Diener des Bösen Version: v1.0
Die Siegel der Nacht öffneten sich ihr bereitwillig. Dun kel war für sie nicht dunkel,...
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Diener des Bösen Version: v1.0
Die Siegel der Nacht öffneten sich ihr bereitwillig. Dun kel war für sie nicht dunkel, Tod nicht Tod. Sie labte sich an Pesthauch und Alter. Ihre Streifzüge durch das Laby rinth, das den Lebenden verschlossen blieb, waren von Einsamkeit geprägt. Hier gab es nur Stille. Manchmal noch das Plätschern eines Rinnsals, wenn Regen fiel. Oder das hörbare Echo ihrer Gier, die sie immer wieder dorthin lockte, wo sie den Tisch reich gedeckt wußte. Wo jene hausten, die sie eigentlich verachteten. Und die auch sie verachtete. Tapsig wankte sie das Labyrinth entlang. Durch ewig finstere Gänge. Grunzend. Getrieben von der tumben Sehnsucht eines Monsters …
Was bisher geschah Landru spürt Lilith mittels des konservierten Schrumpfkopfs ihres Vaters auf. Lilith unternimmt mit dem Aboriginal Esben Storm eine Traumzeitreise zu ihrem Geburtshaus. Dort entdecken sie eine große Anzahl Menschen, die sich die Früchte eines Apfelbaumes im Zentrum des Gartens vollständig in den Hals pressen. Das Haus hat seine Struktur verändert. Es will Liliths Astralleib nicht mehr hergeben. Und es holt auch ihren Körper heran – in dem Moment, als Landru Lilith in seine Gewalt bringen will. Sie ver schwindet vor seinen Augen. Aus Rache zündet er den Laden des Aboriginals an. Storm kann im letzten Moment die »Nabelschnur« kappen; Lilith erwacht in einer Gasse Sydneys. Storm bleibt ver schwunden. Ist der Aboriginal in seinem Haus verbrannt? Der Vampir Habakuk greift Lilith in einem Park an – und wird von ihr besiegt. Sie preßt wichtige Informationen über Landru aus ihm heraus, der indes erhält Besuch von der Werwölfin Nona erhält. Während die beiden jagen, dringt Lilith in den Sitz der Vampire ein, eine entweihte Kirche. Sie findet Landrus Kammer – und den Schrumpfkopf ihres Vaters, den sie nicht zu berühren vermag. Gera de als sie Landrus Karte aus Menschenhaut entdeckt, auf der sein Ziel in Indien vermerkt ist, kehren er und Nona zurück. Lilith ent kommt, doch Hekade, eine Vampirin, heftet sich unbemerkt an ihre Fersen … Lilith trifft ihren Kampfgefährten Duncan Luther in einem Park, nicht ahnend, daß Beth ihm heimlich gefolgt ist. Sie wird von Heka de gekidnappt, kann ihre Gegnerin aber mit einem Blitzlicht blen den. Lilith erledigt den Rest. Nun kommen Luther und sie nicht mehr darum herum, Beth reinen Wein einzuschenken.
Inzwischen entdeckt Landru, daß Lilith sein Ziel an der indischnepalesischen Grenze kennt. Damit sie ihm nicht zuvorkommt, reist er sofort dorthin. Als er an einem jungen Mädchen seinen Durst löscht, ahnt er nicht, daß er eine Auserwählte tötet … In Sydney taucht ein veränderter Jeff Warner in Codds Büro auf – und gibt dessen Sekretärin, die wie Codd eine Dienerkreatur der Vampire ist, auf mysteriöse Weise ihre Menschlichkeit zurück … Lilith und Duncan werden in New Delhi vom indischen Korre spondenten Himachal Pradesh in Empfang genommen. In der Nacht überfallen Vampire ihr Hotel – und töten Duncan Luther! In Nepal versucht Landru vergeblich, zum Tempel vorzudringen, wo er den Lilienkelch vermutet. Die Mönche besitzen unirdische Kräfte. Und sie fordern ein neues Opfer für das, welches Landru tö tete. Lilith, die in Fledermausgestalt zu dem Dorf gelangt ist, nimmt die Stelle des neugewählten Opfers – einer Frau namens Usha – ein und wird in den Tempel gebracht. Dort erfährt sie, daß die Häute der Dorfbewohner für eine »Blutbibel« verwendet werden, in der von Anbeginn der Zeit an die böse Geschichtsschreibung festgehal ten wird. Also auch Informationen zum Lilienkelch – und zu Liliths Bestimmung! Ihr Betrug wird entdeckt. Hilflos muß Lilith UshasTod mitanse hen. Sie entkommt aus der Gefangenschaft, doch ihr Versuch, das Buch zu erlangen, scheitert; schließlich wird es sogar – scheinbar – durch Feuer vernichtet, während Lilith und Landru gegen Illusionen kämpfen. Die Tempelanlage fällt in sich zusammen, Landru wird unter den Trümmern begraben. Während er sich mühsam befreit, flieht Lilith zurück nach Australien …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und einer Vampirin, dazu ge zeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. 98 Jahre lag sie in einem Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Bastard sehen, bis sich ihre Bestimmung erfüllt. Dabei hilft ihr ein Kleid, das seine Form beliebig ändern kann – ein Symbiont. Jeff Warner – der Detective war einer jahrhundertealten Serie von Genickbruch-Morden auf der Spur, wurde dann aber von Polizei chef Virgil Codd in den Garten des versunkenen Hauses geschickt, wo Lilith erwachte und in dem schon etliche Menschen spurlos ver schwunden sind. Beth MacKinsey – Journalistin. Bei ihr fanden Lilith und ihr Mit streiter Duncan Luther Unterschlupf. Von Warner bekam Beth die »Genickbruch-Liste« zugeschickt. Landru – Mächtigster der alten Vampire. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs geben kann.
New Delhi, Indien Sein Blick war Macht. Er starrte in die Augen der Sippenangehörigen, die ihn umstan den, und in seiner Mimik erinnerte nichts an die jüngst erlittene Schmach. Nicht einmal die Kreuznarbe auf der linken Wange flammte stärker durchblutet als sonst. Landru verbarg den bitteren Geschmack der Niederlage, die er in dem nepalesischen Klostertempel hatte hinnehmen müssen, hinter Strenge. Den Rapport hatte er schweigend entgegengenommen. Nun befahl er unzufrieden: »Zeigt ihn mir!« Sie wußten, daß sie versagt hatten. Eine Übermacht hatte vor einer einzelnen Frau kapituliert … »Ich führe dich«, sagte Tanor, der sich nach alter Yogi-Sitte kleide te und seit vielen Jahren Oberhaupt der Sippe war, die hier in der überbevölkerten Millionenstadt lebte wie Maden im Speck. Wie kaum ein anderes Land konnte Indien in Anspruch nehmen, das plötzliche Verschwinden von niedrigkastigen Staatsbürgern so gut wie nicht zur Kenntnis zu nehmen. Vampire hatten hier alle Möglichkeiten, und Dienerkreaturen wurden kaum benötigt. Wie wenige andere Völker pflegten die Inder aber auch Religio nen, aus denen sie ein hohes Verständnis für Übersinnliches und Okkultes schöpften. Dementsprechend gab es hierzulande immer wieder Menschen, die sich erfolgreich (zumindest im ersten Anlauf erfolgreich) gegen Attacken der Alten Rasse wehrten. Die »Sterblich keitsrate« unter den Vampiren wäre nicht besorgniserregend gewe sen, wenn Nachwuchs nachgedrängt hätte. Da aber der Lilienkelch, das unerläßliche Mittel zur Zeugung echter Vampire, immer noch verschwunden war, lichteten sich auch die Reihen der hiesigen Sip
pen seit zweieinhalb Jahrhunderten stetig. Tanor hatte keine Scheu, Landru darauf anzusprechen, als sie al lein durch die Gänge des Versammlungsortes im östlichen Stadtkern schritten. Landrus aggressive Reaktion erstaunte ihn. »Ihr könnt nicht einmal mit einem Neugeborenen fertig werden!« fauchte er und blieb mit rotglimmenden Augen vor Tanor stehen. Seine Faust schoß vor und wickelte sich um das Gewand des falschen Yogi. »Ich rate dir zur Vorsicht, Tanor, alter Schwätzer! In all der Zeit, die ich nach dem Verbleib des Unheiligtums forsche, kam aus den Reihen der Sippen wenig Verwertbares, und daran, das weiß ich, wird sich nichts ändern! Ihr erkennt nicht einmal das wahre Ausmaß der Gefahr, die sich seit dem Diebstahl wie wu chernder Menschenkrebs unter uns ausbreitet. Heimlich, still und leise!« Tanor zappelte Zentimeter über dem Boden. Eine ganz neue Art der »Levitation«. Er war entrüstet über Landrus Handgreiflichkeit, aber er unterschätzte die Gefahr, in der er im wahrsten Sinne des Wortes schwebte. Tanor verließ sich auf den Kodex der Vampire. »Gibt es noch eine andere Gefahr als die, daß wir nach und nach zur ›existenzbedrohten Art‹ werden?« fragte er zähnefletschend. »Und was du ein ›Neugeborenes‹ nennst, wurde immerhin fast ein Jahrhundert lang ausgebrütet, ehe es entschlüpfte!« Landru öffnete die Faust. Tanor strauchelte nicht einmal. Elegant kam er zum Stehen und strich sich das Gewand glatt. »Diese andere Gefahr gibt es!« behauptete Landru, ohne auf den Nachsatz einzugehen. »Wie sähe sie aus?« Tanors Neugierde überdeckte die berechtigte Empörung über Landrus Übergriff. Insgeheim war er heilfroh, daß
niemand seiner Sippe Zeuge dieser Demütigung geworden war. »Es wird dir nicht gefallen, was ich sage.« »Mir gefällt auch nicht die Überheblichkeit, mit der du deinesglei chen behandelst!« »Meinesgleichen?« Landru verzog das Gesicht. »Genau darum geht es! Ihr entfernt euch immer mehr von alten Werten – und merkt es nicht einmal. Unsere Rasse degeneriert! Ich beobachte es seit lan gem!« Tanor machte keinen Hehl aus seiner Haltung. »Vermutlich siehst du dich selbst als einzige nicht von dieser Degeneration befallene Ausnahme …« Landru machte eine wegwerfende Geste. »Ich wußte, daß du nicht in der Lage bist, dich ernsthaft damit auseinanderzusetzen!« Tanor schüttelte den Kopf. »Du irrst«, sagte er beherrscht. »Ich bin sogar deiner Meinung. Du würdest viele finden, die ähnliche Ge danken hegen – wenn du dich nur dazu herablassen würdest, mit ihnen zu reden. Ich fürchte –«, er setzte sich wieder in Gang, »dein größtes Problem ist nicht die Suche nach dem Kelch. Dein größtes Problem bist du selbst! Du verlierst mehr und mehr den Kontakt zu deinem eigenen Volk!« Landru unterdrückte das Verlangen, Tanor auf der Stelle zu töten. Er bezähmte sich, weil er begriff, daß das Sippenoberhaupt nicht völlig unrecht hatte. Nicht nur mit den anderen, auch mit ihm ging seit langem eine schleichende Veränderung vonstatten. Er ahnte den Grund. In diesem Augenblick ahnte er ihn klarer als jemals zuvor. Nachdem er zu Tanor aufgeholt hatte, sagte er versöhnlich: »Ich habe eine Theorie. Vielleicht interessiert sie dich.« »Vielleicht«, räumte Tanor, nun gleichfalls versöhnlich, ein. Er schien zu spüren, daß der Respekt, den Landru ihm plötzlich zu mindest indirekt zollte, nicht nur eine Finte war.
»Niemand«, begann Landru, während sie den Weg zu ihrem Ziel fortsetzten, »nicht einmal ich, weiß Genaues über die Beschaffenheit des Kelchs. Ich halte es für möglich, daß er nicht nur dafür zuständig ist, Nachwuchs zu zeugen, sondern auch …« Er machte eine Pause, um Tanors Reaktion zu studieren, »sondern auch, unsere Evolution in Gang zu halten.« »Was verstehst du darunter?« »Simpel ausgedrückt, das Gegenteil von Devolution«, konnte Land ru sich seinen Sarkasmus nun doch nicht verkneifen. »Fortschritt oder Rückschritt unserer Rasse könnte von Sein oder Nichtsein des Kelchs abhängen. Seit zweieinhalb Jahrhunderten fehlt dieser Ein fluß. Die Folgen sind nicht länger zu ignorieren. Auch für dich und andere, das hast du vorhin bestätigt!« Tanor schwieg nachdenklich. Dann sagte er: »Ich sehe einen Denk fehler.« »Welchen?« »Gäbe es einen solchen ›Einfluß‹ auf uns, wäre er global wirksam. Er würde jeden Vampir erreichen, ganz gleich, wo er sich auch auf hielte – und ganz gleich, wo der Kelch sich aufhielte.« Er wartete Landrus Nicken ab. »Wäre es so, müßte diese Kraft auch nach dem Diebstahl noch wirksam sein. Der Aufbewahrungsort spielte keine Rolle!« In Landrus Stimme schwang Anerkennung. Zugleich legte er of fen, daß er diese Möglichkeit in aller Konsequenz längst durchdacht hatte. »Es gibt zwei Möglichkeiten, wie ich doch richtig liegen könnte«, erwiderte er. »Die eine wäre eine Katastrophe, denn sie würde be deuten, daß der Kelch damals nicht nur gestohlen, sondern vernichtet wurde …« Tanor nickte, als sei auch ihm dieser Verdacht nicht fremd.
»…die andere setzt voraus, daß das Unheiligtum an einem Ort oder unter einem Schild aufbewahrt wird, von wo aus sein steuern der Einfluß vollkommen abgeschirmt wird.« »Wo sollte das sein?« fragte Tanor zweifelnd. »Wenn ich das wüßte, hätte ich ihn längst zurückgeholt!« »Deine Fährte in Nepal verlief sich im Sand?« Landru nickte grimmig. Zu weiterem Kommentar schien er nicht bereit, zumal sie ihr Ziel endlich erreichten. Tanor öffnete eine blutrote Tür, die eine unwillkürliche Assoziati on in Landru freisetzte: Es ist eine Planke der Dunklen Arche! Derselbe abstrakte Gedanke hatte ihn grundlos oben im Himalaya gebirge vor einer roten Falltür beschlichen. Er verdrängte ihn. Hinter Tanor betrat er einen Raum, dessen Magie den aufbewahr ten Leichnam vor Verwesung schützte. »Wir haben nicht völlig versagt, wie du siehst«, rückte Tanor Land rus Vorwurf gerade. Landru trat vor den nackten Toten, in dessen Gesicht sich weit mehr Überraschung als erlittene Qual gegraben hatte. »Eine Trophäe!« sagte er wegwerfend. »Zu mehr ist er nicht mehr nütze! Ich habe einmal für lange Zeit den Kopf eines Feindes als Trophäe aufbewahrt – aber nicht, ohne damit einen Zweck zu verbin den. Wahrlich, ihr bietet mir schwachen Ersatz für die, die euch ent kam!« »Sie gehörten zusammen«, erinnerte Tanor. »Er war nur ein Mensch«, schwächte Landru ab. »Ohne besondere Gaben.« »Das kann sich ändern …« Landru bemerkte den listigen Zug um den Mund des Oberhaupts
wohl. Dennoch blieb er seinen Prinzipien treu. »Er ist tot! Ich könnte über ihn gebieten, wie ich über andere Tote gebieten kann, um sie zeitweilig in zombiehafte Werkzeuge zu verwandeln. Aber was wäre damit gewonnen? Ich besitze Marionetten genug. Seine Seele ist erloschen, seine Hülle damit wertlos!« Tanors Augen glitzerten. »Nimm ihn als Geschenk meiner Sippe«, sagte er. »Als Versuch ei ner Wiedergutmachung.« »Ich will ihn nicht!« Tanor wiegte den Kopf, ehe er nachdrücklich versicherte: »Warte ab, was genau ich dir anzubieten habe. Danach wirst du ihn mögen … Du wirst ihn lieben!«
* Sydney, Australien Es waren Tage tiefer Depression, die Maryann Rosehill durchlebte, seit sie ihre Schwester in der Polizei-Pathologie identifiziert hatte. Der Anblick der bestialisch Hingemordeten hatte sich tiefer als jedes andere Erlebnis in ihr Gehirn eingebrannt. Patricia hatte tagelang im Wasser gelegen, ehe sie gefunden wor den war. Wie die Experten ausführten, hatte sich dadurch Leichen fett unter ihrer Haut gebildet. Der Körper war stark aufgedunsen und beinahe unkenntlich geworden. Jedenfalls ganz anders, als Ma ryann ihre bildhüsche Schwester in Erinnerung gehabt hatte. Den noch gab es genügend Merkmale, anhand derer sich die Identität der Toten unzweifelhaft hatte bestimmen lassen. Die Behörden waren zufrieden.
