denise
Band 532 (10.Aug.94 16²)
Elaine Harper
DU MUSST ES WAGEN
Ebook Version 1.0
September 2002
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denise
Band 532 (10.Aug.94 16²)
Elaine Harper
DU MUSST ES WAGEN
Ebook Version 1.0
September 2002
Scan, Korrektur und Layout
by
Barbarella
Beschreibung: Daß sich die hübsche Juanita an einem "Dritte-Welt Projekt" beteiligt, hat zunächst nur einen Grund: Sie will dem engagierten Tom Goulding imponieren und nach dem hoffentlich erfolgreichen Trainingsprogramm mit ihm zusammen nach Venezuela reisen. Aber schon in den verschiedenen Kursen in Krankenhäusern und Kindergärten ist Juanita - hoffnungslos verwöhnt und ich bezogen - ziemlich hilflos. Als sie dann auch noch statt mit Tom mit dem wehleidigen Russell nach Venezuela fliegt, ahnt Juanita, daß ihr eine Feuerprobe bevorsteht. Doch die Angst weicht bald einem neuen Gefühl: Sie will die Herausforderung bestehen für sich selbst und für ihre Liebe zu Tom...
IMPRESSUM DENISE erscheint 14täglich in der CORA VERLAG GmbH, 10888 Berlin, Kochstr. 50, Tel.: (030) 2591-0 Redaktion und Verlag:® Brieffach 8500, 20350 Hamburg Telefon: (040) 347-00, Telex: 02 12 151 cora d, Telefax: (040) 34 72 59 91 Geschäftsführung: Hans Sommer Redaktionsleitung: Claus Weckelmann (verantwortlich für den Inhalt), Ilse
Bröhl (Stellvertretung)
Lektorat/Textredaktion: Ilse Bröhl (Leitung), Christine Boness
Produktion: Christel Fleckenstein (Koord.), Kirsten Haase,
Susanne Bruhn (Foto) Grafik: Birgit Reckmann, Bianca Fisseler Vertrieb: KORALLE VERLAG GmbH & Co. Vertriebs-KG, Hamburg Vertriebsleitung: Günter Batzlaft, Fritz Wulf (Stativ.) Anzeigen: tsv ,top special’ Verlag GmbH, Hamburg Anzeigenleitung: BeateAsmus-Fügert Anzeigenverkauf: Matthias Franzen, Tel.: (040) 34 72 23 53, Fax: (040) 34
39'66 Anzeigen nach jeweils gültiger Anzeigenpreisliste
® 1986 by Emily Hallin Originaltitel: "Orinoco Adventure" erschienen bei:
Silhouette Books, New York in der Reihe: FIRST LOVE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES B.V, Amsterdam
Deutsche Erstausgabe by CORA Verlag GmbH, Berlin, in der Reihe DENISE Band
108 (13') 1986 Übersetzung: Ingrid Gross
Foto: WEPEGE ® CORA VERLAG GmbH
Erste Neuauflage 1994 by CORA Verlag GmbH, Berlin, in der Reihe DENISE Band
532 (16
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in
jeglicher Form, sind vorbehalten.
DENISE-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch
verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des
Verlages.
Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung.
Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig. Druck:
Elsnerdruck, Berlin
Printed in Germany
Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen
Mehrwertsteuer. Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag: JULIA, ROMANA,
BIANCA, BACCARA, TIFFANY, MYSTERY, MYLADY, HISTORICAL
1. KAPITEL Juanitas Blick wanderte von dem Schüler, der vor der Klasse aus einem spanischen Buc h las, zu Tom Goulding. Tom saß zwei Reihen schräg vor ihr, und sie konnte nur wenig von seinem Gesicht erkennen, die gerade Nase, das stark ausgeprägte Kinn und die langen Wimpern, die sich gegen das sonnige Fenster abzeichneten. Letztes Jahr hatten sie für den Elternabend zusammen eine Szene aus einem Lope de Vega-Stück aufgeführt. Juanita und Tom waren ausgewählt worden, weil sie von allen Spanischschülern die beste Aussprache hatten. Bei Juanita war das kein Wunder, schließlich lebte ihre spanisch sprechende Großmutter mit ihrer Familie unter einem Dach. Tom mußte jedoch hart arbeiten für den richtigen Akzent. Seit dem Aufführungsabend war Tom zwar immer freundlich zu Juanita, aber er schenkte ihr nicht die Aufmerksamkeit, die sie sich gewünscht hätte. Ihr Interesse an Tom reichte zurück bis in die erste Klasse. Damals hatte er ihr kleines Fahrrad gerettet, als ein paar größere Jungen es ihr abnehmen wollten. Tom hatte keine Gewalt gebraucht, der Tonfall, in dem er die Burschen aufforderte, das Rad zurückzugeben, hatte genügt. Ängstlich waren sie davongelaufen. Trotzdem war es Juanita in all den Jahren, in denen sie nun in einer Klasse waren und die gleichen Feten besuchten, nie gelungen, sich richtig mit ihm anzufreunden. Er war immer mit wichtigeren Sachen beschäftigt. Tom war ein guter Läufer und ein toller Baseballspieler, aber er schloß sich keiner Mannschaft an. Statt dessen hatte er letztes Jahr eine Aktion gestartet, bei der Altpapier und Altglas zu Wiederverwendungszwecken gesammelt wurde. Der Erlös ging an ein paar arme Flüchtlingsfamilien, die sich in der Gegend
niedergelassen hatten. Tom war so ganz anders als die übrigen Jungs auf der Blossom Valley Highschool. Juanita wußte zwar noch nicht, welche gemeinsamen Interessen sie wohl haben könnten, aber sie wollte es herausbekommen. Als der Unterricht endete, war Juanita immer noch in Gedanken versunken. Tom trödelte nicht wie die anderen noch im Klassenzimmer herum, sondern hatte in Null Komma nichts seine Bücher eingepackt und ging hinaus. Hastig griff Juanita nach ihren Sachen und folgte ihm. Ihre glänzenden schwarzen Locken flogen ihr über die Schulter. „Tom, warte einen Augenblick", rief sie. Er drehte sich um und hob fragend eine Augenbraue. Ein freundliches Lächeln lag auf seinem Gesicht, aber auch ein Schimmer von Ungeduld, während er auf dem Flur vor der Spanischklasse wartete. „Ich hatte gerade eine tolle Idee." Juanita rang nach Luft. „Kannst du dich an das Stück erinnern, das wir letztes Jahr für den Elternabend aufgeführt haben? Vielleicht können wir dieses Jahr etwas Ähnliches machen. Wenn wir uns jetzt entscheiden, können wir gleich Mr. Rodriguez Bescheid sagen. Dann bleibt noch genug Zeit für die Proben." „Tja, Juanita", begann Tom entschuldigend, aber auch ein bißchen distanziert, „das würde ich schon gern machen, aber ich habe für den Elternabend bereits etwas anderes geplant. Ich werd ein bißchen Werbung für ein außerschulisches Projekt machen." Juanitas Enttäuschung war deutlich in ihren großen dunklen Augen zu lesen. Sie schämte sich jetzt, daß sie ihn überhaupt gefragt hatte. Sie war noch nie einem Jungen hinterhergelaufen und wollte nicht, daß Tom glaubte ... Er bemerkte ihre Verlegenheit und erklärte weiter: „Ich hab mich bei dieser HFDW-Gruppe eingetragen. HFDW heißt „Hilfe für die Dritte Welt“. Wir wollen die einfachsten
Grundlagen der Hygiene und Medizin in die Dörfer Mittel- und Südamerikas bringen. Man hat mich gebeten, den Eltern davon zu erzählen, damit sie ihre Kinder dazu ermuntern können, sich ebenfalls zu melden. In dieser Gruppe machen nämlich nur junge Leute mit." „Meinst du wirklich, die Jungs und Mädchen von Blossom Valley hätten an so was Interesse? Ihr fahrt doch nicht tatsächlich in diese unterentwickelten Gebiete?" „Doch." Toms Tonfall war amüsiert und selbstbewußt. „Ich hoffe, daß ich in einem Indiodorf am Orinocofluß arbeiten kann." „Am Orinocofluß? Ich weiß noch nicht einmal, wo der ist. Aber es hört sich nach Urwald an. Wahrscheinlich wimmelt es dort nur so von Alligatoren und Schlangen. Richtig zum Fürchten." Tom lachte. „So schlimm, wie es sich anhört, wird es sicher nicht. Vor mir waren andere da und haben es auch überlebt. Ich pack das schon. Schließlich gehen jedes Jahr Typen in meinem Alter dorthin." Seine Pläne gingen über Juanitas Vorstellungskraft. „Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke." Sie schüttelte sich. Tom lachte wieder. Sein Blick glitt über ihre sorgfältig frisierten Locken und die modische Kleidung und blieb dann an ihrem hübschen, ovalen Gesicht hängen. „Das ist auch nichts für jeden", sagte er und schulterte seine Büchertasche. „Ich hoffe, du findest einen anderen Partner für dein Theaterstück. Ich wünsch dir jedenfalls viel Glück. Tut mir leid, daß ich dich enttäuschen muß, es hat mir letztes Jahr viel Spaß gemacht." Er lächelte ihr kurz zu, bevor er sich zum Gehen wandte. Juanita war schrecklich enttäuscht. Es schien ihr, als habe Tom eine Schranke aufgerichtet und sie aus seiner Welt
ausgeschlossen. Er hatte es so dargestellt, als gehöre er zu einer bestimmten Kategorie Mensch und Juanita zu einer anderen, als könne es zwischen ihnen nichts Gemeinsames geben, obwohl sie doch zusammen in der Szene von Lope de Vega am letzten Elternabend so großen Erfolg gehabt hatten. Kaum war Tom verschwunden, nahm Roger Sawyer Juanita schon völlig in Beschlag. Sein Mundwerk stand keinen Augenblick still. Die Band der Blossom Valley Highschool, in der er Tambourmajor war, hatte zwei Preise bei einem landesweiten Wettbewerb gewonnen. Roger ging mit Juanita auf den Rasenstreifen vor der Schule und breitete sein Jackett aus, damit sie sich draufsetzen konnte. „Warte hier, ich hole uns was zu essen." Er kam mit zwei Hamburgern und zwei Cola zurück. „Ich wollte nicht, daß du beim Anstehen in der Schlange zerdrückt wirst", sagte er mit dem schwärmerischere Blick, mit dem die meisten Jungen Juanita anzusehen pflegten. „In der Pause beim nächsten Footballspiel kannst du die Parade sehen, mit der wir den Wettbewerb gewonnen haben", fuhr er ohne Pause fort. „Etliche der Formationen, die wir bringen, sind mir selbst eingefallen. Ich habe sie mit den Jungs einstudiert und betrachte es deshalb auch als mein Verdienst, daß wir so gut abgeschnitten haben." „Natürlich", pflichtete Juanita ihm bei. „Du bist schließlich derjenige, der von der ganzen Kapelle die meisten Blicke auf sich zieht." Sie stellte sich Roger mit seinem goldverbrämten Felltschako und der blendend weißen Uniform mit goldenen Litzen vor. Als sie mit ihrem Hamburger fertig war, stand sie auf, um das Einwickelpapier in den Papierkorb zu werfen. Nein, laß mich das tun", sagte Roger zuvorkommend. Nach der Pause nahm er ihre Bücher und begleitete Juanita zum Klassenzimmer. Die ganze Zeit über erzählte er ihr von
dem erfolgreichen Wettbewerb. Er ging sogar mit in den Klassenraum hinein und legte die Bücher auf ihr Pult. Die Jungs wurden eben gern dabei gesehen, wenn sie etwas für Juanita taten. Nach der Schule wartete Kirk Pugh, der die Granville Universität besuchte, vor dem Gebäude schon im Wagen auf Juanita, um sie nach Hause zu fahren. Er stieg aus und öffnete eilig die Wagentür für sie. „Es tut mir leid, aber ich kann dich heute nicht mit hineinbitten, Kirk", sagte sie, als sie vor ihrem Haus angekommen waren. „Ich habe zuviel Schularbeiten zu machen. Jedenfalls vielen Dank fürs Mitnehmen." „Ich kann dir doch dabei helfen. Dann würdest du 'ne Menge Zeit sparen", schlug er vor. „Und du brauchst dein hübsches Köpfchen nicht so anzustrengen", fügte er grinsend hinzu. Sie lächelte. „Vielleicht ein anderes Mal. Danke für das Angebot." Kirk begleitete sie noch bis zur Haustür. „Soll ich dich morgen früh wieder abholen?" „Das wäre furchtbar nett von dir." Juanita lächelte ihm noch einmal kurz zu und verschwand im Haus. Ihre Großmutter erwartete sie bereits. Sie war eine würdevolle, weißhaarige Dame, die stets ein schwarzes Kleid trug, das nur durch einen weißen Spitzenkragen oder eine Perlenkette aufgelockert wurde. ,Hattest du einen schweren Tag in der Schule, Liebes?" fragte sie. „Komm, ich mache dir eine Tasse Tee, dann kannst du mir alles erzählen. Jason, wenn du sowieso nach oben gehst, nimm doch bitte die Schultasche deiner Schwester mit." „Schau mal, was ich für dich habe, Juanita." Ihre Mutter betrat das Zimmer und breitete eine hellgelbe Bluse mit einem dazu passenden korallroten Pullunder vor ihr aus.
„Das ist wunderschön, Mom", antwortete Juanita leise. Ihre Mutter überhäufte sie geradezu mit solchen Dingen. Nachdem sie mit ihrer Großmutter Tee getrunken und ihrer Mutter die neue Bluse vorgeführt hatte, ging Juanita auf ihr Zimmer, um zu arbeiten. Der Raum war verschwenderisch ausgestattet und ganz in zarten Pastelltönen gehalten. Juanitas Großmutter machte das Zimmer jeden Tag sauber. „Wir wollen schließlich nicht, daß du dir deine Hände ruinierst. Schöne Hände sind für eine Frau sehr wichtig, besonders für dich, weil du Gitarre spielst." Juanita wurde bei Zusammenkünften in der Schule oder auch bei privaten Feten oft gebeten, Gitarre zu spielen und zu singen, denn sie war eine begabte Musikerin. Da sie jedoch immer schrecklich nervös war, wenn sie etwas allein machen sollte, bat sie oft ihre beste Freundin Jeannette Duvier, sie bei ihren Auftritten mit ein paar Rhythmuskugeln zu begleiten. Als sie daran dachte, fiel ihr ein, daß sie Jeannette anrufen mußte. Juanita und Jeannette waren in der dritten Klasse Freundinnen geworden, nachdem sie festgestellt hatten, daß sie den gleichen Vornamen trugen, nur einmal in der spanischen und einmal in der französischen Version. Ohne die moralische Unterstützung ihrer Freundin war Juanita nicht fähig, etwas anzupacken. Wegen ihrer Schönheit und ihrer natürlichen Anmut war sie von einem Kaufhaus, das zum Schuljahresbeginn immer die neueste Mode für Schüler vorstellte, gefragt worden, ob sie bei diesen Modenschauen nicht als Mannequin mitwirken wolle. Allein wäre sie dabei vor Scham in den Boden versunken, deshalb hatte sie die Veranstalter überredet, Jeannette ebenfalls mitmachen zu lassen. Jeannettes kurzes blondes Haar bildete einen hübschen Kontrast zu Juanitas schwarzen Locken. Sie wurde von vielen für vorwitzig gehalten, während Juanita romantisch und auf eine gewisse Art dramatisch wirkte.
„Du führst mit Tom Goulding wieder eine Szene für den Elternabend auf, stimmt's?" fragte Jeannette später am Telefon. „Ich hab gesehen, wie du nach der Spanischstunde mit ihm gesprochen hast." Juanita schwieg einen Moment. Es ärgerte sie, daß ihr Annäherungsversuch an Tom bemerkt worden war. „Nein, machen wir nicht. Tom will am Elternabend eine kurze Rede halten." „Spielst du dann Gitarre? Ich kann dich wieder mit den Rhythmuskugeln begleiten." „Nein", erwiderte Juanita kurz angebunden. „Ich werde nicht Gitarre spielen." „Du hast sicher mitgekriegt, daß Rodriguez noch Freiwillige für den Erfrischungsstand sucht. Vielleicht wäre das was für uns." „Davon weiß ich nichts." „Weil du andauernd nur Tom Goulding angestarrt hast. Als ob du nicht schon genug Jungs den Kopf verdreht hättest." „Vergiß Tom Goulding. Das Thema ist für mich erledigt." „Wie wär's dann mit dem Imbißstand? Der Elternabend macht doch nur Spaß, wenn man was zu tun hat." Juanita zögerte einen Augenblick. Erfrischungen zu servieren, war meilenweit entfernt von dem Rampenlicht, in dem sie sonst stand. Aber Tom würde da sein, und sie würde erfahren, was ihm soviel wichtiger war, als ein Auftritt mit ihr. „Okay. Wenn du willst, mache ich mit." „Wir könnten unsere mexikanischen Sachen tragen." Die beiden Mädchen besaßen mexikanische Kleider, deren Passen reich mit Vögeln und bunten Blumen bestickt waren. Juanitas Kleid war dunkelblau, das von Jeannette goldfarben. „Auf unserem Hof blüht der Hibiskus. Wir stecken uns ein paar Blüten ins Haar", schlug Juanita vor.
Am nächsten Tag sagten sie Mr. Rodriguez, daß sie für die Eltern den Imbißstand aufbauen würden. Sie taten sich mit Arnold Freitas zusammen, der sich bereiterklärte, einen Fruchtpunsch zu machen. „Du mußt ein weißes Hemd und dunkle Hosen tragen. Ich werde dir eine rote Schärpe mitbringen, die du dir um die Taille binden kannst. Dann sehen wir alle festlich aus", erklärte Juanita ihm. Juanitas Mutter und ihre Großmutter bereiteten am Nachmittag vor dem Elternabend einen feurigen mexikanischen Dip aus Bohnenpüree und Tortillachips zu und dekorierten alles hübsch auf einem Tablett. Juanita und Jeannette machten sich in der Zwischenzeit die Haare und zogen ihre farbenprächtigen Kleider an. „Wage es ja nicht, wegen einem deiner Patienten den Elternabend zu verpassen, Daddy", drohte Juanita scherzend. Dr. Alarcon war Arzt und mußte seine Kinder oft enttäuschen, weil er bei vielen ihrer Auftritte nicht dabeisein konnte. „Um nichts in der Welt würde ich mir diesen Abend mit meiner schönen Tochter entgehen lassen. Ich habe eine Vertretung organisiert." „Prima." Juanita freute sich. „Wir schneiden noch ein paar Rosen für die Dekoration. Soviel Zeit haben wir gerade noch." Laß mich das machen", meinte ihre Großmutter. „Du könntest mit deinem schönen Kleid an den Dornen hängenbleiben." Sie ging in den Garten und kehrte mit einem Rosenstrauß zurück, dessen Stiele sie in feuchte Tücher und Wachspapier wickelte. „Das Kleid steht dir wirklich gut", sagte Mrs. Alarcon auf der Fahrt zur Schule zu ihrer Tochter. „Schade, daß du die Gitarre nicht mitgenommen hast. Die Leute mögen deine Musik."
„Es langweilt mich aber, immer das gleiche zu machen." Juanita schmollte. „Ich möchte endlich mal was anderes tun." „Das Musizieren solltest du nie aufgeben. Du darfst dein Talent nicht brachliegen lassen." „0h Mom!" protestierte Juanita. „Es wird für die anderen Eltern allmählich langweilig, mich zu hören. Seit der dritten Klasse singe ich nun schon bei jeder Veranstaltung dasselbe. Das ist genauso wie Walter Gridley, der immer ,Moonriver` auf dem Saxophon spielt. Ich würde mir die Ohren zuhalten, wenn er auf die Bühne käme und so geht es den Leuten auch bei mir." „Unsinn, Juanita. Alle mögen es, wenn du singst", widersprach Mrs. Alarcon. Jeder sagte, daß Juanita ihre Schönheit von ihrer Mutter geerbt hatte. Mrs. Alarcon sah immer aus, als käme sie frisch vom Friseur. Juanita blickte aus dem Fenster. Sie war sauer. Ihr Leben war so vorausgeplant und langweilig. Sie fühlte sich nutzlos. Der Parkplatz vor der Schule war schon fast voll, und eine Menge Eltern schlenderten herum. Man sah nur wenige Schüler. An diesem Abend erklärten die Lehrer den Eltern, was von ihren Kindern in den einzelnen Kursen an Leistung erwartet wurde, und nur die Schüler, die entweder etwas vortrugen oder bei den Erfrischungen halfen, waren anwesend. Juanitas Eltern trugen das Tablett und die Rosen zum Stand und begannen den Tisch zu dekorieren. „Das wollten Jeannette und ich doch machen, Mom", protestierte Juanita. „Geht ihr zu den anderen." Zögernd entfernten ihre Eltern sich. Jeannette und Juanita stellten die Vase mit den Rosen auf eine Seite des Tisches. Arnold goß seinen Fruchtpunsch in eine Schüssel mit Eiswürfeln und stellte einen Stapel durchsichtiger Plastikbecher daneben. In die Mitte des Tisches kam die große Schüssel mit dem appetitlich aussehenden Bohnendip und
drumherum die Tortillachips. Der dekorierte Stand, die beiden Mädchen in ihren farbenprächtigen Kleidern und Arnold mit der roten Schärpe um die Taille bildeten einen einladenen Hintergrund in dem Klassenzimmer für Spanischunterricht. Ein paar Eltern saßen bereits an den Pulten der Schüler, als Tom Goulding hereinkam. „Hallo, Tom", begrüßte ihn Jeannette. „Wir hätten dir auch eine rote Schärpe mitbringen sollen." Vielleicht könnte er eine Rose im Knopfloch tragen", schlug Juanita vor. Tom wehrte grinsend ab. „Nicht mit mir, bitte. Ich möchte ganz unauffällig aussehen, damit die Leute sich auf das konzentrieren, was ich zu sagen habe, und nicht auf mich." Juanita war wieder einmal beeindruckt von Toms Nüchternheit. Er war so ganz anders als die anderen Jungen auf der Schule, die gern herumalberten und angaben. Ein paar Schüler aus der Spanischklasse für Anfänger kamen herein. Sie sollten ein Gedicht aus ihrem Lesebuch vortragen und waren nervös und ängstlich. „So haben wir uns letztes Jahr vor unserer Theaterszene auch gefühlt", sagte Tom zu Juanita. „Wir hatten das große Zittern, erinnerst du dich noch?" „Ja. Ich war sicher, daß ich alles durcheinanderbringen würde", erwiderte sie, froh, daß er wenigstens noch daran dachte. Einige der Eltern kamen zum Stand, ließen sich Punsch geben und probierten von dem Dip. Tom nahm sich auch ein bißchen. „Ich kann ja schon mal anfangen, mich an dieses Essen zu gewöhnen", meinte er. „Da, wo ich nächsten Sommer hingehe, gibt es bestimmt nicht viel anderes als Bohnen und Tortillas." „Was ist eigentlich dran an der Sache, für die du dich so einsetzt?" fragte Juanita neugierig. Es war ihr wieder eingefallen, daß er ihr deshalb einen Korb gegeben hatte.
„Das wirst du gleich erfahren", sagte er mit einem geheimnisvollen Lächeln. „Tatsache ist jedoch, daß du es schon wüßtest, wenn du in Rodriguez' Kurs immer aufgepaßt hättest." Es klingelte, und die Eltern nahmen Platz. Mr. Rodriguez erklärte, welchen Stoff er in seinen Kursen durchnehmen wolle und was von den Schülern als Hausaufgaben erwartet werde. Er erwähnte auch, daß es für diejenigen, die ihr Spanisch praktisch erproben wollten, außerhalb der Schule verschiedene Gelegenheiten dazu gab, zum Beispiel im spanischen Club. „Und nun möchte ich Ihnen Tom Goulding vorstellen, den Vertreter einer bemerkenswerten Schülergruppe, die für den Sommer aufregende Aktivitäten anzubieten hat." Tom kam nach vorn und stellte sich neben Mr. Rodriguez‘ Pult. Juanita beneidete ihn um sein sicheres Auftreten. „Ich bin hier, um Ihnen von einer Organisation für Junge Leute zu berichten, die sich HFDW nennt. Das bedeutet ‚Hilfe für die Dritte Welt`, begann er. Dann sprach er über die Ziele der Organisation: „Die Schüler, die sich daran beteiligen, nehmen das ganze Jahr über an einer Spezialausbildung im Gesundheitswesen teil. In den Sommerferien gehen sie als Freiwillige in abgelegene Dörfer Lateinamerikas, um den Menschen dort zu helfen, besser für sich zu sorgen und ein glücklicheres und längeres Leben führen zu können. Die Freiwilligen führen Aktionen zur Zahnpflege durch, geben Schutzimpfungen und versuchen, die sanitären Bedingungen zu verbessern. Tierpflege, Erste Hilfe, Ernährung und ähnliche Dinge gehören zu dem Programm." Tom gab zu, daß die Ausbildung ziemlich aufreibend sei und oft die Hilfe und Unterstützung der Eltern notwendig seien. "Diese Art von Arbeit wird nicht jedermanns Sache sein, aber für diejenigen, die sich Gedanken darüber machen, wie man das Leben der weniger begünstigten Menschen auf unserer Welt erleichtern kann, ist es eine lohnende Aufgabe. Wenn Sie
also einen Sohn oder eine Tochter haben, die daran interessiert sein könnten, machen Sie ihnen bitte Mut und ermuntern Sie sie, sich bei uns zu melden." Die Eltern applaudierten. Dann traten die Anfänger der Spanischklasse vor und lasen mit dünnen Stimmen ihre Gedichte. Tom kehrte zum Erfrischungsstand zurück, nahm sich einen Tortillachip und bemühte sich, beim Kauen nicht zu laut zu sein. "Gehst du nächsten Sommer wirklich nach Lateinamerika?" fragte Juanita. „Ich hoffe es. Man braucht dafür keine Macke zu haben, aber es hilft." Tom grinste: Sein Blick ging von Jeannette zu Juanita. Juanita erwiderte nichts. Sie hatte während seiner Rede genau aufgepaßt. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter, wenn sie sich vorstellte, daß Jungs und Mädchen in ihrem Alter so weit reisten, um unter lauter fremden Menschen zu arbeiten. Tom hatte mehr Mut als die meisten anderen Schüler zusammen. Seine Gedanken gingen weit über Blossom Valley hinaus. Er ließ die Schule, die Stadt, ja sogar die ganzen Vereinigten Staaten von Amerika hinter sich. Das konnte einem richtig imponieren. Die Eltern gingen hinaus, und eine neue Gruppe schlenderte ins Klassenzimmer. Juanitas Vater war auch dabei. Er kam zum Erfrischungsstand, um von den angebotenen Sachen zu kosten. Ihre Mutter eilte ein paar Minuten später herbei. Sie war von einer Freundin aufgehalten worden. „Lassen Sie mich Ihnen etwas Punsch einschenken, solange er noch kalt ist, Dr. Alarcon." Arnold füllte einen Becher mit der hibiskusroten Flüssigkeit. „Jeder lobt unseren Bohnendip", bemerkte Juanita stolz. „Der ist auch super", lobte ihr Vater, nachdem er davon probiert hatte.
Das Programm für die zweite Abteilung war dem der ersten ziemlich ähnlich, nur daß drei Schüler der fortgeschrittenen Spanischklasse Sonette aus dem Prolog von Don Quichote" vortrugen, bevor Tom seine Ankündigung machen konnte. Einer der Schüler, Melvin Quinn, bekam viel Applaus, als er ein Gedicht in Form eine Gesprächs zwischen Babicar, dem tapferen Pferd des spanischen Nationalhelden „EI Cid", und Rosinante, dem alten Schlachtroß des „Don Quichote", vorlas. Melvin sorgte für viel Gelächter, indem er an den richtigen Stellen laut oder zaghaft wieherte und mit den Füßen auf dem Boden scharrte. Dann war es Zeit für Tom, sein Freiwilligenprojekt einer weiteren Gruppe von Eltern zu erklären. Juanita bemerkte, daß ihr Vater Toms Rede viel Aufmerksamkeit schenkte. Auf der Fahrt nach Hause sagte Dr. Alarcon: „Der junge Mann, der über das Lateinamerika-Gesundheitsprojekt sprach, hat mich sehr beeindruckt. Ich hoffe, unsere Jungs interessieren sich auch einmal für eine so nützliche Sache, wenn sie sechzehn sind." „Das ist nicht nur was für Jungs, Daddy", warf Juanita ein. Sie war ein wenig beleidigt. „Sogar ich könnte das machen." In dem Moment, in dem ihr die Worte entschlüpften, war sie selbst erschrocken darüber. Der Gedanke hatte sie völlig überrumpelt. „Um Gottes willen!" rief Mrs. Alarcon entsetzt. „Das wäre doch kein Leben für dich! Mangelnde Hygiene, schlechtes Wasser, Insekten! Für ein Mädchen mit deiner Erziehung ist das nichts. Du und Jeannette, ihr habt so nett ausgesehen, und der Junge, der den Punsch austeilte, auch." Juanita kochte den ganzen Rest der Fahrt innerlich vor Wut. Weshalb behandelte ihre Mutter sie nur immer wie die Prinzessin auf der Erbse? War sie sich für Toms aufregende Pläne wirklich zu schade?
2. KAPITEL „Meinem Vater hat deine Rede gestern abend sehr gefallen", sagte Juanita am nächsten Tag zu Tom. „Er war ganz beeindruckt." Tom freute sich sichtlich darüber, doch gleich darauf verdüsterte sich seine Miene wieder. „Eine ganze Menge Leute haben meinen Aufruf gehört, aber wenn ich mir die Ergebnisse angucke, war ich wohl doch nicht so gut." „Wie meinst du das?" Viele Schüler haben mich heute ganz aufgeregt darauf angesprochen, so in dem Ton: Mensch, prima, erzähl mir mehr darüber, wie ich die Reise nach Lateinamerika im nächsten Sommer mitmachen kann.' Ihre Eltern hatten ihnen wohl von dem Projekt erzählt, und jetzt glauben sie, das wäre eine Art kostenloses Feriencamp. Wenn ich dann in die Einzelheiten gehe und ihnen erkläre, daß sie sich den Trip durch Freiwilligenarbeit und Sammlungen verdienen müssen, machen sie schnell 'ne Fliege. Anderen ist es zu viel, jede Woche einmal zu den Ausbildungskursen zu gehen und manchmal auch ein freies Wochenende dafür opfern zu müssen. Eine ganze Menge Leute würde in den Sommerferien gern mal etwas anderes, etwas Nützliches machen wollen, um der Langeweile zu entgehen, aber niemand ist bereit, dafür harte Arbeit in Kauf zu nehmen." „Ich schon." Die Worte waren Juanita entschlüpft, bevor sie richtig nachgedacht hatte. „Du machst wohl Witze." Tom musterte kurz Juanitas hübsches Gesicht, die mandelförmigen, leicht exotischen Augen und ihr gepflegtes Aussehen. „Warum sollte ich?" fragte sie gereizt. „Naja ... du scheinst ..." Er wurde verlegen.
„Ich bin nicht so, wie du vielleicht denkst. Ich kann alles, was die anderen auch können." „Willst du damit sagen, daß ich hiermit dich als erste Freiwillige angeworben habe?" Vorsichtige Freude war auf seinem Gesicht zu lesen. Das gab bei Juanita den Ausschlag. „Was muß ich tun?" „Komm einfach zu unserem nächsten Treffen. Es findet am nächsten Mittwoch um halb acht in der Fruitville Highschool statt." „In Fruitville! Aber das ist dreißig Kilometer weit weg! Ich dachte, wir machen das hier in Blossom Valley. Mein Dad wird nicht gerade begeistert davon sein, wenn ich während der Schulzeit einen Abend in der Woche nach Fruitville muß." „Wir müssen das Training an einem zentralen Ort abhalten. Schließlich kommen Schüler von ungefähr einem Dutzend Schulen zusammen." Tom musterte sie prüfend. Juanita kam sich dumm und oberflächlich vor. „Und noch was", fügte er schroff hinzu, „wenn du nicht mal die dreißig Kilometer zum Unterricht schaffst, wie willst du dann die 6000 Kilometer schaffen, um deinen Job zu machen?" „Ich hab nicht gesagt, daß ich es nicht schaffen würde. Es hat mich nur überrascht, daß nicht nur Schüler von unserer Schule mitmachen. Und ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich nach Fruitville kommen soll. Mein Vater ist Arzt und abends oft gar nicht zu Hause. Meine Mutter fährt bei Dunkelheit nicht gern, und ich kann noch keinen Führerschein machen."' Toms Gesicht verdüsterte sich noch mehr. „Du bist noch keine sechzehn?* Dann kannst du es sowieso vergessen." _____________________________________________________________ * In den Vereinigten Staaten ist es möglich, den Führerschein bereits mit 16 Jahren zu machen.
„Ich werde im Januar erst sechzehn." Juanitas Begeisterung verflog, doch Tom strahlte wieder. Dann geht es doch! Es reicht, wenn du im nächsten Sommer sechzehn bist." „Das löst mein Problem mit den Übungsabenden aber immer noch nicht." „Okay, dann fährst du eben mit mir", erklärte Tom. „Wenn sich noch mehr Schüler aus Blossom Valley melden, können wir eine Fahrgemeinschaft bilden." Die Vorstellung, einmal in der Woche mit Tom zu den Kursen zu fahren und dann den Sommer mit ihm im tropischen Regenwald Lateinamerikas zu verbringen, bestärkte Juanita in dem Beschluß, sich der HFDW-Gruppe anzuschließen. „Okay. Ich werde zum nächsten Treffen kommen und sehen, ob ich überhaupt dazu passe." „Und ob du zu uns paßt", meinte Tom nachdrücklich, obwohl er noch immer daran zu zweifeln schien, daß Juanita sich überhaupt für so ein Projekt interessierte. „Dein Vater ist Arzt, und du bist spitze in Spanisch, ideale Vorbedingungen also." „Es ist erst mal ein Versuch", schränkte Juanita ein. „Ich habe noch nicht mit meinen Eltern darüber gesprochen, also sage dem Direktor und auch sonst niemandem etwas davon, daß ich mich melden will." „Ich halte uns jedenfalls die Daumen." Tom schenkte ihr ein so strahlendes Lächeln, daß sie überzeugt war, einen großen Schritt in die richtige Richtung getan zu haben. Nachdem Tom wag war, stiegen Zweifel in ihr auf. Was hatte sie da nur gemacht? Allein der Gedanke, den ganzen Sommer weit entfernt von ihrer Familie und allen ihren Freunden zu verbringen, war Wahnsinn, sogar wenn Tom dabei war. Sie kannte ihn zwar schon seit der ersten Klasse, aber sie waren nie enge Freunde gewesen. Und sie war noch nie von
ihrer Familie getrennt und noch nie außerhalb von Kalifornien gewesen. Als Juanita sich das nächste Mal mit Jeannette traf, brach sie endgültig in Panik aus. Ohne den moralischen Beistand ihrer Freundin mußte ein so verrücktes Unternehmen in einer Katastrophe enden. „Was ist los mit dir? Du siehst aus, als hättest du eine wichtige Klassenarbeit verpatzt", meinte Jeannette. „Was bedeutete das lange Gesicht?" „Merkt man es mir so sehr an? Ich hab gerade ... nun, ich bin nicht sicher, ob ich es hätte tun sollen. Du wirst jedenfalls nie raten, wo ich den nächsten Mittwochabend verbringe." „Beim Basketballausscheidungskampf? Oder schießen sie dich auf den Mond?" „Beides falsch." „Man darf immer dreimal raten. Also... War ich auch schon mal dort?" „Nun ja, kann man sagen." Juanita erinnerte sich daran, daß sie und Jeannette einmal mit ein paar Freunden zu einem Footballspiel mit dem Bus nach Fruitville gefahren waren. „Was ist denn dann so außergewöhnlich daran?" „Gut, ich werde es dir erzählen. Ich habe Tom Goulding versprochen, zu einem Treffen der HFDW-Gruppe zu kommen." „Ich weiß ja, das du Tom supertoll findest, aber du willst mir doch nicht weismachen, daß du deshalb gleich mit ihm nach Lateinamerika fahren und dich um die armen Indios kümmern willst?" „Warum nicht? Es ist mir ernst, Jeannette. Du bist genau wie alle anderen, die immer von meinem Aussehen auf meinen Charakter schließen. Ich möchte zur Abwechslung mal etwas
anderes machen, möchte aus allem hier raus und endlich einmal frei sein." „Wow! Ich hätte nie gedacht, daß du dich so für eine Sache begeistern könntest. Dieses ruhelose Gefühl kenne ich, das habe ich auch manchmal. Aber ich glaube, du lädst dir da mehr auf, als du tragen kannst. Anstatt frei zu werden, könntest du dich an etwas binden, das du eigentlich gar nicht willst. Ich hab Toms Rede nur mit halbem Ohr zugehört, aber es schien mir eine ganze Menge Schinderei mit der Sache verbunden zu sein." „Das finde ich nicht", entgegnete Juanita. „Wir machen sonst doch immer nur denselben ollen Kram." Um ihren Entschluß weiter zu verteidigen, gebrauchte sie einen Satz aus Toms Rede. „Ich möchte nur herausfinden, ob ich das Leben eines anderen ändern kann." Tom ist dir wirklich unter die Haut gegangen. Ich hatte gar nicht gedacht, daß du ihm tatsächlich zugehört hast." „Ich hab seine Ankündigung zweimal mitbekommen. Wie sollte ich mich also nicht an das erinnern, was er gesagt hat?" „Deine Begeisterung läßt auch wieder nach, das kann ich dir jetzt schon prophezeien." „Ich hab' dir das nicht erzählt, damit du die ganze Sache einfach abtust", sagte Juanita. „Wir haben bisher doch immer alles gemeinsam gemacht." „O nein!" Jeannette streckte abwehrend die Hände aus. „Es macht vielleicht Spaß, mit dir zusammen in Modeschauen aufzutreten oder die Rhythmuskugeln zu schwingen, wenn du singst, aber nach Lateinamerika fahren? Da verlangst du ein bißchen viel von unserer Freundschaft." „Du bist im nächsten Sommer sicher schon so ausgebucht, daß du nicht im Traum daran denken könntest." „Willst du die ganze Sache tatsächlich durchziehen?"
