht in den
lischen Ansatz gemäß in vielen Punkten mit der hesiodischen
Blick. Das Projekt einer Rettung des Marxismus durch seine
Weltsicht aus Werke und Tage auf einer Stufe steht. In ihm hat
Anreicherung mit existentialistischen Motiven war somit von
sich das Mißtrauen des Bauern gegen die unverständliche
vorneherein zum Scheitern verurteilt. Die tiefste Quelle von
neue Verkehrswelt zum apokalyptischen Haß des Wüsten
Sartres Fehlschlag liegt jedocn nicht in seiner Anbiederung an
bewohners gegen die für den alten Verstand undurchdring
die in sich brücnige Kritik der politischen Ökonomie. Sie ent
lichen großen Städte gesteigert. Was man den Prophetismus
springt seiner philosopnischen Gleichsetzung des Menschen
nennt, ist hier die feurige Form des Neinsagens zu erhöhter
mit dem Herd des Nichts. Wo er am resolutesten den meta
Komplexität.
physischen Jargon benutzt, entfernt er sich am weitesten vom Stand der Kunst hinsichdich des Wissens vom Menschen. Der Mensch ist nicht Negativität, sondern der Differenzpunkt zwischen Wiederholungen.
Die asketische Suspension der Entfremdung: Die fünf Fronten
Hesiod hebt in seinen Aussagen zum Eisernen Zeitalter die Zerrüttung des sozialen Bandes hervor. Ihm fällt am meisten
Vor diesem Hintergrund läßt sich genauer bestimmen, was die
ins Auge, daß in dem jetzt lebenden Geschlecht der Habitus
ethische Unterscheidung bewirkt. Sie zielt auf die systemati
der Untreue vorherrscht, selbst unter Verwandten und
sche Entwöhnung des Subjekts von den Realitätseffekten der
scheinbaren Freunden. Die »natürlichen« Vorzeichen von
Eisernen Zeit. Sie stellt, gegen den ersten Augenschein, die
Gut und Böse, von Ehre und Ehrlosigkeit etc. scheinen sich in der Eisernen Zeit allemhalben umgekehrt zu haben. Aus
Endgültigkeit der nach-paradiesischen Kondition in Frage. Um den übenden Einzelnen aus dem herrschenden Realitäts
wetterlage, in der ländlich geprägte Populationen dem Zwang
am stärksten Punkt des Gegners an. Die große Entwöhnungs
kulturhistorischer Sicht verrät dies eine pragmatische Groß
block herauszulösen, setzt die asketische Revolte durchwegs
zur Einübung ungewohnter städtisch-strategischer Lebens
kur richtet sich, wie die Geschichte der Askesen zeigt, auf die
formen unterliegen. In diesem Wandel müssen die Einzelnen
fünf Hauptfronten der Not: die materielle Knappheit; den
lernen, von Gesinnung auf Erfolg umzustellen; sie sehen sich genötigt, die Anerkennung durch Verwandte und Nachbar
Lastcharakter des Daseins; den sexuellen Trieb; die Entfrem dung, die Unfreiwilligkeit des Todes. Auf diesen Feldern
schaften gegen die Anerkennung durch Marktöffentlichkei-
führt das frühe explizit übende Leben den Nachweis, daß �
III Die Exerzitien der Modernen
möglich ist, selbst die am weitesten verbreiteten existentiellen Deformationen auszugleichen - um einen Preis jedoch, der
12
Übungen und Fehlübungen
noch Exerzitien. Die frühen Bettelmönchkulturen in Asien und Europa beweisen, daß den Mitmenschen das Schauspiel
die meisten dazu bewegt, Lieber die Mißstände zu akzeptieren.
der Überlegenheit des Geistes über den minimierten Leib ein
Harnlet sagt,
that makes calamity of so long life - Schlegel
in das Theater der spirituellen Triumphe. Man könnte das
ist mehr noch das Zögern vor dem Ausbruch aus dem ein
betrug nennen, die psychische Wirklichkeit jedoch spricht
Es ist nicht nur die »Furcht vor etwas nach dem Tod«, wie übersetzt »was Elend läßt zu hohen Jahren kommen« -, es geübten und angenommenen Elend. Bei der Wahl zwischen der erworbenen Deformation durch die Realität und den be fürchteten Deformationen durch die
lege artis
betriebene
Opfer wert war: Das Almosen war der Preis für den Eintritt Spenden für die Mönche ein Hereinfallen auf den Priester eine andere Sprache. Die alte Bettelökonomie gehört zum Reich der Suche nach Souveränität auch für die Ärmsten: Wer selber fast nichts hat und noch die kargste Mal1lzeit teilt,
Askese hat sich die Mehrheit stets für die erste entschieden.
partizipiert an den Siegen der Asketen über das Gesetz der
der man behauptete, sie komme als »Ereignis«. Immer schon
Hunger eingekleidet in die Minnebeziehung zur Dame Ar
Lieber wollte man auf eine bequeme Revolution warten, von
wich man der unbequemen Einsicht aus, wonach sich nichts ereignet, was man nicht selbst herbeiführt.
Knappheit. Bei Franz von Assisi erscheint der Sieg über den mut - manche Europäer, vielleicht nicht die moralisch
unempfindlichsten, sind bis heute beeindruckt von dieser
Verwandlung eines Elendsfaktors in galante Allegorie. Hal
ten wir fest, daß noch die alte Arbeiterbewegung in Europa
Gegen den Hunger Historische Evidenz spricht dafür, daß die ältesten Askesen
etwas vom ersten Aufstand gegen die Notdiktatur wußte. Beim Hungern wie beim Essen - die Solidarität . . .
sich an der Armutsfront entwickelten: Die alten indischen
Übungsmeister haben das Prinzip des freiwilligen Entzugs
wohl zuerst entdeckt, durch den das Subjekt gewissermaßen auf die andere Seite des Leidens gelangt. Schon im frühesten
Die zweite Ausweitung der Souveränitätszone ist den frühen
keit, der von der phantastischen Überzeugung angetrieben
zu verdanken. Sie finden einen Weg, das Gesetz der perma
Brahmanenrum entsteht ein Extremismus der Enthaltsam
wird, der Stoffwechsel sei nur eine der Illusionen, mit denen die Maya, die sinnliche Schleiermacherin, den Menschen zum Narren hält. Indem sie den Nahrungsverzicht zu einer soma
tisch-spirituellen Technik ausbauten, transformierten sie den Hunger in eine freie Fastenhandlung. Sie machten aus einer demütigenden Passivität eine asketische Tat. Die Entmach tung des Hungers zog unmittelbar die Emanzipation vom
Arbeitszwang nach sich. Wer die Enthaltsamkeit wählt,
scheidet aus dem produzierenden Leben aus und kennt nur
--
Gegen die Übe?'lastung Athleten und ihren Vorläufern in den krieger-adligen Milieus nenten Überlastung außer Kraft zu setzen, unter das sieb die große Mehrheit der Menschen in den Klassengesellschaften beugt. Wahrend die normale Antwort auf chronische Bela
stung in einer Mischung aus Verhärtungen und kleinen
Fluchten besteht, die früher oder später im Verschleiß enden, entwickeln die Kämpfer und Athleten die entgegengesetzte
Antwort - sie gewinnen Freiheitsgrade gegenüber dem Last
charakter der Existenz, indem sie konsequent das Schwere durch das noch Schwerere überbieten. Sie zeigen, daß sta:-�::::;
66o
lli
Die Exerzirien der Modernen
Angestrengtsein kein zureichender Grund ist, sich nicht noch mehr anzustrengen. Das Bild von Herakles am Scheideweg stellt die ethische Urszene Europas dar: Dieser Held des Et was-Tun-Könnens überhaupt verkörpert den Lehrsatz, man werde zum Menschen, indem man den schweren Weg wählt. Dazu gilt es, die herbe Arete der süßen Schlechtigkeit vorzu ziehen. Die athletische Ironie rückt die Grenzen der Belastbarkeit ins Unglaubl iche hinaus - wo Keiner-kann-das war, ist Ich kann geworden. Auch diese Erweiterung des Könnenshori zonts fließt unmittelbar ins Allgemeine. Noch in der vulgären Schaulust des Publikums bei sportlichen und circensischen Darbietungen verbirgt sich eine Solidarisierung mit den Ak teuren von anthropologisch weitreichenden lmplikationen. Die Athleten haben wie die Hungerkünstler für die psycho logisch Ärmsten und vital Schwächsten eine Botschaft, an der teilzuhaben für diese von Belang ist: Der beste Ausweg aus der Erschöpfung besteht darin, das Pensum zu verdoppeln. Auch wer sich nicht vorstellen kann, diese Maxime wörtlich zu befolgen, sollte sich von ihr anregen lassen. Daß es immer Spielraum nach oben gibt, ist eine These, die alle angeht. In diesem Zusammenhang ist die Zukunft des modernen Sports zu prognostizieren. Er steht wie ein Herakleskollektiv an einem Scheideweg. Entweder fungiert der Sporder weiter hin als Zeuge für die menschliche Fähigkeit, an der Grenze zum Unmöglichen Schritte nach vorn zu run - mit unabseh baren Übertragungswirkungen auf alle, die sich auf das schö ne Schauspiel einlassen, 152 oder er geht den schon jetzt vor gezeichneten Weg der Selbstzerstörung weiter, auf dem debile Fans ko-debile Stars mit Anerkennung von ganz unten über schütten, die ersten betrunken, die zweiten gedopt. Man darf 1 52
Herausragend hierzu: Hans Ulrich Gumbrecht, Lob des Sports. Frankfurt am Main 2007; die verlorene Poesie der frühen Rad sports wird vergegenwärtigt in: Philippe Bordas, Forcenes, Paris 2007.
I2
Übungen und Fehlübungen
661
in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß schon Euripi des die dekadent verselbständigte Szene der Sportler im 4· Jahrhundert vor Christus für eine Landplage hielt. »Es gibt zwarzahllose Übel in Hellas, doch keins ist schlimmer als das Volk der Athleten (athieton genous).« 153
Gegen die Sexualnot . An der dritten Front wenden sich die Aktivisten den sexuel len Triebspannungen zu. Da die Libido in vielen älteren Kul turen, insbesondere solchen mit streng patriarchalischen Heirats- und Verwandtschaftsregeln, zumeist zu langem Aufschub verurteilt war - zwischen dem Eintritt der Ge schlechtsreife und einer möglichen legalisierten sexuellen Praxis mußten nicht selten Jahrzehnte vergehen -, wurde der Eros von Unzähligen als unlebbares Dilemma erfahren. Der liebenswürdigste unter den Göttern erwies sich für Un zählige als der boshafteste. Gab man dem Trieb nach, geriet man leicht auf die Seite der Unordnung, widerstand man ihm, war man einer permanenten Tortur von innen ausgeliefert. So wurde die Verzweiflung an der Sexualität zu einer konstanten Größe am Unbehagen in der Zivilisation. Die weit verbrei teten Ventilinstitutionen Prostitution, Konkubinat, Abreak tion mit Sklaven, Selbstbefriedigung, Lizenzen fü1· die Jünge ren usw., milderten die Verlegenheit, hoben sie aber nicht auf. Die asketische Antwort auf die Herausforderung durch den Trieb bestand darin, das ständige Zuviel an spezifischem Schub in unspezifischen Elan für ein Streben zu höheren Zie len umzuwandeln. Das Verfahren hierzu beißt nach einer jüngeren Sprachregelung Sublimation. Platon hat deren Sche ma offengelegt, indem er die Stufenleiter beschrieb, über die 153
Stefan Müller, Das Volk der Athleten. Untersuchungen zur Ideologie und Kritik des Sports in der griechisch-römischen Antike, Trier 1995. S. 5·
rn
Die Exerzitien der Modernen
das sinnliche Begehren zu einem geistigen Movens aufsteigt von einem schönen Körper zu einem anderen, von der Mehr zahl der schönen Körper zur Einzahl des Schönen. Dieses erweist sich zuletzt als die in die Sinnlichkeit leuchtende Seite
12. Übungen und Fehlübungen
rend die Einzelnen sich zunehmend davon überzeugen, daß sie dem perversen Imperativ, immer mehr zu begehren und zu enjoyen, nicht mehr folgen können.
des Guten selbst. Die philosophische Kritik der Sexualität wirft dieser in ihren gewöhnlichen Ausprägungen also nur
Gegen Herrschaft und Feindschaft
vor, den Aufstieg zu sabotieren - sei es, indem sie als uner füllre eine Fixierung auf frustrierende Phantasien erzeugt, sei
A n der vierten Front hebt die asketische Revolte die Entfrem
es, indem sie als erfüllte die psychische Energie abfließen läßt
dung auf, indem sie den Nachweis führt, der Mensch sei
und sich im kleinen Kreislauf von Spannung und Entspan
niemals dazu zu zwingen, einen Herrn und einen Feind zu
nung verfängt. Die monastische Kritik der Sexualität verfährt
haben. Das Befreiungsverfahren besteht auch hier in einer
von Anfang an viel robuster, indem sie das körperliche Be
freiwilligen Übertreibung des Übels. Der Asket versklavt
gehren geradezu diabolisiert - mit demselben Ziel jedoch: ein
sich selbst so radikal, daß keine empirische Versklavung ihn
unendliches Begehren zu erzeugen und es auf der notwendi
mehr treffen kann. Er wählt seinen Herrn in den höchsten
gen Temperatur zu halten. Dieses infinirisierte Begehren -
Höhen, um sich von allen Herren zweiten Ranges zu be
das in der verschämten Metaphysik des 20. Jahrhunderts un
freien. So kommt Abraham von den sichtbaren Göttern los,
wie den Rückfall in die Endlichkeit, mit der die laue Prosa
sich der kynisch-stoische Weise dem Gesetz des Kosmos,
ter dem Titel desir weiterspukt- muß nichts so sehr fürchten
indem er seinen unsichtbaren Gott bekennt; so unterwirft
zurückkehrt. In ihr dominieren die trivialen Seelenzustände,
das ihn von willkürlichen menschlichen Satzungen emanzi
die Depression, die Elanlosigkeit, auch der banale Amriebs
piert; so rät der ironische Christus, dem Kaiser zu geben, was
überschuß, der keinen Anschluß an zielerfüllte und auf
des Kaisers ist, weil die Loyalität der Gläubigen Gott gehört,
schwunghafte Programme findet. Die schwunglose Psyche
weswegen die Beziehung zum Caesar nicht mehr als eine Äu
ist unfähig, sich von einem Absoluten umspannt zu fühlen
ßerlichkeit sein kann. So hält Paulus den Römern vor Augen,
- das ergibt den Trübsinn, dem die frühen Äbte die Namen
sie seien vormals Sklaven der Sünde gewesen, jetzt aber, als
akedia gaben, den Mittagsdämon, der die Seele des Mönchs
Sklaven der Gerechtigkeit, seien sie Freie.155 Er selbst stellt
mit Gleichgültigkeit gegen Gott und alles übrige paralysiert.
sich in der Anrede des Tirusbriefs als auserwählten Sklaven
Die akedia figuriert in der Liste der sieben Todsünden als die
»Trägbeit
super
Gottes vor- und eben hierdurch als freien Mann. Noch in den modernen Reden vom rufe oflaw klingt die Sprache des älte sten Suprematismus an, nach dem es Freiheit nur unter dem
bia. 1 54 In der Modenie hat sich das unendliche Begehren von
Gesetz gibt. Die Nötigung durch das Höchste stuft alle an
ausgewandert, das seine eigene Rastlosigkeit erzeugt, wäh-
schaft des Allgemeinen ist ein Medium der Askese gegen die
den Menschen getrennt. Es ist in das ökonomische System
deren Zwänge zu Faktoren zweiter Ordnung herab. Die Herr
Herrschaft des Konkreten. Folglich setzt jeder ernstzunehI 54
Vgl. Josef Pieper, Über Verzweiflung; in: ders., Werke in acht
Bänden, Band 4, a. a. 0., S. 274f.
I
55 Brief an die Römer 6, •7-18.
TII
Die Exerzitien der Modernen
mende Universalismus einen asketischen Zugang zur Nor mensphäre voraus. Wer Universalismus ohne Entsagungsar beit haben will, als wäre er ein Omnjbus zur Egalität, hat von den Kosten hoher Verallgemeinerungen nichts begriffen. Gleichzeitig emanzipiert sich der Asket vom Zwang, einen Feind zu haben, indem er einen universalen Feind in seinem Inneren wählt, von dem in der Außenwelt nur zweitklassige Projektionen auftreten können. Wer den Teufel in sich weiß, braucht keinen äußeren Bosheitspanner mehr. Darum der Rat, auch die andere Wange hinzuhalten. Darum die buddhi stische Mahnung, der Gefolterte dürfe das Mitleid mit seinem Folterer nicht verlieren. Die moralische Askese nimmt dem Feind die Macht aus der Hand, uns zum Zurückschlagen zu nötigen. Wer die Ebene des Reagierens auf Feindschaft über steigt, löst den circulus vitiosus von Gewalt und Gegengewalt auf, natürlich oft um den Preis, der Leidtragende zu bleiben. Moralische Hyperbeln dieser Art finden in der Moderne nur noch ein kleines Publikum, indessen die Mehrheiten wie der die Lizenz zum Zurückschlagen fordern. Die Ursache hierfür ist vor allem im Wandel der Grundstimmung zu su chen: Die anti-thymotische Psychopolitik des Christentums, die fast zweitausend Jahre lang zur inneren Inquisition gegen alle Regungen des Swlzes und der Selbstaffirmation gemahnt hatte, findet in der modernen >>Leistungsgesellschaft« keinen Anhalt mehr. 156 Hier soll der Hinweis nicht vergessen wer den, daß jedes höher entwickelte Rechtswesen eine verklei nerte Wiedergabe der asketischen Abstinenz vom direkten Reagieren impliziert, weil es dem Unrechtleidenden die Zu mutung auferlegt, die Wiedergutmachung auf dem Umweg über das in Verfahren geordnete Urteil eines Dritten zu su chen.