Maryann nicht. Ursprünglich hatte ihr Vater sie begleiten wollen. Aber die Nach richt vom mutmaßlichen Tod seiner zweiten Tochter hatte ihn so fertiggemacht, daß er sich nicht in der Lage gefühlt hatte, die rund 1900 Meilen von seinem Wohnsitz Darwin bis in den tiefsten Südos ten, nach Sydney, zurückzulegen. Ihr Vater … Er hatte nie verwunden, als Patricia vor zwei Jahren – kurz nach dem Krebstod ihrer Mutter – Hals über Kopf das elterliche Haus verlassen hatte. Einer angestrebten »Model-Karriere« wegen war sie nach Sydney gezogen. Sie wollte sich auf eigene Beine stellen. Das Leben in der Provinz (als solche hatte sie Darwin von kleinauf be trachtet, obwohl es sich immerhin um die Hauptstadt des nördli chen Territoriums handelte) hatte ihr nie zugesagt. Schon als Kind hatte sie große Flausen und Rosinen im Kopf gehabt. Für Maryann war der »Ausstieg« ihrer Schwester deshalb vorpro grammiert gewesen. Sie hatte immer versucht, diese Entscheidung zu respektieren und sie gegen anderslautende Ansichten des Vaters zu verteidigen. Aber auch sie hatte nie verstanden, weshalb Patricia nach wenigen Monaten völlig abgetaucht war. Und die einzige Nachricht seitdem war nicht das erwartete Le benszeichen gewesen; im Gegenteil. Telefonisch waren sie von einer Polizeistelle informiert worden, daß das weibliche Opfer einer Ge walttat Papiere bei sich getragen habe, die es als Patricia Rosehill auswiesen. Zum Zwecke der exakten Identifizierung wurden die Fa milienangehörigen aufgefordert, umgehend in Sydney zu erschei nen. Mittlerweile war Maryann froh, daß ihr Vater nicht mitgekommen war. Sie hoffte vor ihm vertuschen zu können, was sie mittlerweile über den Lebenswandel ihrer Schwester in Erfahrung gebracht hat
te. Es hätte ihn vollends ins Grab gebracht. Paul Rosehill war ein tiefgläubiger Mensch. Diesen Glauben teilte Maryann, nur Patricia hatte es immer etwas lockerer angehen lassen. Dafür war sie nun – so sah es zumindest aus – bestraft worden. Für einen Lebenswandel, den auch Maryann nicht mehr tolerieren konnte. Patricia hatte sich unter einem »Künstlernamen« verkauft und da bei Körper und Seele verraten! Als Pornodarstellerin Trish Tough. »Du dumme Kuh!« Maryann ballte die Fäuste und stieß die Worte unhörbar für Gäste an den Nebentischen hervor. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte längst abreisen wollen, aber etwas ließ sie immer wieder zögern. Vielleicht, weil sie sich noch nicht stark ge nug fühlte, ihrem Vater zu begegnen und ihm die volle Wahrheit vorzuenthalten. Was war die »volle Wahrheit«? Nicht einmal die Polizei hatte es ihr sagen können. Man fahndete nach dem mutmaßlichen Täter, der Patricia auf dem Gewissen hatte. Aber man wußte nichts über das Motiv. Immer alles auf Paranoiker zu schieben, erschien Maryann etwas zu simpel. Ein weiterer Grund, weshalb sie die Heimreise noch nicht angetre ten hatte, war, daß sich heute früh eine Reporterin bei ihr im Hotel gemeldet und um ein Gespräch gebeten hatte. Natürlich in Zusam menhang mit dem Mord an ihrer Schwester. Einem ersten Impuls folgend, hatte Maryann brüsk ablehnen wol len. Aber dann hatte die Vernunft gesiegt. Die Frau am anderen Ende der Strippe hatte nicht unsympathisch geklungen. Das ließ einen kleinen Hoffnungsschimmer übrig.
Als es bereits eine halbe Stunde über die verabredete Zeit ging, wurde Maryann – ansonsten eher ein duldsamer Charakter – all mählich nervös und auch ärgerlich. Sie saß bei ihrer dritten Tasse Tee in der Lounge. Draußen war es längst dunkel geworden. Bei jedem weiblichen Ankömmling, der die Glaspendeltür durchschritt, schätzte Maryann neu ab, ob es sich um die erwartete Person handeln konnte. Bislang Fehlanzeige. Als aber eine recht junge Frau mit pfiffiger blonder Kurzhaarfrisur hereinhetzte und sich suchend umschaute, war es soweit. Maryann winkte ihr mit sparsamer Gestik, obwohl sie sich ein ganz anderes Bild über die Reporterin gemacht hatte. Es war jedoch eine Überraschung der angenehmeren Art. »Miss Rosehill?« »Ja.« »Wir haben telefoniert …« Maryann bot ihr Platz an. »Entschuldigen Sie die Verspätung. Ich wurde aufgehalten.« »Ich will es gleich vorweg sagen«, Maryann spielte kurz mit dem Löffel auf der Untertasse und fuhr fort, ohne der Reporterin offen in die Augen zu sehen, »ich habe nur deshalb in dieses Treffen einge willigt, weil ich hoffe, sie davon abbringen zu können, den Tod mei ner Schwester noch weiter aufzubauschen!« Sie wußte nicht, welche Reaktion sie genau erwartete. Sie spürte aber, daß ihr Gegenüber plötzlich ganz ruhig wurde und alle Hek tik, die sie mit hereingebracht hatte, abstreifte. »Ich verstehe«, sagte sie und lehnte auf ihrem Stuhl zurück. Ein Bediensteter kam und nahm ihre Bestellung entgegen. Auch sie ent schied sich für einen Tee.
»Wirklich?« fragte Maryann zweifelnd, nachdem der Kellner wie der gegangen war. Obwohl es ihr nicht aufgefallen war, war sie plötzlich sicher, einer eingehenden Musterung unterzogen worden zu sein. Sie wand sich unbehaglich auf ihrem Stuhl. »Ich nehme an«, nickte die Reporterin, »es war für Sie ein Schock zu erfahren, womit Ihre Schwester ihren Lebensunterhalt bestritt … Oder wußten Sie darüber Bescheid?« »Nein«, räumte Maryann ein. »Wir wußten es nicht.« »Wir?« »Von der Familie leben nur noch ich und mein Vater. Mein Vater ist gesundheitlich sehr … angeschlagen.« Sie machte ein Pause, weil sie hoffte, dieser sachte Hinweis könnte schon erklären, was sie von der jungen Reporterin erwartete. Aber die attraktive Frau auf der anderen Tischseite sagte lediglich. »Das tut mir sehr leid.« Marya’nn räusperte sich und ließ den Löffel los. »Es würde ihn umbringen, wenn er erführe, was Trish …«, sie biß sich auf die Un terlippe, »Patricia hier tat …!« Der Tee kam. Die Reporterin machte eine richtige Zeremonie daraus, ihn nach Geschmack zu süßen und umzurühren, ehe sie den ersten Schluck nahm. Bis sie die verspielte Porzellantasse wieder abgesetzt hatte, herrschte ein erstaunlicherweise nicht unangenehmes Schweigen zwischen ihnen. »Ich fürchte«, sagte sie schließlich, »Sie machen sich da etwas falsche Vorstellungen und auch falsche Hoffnungen. Ich werde nicht verhindern können, ob Ihr Vater in dem einen oder anderen Zei tungsbericht auf die Wahrheit gestoßen wird oder nicht. Ich arbeite – das sage ich nicht nur so daher – für ein seriöses Blatt. Wir nennen in solchen Fällen nicht die echten Namen und setzen auch nicht auf
effekthascherische Begleitbilder. Ich habe zusammen mit einem un serer Fotografen gleich nach der Entdeckung der Toten darüber be richtet.« Sie hielt inne und öffnete ihre Umhängetasche. »Ich habe Ihnen den Bericht mitgebracht, damit Sie sich ein besseres Bild unse rer Arbeit machen können. Lesen Sie und entscheiden Sie danach, ob Sie mit mir reden wollen.« Maryann nahm den Artikel unschlüssig entgegen. Schließlich fal tete sie ihn auseinander und überflog ihn. Als sie ihn über den Tisch zurückschob, nickte sie. »Ich habe in den Tagen, seit ich hier bin, Schlimmeres gelesen.« Die Reporterin lächelte dünn. »Danke.« »Sagen Sie mir trotzdem, warum Sie weiter an der Sache – es ist doch eine Sache für Sie, oder? – interessiert sind.« »Es gehört zu meinem Verständnis der Arbeit, die ich mache, daß ich möglichst viel über die Menschen hinter den Schlagzeilen erfah ren will«, sagte die Reporterin. »Der Mörder ihrer Schwester wurde noch nicht dingfest gemacht. Es war Zufall, daß ich herausfand, wo Sie abgestiegen sind. Bleiben Sie länger? Ich hörte, der Leichnam Ih rer Schwester sei noch nicht freigegeben.« »Mir wurde versprochen, daß dies in Kürze der Fall sein wird. Ich will eigentlich sehr bald nach Hause zurück. Mein Verstand sagt mir, daß ich meinen Vater nicht noch länger allein lassen kann. Aber mein Gefühl …« Die Reporterin nickte. »Ich verstehe. Es tut mir leid, wenn ich Sie noch mehr verunsichert habe. Ich akzeptiere es, wenn Sie einen per sönlichen Schlußstrich ziehen wollen. Entschuldigen Sie die Belästi gung.« Als sie aufstand, fragte Maryann überrascht: »Das war alles?« »In diesem Fall: ja. Ich lasse Ihnen aber vorsorglich meine Karte da. Sie finden darauf eine Telefonnummer, unter der Sie mich errei
chen, falls sich doch noch das Verlangen einstellen sollte, sich etwas von der Seele zu reden. Ich sichere Ihnen jedenfalls auf Wunsch hundertprozentige Diskretion zu.« Maryann war so angenehm berührt, daß sie der Frau spontan die Hand zum Abschied reichte. Es war die erste – nahm man die Um stände außer acht – einigermaßen erfreuliche Begegnung seit ihrer Ankunft in der Stadt an der tasmanischen See. Endgültig entschlos sen, die Heimreise anzutreten, ging sie zur Rezeption. Sie verlangte ihren Schlüssel und bat gleichzeitig darum, daß man ihr die Rech nung für den nächsten Morgen vorbereitete. Der Portier sah sich kurz um und erklärte dann: »Tut mir leid, Ihr Schlüssel ist nicht da.« Maryann blickte verwirrt. »Ich habe ihn vor einer Stunde abgege ben, als ich …« »Einen Moment, bitte. Ich habe den Dienst erst angetreten. Ich fra ge die Kollegen, ob sie etwas darüber wissen.« Er entfernte sich kurz. Als er zurückkehrte, lächelte er. Aber den Schlüssel hatte er immer noch nicht. »Alles in Ordnung.« »Alles in Ordnung?« »Sie haben Besuch. Der Mann erwartet Sie in Ihrem Zimmer.« Maryanns Fassungslosigkeit wuchs. »Wie konnten Sie einen frem den –« »Kein Fremder«, wiegelte der Portier ab. »Er mußte sich natürlich ausweisen. Es handelt sich um Ihren Vater …« Maryann fuhr mit dem Lift in die fünfte Etage. Als sie den dorti gen Gang entlangstakste, hatte sie das Gefühl, auf Eiern zu laufen. An der eigenen Hotelzimmertür anklopfen zu müssen, erhöhte das fortschreitende Gefühl der Unwirklichkeit. Von drinnen klangen Geräusche. Der Fernseher lief, verstummte aber sofort nach ihrem
Klopfen, und statt dessen erklangen Schritte. Der Mann, der öffnete, war ihr Vater. Bis zuletzt hatte sie gehofft, es möge nicht wahr sein. »Dad …« Er öffnete die Arme. Sie warf sich hinein und wußte im selben Mo ment, daß er Bescheid wußte. Über alles. Es brach ihr das Herz. »Du hättest nicht kommen dürfen. Du weißt, was der Arzt mein te.« Er entließ sie zögernd aus der Umarmung und machte eine weg werfende Geste. »Der Doc ist mein Freund. Früher gingen wir zu sammen angeln. Heute erzählt er mir nur noch, wie mies ich mit meiner Gesundheit haushalte … Er hat recht! Aber das ist jetzt auch alles egal. Ich will nur etwas von dir wissen – eine ehrliche Antwort: Wußtest du, daß deine Schwester eine Nutte war?« Sie hatte das Gefühl, ihre Eingeweide würden sich zu einem unlös baren Knoten zusammenziehen. »Nicht bevor dies geschah!« Er registrierte jedes Wimpernzucken. Er studierte sie förmlich. Schließlich nickte er und lamentierte: »Wie konnte sie uns das antun …?« »Wie konnte jemand ihr das antun?« nahm Maryann aus Gewohn heit fast automatisch Partei für Patricia. Er wandte sich wortlos um und kehrte zu dem Sessel zurück, der vor dem Fernseher stand. Das Gerät lief noch, aber ohne Ton. Als Maryann begriff, was über die Mattscheibe flimmerte, wurde der Knoten in ihrem Unterleib zu einem massiven Klumpen. »Ich habe mir einen dieser dreckigen … Filme und einen Rekorder ausgeliehen«, erklärte ihr Vater, was im Grunde keiner erklärenden
Worte mehr bedurfte. »Ich habe sie zuerst nicht mal erkannt … Ich begreife nicht, wie ich sie nicht erkennen konnte …« Er sank in den Sessel. Sein mageres Gesicht verfiel binnen Sekun den noch mehr. Es ähnelte einem mit dünner Haut umspannten To tenschädel. Das graue Haar war in den wenigen Tagen, die sie ihn nicht gesehen hatte, noch schütterer geworden. Maryann setzte sich neben ihn auf die Lehne und legte ihre Hand auf seine Schulter. Sie wußte nicht, was sie erwidern sollte. Das Würgen in ihrer Kehle steigerte sich mit jeder neuen Großeinstel lung, die dokumentierte, wie schweißtreibend Patricia ihr Geld ver dient hatte. Und wie entwürdigend. Plötzlich zerfiel das Bild auf dem Monitor wie in einer Implosion. Ihr Vater hatte auf die Fernbedienung gedrückt und sank schweratmend nach hinten. Sein Gesicht war puterrot angelaufen und verschwitzt. Maryann, die diese Symptome kannte, massierte ihm beruhigend die Herzpartie. Es half. Er beruhigte sich einigermaßen und sagte unvermittelt: »Ich bin nicht alleine gekommen …« Schon sein Ton warnte sie. »Nicht allein?« »Carlotta hat mich – begleitet. Sie wollte aber nicht mit rauf …« Maryann starrte ihn an, als hätte er ihr gerade den endgültigen Be weis geliefert, daß ihn die Enthüllungen über seine tote Tochter ziel strebig in den Irrsinn trieben. Maryann jedenfalls schwante Fürch terliches. »Carlotta …? Was, um Gottes willen, habt ihr beide vor …?«
* Zur gleichen Zeit Myra »einfach Myra« Applegate schnürte gerade ihr Bündel, als eine dunkle Männerstimme unweit in der Finsternis seufzte: »Wunder-schön …!« Sie fuhr herum. »Arschloch!« quetschte sie durch die Zähne. »Nein, wirklich … Herz-aller-liebst!« Sie richtete sich auf. Tatsächlich, dachte sie sarkastisch. Die Zeitungen, die sie gegen die Kälte unter ihre Kleidung gestopft hatte, knisterten. Wunderschön. Herzallerliebst. Reif für die Top Ten von »Harpers’ Bazar«…! Einmal hatte sie eine Ausgabe dieses Snob-Magazins in einem städtischen Abfalleimer gefunden und sich verächtlich-neidvoll all die abgebildeten Beautys zu Gemüte geführt. Seitdem wußte sie ge nau, was sie von denen trennte: Kohle und der richtige Stecher. »Scheißkerl!« fauchte sie. »Wer bist’n du? Zeig mal deine Visage!« Der Schatten eines gutgewachsenen Mannes schob sich zwischen Brückenlaterne und Myra. Im Schlaglicht ähnelte der Kerl einem dreidimensionalen Scherenschnitt. Erst als er sich weiter auf die Ob dachlose zubequemte, löste sich das Dunkel leidlich auf. Myra war überrascht, wie gut der Typ aussah. Obwohl er schon ewig kein Wasser mehr an sich herangelassen zu haben schien und seine Klamotten kaum einen besseren »Schneider« besaßen als ihre. Er war jung. Wie ich, dachte sie klamm. Sie hatte lernen müssen, daß Jugend