„Natürlich. Ich habe Tom schon zugesagt. Was würde er von mir denken, wenn ich jetzt einen Rückzieher machen würde? Ich bin entschlossen durchzuhalten. Wir könnten beide zusammen nach Fruitville fahren und jede Menge netter Typen kennenlernen. Tom wird uns und die anderen Freiwilligen, die sich eventuell noch aus Blossom Valley melden, in seinem Kombi mitnehmen. Wir müssen jeden Mittwochabend hin." „Auf einmal heißt es ,wir`. Damit meinst du wohl dich und mich?" „Wen sonst? Die ganze Sache wird mich eine Menge Freizeit kosten. Du hättest also niemanden, mit dem du etwas unternehmen könntest." Jeannette war sichtlich beunruhigt. „Wieviel Zeit?" „Jeden Mittwochabend, manchmal auch samstags, und wenn es richtig angelaufen ist, bestimmt noch an anderen Tagen in der Woche." „Und wenn du durchhältst, wird es den ganzen Sommer über hier ziemlich einsam für mich sein. Sommerferien, und jeder außer mir ist verreist, das könnte ich nicht aushalten." „Es gibt nur eine Lösung." „Okay, solange du es machst, kann ich es eigentlich auch tun." Juanita fiel Jeannette um den Hals. Mit ihrer besten Freundin an der Seite konnte nichts mehr schiefgehen. Tom freute sich, als er hörte, daß Juanita noch eine Freiwillige geworben hatte. „Dann sind wir vier", sagte er. „Paul DiVeggio will auch mitmachen. Er ist schon Feuer und Flamme und wird sich mit mir beim Fahren alle vierzehn Tage abwechseln." Tom holte Juanita zum ersten Übungsabend ab. Paul saß bereits im Auto. Als letztes fuhren sie bei Jeannette vorbei. Die war richtig aufgekratzt. „Das ist echt stark. Normalerweise darf
ich während der Schulzeit abends nämlich nicht mehr weg. Rio de Janeiro, ich komme!" „Na, da irrst du dich aber", korrigierte Tom sie. „Rio liegt in Brasilien, und wir werden nur in spanischsprachige Länder geschickt. In Brasilien spricht man portugiesisch. Außerdem lassen wir die Großstädte mit all ihrem Glamour links liegen. Uns interessieren nur die kleinen Dörfer, deren Einwohner keine Ahnung von Gesundheitspflege und solchen Sachen haben." Juanita warf Jeannette einen finsteren Blick zu. Wenn ihre Freundin so weitermachte, würde Tom sie beide für alberne Gänse halten, die nur ihren Spaß im Kopf hatten, und er würde sich wünschen, nichts mit ihnen zu tun zu haben. „Vielleicht brauchen wir den Spanischkurs gar nicht mitzumachen", sagte sie zu Tom. „Schließlich sind wir schon lange keine Anfänger mehr." „Ich glaube, wir kommen trotzdem nicht darum herum. Hier lernen wir spezielle Sachen, die wir später bei der Arbeit in den Dörfern gut brauchen können. Sätze wie Das tut überhaupt nicht weh' oder Mach den Mund auf und sag Ahh'." „Oder, Nimm zwei Aspirin und hau dich in die Falle`, fügte Paul hinzu. „Das wäre besonders für mich sehr nützlich, denn ich habe vor, Medizin zu studieren und später mal ein Arzt wie Dr. Schweitzer zu werden." „Vielleicht werde ich auch Arzt", sagte Juanita. „So wie mein Vater." Der Gedanke war ihr bis jetzt noch nie in den Sinn gekommen, und die Vorstellung war irgendwie so absurd, daß Jeannette kichern mußte. Sie hatten inzwischen die Highschool von Fruitville erreicht und betraten den Versammlungsraum, in dem schon eine Menge Schüler von den verschiedensten Schulen warteten. „Schau dir die Typen an!" flüsterte Jeannette.
„Benimm dich." Juanita stieß ihre Freundin mit dem Ellbogen an. „Einige der Leute hier, die mit den gelben Namensschildern, machen das Programm schon seit mehreren Jahren mit und haben bereits in verschiedenen Dörfern gearbeitet. Sie haben sich für dieses Jahr wieder gemeldet", erklärte Tom. „Also kann die Sache nicht so schlecht sein", bemerkte Jeannette und erntete einen wütenden Blick von Juanita. „Kommt, mischen wir uns unter die Menge, damit wir die anderen kennenlernen", schlug Tom vor und ging auf ein hübsches rothaariges Mädchen mit einer Sturmwindfrisur zu. Juanita sah ihm gekränkt nach. Dann kam sie selbst mit einem Mädchen ins Gespräch, das eine Haut wie Milchkaffee hatte und eine freche pinkfarbene Mütze trug. Ihr Namensschild war gelb, und sie erzählte Juanita, daß sie im vergangenen Sommer in Costa Rica gewesen sei. „Es war das unvergeßlichste Erlebnis meines Lebens". sagte sie. Juanita bekam eine Gänsehaut bei der Vorstellung, daß ein Teenager in ein so geheimnisvolles Land wie Costa Rica fuhr. „Hier ist der lebendige Beweis, daß wir es heil überstehen können", flüsterte sie Jeannette zu. ,Unvergeßlich kann alles mögliche bedeuten", gab Jeannette düster zurück. Der Projektleiter verschaffte sich Gehör und bat darum, daß sich jeder auf einen Platz setzte, während er das Programm erläuterte. Die Freiwilligen würden in acht Länder Zentral- und Südamerikas geschickt werden, deren Regierungen um Hilfe bei der Durchführung des öffentlichen Gesundheitsplans nachgesucht hatten. „Aber die Reise ist nicht kostenlos. Jeder von euch muß während des kommenden Jahres durch seine Mitarbeit bei wohltätigen Organisationen und durch den Verkauf von Früchten, die euch gestellt werden, 2.500 Dollar verdienen."
Jeannette warf Juanita einen entsetzten Blick zu, den Juanita jedoch ignorierte. Aus den verschiedensten Teilen des Raums hörte man Stöhnen..„Ich hasse es, Früchte zu verkaufen", flüsterte Jeannette ihrer Freundin ziemlich laut zu. „Was wir vorhaben, ist keine Vergnügungsreise, sondern harte Arbeit", fuhr der Leiter fort. „Sie erfordert große Standfestigkeit. Wenn euch also ein romantischer Sommer in den Tropen vorschwebt, wird es Zeit, daß ihr wieder mit beiden Beinen auf die Erde kommt." Tom schaute Juanita verstohlen an. Ihre Blicke trafen sich, und er sah schnell wieder weg. Sie fühlte, wie Ärger in ihr aufstieg. Glaubte er etwa, sie sei eine von diesen Traumtänzerinnen, die aufgeben? Sie würde es ihm schon zeigen, und sie würde auch nicht zulassen, daß Jeannette schlappmachte. Tom sollte sehen, daß sie genauso hart im Nehmen waren wie die anderen. Der Projektleiter hielt noch einen Vortrag über die Zustände im Gesundheitswesen in den abgelegenen Teilen Lateinamerikas, wo die Freiwilligen arbeiten würden. Es gab dort kein fließendes Wasser, kein elektrisches Licht, wenig und einseitige Nahrung, keine sanitären Anlagen. Die Folge davon waren alle möglichen Krankheiten und eine kurze Lebenserwartung. Die Dorfbewohner hatten zum Beispiel noch nie etwas von Zahnbürsten gehört, und für diejenigen, die schlechte Augen hatten, gab es keine Brillen. Die Aufgabe der HFDW-Freiwilligen bestand nun darin, sich auf diese abgelegenen Siedlungen zu verteilen und den Eingeborenen Grundregeln der Hygiene und Gesundheitspflege beizubringen, die für sie durchführbar waren und ihren Lebensbedingungen entsprachen. In den kommenden Monaten würden die Helfer in verschiedenen Kursen drei Stunden pro Woche in Zahnhygiene unterrichtet werden. Sie würden lernen, wie man Sehtests
macht, Menschen und Haustiere impft und den Eingeborenen beibringt, selbst Latrinen zu bauen. Erste Hilfe und die Grundlagen der Ernährungslehre gehörten ebenfalls mit zum Programm. „Der Gedanke, daß ich jemandem all diese Dinge beibringen kann, ist schon imponierend. Mom muß nämlich jeden Morgen hinter mir her sein, damit ich mir auch ja die Zähne richtig putze", meinte Jeannette nach der Versammlung. „Warum sollten die Leute im Busch wohl auf mich hören?" „Vielleicht fühlst du dich jetzt noch überfordert", sagte Tom. „Aber wenn du das ganze Training hinter dir hast, kannst du diesen Menschen wirklich etwas bieten." „Für mich wird das eine Lebensaufgabe werden", meinte Paul. „ich sehe mich schon als fliegenden Doktor, der sich in Gebiete wagt, die noch kein Mensch betreten hat, und im Dschungel und in der Wüste Leben rettet." „Meinst du, wir packen das?" flüsterte Jeannette ihrer Freundin auf dem Rücksitz zu. „Natürlich. Ich wäre nie mitgekommen, wenn ich nicht von Anfang an fest entschlossen wäre, auch wenn ich Tom gesagt habe, daß ich es mir erst einmal angucken würde. Ich wußte schon, daß wir da mitmachen, als ich seine Rede am Elternabend hörte." „War ich so gut? Ich hoffe es zumindest, damit ich all die Eingeborenen überzeugen kann, das zu tun, was ich will." „Ich frage mich, wieso die Dorfbewohner überhaupt Respekt vor uns haben sollten. Schließlich sind wir nur Teenager", warf Jeannette ein. „Hast du nicht gehört, was der Leiter gesagt hat? Daß wir in diesem Jahr auch etwas über zwischenmenschliche Beziehungen lernen werden, also darüber, wie man mit Menschen umgeht? Wir werden so gut trainiert sein, daß wir vor Selbstbewußtsein nur so strotzen." Juanita war in Fahrt.
„Obernächsten Samstag findet eine Tagung darüber statt, draußen beim Leuchtturm an der Küste, wo die Jugendherberge ist." „Außerdem werden wir meist mit Leuten zu tun haben, die kaum älter sind als wir, und mit einer Menge kleiner Kinder", fügte Tom hinzu. Während der nächsten Woche diskutierten Juanita und Jeannette immer wieder darüber, ob sie die HFDW-Sache ganz durchziehen sollten. „Mein Vater hat meine Anmeldung bereits unterschrieben", sagte Juanita. „Er war ganz begeistert! Seitdem er sich mit dem Gedanken angefreundet hat, daß auch Mädchen mitmachen können, ermutigt er mich. Ich könnte jetzt nicht mehr aufgeben, ohne ihn schrecklich zu enttäuschen. Meiner Mutter schmeckt das Ganze noch gar nicht. Sie meint, ich sei viel zu sehr an die Bequemlichkeiten meines Zuhauses gewöhnt, um plötzlich in die Wildnis hinauszuziehen. Andauernd liegt sie mir damit in den Ohren, daß ich nichts Vernünftiges zu essen bekommen und mir meine Figur, meine Haut und mein Haar ruinieren würde. Und so weiter. Dad und ich müssen jedes Zugeständnis von ihr hart erkämpfen." „Meine Eltern haben die Anmeldung zwar unterschrieben, aber sie halten das Ganze für eine meiner verrückten Ideen, die sich von selbst wieder geben", meinte Jeannette. „Sie haben einander angelächelt, als wollten sie sagen, na, lassen wir ihr erst mal ihren Willen." Jeannette riß plötzlich die Augen auf. „Diese Tagung soll übernächsten Samstag sein? Da ist doch das Football-Endspiel. Ich wollte mit Charles O'Donnell hingehen." „Oh! Stimmt! Ich habe auch eine Verabredung dafür", erinnerte sich Juanita. Sie hatte Forrest Williams, einem der Sportstars der Schule, schon zu Beginn des neues Schuljahrs versprochen, daß sie mit ihm zu dem wichtigen Footballspiel
gehen würde. Und eine der Regeln, die ihre Mutter ihr eingetrichtert hatte, lautete, nie eine Verabredung abzusagen, bloß weil sich etwas anderes ergeben hatte. „Du siehst, für uns ist es furchtbar lästig, bei HFDW mitzumachen", stellte Jeannette fest. Juanita schwankte noch. Sie dachte an das spannende Spiel und überlegte kurz, ob sie Tom von der früheren Verabredung erzählen und die Tagung sausen lassen sollte. Aber dann erschien es ihr als das kleinere Übel, Forrest abzusagen. „Schau mal, Jeannette", erklärte sie. „Dieser Intensivkurs findet nur einmal statt, aber es gibt noch viele Footballspiele. Wir könnten den Jungs doch versprechen, daß wir mit ihnen zu einem anderen Spiel gehen. Wir wußten von Anfang an, daß wir Opfer bringen müssen, wenn wir bei HFDW bleiben wol len." „Aber ist das nicht ein bißchen viel verlangt? Wenn sich Charles nun mit einer anderen verabredet und mit mir Schluß macht?" Dann ist eure Beziehung nicht viel wert, sonst würde er verstehen, daß du unbedingt an dieser Tagung teilnehmen mußt." Am nächsten Tag trödelte Juanita auf dem Weg zur Schule. Sie fürchtete sich vor der unangenehmen Aufgabe, die vor ihr lag. Geschickt wich sie ein paar Autos aus, aus denen Schüler stiegen, und ließ dann ihren Blick suchend über den Platz schweifen. Hier vor der Schule war der morgendliche Treffpunkt für die beliebtesten Cliquen. Forrests blonder Kopf war nicht zu übersehen. Er überragte fast alle anderen Jungen. Als er Juanita sah, wollte er sie sofort in seinen Kreis ziehen, um mit ihr an zugeben. Juanita zögerte. „Kann ich dich einen Moment sprechen? Allein?"
"Mit Vergnügen", sagte er mit frechem Grinsen. „Ich gehöre dir mit Leib und Seele." „Hör auf, Forrest", wehrte Juanita ab. „Das hier ist ernst. Es tut mir leid, daß ich dir das jetzt sagen muß, aber ..." Also schlechte Neuigkeiten?" ,Ja. Übernächsten Samstag waren wir doch für das Footballspiel verabredet ..." Sein Grinsen verschwand, die Augen verengten sich. „Leider kann ich nicht mitkommen", fuhr sie hastig fort. „Ich habe mich einer Gruppe angeschlossen, die sich ‚Hilfe für die Dritte Welt' nennt, und wir haben an diesem Tag einen Intensivkurs, der von morgens bis abends dauert. Ich kann da einfach nicht fehlen." „Aber ich habe dich schon zu Beginn des Schuljahres gefragt." Wie tief die Absage seinen Stolz verletzte, war Forrest deutlich anzusehen. „Es tut mir wirklich leid." Juanitas Stimme war nur noch ein Flüstern. „Jeder muß an dieser Tagung teilnehmen. Als ich mich mit dir verabredete, wußte ich noch nicht, daß sie ausgerechnet an diesem Tag stattfinden würde." „Für mich ist es jetzt praktisch zu spät, noch jemand anderen einzuladen. Spar dir deine Entschuldigungen. Tut mir leid, daß ich dich überhaupt gefragt hab." Damit drehte er sich auf dem Absatz um, ließ die verblüffte Juanita einfach stehen und eilte an seiner Clique vorbei ins Schulgebäude. Juanita hatte seine Eitelkeit schwer gekränkt. Tränen stiegen ihr in die Augen. Hätte sie das Ganze taktvoller anpacken sollen? Forrest war ein Freund gewesen, jetzt war er sauer auf sie. Sie würde nie mehr die Chance bekommen, ihm alles genauer zu erklären oder ihm zu sagen, daß sie ihn gern zum nächsten Spiel begleiten würde.
„Ich hoffe, du bist nun zufrieden", sagte Jeannette, als sie sich etwas später trafen. Ich hab meine Verabredung mit Charles sausen lassen. Er hat ziemlich kühl reagiert. Wehe, die Tagung ist den ganzen Ärger nicht wert!" „Sieh es doch einmal so, Jeannette. Wir haben beide ein Opfer gebracht, um an diesem Projekt teilnehmen zu können. Wenn es dir genauso wehgetan hat wie mir, die Verabredung zu brechen, zeigt das, wie ernst es uns ist. Wir werden die Sache erfolgreich beenden. Es ist das erste Mal, daß wir uns zu etwas verpflichtet haben, was nicht nur zu unserem Vergnügen ist. Das können wir doch jetzt nicht mehr aufgeben." „Ich wünschte, ich wäre so idealistisch wie du", sagte Jeannette. „Denn, wenn ich ehrlich sein soll, mach ich das alles nur aus Freundschaft zu dir. Sonst würden mich keine zehn Pferde dazu bringen."
3. KAPITEL Paul holte Tom und Juanita am Samstagmorgen zu der Tagung ab. Aber Jeannette erschien nicht, als er vor ihrem Haus hupte. „Ich geh rein und hole sie", bot sich Juanita an. Mrs. Duvier öffnete die Tür. „Jeannette schläft noch", rief sie. „Sie hat mir nicht gesagt, daß ihr so früh losfahren wollt." „Kann ich sie wecken und ihr beim Anziehen helfen? Ich hab sonst Angst, daß wir zu spät kommen." „Natürlich. Ich mache schnell frischen Orangensaft." Juanita stürmte in Jeannettes Zimmer. „Wach auf, alte Schlafmütze! Wir müssen in einer halben Stunde am Leuchtturm sein! Die Zeit ist sowieso schon knapp, und wenn du nicht gleich draußen im Wagen sitzt, werden die Jungs echt sauer." Jeannette öffnete die Augen. Verständnislos starrte sie die Freundin an, während sie sich zerzaust und verwirrt im Bett aufsetzte. Juanita schüttelte sie. „Wir warten alle auf dich. Steh auf. Es brennt!" „Ist heute Samstag? Ist es denn schon Morgen? Habe ich wirklich die ganze Nacht geschlafen? Ich bin hundemüde und glaube nicht, daß ich aufstehen kann." „Jeannette Duvier! Ich ziehe dich jetzt aus dem Bett!" Juanita riß ihr die Decken weg. „Ich bin echt total fertig, Juanita. Ich packe das heute nicht." „Soll ich dir kaltes Wasser ins Gesicht schütten?" „Nein, bloß das nicht!" Zögernd schwang Jeannette die Beine über den Bettrand, und Juanita zog sie an den Händen hoch, bis sie stand.
„Muß ich dich auch noch anziehen?" „Nein, das krieg ich schon hin." Jeannette tappte zum Kleiderschrank. „Was soll ich bloß nehmen?" „Egal was, Hauptsache warm. Draußen an der Küste bläst immer ein frischer Wind." Juanita lief in die Küche, um den Orangensaft zu holen. „Vielleicht macht dich das wach." Sie reichte das Glas ihrer Freundin, die einen Schluck trank und es dann wegstellte. Sie trug noch immer ihren Schlafanzug. „Nun mach schon." Juanita holte eine karierte Bluse aus dem Schrank. „Die ziehst du jetzt an und Jeans und eine warme Jacke", befahl sie. Jeannette schien nicht die Kraft aufzubringen, selbst eine Entscheidung zu treffen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis Juanita endlich mit Jeannette aus dem Haus kam. Jeannette schleppte sich ins Auto, zog die Beine an und kuschelte sich auf dem Sitz zusammen, ohne auf die Proteste der Jungen zu achten. „Ich mußte sie tatsächlich aus dem Bett werfen", erklärte Juanita ihnen. Jeannette verteidigte sich nicht. Sie saß wie ein echter Zombie in ihrer Ecke. „Ich habe eine Thermosflasche mit Kaffee dabei. Paul und ich haben schon davon getrunken, während wir auf euch warteten. Es ist aber noch was drin", meinte Tom. „Vielleicht weckt sie das auf." „Wir können's ja versuchen." Juanita nahm die Thermosflasche, die Paul ihr nach hinten reichte. „Sonst müssen wir uns den ganzen Tag mit dieser Schlafmütze herumschlagen." Jeannette hielt den Kaffeebecher müde in der Hand und zwang sich, von Zeit zu Zeit einen Schluck zu trinken. „Ist sie morgens immer so?" fragte Tom.
„Nein, eigentlich gar nicht." Juanita verteidigte ihre Freundin. „Normalerweise ist sie gleich voll da und macht alles mit." Jeannette nahm keine Notiz von ihrem Gespräch. Es war, als unterhielten sie sich über jemanden, der gar nicht da war. Sie fuhren vom Tal hinauf in die der Küste vorgelagerten Hügel. Als sie an einem malerischen See vorbeikamen, schüttelte Juanita ihre Freundin. „Wach auf und genieße die Landschaft!" Auf der anderen Seite der Hügel kamen sie auf die Küstenstraße, die sie durch Dörfer mit felsigen Klippen und schmalen Stränden führte. Seeluft drang in das Auto. „Jetzt alle aufgepaßt', wies Tom sie an. „Die Straße zum Leuchtturm ist leicht zu übersehen, und soweit ich weiß, gibt es nur ein kleines Hinweisschild." Sie verpaßten die Abzweigung prompt und mußten noch einmal zurückfahren, bevor sie endlich auf dem richtigen Weg waren. Er führte zu einer Jugendherberge, die in einem alten Gebäude untergebracht war. Von den Wänden blätterte bereits die Farbe ab. Möwen umkreisten kreischend den Leuchtturm, dessen Tür durch ein Vorhängeschloß versperrt war. Ein paar Jugendliche standen herum, und Juanita erfuhr, daß sie HFDWFreiwillige aus dem Norden Kaliforniens waren. Das Meer brandete gegen die Klippen. Man spürte die feinen Gischttropfen salzig auf den Lippen. „Wir sind doch noch nicht zu spät", stellte Paul mit einem Blick auf die reglose Jeannette fest. ;,Es fehlen noch ein paar Leute." Ein eisiger Wind blies vom Ozean herüber. Jeannette knöpfte ihre Jacke bis obenhin zu und kuschelte sich auf eine Bank vor dem scheunenartigen Gebäude, wo das Treffen stattfinden sollte. Eine Mitarbeiterin hatte einen Tisch mit Namenskärtchen aufgestellt und winkte Juanita und die beiden Jungs heran, damit sie ihre Namen eintragen konnten.
„Kannst du das für mich machen?" Jeannette vergrub die Hände in die Achselhöhlen. n Ich hab nicht genug Kraft, da hinüberzugehen." „Hier, trink noch einen Schluck." Tom bot ihr den Rest aus seiner Thermosflasche an. Jeannette wärmte sich die Hände an dem warmen Plastikbecher und sog begierig den Duft des Kaffees ein. „Komm schon, Jeannette. Wach auf. Wir fangen gleich an." Juanita wurde ungeduldig. Tom ging zu einer Gruppe von Schülern aus anderen Schulen und machte sich mit ihnen bekannt. Besonders mit den Mädchen, wie Juanita beobachten konnte. Paul blätterte ein paar Broschüren durch. Juanita beschloß, sich von der teilnahmslosen Jeannette zu trennen und sich unter die anderen zu mischen. Jetzt wünschte sie, sie wäre unabhängiger gewesen und hätte ihre Freundin nicht mit in die HFDW-Gruppe gezogen. „Wo bist du im letzten Sommer gewesen?" fragte sie einen dunkelhaarigen Jungen, der versuchte, die Gruppe zusammenzubekommen und in das Gebäude zu bringen. Der Stern auf seinem Namensschild bedeutete, daß er schon mehrere HFDW-Einsätze hinter sich hatte. „In Honduras", erwiderte er. „Ich hab den Leuten dort das Evangelium der Zahnpflege gebracht." Juanita packte freudige Erregung. Sie sah sich schon selbst in exotischer Umgebung. Ein großes Mädchen mit glatter Ponyfrisur erzählte, daß sie in Paraguay gewesen sei. Das war noch aufregender, denn es lag im tiefsten Süden Südamerikas. Juanita nahm sich vor, zu Hause gleich im Atlas nachzusehen, wo es genau war. Die Dynamik der anderen steckte sie an. Sie fühlte sich bereits als Teil dieser aktiven Gemeinschaft. In ein paar Monaten würde sie mit den anderen Freiwilligen in den Süden jetten, um in
weit abgelegenen Dschungeldörfern bessere Lebensbedingungen zu schaffen. Als sie sich mit drei Dutzend anderen Leuten in die Scheune drängte, sah sie sich schon im Tropenanzug durch den Urwald gehen, inmitten riesiger Papageien, exotischer Blumen und Bananenbäumen, und Seuchen und Krankheiten bekämpfen. In dem Tagungsgebäude war es nicht viel wärmer als draußen, aber in dem bauchigen Ofen in der Ecke flackerte ein Feuer, und die farbenfrohe Einrichtung gab zumindest die Illusion von Wärme. Die Holzverkleidung war rotbraun bemalt worden, und ein rot und grün karierter Teppich bedeckte den Boden. „Fangen wir also an", begann der Projektleiter. Die wenigen Stühle und Sofas an den Wänden reichten für die Menge nicht aus, deshalb setzten sich die meisten Teilnehmer auf den Teppich. Juanita ließ sich zwischen einem Mädchen mit schulterlangem blondem Haar und einem Jungen nieder, dem das rote Haar wie ein Vorhang über die Augen fiel. Auf der anderen Seite des Raumes war Tom in eine Unterhaltung mit der hübschen Rothaarigen aus Fruitville vertieft. Jeannette kam mit unsicheren Schritten herein, blickte sich suchend um und setzte sich dann hinter Juanita. „Hier auf dem Boden ist es aber ziemlich kalt", sagte sie hustend. „Ich glaube, ich rutsche lieber auf die Couch drüben beim Feuer." „Möchtest du meine Handschuhe haben?" Juanita streckte ihr ihre Fäustlinge hin. "Meine Hände sind wie erfroren, und mein Hals kratzt." Dankbar nahm Jeannette die Handschuhe an. Einen Augenblick lang war Juanita besorgt, aber um sie herum passierte zuviel; als daß sie sich lange Gedanken über ihre Freundin machen konnte.
Eine Mitarbeiterin erklärte, daß dieses Treffen dazu diene, den Umgang mit anderen Menschen zu lernen. Jeder Teilnehmer sollte seine Wertvorstellungen und Vorlieben einmal genau unter die Lupe nehmen. Sie hängte eine Tafel mit verschiedenen Begriffen auf. „Wir richten unser Leben nach dem ein, was für uns von Bedeutung ist“, sagte sie. „Ich möchte nun, daß ihr diese Liste von Wertbegriffen abschreibt und sie in der Reihenfolge, die für euch persönlich gilt, numeriert. Es gibt dabei keine richtigen oder falschen Antworten. Später setzen wir uns in Gruppen zusammen und diskutieren darüber, warum für unser Leben das eine oder andere so wichtig ist." Juanita schrieb die Liste ab. Ein bequemes Leben - Gleichheit und Brüderlichkeit - Ein aufregendes Leben - Sicherheit in der Familie - Freiheit und Unabhängigkeit - Glück und Zufriedenheit - Tiefe Liebe und Intimität - Nationale Sicherheit - Innere Harmonie - Spaß und Freude - Ewige Erlösung - Selbstachtung - Das Gefühl, etwas erreicht zu haben - Gesellschaftliche Anerkennung und Bewunderung - Wahre Freundschaft - Weisheit - Eine Welt des Friedens - Eine Welt voll Schönheit Sie überlegte, was sie wählen sollte. Alle diese Dinge waren erstrebenswert, doch welche hatten sie in ihrem bisherigen Leben am meisten beeinflußt? Sie schätzte ein bequemes Leben, aber das hatte sie ja sowieso. Dafür und für die Sicherheit in der Familie war ihr Vater zuständig, also waren sie für Juanita nicht so wichtig. Gleichheit und Freiheit, eine friedliche Welt und nationale Sicherheit, für diese Dinge waren die Politiker verantwortlich. Darüber konnten die sich den Kopf zerbrechen. Tiefe Liebe? Ewige Erlösung? Weisheit? Ich bin erst fünfzehn, dachte Juanita. Darüber kann ich nachdenken, wenn ich älter bin. Sie strich „Eine Welt voll Schönheit" durch, denn das war ein Teil von Glück und Freude. Brachte Glück nicht immer Freude und innere Harmonie? Und
wer könnte in einer häßlichen Welt glücklich sein? Sie setzte eine Eins vor das Wort Glück als allumfassenden Begriff. Bei der Nummer zwei mußte sie zugeben, daß ihr Leben bisher immer auf gesellschaftliche Anerkennung ausgerichtet gewesen war, obwohl sie jetzt in dieser Gruppe von Fremden nicht wußte, ob sie das zugeben sollte. Juanita überlegte, ob man sie deshalb schief ansehen würde. Sie genoß den Applaus, wenn sie zu ihrer Gitarre gesungen hatte, stand gern im Mittelpunkt und wurde gern von Jungen umschwärmt. Würde sie sich nicht elend fühlen, wenn das alles plötzlich aufhören würde? Diese gesellschaftliche Anerkennung gab ihr Selbstvertrauen. Wie sollte es auch sonst laufen? Mußten die anderen sie nicht erst anerkennen, damit sie sich ihrer selbst sicher fühlen konnte? Oder war es umgekehrt? Und wie stand es um wahre Freundschaft? Forrest war sofort sauer gewesen, als sie die Verabredung platzen ließ. Er war sicher kein wahrer Freund. Und sie selbst? Sollte sie sich nicht mehr um Jeannette kümmern, die wie ein Häufchen Elend auf der Couch saß? Statt dessen ging sie ihr aus dem Weg. Juanita blickte zu Tom hinüber, der mit gerunzelter Stirn über die Begriffe auf seiner Liste nachgrübelte. Tom und sie könnten wahre Freunde werden, wenn er nur nicht so selbstzufrieden und selbstgenügsam wäre. Sie las weiter. Ein aufregendes Leben und Das Gefühl, etwas erreicht zu haben. War ein aufregendes Leben das, was alle hier wollten? Und was das Gefühl, etwas erreicht zu haben, anging, so hatte sie noch nichts getan, was es wert gewesen wäre, diesem Punkt den Vorrang zu geben. Schließlich sah Juanitas Liste so aus: 1. Glück - 2. Gesellschaftliche Anerkennung - 3. Ein aufregendes Leben. Sie war sich bei der ganzen Sache ziemlich unsicher, aber immerhin hatte sie soviel darüber nachgedacht, daß sie ihre bisherigen Wertvorstellungen in Frage stellte. Mr. Whitman bat
alle Teilnehmer, diese Blätter aufzuheben und sie sich im nächsten Herbst, nach ihrer Reise, noch einmal anzusehen. „Im nächsten Sommer, wenn es ernst wird, werdet ihr vielleicht mit einem Partner zusammenarbeiten müssen, der ganz andere Ideale hat als ihr und folglich auch eine andere Persönlichkeit", erklärte Mr. Whitman. Er händigte eine Liste aus, auf der menschliche Qualitäten aufgeführt waren. War es wichtiger für einen Menschen, erfindungsreich, unabhängig, intellektuell, logisch, liebevoll, treu, höflich, diszipliniert oder gehorsam zu sein? Oder sollte man vielleicht Partner vorziehen, die ehrgeizig, verständnisvoll, zupackend, fröhlich, sauber und nett, mutig, nicht nachtragend, hilfreich und ehrlich waren? Wieder sahen sich die Teilnehmer der schweren Aufgabe gegenübergestellt, die ihnen wichtigen Eigenschaften zu benennen. Dann setzten sie sich in Gruppen zusammen und diskutierten darüber. In Juanitas Gruppe waren Erfindungsreichtum und Ehrlichkeit am meisten gefragt, während Höflichkeit und Gehorsam erst am Ende der Liste standen. Inzwischen war es Zeit fürs Mittagessen geworden. Juanita stellte mit leichtem Ärger fest, daß Jeannette immer noch auf der Couch saß. Sie hatte weder an den Tests teilgenommen, noch sich zu einer Gruppe gesellt, denn sie wollte am Feuer bleiben. „Wir gehen raus, etwas essen", sagte Juanita zu ihr. „Ich hab keinen Hunger, ich bin nur müde", antwortete Jeannette. Jetzt schaltete sich auch Tom ein. „Du siehst gar nicht gut aus. Da reden wir die ganze Zeit davon, daß wir uns um die Gesundheit der Menschen auf einem anderen Kontinent kümmern wollen, und übersehen dabei ganz eine Kranke in unserer Mitte."
„Fühlst du dich wirklich krank, Jeannette?" Juanita war ehrlich besorgt. ,Es macht mir Mühe, auch nur die Hand zu heben." Paul ging hinaus zum Wagen und holte ihr ein Butterbrot. „Ihr könnt wirklich ans Meer gehen", drängte Jeannette. „Ich ruh mich ein bißchen aus. Ich hasse es, euch ein Klotz am Bein zu sein." Paul und Tom, ihr geht", bestimmte Juanita. „Ich bleibe hier." „Nein, ich möchte wirklich ein bißchen Ruhe. Geh mit ihnen. Wenn du bei mir bleibst, muß ich mich bloß anstrengen, dir Antworten zu geben." „Du machst tatsächlich einen elenden Eindruck, Jeannette. Du hättest erst gar nicht mitkommen sollen." Tom schaute sie mitleidig an. „Ich weiß, aber heute morgen war ich noch nicht wach genug, um zu merken, wie schlecht es mir geht." „Okay, dann ruh dich ein wenig aus. Vielleicht fahren wir früher heim." „Kommt gar nicht in Frage. Ich möchte kein Spielverderber sein. Wenn ihr mich jetzt ein bißchen allein laßt, fühle ich mich bestimmt nachher besser und kann bis zum Ende durchhalten." Juanita schlenderte mit den anderen ans Meer. Sie setzten sich auf einen Felsen und aßen in der frischen Seeluft ihre Butterbrote. Ab und zu warfen sie den kreischenden Möwen Krusten hin. „Ich hoffe, deine Freundin kommt wieder in Ordnung", sagte Paul. „Sie scheint eine Erkältung oder so was zu bekommen. Eigentlich hätte sie gar nicht mit uns fahren dürfen. Ich glaube, sie macht sich sowieso nicht viel aus HFDW. Ehrlich gesagt, hab ich sie fast gezwungen, da mitzumachen."