156 Vgl. Pcter Slotcrdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt am Main 2oo6.
12 Übungen und Fehlübungen
Gegen das Sterbenmüssen An der fünften Front greifen die Heroen der ethischen Unter scheidung den Tod an, indem sie ihn aus der Sphäre des ab strakten und fatalen Müssens in die des persönljchen Könnens übersetzen. Sie heben den Naturterrorismus auf, dem die Sterblichen seit unvordenklicher Zeit unterworfen sind. Dies muß nicht bis zur Physizierung des Unsterblichkeitsgedankens reichen, wie man sie bei Paulus, dann wieder bei den russischen Biokosmisten 157 und aktuell bei den amerikanischen Techno gnostikern findet, deren Ehrgeiz darauf gerichtet ist, die Theologie in Physik aufgehen zu lassen. 158 Die Umwandlung des Müssens ins Können setzt einen starken Kontinuumge danken voraus, der die Leben-Tod-Grenze überspannt - dies läßt sich an den beiden großen Sterbekunstszenen Alteuropas, dem Tod des Sokrates und dem Tod Jesu, ablesen.159 Durch Demonstrationen des gefaßten Todes gebt das Lebensende exemplarisch in eine symbolische Ordnung mit ausgeprägtem Kontinuumsinn über, als wäre das »Hinübergehen« rucht mehr als ein Wechsel des Aggregatzustandes. Der gekonnte und gehegte Tod ist die unmittelbare Revol te gegen das viehische Dahinfahren, von dem Hiob sagte, es sei gleichwohl das menschliche Schicksal. Er steht ebenso im Widerspruch zu dem blanken Erscblagenwerden, das die Welt Homers erfüllt -diese birst geradezu von Toten zweiter Klasse, die ruhmlos liegenbleiben, um Hunden und Geiern zur Beute zu fallen, während der unvergleichliche Totschlä ger Achilles einen Platz in der hellenischen Memoria findet. Der symbolisch gehegte Tod in1 Christentum dehnt die Me157 Siehe oben S. 624f. r 58 Vgl. Frank J. Tipler, Die Physik der Unsterblichkeit. Moderne Kosmologie, Gott und die Auferstehung der Toten (zuerst 1994), München/Zürich 2007. 1 5 9 Siehe oben S. 3 1 5-323.
666
IIl
Die Exerzitien der Modernen
moria-Funktion auf die Geretteten aus, die in einem göttli chen Gedächmis unvergessen und insoweit unsterblich sind. Man könnte die Arbeit der Asketen am Leben-Tod-Kontinu um als eine ursprüngliche Akkumulation zivilisatorischer Energie beschreiben, die es erlaubt, selbst den äußersten Zwang ins Innere der symbolischen Ordnung einzubetten. Eine moderne Spur dieser Zivilisierung zeigt sich in der
12
Übungen und Fehlübungen
bezeichnet. In diesem Sinn stellt die Moderne ein starkes Er satzprogramm für die ethische Sezession dar. Ihre Vorausset zung ist die Demonstration, daß man an den fünfFronten der alten Not auch mit anderen Mitteln siegen kann als denen, die von den Übungshelden älterer Zeiten in die Schlacht geführt wurden. Genau diese Parole gaben die Pansophen der Re
naissance und die Pioniere des forschenden Denkens in der
wachsenden Freitodbewegung des Westens. Sie hat den me
frühen Neuzeit aus: »Die Menschen könnenvon sich aus alles,
taphysischen Überschwang der asketischen Sterbekunst
sobald sie wollen.« Sie stießen die Tür zum postmiserabilisti
pragmatisch abgebaut, geht aber von der inzwischen weithin gesicherten Evidenz aus, daß es dem Menschen immer zu steht, sein Ende in kulturell umsorgten Formen zu erleben. Die guten Argumente der heutigen Bewegungen für würde volles Sterben zielen darauf, das Bündnis zwischen einer
schen Zeitalter auf, das aus ehendiesem Grund ein postmeta physisches ist, weil es dem existentiellen Zwang mit inner weltlichen Antworten begegnet. Postmetaphysisch denken
und handeln heißt: mit Hilfe der Technik und ohne extreme asketische Programme über die Lasten der alten
conditio hu
reaktionären Religion und einer progressiven Apparatemedi
mana
zin aufzulösen, die gemeinsam kaum mehr als ein höheres
von denen man wünschte, ihre Siege seien authentisch, sind
Krepieren zulassen. Statt dessen soll die Errungenschaft der
die Athleten - hingegen sind die spirituellen Sieger über die
hinausgehen. Die einzigen Asketen in moderner Zeit,
asketischen Kulturen, die Einbettung des Todes in ein geteil
alte conditio humana durch die Kultur des Verdachts um ihre
tes Können, auch den Nicht-Asketen erschlossen werden.
Autorität gebracht worden. Wer heutigentags nach vierzig
Tagen in der Wüste einen brennenden Dornbusch reden härte, würde als Opfer einer psychedelischen Episode eingestuft.
Das postmetaphysische Erbe der metaphysischen Revolte
Wer vorgäbe, die Sexualität zu transzendieren, ohne sie ge
Der Rückblick auf die asketischen Revolten gegen das Reali
zu werden. Und den Buddha Amida, der sich japanischen
kannt zu haben, darf sicher sein, als Neurotiker diagnostiziert tätsprinzip des Eisernen Zeitalters erlaubt eine deutlichere
Bestimmung dessen, was ich die Entspiritualisierung der As kesen nenne. Sie prägt einen Gutteil des Wegs in die Moderne, sofern diese Epoche durch die pragmatische Abflachung me
Mönchen nach einem Schlafentzug von einhundert Nächten offenbatt, halten moderne Religionsbeobachter eher für einen lokalen psychosemantischen Effekt. Ihres egalitären Designs wegen fühlt sich die Moderne
taphysischer Aufschwünge charakterisiert war. Dieser Prozeß
genötigt, alle Wahrheiten, zu denen bisher nur die Wenigen
drängt die Exzesse in die Künste ab und vollzieht im übrigen
Zugang hatten, in Wahrheiten für die Vielen umzuformulie
die Umstellung, die Gotthard Günther als den Übergang >>von 0 der Wahrheit des Denkens zur Pragmatik des Handelns«16
ren - und den nicht übersetzbaren Rest zu vernachlässigen.
Damit wird dem praktizierten asketischen Extremismus der Boden entzogen, seinen Tendenzen wird aber in allem Recht
160 Gotthard Günther Die amerikanische Apokalypse, a. a. 0., ,
s. 277f.
gegeben: Es kommt tatsächlich darauf an, der Elendsdefini tion der Realität im agro-imperialen Zeitalter eine starke An-
668
IIl Die Exerzitien der Modernen
tithese entgegenzusetzen - um so besser, wenn diese jetzt auch mit nicht-metaphysischen und nicht-heroischen Mitteln zu artikulieren ist. Die Übersetzungen erfolgen ausnahmslos nach der technischen Zäsur des modernen Zeitalters. Ihr Er folgsprinzip zeigt sich darin, daß im Lauf der letzten drei hundert Jahre ein beispielloser zivilisatorischer Lernzyklus eingesetzt hat, durch den sich die Gesetze des Daseins im Eisernen Zeitalter von Grund auf veränderten - und zu ver ändern nicht aufhören. Zeitweilig hat er dem Traum von der Rückkehr in ein Goldenes Zeitalter oder von einer Restaura tion des Paradieses zu politischer Macht verholfen, und wenn auch von einer Wahrmachung des Traums nie die Rede war, gibt bereits die Traumtendenz als solche Aufschluß über die Grundstimmung der neueren Ära. Sie gründete in der Intui tion, das Prinzip Realität sei ein formbares Plasma geworden. Der kommunistische Maximalismus, der weniger als die ganz große Wiederherstellung nicht gelten lassen wollte, hat seine psychologische Plausibilität verloren - er lebt nur indirekt weiter in dem leerlaufenden Haß, den Ex-Radikale und ihre Imitatoren in der dritten, vierten Generation den gemilderten Zuständen entgegenbringen. Die Idee der Rückkehr ins Zweitbeste besitzt nichtsdestoweniger noch immer hohen praktischen Charme. Tatsächlich haben Europäer und Amerikaner in der zwei ten Hälfte des zo. Jahrhunderts, in hesiodischen Begriffen gesprochen, sich in ein erneuertes Silbernes Zeitalter kata pultiert. Sie haben- innerhalb des »KristallpalastS<< - Lebens verhältnisse für die meisten geschaffen, die sich von allem, was auch nur wenige Jahrhunderte zurückliegt, nicht gra duell, sondern epochal oder besser: äonisch unterscheiden. Noch einmal erinnere ich an die Oktoberrevolution des Jah res 1846- das Epochendatum in der Geschichte des Schmer zes.161 Ebenso ist die Emagrarisierung des Wirtschaftslebens 1 6 1 Siehe oben S. 598.
12
Übungen und Fehlübungen
hervorzuheben und damit der Abschied von der »Idiotie des Landlebens«.162 Dem Historiker ist unzweifelhaft, daß nahe zu alle Bewohner des Kristallpalasts zumindest in materieller und infrastruktureller Hinsicht von beispiellosen Verbesse rungen ihrer Lebensbedingungen profitieren 163 - ein Fak tum, das durch ein ebenso beispielloses Aufblühen einer Kul tur der Nachforderungen ergänzt und bestätigt wird. Die Resignationsspirale des Eisernen Zeitalters hat sich umge kehrt, um sich in eine Spirale des Begehrens aufzuschrauben. In dieser Lage verliert die Philosophie ihr Mandat, die stati sche Welt der Not nach oben zu überschreiten, das sie als der theoretische Flügel der ethischen Unterscheidung zweitau send Jahre lang verwaltete. Sie wandelt sich in eine Konsul tamin zur Erläuterung des Vorteils, nicht mehr im Eisernen Zeitalter zu leben. Sie wird ein Übersetzungsbüro, das heroi sches Wissen in ziviles Wissen transformiert. Für den esote rischen Rest bürgt sie mit ihrem eigenen Vermögen.
Zur Verteidigung des zweiten Silbernen Zeitalters Es war Richard Rorry, der während der letzten Jahrzehme für diese Übersetzungsarbeit am kohärentesten und sympa thischsten geworben hat, sympathisch vor allem deswegen, weil ertrotz seiner vonJohn Dewey inspirierten Parteinahme für den Vorrang der Demokratie vor der Philosophie aus seinem Verständnis für die Übertreibungen des heroischen Denkens -das er auch das romantische oder das inspirierende nennt - kein Geheimnis machte. Was den Amerikaner Rorty in die besseren Traditionen der europäischen BarockphilosoKarl Marx, Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest, •. Teil. 163 Vgl. Peter Slotcrdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt am Main. r62
2005,
s. z6sf.
111 Die Exenitien der Modernen
prue und der britisch-französisch-deutschen Aufklärung pla ziert, ist seine beirrbare Treue zum Gedanken der Weltver besserung, eine Treue, die sich in seinem Buch über die Ver besserung Amerikas am altmodischsten und am anregendsten manifestiert.164 Rorty war, neben Hans Jonas, der einzige Denker des letzten halben Jahrhunderts, von dem man lernen konnte, warum ein Philosoph auf der Höhe der Zeit den Mut zur Simplizität haben muß: Allein in einer jargonfreien Spra che läßt sich mit Zeitgenossen darüber reden, warum wir als Angehörige der modernen Zivilisation zwar nicht in ein Gol denes Zeitalter gelangten, uns aber auch nicht mehr als Bür ger des Eisernen Zeitalter verstehen dürfen. Im Gespräch über dieses Thema fallen Philosophie und Nicht-Philosophie in eins, geschichtsphilosophische Thesen und alltägliche In tujtionen gehen ineinander über. In einer mittleren Sprache ist den hochtrabenden Konservativen zu widersprechen, die das Idiom der Eisernen Zeit weiterpflegen, als ob nichts ge schehen wäre.165 In derselben Tonart ist den lokal immer noch virulenten linksradikalen Ideologen entgegenzutreten, die aus Enttäuschung über die fehlgeschlagene Rückkehr ins Goldene Zeitalter alles tun, um das Silberne als Farce zu ver leumden. Nur in einem solchen Gespräch lä.ßt sich der ver nünftige Inhalt der etwas übertrieben vorgetragenen und noch übertriebener abgewehrten Reden über das »Ende der Geschichte« nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wiederholen. 166 Das Ende der Geschichte ist eine Metapher 164 Richard Rorty, Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus, Frankfurt am Main 1999. 165 Dies gilt für alle Autoren der diversen konservativen Revolutio
166
nen des 20. Jahrhunderts: als jüngeres Beispiel für diese Tendenz vgl. den bclliziscischen Traktat des amerikanischen Neokonser vativen Robert D. Kaplan, Warrior Politics. Why Leadership Demands a Pagan Ethos, New York 2002. In dieser Sprache formulierte Rorty das intensivste Manifest des endenden 20. Jahrhunderts für eine Renaissance des Weltverbes serungsgedankens aus den Quellen der amerikanischen Zivilreli-
12
Übungen und Fehlübungen
für die Außerkraftsetzung des im Eisernen Zeitalter herr schenden Realitätsprinzips im Gefolge nicht-heroischer Maßnahmen gegen die fünf Nöte. Dazu gehören: die indu striepolitische Umstellung von Knappheit auf Überangebot; die Arbeitsteilung zwischen Höchstleistern und mäßig An gestrengten in Wirtschaft und Sport; die allgemeine Deregu lierung der Sexualität; der Übergang zu herrenloser Massen kultur und feindloser Kooperationspolitik; die Ansätze zu einer postheroischen Thanatologie. Keine dieser Maßnahmen ist ohne Makel, nicht eine von ihnen kann sich ganz über die Ebene der kleineren Übel er heben, in manchen Aspekten werden sie sogar wie größere Übel neuen Typs wahrgenommen. Darum neigen unzählige Bewohner des zweiten Silbernen Zeitalters, das sich selbst nicht begreift, zur üblen Nachrede über den neuen Zustand. Was man die Postmoderne nennt, ist in weiten Teilen nichts anderes die mediale Ausschlachtung des Unbehagens am Zweitbesten - mit all den Risiken, die Luxuspessimismen an haften. Die Schicksalsfrage heißt: ob es gelingt, die Standards des episodisch aufgetauchten Silbernen Zeitalters zu stabili sieren oder ob der Rückfall in ein Eisernes Zeitalter vor der Tür steht, von dessen Akruaütät alte und neue Realisten über zeugt sind- njcht zuletzt unter Hinweis auf die Tatsache, daß mehr als zwei Drittel der Menschheit es nie verlassen haben. Ein solcher Rückfall wäre kein Schicksal, sondern eine Folge mutwilliger Reaktionen gegen die Paradoxien des Daseins im Suboptimalen. Die Entscheidung über den weiteren Lauf der Dinge hängt
gion nach Whitman und Dewey: Eine kulturelle Linke; in: Ri
chard Rorty, Stolz aul unser Land, a. a. 0., S. 73·103. Das Doku
ment hatte nach den Zerrüttungen, die der 1 1 . September 2001 im Diskursfeld der USA und der übrigen Welt hervorrief, keine Wir kungschance mehr, man liest es heute wie eine liberale Utopie aus einem versunkenen Zeitalter, und ob es in der Ära Obamas eine neue Chance erhält, bleibt abzuwarten.
lll Die Exerzitien der Modernen
12
Übungen und FehJübungen
davon ab, ob der Lernzusammenhang der Moderne durch
die nötigen Warnhinweise von den Akteuren einer aktuellen
rellen, epistemologischen und sanitären Krisen hindurch zu
als Unterdrückerische Eingriffe wahrgenommen werden.
sämtliche technischen, politischen, wirtschaftlichen, kultu
Generation, die in expressiven Fehlentwicklungen schwelgt,
einem hinreichend stabilen Kontinuum des Besserungswis
Das Schwelgendürfen in kurzlebigen Maladaptionen macht
sich dieses Kontinuum von selbst versteht, ist an der Tatsache
formen aus. Es definiert ihr Aroma von Freiheit und Folgen
sens und Optimierungskönnens auszubauen ist. Wie wenig
abzulesen, daß die Ideengeschichte des 19. und zo. Jahrhun derts eine endlose Serie von Aufständen der Zivilisations
feindschaft und des antitechnischen Ressentiments hervor brachte, gleich ob diese im Namen des Glaubens, der Seele,
des Lebens, der Kunst, des Volkstums, der kulturellen Identi tät oder der Artenvielfalt erfolgten. Diese Ausbrüche stellten Trainingsahbrüche dar, die der Modernitätsfitness schweren
Schaden zufügten - und die Gefahr neuer Abbrüche ist nicht
gebannt, wie die Allgegenwart der roten, braunen, schwarzen
und grünen Fundamentalismen beweise. Der »Diskurs der
Moderne<<, nicht nur der philosophische, verlangt nach einer
ständigen Klärung der Agenda und nach der Abwehr falscher Lehrpläne. Jede Generation muß zwischen Eskapismen und
traditionsfähigen Formen wählen. Um auch nur die Möglich keit eines effektiven Lernkontinuums zu sichern, ist eine in tensive Filterung der zeitgenössischen Ideenproduktion un abdingbar - eine Aufgabe, die man vormals der inzwischen
völlig entkernten »Kritik« anvertrauen wollte. An die Stelle der Kritik tritt eine affirmative Zivilisacionstheorie, die sich
auf eine Allgemeine Immunologie stützt.