nicht vor dem freien Fall aus dem Wohlstandsparadies schützte. Sie konnte sich, im Gegenteil, in der Gosse zum echten Problem aus wachsen. Zumindest für eine leidlich junge, leidlich hübsche Frau, der man auch unter all den Lumpen ansah, daß der Karriereknick noch nicht allzu lange zurücklag. »Was willst’n von mir …?« »Dich verwöhnen!« Vögeln, präzisierte Myra. Sie kannte sich aus. Alle wollten ihr im mer nur an den knackigen Hintern. Im Gegensatz zu den meisten, mit denen sie täglichen Umgang hatte, schien dieser hier sie aber wenigstens nüchtern zu begehren. »Das haben schon ganz andere versucht!« Ihre Hand schob sich unmerklich in die Manteltasche, wo sie für unliebsame Begegnun gen eine Überraschung in Form eines Reizgassprays parat hielt. »Wer?« Die Miene des Unbekannten wechselte abrupt ins Grimmi ge, als er wiederholte: »Wer? Ich bring’ sie um!« Myra musterte ihn genauer und suchte vergebens nach dem ge ringsten Anzeichen, daß er scherzte. »Wie kommst’n drauf zu meinen, ich ließe dich ‘ran?« »Du hast Geschmack, ich beobachte dich schon einige Zeit. Ich kann dir bieten, was dir sonst keiner bietet!« Das klang selbstbewußt. Das klang zum Kotzen überheblich! »Und das wäre?« »Ich bin ein phantastischer Liebhaber.« Die Prahlerei begann Myra zu nerven. »Deine einzigen Fehler sind Bescheidenheit und eine gewisse Schüchternheit, stimmt’s?« »Ganz genau!« Er grinste, ohne den Mund zu öffnen. Schlechte Zähne, kombinierte Myra. Aber darüber hätte man, wenn
der Rest stimmte, hinwegsehen können. »Ich kenn’ dich nich’. Biste neu auf Walze?« »Ziemlich … neu. Wie heißt du eigentlich?« »Einfach Myra – und du?« »Was würde dir gefallen?« »Oh, wie geheimnisvoll …« »Wäre dir langweilig lieber?« Sie legte den Kopf schief. »Am liebsten wär’s mir, du würdest dei ne Latschen in andere Wohnzimmer stellen!« Er pfiff anerkennend, nachdem er den Blick unter die Brückenwöl bung hatte schweifen lassen. »Schicker Wohnsitz …« »Haste was Besseres?« »Solche wie du wohnen«, sagte er, »ich residiere!« Spinner! dachte Myra. Aber volle Kanne, ey. Ihr Gesichtsausdruck war vielsagend genug. Selbst für einen Ego manen wie ihn. »Ich kann es dir beweisen«, bot er an. »Laß dich ein fach zu mir einladen.« Er zog einen prallen Schlüsselbund aus der Jackentasche und schüttelte ihn. Die Schüssel schlugen wie Glockenklöppel gegenein ander. »Wo hast’n den geklaut?« »Meiner!« »Klar. Wahrscheinlich ‘n verkappter Millionario, der mal ‘n biß chen ›wahres Leben‹ inhalieren will, hm?« »Volltreffer«, griente der immer noch Namenslose. Myra schüttelte das von einer Wollmütze geschützte Haupt und sagte spontan: »Ich nenn’ dich Armstrong.« »Armstrong?«
»Wie der erste Typ aufm Mond. Der hat dort auch seine Latschen eingestanzt, ohne jemanden zu fragen!« »Ich fühle mich geehrt«, sagte Armstrong. »Aber was ist nun? Mein Angebot steht …« »Solang’s nur dein Angebot ist …« Er hob feierlich die Rechte zum Schwur. »Wo soll ‘n das sein, deine ›Residenz‹?« fragte Myra. »Nur ein Katzensprung von hier. Du wolltest doch sowieso auf brechen. Sieh es dir wenigstens an!« »Du könntest so ‘n Psycho sein«, schniefte sie. »Sehe ich so aus?« »Nö.« »Na also.« »Na also«, wiederholte Myra und schulterte ihr Bündel. »Okay, wenn’s nich’ weit is’ …« »Du wirst es nicht bereuen.« »Und falls doch«, seufzte sie wegwerfend, »ich steh’ auf Eichen kreuze. Wenn du doch ‘n verkappter Psycho sein solltest, könnteste mir den klein’ Gefallen wenigstens tun. Hinterher. Schön schlicht sollt’s sein und tief in mein Grab gerammt. Die Säcke vonner Stadt sparen doch für unsereins an allem!« Er schien nichts daran absonderlich zu finden, sondern versprach auf ebenso launige Art: »Kreuz oder Pflock – was immer du willst. Auf Wunsch auch mitten ins Herz …!«
* Maryann hatte immer noch das Empfinden, ein Fremdkörper blo
ckiere ihren Hals und hindere sie bei jedem Atemzug oder Schlu cken. Wie versteinert saß sie auf dem Bett und erwartete kalten Her zens die Rückkehr ihres Vaters, der das Zimmer verlassen hatte, um Carlotta zu holen. Maryann hatte es ihm nicht ausreden können. Sie starrte ins Leere. Die üblichen Signale ihres Körpers – Herzschlag, das Rauschen des Blutes in ihren Ohren – schienen aus weiter Ferne an sie heranzu rücken und wurden bewußt erst wieder wahrgenommen, als sie daran dachte, wie ihre Schwester jetzt irgendwo in ihrem Kühlfach lag. Man hatte ihr Innerstes nach außen gekehrt, und die anschlie ßende Kosmetik kaschierte nur unzulänglich, was geschehen war … Die Tür sprang auf. Maryann schreckte hoch. Ihr Vater, dicht gefolgt von Carlotta, trat ein. Die Greisin, die in Darwin einer Institution gleichkam, schimpf te wie ein Rohrspatz und mäßigte sich zunächst auch nicht, als Ma ryann in ihr Blickfeld geriet. Die mit Runzeln übersäte Frau war schon weit über achtzig und sah auch entsprechend aus. Dennoch erschien sie Maryann in vieler lei Hinsicht rüstiger als der Mann, der sie dazu überredet hatte, sich den Strapazen eines Fluges von einem Ende dieses Kontinents zum anderen zu unterwerfen. Carlotta Frost war während des ersten Weltkriegs mit ihren Eltern aus Deutschland immigriert. Ihre Mutter schenkte ihr damals in kur zer Aufeinanderfolge noch sieben Schwestern (keinen einzigen Bru der) und starb dann, ohne jemanden zu fragen. Unter der Obhut ei ner schwarzen Haushilfe – weniger unter der Fürsorge ihres Vaters Johann Dienegott Frost – war Carlotta herangewachsen und hatte schon früh Aufsehen erregt, weil sie Gästen der Familie, Schulfreun den oder weitläufigeren Bekannten mitunter auf den Kopf zusagte, was ihnen einige Zeit später wiederfuhr. Manchmal sagte sie auch Dinge, die schon geschehen waren, die sie aber eigentlich noch nicht
wissen konnte … Jeder halbwegs Interessierte in Darwin kannte Carlottas Biogra phie. Es gab sogar eine Carlotta-Stiftung, die sich nur mit der »För derung medialer Nachwuchstalente« beschäftigte. Vernünftiges war aus dieser »Schmiede« jedoch nie hervorgegangen. Bis heute hielt die alte Frau aber – gegen gutes Geld – Seancen ab oder blickte für Leute, die ihr Schicksal nicht abwarten konnten, auch in deren Zukunft. Maryann war diese Frau überaus suspekt, obwohl sie ihr erst ein mal, kurz nach dem Tod ihrer Mutter, begegnet war. Damals war ihr Vater von der fixen Idee besessen gewesen, mit seiner verstorbenen Frau über das Medium Carlotta in. Verbindung treten zu können. Bis zum heutigen Tag verstand Maryann nicht, wie er sich dazu hat te hinreißen lassen können. Er, der hochgläubige Katholik, hatte nach dem morschen Strohhalm einer Gauklerin (mehr war sie in Maryanns Augen nicht) gegriffen! Und tat es jetzt wieder! Maryann wußte bis heute nicht, wie der Kontaktversuch ins Toten reich damals ausgegangen war. Einmal hatte sie ihren Vater darauf angesprochen, aber seine einsilbige Abwiegelei hatte ihr die Lust auf weitere Versuche verdorben. Trotzdem wußte sie, was er vorhatte. Sie wußte es, ohne daß er auch nur ein Wort zu sagen brauchte! Ihr wäre Carlotta selbst dann suspekt gewesen, wenn sie tatsäch lich über all die Gaben verfügte, die sie selbst und andere ihr nach sagten. Maryann vertrat die Überzeugung, daß dem Leben und auch dem Schicksal von Menschen nicht ins Handwerk gepfuscht werden durfte. Es konnte nicht gutgehen, Leuten mit vermeintlichen oder echten Wahrheiten ein »Horoskop« auszustellen, an das sie glaubten und das über diesen Umweg zur sich selbst erfüllenden Prophezei
ung mutierte. Nein! »Doch!« sagte ihr Vater, als könnte er die Gedanken hinter ihrer Stirn erraten. »Ich bin Carlotta dankbar, daß sie mich begleitet. Sie weiß, was ich von ihr erwarte. Sie hat eingewilligt, es zu versuchen!« Die Alte hatte aufgehört, vor sich hin zu murmeln. Sie starrte zu Maryann herüber und bescherte dieser ein fast noch tiefergehendes Frösteln als es sie beim Anblick ihrer ermordeten Schwester über kommen war. Carlotta kleidete sich immer noch im Sonntagsstaat der Altvorde ren, die damals aus Schlesien hierher gefunden hatten: ein schwarz seidenes Gesellschaftskleid und eine Haube auf dem Kopf, die wie eine zerbeulte Bäckermütze aussah. Schauderhaft. Niemand hatte Carlotta je in moderner Tracht zu Gesicht bekom men, und hartnäckig hielt sich das Gerücht, daß sie sich einst das Gelübde abgenommen hatte, alle Kleider ihrer seligen Mutter aufzu tragen und sich nie ein eigenes zuzulegen. Wer sie sah, dem erschien dies absolut glaubhaft. »Was versuchen?« fragte Maryann tonlos. Statt ihres Vaters antwortete Carlotta: »Wir machen den Mörder deiner Schwester ausfindig!« Sie klang ruhig und gefaßt, als ginge es um keine höhere Entschei dung als die Wahl eines Fernsehprogramms. Maryann erhob sich schwerfällig von der Bettkante. Sie ging auf das lächerliche Duo zu, das sich einbildete, klüger als die Ermitt lungsbehörden zu sein. »Deshalb haben Sie sich herbemühen müs sen?« Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. »Hätten Sie diese ›Kleinig keit‹ nicht auch von zu Hause aus erledigen können?«
Diesmal nahm ihr Vater Carlotta die Antwort ab. »Sie muß dort hin, wo es passierte.« »Der Mord?« Er nickte. Auch die Greisin nickte. Ruhig, bedächtig. »Blödsinn!« Maryann drehte der Alten ruckartig den Rücken zu und ballte die Fäuste. Hinter ihr kehrte Stille ein. Nur der rasselnde Atem ihres Vaters und die brennenden Blicke der Alten belästigten Maryann weiter, während sie die Augen geschlossen hielt. Es fiel ihr schwer, die Be herrschung zu wahren. War es nicht schlimm genug, daß Patricia umgekommen war? Mußte nun auch noch ein Scharlatan in der Wunde rühren? Es war eine Angelegenheit der Familie, höchstens noch der Polizei. Carlotta gehörte selbst bei großzügigster Auslegung in keine dieser Kategorien. Es brauchte eine große Portion Unverfrorenheit, das Leid anderer dermaßen schamlos auszunützen …! »Ich kann nachfühlen, was in dir vorgeht«, sagte ihr Vater schließ lich. »Aber versteh auch mich. Ich war heute in der Gerichtsmedizin und habe Pat gesehen. Ich habe sie gesehen! Du weißt, was ich meine. Sie ist nicht einfach tot – sie wurde geschändet! Irgendein Monster läuft da draußen durch die Straßen, und es ist ganz egal, ob es Syd neys Straßen, Darwins Straßen oder die Straßen irgendeiner Stadt sind. Der Scheißkerl, der das getan hat, wird weiter töten! Ich war im Krieg, ich weiß, wovon ich rede. Ich habe genügend Tote gese hen, um zu wissen, wann ein Killer Lust am Töten empfunden hat. Das war hier der Fall! Pat wurde nicht einfach und nicht zufällig ge tötet. Sie starb unter den Händen eines Wahnsinnigen …!« Jeder seiner Sätze war ein Nagel, der mit voller Wucht in Ma ryanns Schädel getrieben wurde. Sie bebte. Durch die geschlossenen
Lider quollen Tränen. »Ihr … seid … wahnsinnig …!« Hände legten sich von hinten auf ihre Schultern. Maryann erkann te sofort, daß es nicht die ihres Vaters waren, aber es war ihr un möglich, sie abzuschütteln. »Ich werde das Vertrauen deines Vaters rechtfertigen«, sagte Car lotta in felsenfestem Ton. »Wie damals.« Wie damals. Was redete sie da? Wie konnte sie … Maryann schrie kurz und heftig auf. Die fremden Händen fielen von ihr ab. Als sie sich umdrehte, starrten ihr Vater und Carlotta sie mit einem Ausdruck an, der ihr klarmachte, daß sie sich für weitere Schocks wappnen mußte. »Was wollt ihr von mir?« fauchte sie kraftlos. »Haltet mich da raus!« »Nein.« Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Wir werden zu dritt gehen – oder gar nicht.« »Gehen?« Carlottas wächserne Wangen hatten sich gerötet, während sie er läuterte: »In das Haus, wo deine Schwester starb.«
* Der Schlüssel paßte. Myra »einfach Myra« Applegate konnte es nicht fassen. Als ihr großmäuliger Kavalier das Licht anknipste, strahlte ihr nie gesehener Luxus entgegen. Von draußen war es nur einer von vielen
Barackenbauten, eine halbe Meile südlich des Sydneyer Hyde Parks gewesen. Nichts, was zufällige Streuner sonderlich neugierig ge stimmt hätte. »Willst du nicht hereinkommen?« Sie stand immer noch in der offenen Tür. »Was’n das hier? Wenn die Bullen uns –« »Es gehört mir«, wehrte er ab. »Wann glaubst du das endlich?« »Du läufst nich’ viel besser ‘rum als ich – und ich hab’ nich’ so ‘ne Klitsche!« »Gehört zu einem früheren Leben«, sagte er. »Eigentlich kann ich nicht mehr viel damit anfangen. Ich wollte dir nur eine Freude ma chen …« Myra schmiß ihr Bündel irgendwohin und kickte die Tür hinter sich ins Schloß. Noch einmal warf sie einen Rundblick. Dann stemmte sie die Fäuste in die Hüften und sagte: »Okay!« »Okay?« Sie schniefte. »Ich nehm’ dein unmoralisches Angebot an. Kannst mich vögeln.« Sie wischte sich die Nase am Ärmel ihres Lotterman tels ab. »Das isses mir wert. Unter einer Bedingung …« Er blickte fragend. »Keine perversen Sachen!« »Was ist pervers?« Myra hörte schon nicht mehr richtig zu. Sie durchmaß das Innere der Baracke, das fast nur aus einem einzigen großen Raum bestand. Lediglich ein paar geschmackvolle Paravants grenzten den hinteren Bereich vor neugierigen Blicken ab. Alles war so stilvoll eingerichtet, daß sie aus dem Schauen und Staunen gar nicht mehr herauskam. Beiläufig schälte sie sich aus Mantel und darunter befindlichen Klei dungsstücken.