„Jedenfalls kriegt sie von unserem Training hier nichts mit", stellte Tom fest. Nach der Pause gab es eine Übung zum Thema Problemlösungen. Mr. Whitman erklärte, daß es bei den Einsätzen vor allem auf die Flexibilität der Freiwilligen ankomme. Egal, welche Schwierigkeiten auch auftraten, sie mußten erfinderisch genug sein, um das Beste aus ihrem Aufenthalt in Lateinamerika zu machen. Mögliche Problemfälle wurden dargestellt, und die Tagungsteilnehmer versuchten in Gruppen, die jeweils von einem erfahreneren HFDW-Freiwilligen angeleitet wurden, Lösungen zu erarbeiten. Juanitas Gruppe sollte ein Zahnpflegeprogramm durchführen, aber ihre Ausrüstung -Zahnbürsten, Zahnpasta und Zahnseide - wurden vom Zoll aufgehalten. Sie beschlossen, die Dorfbewohner während dieser Verzögerung in Erster Hilfe und Ernährungslehre zu unterrichten. Außerdem wollten sie versuchen, Zahnbürsten aus fasrigen Zweigen der Umgebung zu machen und, falls es möglich war, Salz als Ersatz für die Zahnpasta zu nehmen. Vor allem den Kindern wollten sie zeigen, wie die Zähne wuchsen und weshalb es wichtig war, sie ein Leben lang zu pflegen. Juanita erklärte Mr. Whitman später, warum Jeannette sich nicht an der Übung beteiligte. „Meine Freundin bekommt bestimmt die Grippe. Sie hustet schon die ganze Zeit." Mr. Whitman sah sich das kranke Mädchen an. „Ich fürchte, sie hat Fieber, und ihre Lymphdrüsen scheinen auch geschwollen zu sein. Ist sie mit dir gekommen? Es steht nur noch eine Übung auf dem Programm und zwar zum Zusammenstoß der verschiedenen Kulturen. Wenn es dir nichts ausmacht, früher zu gehen, solltest du deine Freundin nach Haus bringen und ins Bett stecken."
„Seid ihr damit einverstanden?" fragte Juanita die Jungs. Sie hatte ein ganz schlechtes Gewissen, weil sie Jeannette am Morgen so einfach aus dem Bett geworfen hatte. „Ist mir gar nicht aufgefallen, daß es ihr so schlecht geht, sonst wären wir schon früher gefahren", antwortete Tom. „Tur mir leid, wenn ich so eine Spielverderberin bin", krächzte Jeannette. „Aber ich fühle mich so elend, daß ich am liebsten die nächsten drei Monate durchschlafen würde." „Mach dir keine Gedanken wegen uns. Wir haben dir wahrscheinlich den ganzen Tag verdorben, weil wir dich nicht schon eher heimgefahren haben." Tom ging voraus zum Auto. Als sie bei den Duviers ankamen, begleitete Juanita ihre Freundin ins Haus und half Mrs. Duvier, sie ins Bett zu bringen. „Mr. Whitman, unser Leiter, nimmt an, daß sie Fieber hat", meinte sie. Mrs. Duvier holte das Fieberthermometer, das bestätigte, daß Jeannette 39 Grad Fieber hatte. Dann bemerkte auch sie die geschwollenen Lymphdrüsen. „So etwas passiert immer samstags nachmittags, wenn kein Arzt mehr Sprechstunde hat. Wir müssen mit ihr ins Krankenhaus fahren. Hoffentlich hast du dich nicht angesteckt, Juanita. Am besten hältst du dich von ihr fern, bis wir Genaueres wissen." „Ich rufe später an, um zu hören, was der Arzt gesagt hat", versprach Juanita. Jeannette lag teilnahmslos auf dem Bett. Sie trug noch immer ihre warme Jacke und Juanitas Handschuhe. „Danke, daß du dich um sie gekümmert hast", sagte Mrs. Duvier zum Abschied. Juanita plagten Gewissensbisse. Als Tom Juanita vor dem Haus der Alarcons aussteigen lassen wollte, schlug sie vor: „Da der Nachmittag sowieso schon angebrochen ist, könntet ihr doch auch mit
hereinkommen. Wir rösten Popcorn und machen uns was zu trinken." „Prima!" rief Tom. „Was ist mit dir, Paul?" „Ich hab' Hunger wie ein Wolf. Auf mich könnt ihr zählen." Im Wohnzimmer brannte ein Kaminfeuer. Juanita schüttete Popcorn in den Maisröster und schaltete ihn ein. Ihr Bruder Jason kam vorbei, die Kopfhörer seines Walkman auf den Ohren. Er warf einen neugierigen Blick ins Zimmer und verschwand sofort wieder. Vom Küchenfenster aus konnte sie sehen, wie ihr jüngster Bruder auf dem Hof einen Tennisball gegen die Garagentür schmetterte. Die Alarcons wohnten in einem Haus am Ende der Hibiskusstraße. Es war ursprünglich nur eingeschossig gewesen, als die Familie dann größer wurde, war ein zweites Stockwerk dazugekommen. Dr. Alarcon hätte immer gern einen größeren Hof gehabt. „Von der Tagung war ich etwas überrascht", sagte Juanita, nachdem sie sich zu Paul und Tom ins Wohnzimmer gesetzt hatte. „Ich hatte mehr medizinischen Kram erwartet." „Das kommt sicher später noch", meinte Paul. Tom schaute nachdenklich vor sich hin. „Dieses Hinterfragen der eigenen Wertvorstellungen fand ich sehr interessant. Ich hab vorher nie groß über meine Ideale nachgedacht. Jetzt mußte ich mich plötzlich damit auseinandersetzen, wie ich mich in bestimmten Situationen verhalte und was das über mich aussagt. Warum habe ich mir HFDW als Freizeitbeschäftigung ausgesucht und nicht Fußball? Warum besuche ich bestimmte Schulkurse, und warum mag ich bestimmte Leute mehr als andere?" „Mir kam es so vor, als würde ich mich mit anderen Augen sehen und müßte, mich und meine Motive kritisieren", sagte Juanita. „Dann habe ich versucht, wirklich ehrlich zu sein und Werte aufzuschreiben, die mir etwas bedeuten, aber noch
während ich das tat, habe ich mich gefragt, ob sie es tatsächlich wert sind, mein Leben zu bestimmen." „Mr. Whitman hat doch gesagt, es gibt keine richtigen oder falschen Antworten", entgegnete Paul. „Wir sollten nur lernen, daß jeder Mensch seine ganz verschiedenen Ideale hat." Und Tom fügte hinzu: „Wir sollten den Unterschied erkennen und die Überzeugungen der anderen respektieren und tolerieren. Das ist besonders wichtig, wenn wir nach Übersee gehen. Man kann nie wissen, mit welch merkwürdigen Sitten und Menschentypen wir dort konfrontiert werden." „Tut mir leid für Jeannette", sagte Paul. „Sie war wirklich krank und hätte gar nicht mitkommen sollen", erklärte Juanita. „Ihre Mutter fährt mit ihr zum Notarzt." „Hoffentlich hat sie sich bis Mittwoch wieder erholt, denn dann geht's an den medizinischen Krimskrams." Aber Jeannette sollte weder am Mittwoch noch sonst irgendwann zu einem Treffen von HFDW kommen können. Nachdem die Jungs gegangen waren, rief Juanita Mrs. Duvier an und erfuhr, was mit ihrer Freundin los war. „Wir haben von den Ärzten schlechte Nachrichten bekommen. Jeannette hat Lymphdrüsenfieber. Sie braucht absolute Ruhe und darf noch nicht einmal zur Schule gehen, bis ihre Blutwerte wieder normal sind. Mir war schon länger aufgefallen, daß sie ziemlich blaß und müde war, ich dachte jedoch, daß käme daher, weil ihr Mädchen ständig auf Achse seid. Ich hatte ja keine Ahnung, daß tatsächlich etwas nicht in Ordnung war." „Sie darf nicht zur Schule gehen? Das ist ja furchtbar! Kann ich rüberkommen und ihr jeden Tag den Unterrichtsstoff bringen, damit sie nicht zu sehr zurückfällt?"
„Nein, Juanita. Das wäre schon zuviel für sie. Der Doktor hat ihr absolute Ruhe verordnet, zumindest für die nächsten Wochen. Wir müssen etwas für sie arrangieren, damit sie im Sommer wieder alles aufholen kann. Im Moment möchte sie nur schlafen, aber ich bin sicher, daß deine Anrufe eine willkommene Abwechslung für sie sind. Dann kann sie dir selbst sagen, wann sie sich besser fühlt und du sie besuchen kannst." Juanita legte den Hörer auf. Sie hatte das Gefühl, ausgebrannt und leer zu sein. Jeannette war ein wichtiger Teil ihres Lebens. Wie sollte sie das HFDW-Projekt ohne sie durchstehen? Der Gedanke, daß die Freundin womöglich wochenlang außer Gefecht gesetzt war, schien unerträglich.
4. KAPITEL Am Abend nach der Tagung hatte Juanita noch eine Verabredung mit Kirk Pugh. Sie gingen in den ‚Purple Alligator', aßen eine Kleinigkeit und tanzten dann zu der ziemlich unkoordinierten Musik einer Band, die sich „Gloombusters" nannte. Kirk beschwerte sich, weil Juanita so still und gedrückt war. „Das kommt wohl daher, daß Jeannette krank ist", erwiderte sie. „Und ich denke auch noch über ein paar Dinge nach, die wir heute auf der Tagung gemacht haben." Sie versuchte, ihm von der Diskussion über die unterschiedlichen Wertvorstellungen zu erzählen, aber Kirk zeigte kein Interesse. Sein Blick schweifte durch das Lokal, und nur hin und wieder rang er sich ein kurzes „Ja?" ab. Schließlich unterbrach er sie. „Nun komm schon, sei wieder fröhlich. Du hattest einen miesen Tag. Na, wenn schon. Damit ist jetzt Schluß!" Er sprang auf, nahm ihre Hand und zog sie auf die winzige Tanzfläche, auf der sich schon eine Menge Leute aus Blossom Valley drängelte. Kirk grüßte jovial nach allen Seiten. „Es ist toll, mit einem so hübschen Mädchen wie dir gesehen zu werden", sagte er, doch das Kompliment trug nicht dazu bei, Juanitas Laune zu heben. Sie stellte fest, daß gesellschaftliche Anerkennung auf Kirks Liste wohl ganz oben stand und er ein oberflächlicher Kerl war. Hätte sie sich nur nicht mit ihm verabredet! Nichts schien in ihrem Leben mehr in Ordnung, außer den HFDW-Treffen mit Tom. Als Kirk sie nach Hause brachte, bat er sie nicht wie sonst um eine weitere Verabredung. Aber Juanita war es auch egal, ob sie ihn gelangweilt hatte. Für sie existierte nur noch Tom. Tom schlich sich oft und zu ganz unmöglichen Zeiten in ihre Gedanken ein. Sie war sich nicht sicher, was er von ihr hielt.
Wenn er wüßte, was sie für ihn empfand, würde er bestimmt an ihrem Engagement für die HFDW-Sache zweifeln und glauben, sie mache nur mit, um in seiner Nähe zu sein. Das stimmte jedoch nicht ganz. Wenn sie an den kommenden Sommer dachte, fühlte sie sich wie von einem Magneten zu einem unbekannten, vielleicht gefährlichen, aber lohnenswerten Ziel hingezogen. Auch die Begeisterung ihres Vaters machte es ihr unmöglich, vor der Aufgabe, die sie erwartete, zu kneifen. Manchmal, wenn die Großmutter und ihre Mutter sie so richtig verwöhnten, konnte Juanita selbst kaum glauben, daß sie sich wirklich bei HFDW verpflichtet hatte. War sie dabei, ein anderer Mensch zu werden, so wie aus einer Raupe ein Schmetterling wird? Tom war bester Laune, als er Juanita am nächsten Mittwoch abholte. Jetzt fängt das richtige Training an", sagte er. Zuerst war Spanisch dran. In dem Kurs für Fortgeschrittene lernten sie verschiedene medizinische Begriffe: „pastillas" fur Tabletten zum Beispiel, das spanische Wort für „Fieber" und die Übersetzung von „Tut dein Hals weh?". Dann sprach ein Zahnarzt darüber, daß die HFDWFreiwilligen in den ländlichen Gegenden Lateinamerikas bei den Eingeborenen mit einer sträflichen Vernachlässigung der Zähne rechnen müßten. Die meisten Erwachsenen würden ihre Zähne bereits im Alter von fünfundzwanzig Jahren verlieren, erklärte er. „Ihre Zähne sind wirklich in einem furchtbaren Zustand", bestätigte ein Freiwilliger, der bereits eigene Erfahrungen in den Dörfern gesammelt hatte. „Man glaubt es kaum. Da gab es welche, die den ganzen Tag nur Zuckerrohr kauten und noch nie in ihrem Leben eine Zahnbürste gesehen hatten, bevor ich auftauchte." Der Zahnarzt erzählte, daß er jeden Sommer von einem Dorf zum anderen reiste und schmerzende Zähne zog. Manchmal
Hunderte an einem Tag. „Diejenigen von euch, die Zahnpflege als ihr Spezialgebiet wählen, werden vor allem den Kindern beibringen, wie sie ihre Zähne behandeln müssen, damit es ihnen nicht genauso geht wie ihren Eltern." Er zeigte Bilder von der Entwicklung des Erwachsenengebisses und erläuterte, wie die Pflege aussehen sollte. Nach diesem Vortrag wurden die Freiwilligen von einem der Projektleiter noch einmal darauf hingewiesen, daß sie einen Teil ihres Geldes für die Reise mit dem Verkauf von Orangen verdienen müßten. Proteste und Stöhnen waren zu hören. „Wenn ich etwas hasse, dann ist es verkaufen", sagte Juanita auf dem Nachhauseweg zu Paul und Tom. „Schon früher bei den Pfadfindern hab ich mich fast zu Tode geschämt, wenn wir bei den Nachbarn Plätzchen verkaufen mußten, obwohl ich da noch Jeannette zur Unterstützung hatte. Jetzt ist nicht mal sie da, und ohne Jeannette weiß ich nicht, ob ich es schaffe." „Es ist nicht so schwer", munterte Tom sie auf. „Vielleicht können wir drei uns zusammentun." Juanita warf ihm einen dankbaren Blick zu. Apfelsinen zu verkaufen war vielleicht doch nicht so schlecht, wenn noch andere - und besonders Tom - mitmachten. Ihr kam eine Idee. „Ich könnte zu Mrs. Duvier gehen. Jeannette braucht doch jetzt sicher viel Vitamin C." „Mr. Rodriguez muß auch dran glauben. Er hat 'ne Menge Kinder und bestimmt immer Verwendung für Apfelsinen." „Gute Idee", stimmte Juanita Paul zu. Nach kurzem Nachdenken drehte sich Tom zu ihnen um. Sein Gesicht strahlte. „Ich hatte gerade einen supertollen Einfall, der uns eine Menge Fahrerei und Verhandeln ersparen wird. Wir könnten doch vor der Schulkantine einen Stand aufstellen, einen Kassettenrekorder mit den neuesten Hits
spielen lassen und so die Jungs dazu bringen, bei uns Apfelsinen für die Mittagspause zu kaufen. Apfelsinen mag jeder. Das wird eine Goldgrube, ohne daß wir viel dafür tun müssen." „Also, an die Arbeit", rief Juanita begeistert. Sobald die Kisten mit den Orangen da waren, wurde der Stand aufgestellt, und bald war es „in", am HFDW-Tisch Apfelsinen zu kaufen. Juanita, Tom und Paul hatten auf ein Tuch „Apfelsinen für HFDW" geschrieben und es an der Tischkante festgemacht. Dann kam Tom auf die Idee, den Stand schon morgens früh statt erst gegen Mittag aufzustellen, so daß auch die Schüler, die kein Frühstück gehabt hatten, davon profitieren konnten. Während sie eines Morgens den Stand aufbauten, bemerkte der Rektor der Schule sie. Barsch befahl er sie in sein Zimmer und erteilte ihnen einen strengen Verweis, weil sie ohne Erlaubnis auf dem Gelände der Schule einen Geschäftsstand aufgebaut hatten. Juanita war total verängstigt. Sie war noch nie vom Rektor gerügt worden. Paul rutschte nervös auf seinen Stuhl hin und her und machte eine schuldbewußtes Gesicht. Nur Tom blieb ruhig und erklärte dem Rektor, was es mit dem Orangenverkauf auf sich hatte. „Es kostet eine Menge Geld, nach Lateinamerika zu fahren, und wir dachten, das sei eine gute Idee, das Geld aufzubringen, ohne zuviel Zeit für die Hausaufgaben zu verlieren", schloß er. Der Rektor wollte alles über HFDW wissen. Er hatte von dieser Organisation noch nie etwas gehört, und schien die drei Schüler wegen ihres Engagements für die Dritte Welt zu bewundern. Am Ende war er so beeindruckt, daß er sein Verbot zurückzog und ihnen offziell erlaubte, weiterhin Apfelsinen zu verkaufen. „Ich werde auch ein paar Kisten mitnehmen für meine Familie. Aber in Zukunft denkt bitte daran, daß ihr so
etwas nicht einfach machen könnt, ohne es mit der Schulverwaltung abzusprechen. Und der Kassettenrekorder muß leiser gestellt werden. Wir könnten sonst Beschwerden von den Anwohnern auf der anderen Straßenseite bekommen." „Tatsache ist", sagte Tom, „daß ein paar Frauen, die hier in der Gegend wohnen, unsere Musik gehört haben und jetzt regelmäßig Apfelsinen bei uns kaufen." Juanita bewunderte Toms diplomatisches Geschick. Etliche Lehrer und Verwaltungsangestellte kauften dem Trio Orangen ab, und schließlich war kein Stück mehr übrig. "Ihr aus Blossom Valley habt eure Apfelsinen als erste verkauft", stellte Mr. Whitman beim nächsten Schulungstreffen fest. „Applaus für Blossom Valley!" Tom drehte sich um und grinste Juanita fröhlich an. Sie zwinkerte ihm zu, um zu zeigen, wie stolz sie war. Ein prickelndes Gefühl der Zuneigung erfaßte sie bei diesem kurzen Blickwechsel. An diesem Abend hörten sie einen Vortrag über die Bedeutung von Impfungen, erfuhren, welche Krankheiten die Eingeborenen der tropischen Gebiete Amerikas am häufigsten befielen und wie ihre Ausbreitung verhindert werden konnte. Am Anschluß an den Vortrag machte Mr. Whitman darauf aufmerksam, daß der Orangenverkauf erst der Anfang des Geldsammelns gewesen sei. „Sofort nach den Ferien werden wir mit dem zweiten Teil beginnen, indem wir Jobs bei den verschiedenen wohltätigen Einrichtungen in der Umgebung annehmen. Einige dieser Einrichtungen haben sich bereiterklärt, euch einen Mindestlohn für eure Arbeit zu zahlen." Juanita, Paul und Tom überflogen die Liste mit den angebotenen Stellen. Juanita wartete, bis Tom sich eine ausgesucht hatte, damit sie sich ebenfalls dafür eintragen konnte. „Ich gehe zur Hungerhilfe für Afrika", sagte Tom zu der Protokollführerin, und sie schrieb seinen Namen auf.
„Ich auch", rief Juanita sofort. „Tut mir leid, da gibt es nur einen Job. Du mußt dir etwas anderes aussuchen." Juanita fühlte Panik in sich aufsteigen. Wie sollte sie diese schwierige Hürde nehmen ohne Jeannette oder Tom an ihrer Seite? "Ich fahre normalerweise mit Tom, wir haben auch die Apfelsinen gemeinsam verkauft, und da dachte ich ..." Tom schienen ihre Erklärungen peinlich zu sein. Er ging hinüber auf die andere Seite des Raumes. „Etwas, was ihr hier bei HFDW lernen müßt, ist, unabhängig zu sein", mischte sich Mr. Whitman ein, der Juanitas Bemerkung gehört hatte. „Du kannst dich nicht an einen von dir ausgewählten Partner klammern. Ihr müßt flexibel sein und dort Aufgaben übernehmen, wo ihr gebraucht werdet. Es gibt außer der Hungerhilfe für Afrika noch viele andere Einrichtungen, die dringend freiwillige Helfer suchen." Juanita überlegte einen kurzen Augenblick, ob sie wirklich weiter bei HFDW mitmachen wollte, wenn sie ganz allein ohne Freunde hinausgeschickt wurde. Sie sah zu Tom hinüber. Der sprach wie so oft mit dem rothaarigen Mädchen. An diesem Mittwoch trug sie gestreifte Hosen und einen weiten Rollkragenpullover und strahlte Tom aus ihren großen grünen Augen an. Juanita fiel auf, wie seine Muskeln den Stoff des Hemdes spannten, als er während der Unterhaltung lebhaft mit den Händen gestikulierte. Das Deckenlicht zauberte einen rötlichen Schimmer in sein schwarzes Haar. Jetzt lächelte er der Rothaarigen auch noch zu. Genau dieses charmante, selbstbewußte Lächeln ließ sonst Juanitas Herz höher schlagen. Paul stieß Juanita an, weil sie so lange zögerte. Er hatte sich als Laufbursche für eine Klinik gemeldet. Alle guten Jobs wurden ihr vor der Nase weggeschnappt, wenn sie nicht aufpasste. Sie überflog die Liste noch einmal.
„Ich nehm den Job im Kindergarten", entschied sie endlich. „Kindergarten, Juanita Alarcon." Die Schriftführerin strich die Stelle durch. Tom blieb für den Rest des Kurses bei dem grünäugigen Mädchen. Offen bar wollte er nicht mit einem so unselbständigen Wesen wie Juanita in einen Topf geworfen werden. Sie hatte erst wieder auf dem Nachhauseweg eine Chance, mit ihm zu sprechen. „Tut mir leid, daß ich mich um denselben Job beworben habe wie du", begann sie. „Mir kam es wirklich nicht auf diese Stelle an. Ich dachte nur, die Aufgabe würde mir leichter fallen, wenn ich mit jemandem zusammen wäre, den ich kenne." „Leicht wird es für uns bei HFDW sowieso nicht. Das hat man uns schon tausendmal gepredigt." „Ich hab keine Ahnung, worauf ich mich da eingelassen habe - was ich in dem Kindergarten tun soll, zum Beispiel." „Bei meinem Job für die Afrika-Hungerhilfe weiß ich das auch nicht." Tom zeigte keine Spur von Mitleid. „Also bei mir ist das ziemlich klar. Ich werde Leute im Rollstuhl von einer Station zur anderen bringen und Formulare, Röntgenbilder und solche Sache herumtragen. Vor ein paar Wochen war ich schon mal in der Klinik und hab mir angesehen, was da so verlangt wird. Stellt euch vor, ich bin mit Ärzten zusammen und kann ihnen bei der Arbeit über die Schulter schauen!" Paul war begeistert. An einem der nächsten Tage suchten sie auf dem Stadtplan ihre zukünftigen Arbeitsstellen. Pauls Klinik la g am Stadtrand von Blossom Valley, die Büros der Hungerhilfe hinter dem Plun Tree Park und der Kindergarten in der selben Richtung, nur ein Stückchen weiter. „Mom wird protestieren und darauf bestehen, daß ich HFDW wieder aufgebe, wenn sie hört, daß sie mich jede
Woche hinbringen und wieder abholen muß. Die Bushaltestelle liegt kilometerweit entfernt", stöhnte Juanita. Tom schwieg einen Moment, dann sagte er barsch: „Nicht, daß ich dir alles erleichtern will, aber vielleicht könnten wir es so einrichten, daß wir zur selben Zeit arbeiten, dann fahre ich dich." „Würdest du das tun? Dann wäre alles geregelt." Sie sah Tom freudestrahlend an, aber er blickte zur Seite, als täte ihm sein Angebot schon wieder leid. Juanita hatte noch immer Zweifel daran, ob es richtig gewesen war, ihre sonst so gemütlichen Samstagnachmittage zu opfern. Sie kam sehr in Versuchung, als man ihr für die kommende Woche die Teilnahme an einer Modenschau anbot. Es wäre nett gewesen, in schicken Sachen herumzustolzieren, bewundert zu werden und Applaus zu bekommen. Aber sie hatte den Mut abzulehnen. Sie steckte schon zu tief in der HFDW-Sache drin. Ihr Vater fragte sie ständig nach dem Verlauf der Kurse, und sie hätte es nicht fertiggebracht, Tom noch einmal ins Gesicht zu sehen, wenn sie schon am ersten Tag ihres Jobs mit Entschuldigungen kam. Toms Meinung zählte mehr als alles andere. Der Kindergarten lag in einer unfreundlichen Gegend, in der man allein Angst bekommen konnte. Es regnete an diesem ersten Samstagnachmittag. Tom setzte Juanita ein paar Minuten vor ein Uhr vor der Tür ab. „Kurz nach fünf hole ich dich wieder ab", versprach er. „Ich bin nur ein paar Blocks von dir entfernt." Er schien ihre Furcht zu spüren. Verzagt betrat Juanita das Kindergartengelände. Das Gebäude sah von außen ziemlich runtergekommen aus. Auf dem Rasen davor lagen Einwickelpapier von Hamburgern und leere Tüten herum, sogar eine leere Whiskyflasche. Die Tür war mit schmutzigen Fingerabdrücken übersät. Im Flur knarrten die Bodenbretter unter Juanitas Schritten. Auf einer leuchtend gelb gestrichenen Tür stand in grünen, roten und
blauen Buchstaben das Wort „Kinderkrippe". Das wirkte wesentlich freundlicher als die Außenseite des Hauses. Juanita konnte hohe Kinderstimmen hören. Als sie die Tür öffnete, schien der Lärm ihr wie eine große Welle entgegenzubranden und sie wieder in den Flur drängen zu wollen. Babies weinten, aufgeregte Krabbelkinder schrien durcheinander, um auf sich aufmerksam zu machen, andere ahmten die Geräusche von Lastwagen und Flugzeugen nach. Der saure Babygeruch mischte sich mit dem der vielen nassen Wollpullover und Mäntel, die an der Garderobe hingen. Der Raum war groß. Mit Fingerfarben gemalte Bilder und Papierschneeflokken schmückten die olivgrünen Wände. Überall verstreut standen kleine Tische und Stühle. Als Juanita eintrat und die Tür hinter sich schloß, rannte ein kleiner Junge mit einem Flugzeug in der Hand sie beinahe um. Sie holte tief Luft und sah sich um. Eine mütterlich wirkende Negerin löste sich aus einem Kreis Kinder und kam lächelnd auf sie zu. „Sie müssen das neue Mädchen von HFDW sein. Willkommen." „Ja. Ich heiße Juanita Alarcon und habe überhaupt keine Erfahrung mit Kindern." Die Frau lachte herzlich. „Das werden die Rangen hier schnell ändern." Sie streckte die Hand aus. „Ich bin Letitia Brown..." Dann drehte sie sich um und rief einer schmalen Frau mit blonden Haaren zu: „Irene, sie ist da. Sie können jetzt gehen." Irene hatte gerade ein paar Spielzeugautos in eine Kiste geräumt. Sie richtete sich auf und kam herüber, um die Neue zu begrüßen. Juanita war inzwischen umringt von Kindern, die sie neugierig anstarrten. Als Irene ihren Mantel anzog und sich verabschiedete, erhob sich lauter Protest.
Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, richteten die Kinder ihre Aufmerksamkeit wieder auf Juanita. „Das ist Juanita, unsere neue Aushilfe", erklärte Letitia. „Sie kennt unsere Namen noch nicht, also müssen wir uns vorstellen. Wir setzen uns jetzt alle in einen Kreis und sagen, wie wir heißen." Die meisten Kinder gehorchten, nur zwei ältere Jungen verzogen sich flüsternd in eine Ecke und musterten Juanita so durchdringend, daß ihr unbehaglich wurde. „Sara, John, Wilson, Jennifer, Roseann, Alfie", stellten sich die Kinder vor. „Jetzt wollen wir Juanita zeigen, wo wir unsere Sachen aufbewahren", sagte Letitia und bestimmte einen der aufsässigen Jungen dazu, Juanita die Kiste mit den Bausteinen zu zeigen. Ein kleines Mädchen führte sie danach zu einem Fenster, von wo aus man auf den Hinterhof sehen konnte. Dort gab es einen Sandkasten, verschiedene Schaukeln und einen grünen Plastiktunnel. Einige verbeulte Fahrräder, Dreiräder, und Tretautos standen herum. Aber der Regen machte es unmöglich, draußen zu spielen. Pete, ein zierlicher Junge, zog Juanita zu einem Laufstall und machte sie mit den Babies bekannt. Eines der drei Kleinen konnte noch nicht einmal richtig sitzen. „Die können noch nicht mal laufen", erklärte Pete selbstbewußt. „Jetzt wollen wir weiterspielen." Letitia klatschte in die Hände und wandte sich dann wieder an Juanita. „Im Moment sollen die Kinder sich allein beschäftigen. Halten Sie die Augen offen, ob jemand Hilfe braucht." Die Kinder setzten sich an die Tische, machten Puzzles oder Figuren aus Knetmasse, malten an kleinen Staffeleien, spielten mit den Bausteinen, liefen mit Autos und Flugzeugen herum oder verkleideten sich aus der Kostümkiste in der Ecke. Juanita warf einen Blick hinein und entdeckte Modeschmuck, alte Abendkleider, Cowboylederhosen, Hüte, Schals, Stiefel und
hochhackige Schuhe. Sie versuchte, sich an die Namen der Kinder zu erinnern und herauszufinden, wer mit wem befreundet war, um etwas Ordnung in das Chaos zu bringen. Ein kleiner Junge bat sie, eine Geschichte vorzulesen, und bald hatte sich eine ganze Gruppe Kinder um sie geschart und hörte zu. Vielleicht war sie doch nicht ganz ungeeignet für diesen Job. Später gab es Orangensaft und Kekse. Juanita mußte verschütteten Saft und nasse Krümel von den Tischen und dem Boden aufwischen. Gleich darauf mußte ein Baby frisch gewickelt werden. Sie nahm es aus dem Laufstall, und während sie es noch auf dem Arm hielt, merkte sie, wir ihr Pullover naß wurde. Juanita hatte noch nie ein Baby gewickelt und sich auch nicht um eine solche Arbeit gerissen, als sie bei HFDW eintrat. Wenn Tom sie abholte, würde sie herrlich duften! Nachdem das Baby trockengelegt war, wusch sie sich die Hände und versuchte, den feuchten Fleck auf ihrem Pullover auszuwischen, aber der Geruch blieb an ihr haften. Sie legte den Säugling wieder in den Laufstall und stopfte seine nassen Sachen in eine Plastiktüte. Widerlich! Im Verlauf des Nachmittags wurden die Kinder unruhig und quengelten. Ein Mittagsschlaf war vorgesehen, aber die meisten wollten sich nicht hinlegen. Juanita war müde und abgespannt. Vielleicht schaffte sie es doch nicht, das HFDWProgramm bis zum Schluß durchzuhalten. Erleichtert hörte sie, wie Letitia ankündigte, es sei jetzt Zeit, die Spielsachen wegzuräumen. Die ersten Eltern kamen, um ihre Sprößlinge abzuholen. Als nur noch vier Kinder übrig waren, erklärte Letitia, daß sie um fünf Uhr eine Verabredung habe und etwas früher gehen müsse. Juanita hatte nichts weiter zu tun, als mit den Kindern zu warten, bis die Eltern kamen. Die Negerin war gerade gegangen, als auch schon eine Mutter kam und ihr Baby abholte. Drei unruhige Kinder
blieben zurück, zwei Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen begann zu weinen, klammerte sich an Juanita und schluchzte, einer der Jungen habe es gebissen. Die beiden Jungen öffneten aus Langeweile einen Schrank, während Juanita das kleine Mädchen tröstete. Sie holten die Bausteine heraus, die so sorgfältig weggeräumt worden waren. „Nein!" rief Juanita. „Ihr dürft den ganzen Kram nicht wieder auspacken." Einer der Jungen, Davy, warf einen Stein nach ihr. Louise heulte laut, als Juanita zu den Jungen hinüberging, um sie zu schelten. Die beiden holten immer noch Bausteine aus dem Schrank und sahen Juanita herausfordernd an. Als sie näherkam, liefen sie mit mehreren Steinen bewaffnet davon und verbargen sich hinter einem Stuhl. Louise suchte erschreckt Zuflucht unter einem Tisch. Juanita hatte noch nie mit ungezogenen Kindern fertigwerden müssen. Sie war nie Babysitter gewesen, auch nicht bei ihren jüngeren Brüdern. Ihre Großmutter lebte ja mit im Haus und hatte diese Pflichten übernommen. Die Jungen hatten einen Mordsspaß und warfen mit Holzbausteinen nach Juanita, bis ihr Vorrat erschöpft war. Einer schlich im Schutz der Stühle davon, um neue zu holen. Ihr schlimmen Jungs! Wißt ihr nicht, daß eure Eltern jede Minute kommen und sehen können, wie ihr euch benehmt?" Diese Drohung half gar nichts. Ein Bauklotz traf Juanita am Knie. Der Junge, der keine Steine mehr hatte, lief zu den Staffeleien und schraubte eine Tube blauer Farbe auf. Damit rannte er durch den Raum und spritzte lange, unregelmäßige Streifen auf den Boden. Juanita lief hinter ihm her und schrie sich heiser, während die Jungen vor Vergnügen quietschten. Wo bleiben nur die Eltern? Juanita hoffte verzweifelt, daß sie bald kommen und sie von den beiden Quälgeistern befreien würden. Andererseits wollte sie nicht, daß sie dieses Chaos sahen. Wenn sie sich bei Letitia darüber beschwerten, verlor
sie vielleicht ihren Job. Na und? Im Moment wünschte sie sich angesichts dieser Bengel nichts sehnlicher, als diese Arbeit wieder Ioszusein, aus HFDW auszutreten und die ganze schwierige und unerfreuliche Sache ein für allemal zu vergessen. Als sie hinter einem Kind herjagte, rutschte sie auf einem Klecks blauer Farbe aus. Sie konnte sich gerade noch am Rahmenholz des Spielzeugschranks festhalten. Die Kinder jubelten vor Vergnügen. Da öffnete sich die Tür. Sie hoffte und fürchtete zugleich, es können sich um eine Mutter handeln, die einen der Strolche mitnehmen würde, und zog sich am Schrank hoch. Die Jungen erstarrten. Es war Tom. „Was ist denn hier los? Spielt ihr Kriegen?" fragte er fröhlich. Einer der Rangen sank sanft wie ein Lamm auf einen Stuhl. Der andere sah an seinem Overall hinunter, der etliche Spritzer hellblauer Farbe abbekommen hatte. Er verzog das Gesicht und begann zu jammern. „Ich werde mit diesen Kindern einfach nicht fertig", erklärte Juanita atemlos. „Die Leiterin hat alles saubergemacht und mir die drei Kleinen hier überlassen. Nur für ein paar Minuten, bis die Eltern sie abholen. Ich glaube aber nicht, daß sie hier jemals auftauchen werden, und ich kann es ihnen auch nicht übelnehmen. Schau dir mal die Schweinerei an, die sie gemacht haben!" ,Wen haben wir denn hier?" Tom holte die verängstigte Louise unter dem Tisch hervor. Er setzte sich auf eines der Stühlchen und hielt das Mädchen auf seinem Schoß. Ihr Haar war in viele kleine Zöpfe geflochten mit gelben Bändern an jedem Ende, und es sah so aus, als würden sie ihr vor Furcht vom Kopf abstehen. „Spielst du Verstecken mit uns?" fragte er lächelnd. „Nun, dann habe ich dich gefangen. Jetzt bist du dran."