167
Kanon-Arbeit in der Moderne Mehr als jede Zivilisationsform vor ihr ist die Moderne auf eine Sortierung des Weitergabewürdigen und die Abkürzung
von maladaptiven Entwicklungen angewiesen, mögen auch
im übrigen einen guten Teil des Reizes moderner Lebens
losigkeit. Es befreit die Gegenwart von der Last, Vorbilder zu
schaffen - nicht umsonst ist die Moderne das Eldorado der
Jugendbewegungen. Ihre größte Versuchung besteht darin,
die Zukunft abzuschaffen unter dem Vorwand, die Zukunft
zu sein. Wer sich auf »einaltrige« Lebensweisen beschränkt, braucht sich über Vorbildvermittlung in mehraltrigen Pro
zessen keine Gedanken zu machen.168 Da unter liberalen Be
dingungen auch evident maladaptive Formen zur Reproduk
tion neigen und in den nächsten Generationen spuken, ist es
von Bedeutung für den zivilisatOrischen Prozeß, solche Va
rianten so früh wie möglich zu musealisieren - spätestens eine .. . 169 G eneratton nach dem Ruc k tntt der Protagontsten. .
.
Tatsächlich ist eine der wichtigsten Funktionen des mo
dernen Kulturarchivs darin zu sehen, den kontraproduktiv
gewordenen Index der verbotenen Bücher und Kunstwerke
überflüssig zu machen. Das Archiv bewaltrt aUe wichtigen
und interessanten Irrtümer, alle Projekte ohne morgen und
16& Der Gegensatz Einaltrigkeir/Mehrahrigkeir Üegr Eugen Rosen stock-Huessys soziologischen und sprachphilosophischen Stu dien zugrunde. 169 In diesem Zusammenhang isrdie kritische Distanzierung, die Pcrcr Weibel gegenüberdem Wicner Aktionismus und derDrogenkultur der sechziger und siebzigerJahre in seinen Schriften vollzogen hat, von prinzipieller Bedeutung: Sie hebt dje Aldomatik der selfish art auf. Unter den Vertretern der Kunstgeschichte herrscht gegenüber dem Triumphzug der maladaptiven Kunst bisher überwiegend jargonstarke Ratlosigkeit. Gleichzeitig wartet das enorme CEuvre Bazon Brocks auf seine Erschließung: Er scheint der einzige zeit genössische Künstler und Kunsttheoretiker zu sein, der die Not wendigkeiteinerRezivilisierung der Kunst kunstimmanentauf den Begriff gebracht har.
12
Ili Die Exerzitien der Modernen alle unwiederholbaren
Übungen und Fehlübungen
prozeß des 20. Jahrhunderts prägten. Sie sind aus heuriger
Aufbrüche für immer pietätvoll
auf.170 Seine Sammlungen werden strikt außerhalb des Ka
Perspektive als Symptome für den Triumph der malignen Wie
nons rekrutiert, mit dem der reale Generationenprozeß wei
derholung in den jüngeren Überlieferungsreihen zu lesen und
terarbeitet. Andernfalls gerät die museale Aufbewahrung in
stellen deswegen ErnstfäLle für eine intervenierende »Kul
die Gefahr, mit Vorbildlichkeit für Nachfolger verwechselt
tur«wissenschaft dar: Ich spreche zunächst - im Anschluß
zu werden - im übrigen der Lieblingsirrtum zeitgenössi
an die Überlegungen des vorangehenden Abschnitts - von
scher Künstler: Sie betrachten das öffentliche Museum, nach
der Kultur des politischen Mords in der pseudo-metanoeti schen Politik des 20. Jahrhunderts; dann von der Schwächung
dem Abklingen der museoklastischen Bewegungen, als eine Kollektion normativer Werke und verkennen seine neue
des imitativen Faktors in der zeitgenössischen Pädagogik; zu
Funktion als Endstation für Singularitäten, das heißt, als
letzt von der illusorischen Verwerfung der Imitation in der
Ablage für nicht anschlußfähige und nicht zu wiederholende
modernen Ästhetik.
Produktionen. Ebenso verstehen sie die Funktion der Pri
Was die Veräußerlichung der Metanoia in den revolutio
vatsammlungen falsch, die letzdich allein darin besteht,
nären Politiken des 20. Jahrhunderts angeht, brauche i.ch den Ausführungen zur Biopolitik des Bolschewismus nicht viel
pseudotranszendente Werke aus dem Verkehr zu ziehen.
hinzuzufügen.
Im übrigen ist die Lähmung, die heute über den sogenann
politisch-technische
Maßnahmen für große Kollektive zu erzwingen, was früher
ten Geisteswissenschaften liegt, darauf zurückzuführen, daß
selbst durch asketische Extremübungen höchst motivierter
ihre Akteure sich mehrheitlich als freischwebende Beob
Einzelner kaum erreichbar war, führte unausweichlich zu
achter im Archiv eingerichtet haben - Rorty nennt sie leicht verächtlich
Der Versuch, durch
einer Politik des absoluten Mjttels. Weil sich bei Vorhaben
detached cosmopolitan spectators - und die pro
dieser Ambitionsstufe die Ausrottung des trägen Mitmen
grammatische Arbeit an der Formung eines zukunftsfähigen
schen als das Mittel aller Mittel nahelegte, entstand in der
Zivilisationscodes dem Zufall und dem Fanatismus überlas
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die historisch unerhör
sen.
teste Form einer maladaptiven Kultur - die Kultur der La ger. 1 71 Sie diente der Repression unter dem Vorwand der
Maligne Wiederholungen I: Die Kultur der Lager
Umerziehung, der Vernichtung unter dem Vorwand der Ar
An diese Beobachtungen anknüpfend, möchte ich auf einige
wird fürs erste zögern, den Begriff »Kultur« auf solche
beit und schließlich der Auslöschung ohne Vorwand. Man Phänomene anzuwenden. Vergegenwärtigt man sich jedoch
Maladaptionsphänomene hinweisen, die den Zivilisations-
den Umiang der Lagerwelten, ihre ideologischen Prämissen, ihren logistischen Aufwand, ihre personellen Voraussetzun
170 Vgl. Ilya und Emilia Kabakov: Katalog zurAusstellung der Groß installation »Palast der Projekte« in der Kokerei Zollverein Essen, 2001, in der unter den drei Rubriken »Wie kann man sich selbst verbessern?«, "'\Xfie macht man die Welt besser?« und "Wie stimu liert man die Entstehung von Projekten?« eine humoristische Summe der utopischen Moderne in 65 Einzelprojekten gezogen
gen, ihre moralischen lmplikationen, ihre habitusbildenden Effekte und ihre psychischen Nebenwirkungen bei den Be171 Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und
das nackte Leben, Fnnkfurt am Main 2007.
wird.
L
111
Die Exerzitien der Modernen
172
treibern der Lager, läßt sich der Ausdruck »Kultur« auch für diese quasi beruflich erlernbaren und in Routinen veran kerten Monstrositäten nicht vermeiden. Zwar neigt man fürs erste zu der Vermutung, um die längerfristige Überliefe rungsfähigkeit von Lagernormen könne es nicht gut bestellt gewesen sein: Dennoch ist der Befund unstrittig, daß es wäh rend des größten Teil des 20. Jahrhunderts eine Unterneh menskultur der Internierung, der Aussonderung und der Vernichtung gab, die länger Bestand hatte, als man unter moralischen wie kulturtheoretischen Prämissen je für mög lich halten würde. Das vom revolutionären Parteistaat orga nisierte Verbrechen erreichte in der Sowjetunion und in China das weberianische Stadium - wenn man damit den Übergang des Ausnahmezustands in Bürokratisierung be zeichnet. Eine maladaptive Umkehrung von solcher Lang zeitwirkung ist allenfalls in den Lebensformen der Pariser Mirakelhöfe des 17. und r8. Jahrhunderts anzutreffen, jenen Gegenwelten der Diebe, Bettler und Zigeuner, die in Roma nen des 19. Jahrhunderts - vor allem in Victor Hugos Der Glöckner von Notre Dame - verewigt wurden: Auch in ih nen war so etwas wie eine stabil-perverse Gegenkultur mit übergebührlichen Überlieferungschancen entstanden. Sie bildete eine aus der Not geborene Parallelkultur der groß städtischen Armen. Die langfristig aktive Lagerkultur des 20. Jahrhunderts hingegen ist ausschließlich das Werk der pseu do-metanoetischen Staaten, die sich auf die Französische Revolution beriefen und die jakobinische Heiligung des Ter rors übernahmen.
172 Harry Graf Kessler notien in seinen Tagebüchern 1918-1937• herausgegeben von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt am Main 1982, S. 689 die Beobachrungen der Corricrc-della-Sera-Korre spondemen Caffi im Dezember 1931: »Länger als zwei Jahre habe es überhaupt kein bolschewistischer Henker ausgehalten . . . In allen Irrenhäusern hätten sie gesessen; die Sanatorien an der Krim küste seien voll von wahnsinnig gewordenen Henkern gewesen.«
12
Übungen und Fehlübungen
Das Geburtsdatum des modernen Exterminismus als Un ternehmensform und Institution ist genau bestimmbar. Es sind die Leninschen Dekrete über den Roten Terror vom 5 . September r 9 1 8, in denen es expressis verbis hieß, man müsse die Feinde des Sowjetsystems in Konzentrationslager ein schließen, um sie Schritt für Schritt zu eliminieren. Dieses Vorgehen, in den ersten Jahren als Provisorium intendiert, wurde in massiven Formen bis in die fünfziger Jahre, in ab geschwächten Versionen bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts durchgehalten, zuletzt unter Mitwirkung der sowjetischen Psychiatrie, die auf dem Axiom beruhte, in der Unzufriedenheit mit den Lebensformen des realen Sozia lismus sei das Symptom einer schweren Geisteserkrankung zu erkennen. Das Datenbild spricht eine klare Sprache: Die NS-Lager welt hatte knapp zwölf Jahre Bestand, die der Sowjetunion fast siebzig Jahre, die des Maoismus mindestens vierzig Jah re - mit langwierigen Nachspielen im Gefängniswesen des autoritären Kapitalismus der chinesischen Gegenwart. Das bedeutet: Der sowjetische Exrerminismus konnte seine Ko pien bis in eine dritte Generation verbreiten, der maoistische in eine zweite, deren Schatten bis heute nachwirken: Das laogai-System - wörtlich: Umerziehung durch Arbeit, hat über 50 Millionen Menschen erfaßt und davon mehr als ein Drittel ausgelöscht. Dem Antifaschismus aller Couleurs schuldet man Dank für die Beharrlichkeit, mit der er die hyper-maladaptiven Ungeheuerlichkeiten des NS-Staates an den Pranger stellte, namentlich den Holocaust, diese deut sche Synthese aus Amok und Routine. Bemerkenswert bleibt die Asymmetrie der >>Aufarbeitung«: •>Antifaschisten« sowjetischer und maoistischer Richtung sind stets der Frage ausgewichen, was sie dazu bewegt, die quantitativ noch grö ßeren Exzesse im eigenen Lager so viel diskreter zu behan deln. Bis heute ist die Einsicht in ihre Proportionen kaum verbreitet, trotz Solschenyzin, trotz Jung Cbang, trotz
In
Die Exerziricn der Modernen
Schwarzbuch des Kommunismus. Während die Leugnung der NS-Verbrechen in einigen Ländern zu Recht als straf barer Tatbestand behandelt wird, gelten die Untaten des marxistischen Archipels in manchen Kreisen noch immer als Kavaliersdelikte der Geschichte. Man lernt daraus: Es ist nicht wahr, daß Lügen immer kurze Beine haben. Wenn Maladaptionsformen dieser Größenord nung eine zweite und dritte Generation ausbilden konnten, sind ihre Beine länger, als der gewöhnlichen Lüge zukommt. Warum sie so lang werden konnten, ist eine eigene Überle gung wert. Diese rührt nicht nur an die Eigengesetzlichkeit diktatorialer Staatsbildungen, die zu Klausuren io der Ab normität neigen, sondern auch an die Grundlagen des Moder nismus: Mit ihm brach die aus älteren Kulturstufen bekannte Entfremdung zwischen demoralisierendem Erfolg und legi timer Vorbildlichkeit in einer bisher unbekannten Schärfe auf. Wenn ein Denker von der Statur Sanres enrschlossen war, die Gegebenheiten der sowjetischen Lagerwelt in Kenntnis ihrer Herkunft, ihres Umfangs und ihrer Konse quenzen bis weit in die fünfziger Jahre zu verschweigen, ja wenn er so weit ging, westliche Kritiker der Lager- darunter Albert Camus - als verlogene Lakaien der Bourgeoisie zu denunzieren, zeigt sich, wie die größte maladaptive Anomalie in der politischen Geschichte der Menschheit auf die Urteils kraft eminenter Intellektueller ihren Schatten warf. Die kul turtheoretisch wesentliche Information liegt in den Jahres zahlen: Sartres Schweigebeschluß begleitete den Eintritt der sowjetischen Lagerkultur in die dritte Generation. Er unter stützte den perversen Übergang einer »Maßnahme« in eine Institution. Nimmt man diesen nicht abweisbaren Sinn oder Nebensinn des Sartre-Worts von seiner »\Veggefährten schaft« mit dem Kommunismus zur Kenntnis, ist nicht zu leugnen, daß in seiner Person, die das moralische Orakel sei ner Generation zu verkörpern schien, der Archetypus des
12
Übungen und Fehlübungen
falschen Lehrers auf die Bühne getreten war - obschon man ihn unter den Pilegern des kritischen Gedächtnisses lieber an der Person Heideggers diskutiert. Nun mag Heidegger in manchem ein falscher Lehrer gegen die Moderne gewesen sein; der spätere Sartre war durchwegs der falsche Lehrer für die Moderne.173 Nur im Rahmen einer strikten Museali sierung ist an Autoren dieses Ranges die Unterscheidung zwischen Größe und Vorbildlichkeit zu vollziehen.
Maligne Wiederholungen 11: Die Erosion de'r Schule Was den Zerfall der Übungskultur und des Disziplinenbe wußtseins in der Pädagogik der zweiten Hälfte des 20. Jahr hunderts angeht, so bildet er das jüngste Kapitel in der langen Geschichte der antagonistischen Kooperation zwischen dem modernen Staat und der modernen Schule. Ich habe gezeigt, wie die Liaison und der Widerspruch zwischen Staatsseman tik und Schulsemantik mindestens seit dem 17. Jahrhundert in Europa unweigerlich chronische Spannungen zwischen den ausdifferenzierenden »Teilsystemen« hervorriefen. Wenn das klassische Ansinnen des Staates an die Schule, brauchbare Bürger zu liefern, von dieser in den Auftrag übersetzt wird, autonome Persönlichkeiten heranzubilden, ist eine perma nente Reibung vorprogrammiert - einerseits als schöpferi sche Dysfunktion, andererseits als Quelle chronischer Ent täuschungen. Summarisch darf konstatiert werden: Die bürgerliche Hochkultur ist aus den Überschüssen des Schul humanismus über den staatlichen Erziehungauftrag hervor173
Vgl. die Studie von Luuk van Middelaar Poliricide. De moord op dc politiek in de Franse filosofie, Amsterdam, 1999, worin Sartre ,
und der Mehrheit der französischen Philosophen vorgeworfen wird, der Zerstörung der politischen Vernunft Vorschub geleistet
zu haben.
68o
Ili Die Exerzitien der Modernen
gegangen. 1 74 Man kann geradezu von einer elix
J
culpa
des
älteren bürgerlichen Bildungswesens sprechen: Es gab seinen begabteren Zöglingen unendlich viel mehr Kulturmotive mit,
12
Übungen und Fehlübungen
681
Sie steuert auf einen Zustand jenseits von Konformisierung
und Überschußerzeugung zu, der an allen Aspekten direkter Nützlichkeit und indirekter Folgenschöpfung vorbeigeht.
als sie in ihren zivilen Funktionen je würden brauchen kön
Jahr für Jahr entläßt sie mehr und mehr desorientierte Schü
nen. In diesem Zusammenhang mag der Hinweis sinnvoll
lerkohorten, denen man ihre Anpaßung an ein maladaptiv aus
sein, daß einige der größten spirituellen Überschußphänome
dem Ruder gelaufenes Schulsystem immer deutlicher an
ne der jüngeren Geistesgeschichte, Johann Gottlieb Fichte als
merkt, ohne daß den einzelnen Lehrer und Schüler auch
der Neuerfinder der Entfremdungstheorie und Friedrich
nur die geringste Schuld da.ran träfe. Beide sind in einer Öku
Nietzsche als Modernisator des christlichen Übermenschge
mene der Desorientierung vereint, zu der sich ein historisches
dankens, dieselbe Schule durchliefen, das thüringische Pforta
Gegenstück kaum finden lä.ßt - falls man nicht auf die lange
bei Naumburg, das in seiner Zeit als eines der strengsten
Nacht der Bildung zwischen dem Zusammenbruch des römi
sche 1 8 58-1864. Es dürfte sich erübrigen zu erläutern, wie das
hung einer christlich-humanistischen Schulkultur im Gefolge
Gymnasien Deutschlands galt - Fichte 1774- 1 78o, 175 Nietz
Tübinger Stift seinen Ausbildungsauftrag an den Zöglingen Hölderlin, Hege! und Schelling übererfüllt hat. Auf die Frage,
was wohl der Schüler Kar! Marx, Abiturjahrgang r 83 5, seinen
prägenden Jahren auf dem Gymnasium von Trier, dem vor
maligen jesuitischen Dreifaltigkcitskolleg, verdanke, hat die Revolutionsgeschichtsschreibung eher mit zurückhaltenden 76 ' 'nf Ausku . ten geantwortet. 1
In der jüngsten Phase der Schulgeschichte hat sich die
schöpferische Maladaption der klassischen Schule vielerlorts in eine maligne Maladaption verkehrt, die insofern modern genannt werden darf, als sie aus einer epochentypischen Stö rung der Vorbildfunktionen und des damit verbundeneo Ver falls des Übungsbewußtseins resultiert. In ihrer Folge nähert die Schule sich einem Punkt, an dem sie doppelt implodiert, so daß sie weder Bürger noch Persönlichkeiten hervorbringt.