»Armstrong« machte sich an einer HiFi-Anlage zu schaffen, und kurz darauf untermalte klassische Musik die zunehmend romanti sche Stimmung. Das Bett allein – Mittelpunkt des Raumes – war schon eine Offen barung. Myra war hin und weg von dem seidigen Behang. Dicht da neben lockte eine in den Boden eingelassene Wanne mit Whirlpool düsen. Ein breiter Streifen darum herum war marmorgefliest, wäh rend die übrige Fläche von schrittdämpfendem, flauschigem Tep pich bedeckt war. Stilvolle Tapeten, weiche, intime Beleuchtungseffekte und teure Vollholzmöbel komplettierten Myras Verdacht, im falschen Film ge landet zu sein. Apropos Film: »Dadrauf bin ich aber nich’ grad’ geil!« Sie war stehengeblieben und rüttelte an einer Stativleuchte, in de ren unmittelbarer Gesellschaft weitere Scheinwerfer und eine fast professionell wirkende Kamera um das Bett aufgebaut waren. Armstrong stand mittlerweile an der gutbestückten Hausbar. »Ein Drink?« »Immer.« Er schenkte aus einer bernsteinfarbenen Flasche ein und brachte ihr das Glas. »Du säufst nich’ mit?« »Alk bekommt mir nicht … mehr.« Myra tippte sich an die Stirn, brabbelte irgend etwas, das wie »Ich pfeif auf die Leber, die pfeift auch auf mich!« klang, und stürzte den Inhalt des Glases in einem Zug herunter. Sofort ging ein Leuchten über ihr Gesicht. »Herrgott, was für’n Tropfen! – Zahnweh?«
Armstrong hatte das Gesicht verzogen. Aber er schüttelte den Kopf. Sein Blick maß die Altkleidersammlung an Myras Körper. »Ich lasse dir ein Bad ein. Du bist noch ganz durchfroren.« Er weiß genau, wie er mich kriegt, dachte Myra nun doch unbehag lich. »Und du? Steigste mit ‘rein? Platz genug is’ ja.« Er antwortete nicht. Als das dampfende Wasser die Wanne bis knapp zur Hälfte gefüllt hatte, war Myra aus Altkleidern und -pa pier heraus und zierte sich nicht länger, ihre akzeptable Figur un verhüllt vorzuführen. Erstaunlicherweise vermittelte Armstrong nicht den Anschein, als würde er sich dafür sonderlich interessieren. »Wag dich ja nich’, mich doch irgendwie heimlich auf Zelluloid zu bannen!« wiederholte Myra noch einmal ihre Abneigung, während sie sich etwas irritiert ins ideal temperierte Wasser absenkte. Mit dem, was von ihrer weiblichen Intuition übriggeblieben war, fand sie den Knopf für den Whirlpool. Sie quietschte vor Vergnügen, als die harten Strahlen ihren Körper zu kneten begannen und das Wasser an der Oberfläche des Beckens wie prickelnder Champagner zerstäubte. »Jetzt noch ‘n Drink wie der von vorhin, das wär’ göttlich!« Armstrong brachte die ganze Flasche. Myra setzte an und schluckte so gierig, daß einiges über ihre Lip pen schwappte und sich mit dem Wasser vermengte. Sie lachte und stellte die halbleere Flasche neben sich. »Du bist ja immer noch in Vollmontur … Komm endlich!« Armstrong stand mit verschränkten Armen neben dem Becken rand. Er starrte auf sie herab. Nun schon deutlich interessierter, wie sie mit Befriedigung feststellte. Alles andere hätte ihr verbliebenes Ehrgefühl auch nicht akzeptiert. »Ich steh’ auf dich!« seufzte er plötzlich. Der glückselige Ton verur
sachte Myra die stärkste Gänsehaut, an die sie sich erinnern konnte. »Is’ ja schon gut. Krieg dich wieder ein. Das is ‘n Deal, mehr nich’, klaro? Bild dir bloß keine Schwachheiten ein …!« Er ließ die Arme baumeln und stieg zu ihr in die Wanne. Mit den Fetzen, die er am Leib trug. Sein Blick machte ihr plötzlich Angst, und sie ahnte, daß es ein nicht mehr gutzumachender Fehler gewesen war, den Mantel so weit außer Reichweite abzustreifen. Das einzige, was sich notfalls als Waffe gebrauchen ließ, steckte in einer der Außentaschen. »Mann, bist du krank, ey«, blaffte sie ihn an. Er plumpste ihr gegenüber ins Wasser. Sie wollte aufspringen, aber er hielt sie fest und zog sie auf sich zu, bis sie halb auf ihm zum Sitzen kam. Myra hatte Erfahrung genug, um bei solcher Nähe zu erkennen, wann ein Mann erregt war. Dieser war es nicht. Zumindest nicht dort, wo sie es hätte erwarten dürfen. Sie schlug mit den Fäusten um sich. Er ließ kurz los und schloß dann seine Hände um ihre Unterarme. Stählern. Myra hatte den Eindruck, als würde ihr das Blut bis hinunter in die Finger abgeschnürt. Sie wurden taub und färbten sich blau. »Au! Laß los, du Arsch!« »Später«, sagte Armstrong ruhig. Er sah immer noch so abgefahren gelassen aus, daß Myra trotz Schmerzen gar nicht auf den Gedanken kam, laut loszubrüllen. »Hör auf mit dem Scheiß!« keuchte sie lediglich. »Ich sagte doch, du kannst dich bedienen. Aber nich’ so – zärtlich, ey!« Seine Hände öffneten sich. »Entschuldige. Ich wollte dich nicht quälen. Ich will dir doch Gu
tes tun. Bei den anderen klappte es noch nicht richtig. Aber ich fühle, bei dir könnte es hinhauen.« Myra saß starr in der Wanne. Der Wellengang des aufgewühlten Wassers beruhigte sich etwas, obwohl die Düsen unverändert wei tersprudelten. »Die anderen …?« echote sie. Er legte sanft den Finger auf ihre Lippen. »Psst. Sie sind nicht mehr wichtig. Du bist wichtig.« Er blickte begehrlich auf ihren Hals, obwohl Männer normalerweise lieber auf ihre großen Brüste starr ten, die in krassem Kontrast zu ihrem beinahe kindlichen Körper standen. Er öffnete den Mund. Zum ersten Mal. Deshalb fiel es ihr auch sofort auf. »Darf ich dich … küssen?« Myra war gelähmt vor Angst. Der Kerl machte sie fertig. Total fer tig. Sie zitterte und nickte schließlich, um ihn nicht zu weiterer Ge walt zu animieren. All ihr Geschwafel über »Psycho« und »Eichen kreuz« war vergessen. So aufgeschlossen stand sie dem Sterben doch nicht gegenüber. »Du wirst es nicht bereuen«, flüsterte er bizarr. »Ich schenke dir ewiges Leben!« Er beugte sich über sie, streifte ihre Brüste nur flüchtig und strich in plumper Begierde über ihren Hals. Die andere Hand umfaßte ih ren Kopf. Bog ihn zur Seite. Myra starrte wie hypnotisiert hinüber zu den Paravents. Sie wußte nicht, warum, aber plötzlich drängte sich ihr die Über zeugung auf, daß sich dahinter mehr verbarg, als ihre Phantasie je zu entwerfen vermocht hätte. Viel mehr und viel, viel Schlimmeres …
* Die Siegel an der Tür stammten von der Polizei. Das Klingelschild daneben lautete auf den Namen Leroy Harps. Wie konnte ich mich darauf einlassen? dachte die Schwester der Frau, die hier auf bestialische Weise zu Tode gekommen war. Ihr Vater hielt sich nicht lange auf. Sein Einbruchswerkzeug war ein gewaltiges Jagdmesser. Damit hebelte er das Schloß der Woh nungstür problemlos auf. Daß die Klebesiegel rissen, störte weder ihn noch die alte Frau, die die Lampe hielt. Er trat über die Schwelle und wollte Licht machen, aber es funktio nierte nicht. »Bestimmt nur die Sicherung«, schnarrte er, als habe er nie etwas anderes getan, als in fremde Häuser einzubrechen. Er ließ sich die Lampe geben und tauchte minutenlang allein in die Dunkel heit. Maryann blieb mit Carlotta vor der Tür in der Dunkelheit zurück. In der Tasche ihrer Jacke hielt sie einen Rosenkranz festumschlossen und starb tausend Tode, bis endlich die Beleuchtung aufflammte und ihr Vater, den sie in seinem Handeln kaum wiedererkannte, zu rückkehrte. »Herein mit euch!« Er drückte die Tür hinter ihnen notdürftig zu. Maryann sah sich frierend in dem verwüsteten Raum um, von dem weitere Türen abzweigten. Ursprünglich mußte es sich um eine sehr kostspielig eingerichtete Wohnung gehandelt haben. Inzwi schen war viel passiert. Es sah aus, als hätten Vandalen gehaust. Schwer vorstellbar, daß dies alles auf das Konto eines einzigen Man nes gehen sollte (der noch dazu Eigentümer dieser Wohnung
war) … Paul Rosehill sah sich kurz um. Dann steuerte er zielsicher ein Bü cherregal an, griff nach einem gerahmten Foto, das dort in einem der Fächer stand, und betrachtete es näher. Es zeigte einen braunge brannten, muskulösen Mann mit Goldkettchen um Hals und Hand gelenk. Er hatte einen Arm um eine dürftig bekleidete Blondine ge legt (nicht Patricia, wie er im ersten Moment geglaubt hatte) und grinste selbstgefällig in die Kamera. Kein Zweifel, daß es sich um den Eigentümer dieser Wohnung handelte. Leroy Harps, Pornopro duzent. Paul Rosehill schnaubte verächtlich und stellte den Bilder rahmen zurück. Er hielt sich nicht lange in der zerstörten Wohnlandschaft auf. Er suchte und fand das Bad, in dem seine Tochter laut Polizeiprotokoll hingeschlachtet worden war. Nachdem er die Tür aufgestoßen und auch dort für Helligkeit ge sorgt hatte, winkte er seine Begleiterinnen zu sich. Auch das vollverspiegelte Bad hätte eine Generalüberholung ver tragen. Die in den Boden versenkte Wanne, in der Patricia gestorben war, sah im wahrsten Sinne des Wortes staubtrocken aus. Im Becken und teilweise auf den angrenzenden Fliesen war die Lage, in der Pa tricia Rosehill gefunden worden war, mit Kreide festgehalten. Auch vereinzelte Reste von Blut waren zu sehen. Maryann beobachtete ihren Vater, wie er sich nach einem der krustigen Flecke bückte und darüberfuhr. Als er sich wieder aufrichtete, bemerkte Maryann ein unbekanntes Licht in seinen Augen. »Fangen wir unverzüglich an«, sagte er und blickte zu der alten Frau hinter Maryann. »Ist das in Ordnung, Carlotta?« Carlotta schwieg, und schweigend zog sie ihr Schuhwerk aus. Selbst die wollenen Strümpfe.