Das Mädchen schien sich in der Obhut des großen freundlichen Jungen sicher zu fühlen. „Davy hat mich gebissen!" Sie zeigte mit dem Finger auf den Kleinen mit der blauen Farbe. „Es ist fast Zeit zum Abendessen. Sicher hatte er Hunger." Tom stand mit Louise auf dem Arm auf. „Warst du so hungrig, daß du sie beißen mußtest?" fragte er Davy. Der blickte ängstlich, aber bewundernd zu ihm auf. „Wo hat er dich denn erwischt?" Das Mädchen zeigte auf seinen Arm. Tom untersuchte ihn. „Nun, Davy hat vielleicht versucht, dich zu beißen, aber da sind keine Spuren. Sicher warst du zu schnell für ihn. Du hast ihn ausgetrickst." Louise betrachtete ihren Arm, dann lachte sie Tom an. Juanitas Herz tat einen Sprung, als sie wieder mal sah, wie liebenswert Tom sein konnte. „Wer hat diese Schweinerei hier gemacht?" wollte er gerade wissen. Davy blickte beschämt zu Boden. „Wer immer es auch war, der macht es besser wieder sauber." Er setzte Louise ab und ging hinüber zum Waschbecken. Dort lagen ein Schwamm und eine Rolle Papiertücher. Tom reichte Davy ein Stück von der Rolle. „Nun aber fix und die Farbe abgewaschen, bevor deine Mutter dich holen kommt." Davy gehorchte. Tom wischte mit dem feuchten Schwamm nach, und bald war das Blau vom Boden verschwunden. „Komm, wir wollen mal sehen, ob ich auch deine Sachen sauber bekomme." Juanita nahm Davy bei der Hand. Sie bewunderte Tom, weil er die Situation so schnell in den Griff bekommen hatte. „Wir brauchen noch jemanden, der die Bauklötze wieder wegräumt", sagte Tom. Der zweite Junge sammelte still die
Steine wieder auf, die er geworfen hatte, und verstaute sie ordentlich im Schrank. Juanita schrubbte noch an Davys Overall herum, als seine Eltern ihn abholen kamen. „Es hat ein kleines Mißgeschick gegeben", erklärte sie entschuldigend . Ein paar Minuten später erschien Louises ältere Schwester, ein etwa zwölfjähriges Mädchen, und nahm die Kleine mit. Schließlich verschwand auch das letzte Kind mit seiner Mutter. Juanita seufzte laut. „Du kannst so gut mit kleinen Kindern umgehen, Tom. Ich nicht. Du hättest diesen Job nehmen sollen." „He, du wirfst doch nicht etwa schon nach dem ersten Tag die Flinte ins Korn?" Er sprach im gleichen Tonfall mit ihr wie vorhin mit den Kindern. „Ich bin nicht nur entmutigt, ich frage mich, ob ich für Projekte wie HFDW überhaupt geeignet bin. Nach dem, was ich mir hier geleistet habe, sollte ich besser austreten." Tom sah sie streng an. „Ein paar Dreijährige genügen also, um dich ins Bockshorn zu jagen." Das gab Juanita den Rest. Sie war müde, und es hing ihr alles zum Hals heraus. Sie brach in Tränen aus. „Na, komm." Tom legte tröstend den Arm um sie, wie er es eben bei Louise getan hatte. „Ich hab's nicht so gemeint. Sicher machst du das ganz prima, wenn du dich erst einmal gewöhnt hast. Du kannst von Glück sagen, daß du mit kleinen Kindern zusammen bist, denn mit denen werden wir auch in den Dörfern draußen am meisten zu tun haben. Wenn du hier den ersten Schock überstanden hast, schaffst du es später bei den Eingeborenen umso leichter." Es war schön, in Toms Armen zu sein und seine tröstenden Worte zu hören. Juanita hatte sich mit Haut und Haaren in ihn verliebt, daran gab es keinen Zweifel.
„Ich hab mich heute einfach schrecklich angestellt", sagte sie. „Urteile nicht vorschnell nach dem ersten Tag." „Wenn du nicht gewesen wärst, hätten die Eltern das ganze Chaos hier gesehen." „Geschieht ihnen recht, wenn sie so freche Gören haben. Sicher sind sie an solche Unordnung von zu Hause her schon gewöhnt. Betrachte es mal von der Seite: du hast wenigstens heute nachmittag etwas erlebt. Und was hab ich gemacht? Für die Afrika-Hungerhilfe Formulare in Briefumschläge gesteckt. Das wird mir am Orinoco nicht viel helfen. Ich beneide dich darum, daß du mit den kleinen Bälgern umgehen lernst." „Ich wollte HFDW auch nicht ernsthaft aufgeben." Sie gingen hinaus, und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß.
5. KAPITEL Nach dem Tag in der Kinderkrippe schien Tom mehr Interesse an Juanita zu zeigen und spielte eine immer größere Rolle in ihrem Leben. „Warum nimmst du nicht mal deine Gitarre mit in den Kindergarten?" fragte er sie in der folgenden Woche in der Schule. „Kleine Kinder mögen Musik." „Glaubst du nicht, Billy und Davy würden sie kaputt machen?" Leg sie doch einfach auf den Schrank, wenn du nicht spielst." Juanita folgte seinem Vorschlag, und sowohl die Kinder als auch die anderen Aufsichtspersonen lauschten ihr gebannt. Mrs. Alarcon paßte es immer noch nicht, daß ihre Tochter in einem Kindergarten arbeitete. „Ich hätte nie gedacht, daß du an so etwas Spaß haben könntest", rief sie, eines Tages, nachdem Juanita von Tom zu Hause abgesetzt worden war. Juanitas Haar war durcheinander, ihre Bluse hing hinten aus der Jeans heraus und zeigte deutlich Spuren klebriger Kinderhände. „Ist dir denn dein Aussehen gar nicht mehr wichtig? Und deine Verehrer? Was ist eigentlich mit Kirk Pugh, diesem gutaussehenden Jungen? Keiner ruft dich mehr an." Unglücklich sah Mrs. Alarcon hinter Toms klapprigen Kombi her. „Ich mache mir Sorgen, wenn du dich in diesem Viertel der Stadt aufhältst. Man weiß nie, was da passiert." „Ich kann schon auf mich aufpassen, Mutter", antwortete Juanita und fügte für sich selbst hinzu: solange Tom bei mir ist. „Das gehört nun mal zu meiner Arbeit für HFDW." Sie sah sich im Geist schon zusammen mit Tom in den Tropen einen Fluß hinunterfahren, genau wie Katherine Hepburn und Humphrey Bogart in dem Film „African Queen".
„Dieser Junge nimmt dich ganz für sich in Anspruch und beeinflußt dich mit seinen wilden Ideen." Dr. Alarcon kam seiner Tochter zu Hilfe. „Das sind keine wilden Ideen. Was Juanita vorhat, ist eine sehr nützliche Sache." „Sie hat sich total verändert, seitdem sie da mitmacht. Sie vernächlässigt ihr Aussehen, und von ihren Verehrern ruft keiner mehr an." Juanitas Vater zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Sie ist ein paar geistlose Playboys losgeworden und hat genug Verstand, sich mit einem jungen Mann zusammenzutun, der ein soziales Gewissen besitzt und den noch etwas anderes interessiert, als in einem tollen Wagen mit einem hübschen Mädchen in der Stadt gesehen zu werden. Reg dich nicht auf, Teresa. Juanita verändert sich zu ihrem Vorteil. Wer weiß, vielleicht tritt sie sogar in die Fußstapfen ihres Vaters und wird Ärztin." „Du unterstützt sie auch noch bei ihren verrückten Plänen", rief Mrs. Alarcon ärgerlich. „Dabei solltest du nun wirklich am besten wissen, wie hart das Medizinstudium ist. Juanita sollte sich diesem Streß nicht aussetzen müssen. Sie hat andere Talente, singen oder Mannequin spielen. Außerdem hast du drei Söhne, die dein Erbe antreten können." „Wir leben in einer anderen Zeit, Teresa", meinte Dr. Alarcon. „Frauen stehen in der Medizin genauso ihren Mann wie in vielen anderen Berufen." Juanita hatte eigentlich. einen Scherz gemacht, als sie Tom und Paul erzählte, daß sie vielleicht Ärztin werden wolle. Ernsthaft hatte sie es noch nie erwogen. Ihre Gedanken überschlugen sich, als ihr Vater nun seine ehrgeizigen Pläne für sie darlegte. Er fragte sie regelmäßig über das aus, was sie in den HFDW-Kursen gelernt hatte, und lud sie ein, nach der Schule einmal in seine Praxis zu kommen. Als sie es wirklich tat, schien er sich sehr zu freuen.
Er erklärte ihr die Instrumente und Geräte und sprach mit ihr über einige der Fälle, die er gerade behandelte. Obwohl er vielleicht zuviel Hoffnung in sie setzte, hatte sich Juanita ihrem Vater noch nie so nahe gefühlt, und er hatte sich noch nie so für seine Tochter interessiert. Stolz machte er sie mit seinen Kollegen bekannt und erzählte überall, daß sie sich im Sommer an einem Gesundheitsprogramm in Lateinamerika beteiligen würde. Man war sichtlich beeindruckt. Juanita erzählte Tom von der regen Anteilnahme ihres Vaters. Er lachte. „Bis wir mit den Kursen fertig sind, hat es dich auch gepackt, und du kannst dir nur noch ein Ziel vorstellen, nämlich Arzt zu werden. Paul und mich hat es ja schon erwischt. Du kannst froh sein, daß dein Vater Arzt ist und dich dazu ermuntert." „Er ermuntert mich nicht, er treibt mich an! Ich habe noch nie groß über meine Zukunft nachgedacht, und das einzige, worin ich praktische Erfahrung habe, ist singen und Kleider vorführen. Mom hat nie zugelassen, daß ich wie andere Kinder Jobs bei MacDonalds oder so annahm." „Pech für dich, eine Karriere als Hamburgerbrater ist dir also versperrt. Aber nach diesem Sommer hast du auch Erfahrung in Gesundheitspflege. Es dauert nur noch ein paar Monate." Tom wurde plötzlich ganz aufgeregt und stieß einen Triumphschrei aus. „Wir sind wirklich auf dem Weg, jeder Tag bringt uns näher an den Orinoco. Und als Spezialgebiet werde ich Impfschutz nehmen. Erinnerst du dich noch an die Dias, die sie uns einmal gezeigt haben? Da fahren doch ein paar Typen in einem Kanu den Orinoco hinunter und impften die Einwohner der umliegenden Dörfer. Sie blieben nie nur an einem Ort." Juanita beschloß, dasselbe Spezialgebiet zu wählen. Tom sollte es allerdings noch nicht wissen. Nur zu gut erinnerte sie
sich an seine Reaktion, als sie sich für den gleichen Job wie er hatte eintragen wollen. Aber sie sehnte sich danach, mit ihm zusammenzusein. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre sie gar nicht in die HFDW-Gruppe eingetreten. Und wenn er sie nicht in seinem Auto mitgenommen und ihr am ersten Tag im Kindergarten geholfen hätte ... Sie zweifelte daran, ob sie es überhaupt durchgehalten hätte. Sicher hätte sie entmutigt gekündigt oder wäre entlassen worden, weil sie nicht mit kleinen Kindern umgehen konnte. Toms Unterstützung war wichtig für sie, wenn sie bei HFDW Erfolg haben wollte. Jeannette machte, als Juanita sie wieder mal besuchte, eine Bemerkung darüber, wie sehr sie von Tom vereinnahmt wurde. „Ist dir eigentlich aufgefallen, wie oft du Tom schon erwähnt hast seit du hier bist? Ich wünschte, ich hätte mitgezählt. Denkst du auch noch mal an was anderes?„ „Ich wußte gar nicht ..." Juanita war ganz verwirrt, und sie fügte gekränkt hinzu: „Tut mir leid, wenn ich dich gelangweilt habe." „Du hast mich nicht gelangweilt. Im Gegenteil, das alles ist sehr aufschlußreich. Mir war klar, daß du in Tom verknallt warst, als du dich für HFDW gemeldet hast, aber ich wußte nicht, daß es dich so total gepackt hat." „Sei nicht albern", sagte Juanita. „Tom und ich sind in dieser Fahrgemeinschaft, und er bringt mich auch zu meinem Job, daher bin ich oft mit ihm zusammen. Ist doch logisch, daß ich ihn dann auch erwähne, oder?" „Und das Funkeln in deinen Augen, der besondere Klang deiner Stimme, wenn du das magische Wort Tom` aussprichst?" Jeannette konnte es nicht lassen, ihre Freundin zu necken. „Der Arzt meint, ich könnte nach den Ferien wieder zur Schule gehen", fuhr sie fort.
Sie knüpfte an einem kleinen Teppich, um sich die Zeit zu vertreiben. Das Motiv bestand aus Schmetterlingen und Blumen. „Ich hätte das nie gelernt, wenn ich nicht krank geworden wäre", erklärte sie. „Hättest du gedacht, daß ich jemals so was machen würde?" Sie breitete den Teppich aus. Fast drei Viertel waren bereits fertig. „Es ist wunderschön." „Ich will ihn an die Wand hängen und meine vergilbten Poster endlich mal abnehmen." „Sieht bestimmt prima aus." Wenn ich wieder zur Schule komme, werde ich total aus allem raus sein. Ich hab gehört, daß mein alter Schwarm Charles jetzt mit Andrea Smith gehen soll. Durch mein blödes Fieber habe ich ihn verloren. Und du wirst auch keine Zeit mehr für mich haben mit dem phantastischen Tom an deiner Seite. Ich muß wieder ganz von vorn anfangen." „Natürlich werde ich Zeit für dich haben! Es wird wieder genauso sein wie früher." Aber Juanita wußte, daß es niemals wieder so sein konnte, denn HFDW nahm einen großen Teil ihrer Freizeit in Anspruch, und sie interessierte sich auch für gar nichts anderes mehr. „Früher bist du doch mit Forrest Williams gegangen. Aber jetzt, wo Tom da ist ... Hättest du was dagegen, wenn ich mich ein bißchen an Forrest heranmache? Wahrscheinlich wird er ohnehin nichts von mir wissen wollen, so schrecklich, wie ich im Moment aussehe. Blaß und farblos. Keiner wird mehr was mit mir zu tun haben wollen." „Komm schon, Jeannette. Alle haben dich vermißt und fragen, wann du endlich zurückkommst." „Aber wir zwei werden nichts mehr zusammen unternehmen. Ich habe gegen das HFDW-Projekt verloren. Für mich wäre es sowieso nichts gewesen, weil ich es von Anfang an nicht machen wollte."
Na siehst du. Jetzt kannst du endlich tun und lassen, was du willst, ohne daß du mich mitschleppen mußt. Und was Forrest betrifft, tu dir keinen Zwang an, er gehört ganz dir." „Vielleicht finde ich etwas anderes, was mir Spaß macht. Aber ich werd nervös, wenn ich daran denke, wieder in die Schule zu müssen." „Egal, was passiert, wir zwei sind schon eine Ewigkeit befreundet, und daran wird sich nichts ändern. Aber wir sind keine siamesischen Zwillinge, und haben unterschiedliche Interessen. Wir müssen auch einmal was ohne den anderen unternehmen." Juanita wünschte sich, sie wäre wirklich davon überzeugt. Würde sie es jemals schaffen, ohne die Hilfe der anderen erfolgreich zu sein? Es war nicht immer einfach, sich zu den Treffen am Mittwochabend aufzuraffen. Ohne Tom - und "natürlich Paul - hätte sie vielleicht manches Mal geschwänzt. Aber mit den Freunden machte es doch immer wieder Spaß. Sie hatten sich angewöhnt, auf der Hin- und Rückfahrt nur Spanisch zu sprechen. Paul spielte den Patienten, der von einer Schlange gebissen und von einem Baum gefallen war und nun Erste Hilfe brauchte. Oder Juanita täuschte Zahnschmerzen vor. Tom und Paul diskutierten dann darüber, ob sie den Zahn ziehen sollten oder nicht. Alles auf Spanisch. Die Kurse am Mittwoch behandelten nicht nur Seuchen wie Typhus, Malaria und andere tropische Krankheiten, sondern auch angemessenes Verhalten in der Wildnis. „Die Eingeborenen müssen euch respektieren und euch vertrauen, bevor sie sich untersuchen lassen oder einen Rat von euch annehmen", erklärte Mir. Whitman. „Ihr müßt euch wie berufserfahrene Profis benehmen und nicht wie ; Teenager auf einer Ferienreise. Vor allem laßt eure romantischen Gefühle zu Hause. Ihr werdet eine Menge attraktiver, interessanter Leute auf eurer Reise treffen. Aber vergeßt über eurem Vergnügen
nicht euren Job. Denkt immer daran, ihr habt einen Auftrag zu erfüllen. Ihr werdet euch bei den Eingeborenen keinen Respekt verschaffen, wenn ihr nur auf euren eigenen Spaß aus seid." Juanita wagte nicht, zu Tom hinüberzusehen. Plötzlich hatte sie schlechtes Gewissen wegen ihres immer wiederkehrenden Traums, in dem sie sich und Tom auf einem Boot den Orinoco hinuntertreiben sah. „Es gibt auch gar nicht genug Privatsphäre für eine Liebesaffäre da draußen", warf einer der älteren Freiwilligen ein. Dann lernten sie etwas über die sanitäre Versorgung in den Dörfern. Sie sollten die Eingeborenen dazu bringen, Toiletten zu bauen. Bakterien, die Krankheiten erzeugten, konnten so in Schach gehalten werden. Später hörten sie Vorträge über die Ernährung in den ländlichen Tropengebieten. Da zu den Dorfgemeinschaften auch Hühner, Kühe, Schweine, Ziegen und Esel zählten, wurden die Helfer mit den Grundzügen der Tierheilkunde bekannt gemacht. „Mom bricht zusammen, wenn sie erfährt, daß ich mich da unten vielleicht um das ganze Viehzeug kümmern muß", sagte Juanita auf der Heimfahrt. „Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie du Schweine fütterst", bemerkte Tom lachend. „Daß du der Typ bist, der bei so einem Projekt mitmacht, hätte ich sowieso nie gedacht." Paul musterte Juanita kritisch. Vor HFDW kannte ich dich zwar nicht besonders gut, aber du schienst jemand zu sein, der den Luxus liebt, als Star bei allen möglichen Veranstaltungen auftritt und diese schmutzige Arbeit in der Dritten Welt nicht einmal mit einer langen Zange anpacken würde." „Das Aussehen täuscht oft", verteidigte Tom sie. „Meine Familie war auch überrascht, daß ich mich auf so etwas eingelassen habe", sagte Juanita. „Ich glaube, Mom ist
inzwischen versöhnt. Mein Vater unterstützt mich nicht nur, wie ihr ja wißt, er scheint uns sogar zu beneiden." Tatsächlich kam Dr. Alarcon sogar zu einem ihrer Treffen. „Es ist unfair, immer die Jungs fahren zu lassen. Da du noch keinen Führerschein hast, bringe ich euch drei hinüber", schlug er eines Abends vor. Er begeisterte sich immer mehr für das Projekt. Tom und Paul freundeten sich mit ihm an. Tom kam öfter zu den Alarcons nach Hause. Er fragte Juanitas Vater, welche Universität für sein Medizinstudium die beste sei und wie man am ehesten eine Stelle für das Praktikum bekam. Dr. Alarcon war erfreut und geschmeichelt, daß die jungen Leute seinen Rat suchten. „Dieser Tom steht mit beiden Beinen fest auf der Erde", sagte er zu seiner Frau. „Das ist keiner von diesen oberflächlichen jungen Männern.. Er weiß, was er will, und wir können froh sein, daß Juanita ihn getroffen hat." „Ja, er ist ein netter Junge", gab Juanitas Mutter seufzend zu. Sogar sie hatte sich mit Tom abgefunden. „Aber er hat sämtliche anderen Verehrer vertrieben, und sie hat all ihre früheren Interessen aufgegeben. Meinst du nicht, daß sie sich zu sehr in diese eine Sache verbeißt?" Mrs. Alarcon trauerte den Tagen nach, an denen Juanita noch als Mannequin geglänzt hatte und sich die beliebtesten Jungen der Stadt um sie rissen. „Welche anderen Interessen und welche Verehrer? Diese Hohlköpfe, mit denen sie sich abgab? Endlose Telefongespräche? Und was das Singen an geht, das wird ihr draußen in der Wildnis bei der Arbeit sehr nützlich sein. Vielleicht lernt sie sogar ein paar neue Volkslieder. Sie schränkt ihr Leben nicht ein, sie erweiterte ihren Horizont mehr, als du oder ich es in unserer Jugend tun konnten. Stell dich den Tatsachen, Teresa. Unser kleines Mädchen ist erwachsen geworden. Seien wir dankbar dafür,
daß sie sich nicht damit zufrieden gibt, nur eine Schönheit zu sein, ohne etwas dahinter." Juanita arbeitete noch ein paar Wochen im Kindergarten. Letitia Brown brachte ihr viele Spiele und Lieder bei. Es machte ihr inzwischen Spaß, mit den Kindern Ball zu spielen, und sie hatte gelernt, ihre Streitereien zu schlichten. Die kindliche Gedankenwelt war kein Buch mit sieben Siegeln mehr für sie. Es gab ein paar spanischsprechende Kinder in der Gruppe, mit denen sie sich in ihrer Muttersprache unterhielt. Sie liebten es, wenn Juanita Gitarre spielte und dazu sang. Es wurden extra ein paar Spielzeuggitarren angeschafft, damit die Kinder sie nachahmen konnten. Im Frühjahr wurde Juanita vom Kindergarten in die Klinik versetzt, in der Paul gearbeitet hatte. Tom kam ebenfalls dorthin, und Paul wechselte zum Kindergarten, um den. Umgang mit Kindern zu lernen. „Das gefällt mir schon besser, als ewig Prospekte in Umschläge zu stecken, wie bei der Afrika-Hungerhilfe", sagte Tom. „Selbst wenn ich nur den Botenjungen spiele, kann ich doch viel hier lernen." Ich mochte den Job im Kindergarten lieber", meinte Juanita. „Ich hatte mich richtig an die Kleinen gewöhnt. Aber hier... Man wird ja selber krank, wenn man die ganzen Leute mit ihren Krankheiten sieht." Patienten mit offenen Wunden, entzündeten Augen und verkrüppelten Gliedern gingen in der Klinik aus und ein. Der Anblick deprimierte Juanita. „Wenn du dich wirklich mit Medizin beschäftigen willst, wird das dein Alltag", sagte Tom. „Du mußt dich daran gewöhnen, Menschen mit Gebrechen zu behandeln. Die Gesunden brauchen unsere Hilfe nicht." Juanita arbeitete an der Rezeption, als eines Tages ein schwer verwundeter Mann eingeliefert wurde. Er war in eine
Kettensäge geraten, und der Anblick war so schrecklich, daß es Juanita übel wurde und sie hinausgehen mußte, um sich zu übergeben. Sie fühlte sich unfähig, ihren Dienst zu Ende zu bringen. Als sie wieder aus der Toilette kam, stand Tom besorgt an ihrem Schreibtisch. „Ich werde Daddy anrufen, daß er mich abholt", sagte sie. „Mir ist nicht gut." Er packte sie fest an den Schultern und sah ihr in die Augen. „In einer Stunde ist Feierabend. Reiß dich zusammen. Menschen verunglücken jede Minute. Das ist ein Teil des Lebens, und je eher du dich dem stellst, desto besser für dich. Wenn du jetzt deinen Vater anrufst, wirst du dein ganzes Selbstvertrauen verlieren, denn du würdest vor deiner Aufgabe davonlaufen. Betrachte es einmal von der Seite: der Unfall ist nicht dir passiert, sondern einem anderen. Wir sind hier um zu helfen, und nicht, um in Panik zu geraten." Trotz ihrer schlechten Verfassung hörte Juanita den Tadel in Toms Stimme. „Du hast eine Menge Fortschritte gemacht, jetzt ist nicht die Zeit aufzugeben", sagte er ernst. Obwohl sie es genoß, seine starken Hände auf ihren Schultern zu spüren, machte sie sich von seinem Griff los. Die Strafpredigt hatte gewirkt. Sie hatte sich kindisch benommen, und war wieder zurückgefallen in die Zeit, in der sie die verwöhnte Prinzessin gewesen war. „Ich bin ein Feigling", gab sie zu. „Du hast nur keine Erfahrung", erwiderte Tom ziemlich brüsk. „Okay, ich bin eigentlich hier, um das Blut aufzuwischen. Geh wieder an deinen Posten und versuche zu lächeln." Juanita erkannte, daß sie nur an sich gedacht hatte, und schämte sich. Ein Mann litt größte Schmerzen, und sie fühlte nur Ekel. Sie beschloß, ihre Gefühle in Zukunft besser unter Kontrolle zu halten. Tom hatte ihr wieder einmal geholfen. Ohne ihn hätte sie es nie geschafft.
Jetzt, wo der Sommer näherrückte, nahm das HFDW-Projekt alle Freizeit in Anspruch. In den letzten Wochen mußte jeder Freiwillige sich spezialisieren und durchlief dann in seinem Fach ein intensives Training. Juanita stellte fest, daß sie nicht gern Spritzen gab. Obwohl Tom den Impfschutz als sein Spezialgebiet wählte, blieb sie bei Zahnpflege. Man sagte ihnen jedoch immer wieder, daß sie auch andere Hilfsmaßnahmen durchführen müßten, wenn die Lage es erforderte. Jeder sollte flexibel sein und sich nicht nur auf sein Spezialgebiet verlassen. Bis zum allerletzten Tag stand nicht fest, wohin die einzelnen Teilnehmer geschickt würden. Freiwillige aus den gesamten Vereinigten Staaten warteten darauf, entsprechend den Bedürfnissen in den Entwicklungsländern eingesetzt zu werden. „Die spannen uns bis zur letzten Minute noch auf die Folter", beschwerte sich Paul. Als Juanita im Mai so richtig bewußt wurde, daß sie Vorbereitungszeit nun bald vorbei war und sie tatsächlich nach Lateinamerika geschickt werden würde, wußte sie nicht recht, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht. Ihr Vater betrachtete sie mit wachsendem Respekt und behandelte sie nun eher wie eine Erwachsene als wie ein Kind. Auch Mrs. Alarcon hatte sich inzwischen so sehr an Juanitas Engagement für HFDW gewöhnt, daß sie ihren Bekannten gegenüber sogar damit angab. „Man weiß bei diesen Teenagern ja nie, woran man ist. Juanita fehlte bei keinem gesellschaftlichen Ereignis, aber seit diesem Jahr interessierte sie sich nur noch für Medizin. Vielleicht liegt ihr das ja im Blut. Und sie ist so wagemutig geworden! Sie reist ganz allein nach Lateinamerika, um bei einer Gesundheitskampagne für die armen Eingeborenen mitzuhelfen."
Während ihr Mut zum Risiko allseits bewundert wurde, konnte Juanita eine gewisse Angst nicht unterdrücken, wenn sie an das Unbekannte dachte, das vor ihr lag. In wenigen Tagen schon würde sie in einer fremden Umgebung stehen und die Arbeit machen, für die sie ausgebildet worden war. Natürlich mit Toms Hilfe und Unterstützung. Dieser Gedanke war immer wieder ihr rettender Strohhalm. Jeannette schimpfte sie manchmal aus, weil sie sie den Sommer über allein ließ. „Ich werd mich zwar nicht gerade zu Tode langweilen" sagte sie. „Denn Charles O'Donnell gehört wieder mir. Aber trotzdem ..." „Schreib mir, was alles passiert", bat Juanita. „Du kannst die Briefe an unser Hauptquartier schicken, von dort kommen sie dann schon irgendwie zu mir in den Busch." In den nächsten Tagen schwankte Juanita zwischen Furcht vor dem Unbekannten und rosaroten Träumen von heroischen Taten und abenteuerlichen Unternehmungen mit Tom. An dem Mittwochabend, an dem die einzelnen Helfer endlich ihre Einsatzorte erfahren sollten, war die Atmosphäre in der Gruppe spannungsgeladen.
6. KAPITEL „Halt uns die Daumen", flüsterte Tom Juanita zu. „Gleich ist es soweit." „Wenn ihr draußen in der Wildnis seid", verkündete der Projektleiter, „seid ihr wahrscheinlich die einzigen in der gesamten Dorfgemeinschaft, die etwas von Gesundheitspflege verstehen. Nicht nur auf eurem Spezialgebiet wird eure Hilfe verlangt werden, sondern sicherlich auch in vielen anderen Fällen, vielleicht sogar bei einer Geburt. Damit ihr dann nicht in Panik davonlauft, haben wir hier einen Film, der euch zeigt, was zu tun ist." „Könnten wir nicht erst unsere Einsatzgebiete erfahren?" fragte Paul verzweifelt. „Das kommt erst ganz zum Schluß", sagte Mr. Whitman. „Lassen Sie den Film abfahren", fügte er, an den Vorführer gewandt, hinzu. Es gab entsetzte Schreie aus dem Publikum. „Das brächte ich nie fertig. Bitte schicken Sie mich nirgendwo hin, wo ein Baby erwartet wird", rief ein Mädchen. „Ich fände es toll, wenn ich später sagen könnte, ich hätte einem Kind auf die Welt geholfen", meinte ein anderer Teilnehmer. Juanita saß zwischen Paul und Tom. Die Spannung in der Luft war fast greifbar. An einem anderen Abend hätte ein solcher Film noch viel mehr Wirbel unter den Kursteilnehmern verursacht. Heute zog er sich endlos hin, eine lästige Barriere zwischen ihnen und der langersehnten Mitteilung über ihren Einsatzort. Während Juanita auf der Leinwand verfolgte, wie Helfer einer Frau in der Wildnis beistanden, ihr Kind zu bekommen, fragte sie sich, ob sie jemals selbst dazu in der Lage sein würde. Vielleicht mit Tom an ihrer Seite. Sie hoffte, daß sie
nicht in Situationen geriet, bei denen sie die Nerven verlor und mehr Aufmerksamkeit als der Patient erforderte. Das Hauptanliegen des Filmes war es, zu zeigen, daß eine Geburt ein ganz natürlicher Vorgang sei. Man mußte einen kühlen Kopf bewahren, um richtig helfen zu können. Juanita wünschte sich inständig, Tom als Partner bei ihrem Einsatz zu bekommen. Ohne ihn würde sie sicher irgendwann in Panik geraten. „Mensch, ich geh gleich die Wände hoch", flüsterte Paul. „Wann sagen die uns endlich, was wir wissen wollen?" „Ich bin gar nicht so sicher, ob ich es überhaupt hören will", flüsterte Juanita zurück. Sie schien Schmetterlinge im Magen zu haben. Tom sah zu ihnen hinüber und lächelte beruhigend, aber Juanita bemerkte, daß über seinem Mundwinkel ein kleiner Muskel zuckte. Wahrscheinlich war er genauso nervös wie sie. Mr. Whitmann machte sich offenbar einen Spaß daraus, die Freiwilligen noch länger auf die Folter zu spannen. Er kam vom Hundersten ins Tausendste, bis die ganze Gruppe schließlich mit den Füßen stampfte und laut protestierte. "Wir wollen wissen, wohin es geht!" schrie ein Junge. Andere nahmen den Schlachtruf auf, bis der Lärm so ohrenbetäubend wurde, daß der Kursleiter nachgeben mußte. „Gut, wenn ihr nicht länger warten wollt“, lachte er. „Ich möchte aber noch einmal betonen, daß einige Ziele noch in letzter Minute geändert werden können, und euch daran erinnern, daß ihr bei eurem Beitritt in HFDW zugestimmt. habt, flexibel zu sein. Ihr werdet nicht alle zu euren Wunschzielen geschickt werden, es sei denn, ihr seid schon mehrere Jahre bei uns. Und nicht alle eure Vorstellungen können erfüllt werden." Unruhiges Gemurmel entstand, dann las Mr. Whitman in alphabetischer Reihenfolge die Namen und Länder vor. Juanita
mußte nicht lange warte. Sie freute sich, als sie hörte: „Alarcon: Venezuela." Glücklich sah sie Tom an. Er lächelte breit und drückte ihre Hand. Paul saß angespannt da, bis Mr. Whitman zum „D" kam. „DiVeccio: Paraguay." Juanita jubelte, und Tom schrie: „Super!" Dann beglückwünschten sie Paul mit einem kräftigen Händedruck. „Wir bekommen alle unsere Traumziele!" rief Juanita Tom zu. „Du und ich, wir werden im gleichen Land sein!" Ein paar andere Namen wurden aufgerufen, dann kam Tom dran. „Goulding: Mexico", verkündete Mr. Whitman. Sprachlos nahmen es die drei Freunde auf. Toms gewohnte Gelassenheit war dahin, er wurde blaß vor Enttäuschung. Paul wagte es nicht, ihn direkt anzuschauen, er warf ihm nur von der Seite einen Blick zu. „Die müssen einen Fehler gemacht haben", flüsterte Juanita schließlich. Tom sah sie finster an und legte den Finger auf den Mund. Sie wandte sich ab und versuchte, die Aufzählung von Namen und Bestimmungsländern weiter zu verfolgen. Immer wieder gab es Freudenrufe oder enttäuschtes Stöhnen. Ihre erste Begeistertung war Zweifeln gewichen. Venezuela ohne Tom - das schien ihr kein begehrenswertes Ziel mehr zu sein. Plötzlich war es viel zu weit weg und erschreckend fremd. Nach dem Treffen gingen Paul, Juanita und Tom wortlos durch die lärmende Menge hinaus in die milde Frühlingsnacht. Schweigend stiegen sie in Pauls Wagen. Paul unterdrückte angesichts von Toms Enttäuschung seine eigene Freunde. Juanita fühlte sich schuldig, weil ihr das Ziel, das Tom sich so sehr gewünscht hatte, zugefallen war. Es kam ihr fast so vor, als habe sie es mit ihrem Eintritt in HFDW von Tom gestohlen. Eine drückende Stille herrschte zwischen ihnen, bis Tom das Schweigen endlich brach.
„Nun, das Warten ist vorbei." Er zwang sich zu einem fröhlichen Ton, da er das Unbehagen der anderen beiden spürte. ;,Ich glaube, ich habe Mexico nur nicht an erste Stelle gesetzt, weil ich schon einmal dort war. Zumindest in Ensada. Dort habe ich mit meinen Eltern einmal diesen merkwürdigen Krater ,La Bufodora` besichtigt. Das Meer schießt förmlich durch ein Loch in den Felsen und scheint wie ein gewaltiger Geysir zu explodieren. Aber das ist Touristengebiet. Ich hoffe, ich komme in ein Dorf bei Oaxaca. Dort ist es echt interessant." Er versuchte, die Spannung zwischen ihnen zu lockern, und zum Teil gelang es,ihm auch. Paul konnte seine Freude nicht länger zurückhalten und sagte: „Ich war total aus dem Häuschen, als ich Paraguay hörte. Irgendwie habe ich nie wirklich daran geglaubt, daß ich mein Lieblingsziel bekommen würde." „Das ist eine gute Angewohnheit', meinte Tom ein wenig bitter. „Sie erspart einem eine Menge Enttäuschungen." „Meine Großmutter stammt aus Mexico, und sie hat gehofft, ich würde in das Land meiner Vorfahren gehen", sagte Juanita. „Ich weiß doch, wie sehr du dich auf Venezuela gefreut hast. Vielleicht können wir tauschen." Toms Miene verfinsterte sich, und seine Stimme klang ärgerlich. „Natürlich nicht. Das ist alles auf nationaler Basis ausgearbeitet worden. Überleg doch mal, nicht nur wir, sondern Teilnehmer aus den ganzen Vereinigten Staaten haben heute ihren Einsatzort erfahren. Bald werden wir aus unserer kleinen Gruppe heraus sein und uns mit Hunderten anderer Leute treffen, die wir noch nie gesehen haben." Juanita spürte, daß etwas zu Ende ging. Die Fahrgemeinschaft am Mittwochabend war vorbei. Der Schein einer Straßenlaterne beleuchtete Toms' Profil. Er streckte das
Kinn krampfhaft vor, als bereite es ihm Mühe, den Kopf nicht hängen zu lassen. Sie fühlte einen Stich im Herzen. Tom und sie waren einander in letzter Zeit sehr nahe gekommen. Sie hatten gemeinsam ihre Paßfotos machen lassen und lachend die Resultate ausgetauscht. In der Klinik, in der sie arbeiteten, hatten sie sich zusammen die notwendigen Impfungen geben lassen, und beide hatten sie die gleichen Reaktionen gezeigt. Am Tag darauf war ihnen in der Schule übel geworden. Nach all dem hätten sie, wenn es nur einigermaßen mit rechten Dingen zugegangen wäre, auch zusammen in ein Land geschickt werden müssen. Die Reise nach Venezuela hatte ohne Tom all ihren Zauber verloren. Ohne sein Wissen ging sie nach dem letzten Treffen zu Mr. Whitman. „Ich weiß, daß Tom sich so gewünscht hatte, nach Venezuela zu gehen", begann sie. „Mir liegt eigentlich nicht viel daran. Könnten Sie nicht ihn nach Venezuela und mich nach Mexico schicken? Oder jemand anderen tauschen lassen, so daß wir beide nach Venezuela kommen?" Mr. Whitman sah sie eisig an und schüttelte den Kopf. „Diese Zuteilungen sind endgültig. Von Anfang an ist euch klargemacht worden, daß ihr euren Wunsch zu helfen vor eure persönlichen Vorlieben stellen müßt." Das Schlimmste war, daß Mr. Whitman Tom von Juanitas Bitte erzählte und auch vor ihm noch einmal wiederholte, daß Tauschaktionen nicht geduldet werden konnten. „Er deutete an, daß ich dich wohl vorgeschickt hätte, um mein Ziel tauschen zu können." Tom war total wütend. „Dabei habe ich es inzwischen längst akzeptiert und bereits Erkundigungen über die Gegend eingezogen. Jetzt freue ich mich sogar darauf. Dank deiner Hilfe meint Whitman nun, ich wolle mich drücken."