174 Siehe oben S. 548f. 175 Vgl. Stefano Bacin, Fichte in Schulpforta: Kontext und Doku mente. Mit einer Übersetzung von Fichtes Valediktionsrede, Stuttgart 2007. 176 Zu den sozialidealistischen Überschüssen des deutschen Univer sitätswesen im 19. Jahrhundert vgl. Manhias Sreinbach, Ökono misten, Philanthropen, Humanitäre: Professorensozialismus in der akademischen Provinz, Berlin 2008.
schen Schulwesens im 5 · Jahrhundert und der Wiederentste der alkuinisch-karoHngischen Reformen im 8. Jahrhundert verweisen möchte. Um die Malaise zu diagnostizieren, wäre en detail zu zei gen, wie die aktuelle Schule an dem Prozeß teilnimmt, den Niklas Luhmann die Ausdifferenzierung der Teilsysteme nennt. Ausdifferenzierung bedeutet die Etablierung strikt selbstreferentiell organisierter Strukturen innerhalb eines Teilsystems bzw. eines »Praxisfelds« - in evolutionstheoreti schen Ausdrücken: die Institutionalisierung von Selfishness.
Es war Luhmanns ingeniöser Impuls, aufzuzeigen, wie das Wachstum der Leistungsfähigkeit von Teilsystemen der mo dernen »Gesellschaft«, gleich ob es um Politik, Winschaft,
Recht, Wissenschaft, Kunst, Kirche, Sport, Pädagogik oder Gesundheitswesen geht, von der stetigen Zunahme ihrer Selbstbezüglichkeit abhängt, bis hin zu ihrem Einschwingen in den Zustand vollständiger selbstreferentieller Geschlos senheit. In moraltheoretischer Hinsicht impliziert dies die Umformung von Selfishness auf der Ebene der Teilsysteme in eine regionale Tugend. Für die >>Gesellschafts«kritik folgt hieraus: An die Stelle von hilflosem Protest gegen den Zynis
mus der Macht tritt systemische Aufklärung - sprich Abklä rung der Aufklärung.
m Die Exerzitien der Modernen
Die systemisch bedingte Umwertung der Werte setzt die Ent diabolisierung der Selbstpräferenz voraus, wie man sie in den Schriften der europäischen Moralisten zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhunden beobachtet. 177 Daher nimmt es nicht wunder, im Zentrum jedes Teilsystems auf eine neutralisierte Perversion zu stoßen. Als pervers gilt nicht nur die offensive Abweichung des »Frevlers« von der moralischen Norm, per vers erscheint mehr noch die Offenheit des Geständnisses, daß dem untergeordneten System letzdich nur an sich selbst gelegen ist, nicht an seinen möglichen Mandaten im Rahmen von Größerem. 178 Darum besteht ein enger Zusammenhang zwischen Zynismus und Perversion - der Zynismus immer hin, als aufgeklärtes falsches Bewußtsein, sagt die Wahrheit über das Falsche, sofern er der Unmoral zur U nverhohlenheit verhilft. Am frühesten erfolgte der Durchbruch in die Unver hohlenheit - die aletheia der Systeme - im Bereich der Poli tik, als Macbiavelli die Eigengesetzlichkeit des politischen Handeins offenlegte und dessen - lange als skandalös emp fundene - Emanzipation von der AlJgemeinrnoral empfahl. Dem folgte die Wirtschaftstheorie seit dem Aufkommen der Produktion mittels Maschinen im späten 18. Jahrhundert nach. Schon die ersten Liberalen wie Mandeville und Adam Smith hatten verstanden: Erst kommt die Amortisation, dann die Moral. Das Industriesystem erkannte ohn·e Hehl seine Aufgabe darin, seinen Betreibern Profite zu bringen, damit sie ihre Kredite bedienen, neue Investitionen tätigen und 177 Nildas Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in: ders., Ge sellschaftsstruktur und Semamjk, Band 3, Frankfurt am Main 1993· 178 Die Relationen zwischen der theologischen, der psychoanalytischen und der systemischen Perversionstheorie sind ungeklärt. Daß psychoanalytische Beiträge zu diesem Gegenstand in der Regel kaum mehr sind als Übersetzungen der christlichen Egois muskritik in eine andere Terminologie, ist ablesbar an Arbeiten wie der von Janine Chasseguet-Smirgel, Anatomie der menschli chen Perversion, Stuttgart 1989.
1.1
Übungen und Fehlübungen
Lohnkosten tragen können. Kurzum: »Soziales« läßt sich systemintern nur über Nebeneffektkalküle berücksichtigen. Das Argument, die Wirtschaft nütze der Mitwelt am meisten, wenn sie sich auf das konzentriert, was sie am besten kann, nämlich Profite erzeugen, ist durchschlagend richtig - und kommt doch über eine trübe Plausibilität nicht hinaus, weil mit dem evidenten Erfolg der einen Seite die Gegenevidenz wächst: daß die Selfishness des ökonomischen Systems über zu viele andere Interessen hinweggeht, ob man diese nun als die des Ganzen beschreiben möchte oder nicht. Die übrigen Teilsysteme sind naturgemäß viel stärker ge zwungen, ihre Selfishness zu okkultieren und sich mit Hilfe von vagen holistischen Rhetoriken zu rechtfertigen.179 An ihrer faktischen Ausbildung zu selfish systems ändert das nichts. Jedes von ihnen erzeugt sogenannte Experten, die der Mitwelt erklären, warum die Dinge so laufen müssen, wie man es kennt. Sie müssen dem skeptischen Publikum erläutern, warum der allzu sichtbare Eigennutz des Teilsystems vom Gesamtnurzen überwogen wird. Immerhin, noch kann man sich kein Medizinsystem vorstellen, das offen ausspricht, es diene in erster Linie seiner Selbstreproduktion. Auch seitens der Kirchen hat man bisher nicht hören können, ihr einziges Ziel sei die Erhaltung der Kirchen, obschon bei Kirchenleuten das offene Wort als Tugend gilt. Noch weniger ist mit einem Schulsystem zu rechnen, das eines Tages pervers genug sein wird, zu bekennen, seine einzige Aufgabe bestehe darin, sich selber irgendwie am Laufen zu halten, um seine Profiteure, namendich Lehrer und Verwaltungsangestellte, in den Genuß von sicheren Stellen und soliden Privilegien zu bringen. Wo Geständnisse nicht zu erwarten sind, müssen Diagno sen weiterhelfen. Diagnosen formen Perversionen in Struk179 Weil sie letzdich nur »eingebettete« Experten brauchen können, bringen diese Disziplinen keine echten Wissenschaften hervor und erschweren den Ü bergang zum Niveau nicht-selbstbedie nender Tbeoriebildung.
ril Die Exerzitien der Modernen
turprobleme um. Das Problem des heutigen Schulwesens be steht offenkundig darin, daß es nicht nur dem Staatsauftrag, Bürger heranzuziehen, nicht mehr nachzukonunen vermag, weil die Definition des Ziels angesichts der Anforderungen der aktuellen Berufswelt zu unscharf geworden ist. Es arti kuliert sich noch deutlicher in der Preisgabe seines hu manistischen und musischen Überschusses, um sich einem mehr oder weniger entgeisterten Betrieb pseudowissen schaftlich fundierter didaktischer Routinen zu widmen. In dem die Schule während der IetztenJahrzehnte ihren seit dem 17. Jahrhundert beharrlich bewiesenen Mut zur Dysfunktio nalität nicht mehr aufbrachte, verwandelte sie sich in ein lee res selfish system, das sich ausschließlich an den Normen des eigenen Betriebs orientiert. Sie produziert Lehrer, die nur noch an Lehrer erinnern, Schulfächer, die nur noch an Schul fächer erinnern, Schüler, die nur noch an Schüler erinnern. Dabei wird die Schule auf inferiore Weise ))antiautoritär«, ohne aufzuhören, formal Autorität auszuüben. Da das Ge setz des Lernens durch Nachahmung nicht außer Kraft zu setzen ist, riskiert es die Schule, aus ihrer dargestellten Un willigkeit, Vorbildlichkeit darzustellen, das Vorbild zu ma chen, das sich in der nächsten Generation wiederholt. Die Folge davon ist, daß in der zweiten, dritten Generation fast ausschließlich Lehrerinnen und Lehrer auftreten, die bloß noch die Selbstbezüglichkeit des Unterrichts zelebrieren. Selbstbezüglich ist der Unterricht, der stattfindet, weil es in der Natur des Systems liegt, ihn stattfinden zu lassen. Mit der Ausdifferenzierung des Schulsystems ist ein Zustand einge treten, in dem die Schule ein einziges Hauptfach kennt, das »Schule« heißt. Dem entspricht das einzige externe Unter richtsziel: der Schulabschluß. Wer von solchen Schulen ab gehe, hat bis zu dreizehn Jahren lang gelernt, sich die Lehre rinnen und Lehrer nicht als Vorbilder zu nehmen. Durch An passung an das System hat man ein Lernen gelernt, das auf die Verinnerlichung der Materien verzichtet; man hat, nahezu
12
Übungen
und Fehlübungen
irreversibel, die Stoffdurchnahme ohne aneignendes Üben eingeübt. Man hat den Habitus eines Lernens-als-ob erwor ben, das sich beliebige Gegenstände defensiv zu eigen macht, in der systemimmanent richtigen Überzeugung, die Fähigkeit zur Anpassung an die gegebenen Formen des Unterrichts sei bis auf weiteres das Ziel aller Pädagogik. Angesichts dieser Phänomene haben radikale Schuldenker die Forderung nach der Auflösung des gesamten Systems erhoben - sei es, wie bei Ivan illich, im Postulat einer » Ent schulung der Gesellschaft«, sei es, wie bei aktuellen Reform pädagogen, durch den Vorschlag, das gesamte eingeschliffene Fächersystem aufzuheben, um die Schule während der prä genden Jahre in eines offenes Trainingscamp für die poly valente Intelligenz der Jugendlichen umzuwandeln. Solche Forderungen passen zu dem großen Umbruch von der Buch kultur zur Netzkultur, der sich in den letzten zwei Jahrzehn ten vollzog. Er würde in der Praxis zu einer Art von Auswil derung der Imelügenz führen, die man als kontrollierte Dschungelpädagogik beschreiben könnte. In diesem Kontext sind Befunde bemerkenswert, nach denen bei Jugendlichen, die viel Zeit mit Computerspielen und Junk-Kommunikatio nen verbringen, hohe Trainingseffekte im intelligenten Um gang mit Datenmüll zu beobachten seien. Steven B. Jolmson hat diese Entwicklungen unter einem Titel resümiert, der Eltern und Systemtheoretiker aufhorchen macht: Everything bad is good for you. 180 An ihm ist die These abzulesen, fast jede Form von starker Enkulturation sei besser als das Mit spielen in einem maladaptiven selfish system, das nur noch Parodien auf die vormalige Erziehung zustande bringt. Das Problem des falschen Lehrers, das ich im philosophischen Kontext an Sartre erläutert habe, kehrt auf systemischer Ebe ne als das Problem der falschen Schule wieder. r8o Steven Johnson, Neue Intelligenz. Warum spiele klüger werden, Köln 1.006.
wir durch Computer
686
lli
Die Exerzicien der Moderne.n
12
Übungen und Fehlübungen
Kunst, der sich jetzt noch zur Nachahmung eignet, ohne daß die Nachahmer die Tendenz ihrer Nachahmung eigens be merken oder gar kultivieren müßten. Dieser Aspekt besteht in der Tatsache, daß Kunstwerke nicht nur hergestellt, son dern auch ausgestellt werden. Mit der Verschiebung von der Kunst als Herstellungsmacht (mitsamt ihrem altmeisterliehen »Ballast«) zur Kunst als Ausstellungsmacht (mitsamt ihrer Freiheit der Effekte) gelangt eine Imitationsform zur Domi nanz, die der Werkstatt den Rücken kehrt, um den Ort der Präsentation ins Zentrum des Geschehens zu stellen. Auf diese Weise dringt ein unkontrollierbar überbordendes Ele ment von Selfishness nicht nur in den Kunstbetrieb ein, son dern in die Kunstwerke selbst. Man sieht es ihnen von Jahr zehnt zu Jahrzehnt deutlicher an, daß sie sich immer weniger für ihre Hergestelltheit und immer mehr für ihre Ausgestellt heit interessieren. Heiner Mühlmann hat in seinem Essay Countdown. 3 Kunstgenerationen18 1 den freien Fall des Kunstsystems in den Zustand rigoroser Selbstbezüglichkeit mit evolutions theoretischen Argumenten rekonstruiert. In dieser Röntgen aufnahme der ästhetischen Evolution von 19 ro bis heute wird erkennbar, wie die systematische Verkennung der Imitation und des Trainingselements zu paradoxen Imitationen und perversen Trainings führt. Paradox sind Imitationen und per vers sind Trainings, in denen maligne Eigenschaften- die man in anderen Zeiten unter der Rubrik » Laster« diskutiert hätte die höchsten Reproduktionserfolge erzielen. In der imita tionsblinden Subkultur der modernen bildenden Kunst ha ben sich an den Schwellen zwischen den Generationen solche Werke und Künstler durchgesetzt, bei denen sich der jeweils nächsthöhere Grad an Selbstbezüglicbkeit beobachten ließ, ohne daß die zeitgenössischen Beobachter imstande gewesen wären, den Schluß zu ziehen, das selbstbezügliche Werk sei
Maligne Wiederholungen III: Das selbstbezügliche Kunstsystem der Moderne Beobachtungen dieses Typs und dieser Tendenz werden wei ter zugespitzt, sobald man sich dem Kunstsystem der Mo derne zuwendet. Jedem Betrachter der Kunstgeschichte von 1910 bis heute ist klar, daß sich in dieser Zeitspanne die Ka tastrophe der bildenden Kunst vollzogen hat - im prozeß theoretischen wie im umgangssprachlichen Sinn des Wortes. In einem schwindelerregenden Vorstoß zu neuen Verfahren haben die drei maßgeblichen Künstlergenerationen im Feld der bildenden Künste, die von 1910-1945> die von 1945-1980 und die von I980-20 1 5 > das Feld ihres Metiers erweitert. Dabei haben sie zugleich die Fähigkeit verlernt, jeweils am artistisch anspruchsvollsten Niveau der vorangehenden Ge neration anzuknüpfen. In ihrer großen Mehrheit haben sie es aufgegeben, die goldene Kette der thematischen, technischen und formalen Imitationen auf der Ebene modern entgrenzter Kunstexperimente weiterzuführen. Die Katastrophe der Kunst erweist sich als die Katastrophe des Imitationsverhaltens und des mit ihm verbundenen Trai ningsbewußtseins, das die vorangebenden dreitausend Jahre der »Kunstgeschichte« als wie auch immer fragmentierte Proliferation von Meisterschaften und Metiergeheimnissen überspannt hatte. Nach einer Sequenz von achtzig bis hun dert Generationen imitatio-basierter Kopierprozesse in der vormodernen Kunst ist binnen bloß zweier Generationen wechsel die inhaltliche und technische Imitation nahezu völ lig ihrer Funktion als maßgeblicher Kulturreplikator beraubt worden. Da die Imitation jedoch auch in einer Kultur, die die Imitation zugunsren einer ebenso suggestiven wie suspekten Ideologie der Kreativität verleugnet, den für Traditionsbil dung entscheidenden Mechanismus darstellt, bezieht sich die Imitation der Modernen auf den einzigen Aspekt der
181 Wien 2oo8.
..