Barfüßig stellte sie sich auf eine größere getrocknete Lache, die von Patricia stammte. Maryann, die einigen Zinnober erwartete, sah sich getäuscht. Car lotta ließ nur ein, zwei Minuten stummer Konzentration verstrei chen. Danach spreizte sie leicht die Finger beider Hände, was auf die innere Anspannung hindeutete, und begann mit kühler Stimme zu sprechen. »Ich sehe alles genau vor mir, wie es geschah. Dieser Mann tötete, um Blut zu trinken. Er war sehr … hungrig, als Patricia zu ihm kam. Aber er tötete nicht, weil er haßte, sondern …« »Sondern?« röchelte Paul Rosehill. Er stand wieder kurz vor einem seiner Anfälle, und Maryann fühlte sich nicht in der Lage, ihm bei zustehen. Sie lauschte den Worten dieser gewissenlosen Frau und konnte nicht glauben, daß sie tatenlos zuließ, welche Lügen sie ver breitete. »… es verschwimmt …« Carlottas Hände ballten sich zu Fäusten, spreizten sich erneut. Ansonsten bewegte sich nur ihr Schandmaul. »Weiter!« drängte Paul Rosehill. Er stützte sich an einer der Spie gelwände ab. »Wo ist das Schwein jetzt? In diesem Moment …?« So plötzlich, daß Maryann auch hier nicht mehr eingreifen konnte – selbst wenn sie es gewollt hätte, was nicht sicher war –, sank Car lotta auf die harten Keramikfliesen. Es krachte hörbar, als sie aufschlug. Ihre porzellankalten Knochen schienen unter der Vehemenz zu zerspringen. Dumpfes Wimmern löste sich zwischen den Worten (denn sie sprach weiter!) aus ihrem Mund. »Ich sehe nicht genau, ob es … jetzt ist … Er findet keine … Ruhe … Er mordet wieder … es geschieht… IN DIESEM MOMENT!« Maryann brüllte auf. Ihr Vater wankte und hielt sich krampfhaft an der Wand fest. »Wo,
Carlotta, wo?« Die alte Frau zappelte, als wäre sie mit Drähten verbunden, durch die in regelmäßigen Abständen Strom geschickt wurde. »Hier … in … der … Stadt …« »Die Adresse!« »Ich sehe nur … Bilder …« Stockend gab sie eine Beschreibung des Gebäudes und seiner un mittelbaren Umgebung, in der sich das Drama abspielte oder abge spielt hatte oder – abspielen würde… Danach fiel sie zuckend in sich zusammen.
* »Hatten Sie geschäftlich in Indien zu tun?« Der Mann, der die Frage stellte, war putzig. Lilith Eden mußte sich das Lachen verkneifen. Sie konnte es wieder (zumindest lächeln), obwohl sich Dinge zugetragen hatten, die ihr ihre psychischen und physischen Grenzen aufgezeigt und die Leben gekostet hatten. Echte Leben. Ohne einen Cent in der Tasche flog sie »Business-Class«. Der wahre Grund, weshalb die Frage ausgerechnet dieses Mannes sie amüsierte, war der Umstand, daß sie ihn kaum zwanzig Minuten zuvor zur Ader gelassen hatte. Inmitten all der anderen Betuchten, die im Dämmerlicht – meist dösend – den Flug über den Pazifik be wältigten oder in irgendwelche Stumpfsinnfilmchen vertieft waren, hatte sie es sich munden lassen. »Vielleicht darf ich Sie in Sydney einmal zum Essen ausführen? Ich kenne ein paar romatische Geheimtips …«
Lust auf Smalltalk hatte Lilith, obwohl hinreichend gesättigt, im mer noch nicht. Sie sagte es deutlich und hatte den Rest des Fluges Ruhe vor ihrem Spender, dessen Blut ihn nicht gerade als über schäumendes Temperamentbündel entlarvt hatte. Ihn auch noch se xuell zu testen, konnte sie sich ersparen. Sie nutzte die Stille, um noch einmal alles an sich vorbeiziehen zu lassen, was ihr in den vergangenen knapp vierzehn Tagen IndienNepal-Aufenthalts alles begegnet war.* Eine immense Fülle zwiespältiger Eindrücke und – der Tod. Duncan Luther, mit dem sie zu ihrer Suche nach dem Unheiligtum der Vampire aufgebrochen war, hatte nicht einmal die ersten Stun den ihrer Ankunft in New Delhi überlebt. Mitglieder der dortigen Vampirsippe hatten sie – vermutlich aufgestachelt von Landru – überfallen. Duncan war das Rückgrat gebrochen worden. Genaues wußte Lilith nicht, weil die Ereignisse keine Möglichkeit gelassen hatten, sich intensiv mit ihm zu befassen. Himachal Pradesh, der örtliche Korrespondent des Sydney Mor ning Herald, hatte sich ihrer angenommen und schließlich für die Dauer ihrer weiteren Suche nach dem Lilienkelch Duncans Platz ein genommen. Auch Pradesh war im Himalayamassiv umgekommen – auf mys teriöse Weise. Im nachhinein wußte Lilith kaum noch, was von den Geschehnis sen im Hochgebirge Realität war und was sie als absichtliche Irre führung einstufen mußte. Sie hatte Einblick in das Wirken eines uralten Kultes erhalten, der an einer Chronik arbeitete, in die seit Menschengedenken alle be deutungsvollen Ereignisse einflossen. Die Spur des Lilienkelchs war dort oben, weit über der Baumgrenze, zerstoben. Das »Buch«, in *siehe VAMPIRA 6-8
dem auch alles über das Unheiligtum, über Lilith (ihre Aufgabe und Bestimmung) und den Rest der Welt zu finden gewesen wäre, war in den Flammen eines Wesens untergegangen, bei dem nachträglich angezweifelt werden durfte, daß es sich wirklich um Himachal Pra desh gehandelt hatte. Irgend etwas Übermächtiges hatte hoch oben, unter dem »Dach der Welt«, die Fäden in Händen gehalten. Lilith und Landru – der ebenfalls der Fährte nach Dolpo gefolgt war – waren zu Spielbällen einer Macht degradiert worden, die entweder mit den Tempeln und dem »Buch« untergegangen war – oder sich rechtzeitig irgendwohin in Sicherheit gebracht hatte. Lilith legte keinen Wert darauf, ihr je wieder zu begegnen. Sie zweifelte auch daran, daß Landru in den Trümmern der eingestürz ten Bauten umgekommen war, obwohl sie keinen Hinweis mehr auf ihn gefunden hatte. Landru … Sie verdrängte die Gedanken an ihn und freute sich statt dessen auf ein Wiedersehen mit Beth, der sie ihre Rückkehr nach Sydney te lefonisch avisiert hatte. Die Reporterin war im Moment einer der wenigen »Lichtblicke«. Was aber die Wiedersehensfreude deutlich dämpfte, war Beth1 ver haltene Stimme am Telefon. Sie ließ ahnen, daß auch in Sydney die Entwicklung zwischenzeitlich nicht stillgestanden hatte. Jedenfalls hatte sich Beth beharrlich geweigert, am Telefon darüber zu reden, wie die dortige Lage aussah. Liliths Hoffnung, ein paar Tage wenigstens relativer Entspannung zu finden, war also auf tönerne Füße gebaut. Möglicherweise würde sie sogar selbst dazu beitragen, es nicht »zu ruhig« anzugehen. Seit der direkten Begegnung mit Landru, als sie eine zeitweilige Waffenruhe ausgehandelt hatten, um nicht beide
unterzugehen, spukte eine Idee in ihrem Kopf, die sie nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Vielleicht hatte er sie im Angesicht höchster Gefahr belogen – vielleicht aber auch nicht. Sie wollte es herausfin den. Bald. Wie befürchtet, sah die Welt gleich nach der Landung gänzlich an ders aus.
* Die Nacht war seine Freundin. Seine Vertraute. Die einzige, die ihm geblieben war … Virgil Codd empfand die umwälzenden Ereignisse der letzten Zeit wie einen persönlichen Angriff. Obwohl oder gerade weil vieles von dem, was ihn seit Lilith Edens Erwachen in Spannung gehalten hat te, in ein Stadium trügerischer Ruhe übergegangen war, war er si cher, daß die Gefahr nicht eliminiert, sondern im Gegenteil noch an gestiegen war. Das unmögliche Haus 333, Paddington Street war von machtvoller Magie an seinen ursprünglichen Platz zurückgebracht worden und hatte nicht reagiert, als Codds Bulldozer es niederwalzten. Doch die vage Hoffnung, hinter den fenster- und türlosen Mauern endlich etwas zu finden, was als Ursache der ungeklärten Mysterien der vergangenen Wochen hätte gelten können, war unerfüllt geblie ben. Das Haus hatte den Anschein einer ganz normalen Stein- und Holzkonstruktion vermittelt und dem Druck der Abbruchmaschi nen nicht mehr und nicht weniger als jedes andere vergleichbare Ge bäude standgehalten. Nun war das Grundstück geräumt.
Aber Virgil Codd hätte geschworen, daß damit nichts gewonnen war. Die Gefahr hatte sich seiner Meinung nach lediglich verlagert. Neue Unwägbarkeiten waren aufgetaucht. Die nun fälligen Entscheidungen konnte er nicht mehr allein oder im Verbund mit anderen Dienerkreaturen treffen. Die Herren muß ten sich äußern! Es ging nicht um das Schicksal eines Virgil Codd, eines Al Wein berg oder Geoff Molyneux – es ging um das Schicksal derer, denen sie dienten! Und die waren verschwunden. Schon vor einigen Nächten hatte Codd das führungslose Dahin treiben nicht mehr ertragen und war zu dem ihm bekannten Ver sammlungsort gegangen. Zwar geziemte es sich für eine Dienerkrea tur nicht, so offensichtliche Initiative zu entwickeln, aber er hatte einfach nicht mehr länger stillhalten können. Die Herren mußten er fahren, was Geoff Molyneux über den Pflanzenbewuchs des Grund stücks 333, Paddington Street herausgefunden hatte. Und was es über Maud Edwards, Codds ehemalige Sekretärin, zu berichten gab. Vor allem dies! Doch das unterirdische Reich unter dem Friedhof hatte sich Codd vollkommen verlassen dargeboten. Keiner der Sydneyer Sippe – auch Landru nicht, dessen Ankunft sich bis zu Codds Kreisen her umgesprochen hatte – war hiergewesen. Der Versammlungsort machte den Eindruck, als sei er überstürzt, aber bewußt aufgegeben worden! Codd wollte es nicht akzeptieren. Deshalb kehrte er nun noch ein mal zurück. Gewiß hatten die Herren gute Gründe gehabt, den Un terschlupf vorübergehend aufzugeben. Inzwischen konnten sie aber zurückgekehrt sein … Sie mußten! Codd grub die Fingernägel in sein Gesicht. Mit Horas
Tod hatte alles angefangen. Seitdem war alle Ordnung dahin. Auch Landru, in dem viele den »Heilsbringer« gesehen hatten – zumin dest aber den, der das verführerisch anzuschauende Kind der Pro phezeiung im Handumdrehen zur Strecke bringen würde – war letztlich ohne meßbaren Erfolg wieder verschwunden … Codd unterbrach den Gedankengang hastig. Es konnte Unan nehmlichkeiten bringen, auch nur schlecht über Landru zu denken. In all den Jahren seines Dienens war Codd nur wenige Male im Reich unter der Friedhofskapelle gewesen. Nachdem er dank ihrer Unterstützung zum Polizeichef aufgestiegen war, hatte er anfänglich hin und wieder beweisen müssen, daß er die gestellte Aufgabe auch wirklich im Griff hatte. Mit der Zeit waren diese Besuche immer sel tener geworden, bis sie irgendwann völlig überflüssig wurden. »Warten Sie hier!« befahl Codd dem Fahrer seiner Limousine. Der Mann am Steuer war sein Diener. Das karge Nicken dokumen tierte bedingungslose Verläßlichkeit. Dafür, daß er keine Fragen stellte, erhielt er einen Monatsscheck, von dem andere Chauffeure nur träumen konnten. Codd stieg aus und legte das unbefahrbare Reststück des Wegs zu Fuß zurück. Er genoß sogar den Gang über die unheilige Erde des entweihten Ackers. Schon als die Ruine der Kapelle vor ihm auf wuchs, ahnte er jedoch, daß sich hier seit seinem letzten Besuch nichts verändert hatte. Dennoch kehrte er nicht einfach um. Er nahm den Weg hinter dem Altar, und nur noch die Ahnung von Helligkeit begleitete ihn in die Tiefe. Es genügte. Seine untoten Augen waren absolut genügsam. Ohne einmal innezuhalten, suchte er die große Versammlungshal le auf, wo er in der Vergangenheit seine Berichte hatte abliefern
müssen. Auch die Halle war völlig leer. Staub und Moder überall. Ein undefinierbarer Impuls zwang Codd dennoch, näherzutreten. Näher zum Mittelpunkt des domhohen, gewaltigen unterirdischen Raumes, dessen Größe immer noch unnatürlich wirkte im Verhält nis zu den wenigen Stufen, die Codd herabgestiegen war. Konnte er darauf hoffen, daß noch nicht alle Magie dieses Ortes ge schwunden war? Instinktiv fand er das präzise Zentrum der Halle. Und als seine Schuhe sich in den dortigen Staub gruben, lösten sie ein Fanal an der Decke aus, das sich nicht nur in seine Netzhaut brannte, sondern viel tiefer. Codd widerstand dem Bedürfnis, unter der Last der Botschaft in die Knie zu gehen. Die Erleichterung überwog. Sie haben uns nicht vergessen …! Als er sich Sekunden später umwandte und dem Ausgang zu strebte, war das hologrammartige Fanal längst wieder erloschen. Es hatte seinen Status erkannt und darauf reagiert. Codd war sicher, daß kein normaler Mensch den Ansturm der Symbole überlebt hät te. Vielleicht hätte er ihn nicht einmal ausgelöst... Jetzt, da er den neuen Unterschlupf der Sippe kannte, bewegte er sich wie von einer Zentnerlast befreit. Er akzeptierte sogar das Ver bot, diesen Ort umgehend aufzusuchen. Sie hatten versprochen, sich bei ihren Dienern zu melden! Bald … Noch ehe Codd den Fuß auf die erste Stufe setzte, die ihn zurück in die Kapelle führte, kam es jedoch noch zu einem Zwischenfall,
der seiner Beschwingtheit einen Dämpfer versetzte. Hinter dem Treppenaufgang nahm er eine schattenhafte Bewe gung wahr. Etwas – Großes … Etwas, das genauso verblüfft innehielt wie er – und sich dann blitzschnell tiefer in den Mantel der Dunkelheit, den auch Codds Augen nicht gänzlich durchdringen konnten, zurückzog. Er hörte eine Tür schlagen und wußte genau, daß er keinen der Herren gesehen hatte. Wen dann? Erstaunlicherweise empfand er keinerlei Verlangen, es herauszu finden. Die Erleichterung, daß sich die Tür geschlossen hatte, ehe der Schemen tieferer Neugierde nachgegeben hatte, überwog. Nachdenklich, hin und her gerissen zwischen Zufriedenheit und Befremden, kehrte Codd zur Oberfläche zurück.
* Sydney Airport »Macbeth« registrierte nur noch im Halbschlaf die wechselnden An gaben auf der Anzeigetafel des Ankunftsterminals. Die Linienma schine aus Calcutta würde – wenn überhaupt noch – außerplanmä ßig landen. Inzwischen hatte sie eine fast zweistündige Verspätung, ohne daß das baldige Ende der Warterei abzusehen war. Irgendein dämlicher Wirbelsturm hatte die Route Indien – Austra lien vorübergehend lahmgelegt. Kein gutes Omen.