„Das würdest du doch niemals tun", widersprach Juanita. „Ich gehe zu ihm und erkläre ihm alles." Tom hob verzweifelt die Hände über den Kopf und rollte mit den Augen. „Bloß das nicht! Laß mich und meine Aufgabe in Ruhe. Du hast schon viel zuviel Staub aufgewirbelt." Schule und Trainingskurse endeten in dieser feindseligen Stimmung. Juanita sah Tom in den paar Tagen, die bis zu ihrer Abreise noch blieben, nicht wieder. Das gute Verhältnis zwischen ihnen schien endgültig zerstört. Sie flogen nicht einmal mit demselben Flugzeug, denn Tom würde seine Reise von Los Angeles und Juanita von Miami aus antreten. Zufällig traf sie eines Nachmittags Kirk Pugh in der Stadt. „Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen", begrüßte er sie. „Wie ich hörte, willst du in den Dschungel. Paß bloß auf, daß dich kein Tiger zum Frühstück verspeist." „Hast du denn gar keine Angst?" fragte Jeannette, als der Zeitpunkt der Abreise immer näherrückte. „Ich wäre vor Angst bestimmt wie versteinert. Charles und ich werden dich zum Flughafen begleiten." Auch Juanitas Brüdern imponierte das kühne Unternehmen. Jason, der älteste, erklärte ihr, daß er dasselbe tun wolle, wenn er alt genug dazu sei. Die Alarcons waren noch nie über die Grenzen von Kalifornien hinausgekommen. Mrs. Alarcons Angst steigerte sich mit jedem Tag. Ihr Mann dagegen hörte nicht auf, seine Tochter wegen ihrer Durchhaltekraft und ihres Mutes zu loben. Wenn du wüßtest, daß ich das alles nur mit Toms Hilfe geschafft habe, dachte Juanita. Jetzt, wo Tom nicht mehr da war, fürchtete sie, daß in der fremden Umgebung ihr ganzer Mut und ihr neues Selbstvertrauen zusammenfallen könnten wie ein Ballon, dem die Luft ausging.
Die Freiwilligen, die nach Mexico gingen, flogen zuerst ab. Die meisten anderen Gruppenmitglieder, darunter auch Juanita und Paul, kamen mit zum Flughafen, um sie zu verabschieden. Sie versammelten sich in der Wartehalle, bis der Flug aufgerufen wurde. Juanita wollte sich auf besondere Art von Tom verabschieden, doch es standen zu viele Leute um ihn herum. „Bitte schreib uns, sobald du angekommen bist", sagte sein Vater. „Du weißt, wie sehr wir auf Post von dir warten." „Macht euch keine Sorgen, wenn ihr nicht sofort etwas von mir hört", warnte Tom seine Familie. „Da, wo ich hingehe, gibt es sicher nicht alle paar Meter einen Briefkasten." Andere Mexicoreisende von HFDW schlenderten herum, ihre Taschen und Rucksäcke lagen aufgehäuft im Wartesaal. Juanita wünschte sich, sie könnte mit ihnen fliegen, anstatt bis zum Ende der Woche warten zu müssen. „Hast du auch alles eingepackt?" hörte sie Toms Mutter fragen. „Hoffentlich hast du das Gerät zum Sterilisieren von Wasser dabei." „Ja, Mom. Das war das erste, was ich eingepackt habe." Toms Flug wurde über Lautsprecher aufgerufen. Die HFDW-Teilnehmer liefen wild durcheinander, nahmen ihre Taschen an sich und holten die Bordtikkets heraus. Freunde und die Familien blieben dicht gedrängt am Absperrgitter zurück. Juanita sah keine Chance mehr, mit Tom zu sprechen, aber sie wollte und konnte ihn nicht so gehen lassen. Mit den Ellenbogen bahnte sie sich einen Weg durch die Menge, bis sie neben ihm stand. „Ich wollte dir noch einmal danken, daß du mich immer gefahren und mir so oft geholfen hast", stieß sie atemlos hervor. „Ohne dich hätte ich es nie geschafft."
„Schick mir eine Postkarte aus dem Regenwald", sagte er in scherzendem Tonfall. Dann verschwand das unpersönliche Lächeln aus seinem Gesicht, und seine dunklen Augen blickten sie lange und beinahe zärtlich an. „Mach schon!" Ein Junge hinter ihm stieß ihn ungeduldig an. „Hasta la vista, und viel Glück!" Damit verschwand Tom in dem zieharmonikaförmigen Gang zum Flugzeug. Juanita spürte den zärtlichen Blick noch immer, zwang sich jedoch, an etwas anderes zu denken. Ihre Augen glänzten. Als Tom im Korridor verschwunden war, war sie nahe daran gewesen zu weinen. Sie suchte wie in Trance nach Paul und dem Rest ihrer Gruppe. Plötzlich stand sie vor Mrs. Goulding. „Sie sind Toms Mutter, nicht wahr? Ich bin Juanita. Ich war in Toms Fahrgemeinschaft", stellte sie sich vor. „Oh ja. Tom hat Sie oft erwähnt." Mrs. Goulding betrachtete sie mit freundlichem Interesse. Das amüsierte Lächeln auf Mr. Gouldings Gesicht glich sehr Toms spitzbübischem Grinsen. „Ich hoffe, er wird nicht enttäuscht", meinte er. „Schließlich hat er das ganze Jahr nur darauf hingearbeitet." „Was immer auch passiert, Tom wird das Beste daraus machen", sagte Juanita. „So ist er eben", stimmte Toms Mutter ihr zu. Juanita spürte, daß die Gouldings sie mochten. Komm, Juanita." Paul wurde ungeduldig. „Wir müssen gehen." Sie liefen mit dem Rest der Gruppe durch die lange Halle mit den Abfertigungsschaltern und nahmen dann den Aufzug hinunter zum Ausgang. „In ein paar Tagen sind wir dran", sagte Paul. „Ich wünschte, wir wären schon heute geflogen."
„Ich auch", erwiderte ein Mädchen. „Warum müssen wir die letzten sein?" Zu Hause ging Juanita gleich auf ihr Zimmer und holte etwas aus ihrer Brieftasche - Toms Paßbild, das er gegen ihres eingetauscht hatte. An dem Nachmittag, an dem die Bilder gemacht worden waren, waren sie ziemlich albern gewesen. Sie hatte hinter dem Fotografen gestanden, als Tom an der Reihe war. „Jetzt lächeln Sie mal ihre hübsche Freundin an", hatte der Mann gesagt, und Tom hatte das freche Grinsen aufgesetzt, das auf dem Bild festgehalten worden war. Ein ganzer Sommer und Tausende von Kilometern lagen nun zwischen ihnen. Juanita erinnerte sich an Toms letzten Blick. War in seinen Augen wirklich mehr als mir Freundschaft zu lesen gewesen? Oder war das nur ein Wunschtraum von ihr? Während der Reisevorbereitungen in den nächsten Tagen mußte sie immer an ihn denken. Ihre Gitarre war schon fertig verpackt. Mr. Whitman hatte ihnen erzählt, daß Musik oft der Schlüssel dafür sei, von den Eingeborenen akzeptiert zu werden. Sonst hatte sie nicht viel mitzunehmen. HFDWMitglieder reisten mit leichtem Gepäck. Ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln, Unterwäsche, eine wetterfeste Jacke, ein paar Toilettenartikel, mehr war ihnen nicht erlaubt. Schließlich kam der Tag, an dem Juanita das Flugzeug zu ihrer ersten Reise über die Grenzen von Kalifornien hinaus besteigen sollte. Ihre Familie war genauso aufgeregt wie sie, aber auch den Tränen nahe. Jeannette und Charles machten Photos von dem historischen Augenblick. Dann sah Juanita im Flugzeug nach Miami. Das Abenteuer konnte beginnen.
7. KAPITEL Juanita saß in der Mitte einer dreisitzigen Reihe in dem riesigen Flugzeug. Ihre Nachbarinnen hießen Betty Hughes und Nicole Truong. Betty, ein kräftiges Mädchen mit herzlichem Lachen, flog nach Costa Rica, und die zarte, orientalisch aussehende Nicole nach Honduras. Betty und Nicole waren das ganze Jahr über in der gleichen HFDW-Gruppe gewesen, doch erst jetzt lernten sie sich richtig kennen. „Ich bin für die sanitäre Versorgung eingeteilt", erzählte Betty. „Mit anderen Worten, zum Toilettenbauen. Zumindest sollte ich die Eingeborenen von Costa Rica dazu bewegen, es zu tun. Was mach ich bloß, wenn sie nicht auf mich hören?" „Wir fliegen praktisch alle ins Unbekannte, werden mit fremden Sitten und Gebräuchen im Ausland konfrontiert. Ich mach mir allerdings keine allzu großen Sorgen deshalb." Nicole strich sich das schwarze Haar aus der Stirn. „Mein Vater war mir immer ein gutes Beispiel. Er kam aus Vietnam in die Vereinigten Staaten und hat sich in diesem Land, das ihm genauso fremd war, eine Karriere als Arzt aufgebaut. Jetzt ermutigt er mich, dasselbe zu tun. Ich will später in die medizinische Forschung gehen und mich mit tropischen Krankheiten und Emährungsproblemen der Dritten Welt beschäftigen, und ich hoffe, eines Tages mal in Südostasien arbeiten zu können." „Dann ist HFDW ja wie maßgeschneidert für dich", meinte Juanita. „Du hast recht. Ich komme mir auch vor, als würde ich schon das Praktikum für mein Medizinstudium machen, und nicht bloß als kleine Schülerin nach Honduras fliegen." Die Stewardeß brachte Limonade und Nüsse. Ein paar der HFDW-Mitglieder gingen den Gang entlang, um nach ihren Freunden zu sehen. Paul DiVeccio lehnte sich von hinten über
Juanitas Sitz und fragte, ob eine ihrer Nachbarinnen mit ihm den Platz tauschen würde. Er wollte eine Partie Karten mit Juanita spielen. Betty, die an der Gangseite saß, stand auf, und Paul ließ sich von der Stewardeß ein Päckchen Karten geben. „Es wird ein langer Flug, da können wir ein bißchen Abwechslung gebrauchen", sagte er und verteilte die Karten. „Tom ist sicher schon auf seinem Posten." „Vielleicht hat er sich bereits mit den Dorfbewohnern angefreundet und impft jetzt alles, was ihm vor die Spritze kommt", meinte Juanita. Paul warf ihr einen wissenden Blick zu. „Du vermißt ihn also schon! Ich wette, er hat noch überhaupt niemanden geimpft, weil er dir nachtrauert. Wirklich schade, daß ihr nicht in dieselbe Richtung fliegen dürft, wo ihr doch so ineinander verknallt seid." „Verknallt! Wie kommst du denn darauf?" „Ich war schließlich jeden Mittwochabend mit von der Partie, erinnerst du dich? Zwischen euch hat es ja förmlich geknistert." „Es war aber nichts zwischen Tom und mir!" „Na komm schon. Er hat mir doch selbst erzählt, daß er sich kaum auf die Vorträge konzentrieren konnte, wenn du in der Nähe warst. Und ein Blinder konnte sehen, daß es dir genauso ging. Ihr habt euch nur alle Mühe gegeben, es voreinander zu verbergen." „Paul DiVeccio, du hast zuviel Phantasie. Hat Tom das wirklich zu dir gesagt?" „Vielleicht hätte ich es dir nicht erzählen sollen. Nun, nächstes Jahr seid ihr ganz für euch allein. Ich gehe nämlich nicht mehr nach Blossom Valley zurück. Was für ein merkwürdiger Sommer das doch ist! Wenn ich mit meiner
Arbeit in Paraguay fertig bin, fahre ich nach Denver. Mein Vater ist dorthin versetzt worden." „Wir werden dich vermissen." Juanitas Gedanken überschlugen sich. Sie mußte das, was Paul ihr über Tom erzählt hatte, erst verarbeiten. „Weißt du, was? Obwohl die Arbeit als Entwicklungshelfer in Sachen Medizin mein Lebensziel ist, habe ich doch ein komisches Gefühl dabei. Ich frage mich, ob ich mich auf die ganze Sache überhaupt hätte einlassen dürfen. Was wird wohl dabei herauskommen?" grübelte Paul. „Geht mir genauso. Es ist, als würde man irgendwo im Niemandsland schweben." Sie machten ein paar Spiele, dann schlenderten sie den Gang auf und ab, um sich ein wenig die Füße zu vertreten. Juanita traf dabei alte Bekannte und fand neue Freunde. Später wurde ein Film gezeigt und ein Imbiß serviert. Ehe sie sich versahen, kam schon die Aufforderung, sich für den Anflug auf den Flughafen von Miami anzuschnallen. Sie hatten einen ganzen Kontinent überflogen. Hier in Florida würden sie mit HFDW-Mitgliedern aus anderen Staaten zusammentreffen. In einem Studentenwohnheim fand eine Party für alle HFDW-Teilnehmer statt. Juanita lernte Jungen und Mädchen aus Colorado, Illinois, New York, Seattle, Texas und Miami kennen. „Du fährst also nach Venezuela", sagte ein Junge. „In die grüne Hölle! Dorthin, wo die Indios mit vergifteten Pfeilen schießen, wo es Piranhas und Anakondas gibt. Von den Vampirfledermäusen und Jaguaren gar nicht zu reden." "He, mein Ziel ist auch Venezuela." Ein anderer Junge trat zu ihnen. Er hatte gerade hingebungsvoll sein glattes braunes Haar gekämmt.
„Ist es wirklich so schlimm dort?" fragte er mit besorgtem Gesicht. „Ich mach doch nur Spaß." Der andere grinste. „Natürlich gibt es diese Tiere dort alle, aber das gehört zu einem HFDWProjekt schon fast dazu. Wir müssen lernen, mit allem fertig zu werden. Ich soll nach Costa Rica." Er schlenderte weiter. Der braunhaarige Junge stellte sich vor. „Ich bin Russell Garth. Es tut mir jetzt schon leid, daß ich Venezuela als Wunschziel angegeben habe." Er musterte Juanita. „Aber ich bin froh, daß so jemand wie du auch dorthin fährt." Juanita lernte an diesem Abend eine verwirrende Menge Leute kennen. Am nächsten Tag traf man sich noch einmal zu einem abschließenden kurzen Vortrag. Die Freiwilligen bekamen letzte Anweisungen, wie sie sich verhalten sollten und wie sie ihren Erfindungsreichtum vor Ort nutzen konnten, um das Beste aus ihrem Aufenthalt bei den Eingeborenen zu machen. Es wurde wiederholt, welche Notfälle eintreten und wie die jungen Leute damit fertig werden konnten. Eines der Hauptprobleme bestand darin, daß die Ausrüstung nicht immer zur gleichen Zeit wie die freiwilligen Helfer ankam. Lieferschwierigkeiten oder Ärger mit dem Zoll waren schuld. Ein Helfer, der gelernt hatte, Spritzen zu geben, sollte nicht einfach herumsitzen und Däumchen drehen, solange seine Impfnadeln nicht da waren. Er mußte improvisieren und jede erdenkliche Möglichkeit nutzen, um die sanitären Bedingungen und die Gesundheit der Dorfgemeinschaft zu verbessern. Nach diesem Vortrag schmolz die Zahl der Teilnehmer rasch. Verschiedene Flugzeuge brachten sie an ihre Bestimmungsorte. Paul, Juanitas letzte Verbidung zu Blossom Valley, flog nach Paraguay ab. Er versprach, ihr eine Postkarte zu schicken. Juanita hatte einen Kloß im Hals. Obwohl Paul nur ein Mitglied ihrer Fahrgemeinschaft gewesen war, fühlte sie sich
allein und verlassen, als er in den Bus zum Flughafen gestiegen war. Schließlich war sie selbst an der Reihe. Das Flugzeug war kleiner als das, mit dem sie aus Kalifornien gekommen waren. Da es in einer geringeren Höhe flog, konnten die Passagiere deutlich den schmal auslaufenden Südzipfel Floridas ausmachen. Auch Kuba, das von oben wie ein riesiges Krokodil aussah, und zahllose kleine Inseln waren zu erkennen. Dann begann der Anflug auf Hispaniola, die große Insel, auf der sich Haiti und die Dominikanische Republik befanden. Juanita spürte den Ruck, als das Flugzeug auf der Landebahn von Santo Domingo aufsetzte. Hier stiegen mehrere Mitreisende aus. Juanita wurde plötzlich bewußt, daß sie sich nicht mehr in den Vereinigten Staaten von Amerika befand. Jetzt war sie im Ausland. Die HFDW-Freiwilligen nach Venezuela blieben im Flugzeug sitzen. Sie rutschten dichter zusammen. Juanita sah Russell wieder und den anderen Jungen, der sie mit den Dschungelgefahren geneckt hatte. Er hieß Carl. Ein schlacksiger, sommersprossiger Junge mit rotem Haar setzte sich neben sie. „Jetzt dauert es nicht mehr lange." Er sprach mit texanischen Akzent. „Caracas, Venezuela. Wir sind fast da." Juanita war sich nicht mehr sicher, ob sie überhaupt dort ankommen wollte. Ihr Nachbar hieß Eddie Spangler und kaum aus San Antonio in Texas. Er war Gruppenleiter und würde zwischen den einzelnen Dörfern, in denen die freiwilligen Helfer eingesetzt waren, hin- und herpendeln. „Ihr werdet mich öfter, als euch lieb ist, zu Gesicht bekommen", meinte er lachend. Juanita lernte auch noch Wayne, Tanya, George, Karen und den Rest kennen. Russell wich ihr auf dem ganzen tausend
Meilen langen Flug von Santo Domingo nach Caracas nicht von der Seite. Er blieb sogar bei ihr, als sie ihr Gepäck abholten. Juanita war froh, daß ihre Gitarre die Reise heil überstanden hatte. Leo Jamison, der HFDW-Bevollmächtigte für das OrinocoGebiet, holte die Gruppe am Flughafen ab. Er beaufsichtigte die Verladung des Gepäcks im unteren Teil des Busses, der sie nach Caracas bringen sollte. Dort würde jemand vom Gesundheitsministerium Venezuelas den Freiwilligen noch letzte Instruktionen geben, bevor es weiter ging zu den abgelegenen Dörfern. „Für die Nacht haben wir euch in einer Versammlungshalle untergebracht", erklärte Leo. „Das Hilton können wir uns nämlich nicht leisten." In der Halle wartete ein Imbiß aus geröstetem Schweinefleisch und Reis auf sie. Als Nachtisch gab es tropische Früche des Landes. Nach dem Essen unterhielten sich die Freiwilligen über ihre unterschiedlichen Erwartungen. Wayne wollte sich als geborener Naturwissenschaftler vor allem mit der Ökologie des Dschungels beschäftigen. Sein Spezialgebiet waren Impfungen. Linda aus Kansas City hatte an ihrer Schule ein soziales Hilfsprogramm gestartet. Sie hatte Glas und Altpapier zur Wiederaufbereitung gesammelt und das Geld einer wohltätigen Einrichtung gespendet. „Ich möchte neue Erfahrungen sammeln, in dem ich etwas für Menschen in anderen Ländern tue", sagte sie. „Später einmal hoffe ich, für die Weltgesundheitsorganisation arbeiten zu können." Juanita beschloß, sich genauer über diese Organisation zu erkundigen. Vielleicht würde so etwas auch Tom gefallen. Russell, der neben ihr saß, meinte: „Also, ich bin nicht so idealistisch wie diese Typen. Meine Eltern haben mich im Grunde dazu überredet, hier mitzumachen. Wollten mich den Sommer über loshaben. Es soll auch meinen Charakter
festigen. Wenn ich allerdings gewußt hätte, daß ich hier jemanden wie dich treffen würde, hätten sie mich nicht so zu drängen brauchen." Er nahm seinen Kamm aus der Tasche und fuhr sich durch das glänzende Haar. Breit lächelnd ließ er seine Zähne blitzen. „Man lernt eine Menge Leute bei HFDW kennen", erwiderte Juanita kühl. „In Miami waren viele nette Typen." „Die können dir doch alle nicht das Wasser reichen." Russell ließ nicht lokker. Jemand forderte Juanita auf, Gitarre zu spielen. Sie schützte Müdigkeit vor, doch die Gruppe bat sie im Chor, etwas zu singen. „Gut, aber ihr müßt alle mitmachen." Das war wenigstens eine Gelegenheit, sich den aufdringlichen Russell etwas vom Leib zu halten. Später erklärte Leo ihnen, daß sie auch in diesem Raum schlafen mußten. Er zeigte auf die Ringe an den Wänden, an denen sie ihre Hängematten aufhängen konnten. „Ihr werdet diese Ringe überall in Venezuela finden, sogar in besseren Hotels. Viele Reisende sind so an Hängematten gewöhnt, daß sie sie Betten vorziehen. Im Dschungel seid ihr in der Hängematte außer Reichweite von Nachtgetier und Reptilien, die auf dem Boden herumkriechen." „Ich find's super, in einer Hängematte zu schlafen", sagte Linda, als sie Juanita half, das schwere Geflecht zwischen den Wandringen aufzuhängen. „Besser, als sich im Schlafsack herumwälzen zu müssen", meinte jemand. „Die Dinger sind echt cool - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes", kam ein weiterer Kommentar. Gelächter und Stöhnen wurden laut, als die ersten versuchten, es sich zum Schlafen bequem zu machen. Einige Jungen und Mädchen hatten noch nie in einer Hängematte
gelegen, und ein paar Clowns konnten es nicht lassen, so zu tun, als würden sie immer wieder herausfallen. Nachdem das Licht gelöscht worden war, probierte Juanita alle möglichen Schlafpositionen aus, aber die dicken Schnüre schnitten ihr immer wieder in die Arme. „Ich komm' mir vor wie eine Wurst in der Pelle", flüsterte Linda. „Da hast du recht", antwortete Juanita. Die sanft schaukelnde Bewegung ließ sie schließlich doch einschlafen. Sie wachte erst wieder auf, als Linda sie am Arm schüttelte. „Komm zu dir. Es gibt Frühstück." Nach dem Frühstück hielt Senor Lopez aus dem Gesundheitsministerium vor den HFDW-Helfern einen Vortrag über die Kultur der Indios Venezuelas, mit denen sie arbeiten würden. „Sie kennen sicher alle die phantastischen Geschichten von den wilden Eingeborenen mit ihren vergifteten Pfeilen und der unangenehmen Angewohnheit, aus ihren Feinden Schrumpfköpfe zu machen", begann er augenzwinkernd. „Aber die Dörfer, in die Sie geschickt werden, haben seit geraumer Zeit Kontakt zu Missionaren und Forschern und haben zivilisierte Sitten angenommen. In den letzten Jahren hat man auch Lehrer in den Dschungel geschickt, um den Analphabetismus unter den Indios zu bekämpfen." Er erzählte weiter, daß die Indios sich von der Jagd und dem Ackerbau ernäherten und ihre Häuser sehr primitiv seien. Dann warnte er die Freiwilligen, daß eine Wunde, etwa von einem Dorn, sich blitzschnell entzünden würde und sofort Erste Hilfe nötig sei. Er sprach über die drohenden Gefahren durch Malariamücken und andere Insekten. Bakterien im Wasser konnten Durchfall und schlimmere Krankheiten verursachen.
Juanitas Gruppe hatte diese Gefahren schon während der Vorbereitungskurse in Fruitville diskutiert, so daß es für sie nichts völlig Neues war. Senor Lopez nahm seinen Zuhörern mit seiner sanften, melodiösen Stimme die Angst vor Schlangen und wilden Tieren. „Die Eingeborenen, bei denen Sie leben werden, haben gelernt, mit diesen Gefahren umzugehen, und haben sichere Quartiere gebaut. Sonst würden wir Sie gar nicht dorthin schicken." Die Spannung in der Gruppe wuchs. Bald würde jeder seinen Partner oder seine Partnerin zugeteilt bekommen, und man würde in die einzelnen Dörfer aufbrechen. Juanitas Stimmung sank, als sie hörte, daß sie mit Russell in ein Dorf am Orinoco gehen würde. Ausgerechnet Russell. Es war der einzige in der ganzen Gruppe, dem sie skeptisch gegenüber stand. Irgendwie schien er für diese Aufgabe nicht geeignet zu sein, und nach der Art, wie er sie am vorherigen Abend angemacht hatte, traute sie ihm durchaus zu, daß er ihre Partnerschaft mit irgendwelchen Tricks erreicht hatte. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, dem Gruppenleiter von den Spannungen zwischen ihr und Russell zu erzählen und ihn zu bitten, die Partner zu wechseln. Dann fiel ihr ein, wie ärgerlich Tom geworden war, als sie das zu Hause versucht hatte. Wie oft hatte sie diese Leitsätze schon gehört: „Ihr müßt flexibel sein und mit jeder Situation fertig werden." Tom würde es nicht gefallen, wenn er erfuhr, daß sie sich wieder aus Unannehmlichkeiten herausgewunden hatte, anstatt sich ihnen zu stellen. Warum konnte Tom nicht an Stelle des lästigen Russell sein, der sich vor allem graulte? Am nächsten Morgen reisten einige der Helfer in ihre Dörfer in der Nähe von Caracas. Juanita und sieben weitere Freiwillige bestiegen ein kleines Flugzeug, das sie zu einer
größeren Siedlung am Orinoco-Fluß brachte. Von dort aus fuhren sie in einem alten verbeulten Bus eine gute Stunde am Ufer des Flusses entlang. „Wow!" rief Russell überrascht. „Ich hätte nie gedacht, daß der Orinoco so groß ist." Mehrere hundert Meter wildes Wasser trennten sie vom anderen Ufer. ,Später werden wir für den Rest der Reise in ein Kanu umsteigen", erklärte Eddie, der Gruppenleiter. „Die vierzig Kilometer Landroute nehmen wir nur wegen der Wasserfälle." Der Bus rumpelte über eine zerklüftete Bergstraße. Juanita schlug vor Angst das Herz bis zum Hals, als sie sah, daß die Straße auf der einen Seite von einer rauhen Felswand begrenzt war und auf der anderen Seite steil in die schäumenden Wasserfälle abfiel. Es sind schon Kanus durch die Stromschnellen hindurchgekommen", erzählte Eddie. „Aber man braucht einen erfahrenen einheimischen Führer, sonst werden einem die Felsen zum Verhängnis." Juanita entschied für sich, daß der klapprige Bus doch das kleinere Übel war. „Das waren gerade die Atures-Wasserfälle", erklärte Carl, Eddies Partner. „Jetzt werden wir für etwa zwanzig Meilen ruhiges Wasser sehen, bis die nächsten Fälle kommen, die Maipures." Der Bus fuhr jetzt durch eine abwechslungsreiche Hügellandschaft. Grüne Wiesen säumten die Straße. Es gab aber auch Strecken, da bildete der Dschungel eine undurchdringliche grüne Wand. Dann stürzte der Orinoco wieder über einen Steilhang und verwandelte sich in einen reißenden Strom mit Wasserwirbeln und donnernden Stromschnellen, die sich meilenweit fortsetzten.
Als der Fluß wieder ruhig und breiter geworden war, verkündete Eddie, daß sie im nächsten Dorf in ein Kanu mit Bordmotor umsteigen würden. Das Dorf war rasch erreicht. Die acht jungen Leute setzten sich in das Boot, dessen Rumpf aus einem riesigen Baumstamm geschniztt war. An einem Ende gab es ein Sonnendach aus Palmblättern. „So habe ich mir das vorgestellt", sagte Juanita, als Eddie das Kanu über den weiten Fluß steuerte. An beiden Ufern erstreckte sich dichte Vegetation. Carl erzählte, daß es weiter unten einen Kanal gab, der den Orinoco mit dem großen Amazonasstrom in dem Süden verband. Sie kamen an einer großen Insel vorbei, der ,Isla Raton` der Ratteninsel. „Das sieht nach einer Farm aus", sagte Wayne. „Richtig. Hier wird vor allem Zuckerrohr angebaut und ein bißchen Korn", bestätigte Eddie. „Holländische Mönche haben mit dem Anbau begonnen." Kurz nachdem sie die Insel passiert hatten, erklärte Eddie, daß das erste Team bald aussteigen könne. Linda und Wayne wurden sichtlich aufgeregt, besonders als Wayne behauptete, er habe einen Alligator vom Ufer ins Wasser gleiten sehen. Dann erschien plötzlich eine Lichtung im Urwald. Vom Kanu aus konnte man ein paar palmbedeckte Hütten erkennen. „Ist das unser Dorf?" Wayne war wie vom Donner gerührt. „Ja. Wir legen kurz an und sehen mal nach, ob man uns erwartet." Linda griff nach ihrem Rucksack. Sie blickte äußerst skeptisch auf die Ansammlung primitiver Hütten. Als das Kanu den Strand berührte, stieg sie zögernd und vorsichtig aus. Ein eingekerbter Baumsamm bildete das glitschige Ufer hinauf eine primitive Treppe. Mit Wayne stiegen auch noch Carl und Eddie aus. Russell, Tanya, Karen und Juanita sollten im Kanu warten. „Wir bleiben nicht lange", versprach Carl.
Juanita und Russell sahen sich schweigend an, und die beiden anderen blickten ernst drein. Keiner sprach ein Wort, während sie nachdenklich die einsame, unbewohnt scheinende Gruppe von Hütten betrachteten. Sie befand sich auf einer leichten Anhöhe, und der immergrüne Vorhang aus Stämmen, Ästen und Lianen reichte bis dicht an sie heran. Ein blauer Eisvogel flog vorbei. Er schien fast die Wasseroberfläche zu berühren. Mit weit ausgebreiteten Flügeln zog ein Papageienschwarm über das Kanu hinweg. „Worauf haben wir uns da bloß eingelassen?„ fragte Russell schließlich. Niemand wußte eine Antwort. Dann kamen Eddie und Carl aus dem Dorf zurück. „Zwei versorgt und vier noch übrig", scherzte Eddie, als er mit Carl wieder seinen Platz im Kanu einnahm. Juanita schlug nach einem großen Moskito, der sich auf ihrer Stirn niedergelassen hatte. Das ruhige Wasser spiegelte den tiefblauen Himmel wider. Weiße Wolken stiegen zwischen den Dschungelwänden empor. Juanita beobachtete handtellergroße, farbenprächtige Schmetterlinge, die schwerelos über einem Felsen schwebten. Plötzlich endete das gleichmäßige Motorgeräusch mit einem häßlichen Knirschen. Das Kanu trieb auf das Ufer zu. „Oh nein!" rief Eddie, und Carl fluchte. Zweige und Blätter hatten sich im Motor verfangen. Eddie nahm die Ruder auf und hielt das Boot ruhig, während Carl den Dreck aus der Motorschraube entfernte. Die Säuberungsaktion dauerte geraume Zeit. „Mit dieser Verzögerung haben wir nicht gerechnet. Wir müssen die nächsten zwei jetzt einfach in ihrem Dorf rauslassen. Ihr werdet euch schon allein zurechtfinden." „Ja, denn wir wollen mit dem letzten Paar an Ort und Stelle sein, bevor es dunkel wird und das Gewitter losbricht", fügte Carl hinzu. Der Motor sprang wieder an. Juanita blickte zu
Russell hinüber, in der Hoffnung, bei ihm Trost zu finden. Aber der sah ganz grün um die Nase aus. „Kann sein, daß ich seekrank werde", sagte er. Nach einigen weiteren Meilen, entlang an dichten Dschungelwänden, kam ein gelblicher Sandstrand in Sicht. „Nehmt eure Sachen", sagte Eddie. „Wir machen nur ganz kurz am Ufer fest, dann müßt ihr springen." „Meinst du wirklich Juanita und mich?" Russells Stimme klang heiser und zitterte. „Klar." Das Ufer kam immer näher. Juanita nahm ihre Reisetasche und klemmte sich die Gitarre unter den Arm. Der Motor war gedrosselt, das Kanu lief auf dem Sand auf. Russell schien wie erstarrt, aber Eddie gab ihm einen Schubs und drückte ihm außer seinem Gepäck auch noch den Erste-Hilfe-Kasten in die Hand. Juanita stieg aus dem Kanu ans Ufer und hielt ihm dann die Hand hin. „Seid ihr sicher, daß wir hier richtig sind?" Russell konnte es einfach nicht glauben. Er starrte auf die lockere Ansammlung palmbedeckter Hütten, die sehr dem Dorf glich, das sie ein paar Meilen flußaufwärts gesehen hatten. Auch hier zeigte sich keine Menschenseele. Russells Hand zitterte, als er die von Juanita ergriff. „Viel Glück!" Eddie ließ den Motor wieder an, und Carl stieß das Kanu mit dem Ruder vom Strand ab. Tanya und Karen warfen Juanita und Russell noch einen letzten, verzweifelten Blick zu, dann fuhr das Boot weiter den Fluß hinunter. Juanita fühlte sich hilflos und allein. Feindselige Augen schienen hinter den verlassenen Hütten zu lauern.