688
111 Die Exerzitien der Modernen
zugleich das sich selbst dementierende. Die vollendete Mali gnität des modernen Kunstbetriebs zeigt sich vielmehr gerade darin, daß noch der grellste selbstreferentielle Zynismus als Beweis für die Transzendenz der Kunst aufgefaßt werden kann. Das Kunstsystem hat inzwischen unangefochten den be sten Platz an der Selfisbness-Sonne erobert. Zwar hatte Mar cin Heidegger in den dreißiger Jahren doziert, das Kunst werk stelle eine Welt auf - zu ebender Zeit, als der Absturz der Kunst in pure Selbstreferentialität einsetzte: In Wahrheit denkt das Kunstwerk im selfish system der postmodernisier ten Kunst nicht daran, eine Welt aufzustellen. Es präsentiert sich vielmehr als Zeichen dessen, daß es etwas vorstellt, was nicht auf eine Welt verweist: sein eigenes Ausgestelltsein. Das Kunstwerk in der dritten Generation der blinden Sel fishness-Imitation hat alles, nur keinen expliziten Weltbe zug. Was es aufstellt, ist seine manifeste Abgeschnittenheit von allem, was außerhalb seiner eigenen Sphäre liegt. Das einzige, was es von der Welt weiß, ist, daß es dort Menschen gibt voll von Sehnsucht nach Bedeutsamkeits- und Tran szendenzerlebnissen. Es setzt darauf, daß viele von ihnen bereit sind, ihre Sehnsucht in der leeren Hermetik selbstre ferentieller Werke, in der Tautologie selbstreferentieller Aus stellungen und im Triumphalismus selbstreferentieller Mu seumsbauten zu befriedigen. Wie jede Pseudoreligion speku liert auch diese auf Transzendenz, ohne ihre mundaneo Interessen auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Inzwischen übertrifft das Kunstsystem sogar das Wirt schaftssyscem, was die Zurschaustellung seiner Unbeküm mertheit um externe Bezüge angeht. Ihm ist bereits gelungen, wovon das ökonomische System bis auf weiteres nur träumt: Es hat seine Selfishness sakralisiert und trägt sie wie das Merk mal seiner Auserwählung vorsich her. Daher die unwidersteh liche Verführung, die vom Kunstsystem auf das Wirtschafts system und alle übrigen Domänen selbstbezüglichen Agierens
r2
Übungen und Fehlübungen
ausstrahlt. Die Kuratoren, die selbstbezügliche Ausstellungen organisieren, und die Künstler, die als Selbstkuratoren und Selbstsammler agieren, 182 sind die einzigen, von denen die Akteure der spekulativen Wirtschaft noch etwas lernen kön nen: Ihre Lektion heißt: Man kann in puncto Selfishness nie weit genug gehen, solange das Publikum bereit ist, auf Kunst wie auf eine Erscheinung von Transzendenz zu reagieren und wie sollte es anders reagieren in einer Zeit, in der jedes beliebige Mehr an Sinn als religiöse Erfahrung aufgemacht wird? Alles spricht dafür, daß dasselbe Publikum auch auf extremen Reichtum wie auf Transzendenz antworten wird. Die Zu kunft des Kunstsystems läßt sich darum leicht vorhersagen: Es liegt in seiner Fusion mit dem System der größten Ver mögen. Es verspricht diesem eine glanzvolle exhibitionisti sche Zukunft und sich selbst den Übergang in die Dimension des Fürstlichen. Nach der Emergenz der artistischen Herstel lungsmacht in der Renaissance, die den Künstler als den Mei ster der Landschaft, des Portraits und der Apokalypse groß machte; nach der Emergenz der Ausstellungsmacht in der frühen Moderne, die mit der Exhibition eines Pissoirs begann und zuletzt im sich selber exhibierenden Museum mündete, erleben wir aktuell die Emergenz der Kunstmarktmacht, die alle Macht den Sammlern in die Hände legt. Der Weg der Kunst folgt dem Gesetz der Veräußerlichung, das die Macht der Nachahmung gerade dort beweist, wo die Nachahmung am heftigsten geleugnet wird: Es führt von den Künstlern, die Künstler nachahmen, über die Aussteller, die Aussteller nach ahmen, zu den Käufern, die Käufer nachahmen. Aus der De vise l'art pou1·l'art ist vor unseren Augen das Konzept the art system for the art system geworden. Aus dieser Position ent182 Vgl. Boris Groys, Logik der Sammlung. Am Ende des musealen
Zeitalters, München
1997.
Ill Die Exerzitien der Modernen
wickelt sich das Kunstsystem zum Paradigma aller erfolgrei chen Maladaptionen, ja zur Quelle maligner Kopierprozesse jeder Art. Das Problem der falschen Schule kehrt wieder als das Problem der Verführung durch die Belohnungen, die das Kunstsystem für Beispiele von Pseudokultur183 gewähn. Die Folgerung liegt auf der Hand: Es wird in Zukunft kaum eine Verkehrtheit mehr geben, die sich nicht am aktuellen Kunst system ein Beispiel nimmt. Der Handel mit Derivaten war in ihm schon lange etabliert, bevor auch die Finanzwelt ins Derivategeschäft einstieg. Wie das vom Doping korrumpierte Sportsystem steht auch das Kunstsystem an einem Scheide weg: Entweder geht es den Weg zur Korruption durch Nach ahmung des außerkünstlerischen Effekts im Ausstellunost> und Sammlungswesen zu Ende und stellt die Kunst definitiv als Tummelplatz des Letzten Menschen bloß, oder es besinnt sich auf die Notwendigkeit, die schöpferische Imitation in die Werkstätten zurückzuholen und dort die Frage neu aufzu nehmen, wie das Wiederholungswürdige vom Nicht-Wieder holungswürdigen zu unterscheiden sei.
RüCKBLICK
VON DER WIEDEREINBETTUNG DES SUBJEKTS zuM Rü cKFALL I N DIE TOTALE SoRGE
Blickt man von diesen aktuellen, allzu aktuellen Wahrneh mungen auf den langen Weg zurück, den die neuzeitlichen Formen der subjektbildenden Übung von ihren Anfängen in der städtischen Mystik, in den Werkstätten der Artisten und Handwerker, den Gelehrtenstudios und den Sekretaria ten der Frührenaissance bis in die Bildungseinrichtungen, die Kunstgalerien, die Fitnesszentren und die gentechnischen La boratorien der Gegenwart durchlaufen haben, ergibt sich jenseits der unresümierbaren Fülle divergenter Enrwick lungslinien - ein problematischer Gesamtbefund. Gewiß hat die Neuzeit eines ihrer Versprechen gehalten: Durch sie wur de den weltflüchtigen Ethikern, die die Jahrtausende zwi schen Heraklit und Blaise Pascal, zwischen Gautama Buddha und Tota Puri bevölkern, die Möglichkeit einer neuen Welt kindlichkeit erschlossen. Indem sie dieses Versprechen hielt, hat sie den Menschen zugleich genommen, was viele bis dahin für ihr Bestes hielten - die Möglichkeit, sich von der Welt radikal zu unterscheiden. Es läßt sich nicht leugnen, die Moderne hat die Entfremdung zwischen den Enklaven der Sezessionjsten184 und dem wü sten Land der Äußerlichkeiten aufgehoben und das Mißver hältnis zwischen Mensch und Sein in teils pathologischen, teils politischen, teils ästhetischen Ausdrücken neu beschrie-
r83 Zur Definition dieses Ausdrucks vgl. Heiner Müblmann, Die
Natur der Kulturen, a. a. 0.
t 84
Zum Phänomen Sezession siehe Kapitel l »Kultur ist eine Ordens rege�'•S. 2o8f. und !
Rückblick
Rückfall in die totale Sorge
ben. Auf der ersten Spur bot sie Therapien an, auf der zweiten
hört ohne Zweifel zu den Tendenzen der Modeme, die phi
soziale Reformen, auf der dritten Aufbrüche in die Kreativi
losophisch alle Aufmerksamkeit verdienen. Ja, sie leitet einen
tät. Ist es noch nötig zu sagen, daß mit diesen Hauptrichtun
Wandel ein, der mit Sympathie zu verfolgen ist, da er nicht
gen der Welt- und Selbstverbesserung zugleich die Modi be
weniger als eine Versöhnung von Mensch und Welt nach einer
zeichnet sind, die uns geholfen haben, den größten Teil der im
Ära radikaler Entfremdung in Aussicht stellte. Das »Zeitalter
Begriff >>Religion« zusammengeballten Mißverständnisse zu
des Ausgleichs« setzte die Aufhebung ältester Oppositionen
beheben? Wenn es um die Korrektur der Disproportion zwi
auf die Tagesordnung - Geist und Leben wollten wieder zu
schen Mensch und Welt geht, sind Heilkunde, Künste und
einanderfinden, Ethik und Alltäglichkeit sich neu verbünden.
Demokratie (besser: Politik der Freundschaft) die leistungs
Jahrtausende sind vergangen, in denen die zur Sezession ent
stärksten Mittler. Und wenn es gilt, die Kräfte der Weltflucht
schlossenen Einzelnen das Weltganze in Inneres und Äuße
in gute Immanenz umzuleiten, spendet ein erfüllendes Dies
res, Eigenes und Nicht-Eigenes spalteten - nun sollten sie ins
seits genügend Licht, um die Spezialeffekte des Jenseits zu
Milieu eines vieldimensionalen Ganzen zurückgebettet wer
überstrahlen.
den und sich, jeder an seinem Platz, als »Weltkind in der
Doch gleich, ob die Moderne den Menschen an die Erfor
einmal zu bemühen. Als die Aufklärung die Entzauberung
Mitten« begreifen, um Goethes heitere Selbstaussage noch dernisse der Verhältnisse oder die Verhältnisse an die Forderun
der Metaphysik vorantrieb, geschah dies nicht zuletzt in der
gen des Menschen anzupassen versuchte: Sie ging immer darauf
Absicht, die jenseitig indoktrinierten Menschen aus ihrer
aus, den in der Sezession freiwillig weltfremd gewordenen
Verstiegenheit in weltlosen Fiktionen zu befreien. Was die
Menschen aus dem »Landheim seiner selbst« in die »\V1rk1ich
Kritiker der religiösen Illusion ihrer Sache so sicher machte,
keit« zurückzuholen. Es war ihr Ehrgeiz, ihm eine einzige
war die Überzeugung, die entfremdete Menschheit könne
Staatsbürgerschaft aufzuprägen, die alles gibt und nimmt: In
nur durch den Verzicht auf ein eingebildetes Glück zu ihrem
der-Welt-Sein. Sie bindet uns an ein Gemeinwesen, das keine
wirklichen Glück emanzipiert werden.
Auswanderung mehr kennt. Seit wir in ihm leben, besitzen wir
In ihrer Summe bilden diese Bestrebungen den Komplex
alle den gleichen Paß, ausgestellt durch die Vereinigten Staaten
der Formen übenden Lebens, dessen Umrisse ich hier unter
der Gewöhnlichkeit. Sämtliche Menschenrechte sind garan
dem Titel »Exerzitien der Modernen« zeichnete. Ihre Schlüs
tiert, ausgenommen das Recht auf Ausreise aus der Faktizität.
selgestalten waren die technischen, die musischen, die disku
Deshalb werden die meditativen Enklaven mit der Zeit unsicht
rierenden Virtuosen, die sieb in umfangreichen Übungs
bar, die Wohngemeinschaften der Weltfremdheit lösen sich auf.
zyklen als Welten in der Welt, als Mikrokosmen, als »Per
Die heilsamen Wüsten veröden, die Klöster entleeren sich, Ur lauber treten an die Stelle von Mönchen, Ferien ersetzen die
sönlichkeiten« hervorzubringen wußten. Die elaborierten,
Weltflucht. Die Halbwelten der Entspannung geben dem Him
stilisierten, dokumentierten Individuen genossen die Gewiß heit, in der eigenen Brust die große Welt zu erleben. Sie alle
mel wie dem Nirvana empirisch Sinn.
profitierten noch von einer metaphysischen Rückversiche
Die Wiederverweltlichung des asketisch zurückgezogenen
auf dem Konto des erhöhten und verschonten Ich erscheinen
(und fälschlich zu einer Substanz überhöhten) Subjekts ge-
ließ. Für sie war Erfahrung mit Entwicklung synonym. Noch
rung, die ihnen die Wendung in die Welrlichkeit als Gewinn
Rückblick konnten sie die glänzende Isolierung genießen, die dem sepa rierten Subjekt ein unverlierbar scheinendes Heimatrecht im Seelischen und Geistigen garantierte - von dort her organi sierten sie ihre Reisen ins Offene, Konquistadoren und schöne Seelen in einem. An ihre Adresse war Goethes Pronun ciamento gerichtet: »Denn keine Zeit und keine Macht zer stückelt I Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.«185 Das Weitere ist schnell erzählt, weil unerzählbar. Die radi kalisierte Aufklärung des 20. Jahrhundert sprengte die Re servate der jenseitig oder gestalthaft immunisierten »Persön lichkeiten<< auf. Mit der für sich gesetzten Seele zugleich vertrieb sie deren Daimon, den unheimüchen Begleiter, von dem Goethe die Zuversicht geliehen hatte, jedes indivi duelle Leben folge seiner inneren Urform, gemäß dem »Ge setz, nach dem du angetreten<<. Auch diese Expulsion ge schah zunächst der innerweltlichen Glückseligkeit zuliebe, die manches Opfer an Illusion fordern durfte. Verschwinden sollte zumal die Priorität der Seele, die zum Gefangnis des Körpers geraten war.186 Über den wahren Preis der epochalen Operation unterrichten uns die Verirrungen des abgelaufenen]ahrhunderts. Sollte man diese Ära in einem Drehbuch verdichten, es müßte den Titel tragen: Die Säkularisation der Innenwelt oder: Die Rache der Welt an denen, die glauben wollten, sie könnten sich von ihr unberührt halten. Es führte vor Augen, wie der Mensch zum massenhaften Verbrauch bestimmt wird, sobald man ihn als bloßen Faktor im Spiel der Weltverbesserung auffa.ßt. Im Zen185 Johann Wolfgang Goethe, Urworte Orphisch, Daimon. Vgl. Her mann Schmitz, Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang (zuerst 1959), Bonn zoo8, S. 217 f. und 264f. r86 Vgl. Alfred Schäfer, Die Seele: Gefängnis des Körpers, in: Alfred Pongratz u. a., Nach Foucault. Diskurs- und machtanalytische Perspektiven der Pädagogik, Wiesbaden 2004, S. 97-I I3.
Rückfall in die totale Sorge trum der Handlung standen die symmetrisch aufeinander be zogenen Primarideologien des r 9· und 20. J ahrhundens, die die Rückübersetzung des Menschen ausder Welrflüchtigkeit indie Weltzugehörigkeit vorantrieben: Naturalismus und Sozialis mus - man könnte auch, ihrer engen Verwandtschaft wegen, sagen: Sozialnaturalismus und Naruralsozialismus. Beide Sy steme waren sich einig in dem Bestreben, den Menschen ganz für das »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse<< samt ihren physischen Grundlagen zu reklamieren und ihm die Eva sion in vermeintliche Innen- und Gegenwelten zu verbauen um von den religiösen Hinterwelten nicht mehr zu reden. Von beiden Ansatzen ist ein elementarer Pragmatismus untrennbar, dem zufolge als real nur gelten darf, was in sozialen Handlun gen und technischen Verfahren traktierbar ist. Er wird ergänzt durch einen unerbittlichen Moralismus, ja durch die Neigung zum moraldämonischen Exzeß: Wenn schon den Menschen keine spirituelle Distanzierung von den Weltverhältnissen mehr gelingt, tun doch Zahllose alles, was ihnen nötig scheint, damit sie sich innerhalb der Gegebenheiten zu den Guten, den moralisch Überlegenen rechnen können. Der entscheidende Schlag gegen die bloße Möglichkeit einer weltfluchtfähigen Existenz erfolgte jedoch nicht von der pragmatischen Seite her, sondern aus der erneuten >>Revolu tion der Denkungsart« im frühen 20. Jahrhundert, die mit dem Auftreten des jungen Heidegger verbunden isr. Er stellte die Uhr der philosophischen Reflexion um mehr als zweiein halbtausend Jahre zurück, als er in seinem frühen Hauptwerk Sein und Zeit, 1927, die Entscheidung traf, das philosophische Denken wieder in der Situation des Daseins als ln-der-Welt Sein beginnen zu lassen. Damit machte er den Schritt in die distanzgebende Theorie, und mit ihm die Sicherung des Selbst in der beobachtenden Fernstellung, rückgängig, ebenjenen Schritt, den ich -unter Wiederverwendung heraklitischer Bil der - als das Heraussteigen des denkenden Selbst aus dem
Rückblick Fluß des Lebens und die Eroberung des Ufers beschrieb.
187
Wir haben gesehen: Am Ufer war der Beobachter erschienen, unter dessen Blick sich die Welt zum Schauspiel wandelte einem unwürdigen Schauspiel, wie sich versteht, von dem die ethisch bewegte Intelligenz sich abwendet. Durch den Neuansatz inmitten der umfassenden Situation, die ln-der- Welt-Sein heißt, wurden die Glashäuser der Innen welt-Illusion gesprengt, die Logen der reinen Beobachtung versanken in der Flut. Das separierte Subjekt sah sich ins Da sein �urückversetzt und seines theoretischen Privilegs - sei ner Ahnlichkeit mit den Zuschauergöttern - beraubt. Von neuem wurde es in das Bad der Stimmungen getaucht, die das Ganze, worin wir uns aufhalten, vor-logisch tönen und erschließen. Nun kam wieder ans Licht, in welchem Maß der
Mensch als »Organ« der Existenz auf Außer-sich-Sein ange legt ist. Von vorneherein ist seine Seinsweise selbstverloren
�
da sie sich immer schon als Bei-den-Dingeo-Sein und als Mit
Sein mit Anderen vollzieht. Seiner spontanen Beschaffenheit nach ist der Mensch eine Marionette des Kollektivs und eine Geisel der Situationen. Erst in »zweiter Lesung«, nachträg lich und ausnahmsweise, kommt das Dasein auf sich und sein mögliches Mandat des Selbstseins zurück, und alle Versuche, dieses nachträglich Entdeckte zu einer ersten Substanz, einer Urform, einer durch das Ich ragenden Weltachse zu erheben,
Rückfall in die totale Sorge Die Konsequenzen der Wende sind so unabsehbar wie die Verhältnisse des kommenden Zeitalters, das sich, was immer es sonst sein mag, nur als das Zeitalter »danach« bezeichnen läßt. Eine Beobachtung immerhin drängt sich auf: Die Wie
derverweltlichung des zurückgezogenen Subjekts hat die Er wartUng nicht erfüllt, wonach der Verzicht auf eingebildete
Glückseligkeiten dem physiseben oder tatsächlichen Glück unmittelbar zugute komme. Der Grund bierfür läßt sich an Heideggers Beschreibung des i n die weltliche Situation zu
rückgebetteten Oaseins ablesen. Der Preis für den Neubeginn der denkenden Orientierung aus der Position des In-der Welt-Seins heißt unvermeidlich: Disranzverlust. Dessen Hauptsymptom ist die Auslieferung des Menschen an die Sorge und seine Immersion in der gelebten Situation. Wer
aus dem »Subjekt« wieder das »Dasein« macht, ersetzt das elte Zurückgezogene durch das Einbezogene, das Gesamm . 188 , E ntewtgte d h as durch das Zerstreute, das Verewigte durc
das Erlöste durch das Nicht-Gerettete. Was Heidegger die Sorge nennt, ist das Zugeständnis des Menschen an die Welt, daß er sich gegen ihre Infiltration nicht abzudichten vermag.