Oder, dachte die Reporterin des angesehenen Sydney Morning He rald, einfach eine logische Fortsetzung dessen, was seit einem Monat auf mich niederprasselt! Wahnsinn in Vollendung. Jeder neue Tag brachte neue Schlagzeilen, die niemand veröffent lichte. Freund Hiob hätte seine helle Freude daran gehabt! Liliths Anruf mit der Durchgabe der Flugnummer hatte Beth am frühen Vormittag erreicht. Lilith Eden, die Halbvampirin, war mit einem gemeinsamen Freund nach Indien abgereist, würde aber allein zurückkehren. Ihr Versuch, das geheimnisvolle »Unheiligtum der Vampire« vor ihrem großen Widersacher Landru zu finden, war – wenn Beth es richtig verstanden hatte – definitiv in die Hose gegangen. Daß Duncan tot war und die Heimreise nicht mehr mit antreten würde, war ihr schon etwas länger bekannt. Er war Opfer der Vam pir-Sippe von Delhi geworden, die damit höchstwahrscheinlich in Landrus Auftrag handelte. Spätestens sobald Lilith gelandet war, hoffte sie Genaueres dar über zu erfahren. Falls die Halbvampirin wider Erwarten auch gute Nachrichten im Gepäck führte, konnte Beth einiges entgegenhalten, was sie beide wohl endgültig in ein »Tal der Tränen« stürzen würde. Das neuerliche Umspringen auf der Anzeigetafel wurde von ei nem hallenden Gong begleitet. Eine routinierte Stimme meldete: »Flug 7329, ankommend aus Calcutta, Indien, ist soeben sicher auf Rollfeld vier gelandet. Die Passagiere benutzen Ausgang C …« Beth erhob sich steif und schlenderte in die genannte Zone. Es dauerte aber noch eine gute halbe Stunde, bis eine Ausnahme erscheinung inmitten der Passagiere auftauchte. Diese »Erschei
nung« orientierte sich kurz und steuerte dann schnurstracks auf die Reporterin zu. Lilith blieb drei Schritte von Beth entfernt stehen und musterte sie kritisch. Die höllischen Strapazen, die hinter ihr lagen, hatten ihr nur äußerlich nichts anhaben können. Wer aber in Liliths Augen zu le sen vermochte, wurde eines Schlechteren belehrt. Das Lächeln jedenfalls blieb angespannt. »Schön, dich wiederzuse hen …« Der Beginn ihrer Begegnung war von gegenseitiger Unsicherheit und Zurückhaltung geprägt. Das änderte sich, als Beth kurzentschlossen auf Lilith zutrat, sie erst flüchtig, dann zunehmend freundschaftlicher umarmte und sie dadurch animierte, ebenfalls ihr Reservat zu verlassen. »Wirklich schön, dich wiederzusehen!« Der Anfang war getan. Elisabeth MacKinsey alias »Macbeth« sah zum Anbeißen aus. Im Gegensatz zu Lilith, die ihr dunkles Haar lang und mähnig trug, hatte Beth eine blonde, struwwelige Kurzhaarfrisur, die sie als das entlarvte, was sie in der Mördergrube ihres Herzens auch war: rotzfrech! Der zweite Kontrast zu Lilith war Beth’ eher knabenhaft schlanke Figur. Sie litt zeitweilig unter dem wenigen Busen, obwohl Lilith, die in dieser Hinsicht keinen Grund zum Klagen hatte, gerade diese Verteilung der Proportionen äußerst geglückt fand. Beth – auch wenn sie dies selbst nicht nachvollziehen konnte – sprühte vor Ero tik. Und das, erkannte Lilith neidlos an, hatte viel mehr mit Sinnlich keit zu tun als manch »aufgepumpte« Attraktivität … Der erste tiefschürfende Blick in Beth’ an diesem Tag dunkle Au gen genügte Lilith jedoch, alle sinnlichen Gedanken zu vergessen und statt dessen einem unguten Gefühl tief in ihr Nahrung zu ge
ben. »Was ist passiert?« fragte sie auf dem Weg zu Beth’ Wagen. »Woher willst du wissen, daß etwas passiert ist?« »Du hast es mir verraten – gerade eben, mit dem ersten Blick, der mich traf!« »Sind alle Vampire Hellseher?« »Sind alle Menschen Geheimniskrämer?« Sie traten hinaus ins langsam erwachende Sydney – und Lilith fühlte sich auf ganz unsentimentale Weise heimgekehrt. Genau umgekehrt war es bei ihrer Ankunft in Indien gewesen. Dort hatte sie für kurze Zeit unter einem Gefühl regelrechter Desori entierung gelitten. Sie wußte nicht, ob es damit zu tun hatte, daß Vampire in fremden Ländern stets etwas »Heimaterde« mit sich führten, um auch dort erholsamen Schlaf zu finden. Sie war nur zur Hälfte Vampir. Bei ihr schien der Entzug der Heimat keine allzu krassen oder dauerhaften Nebenwirkungen auszulösen. »Hinter mir liegen schlaflose Nächte«, seufzte Beth. »Man sieht es dir nicht an.« »Sähe man dir an, was hinter dir liegt«, konterte die Reporterin, »möchte ich dich nicht anschauen müssen!« »Damit könntest du richtig liegen.« Sie stiegen in Beth’ Mini und reihten sich in die Fahrzeugschlange ein, die das Flughafengelände Richtung Innenstadt verließ. »Normalerweise«, gestand Beth nach einer Weile, »wäre meine Neugierde über das, was in Nepal geschah, nicht zu bremsen. Doch es scheint mir wichtiger, sich zuerst mit meinem unheimlichen Gast auseinanderzusetzen.« »Du hast einen Gast?«
Der Seufzer kam von tief unten. »Allmählich entwickele ich mich zu einem florierenden Beherbergungsunternehmen!« Sie lächelte süßsäuerlich. »Das wäre nicht weiter schlimm – immerhin habe ich auch euch, dich und Duncan, ertragen. Aber dieser Gast setzt noch einen drauf …!« »Ich fürchte, ich verstehe nicht.« »Freut mich zu hören – ich nämlich auch nicht!« »Würde mir eventuell der Name deines ›Gastes‹ etwas sagen?« Der Verkehr war inzwischen flüssiger geworden. Beth leistete es sich, kurz den Blick von der Straße zu nehmen und Lilith anzuse hen. »Sein Name wird dir nicht viel sagen – noch nicht. Jeff Warner. Er war mal Polizist. Bis Virgil Codd ihn auf ein Himmelfahrtskom mando schickte, von dem er – was Codd sicherlich nicht beabsichtig te – nun wieder zurückkehrte!«* »Hat er den Dienst quittiert?« fragte Lilith, obwohl ihr tausend an dere Fragen auf der Zunge lagen und durch den Kopf schwirrten. Beth blickte längst wieder auf die Straße. »Gewissermaßen«, bestä tigte sie dunkel.
* Durch die Fenster sickerte erstes, graues Licht, als Macbeth die Tür zu ihrem Apartment im Herzen Sydneys aufschloß. Lilith zögerte, die Wohnung zu betreten. Es war nicht nur die Erin nerung an Duncan, die hier überall nistete. Es war, als hätte die Wohnung während ihrer Abwesenheit den Abdruck eines ihr frem den Menschen angenommen. *siehe VAMPIRA 3: »Besessen«
Noch ehe Beth zusätzliches Licht machte, um die triste Morgen stimmung künstlich etwas aufzupeppen, sagte Lilith: »Er ist nicht mehr da.« »Wer?« Die Hand der Reporterin hielt über dem Schalter inne. »Dein ›Gast‹.« Beth atmete hörbar aus. »Woher willst du das wissen?« »Ich weiß es.« Sie fühlte es. »Zwei Möglichkeiten«, knirschte Beth und knipste das Licht an. »Entweder galoppiert deine Paranoia – oder meine!« Lilith überwand sich und trat schweigend ein. Beth schloß die Tür. Ihre Bewegungen kamen nicht mehr ganz so »glatt« wie noch Sekunden zuvor. »Warte hier!« Während Lilith sich in einem der Sessel niederließ, durchkämmte Beth die eigene Wohnung. Da es außer dem Wohnzimmer nur noch eine kleine Küche und den Schlafraum gab, dauerte die Aktion nicht lange. »Er ist weg«, erklärte sie frustriert, als sie sich gegenüber von Li lith auf der Couch niederließ. »Ich weiß.« In Beth’ Augen sprühte das Feuer, in das Lilith ganz vernarrt war. Mit einem warmen Schauder erinnerte sie sich an die Nacht vor ih rer Abreise. Ein paar Minuten war sie mit Beth allein in deren Bett gewesen. Sie wußte nicht, was passiert wäre, wenn Duncan sie nicht rechtzeitig gestört hätte. Seit sie von der lesbischen Neigung der Re porterin wußte, konnte sie ihre Neugier, was diese Form der Liebe anging, kaum noch zähmen. In jener Nacht hatte auch der Mann, den Beth als ihren »Gast« be
zeichnete, versucht, hier anzurufen. »Wir hatten, ehe ihr aufgebrochen seid, keine Gelegenheit mehr, über Warner zu sprechen«, kämpfte Beth jetzt um die richtigen Wor te. »Als ich von deiner wahren Identität erfuhr, und von den Hinter gründen – das alles war zuviel für mich. Ich hatte noch Tage daran zu knabbern …« Sie lehnte sich zurück und berichtete Lilith in knap pen Sätzen von der anonymen »Totenliste«, die ihr zugesandt wor den war und als deren Absender sich Jeff Warner herausgestellt hat te. In dieser Liste waren die Namen der Opfer ungeklärter Mordfälle aufgeführt gewesen, die sich über einen Zeitraum von rund hundert Jahren im Großraum Sydney ereignet hatten. Allen Opfern war ne ben der bestialischen Verstümmelung ein gemeinsames Merkmal ei gen gewesen: Allen war das Genick gebrochen worden! »Vampire«, unterbrach Lilith an dieser Stelle. Beth nickte. »Soweit bin ich auch schon. Ich konnte mir nach dei nen Eröffnungen eins und eins zusammenzählen.« Sie stockte kurz, dann fuhr sie fort: »Es gibt aber noch etwas, was mit Warners Per son in Verbindung zu bringen ist.« »Spann mich nicht auf die Folter.« »Ich erwähnte vorhin ein Himmelfahrtskommando, mit dem ihn Polizeichef Codd beauftragte.« Lilith nickte. »Dieser Auftrag führte ihn vor Wochen in das ehemalige Sperrge biet Paddington Street!« Lilith horchte aus zweierlei Gründen auf. »Ehemalige?« hakte sie nach. »Später!« Beth winkte fahrig ab. »Warner – auch das ergaben mei ne Nachforschungen – verschwand damals auf dem Grundstück, auf dem dein Geburtshaus stand – und er blieb verschwunden bis vor ein paar Tagen, als er Kontakt mit mir aufnahm und ich ihn bei
mir einquartierte!« »Warum hast du das überhaupt getan?« »Weil ich ein ›Händchen‹ für Streuner habe, vermutlich.« Beth lä chelte schwach. »Ernsthaft!« verlangte Lilith. »Okay, ernsthaft. Er war verletzt, konnte kaum sprechen, als ich ihn in einem Schuppen am Hafen traf. Da wart ihr schon in Indien und Duncan bereits tot …« Sie schwelgte kurz in Gedanken, die kei nesfalls erfreulichen Charakter besaßen. »Er hatte gute Argumente, daß ich mich seiner annahm.« »Wurdest du bedroht?« Beth schüttelte den Kopf. »Nein.« »Dann weiter!« drängte Lilith. »Ich warte auf den Hammer!« »Der ›Hammer‹ ist«, sagte die Reporterin, »daß er mich bat, ihm bei seiner Suche nach einer bestimmten Person zu helfen.« »Nach wem?« »Nach dir«, sagte Beth.
* »Er fragte nach – mir?« echote Lilith. »Wußte er, daß ich heute zu rückkehren wollte?« »Dein Anruf erreichte mich heute im Büro. Ich habe ihn seit ges tern nacht nicht mehr gesehen.« »Dann weiß er es also nicht.« »Ich wüßte nicht, woher.« Sie kratzte sich am Hals. »Andererseits scheint er einiges zu wissen, von dem ich nicht sagen kann, woher er es hat.«
Lilith seufzte. Sie sah ihren Verdacht, geradenwegs in die nächste Gefahr zu schlittern, bestätigt. »Worüber habt ihr euch unterhalten? Über etwas müßt ihr ja gere det haben. Machte er keine Andeutung, warum er zu mir will – und wo er so lange war?« Beth produzierte ein Geräusch, das auch beim besten Willen kaum als Lachen durchging. »Man merkt, daß du ihn noch nicht kennst … Unterhalten? Er wäre ein guter Ehemann – er hält den Mund! Aus dauernd!« »Eine komische Meinung hast du von Männern.« »Von Männern habe ich überhaupt keine Meinung.« »Noch schlimmer.« »Das ist relativ. Aber bevor wir hier in Philosophie machen, würde mich interessieren, wie es dir genau in Indien ergangen ist.« »Darüber rede ich, wenn du mir endlich gesagt hast, was der Kerl von mir will!« »Ich – weiß – es – nicht, Himmel! Er faselte etwas von einem Auf trag und einer Botschaft – über beides wollte er aber nur mit dir sprechen!« »Vielleicht macht er sich nur wichtig …« »Du hättest ihn erleben sollen. Noch ein paar Nächte mit dieser Leichenbittermiene, und ich hätte mir einen ganzen Club von Psych iatern zulegen können!« »Du hattest jedenfalls Mut, ihn aufzunehmen.« Beth schnitt eine Grimasse. »Du irrst, wenn du glaubst, ich hätte eine Wahl gehabt.« Als Lilith zu einer Erwiderung ansetzte, stoppte sie sie mit dem Zusatz: »Nein, keine Gewalt – keine Gewalt, wie ich sie verstehe! Es war einfach … Ich konnte nicht nein sagen …« »Mysteriös.«
»Ihr wärt das perfekte Paar«, bestätigte Beth.
* Der schütterhaarige, nervöse Mann, der ihr Vater war, kehrte mit ei nem aufgefalteten Stadtplan in Maryanns Hotelzimmer zurück. In Paul Rosehills Augen irrlichterte es triumphierend. Maryann formulierte spontan ein lautloses Gebet. Sie spürte, daß die Kluft zwischen ihr und ihrem Vater das Ausmaß eines Ab grunds anzunehmen begann. Es machte ihr angst, mit welchem Fa natismus er Patricias Mörder verfolgte. Natürlich hoffte auch sie, daß dem Psychopathen das Handwerk gelegt würde. Aber sie be trachtete es nicht als ihre Aufgabe, dafür zu sorgen. Sie fand, daß sie ein Recht auf – simpel ausgedrückt – Trauer hatte. Und sie zweifelte, daß Carlotta das richtige Mittel zur richtigen Zeit war … Wenn sie daran zurückdachte, wie sie ins Haus des Mordverdäch tigen eingedrungen waren und welche Show die Alte dort abgezo gen hatte, zweifelte sie nachträglich am eigenen Verstand, so etwas – zumindest passiv – unterstützt zu haben. Mit Mühe war es ihnen gelungen, die brabbelnde Alte ohne allzu großes Aufsehen ins Hotel zurückzuschaffen. Maryanns Vater hatte ein zusätzliches Zimmer angemietet, in dem er Carlotta und sich selbst untergebracht hatte. »Es geht ihr schon wieder besser«, sagte er jetzt. »Ich sprach kurz mit ihr. Danach legte sie sich schlafen.« Maryann trug nur einen Morgenmantel. Gleich nach der Rückkehr hatte sie sich eine halbe Stunde unter einen heißen Duschstrahl ge stellt und versucht, die Erinnerung an den Wahnsinn, den sie im Haus des Pornoproduzenten erlebt hatte, mit abzuwaschen.