8. KAPITEL „Die überlassen uns einfach unserem Schicksal!" beklagte Russell sich bitter. „Was sollen wir jetzt machen?" Juanita packte ihre Gitarre fester. Das Instrument war der einzige vertraute Gegenstand in dieser fremden Umgebung. Vor ihrem geistigen Auge tauchte plötzlich ihr gemütliches Zimmer in Blossom Valley auf. Ihre Gedanken schweiften zu Jeannettes fröhlichem Gesicht, zu Toms zuverlässigem Lächeln, einen Eiscremebecher, Mom und Dad - alles wirbelte wild durcheinander und erfüllte sie so sehr mit Heimweh, daß ihr beinahe übel wurde. Sie mußte verrückt gewesen sein, als sie sich auf diese Sache eingelassen hatte. Russell blickte gehetzt von einem Ende des kleinen Strandes zum anderen und hinauf zu dem mächtigen grünen Laubgewölbe. Juanitas Mut sank. Ihr Partner schien jeden Augenblick die Nerven verlieren zu wollen. Er war in einer schlimmen Verfassung, schlimmer noch als sie. Ihre Augen wanderten zu dem Wald. Die Bäume wuchsen so dicht, daß jeder einzelne um Licht kämpfen mußte. Die Zweige hatten sich im Wettstreit um genügend Plak ineinander verflochten. Lianen schlängelten sich dazwischen hindurch. Einen Moment lang glaubte sie, eine große Schlange hinge von einem Baum, eine dieser Anakondas, und sie unterdrückte einen Schrei. Hinter ihr trieb der Fluß träge dahin. In seinen Tiefen verbargen sich alle möglichen gefährlichen Kreaturen: Krokodile mit ihrem breiten Kiefer, der einen Menschen mit einem Biß in zwei Hälften teilen konnte, oder Armeen von Piranhas mit Zähnen wie Kettensägen. Am schlimmsten war jedoch, daß sich die Eingeborenen nicht blicken ließen. War Juanita nicht ihretwegen hergekommen? Hatte sie nicht ihre Freizeit geopfert, um ihnen
zu einem besseren, längeren Leben zu verhelfen? Daraus würde nichts werden. Wenn sich hier überhaupt Menschen aufhielten, dann wollten sie mit ihr offenbar nichts zu tun haben. Aber es gab kein Zurück mehr. Sie und Russell waren gefangen zwischen dem Dschungel und dem Fluß. „Was sollen wir bloß machen?" Russells Stimme klang mitleiderregend. Nackte Angst stand auf seinem Gesicht geschrieben. Juanita kam wieder zu sich. Die Trainingsstunden fielen ihr ein, die Erzählungen der Helfer, die das schon einmal erlebt hatten. Auch sie hatten den Kulturschock und die Ablehnung der Eingeborenen überwinden müssen. Und sie hatten es geschafft. „Laß dich nicht unterkriegen, Russell." Ihre Stimme klang zuversichtlicher, als Juanita sich fühlte. „Uns bleibt nur eines: schwimmen oder untergehen." „Ich komme mir vor wie ein Ausgestoßener. Die haben uns hier doch einfach abgeladen." „Hör auf, dich selbst zu bemitleiden. Komm, beweg dich. Wir erreichen nichts, wenn wir hier nur rumstehen." „Wo sollen wir denn hin?" Russell stand wie festgewurzelt da und starrte mit offenem Mund auf die Ansammlung von Hütten. Juanita ging zögernd den Hügel hinauf, bis zu der ersten Behausung. Die Hütte bestand nur aus vier Pfosten und einem Dach aus Palmblättern. Wände gab es keine. Zur Dschungelseite hin war lediglich ein netzartiges Gebilde zwischen die Pfosten gespannt. Sie hörte, wie Russell hinter ihr herkam, langsam, als ginge er durch Treibsand. „Hier muß jemand sein", sagte sie. „Schau mal, aus einer der Hütten da drüben kommt Rauch." Sie zeigte auf ein größeres Gebäude, das an allen vier Seiten Wände aus Geflecht hatte. Mit Russell im Schlepptau ging sie darauf zu. Er würde ihr überhaupt keine Hilfe sein. Eine plötzliche Bewegung neben
einer der Hütten erschreckte sie. Ein dunkler Kopf erschien und verschwand sofort wieder. „Hay alguien aqui? Ist da jemand?" rief sie auf Spanisch. Wieder lugte ein Gesicht hinter der Hütte hervor, ein zweites kam dazu, doch gleich darauf waren beide wieder verschwunden. Eine dunkle Gestalt tauchte in der Tür auf. Juanita näherte sich, und die Gestalt zog sich ins Innere der Hütte zurück. „Wir sind Freunde!" rief Juanita. „Wir sind hier, um euch zu helfen." Die beiden Personen, die hinter der Hütte vorgelugt hatten, erschienen. Es waren zwei Kinder mit lustigen schwarzen Augen und dichtem dunklen Haar, das so rund wie um eine Schüssel herum geschnitten war. Sie trugen verblichene Shorts und lächelten Juanita freundlich an, auch wenn ihr Blick noch ein wenig Angst verriet. Beide waren ziemlich klein, Juanita konnte ihr Alter nicht schätzen. Sie beugte sich zu ihnen hinunter. „Mein Name ist Juanita", sagte sie langsam und zeigte dabei auf sich selbst. „Wie heißt ihr?" Die Kinder schienen jetzt verängstigt, plapperten etwas in einer fremden Sprache und liefen wieder hinter die Hütte. Dann erschien die geheimnisvolle Gestalt aus dem Inneren der Hütte. Es war eine Frau in einem unförmigen Baumwollgewand. Sie trug ein Baby auf dem Arm und sah Juanita mißtrauisch an. Ihr Haar war genauso rund geschnitten wie das der Kinder. Hohe Wangenknochen und leicht schräg stehende Augen charakterisierten das runde Gesicht. Die Kinder kamen wieder hinter der Hütte hervor. Sie zeigten auf Juanita und redeten schnell in einer ihr fremden Sprache. „Die sprechen noch nicht mal Spanisch", stellte sie enttäuscht fest.
Die Frau winkte mit einer Hand in Richtung Dschungel und gab den Kindern offenbar einige Anweisungen. Die Kleinen verschwanden daraufhin zwischen den Bäumen. Die Frau blieb in der Tür stehen und betrachtete die Fremden jetzt mit mehr Neugier als Angst. Juanita hätte die Indiofrau selbst noch für ein Kind gehalten, wenn sie nicht das Baby auf dem Arm gehabt hätte. Die Eingeborene reichte Juanita nur bis zur Schulter. Sie setzte das Baby auf den Lehmboden ihrer Hütte. Juanita sah, daß es krank war. Sein Bauch war aufgetrieben, und die hellen Streifen auf der braunen Haut waren ein Zeichen von Proteinmangel. Erst jetzt bemerkte Juanita, daß die Frau wieder schwanger war. Sie stellte sich ihr vor und versuchte auch, den Namen der Frau herauszufinden, jedoch ohne Erfolg. Das Baby krabbelte zu Juanita herüber und untersuchte ihre Schuhe. Sie beugte sich zu ihm hinunter und sprach sanft auf das Kind ein. Da schien die Frau sich zu entspannen. Andere Frauen und Kinder kamen aus den umliegenden Hütten und bildeten in gebührender Entfernung einen Kreis um die Neuankömmlinge. Dann hörte man aus dem Dschungel Stimmengewirr. Die zwei Kinder, die die Fremden zuerst gesehen hatten, erschienen atemlos auf der Lichtung, gefolgt von einer Gruppe Indiomänner. Einer der Männer trat vor und sprach Russell und Juanita auf Spanisch an. Juanita erklärte ihm, weshalb sie hier waren. Der Mann kratzte sich am Kopf. Er erinnerte sich wohl dunkel daran, daß jemand auf einer Reise den Fluß hinunter im Dort angehalten und angekündigt hatte, daß vielleicht Besucher kommen würden. Aber das war auch alles. „Er muß das Oberhaupt des Dorfes sein", flüsterte Russell Juanita zu. Die Männer waren genauso klein wie die Frauen und trugen denselben Haarschnitt.
Juanita und Russell überragten alle. Als Juanita versuchte, näher mit ihnen ins Gespräch zu kommen, mußte sie feststellen, daß ihr Spanisch von den Eingeborenen des Regenwaldes nicht so leicht verstanden wurde wie von ihren Lehrern daheim. Russell erholte sich langsam von seinem Schock und beteiligte sich an dem Gespräch. Endlich gelang es ihnen, die Gründe ihres Hierseins verständlich darzulegen. Das Dorfoberhaupt erklärte den anderen die Aufgabe der Fremden. Der deutete dabei auf seine entblößten Zähne. Dann erteilte er einigen Dorfbewohnern in scharfem Ton Anweisungen. Es begann zu regnen. Dorfkinder eilten herbei, um Russell zu der größeren, geschlossenen Hütte zu führen. Es war das Haus der Männer. Juanita wurde zu einer offenen Hütte gebracht, die sich direkt neben der befand, aus welcher die Frau mit dem Baby gekommen war. Der Dorfälteste erklärte stolz, daß diese Hütte auch als Schule diene, wenn die Lehrerin von der benachbarten Siedlung zu ihnen kam. Er würde die Besucher am nächsten Tag mit der Lehrerin bekannt machen, fügte er noch hinzu. Zwischendurch gab es immer wieder Befehle an Frauen und Kinder, die sofort davoneilten, um sie auszuführen. Ein paar der älteren Kinder trugen den Erste-Hilfe-Kasten und Juanitas Gepäck in die ihr zugeteilte Hütte und stellten Russells Rucksack in das Männerhaus. Voller Ehrfurcht betrachteten sie die fremden Dinge. „Wir können meine Unterkunft als Krankenstation benutzen", schlug Juanita vor. „Schöne Krankenstation", meinte Russell düster. „Wir haben doch überhaupt keine Ausrüstung." „Eddie hat versprochen, sie in ein paar Tagen zu bringen. In der Zwischenzeit können wir uns doch mit allem hier vertraut machen."
Juanitas Nervösität hatte sich inzwischen gelegt. „Zumindest weiß ich jetzt, daß mir niemand einen vergifteten Pfeil in den Rücken jagen wird." Auch Russell schien ruhiger zu sein. Die wenigen Regentropfen hatten sich in einen starken Schauer verwandelt. Sie prasselten mit solcher Macht auf das Palmdach, daß Juanita fürchtete, es würde einstürzen. Aber genauso plötzlich, wie er begonnen hatte, hörte der Regen auch wieder auf. Das Dorf dampfte vor Feuchtigkeit. Die Frau, die sie zuerst getroffen hatten, kam mit einem Korb und bot Juanita und Russell etwas an, das wie Pfannkuchen aussah. Kurz danach kam eine andere Eingeborene mit einer geflochtenen Trage mit Bananen, Papayas und einer runden roten Frucht, die sie nicht kannten. Den beiden Neuankömmlingen fielen fast die Augen aus dem Kopf, als sie die drei Kinder sahen, die mit der zweiten Frau gekommen waren. Keines davon war älter als fünf Jahre, doch zwei trugen bereits gefährlich aussehende Macheten in der Hand. Schließlich brachte noch jemand ein mit Blättern ausgelegtes Tablett. Darin lag ein Häufchen faseriges Fleisch. „Was mag das wohl sein?" Russell trat einen Schritt zurück. Die Eingeborenen kauerten sich um ihre Gäste herum auf den Boden, um sie beim Essen zu beobachten. Sie lächelten und redeten in ihrer fremden Sprache über die beiden. „Egal, was es ist, wir müssen es essen. Es wäre unhöflich, ihre Gastfreundschaft zurückzuweisen, außerdem müssen wir von irgend etwas leben. Diese Pfannkuchen werden aus Tapioka gemacht, das haben wir zu Hause in den Kursen gelernt. Sie sind sehr nahrhaft." Die Fladen schmeckten allerdings ziemlich streng, und Juanita hatte das Gefühl, als äße sie Leimbrei. An Russells Kieferbewegungen konnte sie sehen,
daß es ihm ähnlich ging. Die herrlichen Früchte machten jedoch alles wieder wett. „Wie es aussieht, können die Männer hier wenigstens ein bißchen Spanisch sprechen, wahrscheinlich, weil sie manchmal den Fluß hinauf zu den Siedlungen fahren. Aber die Frauen beherrschen nur die Stammessprache", erklärte Juanita Russell. „Scheint so zu sein", erwiderte er ohne große Begeisterung. In den Tropen wird es schnell Nacht. Aber obwohl Juanita die Reise den Orinoco hinunter und ihre Ankunft im Dorf ziemlich erschöpft hatten, war sie zu angespannt, um in ihrer Hängematte einschlafen zu können. Sie fragte sich, ob Anakondas Nachttiere waren, und stellte sich vor, ein Jaguar schliche um ihr ungeschütztes Schlafzimmer. Wenn die Hütte wenigstens vier ordentliche Wände hätte! Sie hatte ihr gemütliches Zimmer zu Haus nie besonders gewürdigt, jetzt dachte sie mit Sehnsucht daran. Ihre Gedanken wanderten zu Tom. Wo verbrachte er wohl die Nacht? Wie wäre er mit der haarsträubenden Situation bei der Ankunft im Dorf fertiggeworden? Ob seine Impfseren bereits angekommen waren und er schon arbeiten konnte? Sie nahm sich vor, ihm bald zu schreiben und den Brief Eddie und Carl zum Verschicken mitzugeben, auch wenn sie wenig Hoffnung hatte, von ihm ebenfalls Post zu bekommen. Schließlich war er zum Schluß nicht mehr so gut auf sie zu sprechen gewesen. Juanitas Gedanken waren noch immer bei Tom, als sie einschlief. Als Juanita am nächsten Morgen erwachte, umringten neugierige Kinder ihre Hängematte. Einige von ihnen befühlten das Moskitonetz, das sie am Abend vorher aufgespannt hatte. Ein ganzer Vogelchor zwitscherte, flötete und sang in der Baumwand hinter ihr. Der Geruch von feuchter Erde und Fäulnis lag in der Luft. Juanita befreite sich aus der Hängematte.
Sie hatte in ihren Jeans geschlafen und sehnte sich jetzt nach einer kalten Dusche und frischen Kleidern. Aber wo sollte sie sich umziehen, wenn überall junge Indios waren? Es gab keine Privatsphäre. Trotzdem gelang ihr ein Lächeln, und sie begrüßte ihr Publikum auf Spanisch mit „Guten Morgen". Eines der Kinder hielt ihr einen Korb mit Früchten hin. Juanita bedankte sich auf Englisch. Ein Junge wiederholte ihre Worte, dann fiel ein zweiter ein und ein dritter. Bald riefen alle Kinder kichernd im Chor: „Thank you". Kichern war jedenfalls international, stellte Juanita fest. Das Problem, wie sie sich inmitten ihrer Zuschauer umziehen sollte, blieb jedoch. Sie fühlte sich schmutzig und verschwitzt, das Haar klebte ihr am Kopf. Juanita hatte ihr weites mexikanisches Kleid für die Abende in Miami und Caracas mitgenommen. Das mußte jetzt als zeltartige Umkleidekabine herhalten. Sie zog sich unter dem weiten Rock aus und schlüpfte in ihren Badeanzug. Erstaunte kleine Gesichter beobachteten, wie sie den Reißverschluß ihrer Reisetasche öffnete. Sie konnten den Blick nicht abwenden, bis sie die Tasche wieder schloß. Als nächstes stellte Juanita irritiert fest, daß es nirgendwo eine Toilette gab. Der Bau von Toilettenhäuschen war Teil des HFDW-Programms und sollte vollendet sein, wenn die Freiwilligen den Dschungel wieder verließen. Aber Juanita hatte sich auf Zahnpflege spezialisiert und nicht auf sanitäre Versorgung. Vielleicht würden Eddie und Carl bald wieder vorbeikommen und einen Spezialisten mitbringen. Zunächst war jedoch Baden angesagt, und vor ihren Augen floß eine Menge Wasser dahin, einladend und kühl an diesem schwülen Morgen. Sie ließ ihre Sandalen und das Kleid am Ufer zurück, dann suchte sie das Wasser genau nach Alligatoren oder Piranhas ab. Der Strand fiel nicht steil zum Fluß hin ab, so daß Juanita bequem ins Wasser waten konnte. Sie tauchte den Kopf unter und begann sich unter den
erstaunten Rufen der Kinder das Haar zu schamponieren. Ein Junge deutete auf seinen eigenen Kopf. Wahrscheinlich hatte er in seinem ganzen Leben noch kein Shampoo gesehen. Sie drückte ein paar Tropfen aus der Tube auf sein Haar. Er schäumte sich ein, wie er es bei ihr beobachtet hatte. Danach wollten alle anderen dieses Spiel auch mitmachen. Juanita ging äußerst sparsam mit ihrem Haarwaschmittel um. Hier im Dschungel war es sein Gewicht in Gold wert. Das fröhliche Geschrei der Indiokinder lockte auch die Frauen ans Ufer. Nachdem sie ihr Bad beendet hatte, stieg Juanita wieder an Land. Die Freude der Kinder und das erfrischende Eintauchen in den Orinoco hatten ihre Laune gehoben. Zumindest die Kinder hatten sich schon mit ihr angefreundet. Vielleicht konnte sie im Dorf doch etwas erreichen. Voll Optimismus begann sie darüber nachzudenken, wie sie ihre Zeit am besten nutzen konnte. Sie mußte einfach improvisieren. Juanita holte den Erste-Hilfe-Kasten und setzte ihn auf die Kiste, neben der Hängematte das einzige Mobilar in der Hütte. Die Leute sollten wissen, daß sie und Russell Schnitte und andere kleine Wunden behandeln konnten und Tabletten für verschiedene Wehwehchen dabei hatten. Sie nahm die Filtertasse aus ihrem Gepäck und sterilisierte genug Flußwasser, um sich die Zähne zu putzen. Wieder versammelten sich neugierig die Indiokinder um sie. Wenn sie doch nur ihren Vorrat an Zahnbürsten schon hätten! Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, die Kinder damit bekannt zu machen. „Laß mal sehen, wie viele Zähen du hast", sagte sie auf Spanisch zu einem der Kinder. Der Junge war erst ungefähr sechs Jahre alt, seine bleibenden Zähne waren noch nicht gekommen. Ein Blick in den Mund des Kindes erinnerte Juanita wieder an die Bemerkung eines älteren Helfers aus Blossom Valley: „Ihre Zähne sind in einem fürchterlichen Zustand." Es wurde wirklich Zeit, daß etwas geschah.
Als erstes mußte sie irgendwoher Zahnbürsten beschaffen und anfangen, die Kinder in Zahnpflege zu unterrichten. Vielleicht fand sie geeignete Zweige. Wo Russell nur blieb? Daß er noch schlief, war höchst unwahrscheinlich . Als ob ihre Gedanken ihn angezogen hätten, erschien er in der Tür des Männerhauses. Doch er humpelte und sein Gesicht war schmerzverzerrt. Juanita lief zu ihm hinüber. „Was ist denn passiert?" „Mein Fuß!" rief er anklagend. „Er hört nicht auf zu bluten. Ich bin von einer Fledermaus gebissen worden." „Von einer Fledermaus?" „Ja. Es war ein Vampir! Einer dieser Typen zeigte sie mir im Palmdach der Hütte. Mein Zeh muß wohl unter dem Moskitonetz herausgeschaut haben. Weißt du, was das heißt, Juanita? Ich kann Tollwut bekommen, wenn ich nicht schon vorher verblute." „Laß mich mal sehen." Juanita bemühte sich um einen ruhigen Tonfall, denn Russell war einer Panik nahe, und das viele Blut, das aus der Wunde floß, war erschreckend. „Wir werden dich schon verarzten. Eine Wunde, die stark blutet, reinigt sich selbst", beruhigte sie ihn. „Also wirst du bestimmt keine Infektion bekommen. Setz dich auf meine Hängematte und leg den Fuß auf die Kiste. Ich werde die Wunde waschen und den Fuß dann bandagieren." Sie eilte zum Fluß hinunter, filterte mehr Wasser und wusch den blutenden Zeh, bei dem an der Spitze die Haut aufgeschürft schien. Dann tat sie etwas Jod darauf und legte einen Verband an. Ein paar Indiomänner waren Russell gefolgt. Juanita konnte ihnen klarmachen, daß sie Russells Rucksack in ihre Hütte bringen sollten. Sie fand darin eine saubere weiße Socke und zog sie ihm an. Dann reichte sie ihrem Partner eine Papaya aus dem Korb, den die Kinder ihr gebracht hatten. Russell legte
sich in die Hängematte zurück. Seine Aufregung hatte sich etwas gelegt, aber er war immer noch empört über das Eindringen geflügelter Blutsauger in sein Schlafquartier. „Ich könnte immer noch die Tollwut kriegen", sagte er.
9. KAPITEL Russell fand ständig etwas zu meckern, während er mit seinem verwundeten Zeh herumhumpelte. „Erst eine Fledermaus und dann ewig diese Moskitos." Er schlug nach einem Insekt, das auf seinem Arm gelandet war. „Und der Himmel weiß, was wir essen! Du wirst es nicht glauben, aber einige der Kinder haben heute morgen Ameisen gefrühstückt." Juanita schauderte. „Das habe ich nicht gesehen. Aber über die fabelhaften Papayas kannst du dich wirklich nicht beklagen, und die Bananen sind auch super." „Was man von ihrem Brot manoco' oder wie sie das Zeug nennen, nicht gerade behaupten kann", brummte er. „Mach es nicht runter! Die Frauen arbeiten den ganzen Tag daran. Brotbacken ist hier eine richtige Wissenschaft. Zunächst müssen sie Yuccawurzeln ausgraben." Sie hatte die Dorffrauen an diesem Morgen beobachtet, wie sie die Knollen mit extra dafür angefertigten Stöcken ausgruben. Jetzt saßen sie vor ihren Hütten und schälten die Knollen die sie dann auf einem Holzbrett in ein Sieb aus Palmblättern raspelten. Anschließend kneteten sie die Masse, um alle Flüssigkeit herauszupressen. Die pulverisierten Wurzeln wurden danach in einen langen Schlauch aus festgewobenen Palmfäden geschüttet und so lange geschlagen, bis auch der letzte Rest Flüssigkeit verschwunden war. Die so entstandene, weizenmehlartige Masse formten die Frauen zu flachen Kuchen und buken sie in einem primitiven Ofen. „Außerdem", meinte Juanita ernst, „sollten wir uns besser daran gewöhnen, schließlich bleiben wir acht Wochen hier." Acht Wochen!" Russell ließ sich in die Hängematte fallen und rollte die Augen gen Himmel, um höheren Orts gegen sein
Schicksal zu protestieren. „Wenn ich gewußt hätte, worauf ich mich da einlasse! Ich kann zum Beispiel noch nicht einmal auf die nicht vorhandene Toilette gehen, ohne gleich einen Haufen Kinder als Publikum zu haben." Während er sprach, beobachtete ihn eine Gruppe Kinder mit leuchtenden, aufmerksamen Augen. Ihr schwarzes Haar glänzte im tropischen Sonnenlicht. „Acht Wochen sind doch nicht lang." „Sie sind endlos! Ich glaube nicht, daß ich es hier so lange aushalte. Vielleicht sterbe ich an Tollwut, dann brauc he ich es auch nicht." Insgeheim stellte Juanita fest, daß das Schlimmste an den acht Wochen wohl Russells ständige Klagen sein würden. „Reiß dich zusammen", bat sie verzweifelt. „Ein Großteil der ersten Woche ging ja schon mit der Reise drauf, und jetzt sitzen wir hier herum, als ob wir Ferien hätten. Wir haben uns fest vorgenommen, diesen Menschen hier zu helfen, und es wird Zeit, daß wir damit anfangen." „Wie denn? Wir haben doch unsere Ausrüstung noch gar nicht." „Ausreden, alles Ausreden! Im Training zu Hause hat man uns aufs Improvisieren vorbereitet, und genau das werde ich tun. Du hast dich doch selbst darüber beschwert, daß es hier keine Toiletten gibt. Obwohl wir uns auf Zahnpflege spezialisiert haben, haben wir doch auch etwas über die Grundlagen sanitärer Einrichtungen gelernt. Damit könnten wir anfangen." „Wir haben keine Hilfsmittel, keinen Zement oder solches Zeug." Sei doch nicht immer so negativ. Dann sollen die Eingeborenen eben Behelfstoiletten ohne Zement herstellen. Eddie wird uns später ja welchen vorbeibringen."
„Erwartest du etwa von mir, daß ich mit dem Fuß herumlaufe und mir die Wunde infiziere?" „Mach, was du willst. Ich werd jetzt jedenfalls versuchen, mich mit den Indios anzufreunden." Als Juanita an der Hütte ihrer Nachbarin vorbeiging, stand diese mit dem kranken Kind auf dem Arm davor. Es schlief. Juanita hätte gern den Namen der Frau erfahren, konnte sich jedoch nicht genügend mit ihr verständigen. Einige der kleinen Jungen und Mädchen begleitete sie auf ihrem Gang durch das Dorf. Juanita fand heraus, daß die Kinder sowohl die Stammessprache wie auch Spanisch verstanden. Sie konnte sich mit ihnen unterhalten und erfuhr sogar ein paar Namen: der freundlichste kleine Junge hieß Tami. Sie sprach den Namen wie Tommy aus. Sofort mußte sie an Tom denken, und das Heimweh war wieder da. Es ließ sich einfach nicht verhindern, daß sie Russell andauernd mit Tonn verglich. Tom hätte sicher bereits alle möglichen Projekte im Dorf angekurbelt. Und sie wollte dasselbe tun. Juanita nahm einen Ball aus ihrem Gepäck und begann, auf der Lichtung damit zu spielen. Die Kinder waren begeistert von dem bunten Ding. Einige der Mütter kamen, um ihnen beim Spiel zuzusehen. Ein paar lächelten Juanita schüchtern an. Am Ufer waren die Männer gerade dabei, ein Kanu zu schnitzen. Lianen hatten einen riesigen Baum im Urwald zum Umstürzten gebracht. Der Stamm wurde jetzt ausgehöhlt. Später würden einmal mehr als ein Dutzend Menschen in diesem Kanu Platz finden. Während Juanita zusah, befühlte sie die Enden einiger Ranken und Buschzweige. Sie brach ein paar elastische, faserige Stücke ab und versuchte, die einzelnen Fasern an der Spitze der Zweige zu trennen, so daß eine Art Bürste entstand. Damit konnten die Kinder das Zähneputzen üben bis die richtigen Zahnbürsten eintrafen.
„Schau mal, was ich entdeckt habe", rief sie, als sie in die Hütte zurückkam. „Einen Zahnbürstenstrauch!" „Ist ja toll." Mißmutig ließ Russell sich zeigen, wie man die Fasern trennte damit sie eine steife Bürste bildeten. In diesem Moment erschien eine Gruppe Dorfbewohner vor der Hütte. Unter ihnen war auch das Oberhaupt, dessen Name, wie Juanita herausgefunden hatte, Oswaldo war. Er stellte ihr und Russell eine schlanke junge Frau vor. Sie hieß Mariana und war die Lehrerin. Mariana leitete eine Schule, die ungefähr eine halbe Stunde Fußweg entfernt lag. Die älteren Kinder aus den umliegenden Dörfern erhielten dort eine Grundausbildung. Sie lernten Spanisch, lesen, schreiben und rechnen. Manchmal kam die Lehrerin auch für ein paar Extrastunden in die Dörfer. Juanita fiel auf, mit wieviel Respekt und Ehrfurcht die Indios Mariana behandelten. Sie ließen sie mit den beiden Weißen allein. Juanita erklärte ihr, weshalb sie und Russell hierhergekommen waren, und daß leider ihre Ausrüstung noch nicht eingetroffen sei. Sie zeigte ihr die behelfsmäßigen Zahnbürsten. „Das ist ja prima!" Mariana war begeistert von ihrem Vorhaben und ließ sich das gesamt HFDW-Programm ausführlich erläutern. „Ich werde keine große Hilfe sein." Russell hielt ihr seinen bandagierten Zeh hin. „Eine Fledermaus hat mich gebissen." „Das heilt auch wieder." Mariana war nicht so besorgt um Russell, wie dieser es sich gewünscht hätte. Sie erklärte, daß Fledermäuse bei ihren Bissen einen Stoff absonderten, der das Blut am Gerinnen hinderte. Deshalb hatte die Wunde nicht aufgehört zu bluten. Nun, da sie gereinigt worden war, würde sie sicher schnell heilen, versicherte sie dem Patienten. Es war leicht, sich mit Mariana zu unterhalten, da sie auf einer Missionarsschule erzogen worden war und dort sogar
etwas Englisch gelernt hatte. Sie erzählte, daß sie siebzehn Jahre alt sei. Genauso alt wie ich, und du hast schon einen Job", rief Russell verblüfft. „Und nur ein Jahr älter als ich", fügte Juanita hinzu. Dann erklärte sie, daß sie gern die Namen der Frauen aus dem Dorf erfahren würde. „Die Eingeborenen sagen nicht gern, wie sie heißen, denn sie glauben, wenn du ihren Namen kennst, hast du auch Macht über sie. Wenn sie Vertrauen zu dir gefaßt haben, darfst du sie vielleicht beim Namen nennen. Allerdings haben einige von ihnen den alten Aberglauben inzwischen abgelegt. Die Frau in der Hütte neben dir ist Amaya. Sie ist erst fünfzehn." Juanita staunte. Amaya erwartete bereits ihr zweites Baby. Sie hatte sie für viel älter gehalten. Während Juanita und Russell sich noch mit Mariana unterhielten, kamen Eddie und Carl den Fluß herauf. Sie waren auf der Rückreise, machten ihr Boot fest und gingen an Land, um zu sehen, wie es ihren beiden Schützlingen bisher ergangen war. Lange können wir nicht bleiben. Wir wollten nur hören, ob ihr okay seid, nachdem wir euch gestern hier einfach so abgesetzt haben", sagte Eddie. „Wir sind nicht okay." Russell zeigte seinen Zeh, doch Eddie und Carl fanden die kleine Wunde nicht weiter schlimm. Sie verließen das Dorf bald wie der und versprachen, in ein paar Tagen mit Zahnbürsten, Zement, der Post und vielleicht sogar einem Zahnarzt zurückzukommen. Mariana verabschiedete sich ebenfalls. Ein ganzer Schwarm Kinder begleitete sie ein Stück durch den Dschungel. „Ein Lehrer ist hier ja wirklich eine sehr wichtige Person", sagte Russell. Er hatte sich die ganze Zeit über nicht aus der Hängematte bewegt.
„Ich glaube, Mariana ist sehr nett." Juanita schaute ihn an. „Sie hat uns eingeladen, ihre Schule zu besuchen, wann immer wir Lust dazu haben. Mit ihr kann man reden, und sie wird unsere Arbeit fortsetzen, wenn wir wieder weg sind. Schließlich wollen wir nicht, daß unsere Belehrungen vergessen sind, sobald wir dem Dorf den Rücken gekehrt haben. Erheb dich, Russell, es gibt viel zu tun. Machen wir zuerst einen Vorrat an Zahnbürsten. Das Gute daran ist, daß die Eingeborenen sie selbst herstellen können, wenn wir nicht mehr hier sind. Sie brauchen also nicht mit dem Zähneputzen aufzuhören, nur weil ihre Bürsten verschlissen sind." Murrend fügte Russell sich. Er hielt sein Bein die ganze Zeit über demonstrativ ausgestreckt, damit seine Partnerin auch ja nicht vergaß, daß er verwundet war. Am Nachmittag verteilte Juanita etwas von ihrer Zahncreme auf die Zweige und zeigte Tommy und ein paar anderen Kindern, wie man sich die Zähne putzt. Der Einstieg in ihre Arbeit war geschafft. Die Kinder hatten Freude daran, sich ihre Zahnbürsten selbst zu machen, und gaben ihr neugewonnenes Wissen begeistert an ihre Freunde weiter. Juanita versprach ihnen, daß eines Tages ein Mann den Fluß herunterkommen und ihnen Zahnbürsten wie die ihre bringen würde. Jedes Kind sollte seine eigene bekommen. Juanita liebte es, durch den Dschungel und entlang der Wiesen zu Marianas Schule zu gehen. Sie unterhielt sich gern mit der jungen Lehrerin und erfuhr von ihr eine Menge darüber, wie die Indios in den verschiedenen Dörfern lebten. Die Schule, die auch Marianas Zuhause war, war richtig luxuriös im Vergleich zu Juanitas palmbedeckter Hütte. Es war ein Gebäude mit vergipsten Wänden und einem Wellblechdach.
Mariana erzählte, daß in vierzehn Tagen ein Fest stattfinden würde, und versprach, den HFDW-Freiwilligen zu helfen, ein bißchen Werbung für ihre Programme zu machen. Sie gab Juanita ein paar große Papierbögen und Stifte, damit sie und Russell für einen eigenen Stand auf dem Fest Plakate malen konnten. Juanita nahm sich vor, ihr mexikanisches Kleid zu tragen und Gitarre zu spielen. Bei ihrem nächsten Gang zur Schule war Russells Wunde verheilt, und er konnte sie begleiten. Als er die Neuigkeit von dem Fest hörte, besserte sich seine Laune. Es stellte sich heraus, daß er ein begabter Plakatmaler war. Er entwarf ein Poster, das die verschiedenen Zähne zeigte, und auf Juanitas Anregung hin auch noch eines zur richtigen Ernährung. „Du brauchst nur einen Blick auf Amayas Baby zu werfen", meinte Juanita. „An ihm sieht man deutlich, daß die Leute nicht wissen, was ausgewogene Ernährung ist. Viele Kinder scheinen zwar gesund, aber das kann auch täuschen. Amayas Baby ist sicher nicht nur unterernähert, es hat bestimmt auch Parasiten." Schon nach wenigen Tagen hatten sich die beiden Helfer an die Nahrung der Eingeborenen gewöhnt. Die Monoco-Fladen schmeckten nicht mehr so fremd, und als Russell sich immer noch beschwerte, daß sie nicht wußten, welches Fleisch sie aßen, platzte Juanita der Kragen. „Wenn die Indios es essen, kannst du sicher sein daß es nicht vergiftet ist." Später erfuhren sie, daß sie Schildkröteneier und Gürteltierfleisch gegessen hatten. Sie brachten den Kindern „Himmel und Hölle" und andere Spiele bei. „Ich fühle mich schon wie ein Teil ihrer Gemeinschaft", sagte Juanita. „Dafür kannst du dir viel kaufen." „Sei nicht so zynisch. Warum bist du HFDW überhaupt beigetreten?" Russell unterschied sich in seiner Art so sehr von
Tom, daß Juanita immer wieder an Tom denken mußte. Sie schrieb ihm jeden Tag ein paar Zeilen und erzählte von den großen und kleinen Ereignissen im Dorf. Wenn Eddie und Carl wieder vorbeikamen, wollte sie ihnen den Brief mitgeben. Sie beschrieb alle Einwohner des Dorfes, verlor jedoch kein Wort über Russell. Der war oft in ihrer Hütte und hätte die negativen Bemerkungen über sich lesen können. Juanita ärgerte sich oft über ihn. Andauernd mußte sie hinter ihm her sein, damit er die Arbeit tat, für die sie eigentlich hier waren. Im Urwald am Äquator wurde es schnell und früh dunkel. Gegen sieben Uhr verschwand die Sonne vom Himmel über dem Orinoco. Die Indios zogen sich in ihre Hängematten zurück. „Es gibt hier überhaupt kein Nachtleben, wenn man mal von den Käfern und den wilden Tieren absieht', meinte Juanita. „Dann schau mal, wie schön der Mond über dem Fluß scheint." Russells Stimme klang eindringlich. „Warum bleiben wir zwei nicht noch etwas auf und lernen uns besser kennen. Enger - wenn du weißt, was ich meine. Seit ich dich das erste Mal gesehen habe, bin ich verrückt nach dir. Du bist das tollste Mädchen, das ich kenne. Wir sind so isoliert hier, die einzigen zivilisierten Menschen im Umkreis von tausend Kilometern. Und da dachte ich ..." „Russell!" Juanita legte ihm sanft die Hand auf den Arm. Sie wollte ihn nicht verletzen. „Haben sie dir zu Hause in den Trainingsstunden nicht beigebracht, daß es während unserer Arbeit keine Flirts geben darf? Wir sind des öfteren darauf hingewiesen worden, und ich halte mich daran." „Wer würde es denn erfahren?" „Nein, Russell. Wir sind hier zu isoliert. Ich möchte nicht, daß du auf dumme Gedanken kommst." „Gedanken habe ich schon, aber eher schöne als dumme." „Dann nimm sie mit in deine Hütte. Ich bin nicht interessiert."
Russell ging beleidigt in seine Unterkunft zurück. Er tat Juanita leid. Als sie es sich in ihrer Hängematte bequem machte, überlegte sie, wie sie ihn mehr für ihre Arbeit im Dorf begeistern konnte. Sie hatte begonnen, sich mit den Indiofrauen in einer Art Zeichensprache zu unterhalten. Mit Marianas Hilfe hatte sie ihnen beigebracht, was sie über gesunde Ernährung gelernt hatte. Die Frauen schienen beeindruckt und taten alles, was in ihrer Macht stand, um die Nahrung der Kinder zu verbessern, obwohl ihre Mittel begrenzt waren. Die Männer fanden im dichten Dschungel nicht immer Wild, und selbst in dem riesigen Orinoco fingen sie manchmal keine Fische. Für Amayas Baby kamen Juanitas Ratschläge zu spät. Als sie eines Tages von einem Ballspiel mit den Kindern ins Dorf zurückkam, sah sie eine Gruppe Frauen um Amayas Hütte stehen. Amaya trauerte. Ihr Baby war tot. Einige Männer höhlten einen kleinen Baumstamm in der Art eines Kanus aus. Das tote Baby wurde hineingelegt, und unter Gesang und Weinen schuckten die Dorfbewohner das winzige Gefährt den Fluß hinunter. Danach mußte Amayas Hütte verbrannt und eine neue gebaut werden. „Es ist erstaunlich, wie schnell sie eine neue Hütte errichten können", sagte Juanita zu Russell, während sie beobachteten, wie sich die Männer mit Pfosten und Palmblättern ans Werk machten. „Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, sie auch zum Bau einer Toilette zu überreden, damit Amayas Umgebung sauberer wird und das neue Baby eine Chance zum Leben bekommt. Sonst wird es ihm bestimmt nicht besser ergehen als dem anderen." „Aber wir haben kein Material", kam prompt der Einwand von Russell. „Vielleicht tauchen Eddie und Carl ja mal wieder auf. Wo bleiben die überhaupt? Sie haben uns versprochen, bald zurückzukommen und unsere Ausrüstung und vielleicht etwas Zement mitzubringen. Dann könnten wir hier endlich was ausrichten. Aber so ... Russells Stimme klang lustlos.