Das Ufer, an dem der Beobachter Fuß fassen wollte, ist kein wirklich rettendes. Das faktische Existieren ist »immer auch . . ts9 GIe1ch w1e es schon in der besorgten Welt aufgegangen«.
sich abzuschirmen und abzusondern versuchte -als atman, als
verraten die Spuren subtiler Fälschungen. Wie Proudhon do
noetische Psyche, als
zierte: »Wer Gott sagt, will betrügen«, ist aus Heidegger zu
ren Zitadelle, als Seelenfunke, als zugrundeliegendes Subjekt,
folgern: » Wer Ich sagt, will sich selber täuschen.« Durch ihre symptomatische Übereilung verraten diese Überhöhungen des Selbst ein Interesse an Rettung aus dem reißenden Strom der Zeit. Muß man betonen, daß das Verlangen nach Rettung nicht auch per se die Möglichkeit der Renung beweist? 187 Und der als »Schritt zurück« in der Husserlschen Lehre von der
efochc bz.w. d�r "Einklammerung« des Existenzurteils akademi s•crt wurde. Über "Auftauchen«, ,.Ufer«, »Ufer-Subjektivität« und »reine Beobachtung« siehe oben S. 3 53f.
homo interior, als Einwohner der inne
als vorhandenes Ich, als Persönlichkeit, als Kreuzungspunkt der Archetypen, als Schwebepunkt der Ironie, als Kritiker des Verblendungszusammenhangs und als Beobachter von Beob achtern -, es ist in Wahrheit aufgrund seines konstitutiven t88
Vgl. Eugen Rosenstock-Huessy, Die Sprache des �cnschcngc . schlechts. Eine leibhaftige Grammatik io vier Te1lcn, Zwcttcr Band, Heidclberg 1964, S. 15-197: »Wenn eine Ewigkeit vcr srummt. Erinnerungen eines Entcwigten«. 189 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. 0., S. 192.
Rückblick
Außer-sich-Seins immer schon der Sorge verfallen - die Göt ter allein, und neben ihnen die Narren, sind sorglos in sich. Von Anbeginn isr das Dasein durch Welclichkeiten koloniali siert. Weil es immer schon io Sorge aufgegangen ist, muß es Prioritätenlisten erstellen und sie wie sein innerstes Anliegen abarbeiten. Versuche der Distanznahme können nie mehr dar stellen als sekundäre Modifikationen einer allem zuvorkom menden Sclbstauslieferung. Die Äußerlichkeiten, von denen Mare Aurcl behauptet hatte, sie sründen fremd vor unserer Tür, haben in Wahrheit das Haus besetzt. Der vorgebliche Hausherr ist von den Gästen besessen, und er kann von Glück sagen, wenn sie ihm einen Rückzugswinkel lassen. So spricht alles dafür, das menschliche Dasein sei nach drei Jahrtausenden spirirueller Evasionen an den Punkt zurück versetzt, bei dem die Sezessionen begonnen hatcen, und sei nach allem nur wenig klüger als zuvor - zumindest kaum weniger verlegen. Dieser Eindruck ist zugleich richtig und falsch - richtig, sofern der jenseitssüchtige Überschwang sur realer Aufstiege den Prüfungen der Zeit und der Analyse nicht standgehalten hat, faJsch, weil die Schatzhäuser des Übungswissens überreich gefüllt sind, mochten sie auch in jüngerer Zeit wenig frequentiert werden. Nun ist es an der Zeit, all die Formen des übenden Lebens neu zu vergegenwärtigen, die nicht aufhören, salutogeoe Energien freizusetzen, selbst wenn die Überhöhungen zu metaphysi schen Revolutionen, in die sie anfangs eingebunden waren, zerfallen sind. Alte Formen sind auf ihre Wiederverwendbar keit zu prüfen, neue Formen zu erfinden. Ein anderer Zyklus von Sezessionen mag beginnen, um Menschen erneut heraus zuführen - wenn schon nicht aus der Welt, so doch aus der Srumpfheit, der Niedergeschlagenheit, der Verrannrheir, vor allem aber aus der Banalität, von der lsaac Babel sagte, sie sei die Konterrevolution.
AusBLICK ÜER ABSOLUTE IMPERATIV
Seht, mit wie großen Buchstaben ich euch schreibe, und mit eigener Hand.
Paulus, Brief an die Galater, 6,
11
Wer darfes sagen? »Du mußt dein Leben ändern!« Die Stimme, die Rilke im Louvre zu sich sprechen hörte, hat sich inzwischen von ihrem Ursprung gelöst. Binnen eines Jahrhunderts ist sie in den all gemeinen Zeitgeist eingeflossen, ja, sie ist zum letzten Inhalt all der Kommunikationen geworden, die um den Globus schwirren. Es gibt im Augenblick keine Information im Welt äther, die nicht ihrer Tiefeosrrukrur nach auf diesen absoluten Imperativ zu beziehen wäre. Er ist der Ruf, der sich nie zu einer bloßen Tatsachenfeststellung neutralisieren läßt, er bil det den Imperativ, der durch alle Indikative hindurchwirkt. Er artikuliert das Leitwort, das die zahllosen chaotischen In formationspartikel zu einer prägnanten moralischen Gestalt anordnet. Aus ihm spricht die Sorge um das Ganze. Es läßt sich nicht leugnen: Die einzige Tatsache von universaler ethi scher Bedeutung in der akruellen Welt ist die diffus allge genwärtig wachsende Einsicht, daß es so nicht weitergehen kann. Noch einmal haben wir Grund, an Nietzsche zu erinnern. Er hatte zuerst begriffen, in welchem Modus der ethische Imperativ auch in moderner Zeit zu übermitteln ist: Er spricht uns in der Form eines Befehls an, der eine bedingungs lose Überforderung aufrichtet. Damit stellte er sich geger
700
Ausblick
den pragmatischen Konsensus, wonach man von Menschen rechtens nur verlangen dürfe, was sie im status quo zu leisten fähig sind. Nietzsche setzte das ursprüngliche Axiom des übenden Lebens dagegen, wie es seit dem Einbruch der ethischen Differenz in die herkömmlichen Lebensformen feststeht: Der Mensch kommt nur voran, solange er sieb am Unmöglichen orientiert. Die maßvollen Gebote, die vernünf tigen Vorschriften, die alltäglich zu erbringenden Anforde rungen - sie alle setzen zu ihrer Verwirklichung bereits eine hyperbolische Spannung voraus, die einem unerfüllbaren und unausweichlichen Anspruch entspringt. Was ist der Mensch, wenn nicht das Tier, von dem zuviel verlangt wird? Nur wer das erste Gebot aufrichtet, kann Zehn Gebote folgen lassen. 1m ersten redet das Unmögliche selbst mich an: Du soJlst keine anderen Maßstäbe haben neben mir. Wer nicht vom Übergroßen erfaßt wurde, gehört nicht zur Gattung homo sapiens. Zu ihr rechnet schon der erste Jäger in der Savanne, der den Kopf hob und verstand, daß der Horizont keine schützende Grenze ist, sondern das Tor, durchdas die Götter und die Gefahren eintreten. Um die aktuelle Überforderung auf der Höhe des Welt zustands zu artikulieren, ging Nietzsche das Wagnis ein, der Öffentlichkeit »ein Buch für Alle und Keinen« zu überge ben - eine prophetische Eruption, sechstausend Fuß jenseits von Mensch und Zeit, rücksichtslos über die Köpfe sämt licher Hörer hinweggesprochen und zugleich auf invasive Weise mit dem Wissen jedes Einzelnen von seinem intimen Entwurf ins Noch-Nicht verbündet. Das Übermensch programm kann man auf sich beruhen lassen, wenn man weiß, daß es für Vertikalspannung im allgemeinen steht. Sei ne Proklamation war nötig geworden, als man der Hypo these Gott nicht mehr hinreichend sicher war, um die Ver ankerung der emporziehenden Spannung in einem tran szendenten Pol zu garantieren. Aber auch ohne Gott und Übermensch - es genügt der Hinweis, daß jeder Einzelne,
Der absolute Imperativ
auch der erfolgreichste, der schöpferischste, der großzügig ste, wenn er sich ernsthaft prüft, zugeben müßte, er sei we niger geworden, als er seinem Seinkönnen nach hätte werden sollen, die wenigen Momente ausgenommen, in denen er sa gen durfte, er habe der Pflicht, ein gutes Tier zu sein, ge horcht. Als durchschnittliches Übertier, von Ambitionen ge kitzelt, von exzessiven Symbolen heimgesucht, bleibt der Mensch hinter dem zurück, was von ihm gefordert wird, selbst im Trikot des Siegers, selbst im Gewand des Kardinals. Der Satz »Du mußt dein Leben ändern!« liefert die Grund form des Rufs an alle und an keinen. Zwar richtet er sich unmißverständlich an einen bestimmten Empfänger, aber er spricht neben ihm auch alle anderen an. Wer ihn ohne Ab wehr vernimmt, erlebt durch ihn die Begegnung mit dem Erhabenen in einer persönlichen Adressierung. Erhaben ist, was durch Vergegenwärtigung des Überwältigen�en dem Beobachter die Möglichkeit seines Untergangs im übergro ßen vor Augen stellt, dessen Vollzug jedoch bis auf weiteres aussetzt. Das Erhabene, dessen Spitze auf mich zeigt, ist per sönlich wie der Tod und unfaßbar wie die Welt. Für Rilke war es die dionysische Dimension der Kunst gewesen, die ihn aus der verstümmelten Apollo-Statue anredete und ihm das Gefühl der Begegnung mit etwas unendlich Überlegenem einflößte. Heute hingegen ist die autoritative Stimme in Kunstwerken kaum noch zu hören. Befehlende Autorität kommt auch nicht mehr den niedergelassenen »Religionen« und den Kirchenräten zu, geschweige denn den Räten der Weisen, falls man den Ausdruck noch ohne Ironie gebrau chen kann. Die einzige Autorität, die heute sagen darf: »Du mußt dein Leben ändern!«, ist die globale Krise, von der seit einer Weile jeder wahrnimmt, daß sie begonnen hat, ihre Apostel auszu senden. Sie besitzt Autorität, weil sie sich auf etwas Unvor stellbares beruft, von dem sie der Vorschein ist - die globale
702
Ausblick
Katastrophe. Man braucht nicht religiös musikalisch zu sein, um zu begreifen, warum die Große Katastrophe zur Göttin
des Jahrhunderts werden mußte. Da sie über die Aura des Ungeheuren verfügt, kommen ihr die wesentlichen Merkma
le zu, die bisher den transzendenten Mächten zugeschrieben
wurden: Sie bleibt verhüllt, gibt sich aber in Zeichen schon zu
erkennen; sie ist unterwegs, jedoch in ihren Vorboten bereits
authentisch da; sie offenbart sich individuellen Intelligenzen
in grellen Visionen und übersteigt zugleich die humane Fas sungskraft; sie beruft Einzelne in ihren Dienst und macht sie
zu Propheten; in ihrem Namen wenden sieb ihre Delegierten an die Mitwelt, werden aber von den meisten wie Belästiger
abgewehrt. Aufs Ganze gesehen, geht es ihr kaum anders als
dem Gott des Monotheismus, als er vor kaum dreitausend Jahren auf die Bühne trat: Schon dessen Botschaft war zu groß für die Welt, und nur die Wenigen waren bereit, seinet wegen ein anderes Leben zu beginnen. Aber hier wie dort verschärft die Verweigerung der Vielen die Spannung, die über dem humanen Kollektiv liegt. Seit die globale Katastro phe mit ihrer partiellen Enthüllung begonnen hat, ist eine neue Gestalt des absoluten Imperativs in der Welt, die sich unter der Form einer scharfen Ermahnung an alle und an keinen richtet: Ändere dein Leben! Andernfalls wird früher oder später die vollständige Enthüllung euch demonstrieren,
Der absolute Imperativ
703
Tugendlehren nicht zu reden. Auch die vielzitierte Rückkehr der •Religion• ist nicht viel mehr als das Symptom eines Un
behagens, das auf seine Auflösung in einer luziden Formulie rung wartet. In Wahrheit kann die Ethik allein in der Erfah
rung des Erhabenen gründen, heute wie seit dem Beginn der
Entwicklungen, die zu den ersten ethischen Sezessionen führ
ten. Unter seinem Appell begann die Menschheit der zwei
Geschwindigkeiten ihre Kampagne durch die Zeiten. Allein
das Erhabene ist imstande, die Überforderung aufzurichten,
die Menschen Kurs aufs Unmögliche nehmen läßt. Was man die »Religion« nannte, war immer nur als Vehikel des abso
luten Imperativs in seinen nach Ort und Zeit verschiedenen
Redaktionen von Bedeutung. Der Rest ist das Geschwätz,
von dem Wirrgenstein zu Recht sagte, man solle ihm ein Ende machen. Für die theologisch Interessierten folgt hieraus: Der Eine Gott und die Katastrophe haben mehr miteinander gemein
sam, als man bisher registrierte, nicht zuletzt den Ärger mit den Menschen, die sich nicht dazu aufraffen können, an ihn
oder sie zu glauben. Es gibt nicht nur die von Coleridge be
nannte »willentliche Suspension des Unglaubens" an die Fik tion, ohne welche kein ästhetisches Verhalten möglich wäre. Noch wirksamer ist die willendiche Suspension des Glaubens
was ihr i n der Zeit der Vorzeichen versäumt habt!
ans Reale, ohne welche kein praktisches Arrangement mit
Vor diesem Hintergrund läßt sich erklären, woher das Un
mit der Wirklichkeit kaum je ohne eine Beimischung von
behagen in der heurigen Ethikdebatte stammt, gleich, ob es
dem Gegebenen zustande kommt. Die Einzelnen finden sich Enrwirklichung zurecht. Die ungläubige Entwirklichung un
ihre akademischen oder ihre publizistischen Ausprägungen
betrifft. Es folgt aus dem Mißverhältnis zwischen den Unge
terscheidet auch kaum zwischen Vergangenheit und Zukunft:
Ob die Katastrophe eine vergangene ist, aus der man hätte
heuerlichkeiten, die seit der Ära des Kalten Krieges nach 194 5
lernen sollen, oder eine kommende, die mit geeigneten Maß
in der Luft liegen, und der lähmenden Harmlosigkeit sämt
licher gängigen Diskurse, gleich ob sie gesinnungs- oder verantwortungsethisch, diskurs- oder situationsethisch argu mentieren - um von der hilflosen Reanimation der Wert- und
nahmen abzuwenden wäre - inuner weiß das Nicht-Glau ben-Wollen die Dinge so einzurichten, daß der gewünschte Grad an Entwirklichung erreicht wird.
-
Ausblick
Der absolurc Imperativ
kulrurelle Praktiken eingeübt: Seit die Aufklärung Gott zu
Wer kann es hören?
einer moralischen Hintergrundstrahlung des Universums herabstufte oder ihn geradewegs zur Fiktion erklärte, haben
Was menschengemachte Katastrophen angeht, war das 20.
die Modernen die Erfahrung des Erhabenen aus der Ethik in
Jah �hundert die instruktivsec Periode der Weltgeschichte.
die Ästhetik verschoben. Den Spielregeln der seit dem frühen
�er Form von Projekten ausgelöst, die den Gang der
sich die Überzeugung einverleibt, daß man bloß vorgestellte
Gesch1chte von einem einzigen Aktionszentrum aus unter
Schrecken vollkommen unbeschädigt überlebt. In ihren Au
Kontrolle bringen sollten. Sie waren die anspruchsvollsten
gen geschehen alle Schiffbrüche nur für die Zuschauer und
An 1hr war abzulesen: Die größten Unheilskomplexe wurden
unter
19. Jahrhundert einserzenden Massenkultur gemäß haben sie
Manifestationen dessen, was Philosophen im Gefolge von
alle Katastrophen nur dem angenehmen Gefühl des Entrin
Aristoteles und Marx die Praxis nannten. In zeitgenössischen
nens zuliebe. Sie folgern daraus, Drohungen seien immer nur
Verlautbarungen beschrieb man die großen Projekte als Ge
ein Teil der Unterhaltung und Mahnungen ein Element der
stalten des Endkampfs um die Erdherrschaft. Den Menschen
Show.
der Praxis-Zeit stieß nichts zu, was nicht von ihnen selbst oder von ihren Mitmenschen veranstaltet worden wäre. Da
Die Rückkehr des Erhabenen in Form eines ethischen Jm perativs, mit dem nicht zu spaßen ist, trifft die westliche Welt
her könnte man sagen: Nichts ist in der Hölle, was nicht zu
- um hier nur von ihr zu sprechen - unvorbereitet. Ihre Bür
vor in den Programmen gewesen war. Die Zauberlehrlinge
ger haben es sich zur Gewohnheit gemacht, alle im Realitäts
der planetarischen Gestaltung haben die Erfahrung machen
tOn vorgebrachten Hinweise auf die sich nähernde K t stro �� phe als ein dokumentarisches Horror-Genre :w rcztpteren,
müssen, daß das Unberechenbare den strategischen Kalkülen wenn sich die guten Absichten in den schlimmen Ergebnissen
und ihre Intellektuellen werden ihrem Ruf als detached cos mopolitan spectators gerecht, indem sie auch die ernstesten
nicht wiedererkannten. Das Weitere lag auf der Linie der
Warnungen als diskursives Genre dekonstruieren und ihre
um eine ganze Dimension voraus ist. Kein Wunder also,
psychologischen Wahrscheinlichkeit: Die militanten Welt
Autoren in der Kategorie der Wichtigtuer einordnen. Doch
verbesserer zogen sich aus den selbstbewirkten Debakeln
selbst wenn es kein ästhetisches Genre wäre: Man bleibt prag
zurück und schrieben, was ihnen über den Kopf stieg, dem
matisch bei der Überzeugung, mit dem Ernstnehmen könne
Verhängnis zu. Die überzeugendste Deutung dieses Verhal
man sich Zeit lassen. Überdies: Eine Person, die die Zeichen
tensmusters stammt aus der Feder eines skeptischen Philoso
am Horizont persönlich nehmen wollte - müßte sie nicht
phen: Nach fatalen Unternehmen praktizieren die gescheiter
sofort unter ihren Sorgen zusammenbrechen?
ten Akteure »die Kunst, es nicht gewesen zu sein«.