Unmöglich. Das Gehörte und Gesehene holte sie immer wieder ein. »Willst du gar nicht wissen, was sie sagte?« »Nein!« Ihre Stimme zitterte. Sie konnte ihrem Vater nicht böse sein, aber sie haßte, was er tat. »Ich will es nicht wissen!« Er setzte sich an den kleinen Fenstertisch und breitete die mitge brachte Karte aus. Schulterzuckend sagte er: »Dann interessiert dich vielleicht, daß ich mit einem der Taxifahrer vor dem Hotel gespro chen habe. Eigentlich müßtest du Carlotta sofort Abbitte leisten …« »So?« knirschte Maryann. Sie fuhr sich müde über die Stirn und versuchte anschließend, die pochenden Kopfschmerzen durch ge zielten Druck der Fingerspitzen zu bannen. »Wenn du meinst …« Sie gab sich keine Mühe mehr, ihre Depression länger zu verber gen. Eine tote Schwester und ein Vater, der einer geltungsbedürfti gen Alten hörig war, waren einfach zuviel. »Vielleicht besinnst du dich«, fuhr er fort, als bemerke er die Krise seiner Tochter nicht, »wenn du erfährst, daß es den von Carlotta ge nannten Ort gibt. Hier in der Stadt!« Da Maryann überzeugt war, in Carlotta keine dumme, sondern eine raffinierte Greisin vor sich zu haben, empfand sie auch diese Er öffnung nicht als Sensation. Natürlich hatte die »Hellseherin von ei genen Gnaden« Paul Rosehill nicht unvorbereitet nach Sydney be gleitet … »Wenn es so wäre, müßtest du umgehend die Polizei verständi gen«, sagte sie lahm. Gleichzeitig fragte sie sich, wie lange die ange schlagene Gesundheit ihres Vaters dessen Eskapaden noch verzei hen würde. Trotzig wie ein Kind sah er sie an. »Und dann? Du kennst doch die Mühlen unserer Gesetzgebung! Was würde einem überführten Mör der schon groß blühen? Wir könnten ihn ein paar Jahre durchfüt
tern, und dann? Nein, nein …« Es dauerte eine Weile, bis Maryann begriff, worauf ihr Vater mit diesem vielbemühten Klischee hinauswollte. Ihr Herzschlag verselbständigte sich und hämmerte plötzlich wie rasend hoch oben in ihrer Kehle. »Du willst doch nicht etwa … auf eigene Faust …? Dad!« Er starrte nur stumm auf den Plan, der ausgebreitet vor ihm lag. Nach einer Weile faltete er ihn zusammen, erhob sich und verließ das Zimmer. Seine Bewegungen waren schleppend, wie die eines Verurteilten auf dem Weg zum Schafott. Oder eines Henkers, der zwar keinen Spaß am Job hatte, aber von der Notwendigkeit seiner Arbeit überzeugt war …
* Paul Rosehill streichelte die Waffe in seiner Tasche wie eine rauhe Geliebte. Er hatte aufgehört, sich zu fragen, ob das, was er vorhatte, richtig war. Er hatte aufgehört, sein ganzes Verhalten kritisch zu überprüfen. Eigentlich war es nicht erst der Mord an Pat gewesen, was ihn aus der Bahn geworfen hatte. Begonnen hatte es bereits mit Emmys Tod. Ein beschissener »Frauentod« hatte all das zunichte gemacht, was Jahre brauchte, um in Harmonie zu gedeihen! Die Diagnose »Brust krebs« hatte Emmy äußerlich tapfer ertragen. Aber wer so lange sein Leben mit einem anderen teilte, wie es bei Paul und Emmy Rosehill der Fall gewesen war, der blickte mühelos hinter jede Maske. Jeder Tag, mit dem klarer wurde, daß die Metastasen bereits wild wu chernd um sich gegriffen hatten, hatte Paul weiter ins Nirgendwo abdriften lassen.
Er war sicher, Emmy hatte seine Veränderung ebenso durchschaut wie er die ihre. Aber niemand konnte ihr verübeln, daß sie sich auf ihr eigenes Schicksal konzentriert hatte. Die letzten gemeinsamen Monate waren wie im Flug vergangen. Als Emmy die Augen für im mer schloß, hatte Paul gedacht: Ich komme bald nach! Aber da waren die Kinder gewesen. Obwohl schon beinahe erwachsen, hatte er sich irgendwie an der Aufgabe, für sie da zu sein, wieder aufgerichtet. Dann war nur noch ein Kind (eine Frau!) da gewesen: Maryann, die »Pflegeleichte«. Der Kontrast dazu, Patricia, hatte ihn und Emmy immer in Atem gehalten. Und dann war sie von Darwin nach Syd ney gezogen. Je weniger Paul von ihr hörte, desto größer wurde sei ne Sorge um sie. Seine gesundheitlichen Probleme kamen nicht von ungefähr. Puzzleteil war zu Puzzleteil gekommen. Das letzte noch fehlende Stück im Mosaik der Tragödie war der Anruf aus Sydney gewesen, der ihm wie ein Keulenhieb Pats Tod eröffnet hatte. Seither war nichts mehr wie zuvor. Rosehill hatte keine Kraft mehr, der Verzweiflung zu trotzen. Carlotta schien die einzige zu sein, die ihn verstand. Sie hatte da mals ein dünnes Pflaster über seine geschundene Seele geklebt, in dem sie für einige Sekunden Kontakt zu Emmy ins Jenseits herge stellt hatte – Rosehill glaubte fest daran, daß er nicht getäuscht wor den war. Er wußte seitdem auch, daß das Jenseits nicht einfach in »Himmel« und »Hölle« unterteilt war. Es war schrecklich und verlo ckend zugleich. Das einzige, was er hoffte, war, daß er auch nach sei ner Vergeltungstat noch Zugang zu dem Ort erhalten würde, wo Emmy ihn erwartete … »Wir sind da!« Die geschäftsmäßige Stimme des Taxichauffeurs riß Rosehill aus trüben Gedanken. Er nickte fahrig. Der Fahrer nannte ihm den Preis, und er zahlte,
ohne auf die Herausgabe des Wechselgeldes zu warten. Es war früher Vormittag, als er ausstieg und ungeduldig wartete, bis sich das Taxi wieder in Bewegung setzte. Für australischen Sommer war es empfindlich kühl in diesen Ta gen. Für die kommende Nacht war sogar leichter Bodenfrost voraus gesagt worden. Das Klima schlug wieder einmal Kapriolen, wäh rend die Meteorologen nicht müde wurden zu beteuern, alles bewe ge sich noch in den Toleranzen der Normalität. Rosehill lachte bitter, obwohl es ihn nicht mehr sonderlich kümmerte. Er sah sich um. Carlotta hatte eine so detaillierte Beschreibung der Umgebung ge geben, daß Rosehill sich mit geradezu gespenstischer Sicherheit zu rechtfand. Beim Steckbrief des Täters hatte die Seherin aus Darwin allerdings passen müssen. Es war ihr unmöglich gewesen, ihn deut lich zu »Gesicht« zu bekommen. Rosehill zog sich der Magen zusammen. Außer ein paar Tassen Kaffee hatte er heute noch nichts intus. Nicht weit von hier lag ein Park gleichen Namens, wie er in der »Alten Welt«, in England, Berühmtheit erlangt hatte. Von seinem Standort aus konnte Rosehill über die Häuserdächer hinweg die Wipfel der höchsten Bäume erkennen. Er wandte sich nach rechts dem heruntergekommenen Industriepark zu, der sich dort mit einem Dutzend alter Gebäude und Baracken erhob. Jede Stadt hatte ihre Schandflecke. Dieser hier war ein besonders häßlicher. Rosehill überwand einen Streifen mit hohem Unkrautbewuchs und entfernte sich dabei weiter von der Ringstraße, welche die »Konkursmasse« vieler glückloser Investoren umspannte. Rosehill hatte keine Angst vor dem Mörder, der in einem der Bau
ten hauste. Carlotta hatte ihn vor einem unmenschlichen Täter ge warnt. Aber etwas anderes hätte er ohnehin nicht erwartet. Nicht erst seit er die Bilder von Pat auf dem Obduktionstisch gesehen hat te, wußte er, wozu Unmenschen fähig waren. Rosehill hatte die Greu el eines Krieges mitgemacht, der einem Weltenbrand gleichgekom men war. Er erinnerte sich problemlos, wie man tötet. »Suchen Sie etwas?« Ein Mann tauchte schattengleich hinter Rosehill auf. Er drehte sich um. Sein Magen entspannte, dafür krampfte sich – wie in einem Ge genreflex – sein Herz zusammen. Aber er ließ sich nichts anmerken. »Ich interessiere mich für das Gelände«, log er. Er hatte seinen besten Anzug angezogen. Was man von seinem Gegenüber nicht behaupten konnte. »Wer sind Sie?« »Der Wächter«, kicherte der Zerlumpte. Rosehill wußte, daß auch dies eine Lüge war. Er hatte die abgeris sene Gestalt sofort erkannt. Allzu deutlich erinnerte er sich an das Foto in Leroy Harps’ Nobelklitsche. Obwohl sein Gegenüber bei weitem nicht mehr der braungebrannte Strahlemann wie auf dem Bild war …! Vor ihm stand Pats psychopathischer Mörder! Rosehill zitterte. Danke, Carlotta! Der Kerl sah aus, als hätte er Fieber oder stünde unter Drogen. Sei ne Augen glommen in schwülem Licht. Es hätte Angst sein können – oder Heimtücke. Oder beides. »Vielleicht können Sie mich führen … Wie ist Ihr Name?« »Armstrong. Einfach Armstrong … Wer hat Sie geschickt?« »Die Immobilie wurde mir empfohlen.« Jedes Wort fiel schwer. Rosehill zwang sich. Er mußte sichergehen. Durfte jetzt keinen Feh
ler machen. Seine Faust umspannte die Waffe in seiner Tasche. »Von wem?« Rosehill riskierte es, den alten Armeerevolver kurz loszulassen. Er zog ein Foto aus der Brieftasche und hielt es hoch. Es zeigte Patricia. Das Ungeheuer ließ die Maske fallen. »Trish-Darling …!« brabbelte es zärtlich. Ein Speichelfaden tropfte aus seinem Mund. Paul Rosehill zog den Revolver und feuerte die Trommel in ra scher Folge leer. Damit begann alles Leid. Für ihn …
* Maryann hatte sich hingelegt und versucht, etwas von ihrem letzte Nacht versäumten Schlaf nachzuholen. Es war unmöglich. Die Sorge um ihren Vater ließ sie keine Sekun de zur Ruhe kommen. Sie fürchtete, daß er sich und andere ins Un glück stürzte. Plötzlich erschien es ihr nicht mehr völlig abwegig, daß Carlottas Visionen ein Körnchen Wahrheit besitzen könnten. Als es heftig gegen die Tür des Hotelzimmers klopfte, hoffte sie, ihr Vater hätte Vernunft angenommen und die Sache der Polizei überlassen. In einem weitfallenden Pyjama kroch sie aus dem Bett und öffnete. Vor der Tür stand Carlotta. Sie grabschte sofort nach Maryann, um sich an ihr festzuhalten. Ihre Tränensäcke waren größer als die verbliebenen Wangen darun
ter und leuchteten anthrazitfarben. Maryann war die Berührung unangenehm, aber sie erkannte, daß die Greisin stürzen würde, wenn sie losließ. Mit schnellen Schritten lenkte sie Carlotta zum Bett, auf das sie schweratmend niedersank. »Soll ich einen Arzt verständigen?« fragte Maryann. »Zu spät …« Carlotta schüttelte den Kopf. Ihr Haar sah aus wie trockenes, vom Alter schwarzgefärbtes Spinngeweb. Maryann bekam einen Schreck, weil sie fürchtete, die Alte würde ihr unter den Händen wegsterben. Hektisch huschte sie zum Tele fon, um den Notarzt zu alarmieren. »Laß das!« Die Stimme kam zu energisch für eine Sterbende. Maryann hielt verblüfft ein. »Es geht nicht um mich!« wehrte Carlotta barsch ab. »Es geht um – deinen Vater!«
* Sie hatte kurz geschlafen. Als sie aufwachte, hörte sie Beth’ Stimme aus dem Nebenraum. Sie telefonierte. Wahrscheinlich hatte das Klingeln des Apparats Lilith geweckt. Sie lag still da und versuchte zu rekonstruieren, was geschehen war, nachdem Beth von diesem Jeff Warner gesprochen hatte. Daß der Ex-Polizist sie, Lilith, suchte, konnte nur mit seinem Verschwin den auf dem Anwesen 333, Paddington Street zusammenhängen. Das HAUS hat ihn geschickt! war dementsprechend Liliths erster Gedanke gewesen, und dies war – indirekt – von Beth bestätigt wor
den. Irgendwie mußte Warner mit dem HAUS in Berührung gekom men sein. Er hatte gegenüber der Reporterin behauptet, im Auftrag zu handeln – ohne etwas Näheres über diesen Auftrag oder seinen Auftraggeber sagen zu können oder zu wollen. Es war nicht auszuschließen, daß das HAUS einen neuen Versuch startete, Lilith gewaltsam in seine Obhut zurückzuholen, damit sie die »fehlenden« zwei Jahre vollendete. Überhaupt hatte Beth Bemerkenswertes über die Paddington Street zu berichten gewußt. Angeblich war die Sperrzone rund um die Hausnummer 333 seit Tagen aufgehoben. Evakuierte Anwohner kehrten bereits nach und nach wieder in die betroffenen Häuser zurück. Beth hatte sich mit eigenen Augen ein Bild der aktuellen Situation gemacht. Ein seltsames Bild, denn es widersprach allem, was Lilith mit eigenen Augen gesehen hatte. Bei ihrem letzten Besuch – den sie gemeinsam mit Esben Storm auf Traumzeitpfaden absolvierte* – hat te ihr Geburtshaus nicht mehr existiert. An seiner Stelle hatte sich ein knorriger Apfelbaum inmitten einer graslosen Lichtung erhoben. Jenseits der Lichtung hatte sich ein Gürtel unbekannter oder exoti scher Pflanzen um das gesamte Grundstück gedehnt und es dschun geldicht den Blicken der Außenwelt entzogen. Glaubte man Beth – was Lilith tat –, dann war diese Lage der Din ge auch schon wieder überholt. Nach Aufhebung des Notstands in diesem Teil der Paddington Street hatte sich den Blicken der Neu gierigen (allen voran der Medien) ein Bild völliger Verwüstung ge boten. Auf einem fast kahlen Boden hatten sie die Trümmer eines dem Erdboden gleichgemachten Hauses besichtigen können, und die inzwischen öffentlich gemachte Stellungnahme der Behörden schien darauf ausgelegt zu sein, endlich Gras über die ganze Ge *siehe VAMPIRA 5: »Niemandes Freund«