Juanitas Abfuhr hatte seine Laune wieder verschlechtert. Sie wollte versuchen ihm aufzumuntern, indem sie nett zu ihm war, aber nicht zu nett, damit er nicht auf falsche Gedanken kam. „Du findest sicher, daß ich mich hier auf die faule Haut lege", sagte Russell, nachdem Juanita Oswaldo und Amayas Ehemann ins Gewissen geredet hatte, als Anfang für eine sanitäre Einrichtung bei Amayas Hütte eine Grube auszuheben. „Du könntest dich schon ein bißchen mehr anstrengen." „Wahrscheinlich liegt es an meiner Erziehung. Ich bin der einzige Junge in der Familie. Meine beiden Schwestern und meine Mutter haben immer alles für mich getan. Ich mußte nie irgendwelche Jobs übernehmen. Deshalb wollte mein Vater auch, daß ich bei HFDW mitmache. Er hat Mom andauernd vorgehalten, daß sie mich verwöhnt. Ich sollte auf eigenen Beinen stehen und erwachsen werden." „Jetzt bist du auf dich allein gestellt, aber wie kannst du erwachsen werden, wenn du immer nur darauf wartest, daß ich alles für dich tue?" fragte Juanita. Dann, als sie seine zerknirschte Miene sah, bereute sie, sein Selbstbewußtsein angekratzt zu haben. „He, es tut mir leid. Ich wollte damit sagen, daß du überhaupt nichts getan hast. Du hast tolle Poster gemalt und kannst prima mit den Kindern umgehen." „Also machst du dir doch ein klein wenig aus mir." Russells Miene hellte sich auf. Aber Juanita war plötzlich eine Idee gekommen. Russells Probleme wurden daneben unwichtig. „Vielleicht brauchen wir gar keinen Zement!" rief sie. „Das Material, das wir brauchen, wächst direkt hier im Wald. Gibt es etwas, das wasserdichter ist als die Bäume hier? Die Männer machen Kanus daraus, die ewig zu halten scheinen. Die Bäume sind wasserdichter als Zement. Man könnte einen großen Stamm nehmen, einen Teil davon aushöhlen und so zurechtschneiden, daß er als innere
Abdichtung für die Latrinengrube dienen kann. Ist doch kinderleicht! Du hast ja gesehen, wie schnell Amayas Hütte fertig war. Das muß ich gleich Oswaldo und Amayas Mann vorschlagen. Ich bin sicher, es klappt!" Juanita strahlte vor Stolz und Aufregung. „Sogar ohne die Ausrüstung können wir alles erreichen, was wir uns vorgenommen haben!" „Kannst du nicht mal für ein paar Minuten an etwas anderes denken als an den sanitären Kram?" fragte Russell. Denn falls du es noch nicht gemerkt haben solltest: eins hast du schon erreicht" Er legte den Arm um Juanitas Taille und zog sie näher an sich heran. „Du hast mein Herz gewonnen." Sie fühlte seinen Atem auf ihrer Wange. Juanita wand sich, um von ihm loszukommen, aber er hielt sie fest. „Hör auf damit, Russell. Ich hab dir doch schon gesagt, daß ich nicht interessiert bin. Du kennst doch die Grundsätze von HFDW." „Wenn man sich in jemanden verknallt hat, pfeift man auf die Regeln. Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Das Schicksal hat uns zwei hier zusammengeführt. Noch kein Mädchen hat so einen Eindruck auf mich gemacht wie du. Ich bin verrückt nach dir. Merkst du das denn nicht?" Er versuchte, sie zu küssen, doch es gelang ihr, sich loszureißen. „Für mich ist es aber wichtig, die Regeln einzuhalten. Ich könnte keinen Respekt mehr vor mir haben, wenn ich es nicht täte. Die Indios würden uns auch nicht mehr achten, wenn wir uns hier einen schönen Tag machen würden. Und außerdem will dir eines anscheinend nicht in den Kopf: Ich fühle nicht dasselbe wie du. Du bist nicht mein Typ." Russell war wieder sauer. „Du hast von Anfang an etwas gegen mich gehabt." „Das stimmt nicht. Mich ärgert nur manchmal deine negative Einstellung. Du scheinst mehr Zeit damit zu verbringen, dich
selbst zu bedauern, als den Indios zu helfen. Und deswegen sind wir ja hier." „Ich wette, du hast zu Hause einen Freund." Juanita dachte an Tom. Wenn er nun hier wäre und hätte versucht, sie zu küssen? Hätte sie dann auch so kratzbürstig reagiert? Wahrscheinlich nicht. Aber Tom hatte nie auch nur die kleinste Andeutung gemacht, daß er sich in sie verliebt hatte. Dabei liebte sie ihn so sehr. Er hielt sie wohl immer noch für ein hilfloses Geschöpf, aber sie hatte sich geändert. Sie war fest entschlossen, die Lebensbedingungen in dem Indiodorf zu verbessern, und würde nicht eher ruhen, bis ihr das gelungen war, mit oder ohne Russell. „Siehst du, ich hatte recht. Es gibt einen anderen." Russell sah so beleidigt aus, als hätte Juanita ihn betrogen. „Ich habe mehrere Freunde", erwiderte sie kurz. „Als ob es nicht schon schlimm genug hier wäre! Zuerst werde ich von einer Fledermaus gebissen, dann weiß ich nie, was ich gerade esse. Die Moskitos und all das andere undefinierbare Ungeziefer krabbelt andauernd auf mir herum und frißt mich halb auf. Ich muß meinen Job ohne die entsprechende Ausrüstung machen und mit einem Haufen unzivilisierter Typen in einem Raum in einer Hängematte schlafen, die mich schon fast in ein Hufeisen verwandelt hat. Und zur Krönung stellst du dich auch noch gegen mich." „Du bist unmöglich, Russell. Ich stelle mich nicht gegen dich. Du erwartest nur Unmögliches von mir. Außerdem hat man dir bestimmt auch schon vorher gesagt, wie beschwerlich und primitiv das Leben sein würde, das uns in den Dörfern erwartet. Jeder in meiner Gruppe war wild darauf, es einmal auszuprobieren. Sie waren alle bereit, die Bequemlichkeiten aufzugeben, um das Leben eines Babys zu retten, Seuchen aus einem Dorf fernzuhalten oder dazu beizutragen, daß ein Mitmensch seine Zähne ein Leben lang behalten kann."
Jetzt war auch Juanita sauer. Der Nachmittag war feuchtschwül, Schweiß rann ihr den Nacken hinunter, und ihr Haar fühlte sich klebrig an. Ein Insektenstich an ihrem Knöchel juckte. Bloß weg von diesem lästigen Russell, dachte sie, drehte sich um und rannte zu ihrer Hütte. Ein erfrischendes Bad im Fluß, die Haare waschen und ein bißchen mit den Kindern spielen, daß würde sie wieder aufmöbeln. Danach wollte sie Oswaldo dazu überreden, für Amaya eine Latrine zu bauen. Diesen egoistischen Russell würde sie einfach aus ihren Gedanken verdrängen und ihn nie mehr so nah an sich heranlassen. Als Juanita in ihre Palmhütte trat, merkte sie sofort, daß etwas nicht stimmte. Der Reißverschluß ihrer Reisetasche war offen. Jemand hatte in ihren Sachen gewühlt. Sie schaute sich die Unordnung genauer an. Wo war ihre Zahnbürste? Das Paar Ersatzschuhe? Hastig kramte sie in den wenigen Klei dungsstücken. Ihr kostbares Shampoo! Ihre Seife! Sie waren weg! Man hatte sie bestohlen!
10. KAPITEL Juanita blickte wütend um sich. Wer hatte etwas so Gemeines tun können? Gerade als sie entdeckt hatte, wie sehr sie sich den Eingeborenen gegenüber verpflichtet fühlte und glaubte, ihr Vertrauen gewonnen zu haben, wandten sie sich gegen sie. Hatte sie ihr bequemes Leben etwa nur aufgegeben, um Dieben zu helfen? Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. Richtigen Zorn hatte sie in ihrem bisherigen, verwöhnten und behüteten Leben noch nie gespürt. Jetzt zitterte sie vor Empörung, als sie die Dinge überprüfte, die die Diebe zurückgelassen hatten. Einen Rock, eine Bluse, etwas Unterwäsche und ihre Photoapparat. Sicher wußten sie nicht, was das war, sonst hätten sie ihn auch genommen. Ihr mexikanisches Kleid lag zum Glück zerknüllt in der Hängematte und war von den Strolchen übersehen worden. Nachdem ihr Zorn verraucht war, fühlte Juanita sich schrecklich allein. Und sie hatte Angst. Wenn die Indios sie bestahlen, wozu waren sie dann noch fähig? Es waren keine zivilisierten Menschen. Sie hatte gerade begonnen, sich mit ihnen zu verständigen, aber wußte sie, was in ihren Köpfen wirklich vorging? Juanita erinnerte sich an einige der finsteren Seiten des Eingeborenenlebens, die merkwürdigen Gifte und Getränke, die die Männer aus Blättern und Ranken der Umgebung brauten. Und hatte sie nicht feindselige Blicke ge erntet, als sie das Dorfoberhaupt bedrängt hatte, rings um die Hütten Latrinen bauen zu lassen? Juanita hatte plötzlich das Gefühl, in diesem Dschungeldorf völlig fehl am Platz zu sein. Verzweiflung stieg in ihr auf. Diese Indios hatten sogar ihre Zahnbürste gestohlen! Das war die größte Beleidigung. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das strähnig und klebrig von Schweiß und Staub war. Was hatten sie ihr sonst noch gelassen? Ihre Gitarre! Die hatten
sie nicht genommen. Merkwürdig, daß die Diebe ihre wertvollsten Sachen übersehen hatten. Wenn Russell sie nur nicht so angemacht hätte, dann wären sie jetzt noch Freunde, und sie könnte ihm ihr Herz ausschütten. Aber nachdem sie ihn so hatte abblitzen lassen, war das unmöglich. Einsamkeit und Heimweh überfielen sie. Erst der Tod des Babys, dann der Streit mit Russel und jetzt der Diebstahl. Es war einfach nicht fair! Die Wolken am Himmel färbten sich dunkel, der jeden Nachmittag einsetzende Regenschauer brach los. Die drückende, schwüle Luft schnürte Juanita fast die Kehle zu. Ihre Verzweiflung wuchs. Sie hätte nie hierherkommen sollen. Wenn Eddie jemals wieder mit seinem Kanu anlegte, würde sie darauf bestehen, daß er sie mit zurücknahm. Hier würde sie keinen Augenblick länger bleiben. Der Gedanken, kein Haarwaschmittel mehr zu haben, schien ihr unerträglich. Nach dem Regen würde sie sich zum Abkühlen in den Fluß stürzen, vielleicht fühlte sie sich danach besser. Juanita bezweifelte es. Bei dem Versuch, die Lebensbedingungen der Indios zu verbessern, war sie gescheitert. Ohne ihr Shampoo würde sie bald häßlich aussehen, und man würde sie noch weniger respektieren als bisher. Sollte sie jemals nach Blossom Valley zurückkehren, würde sie stumpfes, strähniges Haar haben wie in der „Vorher- Nachher" Werbung für Haarwaschmittel, und ihre Haut würde von Insektenbissen rui niert sein. Mom hatte von Anfang an recht gehabt. Dieses Leben war nichts für sie. Als das Unwetter vorüber war, zog Juanita ihren Badeanzug an und ging zum Fluß hinunter. Außerhalb des Dorfes sah sie ein paar Kinder bei umgefallenen Baumstämmen im Wasser spielen und hörte ihre fröhlichen Schreie. Sofort waren die Diebe entlarvt. Großzügig eingeschäumte Köpfe tauchten aus dem Orinoco auf, eine leere Shampooflasche schwamm an Juanita vorbei.
Tommy kam fröhlich auf sie zugehüpft. „Wir sind sauber! Unser Haar ist sauber!" Er hatte immer noch Schaumflocken auf dem Kopf. Dann zeigte er seine Zähne. „Sauber!" rief er. Juanita sah ein kleines Mädchen am Flußufer, das sich mit ihrer orangefarbenen Zahnbürste die Zähne putzte. „Alle sind sauber!" Tommy strahlte vor Stolz. Juanita entdeckte die leere, ausgequetschte Zahnpastatube am Ufer. Die Kinder sprangen um sie herum, jedes wollte zeigen, wie sauber es war. „Der Fluß hat die Seife mitgenommen", erklärte ein Mädchen. „Er hat auch versucht, die Schuhe zu nehmen." Das Kind war mit Juanitas zweitem Paar Tennisschuhe in den Fluß gewatet. Jetzt waren sie mit Schlamm gefüllt. Das erinnerte Juanita wieder daran, daß sie die Frauen dazu angehalten hatte, Sandalen zu flechten, um die Kinder vor Parasiten und Infektionen vom Boden zu schützen. Die Indiofrauen waren geübt darin, die Fasern des Urwaldes zu verarbeiten. Sie hatten ihre Geschicklichkeit bei Körben, Tabletts und anderen Haushaltsdingen unter Beweis gestellt. Auch die Wände der Hütten bestanden aus geflochtenen Matten. Aber für die Herstellung von Sandalen für alle Kinder hatte die Zeit nicht gereicht. Jetzt verstand Juanita auch, warum ihre Sachen geplündert worden waren. Die Kinder wollten ihr eine Freude machen! Sie hängte ihr mexikanisches Kleid an einem Zweig auf und watete ins Wasser. Die kleinen Eingeborenen zögerten, ihre Köpfe unterzutauchen, um nicht das letzte Restchen des faszinierenden Schaums wegzuspülen. Wahrscheinlich ist es sowieso der letzte Schaum, den sie jemals zu sehen bekommen, dachte Juanita. Sie schaute den Fluß hinunter, wo die leere Shampooflasche vor sich hin trieb. Als sie sich umdrehte, erblickte sie etwas anderes: ein Kanu. Keines der trägen Indiokanus - Motorengeräusch begleitete es, und es glitt schnell durchs Wasser.
Das konnte nicht wahr sein! Juanitas Verzagtheit war wie weggeblasen. Da kamen wirklich Eddie und Carl! Sie eitle ans Ufer und winkte. Eine dritte Person saß mit im Kanu, ein Mädchen. Als das Boot sich dem Ufer näherte, grüßten seine Insassen mit lautem Hallo. Juanita schrie zurück, die Kinder kamen angelaufen und stimmten ein, als sei es ein neues Spiel. Lachend schob Eddie das Kanu ans Ufer und machte es fest. Es war sehr lang und vollbeladen mit Kisten. „Unsere Ausrüstung!" rief Juanita. „Ja. Die Jungen und Mädchen hier können von jetzt an eifrig die Zähne putzen." Eddie hievte eine Kiste an Land. „Hallo, ich bin Ginger", stellte sich das Mädchen vor. Sie hatte unter dem Palmsonnendach gesessen und kam jetzt ans Ufer. Juanita begrüßte sie. „He, was ist denn mit denen passiert?" Carl zeigte auf die Köpfe der Kinder, wo der Schaum zu einer harten Kruste trocknete. „Die kleinen Rangen haben mein Shampoo stibitzt", erklärte Juanita. „Und jetzt wollen sie es nicht wieder abspülen." „Wir haben eine heiße Fahrt hinter uns." Eddie lachte. „Es wird mir ein Vergnügen sein, die Bande in den Fluß zu werfen und ihnen das Shampoo abzuschrubben." Nachdem er seine Drohung wahrgemacht hatte, halfen die Kinder ihm die Kisten in Juanitas Hütte zu tragen. „Hätte ich ja fast vergessen", sagte Carl. „Die Post ist auch da." Er nahm ein in Plastikfolie eingeschlagenes Päckchen aus dem Kanu und blätterte durch einen kleinen Stapel Umschläge. „Hier. Zu Hause hat jemand an dich gedacht." Juanita streckte eifrig die Hand aus und lehnte sich über den Rand des Kanus. Carl gab ihr einen Brief von Jeannette und einen von ihrer Familie. Ein dritter, dünner Umschlag kam dazu. An einer Ecke konnte sie den Namen Tom Goulding entziffern. Sie griff so schnell danach, daß Carl die ganze Post
aus der Hand fiel und sich im Kanu verteilte. Toms dünner Luftpostumschlag aber wurde ins Wasser geweht. „Schnell, hol ihn!" Juanita watete selbst in den Fluß, doch die Strömung nahm das blaue Blatt Papier rasch mit sich fort. „Kannst du denn nichts machen?" rief Juantia verzweifelt. „Wenn wir eine Harpune hätten, vielleicht." Eddie grinste sie an. „Paß auf, sonst fallen dir die anderen auch noch ins Wasser." „Hoffentlich war es nichts Wichtiges", meinte Carl. Juanita warf ihm einen wütenden Blick zu. Sie drückte die anderen beiden Umschläge an sich, während sie beobachtete, wie Toms Brief in einem Strudel verschwand. Das war der schlimmste Tag ihres Lebens! Sogar das lang ersehnte Kanu hatte nur Unglück gebracht. „Wo ist Russell?" fragte Eddie. „Ich habe Neuigkeiten für ihn." „Ich hab ihn seit ein paar Stunden nicht mehr gesehen." Juanita hoffte, daß Eddie nicht merken würde, wie wenig sie sich mit Russel verstand. „Ginger wird deine neue Partnerin. Ein Helfer in eurer anderen Gruppe hat eine Blinddarmentzündung bekommen und mußte mit einem Militärflugzeug nach Caracas gebracht werden. Ginger wartete zufällig auf ihrem Einsatz, und da haben wir sie gleich mitgebracht. Wir hielten es für das Beste, wenn sie mit dir zusammenarbeitet. Russell kommt dahin, wo der Junge ausgefallen ist." „Erwarte nicht zuviel von mir. Ich bin gerade erst angekommen und habe von nichts eine Ahnung." Ginger blickte sie ängstlich um. Die Sonne schien durch eine dunkle Wolke, die nach dem Regen übriggeblieben war, und ließ den Fluß wie ein stählernes Band erscheinen.
Juanita merkte, wie verwirrt Ginger war. Es lag jetzt an ihr, die neue Partnerin schnell einzugewöhnen. Jetzt, wo unsere Ausrüstung da ist, werden wir zwei alle Hände voll zu tun haben, um die verlorene Zeit wieder einzuholen", sagte sie. Eines der Kinder rannte los, um Russell zu holen. Er eilte, nur mit Khakishorts bekleidet, vom Dschungelrand herüber, wo er gelesen hatte. „Ich hatte euch schon fast aufgegeben!" rief er Eddie zu. Aber da sind wir und haben eine Neuigkeit für dich. Du kommst an einen anderen Platz." Eddie reichte Russell seine Post und erklärte ihm, daß er packen müsse und Ginger seinen Platz einnehmen würde. Juanita musterte Ginger, ein zartes Mädchen mit rotblondem Haar, und sie fühlte sich plötzlich sehr erwachsen und verantwortungsbewußt. Russell warf Juanita einen schrägen Blick zu. „Ich bin froh, daß ich versetzt werde. Hier wurde es mir sowieso zu langweilig." Eddie und Carl blieben über Nacht. Es war zu spät für die Heimfahrt, und außerdem wollten sie sehen, was ihre Schützlinge zustande gebracht hatten. Sie saßen in Juanitas Hütte und unterhielten sich, als eine Gruppe Frauen mit Rollen von gewebten Lianenfasern scheu herankam. Sobald sie die drei Fremden erblickten, erschraken sie und wollten sich wieder zurückziehen. Juanita ging zu ihnen und zeigte ihnen das Kanu und die Kisten. Sie öffnete eine der Kisten und führte ihnen die Zahnbürsten vor. Aufgeregt redeten die Frauen durcheinander. Eddie holte für jede eine Zahnbürste heraus. Dann hielt eine der Frauen Juanita eine aufgerollte Matte hin. Eine andere zeigte durch Gesten, wie die Matte am Dach der Hütte aufgehängt werden sollte, damit sie eine Wand bildete.
„Ich hab gesehen, daß sie daran arbeiteten, aber ich hatte ja keine Ahnung, daß es für mich sein sollte", rief Juanita erstaunt. Die sonst so ernsten Frauen tauschten erfreute Blicke aus, als sie Juanitas Begeisterung sahen. Gemeinsam befestigten sie die neuen Wände an den Decken- und Stützbalken der Hütte, um ihrer Besucherin mehr Privatsphäre zu verschaffen. Als alle Matten aufgehängt waren, sammelten die Frauen ihre Kinder ein und zogen sich in ihre eigenen Hütten zurück. „Das war wirklich eine Überraschung!" sagte Juanita. „Ich hab mich wie im Freien gefühlte, mit nur einer Wand hinten an der Hütte. Und diese Frauen haben es gemerkt. Das ist eines der schönsten Dinge, die mir jemals passiert sind. Und es betrifft dich auch, Ginger, denn wir werden hier zusammen wohnen." Ginger sah sich in der Hütte um. Sie schien noch immer reichlich verwirrt. „Ja, es ist ganz nett." „Wenn man bedenkt, daß ich noch vor kurzer Zeit wütend auf die Dorfbewohner war. Ich haßte sie alle." Juanita erzählte von ihrer Enttäuschung, als sie den Diebstahl ihrer Sachen bemerkt hatte. „Jetzt scheint das alles so unwichtig. Ich hielt sie für meine Feinde, aber nun fühle ich mich ihnen wirklich verbunden. Sie haben für mich gearbeitet und an mich gedacht. Sie wollten mir helfen, und dabei sollte ich ja diejenige sein, die ihnen hilft. Ich liebe das ganze Dorf." Eddie lachte. „Das ist eine der Lektionen, die man bei der Arbeit hier draußen lernt: Sich um den anderen zu kümmern. Die Indios kennen kein persönliches Eigentum wie wir. Was da in deinem Gepäck war, wurde von ihnen als Bereicherung für das ganze Dorf angesehen. Hier wird alles geteilt. Haben sie dich nicht mit Nahrung versorgt? Und du weißt, wie schwer die im Dschungel aufzutreiben ist. Jetzt erwarten sie von dir, daß du auch mit ihnen teilst."
„Außerdem habe ich Shampoo mitgebracht. Du kannst davon haben", bot Ginger an. „Bin ich froh, eine Zimmergenossin zu haben! Besonders eine mit Haarwaschmittel im Gepäck!" Der Nachmittag ging in den Abend über. Ein paar Kinder brachten einen Korb mit Früchten in Juanitas Hütte, und die Frauen kehrten mit der abendlichen Ration an Manocofladen zurück. Einer der Männer brachte frisch gefangenen Fisch. „Wir können ein Lagerfeuer machen", schlug Eddie vor. Genügend trockenes Holz war rasch gefunden. Der Fisch wurde gebraten, und Juanita holte ihre Gitarre hervor. Die ganze Gruppe sang, begleitet von den zwitschernden Vögeln, die sich zur Nachtruhe begaben. Ein prächtiger, rotgelber Papagei flog über den dunkler werdenden Wald. Russell rückte näher an Juanita heran und flüsterte: „Tut mir leid, daß ich mich heute so benommen habe. Ich wette, du bist froh, daß ich in ein anderes Dorf versetzt werde." „Vergiß es, Russell", antwortete sie. „Wir hatten am Anfang schlechte Karten, und jetzt, wo die Ausrüstung da ist, mußt du weg. Ich hoffe, du behältst mich nicht als unbarmherzige Sklaventreiberin in Erinnerung." „Keine Sorge. Ich werd mich bei meinem nächsten Posten mehr ins Zeug legen, aber dich werde ich nie vergessen." Eddie kündigte an, daß er nächste Woche einen richtigen Zahnarzt mitbringen würde. Der würde alle Zähne, die den Eingeborenen Schmerzen und Kummer bereiteten, behandeln oder ziehen. „Toll!" rief Juanita. „Nächste Woche findet in der Schule eine Fiesta statt. Wir haben einen Stand dort, und der Zahnarzt wird unsere Hauptattraktion werden." Die fünf jungen Leute hatten sich noch eine Menge zu erzählen. Dann befestigten Eddie und Carl ihre Hängematten
zwischen den Bäumen am Fluß. Russell gesellte sich zu ihnen. Ginger fand einen Balken, um ihre Hängematte neben der von Juanita aufzuhängen. „Du weißt gar nicht, wie schön es ist, Gesellschaft zu haben", sagte Juanita zu ihrer neuen Partnerin. „Ich bin so froh, daß du die Sitten und Gebräuche hier schon kennst und dich mit den Indios bereits angefreundet hast. Mir war echt bange vor dem Einsatz." ,Du brauchst dich nicht zu fürchten. Es gibt keine Hindernisse, die man nicht aus dem Weg räumen könnte. Jetzt, wo ich mich eingewöhnt habe, macht's sogar Spaß." Juanita war selbst erstaunt über ihre Antwort. Heute morgen hatte sie noch daran gedacht, alles hinzuwerfen und Eddie zu überreden, sie wieder mit zurückzunehmen. Woher waren ihr Mut und die Freude an ihrem Aufenthalt wohl gekommen? „Ich habe heute diese Briefe bekommen", erzählte sie Ginger. „Die erste Post von zu Hause. Einen Brief von meiner besten Freundin und einen von meiner Familie. Aber durch all die Aufregung mit dir und unserer Ausrüstung, den neuen Wänden für die Hütte und unserem Beisammensein heute abend habe ich ganz vergessen, sie zu lesen. Jetzt ist es zu dunkel." „Dann hast du noch etwas, auf das du dich für morgen freuen kannst." Juanita erzählte auch, was mit Toms Brief passiert war. „Ich war nicht einmal sicher, ob er mir überhaupt schreibt. Jetzt werde ich nie erfahren, was er mir sagen wollte. Seit ich hier bin, hatte ich eine Menge Zeit zum Nachdenken. Dabei ist mir aufgegangen, daß Tom mir viel mehr bedeutet als jeder Junge bisher." „Vielleicht wird der Brief an Land gespült." „Wahrscheinlich hat ihn jetzt schon ein Alligtor verspeist." „Ein Alligator! Hast du hier am Fluß schon mal einen zu Gesicht bekommen?"
„Nicht direkt hier. Aber auf unserem Weg hierher. Mach dir keine Sorgen, ich bade jeden Tag im Fluß." „Gott sei Dank, daß du zuerst hierhergekommen bist. Mit dir fühle ich mich richtig sicher." Juanita lag noch wach, als Ginger schon eingeschlafen war. Toms Brief ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie stellte sich vor, wie er ans Ufer gespült wurde und an einem Zweig hängenblieb. Von dort brauchte sie ihn nur noch abzupflücken und in der Sonne trocknen zu lassen. Der Brief mußte eine beschwerliche Reise hinter sich gehabt haben. Welche Laune des Schicksals, daß er ihr am Ziel noch von einem Strudel des Orinoco entrissen worden war! In Gedanken setzte Juanita einen Brief an Tom auf. Sollte sie ihm schreiben, daß es ihr fast das Herz aus dem Leib gerissen hatte, als sein Umschlag gerade als sie seinen Namen darauf erkannt hatte, davongeflattert war? Sie versuchte auch, sich auszumalen, was er ihr wohl geschrieben hatte. Vielleicht von Enttäuschungen in seiner Arbeit oder von den Fortschritten, die er bereits erreicht hatte. Am meisten beschäftigte sie jedoch die Frage, ob er mit ; „In Liebe, Dein Tom" unterschrieben hatte. Juanita las ihre beiden Brief am nächsten Morgen. Ihre Familie hatte eine Woche an der Küste verbracht, und einer ihrer Brüder hatte sich beim Volleyball den Finger gebrochen. Alle waren sehr besorgt um Juanita, weil sie so weit weg war, und hofften, daß sie bald wieder gesund nach Hause zurückkehren würde. Jeannettes Brief war voller Klatsch darüber, wer in Blossom Valley mit wem ging, was im „Purple Alligator", im Eissalon und in der Pizzeria los war und wie Jeannettes neuester Schwarm sich anließ. Nichts davon schien Juanita besonders wichtig. Blossom Valleys Teenager-Treffpunkte waren langweilig und steif, verglichen mit ihrem jetzigen Leben.
Eddie und Carl inspizierten das Dorf, bevor sie wieder zurückfuhren. Als Gruppenleiter mußte Eddie Buch über die einzelnen Verbesserungen führen, und er beglückwünschte Juanita zu ihrer Idee mit den geflochtenen Sandalen und auch dazu, daß sie selbst Zahnbürsten hergestellt hatte, während sie auf die Ausrüstung wartete. Sie erzählte von dem Tode des Babys und von ihrem Einfall, Zement beim Latrinenbau durch ausgehöhlte Baustämme zu ersetzen, damit es schneller voranging. „Gute Idee", lobte Eddie. „in einigen Missionarssiedlungen wurde das auch schon gemacht." „Und ich dachte, es sei allein auf meinem Mist gewachsen." Juanita lachte. „Das Wichtigste ist, daß du improvisierst und den Eingeborenen zeigst, was sie mit dem, was der Dschungel ihnen bietet, anfangen können." Eddie versprach, alles Nötige für den Latrinenbau zu bringen, wenn er mit dem Zahnarzt das nächstemal vorbeikam. Er und Carl brachen ihr Lager ab und bereiteten sich auf die Abreise vor. „Wartet noch, bis ich meinen Brief fertig habe", bat Juanita. Sie steckte die Notizen, die sie für Tom gemacht hatte in einen Umschlag, und fügte noch hinzu, welches Unglück mit seinem Brief passiert war. Eddie zog an der Motorschnur, und nach ein paar Fehlzündungen nahm das Kanu seine Reise flußabwärts auf. Russell saß mit seinem Gepäck unter dem Palmendach. Ginger hakte sich schutzsuchend bei Juanita ein. „Du hattest einen Jungen hier, jetzt hast du nur noch mich - unerfahren und heimwehkrank", sagte sie. „Jungs können manchmal mehr Ärger machen, als sie wert sind", erwiderte Juanita. „Ich bin froh, daß du da bist." Während sie am Ufer entlanggingen, suchten ihre Augen zwischen den Pflanzen nach Toms Brief oder wenigstens nach einem Stückchen davon.
11. KAPITEL Nachdem Eddie, Carl und Russell fort waren, wurde Ginger wieder blaß und nervös. Obwohl sie sich an Juanita klammerte, schien sie sich innerlich immer mehr zurückzuziehen, je weiter sich das Kanu vom Dorf entfernte. „Jetzt gibt es nur noch dich und mich", sagte sie und blickte ängstlich auf die massive grüne Wand, die der Urwald bildete. „Dich und mich und eine ganze Menge Dorfbewohner." Juanita bemühte sich um einen unbekümmerten Ton, ahnte jedoch Schlimmes. Ginger zeigte alle Anzeichen von Heimweh. Sie mußte getröstet und ermuntert werden. Ihr kam es vor, als nähmen ihr Partner mehr Zeit in Anspruch als die Indios, denen sie eigentlich helfen wollte. „Du weißt gar nicht, wie lange ich auf diesen Augenblick gewartet habe", fuhr sie fort. „Endlich ist die Ausrüstung da. Lach nicht, wenn ich dir zeige, was wir als Notbehelf zum Zähneputzen benutzt haben." Sie holte eine der Zahnbürsten aus Zweigen und öffnete dann die Kisten, die Dutzende von Zahnbürsten, Zahnpastatuben und Zahnseide enthielten. „Schau mal hier! Damit werden wir viel Spaß haben!" Gingers bedrücktes Gesicht zeigte keinerlei Interesse. Luftballons, Frisbees, Trillerpfeifen, alle möglichen Spielsachen für die Kinder." Die Mädchen saßen vor ihrer Hütte. Plötzlich stieß Ginger einen Schrei aus. Sie klammerte sich zitternd an Juanita und hätte sie fast umgestoßen. „Da war etwas im Busch. Ein Tier!" rief sie. Juanita folgte ihrem entsetzten Blick. „Das war nur ein Äffchen, das zum Fluß gegangen ist, um zu trinken, Ginger." „Ich bin ziemlich schreckhaft, nicht wahr?"
„Das ist mir zuerst genauso ergangen. Es dauert auch ein paar Tage, bis du dich an die Gesichter der Eingeborenen gewöhnt hast." Die Dorfbewohner interessierten sich wegen ihres rotblonden Haares und der bemsteinfarbenen Augen sehr für Ginger. Tommy nannte sie „La sefforita de oro". „Na, wie findest du das?" sagte Juanita. „Du bist für sie das ‚goldene Mädchen'." Ginger war zart gebaut und etwas kleiner als Juanita, die sich wie eine ältere Schwester vorkam. Realistisch gesehen brachte es ihr jedoch nichts, wenn sie Ginger verhätschelte und immer nur bedauerte. „Russell und ich hatten überhaupt keine Ausrüstung", fuhr sie in sachlichem Ton fort. „Daher konnten wir auch noch nicht viel tun. Jetzt, wo du hier bist und auch die Sachen, wollen wir uns gleich an die Arbeit machen." „Ich glaube nicht, daß ich von großem Nutzen sein werde. Ich finde bestimmt keinen Kontakt zu den Dorfbewohnern", erwiderte Ginger. Juanita beschloß, ihre neue Partnerin genau wie Russell zu behandeln. „Reiß dich zusammen. Heute ist dein erster Tag, aber wir haben nur noch fünfunddreißig Tage übrig. Wir müssen das Beste daraus machen. Natürlich wirst du mit den Indios klarkommen, dafür bist du ja hier." Der rauhere Ton riß Ginger aus ihrer Lethargie. „Jetzt komm. Ich habe Oswaldo unten am Fluß gesehen", sagte Juanita. „Er ist das Oberhaupt. Du wirst dich ihm vorstellen, und dann werden wir ihn gemeinsam dazu überreden, das Latrinenprojekt in Angriff zu nehmen." Sie nahm Gingers Arm und zog das Mädchen hinter sich her. Nachdem sie Oswaldo ihre neue Partnerin vorgestellt hatte, erklärte Juanita dem Mann noch einmal, wie wichtig es sei, daß die Männer des Dorfes Latrinen aushoben, damit die Kinder nicht an solchen Krankheiten starben wie Amayas Baby.
„Ja, ich weiß, was du meinst." Oswaldo runzelte die Stirn. „Ich habe solche ,casetas' hinter den Wasserfällen gesehen. Aber die Männer werden protestieren. Sie sind erschöpft. Und sie haben zuviel anderes zu tun. Ist es nicht genug, daß sie jagen, das Dorf mit Fleisch versorgen, Kanus bauen und repa rieren und Hütten errichten? Erst gestern haben sie eine neue Hütte für Amaya gemacht." „Aber sie verbringen auch viel Zeit damit, curare’ und aguardiente' herzustellen", erinnerte ihn Juanita. Mariana hatte ihr das verraten. Curare' war ein Gift, das sie den wilderen Indios für deren Giftpfeile verkauften, und ,aguardiente' ein alkoholisches Getränk. Wenn die Männer zuviel davon tranken, wurden sie oft zu benommen, daß sie zu nichts mehr fähig waren. „Es ist doch nützlicher, wenn sie ihre Zeit damit verbringen, casetas' zu bauen", fuhr Juanita fort. „Das trägt zur Gesundheit des ganzen Dorfes bei. Da du weise und mächtig bist, mußt du sie dazu überreden." Die Schmeichelei wirkte. Oswaldo willigte ein, mit Amayas Mann zu sprechen und auch den anderen die Wichtigkeit des Projektes darzulegen. Juanita lächelte. „Du wirst die modernste und gesündeste Siedlung am ganzen Fluß haben." Auch Oswaldo lächelte bei dieser Vorstellung. Nachdenklich machte er sich auf den Weg zum Dorf. „Du bist wirklich super!" rief Ginger. „Wie du ihn rumgekriegt hast." ,Noch ist nichts gewonnen." Juanita blieb skeptisch. „Wir müssen jeden Tag hinter ihm her sein, bis wir Resultate zu sehen kriegen. Sobald du dich an das Dorfleben gewöhnt hast, wirst du mir dabei helfen." „Ich könnte die Männer nie zu etwas überreden." „Wenn ich das kann, dann kannst du es auch. Wo bleibt dein Selbstvertrauen, Ginger?"