Nichtsdestoweniger werden die Zeitgenossen sich früher
Im Vorfeld der angekündigten Katastrophe sind analoge
oder später davon überzeugen, daß es kein Menschenrecht
Muster arn Werk: Vor fatalen Entwicklungen üben sich die
auf Nicht-Überforderung gibt - so wenig wie ein Recht dar
Akteure auf der politischen Bühne in der Kunst die Zeichen
auf, nur solchen Problemen zu begegnen, deren Lösung man
der Zeit nicht verstanden zu haben. In dieses Ver alten- man
mit den Bordmitteln bewältigt. Man mißversteht die Narur
könnte es ein universales Prokrastinieren nennen - sind die
des Problematischen, wenn man als solches nur gelten läßt,
Menschen des Westens seit längerem durch tief verankerte
was Aussicht darauf hat, in der laufenden Legislaturperiode
h
-
Ausblick
bewältigt zu werden. Um so mehr verfehlt man das Wesen der Vertikalspannungen in der menschlichen Existenz, wenn man von einer Symmetrie zwischen cballenge und response aus geht. Wer nach der Lage des Menschen fragt, findet Über forderungen auf der einen Seite, Überschüsse auf der anderen - und nichts garantiert, daß das eine und das andere wie Pro blem und Lösung zueinanderpassen.
Wer wird es tim? Was auch immer künftig unternommen wird, um den erkann ten Gefahren zu begegnen, es steht unter dem Gesetz der steigenden UnwahrscheinJichkeit, das die heißgelaufene Evo lution beherrscht. Aus dieser Feststellung läßt sich ableiten, warum die zwischen Rom, Washington und Fulda zirku lierende wertkonservative Propaganda keine angemessene Antwort aufdie aktuelle Weltkrise gibt -von möglichen kon struktiven Wirkungen in kleineren Zirkeln abgesehen. Denn wodurch sollen die überzeitlichen »Werte«, die sich bereits angesichrs vergleichsweise geringerer Probleme als ohnmäch tig und unzureichend erwiesen haben, mit einem Mal die Macht gewinnen, angesichts größerer Verlegenheiten die Wende zum Besseren zu bewirken? Ware die Antwort auf die aktuellen Herausforderungen tatsächlich in den klassischen Tugenden zu finden, würde es genügen, die Maxime zu befolgen, die Goethe in seinem Divan-Gedicht Vermächtnis altpersischen Glaubens formu Üerte: »Strenger Dienste tägliche Bewahrung I Sonst bedarf es keiner Offenbarung.« Selbst wer bereit ist, zuzugeben, dies sei - unter der orientalischen Maske verborgen - das größte Wort des europäischen Bürgertums vor seinem historischen Versagen, versteht unmittelbar, daß uns mit einer Bewah rungsregel allein nicht zu helfen ist. Neben der unverzicht baren Sorge um die Mitnahme des Bewährten imponiert uns
-
Der absolute Imperativ
ja vor allem die Neuheit der Situationen, die kühne Antwor ten erforderlich macht. Sogar am Frauenplan in Weimar sprä che man heute eher von strenger Dienste tägücher Erfindung, um dann, nach einem Moment der Überlegung, das Beiwort »Streng« zu tilgen: zum einen, weil es dem Zeitgeschmack zuwider ist, zum anderen, weil täglich Erfundenes sich nicht zu strenger Dienstauffassung empfiehlt. Nach nochmaliger Überlegung würde man auch auf den vorangestellten Genitiv verzichten und zudem lieber von Aufgaben als von Diensten sprechen. Zuletzt gäbe man ein Communique heraus mit der undurchdringlichen Empfehlung, den gutgesinnten Men schen in der Harmonischen Gesellschaft möge es gelingen, Altes und Neues fruchtbar zu verbinden. Studiert man die Weisungen aus Rom, wird man bemerken, daß sie aus ebenso chinesischen Formeln bestehen. Das Gesetz der steigenden Unwahrscheinlichkeit öffnet die Aussicht auf zwei Überforderungen in einer: Was sich zur Stunde auf der Erde abspiele, ist auf der einen Seite eine real voranschreitende Integrationskatastrophe - die mit der Ko lumbusfahrt 1492 lancierte, mit der spanischen Unterwer fung des Aztekenreichs 1 5 2 1 in Fahrt gebrachte, durch en Welthandel zwischen dem I 7· und I9· Jahrhundert akzelener te und dank der schnellen Medien des 20. Jahrhunderts bis zur effektiven Synchronisierung des Weltgeschehens voran getriebene Globalisierung. Durch sie werden die bisher zer streut lebenden Fraktionen der Menschheit, die sogenannten Kulturen, zu einem instabilen und von Ungleichheiten zer rissenen Kollektiv auf hohem Transaktions- und Kollisions niveau synchronisiert. Auf der anderen Seite voiJzieht sich eine voranschreitende Desintegrationskatastrophe, die sich auf einen zeitlich nicht festgelegten, jedoch nicht endlos auf schiebbaren Crash-Punkt zubewegt. Von den beiden Unge heuerlichkeiten ist die zweite bei weitem die wahrscheinli chere, weil sie auf der Linie der laufenden Prozesse liegt. Ihr
�
-
Ausblick
leisten vor allem die Produktions- und Konsumverhältnisse in den Wohlstandsregionen und Entwicklungszonen der Er de Vorschub, sofern sie in blinder Überausbeutung endlicher Ressourcen gründen. Die Vernunft der Nationen erschöpft sich noch immer in dem Bemühen, Arbeitsplätze auf der Ti tanic zu erhalten. Die Crash-Lösung ist auch deswegen wahr scheinlich, weil sie einen hohen psycheökonomischen Ko stenvortcil mit sich bringt: Sie brächte die Erlösung von den chronischen Spannungen, die infolge der globalen Evolution auf uns einwirken. Die Auftürmung des Mount lmprobable zu den Höhen einer operativ integrierten Welt»gese!Lschaft« wird bloß von den glücklichen Naturen als ein Projekt er fahren, an dem mitzuwirken sie vitalisiert. Sie allein erfahren das Dasein in der Gegenwart als ein stimulierendes Privileg und möchten zu keiner anderen Zeit gelebt haben. Weniger glückliche Naturen haben den Eindruck, noch nie habe In der-Welt-Sein so müde gemacht. Was liegt da näher als die Formel der Massenkultur: der Unterhaltung den Vorrang ge ben und im übrigen damit rechnen, daß kommt, was kommen muß? Dem Philosophen Hans Jenas verdanken wir den Beweis, daß die Eule der Minerva nicht immer in der Abenddämmerung ihren Flug beginnt. Durch seine Umformung des kategori schen Imperativs in einen ökologischen Imperativ bat er die Möglichkeit vorausschauenden Philosophierens für unser Zeitalter demonstriert: »Handle so, daß die Wirkungen deines Handeins verträglich sind mit der Permanenz echten mensch Üehen Lebens auf Erden.« Damit nimmt der metanoetische Imperativ für die Gegenwart., der den kategorischen zum ab soluten steigert, hinreichend scharfe Konturen an. Er steiJt die harte Forderung auf, uns auf die Monstrosität des konkret gewordenen Universellen einzulassen. Er verlangt von uns den Daueraufenthalt im Überforderungsfeld enormer Un wahrseheinlichkeiten. Weil er jeden persönlich anredet., muß
--
Der absolute Imperativ ich seinen Appell auf mich beziehen, als wäre ich sein einziger Adressat. Von mir wird gefordert, mich zu verhalten, als könnte ich auf der Stelle wissen, was ich zu leisten habe, sobald ich mich als Agent im Netzwerk der Netzwerke begreife. Ich soll die Wirkungen meines Handeins in jedem Augenblick auf die Ökologie der WeltgeseBschaft hochrechnen. Mir scheint sogar, ich solle mich lächerlich machen, indem ich mich als Mitglied eines Sieben-Milliarden-Volks verstehe - obwohl mir schon die eigene Nation zuviel ist. Ich soll als Weltbürger meinen Mann stehen, selbst wenn ich meine Nachbarn kaum kenne und meine Freunde vernachlässige. Mögen die meisten neuen Volksgenossen für mich auch unerreichbar bleiben, weil »Menschheit« weder eine gültige Adresse noch eine be gegnungsfähige Größe darstellt: Ich habe dennoch den Auf trag, ihre reale Gegenwart bei jeder eigenen Operation mitzu bedenken. Ich soll mich zu einem Fakir der Koexistenz mit allem und allen entwickeln und meinen Fußabdruck in der Umwelt auf die Spur einer Feder reduzieren. Mit diesen Mandaten ist der Tatbestand der Überforderung ebenso erfüllt wie durch die alteuropäische imitatio Christi oder das indische moksha-Ideal. Da es vor dieser Forderung kein Entrinnen gibt, es sei denn das Ausweichen in die Be täubung, stellt sich die Frage, ob sich ein vernünftiges Motiv darstellen läßt, mit dessen Hilfe die Kluft zwischen dem erha benen Imperativ und der praktischen Übung zu überbrücken wäre. Ein solches Motiv läßt sich - stellt man die Phantome des abstrakten Universalismus beiseite - allein aus einer Überlegung der Allgemeinen Immunologie gewinnen. Im munsysteme sind verkörperte bzw. institutionalisierte Verlet zungs- und Schädigungserwartungen, die auf der Unterschei dung zwischen Eigenem und Fremdem beruhen. Wahrend sich die biologische Immunität auf die Ebene des Einzelorga nismus bezieht, betreffen die beiden sozialen Immunsysteme die überorganismischen, sprich die kooperativen, transaktio-
710
Ausblick
nalen, konvivialen Dimensionen menschlicher Existenz: Das solidaristische System garantiert Rechtssicherheit, Daseins vorsorge und Verwandtschaftsgefühle jenseits der jeweils ei genen Familien; das symbolische gewährt Weltbildsicherheit, Kompensation der Todesgewißheit und generationenüber greifende Normenkonstanz. Auch auf dieser Ebene gilt die Definition: »Leben« ist die Erfolgsphase eines Immunsy stems. Wie die biologischen Immunsysteme können auch das solidaristische und das symbolische Phasen des Schwä che, ja sogar der Beinahe-Erfolglosigkeit durchlaufen. Solche äußern sich in der Selbst- und Welterfahrung der Menschen als Labilität des Wertbewußtseins und als Ungewißheit hin sichtlich der Belastbarkeit unserer Solidaritäten. Ihr Zusam menbruch ist mit dem Kollektivtod gleichbedeutend. Das starke Merkmal von Systemen dieses Typs liegt darin, daß sie das Eigene nicht im Horizont des organismischen Egoismus definieren, sondern sich in den Dienst eines ethni schen oder multiethnischen, institutionell und intergenera tionell erweiterten Selbstkonzepts stellen. Dadurch wird be greiflich, warum sich die evolutionären Ansätze zu einem animalischen Altruismus, die sich in der natürlichen Fort pflanzungs- und Brutpflegebereitschaft der Arten manifestie ren, auf menschlicher Stufe zu Kulturaltruismen fortbilden. Das Rationale dieser Entwicklung liegt in der Größerforma tierung des Eigenen: Was aus der Perspektive des Einzelnen altruistisch erscheint, ist Egoismus auf der Ebene der größe ren Einheit: In dem Maß, wie die Individuen als Agenten ihrer lokalen Kultur zu handeln lernen, dienen sie dem er weiterten Eigenen, indem sie am engergefaßten Eigenen Ab striche hinnehmen. Dieses implizite immunologische Kalkül liegt Opfern und Steuern, Manieren und Diensten, Askesen und Virtuositäten zugrunde. Alle wesentlichen Kulturphäno mene gehören zu den Gewinnspielen der überbiologischen immunitären Einheiten.
Der absolute imperativ
Diese Überlegung macht eine Erweiterung des Immuni tätsbegriffs erforderlich: Sobald man es mit Lebensformen zu tun bekommt, an denen das zoon politik6n Mensch mitwirkt, muß mit dem Vorrang der überindividuellen Immunitäts bündnisse gerechnet werden. In solchen Verhältnissen ist in dividuelle Immunität nur als Ko-Immunität zu haben. Sämt liche bistorisehen Sozialverbände von den Urhorden bis zu den Weltreichen sind in systemischer Sicht als Ko-Immuni tärsstrukturen erklärbar. Allerdings ist festzustellen, daß die Verteilung der konkreten Immunvorteile in geschichteten Groß»gesellschaften<< von alters her starke Ungleichheiten aufweist. Die Ungleichheit der Zugänge zu Immunchancen wurde schon früh als die tiefste Manifestation von »Unge rechtigkeit« empfunden. Sie wurde entweder als obskures Schicksal veräußerlicht oder als Folge von dunkler Schuld verinnerlicht. Solches Empfinden konnte während der letz ten Jahrtausende allein durch die überethnischen mentalen Übungssysteme, vulgo die höheren »Religionen«, kompen siert werden. Sie hielten mittels erhabener Imperative und abstrakter Universalisierungen der Heilszusage die Zugänge zu gleichen symbolischen Immunchancen für alle offen. Die aktuelle Weltlage zeichnet sich dadurch aus, daß sie keine effiziente Ko-Immunitätsstruktur für die Mitglieder der » Weltgesellschaft« besitzt. Auf der höchsten Ebene ist Solidarität noch ein leeres Wort. Für sie trifft nach wie vor das Diktum eines umstrittenen Staatsrechtiers zu: »Wer Menschheit sagt, will betrügen.« Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Die effektiven ko-immunitären Solidaritäts einheiten sind heute wie in alter Zeit familial, tribal, national und imperial, neuerdings auch in regionalen strategischen Bündnissen formatiert und funktionieren - falls sie funk tionieren - gemäß den jeweiligen Formaten der Eigen Fremd-Differenz. Die erfolgreichen Überlebensbündnisse sind darum bis auf weiteres partikular- auch »Weltreligio nen<< können der Natur der Dinge gemäß nicht mehr sein als
712
Ausblick
Provinzialismen im Großen. Sogar der Begriff »Welt« ist in diesem Kontext ein ideologischer Ausdruck, weil er den Ma kro-Egoismus des Westens und anderer Großmächte hypo stasiert und nicht die konkrete Ko-Immunitätsstruktur aller Überlebensanwärter auf der globalen Bühne beschreibt. Noch immer rivalisieren die Teilsysteme miteinander nach einer Logik, die aus den Immungewinnen der einen regelmä ßig die Immunverluste der anderen macht. Die Menschheit bildet keinen Superorganismus - wie manche Systemtheore tiker voreilig behaupten -, sie ist bis auf weiteres nicht mehr als ein Aggregat aus höherstufigen »Organis men«, die noch keineswegs in eine operationsfähige Einheit höchster Ord nung integriert sind. Alle Geschichte ist die Geschichte von Immunsystemkämp fen. Sie ist mit der Geschichte des Protektionismus und der Externalisieru ng identisch. Die Protektion bezieht sich im mer auf ein lokales Selbst, die Externalisierung auf eine an onyme Umwelt, für die niemand Verantwortung übernimmt. Diese Geschichte umspannt die Periode der Humanevolu tion, in der die Siege des Eigenen nur mit der Niederlage des Fremden zu bezahlen waren. In ihr dominieren die hei ligen Egoismen der Nationen und Unternehmen. Weil aber die »Weltgeseilschaft« den Limes erreicht und die Erde mit samt ihren fragil en atmosphärischen und biosphärischen Systemen ein für alle Mal als den begrenzten gemeinsamen Schauplatz menschlicher Operationen dargestellt hat, stößt die P raxis der Externalisierung auf eine absolute Grenze. Von da an wird ein Protektionismus des Ganzen zum Gebot der immunitären Vernunft. Die globale immunitäre Vernunft liegt um eine ganze Stufe höher als aH das, was ihre Anti zipationen im philosophischen Idealismus und im religiösen Monotheismus zu erreichen vermochten. Aus diesem Grund ist die Allgemeine Immunologie die legitime Nachfolgerio der Metaphysik und die reale Theorie der »Religionen«. Sie
Der absolute Imperativ
verlangt, über sämtliche bisherigen Unterscheidungen von Eigenem und Fremdem hinauszugehen. Damit brechen die klassischen Unterscheidungen von Freund und Feind zusam men. Wer auf der Linie bisheriger Trennungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden weitermacht, produziert lm munverluste nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst. Die Geschichte des zu klein verstandenen Eigenen und des zu schlecht behandelten Fremden erreicht ihr Ende in dem Mo ment, in dem eine globale Ko-Immunitätsstruktur unter re spektvoller Einbeziehung der Einzelkulturen, der Partiku larinteressen und der lokalen Solidarieären entsteht. Diese Struktur würde in dem Moment planetarisches Format an nehmen, in dem die von Netzwerken überspannte und von Schäumen überbaute Erde als das Eigene und der bisher do minierende ausbeuterische Exzeß als das Fremde konzipiert werden. Mit dieser Wende würde das konkret Universelle operationeiL Das hilflose Ganze verwandelt sieb in eine pro tektionsfähige Einheit. An die Stelle einer Romantik der Brü derlichkeit tritt eine kooperative Logik. Menschheit wird ein politischer Begriff. lhre Mitglieder sind keine Passagiere auf dem Narrenschiff des abstrakten Universalismus mehr, son dern Mitarbeiter an dem durchwegs konkreten und diskreten Projekt eines globalen Immundesi gns. Wenngleich der Kom munismus von vornherein ein Konglomerat aus wenigen richtigen und vielen falschen Ideen war, sein vernünftiger Anteil: die Einsicht, daß gemeinsame Lebensinteressen höch ster Stufe sich nur im einem Horizont universaler koopera tiver Askesen verwirklichen lassen, muß sich früher oder später von neuem geltend machen. Sie drängt auf eine Ma kro-Struktur globaler Immunisierungen: Ko-Immunismus. Eine solche Struktur heißt Zivilisation. Ihre Ordensregeln sind jetzt oder nie zu verfassen. Sie werden die Anthropo techniken codieren, die der Existenz im Kontext aller Kon-
-
Ausblick
texte gemäß sind. Unter ihnen leben zu wollen würde den Enrschluß bedeuten: in täglichen Übungen die guten Ge wohnheiten gemeinsamen Überlebens anzunehmen.
AUSFÜHRLICHES INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung: Zur anthropotechnischen Wende . . . .
.
.
.
0
0
9
Der Planet der Obenden I
Der Befehl aus dem Stein Rilkes Erfahrung . 0
2
0
•
•
•
•
0
0
0
0
°
•
•
•
•
Ferner Blick auf den asketischen Stern Nietzsches Antikeprojekt . 0
3
0
•
0
•
Nur Krüppel werden überleben Unthans Lektion. 0
0
•
•
0
•
0
0
•
0
•
•
•
0
•
•
•
•
0
•
•
0
•
0
•
0
0
•
0
0
•
0
•
•
•
•
0
.
0
0
0
.
0
0
0
•
0
•
•
•
•
0
0
0
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
• •
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
0
0
0
0
•
•
•
•
0
0
0
•
0
•
•
0
•
•
•
•
•
•
•
•
4 Letzte Hungerkunst Kafkas Artistik
0
•
•
•
.
0
Übergang: Religionen gibt es nicht Von Pierre de Courhertin zu L. Ron Hubbard .
52
69 roo
5 Pariser Buddhismus
Ciorans Exerzitien
37
•
. . . . . .
1r8
133
I Die Eroberung des Unwahrscheinlichen Für eine akrobatische Ethik Programm: Übungsanthropologie 1
.
0
0
.
0
0
0
0
•
•
•
•
•
0
•
0
0
Höhenpsychologie Die Hinaufpflanzungslehre und der Sinn von »Über« Die Ehe, evolutionär gedacht . Was heißt: Hinauf? Für eine Kritik der Vertikalen Artistenzeit 0
.
0
0
0
•
0
0
•
•
•
•
•
0
0
0
0
•
•
•
•
0
•
0
•
•
•
0
•
•
•
0
•
•
•
•
•
•
0
•
0
•
•
•
0
•
0
•
0
0
•
•
•
•
•
•
173 I
76
I 76
179 I
81
71 6
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
Ausführliches lnhalrsverceichnis
Naturakrobatik auf dem Mount Improbable. . . . . . . . . r 8 5
. . 189 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 194 .... .. . . Die Asketik vematürlichen .
. . . . . . . . 2 55 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Was der Daimon bewirkt: Die ethische Unterscheidung 258 Sich selbst überlegen sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
Nichts ungeheurer als der Mensch: Existenz in der
Zwischen zwei Überwältigungen: Der besessene
Primärer Konservatismus und Neophilie
Artistenmetaphysik
.
Höhe
.
.
.
.
.
.
195 199 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Jakobs Traum oder: Die Hierarchie Über-Wörter
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Mensch
.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 206
......... Nicln-herrschaftlichc: SLUfungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .... .. Wittgensteins Ordensregel . . Kultur entspringt aus Sezession . . . . . . . . . . . . . . . . . . Form und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
. .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Asketclogische Dämmerung und Fröhliche Wissenschaft
4
208 208 210 216 220
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Proportionalität .
.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 5 Aussicht auf eine ungeheure Landschaft . . . . . . . . . . . 246 250 . . . . .. Zwischen den Disziplinen . .
.
.
. .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
264 . . 267 270 .
.
.
.
. .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
3 Schlaflos in Ephesos
.
.
.
.
276
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 . . . 278 .
Im Basislager: Die Letzten Menschen .
Bourdieu, Denker des Letzten Lagers . Habitus: Die Klasse i n mir
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
. . . . . . . . . . . . 281
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 . . . 284 .
Vom Genius der Gewohnheit.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Homo bourdivinus: Der andere Letzte Mensch . . . . . 292
Arisroteles und Thomas
.
Lehrersein als Beruf: Der Angriff auf die Trägheiten. . . 294 Identität als das Recht auf Faulheit.
5
.
. . . . . . . . . . . . . . 296
Cur homo artista
Achsenzeiteffekt: Die Menschheit der zwei
.
.
.
.
Habitus und Trägheit
Philosophischer Mehrkampf: Das Subjekt als Träger
.
.
.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
Von der Leichtigkeit des Unmöglichen
.
. .
.
.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 6 241 SprachspieJe, Diskursspiele, Allgemeine Disziplinik
seiner Übungsreihen.
.
Noch etnrnal: Höhe und Weit e - Anthropologische
222 22 5 228 230 23 2
Foucault: Ein Wittgensteinianer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 34 Tragische Vertikalität
.
.
Basis und Physis oder: Wo steckt die Gesellschaft?
. . .. .. . . . Was sich zeigr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .... . Deklarierte Übungen . Wovon man nicht schweigen soll . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
Ost-West-Gegensätze.
Sprachspiele sind Exerzitien: Die Ordinary.
.
Von den Basislagern des übenden Lebens
Lebensformen-Dämmerung, Disziplinik
Language-Täuschung
.
Denken und Wachen
»Kultur ist eine Ordensregel«
.
.
Denken ohne Wachen, Wachen ohne Denken:
Aristokratie oder Meritokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
.
.
Paideia: Der Griff an die Wurzeln der Gewohnheit.
Kein Sklavenaufstand der Moral: Christlicher Athletismus
.
Heideggers List
.
.
.
.
.
.
.
Erste ethische Unterscheidung bei Heraklit
Katapulte
.
. . . . . . . . . . 298
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
Geschwindigkeiten .
.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
Auf die andere Seite kommen: Philosophie als
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Asketik und Akrobatik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Athletlk
.
.
Von den Dämonen der Gewohnheit und ihrer
Anthropotechnik: Die Macht der Wiederholung
Zähmung durch die Erste Theorie
. . . . . . . . . . . . . . . . 309 31r . ... Pädagoglk als angewandte Mechanik .
Heilmittel
. . . . . . . . . . . . . . 2 53 253 . gegen Verstiegenheit: Diskursanalyse .
.
.
.
.
.
gegen die Wiederholung wenden.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
7 Vollendete und Unvollendete
Didaktische Himmelfahrt: Lernen fürs Leben des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1 4
Wie der Geist der Perfektion die Übenden
Sterbe-Performance: Tod auf der metaphysischen
in Geschichten verstrickt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 315
In der Zeit der Vollendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
Inwiefern jesus recht hat zu sagen: Es ist vollbracht . . . 3 1 8
Ergriffenheit durch das Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
Bühne
. . . .
. . . . . . . . .
. . . . . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Todesathleten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . po
Über den Unterschied zwischen eillern Weisen und
.
Cerrum est quia impossibile: Nur das Unmögliche ist
einem Apostel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 8 3
gewiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Todesexamen: Weisheitslehre als Trainlog für das Theater der Grausamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Vita a priori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392
II 0bertreibungsverfahren
Benedikts Leiter der Demut
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
396
Scala Paradisi: Die anachoretische Psychoanalyse . . . . . 399 329
Prospekt. Rückzug in die Ungewöhnlichkeit
Der theomimetische Glanz
6 Erste Exzentrik Selbstgesprächen
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
...
.
.
.
.
.
·
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
405
33 8
Das Geheimnis der zweiten Sezession: Karma
338
Die langsamen und die schnellen Wege . . . . . . . . . . . . . 41 8
Verdunkelung und Streben nach Befreiung . . . . . . . . . . 4 14
Entwurzelung aus dem ersten Leben: Spiritueller .
.
Indische Teleologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410
Von der Absonderung der Übenden und ihren
Sezessionismus
. . . . . . .
Perfektionismus und Historismus. . . . . . . . . . . . . . . . . 407
.
.
...
.
.
.
.
.
.
. .
.
..
.
.
.
.
.
.
..
.
· ·
·
·
·
8 Meisterspiele
Die Spaltung des Seienden durch den Feldzug gegen das Gewöhnliche . .
.
.
.
.
.
.
.
Rückzugsräume der Übenden
. .
.
.
. .
.
.
. .. .
.
.
.
.
.
.
.
.
· ·
.
· ·
·
·
·
. . . . .
.
·
· · ·
·
·
342
Von den Trainern als Garanten der
344
Übertreibungskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
Die tiefere Unterscheidung: Selbstaneignung und
Cura und culrura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
Weltpreisgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
Stabilisierte Unwahrscheinlichkeit: Die Aufrichtung
Die Geburt des Individuums aus dem Geist der
der Leitbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
Rezession . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
..
Das Selbst in der Enklave .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
· · ·
.
·
· ·
·
· ·
. .
·
· ·
·
·
353
Paradoxien und Passionen: Die Entstehung der
355
Innenwelt durch chronische Überspannung . . . . . . . . . 428
Im Mikroklima des übenden Lebens . . . . . . . . . . . . . . . 3 5 6
Trainerdämmerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 30
Absage a n die Selbstsorge: Konsequenter Fatalismus
Zehn Typen von Lehrern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2
.
.
· ·
·
. . .
358
Einsamkeitstechniken: Sprich mit dir!. . . . . . . . . . . . . . 361
Der Guru . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
Enderhetorik und Ekelübungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
Der buddhistische Meister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
Der innere Zeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
Intermezzo: Kritik der Erleuchtung . . . . . . . . . . . . . . . 444
Inquisition gegen das Jch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
Der Apostel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
Den Egoismus rehabilitieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
Der Philosoph
.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
Der Sophist als universaler Könner . . . . . . . . . . . . . . . . 4 5 1
1..
720
Ausführliches lnhalrsvcrzeichnis
Der profane Trainer: Der Mann, der will, daß ich will.
.
45 5
Der Handwerksmeister und die zwei Naturen des Kunstwerks
.
.
.
.
.
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
72I
Beginn der Biopolitik: Schon der klassische Staat macht leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
457
Menschenüberproduktion und Proletarisierung .
Professoren, Lehrer, Schriftsteller. . . . . . . . . . . . . . . . . 463
Geburt der Sozialpolitik aus der Verlegenheit des
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Menschenüberschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 Trainerwechsel und Revolution
.
534
.
539
.
543
Über Konversionen und opportunistische Kehren . . 467
Bildungspolitik unter dem absoluten Imperativ , . . . . . 5 4 5
Umwendungskunde
Emendatio mundi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
.
Alle Erziehung ist Konversion
.
Die Katastrophe vor Damaskus
. . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Es gibt keine Konversion: Das augustinische Paradigma .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
,
.
.
.
.
. .
.
.
.
.
Bekehrung als Trainerwechsel: Franziskus und
Ignatius
474
Schulraison versus Staatsraison . . . . . . . . . . . . . . . . .
479
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
.
..
.
.
.
Von der Macht der Parole
.
.
.
.
.
.
.
.
. .
.
.
.
.
..
. . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
. .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Autoplastisches Handeln: circulus virtuosus Die Entdeckung der Welt im Menschen. Homo mirabile .
.
.
.
.
.
.
Homo anthropologicus .
.
.
. .
. .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
. . .
.
.
. .
.
. 493 .
493
. 495 .
. . . . . . .
499 501
.
. . . . . . . . . . 507
.
.
.
.
512
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5 r6
.
.
. . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
I o Kunst am Menschen
In den Arsenalen der Anthropotechnik . . . . . . . . . . 5 I 9 Passionsspiele
.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 I9
Impfung mit dem Ungeheuren: Nietzsche als Immunologe . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
..
.
.
.
.
.
.
.
. . . . .
548
.
.
.
,
.
.
.
als Provokation der Anthropologie . . . . . . . . . . . . . .
.
Der interdisziplinäre Kontinent. . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunstgeschichte als Askesengeschichte .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
. . .
.
.
.
. . .
.
.
.
..
.
.
.
.
.
.
.
. .
Neue Menschen zwischen Anästhesie und
Der neue Zeitgeist: Experiment mit Menschen . Die moderne Unruhe
.
.
r r Im autO-operativ gekrümmten Raum
Perspektive: Wiederverweltlichung des zuruck.
.
.
Menschenausstarter im allgemeinen . . . . . . . . . . . . . .
Die Exerzitien der Modemen
gezogenen Subjekts
.
.
Exzentrische Positionalität: Der Menschenautomat
Vom militärischen Drill
lll
.
Die ga11ze Welt ist eine Schule . . . . . . . . . . . . . . 55f Vor-Aufklärung: Weg des Lichts . . . . . . . 55 3
.
.
.
.
.
.
521
Das europäische Trainingslager . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 24 .
Zweite Kunstgeschichte: Der Henker als Virtuose. . . . 5 3 I
Biopolitik
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
..
.
. .
.
.
..
Lob der Horizontalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fortschritt als Metanoia zum halben Preis . . . . . . . . . Weltverbesserung als Selbstverbesserung . . . . . . . . . .
.
.
.
.
Sich-Operieren-Lassen: Das Subjekt in der autooperativen Krümmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 89 Das behandelte Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im operativen Kreis: Medizinische Gelassenheit . . . . Oktoberrevolution: Die Äthernarkose. . . . . . . . . . . . Vom Menschenrecht auf Ohnmacht . . . . . . . . . . . . .
.
.
.
.
591 595 598 6oo
Revolutionäre Ungelassenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 Radikale Metanoia als der Wille zum Umsturz .
. . . .
Politischer Vertikalismus: Der Neue Mensch . . . . . . . Kommunistische Menschenproduktion . . . . . . . . . . .
.
6os
.
6o9
.
613
Die Biopolitik des Wunders und die Kunst des Möglichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
722
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
Ära der Abschaffung
.
.
.
.
Sein und Zeit, sowjetisch .
.
.
.
.
.
.
. .
.
.
. .
. . . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
lmrnonalismus: Liquidierung der Endlichkeit .
.
.
.
. .
.
.
.
.
.
.
.
.
621
Ausblick Der absolute Imperativ.
.
Wer darf es sagen?
...
. . . . . 624 .
»Anthropotechnik" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 Postkommunistisches Nachspiel: Die Rache des .
723
622
Die Epoche des Todes und der Bagatellen beenden . . 626
Allmählichen
Ausführliches Inhaltsverzeichnis
. . . . .
Wer kann es hören? . Wer wird es run?
.
.
.
.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 .
. . .
. . . .
.
.
. . . . . . . .
.
.
. . . . . .
. .
.
.
. .
.
. . .
.
.
.
.
. .
.
.
.
.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
699 704 706
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633
12 Übungen und Fehlübungen Zur Kritik der Wiederholung
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Zur Unterscheidung der Wiederholungen verdammt
Das Lebewesen das nicht nicht üben kann ,
Umübung aller Übungen
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
. 639 .
639
. . . . . . . . 642 .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
646
Woher die schlechte Gewohnheit kommt: Zur Metaphysik des Eisernen Zeitalters Realismus, Knappheit, Entfremdung
.
.
.
.
.
.
.
. . .
.
. . .
·
·
·
.
.
.
.
.
. . . . . . . .
·
·
.
65 I 654
Die asketische Suspension der Entfremdung: Die fünf Fronten.
.
Gegen den Hunger
.
.
.
.
.
.
.
.
Gegen die Überlastung Gegen die Sexualnot
.
.
.
..
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
. .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
. .
.
. .
. . . . .
.
. . . . . . . . . . .
Gegen Herrschaft und Feindschaft . Gegen das Sterbenmüssen
.
.
.
.
. .
. .
·
·
. . . . . . .
.
..
.
.
.
.
657 658 659 661 663
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665
Das postmetaphysische Erbe der metaphysischen Revolte.
.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666
Zur Verteidigung des zweiten Silbernen Zeitalters . . . 669 .
Kanon-Arbeit in der Moderne. Maligne Wiederholungen Maligne Wiederholungen
.
. . . . . . . . . . . . . . . . . 672
I: Die Kultur der Lager II: Die Erosion der Schule .
.
.
.
.
674
. 679
Maligne Wiederholungen lll: Das selbstbezügliche Kunstsystem der Moderne
.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686
Rückblick Von der Wiedereinbettung des Subjekts zum Rückfall in die totale Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691 .
-