„Zu Hause in Seattle hat jeder meinen Mut bewundert und meine Selbständigkeit, als ich mich bei HFDW eingetragen habe. Jetzt, wo ich hier bin, fühle ich mich gar nicht mehr so mutig." „Das wird schon noch kommen. Wart's nur ab." An den ersten Tagen blieb Ginger noch am Ufer sitzen, während Juanita im Fluß badete und es genoß, sich wieder die Haare waschen zu können. Wenn sie sich auch hin und wieder Gedanken machte, daß sie ihre Badewanne' vielleicht mit einer Anakonda oder einem Schwarm Piranhas teilen könnte, so ließ sie sich Ginger gegenüber nichts anmerken. Sie tobte und platschte mit den Kindern herum, bis die Sonne und die Hitze Ginger schließlich ebenfalls ins Wasser trieben. Juanita mußte ihre Partnerin auch überreden, die Tapiokafladen zu essen, die die Indiofrauen ihnen brachten. ,Das schmeckt ja wie Kleister", protestierte Ginger. „Und was das wohl für Fleisch sein mag? Ihh!" „Das ist Wildschwein. Am Orinoco ißt man eben, was die Eingeborenen auch essen", belehrte Juanita sie. „Als wir bei HFDW eintraten, haben wir uns einverstanden erklärt, auf Luxus zu verzichten und für kurze Zeit so zu leben wie die Einheimischen. Und weißt du was? All die Bequemlichkeiten, die ich zu Hause habe, sind gar nicht mehr wichtig für mich. So sehr habe ich mich schon an dieses Leben gewöhnt. Ich fühle mich wohl hier und habe gelernt abzuwarten, was jeder neue Tag bringt. Die Gewöhnung an einen völlig anderen Lebensstil ist wohl das Größte, was ich bisher in meinem Leben vollbracht habe." "Ich bewundere dich, Juanita, und ich werde mich bemühen, so zu werden wie du. Wenn wir fünf Wochen zusammen sind, müssen deine gute Eigenschaften doch auf mich abfärben, oder?" „Danke für das Kompliment."
In dieser Nacht erzählten sich die beiden Mädchen ihre Lebensgeschichte. Ginger hatte eine ältere Schwester, die vor drei Jahren bei HFDW mitgemacht und sie überredet hatte, das gleiche zu tun. Ginger mußte also mit einem überzeugenden Bericht zurückkommen. Dann planten sie den nächsten Tag. Sie wollten zur Schule hinübergehen, damit Ginger Mariana kennenlernen konnte. „Sie wird dir gefallen! Mariana ist wirklich nett, nur ein Jahr älter als wir und schon Lehrerin. Sie spricht spanisch genauso gut wie die Sprache der Indios. Wenn wir hier wieder weg müssen, wird sie unsere Arbeit weiterführen", sagte Juanita, bevor sie einschliefen. „In ein paar Tagen ist die Fiesta. Wir müssen uns noch überlegen, wie wir unseren Stand dekorieren", sagte Juanita zu Ginger, als sie am nächsten Tag über den Urwaldpfad zur Schule gingen. „Mariana wird uns Material dazu geben." Auf dem Weg sahen sie eine große Schlange von einem Baum herabhängen. Ginger begann zu schreien und Juanita war auch nahe daran, hielt sich aber noch rechtzeitig unter Kontrolle. „Diese Schlangen haben mehr Angst vor uns, als wir vor ihnen", sagte sie mit einer Sicherheit, die sie eigentlich gar nicht empfand. Ginger hakte sich bei ihr unter, und sie gingen weiter. Mariana freute sich sehr, als die beiden ankamen. Sie schickte die Schüler zum Spielen hinaus, damit sie sich ungestört mit ihren Gästen unterhalten konnte. „Unsere Ausrüstung ist jetzt endlich gekommen", erzählte Juanita. „Wir haben für jeden deiner Schüler eine Zahnbürste mitgebracht." Mariana rief die Schüler wieder herein, und Juanita erklärte ihnen, daß sie ihre Zähne pflegen mußten, wenn sie im Alter noch welche haben wollten. „Meine Mutter hat Zahnschmerzen", sagte ein Mädchen.
„Während der Fiesta kommt ein Arzt hierher. Er wird deine Mutter behandeln, damit sie keine Schmerzen mehr hat." Dann stellte Juanita ihre neue Partnerin vor. „Ginger wird ein paar Wochen bei uns bleiben. Sie hat ein Geschenk für jeden von euch mitgebracht." Ginger verteilte die Zahnbürsten und erwärmte sich mehr für die Kinder, als sie ihr dankbares Lächeln sah. „Jetzt wird Ginger euch zeigen, wie ihr diese Bürsten zum Zähneputzen benutzt." So ins Rampenlicht gestellt, taute Ginger rasch auf, und ihre Begeisterung übertrug sich auf die Klasse. „Es wird Zeit zum Gehen", meinte Juanita schließlich, denn die Schlange fiel ihr wieder ein. „Wir wollen im Urwald nicht von der Dunkelheit überrascht werden." „Mariana scheint wirklich nach Gesellschaft zu hungern", bemerkte Ginger, als sie den ausgetretenen Wiesenpfad entlang in den Dschungel gingen. „Ja. Durch ihre Bildung unterscheidet sie sich von den anderen Indiofrauen." „Und durch ihren Beruf. Die anderen graben doch nur den ganzen Tag Maniowurzeln aus und zerstampfen sie." „Hab ich dir schon gesagt, daß Amaya in der Hütte neben uns erst fünfzehn ist und schon ein Baby hatte, das gestorben ist? Sie erwartet bald wieder eins." „Du willst mich wohl auf den Arm nehmen?" „Die älteste Dorfbewohnerin ist fünfundvierzig", fügte Juanita hinzu. "Und sie sieht älter aus als meine Großmutter." „Das ist ein hartes Leben hier draußen." Ginger wurde nachdenklich. „Ich bin froh, daß ich hierher gekommen bin und ein bißchen dazu beitragen kann, daß es leichter wird." Die Mädchen unterhielten sich, bis sie das Dort erreichten.
„Soll ich dir was verraten?" Ginger lachte erleichtert. „Ich hab' mich am Anfang so vor der Stelle gefürchtet, wo die Schlange war, und jetzt sind wir daran vorbeigegangen, ohne daß ich es gemerkt habe." „Du fängst eben an, dich an das Leben hier zu gewöhnen." Mariana hatte den Mädchen noch mehr Sachen mitgegeben, damit sie weitere Plakate für die Fiesta machen konnten. Aber es wurde schnell dunkel, und sie hatten keine Zeit mehr, damit anzufangen. Die Tiere der Nacht wurden aktiv. Ginger fürchtete sich, als etwas über das Palmdach der Hütte huschte. „Ich wünschte, meine Hängematte wäre näher an deiner. Heute nachmittag glaubte ich schon, ich hätte mich an alles gewöhnt, aber das war wohl ein Irrtum." „Entspann dich, Ginger. Hier wird uns nichts passieren. Bevor du kamst, war ich allein und mußte die Geräusche einfach überhören." „Wenn ich mir das vorstelle, schäme ich mich richtig, daß ich Angst habe. Du sagst, ich soll mich entspannen, okay, ich entspanne mich. Du bist mein Vorbild, und du wirst sehen, ich schaff das schon." Juanita freute sich über das Lob ihrer Hüttengenossin. Keiner hatte sie bisher als Vorbild oder gar als Quelle der Kraft angesehen. Gingers Meinung bestärkte sie in ihrem neuen Selbstvertrauen, das sie langsam zu entwickeln begann. Juanita hatte plötzlich das Gefühl, alles für das Dorf erreichen zu können. Sie gehörte einfach dazu. Das sanfte Plätschern des Flußes wiegte sie in den Schlaf. In die Fiesta hatten alle große Hoffnungen gesetzt. Palmbedeckte Stände wurden rund um die Schule errichtet. Juanita und Ginger hatten noch eine Zeichnung von Zähnen angefertigt, auf der zu sehen war, wie die Wurzeln geformt waren. Sie zeigten den Indios, wie man sich richtig die Zähne putzt, nämlich mit kreisenden Bewegungen vom Zahnfleisch
zum Zahn und nicht nur durch Hin- und Herbürsten. Dann verteilten sie Zahnbürsten und beschworen die Männer und Frauen, sparsam mit der Zahnpasta umzugehen. Eddie, Carl und sogar Leo waren mit Dr. Gancher, dem Zahnarzt, gekommen. Sie hatten viele kleine Geschenke wie Windrädchen und Spiegel im Gepäck. Dr. Gancher hatte sich ein paar Wochen von seiner Praxis freigemacht, um den Fluß hinunterzufahren und den Erwachsenen in den Dörfern die kranken Zähne zu zie hen. „Kaum zu glauben, aber sie schreien nicht einmal, wenn er einen Zahn zieht!" rief Ginger, während sie die lange Schlange beobachtete, die sich vor dem Stand des Arztes gebildet hatte. Alle wollten sich die Schmerzen nehmen lassen. Gegen Abend standen Tanz und Festschmaus auf dem Programm. „Seid vorsichtig", warnte Eddie. „Die Männer haben eine Art Schnaps, den sie aquardiente' nennen, gebraut. Bevor der Tag zu Ende ist, können sie ziemlich ausgelassen werden." „Oder das Gegenteil." Juanita zeigte auf ein paar Indios, die unter einem Baum ihren Rausch ausschliefen. „Wie wär's mit einem Tänzchen?" Eddie schnappte sich Juanita, und sie versuchten, die Tanzschritte der Indios nachzumachen. Diese applaudierten fröhlich. Carl und Ginger probierten es ebenfalls, und der Zahnarzt kam mit Mariana als Partnerin. „Ich bin froh, daß die Eingeborenen mal ein bißchen Spaß haben", sagte Juanita. „Sie arbeiten so hart, um Nahrung herbeizuschaffen und zuzubereiten und ihre Häuser zu reparieren. Dabei müssen sie sich auch noch die ganze Zeit mit dem Urwald und dem Fluß herumschlagen. Sie brauchen wirklich einmal eine Atempause." „Das kannst du laut sagen", meinte Ginger.
Und Dr. Gancher fügte hinzu: „Ich hoffe, daß ich wenigstens einige von ihren Schmerzen befreien konnte." „Ginger und ich wünschen uns, daß wir, wenn wir das Dorf wieder verlassen, alles erreicht haben, was ein paar Teenager nur schaffen können." „Du wirst doch deine Gitarre nicht einrosten lassen?" Eddie war in ausgelassener Festlaune. Die Dämmerung war bereits angebrochen. Juanita holte das Instrument, und bald klang ihre klare Stimme über den Festplatz. Als sie mit ihrem Lied fertig war, tauchten wie von Zauberhand weitere Gitarren auf. Eingeborenenlieder klangen durch die Nacht, begleitet von dem gleichmäßigen Rauschen des Orinoco. Erst als es stockfinster geworden war, brachen die Menschen auf. Sie gingen in verschiedenen Richtungen durch den Regenwald nach Hause. Eddie, Carl und Dr. Gancher wollten ihre Hängematten für die Nacht am Fluß aufspannen. Als die drei am nächsten Morgen abfuhren, versprach Eddie, bei seinem nächsten Besuch Zement mitzubringen und vielleicht einen Helfer, der die Arbeit an den Toilettenhäuschen beaufsichtigen konnte. „Und bring mehr Post mit", schrie Juanita ihm nach. Mit lautem Motorengebrumm fuhr das Kanu flußabwärts. „Du denkst oft an deinen Freund zu Hause." Ginger schaute ihre Partnerin mitleidig an, während sie zur Hütte zurückgingen. Juanitas Gedanken schweiften zu Tom. Wenn sie doch nur für eine Stunde mit ihm zusammen sein könnte, um ihm zu erzählen, was sie im Urwald alles erlebt hatte. Das Team Ginger/Juanita würde ihm von beachtlichen Erfolgen berichten
können, das nahm sie sich fest vor. Schließlich hatte er sie angeworben. Ihr Erfolg war zum Teil auch sein Erfolg. Plötzliche Aufregung in der Nachbarshütte riß sie aus ihren Träumereien. Sie hörte gedämpfte Stimmen und eilige Schritte. Dann verebbte das Geräusch. Juanita schlummerte ein, doch wenig später wurde sie durch den Schrei eines Neugeborenen geweckt. Das mußte Amayas Baby sein! Wie hatte sie dieses Ereignis nur verpassen können? Zu Hause im Training hatte sie gelernt, wie man sich in einem solchen Fall verhält. Aber dieses Baby war ohne großes Aufheben und ohne ihre Hilfe einfach so auf die Welt ge kommen. Einige der Nachbarsfrauen standen um Amayas Hütte herum, als Juanita einen Blick hineinwarf, um den jüngsten Dorfbewohner zu begrüßen. Ginger betrachtete das Baby voll Ehrfurcht. „Wir müssen dafür sorgen, daß es gesünder aufwächst als Amayas erstes Kind", sagte Juanita. Später führte sie Oswaldo und Amayas Mann noch einmal vor Augen, wie wichtig es ist, Latrinen zu bauen, damit das Baby keine Krankheiten bekam. „Du bist so unnachgiebig!" rief Ginger, als Juanita die Männer des Dorfes immer wieder drängte, doch die notwendigen sanitären Einrichtungen zu schaffen. Und sie hatte Erfolg damit. Juanita stieß einen Triumphschrei aus, als endlich die ersten Gruben ausgehoben und kleine Holzhäuschen daraufgesetzt wurden. Das Sanitärprojekt war bereits in vollem Gange, als Eddie mit einem Spezialisten den Fluß herunterkam. In den verbleibenden Wochen konzentrierten sich Ginger und Juanita auf die Zahnpflege. Die Zeit verging schnell, und die Dorfkinder, mit denen sie oft spielten und die ihnen
überallhin folgten, waren fast schon wie jüngere Geschwister für sie. „Ich kann kaum glauben, daß wir bald wieder nach Hause müssen", sagte Ginger, als sie auf dem ausgetretenen Dschungelpfad zur Schule gingen, um sich von Mariana zu verabschieden. Ich werde euch vermissen." Mariana war traurig. „Es war ein glücklicher Zufall für mich, mal einen Sommer lang mit gebildeten Frauen sprechen zu können. Jetzt werde ich wieder sehr allein sein." Juanita berührte es tief, daß Mariana sie als „gebildet" bezeichnete. Ja, es stimmte. Hier im Dorf galt sie als Erwachsene. Zu Hause dagegen wurde sie noch wie ein Kind behandelt. „Ich hatte mir ein paar Bücher zum Lesen mitgebracht", sagte sie. „Sie stehen für das nächste Schuljahr auf der Literaturliste, und ich wollte mich schon ein bißchen vorbereiten. Ich lasse sie dir hier, damit du dein Englisch nicht verlernst. Sie werden dir sicher gefallen, denn die Geschichten spielen an einem großen Fluß in den USA, dem Mississippi." „Mark Twain!" rief Mariana begeistert. „Ich habe schon von ihm gehört, aber in unserer Stadt können wir solche Bücher nicht kaufen. Ich werde sie hoch in Ehren halten." Mit Tränen in den Augen drückte sie die beiden Bände von ,Tom Sawyer' und Huckleberry Finn' an sich. „Du wirst eine Menge merkwürdiger Ausdrücke aus der englischen Umgangssprache darin finden. Hoffentlich kannst du sie verstehen." „Vielleicht besuchst du uns mal in den USA", fügte Ginger hinzu. Marianas Gesicht wurde wieder traurig, sie blickte zu Boden. „Es un sueno imposible°, antwortete sie. „Ein unerfüllbarer Traum."
„Vielleicht sind wir ja nächstes Jahr wieder da", tröstete Ginger sie. Marianas Miene erhellte sich. „Bitte kommt, das wäre schön!" „Wir waren nur sehr kurze Zeit hier", sagte Juanita. „Aber wir hoffen, daß die Dorfbewohner das, was wir ihnen beigebracht haben, nicht gleich wieder vergessen, wenn wir weg sind. Vor allem die Kinder müssen tun, was wir sie gelernt haben. Vielleicht kannst du ..." „Eure Botschaft ist bei mir angekommen. Jeden Tag werden wir eine Unterrichtsstunde der Gesundheit widmen. Ich werde fragen, ob die Schüler sich die Zähne geputzt haben, ob sie nährstoffreiches Essen zu sich nehmen und sich und ihre Umgebung sauber halten." „Im ersten Schuljahr hat der Lehrer uns immer gefragt, was wir gefrühstückt hätten. Wir haben uns einen Spaß daraus gemacht und Eiscreme oder Kuchen gesagt", erinnerte sich Ginger lachend. „Das wird bei mir nicht passieren, denn diese Kinder kennen solchen Luxus nicht", erwiderte Mariana. Die Mädchen mußten sich verabschieden. Juanita wußte, daß sie die tapfere Person nie vergessen würde, die einsam neben ihrem Schulhaus aus Lehm stand, die geliebten Bücher an die Brust drückte und ihnen zum Abschied zuwinkte.
12. KAPITEL Juanita fühlte Abschiedsschmerz, als sie zum letzten Mal durch den Dschungel zurück zum Dorf ging. Sie würde sogar die Affen vermissen, die sich über ihrem Kopf von Lianen auf die Äste der Bäume schwangen. Genau wie den Geruch nach feuchter Erde, verwesendem Laub und Pilzen, den warmen Nachmittagsregen auf ihrer Haut und das Rauschen des Orinoco. Sie würde das Lachen der Dorfkinder vermissen, wenn sie mit einem Zweig Hüpfkästchen in den weichen Ufersand ritzten, oder bei einem Ballspiel, das Juanita ihnen beigebracht hatte, auf der Lichtung herumtobten. Sie drückte ein leztes Mal Amayas Baby an sich. Seine Haut war noch rot und es hatte weichen Flaum auf dem Köpfchen. Sobald Juanita als auch Ginger ließen die meisten ihrer Sachen bei den Eingeborenen zurück. Seife, Shampoo und alles, was die Indios brauchen konnten. Als Eddie mit dem Kanu kam, um die Mädchen abzuholen, brachte er ein paar kleine Geschenke mit. Spielzeugboote für die Jungen und Puppen für die Mädchen, Flöten, Mundharmonikas und auch eine neue Decke für Amayas Baby. Um den Abschied nicht so schwer zu machen, erzählte Juanita den Dorfkindern, daß sie versuchen würde, eines Tages zurückzukommen, obwohl sie wußte, daß das nie der Fall sein würde. Ginger, die nur halb solange wie Juanita im Dorf gewesen war, freute sich schon auf den vor ihnen liegenden Tag in Caracas und darauf, in Miami noch ein paar Freunde zu treffen, bevor sie wieder nach Seattle flog. Das Kanu durchschnitt das Wasser des Orinoco, der von unsichtbarem Leben wimmelte. Hier und da flog ein bunter Vogel am dunklen Hintergrund des Dschungels vorbei. Alles schien Juanita jetzt anders als bei ihrer ersten Fahrt auf dem Fluß. Inzwischen waren ihr tatsächlich mehrere dieser riesigen
Reptilien vor Augen gekommen, sie hatte flüchtig einen Panther und die vielen kleinen, dahinhuschenden Tiere des Urwalds gesehen. Sie konnte sich nun vorstellen, wie die Indiomänner durch das dichte Buschwerk schlichen, immer auf der Suche nach Nahrung für ihre Familie. Diese fremde Welt, die sie gerade erst begonnen hatte kennenzulernen, verschloß sich ihr jetzt wieder, als würde ein Fensterrolladen zugezogen. Sie erreichten die unpassierbaren Wasserfälle, stiegen in den Bus um und dann in das kleine Flugzeug nach Caracas. Juanita und Ginger konnten auf ihre Erfolge stolz sein. Das wurde sowohl in Caracas als auch in Miami deutlich, wo die HFDW-Freiwilligen kurze Berichte über ihre Arbeit ablegten. Bei dem Treffen in Miami sah Juanita auch Russell wieder. „In dem zweiten Dorf bin ich richtig in Fahrt gekommen", erzählte er ihr. „Diese Margie war einem Zusammenbruch nah, weil ihr Partner sie mit einer akuten Blinddarmentzündung im Stich gelassen hatte und sie ein paar Tage allein im Urwald verbringen mußte. Also habe ich sie erst mal wieder aufge heitert und auf Trab gebracht. Und bis unserer Abreise haben wir alles durchgesetzt, was wir uns vorgenommen hatten. Da drüben ist Margie, komm, ich stelle dich ihr vor." In Miami trennten sich die Wege der Freiwilligen wieder. Nach der Stille und dem einfachen Leben am Ufer des Orinoco empfand Juanita den Lärm und das Gedränge in der Stadt und am Flughafen als störend. Es ging ihr richtig auf die Nerven. Sie schnallte sich auf ihrem Platz in dem großen Flugzeug an und dachte daran, daß sie in derselben Zeit über den großen Kontinent eilen würde, die man brauchte, um im Kanu von den Wasserfällen bis zum Dorf zu gelangen. Tom schlich sich in ihre Gedanken ein. Er hatte ihr nicht mehr geschrieben, und sie fragte sich, ob er ihren Brief wohl bekommen hatte. Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, was sie ihm geschrieben hatte, hoffte aber, daß ihre Gefühle nicht mit ihr durchgegangen
waren und sie mehr preisgegeben hatte, als er erfahren sollte. So ein Brief konnte peinlich werden, wenn sich am Ende des Jahres alle freiwilligen Helfer in Fruitville trafen, um Erfahrungen auszutauschen. Juanita wurde nervös, als sie sich dem Flughafen von San Fransisco näherte, wo ihre Familie wartete. Die Reise nach Venezuela schien bereits. weit in der Vergangenheit zu liegen, während Blossom Valley sich als riesige, drohende Wand vor ihr aufbaute. Ihre Kleider, zuletzt im Fluß gewaschen, waren zerknautscht und lappig. Ohne Make-up war ihre Haut trocken geworden und sonnenverbrannt. Ihr Haar, selbst wenn es im Indiodorf in Ordnung gewesen wäre, würde in Blossom Valley katastrophal aussehen. Was würde Großmutter von ihren Händen halten, mit denen sie geholfen hatte, Latrinengruben auszuheben und Steine für das Hüpfkastenspiel aus dem Boden zu graben? Ihre Nägel waren abgebrochen und hatten Trauerränder. Seit Wochen schon hatte sie keine Handcreme mehr benutzt. Sie war nicht mehr die Person, die ihre Familie am Flughafen verabschiedet hatte, und würde vielleicht nie mehr so werden. Was würde sie zu Hause erwarten? Juanita sah sie den Korridor entlangkommen - ihre Mutter, ihren Vater und ihre drei Brüder. Jeder wollte sie zuerst umarmen. Es war das erste Mal gewesen, daß ein Mitglied der Familie von den anderen getrennt gewesen war. „Großmutter konnte nicht kommen, ihr Rheuma ist schlimmer geworden. Sie kann es aber kaum erwarten, dich zu sehen", sagte ihr Vater. „Was haben sie nur mit dir gemacht!" Mrs. Alarcon schauderte beim Anblick ihrer Tochter. „Du hast abgenommen - und deine Kleider! Sicher bist du ohne Sonnenschutz draußen herumgelaufen. Woher kommen denn die Striemen an deinen Beinen? Und wie sieht bloß dein Haar aus?"
Dr. Alarcon konnte den Blick nicht von seiner Tochter wenden. „Sie hat sich draußen in der Wildnis bewähren müssen", sagte er. Er schien selbst auch ein wenig verwirrt, aber voller Respekt. „Du siehst müde aus, Schwesterchen", meinte Jason. „Fast hätten wir deinen - na, wie heißt der noch? vergessen." William grinste. „Da ist so ein Typ, der dich auch begrüßen will." Damit zeigte er auf Tom, der etwas abseits stand und nervös von einem Bein aufs andere trat. Als Juanita ihn erkannte, kam er zu ihr herüber. „Ich wollte die Wiedervereinigung der Familie nicht stören. Du siehst toll aus", sagte er. „Du auch." Juanita war wie vom Donner gerührt. Tom war dunkelbraun gebrannt, und die Sonne hatte goldene Strähnen in sein dunkles Haar gezaubert. Er trug ein altes T-Shirt und Khakishorts. „Kommt, wir holen das Gepäck", sagte Mr. Alarcon. „Was sollen wir hier in dem Gedränge herumstehen?" „Das ist alles, was ich habe." Juanita deutete auf ihre fast leere Reisetasche. „Jason, nimm deiner Schwester die Tasche ab." „Die kann ich schon allein tragen." Sie gab die Tasche nicht aus der Hand. „Tom hat vor ein paar Tagen angerufen, um sich zu erkundigen, wann dein Flugzeug ankommt', erzählte ihre Mutter. „Wenn du schon extra die ganze Strecke bis zum Flughafen gefahren bist, könntest du doch auch noch mit uns nach Hause kommen und zu Abend essen. Hättest du nicht Lust dazu, Tom?" „Sehr gern." Toms Blick hing an Juanita. „Deine Großmutter bereitet eine Überraschung vor. Eine deiner Lieblingsspeisen", fuhr Mrs. Alarcon fort. „Du bist so dünn. Du brauchst wieder etwas Richtiges zu essen."
„Meine letzte Mahlzeit im Dorf bestand aus Maniokwurzeln und Schildkrötenfleisch. Ein Festessen nur für besondere Anlässe", erzählte Juanita. Ihre Mutter war entsetzt. Als sie den Parkplatz erreichten, schlug Juanita vor: „Da Tom allein hergekommen ist, fahre ich mit ihm zurück und treffe euch zu Hause wieder." „In Ordnung", meinte Dr. Alarcon, obwohl der Rest der Familie Juanita so kurz nach der Ankunft nicht schon wieder hergeben wollte. „Danke", sagte Tom, als sie zu seinem alten Wagen gingen, mit dem sie so oft zu den HFDW-Kursen gefahren waren. Juanita spürte, daß er ganz gegen seine Art irgendwie angespannt war. Sie öffnete die Beifahrertür, warf ihre Tasche nach hinten und ließ sich aufseufzend in den Sitz fallen. „Ist das schön, wieder in der alten Karre zu sitzen", sagte sie. „Wie viele Fahrzeuge habe ich eigentlich benutzt, seit wir das letzte Mal miteinander gefahren sind? Flugzeuge aller Art, verbeulte Busse und primitive Kanus." Tom war hinter dem Steuer zu ihr herübergerutscht und legte den Arm um ihre Schulter. Seine Anspannung löste sich in einem langen Stoßseufzer. „Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht!" murmelte er, das Gesicht in ihr Haar vergraben. Es war wunderbar, in Toms Armen zu sein. Juanita drehte den Kopf, um es ihm zu sagen, bis ihr schwindlig wurde und sie alles um sich herum vergaß. Sie konnte nur noch die Arme um ihn legen und seine Küsse erwidern. Lange hielten sie sich so umschlungen, versunken in dem wunderbaren Gefühl, wieder zusammen zu sein. „Die ganze Zeit in Mexico habe ich an dich gedacht`, sagte Tom schließlich. „ich fühlte mich verantwortlich für deinen Beitritt zu HFDW. Wenn ich nicht diese Rede gehalten hätte, wärst du nie auf die Idee gekommen, in ein einsames, gefährliches Indiodorf zu gehen. Einmal, als ich gerade ein
paar Eingeborenenkinder impfte, hatte ich plötzlich die Vision, eine dieser heimtückischen Urwaldschlangen hätte ihre Zähne in dich gebohrt. Ich hatte Angst, du könntest dir eine Tropenkrankheit holen, gegen die du nicht geimpft bist. Und nur ich war schuld, daß du dich in Gefahr begeben hast. Was hätte ich nicht alles für ein Telefon oder ein Telegrafenamt gegeben, um von dir zu hören, daß alles in Ordnung ist. Dann habe ich dir geschrieben und keine Antwort bekommen, bis zu unserem Abschlußtreffen in Los Angeles." „Tom!" Juanita war ganz verwirrt. „Ich dachte immer, du seist so cool. Nie hätte ich mir träumen lassen, daß du dir solche Sorgen um mich machst. Bei mir war alles okay." „Vielleicht bin ich manchmal etwas zurückhaltend, aber bei dir schaffe ich das nicht mehr. Ich saß kaum im Flugzeug nach Mexico, als ich erkannte, wieviel du mir bedeutest. In dem Brief, den du nicht bekommen hast, schrieb ich dir das auch. Ich liebe dich, Juanita. Von ganzem Herzen. Wenn ich deinen Brief nicht erhalten hätte, würde ich das jetzt nicht sagen. Aber seit ich weiß, daß du das gleiche für mich fühlst, bin ich im siebten Himmel." Juanita war sich immer noch nicht sicher, was sie ihm genau geschrieben hatte, aber das war jetzt auch egal. Der Erfolg war jedenfalls hundertprozentig. „Vielleicht steigst du mal von deiner Wolke herunter und fährst uns nach Hause. Mom und Dad werden sich Sorgen machen, wo wir bleiben. Außerdem ist eine der Hauptregeln von HFDW: keine Romanzen!" „Das gilt doch nur während der Einsätze", protestierte Tom. „Jetzt sind wir nicht mehr im Dienst..." Er küßte sie noch einmal. Dann trennten sie sich widerstrebend, und Tom startete den Wagen. „Ich hab nicht damit gerechnet, zum Abendessen eingeladen zu werden", meinte er. „Aber ich freue mich so darüber, daß
ich deiner Mutter gern ein paar Blumen mitbringen würde. Halten wir kurz am Supermarkt." „Das ist nett von dir, aber nicht nötig." Ich möchte heute jedem eine Freude machen." Juanita wollte nun endlich wissen, wie es Tom ergangen war. „Da ich deinen Brief verloren habe, weiß ich gar nicht, wo du gewesen bist. War der Einsatz für dich auch so ein unvergeßliches Erlebnis wie für mich?" „Wahrscheinlich. Ich wohnte bei einer sehr großen Familie. Sie hatten acht Kinder und nur zwei Schlafzimmer. Der Vater war ein großes Tier in der Stadt, und eins der Schlafzimmer hatte den Luxus eines Zementbodens. Das überließen sie mir und meinem Partner Tony. Die ganze übrige Familie schlief zunächst in dem anderen Zimmer. Dann haben sich Pepe, Mario und Julio als Zimmerkameraden zu uns gesellt. Sie waren wirklich nette Burschen. Ich vermisse sie." „Kann ich gut nachfühlen." Juanita erzählte Tom von Amaya, Mariana, Oswaldo und all den Kindern. Sie unterhielten sich noch immer über das Leben in den Dörfern, als sie durch die automatischen Türen in den Supermarkt traten. Da griff Juanita plötzlich erschreckt nach Toms Arm. Das grelle Neonlicht blendete sie. Verwirrt stand sie vor drei Dutzend Sorten Kartoffel- und Erdnußchips. Überall Waren in unüberschaubaren Mengen. Eine große Anzahl an Früchten und verschiedenen Gemüsesorten füllte die Regale an einer Seite des Geschäfts, die Fleischtheke nahm die ganze andere Seite ein. Juanita sah Tom ängstlich an. „Wenn du nichts dagegen hast, warte ich im Auto, während du die Blumen holst." Toms Blick ging von ihr zu dem Warenangebot vor ihnen. Er nickte verständnisvoll. „Okay. "
Als er mit dem Blumenstrauß zurückkam, erklärte Juanita ihm: „Ich war darauf noch nicht vorbereitet. Es war wie ein Schock, plötzlich all die Nahrungsmittel zu sehen." „Ich weiß. Mir ist es vor ein paar Tagen genauso gegangen. Ich war daran gewöhnt, Usebio einen Handpflug durch die Felder ziehen zu sehen, um Mais und Bohnen zu pflanzen. Cardiad, seine Frau, mahlte den ganzen Tag Korn und machte Tortillas daraus. Das war's dann auch schon, was das Essen anbelangte. Nein, es gab natürlich noch Papayas und eine Art stacheliger Birnen." „Bei mir im Dorf hatten sie statt Korn Yuccawurzeln. Die Indios mußten hart für ihre Nahrung arbeiten. Ich sehe die Männer noch vor mir, wie sie sich mit ihren Macheten einen Weg durch den Dschungel bahnten und uns am Abend stolz ihren Fang präsentierten, ein merkwürdiges Vieh mit dem Namen Cabybara. Das war dann ein Mittagessen. für das ganze Dorf. Kannst du dir das vorstellen? Trotzdem hatten wir sicher noch mehr zu essen als du, denn es gab viele Fische im Fluß. Aber egal, was wir aßen, die Eingeborenen hatten den ganzen Tag dafür gearbeitet." „Und zwar hart", ergänzte Tom. „Jetzt erlebst du den Kulturschock andersherum." „Das ganze Zeug aus dem Supermarkt brauchen wir doch gar nicht. Irgendwie fühle ich mich bei so viel Überfluß schuldig." Tom legte den Blumenstrauß auf das Steuer und nahm Juanita in die Arme. „Es dauert ein paar Tage, bis man sich wieder daran gewöhnt hat", sagte er. „Ich kann dich schon vorwarnen: Sogar in unserem eigenen Haus fühlte ich mich nicht mehr wohl. Elektrisches Licht, Fernsehen, fließendes Wasser, ein Elektroherd, die Spülmaschine, warum, um alles in der Welt? Alles schien so fremd und protzig."
Auf der Fahrt durch die vertrauten Straßen von Blossom Valley meinte Juanita nachdenklich: „Ich kann gar nicht glauben, daß Blossom Valley völlig unverändert ist, wo ich doch so lange nicht da war." „So ist es mir auch gegangen." „Wie aufmerksam!" Mrs. Alarcon stellte Toms Blumen in eine Vase. „Tom wird uns sicher gern etwas über Mexico erzählen, während du nach oben gehst, eine heiße Dusche nimmst und diese schrecklichen Sachen ausziehst, Juanita." Juanita fühlte sich fremd in ihrem Zimmer. Das Licht der späten Nachmittagssonne drang durch die Vorhänge und malte goldene Tupfen auf den dikken Teppich. Die Keramiktiere auf ihrer Frisierkommode starrten sie feindselig an. Sogar hier, in ihrer vertrauen Umgebung, würde sie nie wieder so sein wie früher. Nach dem Essen, bei dem Juanita ausführlich von ihren Erlebnissen erzählen mußte, rief Jeannette an und berichtete, daß sie einen tollen Sommer hinter sich hatte und jetzt fest mit Forrest Williams ging. „Wie aufregend!" Juanita war froh, daß Jeannette einen festen Freund hatte, denn sie ahnte, daß sie von nun an nicht mehr soviel mit ihr zusammen sein würde. Tom und sie würden sicher viel Zeit zusammen verbringen. Und so war es dann auch. Das Paar wurde unzertrennlich. Die Mitschüler waren verblüfft. Roger Sawyer würde sich wohl ewig den Kopf darüber zerbrechen, warum Juanita diesen Typ in dem langweiligen Khakihemd vorzog, wo sie doch ihn mit dem strahlend weißgoldenen Tambourmajorkostüm hätte haben können. Aber was machte das schon. Viele andere Mädchen schwärmten für den tollen Roger. Kirk Pugh fand es höchst seltsam, daß sie lieber in Toms altem verbeulten Kombi fuhr als in seinem neuen Sportcabriolet. Alle waren sich einig: Dieser Sommer in der
Wildnis Lateinamerikas hatte Juanita und Tom verändert. Sie waren irgendwie anders als die übrigen Schüler aus Blossom Valley. - ENDE