schichte wachsen zu lassen. Von einem verrückten Bombenbastler war die Rede, der im Keller des Hauses mit der Nummer 333 Unmengen von Sprengstoff ange häuft hatte. Dieser Bösewicht hatte sich nach letzten Polizeiangaben selbst so gründlich in die Luft gejagt, daß eine Identifizierung seiner Person nicht mehr möglich gewesen war. Aus Furcht vor weiteren versteckten Sprengstoffen und um die Bevölkerung nicht über Ge bühr zu beunruhigen, hieß es, hatte man erst das ganze Gelände umgepflügt, ehe man nun, nach Wochen, mit der »Wahrheit« her ausrückte … Die Spekulationen, was wirklich geschehen war, kochten immer noch auf großer Flamme. Aber bei Leuten, die nicht über Beth’ Ein blicke in die wahren Hintergründe verfügten, würde die polizeiliche »Beruhigungspille« über kurz oder lang Wirkung zeigen. Die Schlußfolgerungen jedoch, die sich aus den Behördenlügen ab leiten ließen, waren niederschmetternd. Besonders für Beth, wie Lilith gemerkt hatte. Offenbar kontrollierten die Vampire Sydneys Polizeiorgane nach Belieben! Für Lilith war dies nicht neu. Nach allem, was sie über ihre Be stimmung erfahren und was sie in Indien erlebt hatte, war davon auszugehen, daß Sydney keine Ausnahme von der Regel darstellte. Die Menschen glaubten seit grauer Vorzeit, sich selbst zu verwalten und zu regieren. Die, die wirklich an den Fäden der Macht zogen, hatten sie ins Reich der Fabel abgedrängt. Ein kluger Schachzug der Vampire! Denn was man leugnete, be kämpfte man schließlich nicht. Nachdem Lilith ihrerseits grob umrissen hatte, was ihr im Schatten des Himalaya widerfahren war, hatten sich die beiden jungen Frau en im Morgengrauen zu Bett begeben. Die Müdigkeit hatte sie beide
nach langer Nacht übermannt. Zugleich hatte die Nähe von Beth’ Körper Lilith aber auch wieder an Sehnsüchte erinnert, die sie im Geheimen hegte, seit sie zum ers tenmal von der speziellen Neigung der Reporterin erfahren hatte. Beth liebte Frauen. Ausschließlich. Lilith blickte sichtlich enttäuscht auf die verwaiste Stelle neben sich. Gleichzeitig irritierte sie die Heftigkeit, mit der das Verlangen nach Beth’ Zärtlichkeiten neu in ihr erwachte. Fast überfallartig durchströmte wohlbekannte Wärme ihren Schoß. In ihrem Bauch flatterten Schmetterlinge und anderes gänsehauter zeugendes Getier. Als Beth endlich ins Schlafzimmer zurückkehrte, war Lilith völlig aufgewühlt, weil ihr Verstand von blinder Begierde überrollt zu werden drohte. Mit einer solchen Heftigkeit, daß sie sich fragte, ob dies wirklich noch ihre ureigene Lust war, die sie geißelte. Lilith bezähmte sich mühsam. Hätte sie ihren Gefühlen freien Lauf gelassen, wäre Beth vermutlich schreiend aus der eigenen Wohnung geflohen. Oder auch nicht, lockte derselbe kleine Teufel, der all dies verur sachte. »Etwas – Wichtiges?« fragte sie kehlig. Beth stand in der Tür. Sie hatte das Licht im Wohnzimmer bren nen lassen. »Schlaf ruhig weiter«, gab sie Antwort. »Ich erhielt gerade eine Art Hilferuf. Ich muß weg …« Ihr Blick schweifte an Lilith vorbei zur Uhr auf der Nachttischkonsole. Seufzend fügte sie hinzu: »Eigent lich müßte ich auch längst in der Redaktion sein. Mein Chef weiß nichts von meinen nächtlichen Eskapaden. Es wird ihn wenig freu
en, nur meinen Stuhl anblaffen zu dürfen …« Lilith versuchte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Ist es so wichtig?« fragte sie nur. »Ich weiß es nicht.« Beth zuckte entsagungsvoll die Achseln, ehe sie zu ihrem prallgefüllten Kleiderschrank hinüberging. Lilith beobachtete fasziniert, wie sie ansetzte, ihr weich auf die Oberschenkel fallendes Seidenneglige abzustreifen. Im letzten Moment hielt sie jedoch inne und raffte stattdessen ein paar Sachen aus dem Schrank zusammen, mit denen sie sich ins Wohnzimmer verabschiedete. »Bis später! Ich kann nicht sagen, wann ich wiederkomme …!« Die Tür fiel ins Schloß. Lilith saß halb aufgerichtet in der Dunkelheit, die für sie längst nicht so undurchdringlich war wie für Normalsterbliche, und lauschte den Geräuschen aus dem Nebenraum. Sie verrieten, wie ei lig Beth sich herrichtete, um die Wohnung zu verlassen. Als die Außentür zuschlug, sank Lilith unbefriedigt in die Kissen zurück. Obwohl die Müdigkeit vollständig von ihr abgefallen war, blieb sie noch minutenlang liegen. Ihre Phantasie ging mit ihr durch. Nachträglich bedauerte sie, ihre Lust nicht doch schon mit ihrem Nachbarn im Flugzeug gestillt zu haben. Es hätten sich Wege gefun den … Sie erschrak, als sie das völlig reale Empfinden einer kundigen Hand hatte, die lüstern über ihre straffen Brüste streichelte. Erst über die Linke, dann – Lilith sprang auf. Die Decke glitt von ihrem Oberkörper. Darunter befand sich keine Hand. Auch das Zimmer war leer. Nie
mand war da. Sie strich mit eigenen Fingern über das seidig schimmernde Des sous, das der Symbiont einfach Beth’ Neglige nachempfunden hatte. Die Berührung fühlte sich identisch an wie jene, die Lilith erschreckt hatte. Aber die Stimmung war verdorben. Die Halbvampirin schwang sich aus dem Bett. Etwas, das sie seit ihrer Begegnung mit Landru quälte, drängte verstärkt in den Vor dergrund, und sie war entschlossen, die Zeit bis zu Beth’ Rückkehr nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Vater … Als sie das Wohnzimmer betrat, hatte der Symbiont an ihrer Haut erneut seine Gestalt gewechselt. Ein knielanges Kleid, wie aus brau nem Wildleder gefertigt, umschmeichelte jetzt ihren immer hungri gen, immer noch unbefriedigten Körper. Die dazu passenden Stiefel waren über hauchdünne Fäden mit dem »Kleid« verbunden. Nie mand, der dieses Outfit sah, hätte geahnt, daß sich dahinter ein et was eigenständiges Lebewesen verbarg … Lilith lenkte ihre Schritte entschlossen zur Tür. Den mysteriösen Jeff Warner hatte sie völlig aus ihrem Bewußtsein verdrängt. Bis es – im selben Moment, als sie die Klinke berührte – klopfte.
* Beth betrat ein Tollhaus, als sie die Tür des Hotelzimmers passierte. »Danke, daß Sie sofort kamen! Ich … weiß nicht mehr, was ich tun soll! Erst wollte ich die Polizei verständigen, aber dann hatte ich Angst, in der Klapsmühle zu enden …«
»Geht es um sie …?« Beth’ Blick schweifte an Maryann Rosehill vorbei zum Bett. Dort wand sich und wimmerte eine alte, seltsam gekleidete Frau mit Schaum vor dem Mund, als hätte sie die Tollwut. Sie schrie nicht laut. Aber was sie an Geräuschen produzierte, klang erschreckend. »Haben Sie einen Notarzt angefordert?« Beth machte ein paar un sichere Schritte tiefer in den Raum hinein. »Sie sagt, sie brauche keinen – Arzt.« »Ich glaube kaum, daß sie das entscheiden kann«, machte Beth ih ren Standpunkt klar. »Offen gestanden verstehe ich Sie nicht. Haben sie mich etwa deshalb hergebeten?« Maryann senkte den Blick. »Ich wußte mir nicht mehr anders zu helfen. Carlotta –« »Heißt sie so?« Beth’ Blick irrte wechselte erneut zu der alten Frau, die plötzlich still geworden war. So still, daß Beth befürchtete, sie hätte gerade ihr Leben ausgehaucht. Augen wie aus Glas waren zur Decke gerichtet. Maryann schien den gleichen Gedanken zu haben, denn sie schrie erschrocken auf. Beth packte sie an den Armen und zwang sie zur Räson. Als es Wirkung zeigte, ließ sie los und trat unbehaglich an das Bett. Das war der Moment, in dem die Greisin hörbar einatmete und flüsterte: »Es ist vorbei!« Beth’ Herz setzte einen Takt aus. Hinter ihr setzte Maryann zu einem weiteren Schrei an. »Genug!« Macbeth hob entschieden die Hand. »Ich will sofort wis sen, was hier vorgeht!« Die alte Frau richtete sich mühsam auf. Ihre Augen wirkten ver schleiert, obwohl keine Tränen zu sehen waren. Dann richtete sich
ein plötzlich wieder völlig klarer Blick auf Beth. »Sie versteht es nicht!« Es dauerte, bis die Reporterin begriff, daß nicht sie, sondern Ma ryann gemeint war. »Was begreift sie nicht?« »Daß ich es kann! Und daß es kein Segen ist, sondern ein Fluch!« »Was?« Maryann Rosehill trat an das Bett. »Sie gibt vor, hellsehen zu können!« erklärte sie abfällig. »Mein Vater tauchte mit ihr hier auf. Er – brachte sie mit, um Patricias Mör der ausfindig zu machen.« Sie lachte heiser. »Sie ist verrückt! Und jetzt – behauptet sie, auch mein Vater sei …« Beth spürte ein Gefühl wie Sodbrennen aus dem Rachenraum krie chen. »Wo ist ihr Vater jetzt?« »Er glaubte dieser Närrin und …« Maryanns Stimme versagte. »Großer Gott …!« keuchte Beth. Ihr dämmerte, was geschehen war. Barsch fuhr sie die Alte an: »Was genau haben Sie ›gesehen‹?« Ein Ausdruck beinahe übermenschlicher Abgeklärtheit – die Sum me eines besonderen Lebens – bildete sich auf den greisen Zügen. »Er fand seinen Meister. Denselben, der auch seiner ältesten Tochter zum Verhängnis wurde …« »Wer ist es?« kam es bebend über Beth’ Lippen. »Wissen Sie sei nen Namen?« Erst nickte Carlotta, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Ich habe ihn jetzt erkannt, aber er hat keinen Namen mehr. In seiner früheren Existenz hieß er Leroy Harps …«
*
Lilith wußte, wen sie vor sich hatte, ohne daß der Mann sich vor stellte. Seine Miene unter den Bartstoppeln war steinern. Der Blick seiner Augen schien bis auf ihr Skelett zu dringen. Er trug sportliche Kleidung, aber sie sah aus, als hätte er wochenlang darin geschlafen, ohne sie ein einziges Mal zu wechseln. Wirr hing sein Haar ins mar kante Gesicht. Wirr und zu lang. Lilith erwartete unwillkürlich, daß ein penetranter Gestank von ihm ausgehen müßte. Aber das war nicht der Fall. Beth hatte sie darauf vorbereitet, daß Warners Kiefer ausgerenkt waren und er sich strikt geweigert hatte, sich von einem Arzt behan deln zu lassen. Nun suchte sie vergebens nach Merkmalen dafür. Aber sein Mund hing nicht schief. Warner schien – sah man von den erwähnten Abstrichen ab – völlig in Ordnung zu sein. In dem Moment, als er Lilith erblickte, entfernte er sich jedoch ra pide von jeder Normalität. Sein Körper war plötzlich wie von Elek trizität umflossen. Dieser Effekt hielt nicht lange an, aber es genügte, um Lilith klarzumachen, daß dieser Mann nicht unbedingt eigene, aber gute Gründe hatte, sie aufzusuchen. »Endlich!« seufzte er. Lilith hielt immer noch die Tür auf und dachte: Er nuschelt auch nicht. Was hat Beth mir nur erzählt? Der »elektrische« Mann betrat ohne Aufforderung die Wohnung. Er bewegte sich etwas eckig, aber durchaus kraftvoll, so als hinge das beobachtete Phänomen mit den in ihm schlummernden Energi en zusammen. Lilith schloß die Wohnungstür und fragte rhetorisch: »Sie sind Jeff Warner? Der Mann, der mich suchte?« Der Besucher war stehengeblieben. Liliths abschätzige Musterung schien ihm nichts auszumachen. Auch nicht, daß sie hinzufügte:
»Wer – oder sollte ich fragen was – schickt Sie?« »Du kennst die Antwort bereits.« Ohne daß sie etwas dagegen tun konnte, wurde ihr im ganzen Körper flau. »Woher wollen Sie das wissen?« »Ich weiß es nicht. Aber das, was mit mir gekommen ist, weiß es.« Der Boden schien unter ihren Füßen zu schwanken. Sie war nicht sicher, daß sie präziser erfahren wollte, was sich hinter dieser An deutung verbarg. Dennoch hörte sie sich sagen: »Mit Ihnen?« Die Art, wie er dastand, behagte ihr nicht. Sie hatte noch nie je manden – ganz gleich ob Mensch oder Vampir – mit dieser absolu ten Ruhe irgendwo stehen sehen. Selbst wenn er sprach, bewegten sich nur die Muskeln des Gesichts. Von »ausgerenktem Kiefer« kei ne Spur. Wenn sich etwas an diesem Körper rührte, dann mit makel loser Perfektion. Was nicht gebraucht wurde, wirkte indessen wie abgeschaltet. »Ich komme aus der Paddington Street«, sagte Jeff Warner – ob wohl er ihre Frage nicht beantwortet hatte, konnte es niemand an ders sein. »Es ist keine gute Zeit zum Reden. Ich muß erst meinen Fehler korrigieren.« »Fehler?« echote sie. Erst in diesem Moment fiel ihr auf, daß seine leichte Jacke auf der linken Seite stark ausgebeult war. Eigentlich achtete sie nur darauf, weil Warners Hand in die Tasche tauchte und das, was sich darin befand, herausholte. Ein Apfel, dachte Lilith fassungslos. Zugleich erinnerte sie die Szene an etwas, was sie erst aus einem Wust frischerer Erlebnisse freilegen mußte. TRAUMZEITPFADE … DER BAUM IM GARTEN 333, PADDING TON STREET … DIE MENSCHEN, DIE SICH DARUNTER VER SAMMELT UND DIE VON SEINEN FRÜCHTEN GEGESSEN HA BEN …
Wie ein Blitz kam die Erkenntnis. Plötzlich glaubte sie Beth wieder vorbehaltlos, daß Warners Kiefer ausgerenkt oder gebrochen gewesen waren – unabhängig davon, daß dies jetzt nicht mehr der Fall war. Er gehörte zu jenen, die ich damals im Garten beobachtete! Ein jeder dieser wie von Trance befallenen Menschen hatte, unge achtet der fast zwangsläufigen Folgen, eine Frucht des Baumes un zerkaut verschlungen – und war dann aus dem Garten verschwun den!* Lilith brannte plötzlich darauf, sich den »Apfel« genauer anzuse hen, aber Warner steckte ihn dorthin zurück, woher er ihn gerade geholt hatte. »Ich muß gehen«, sagte er. »Wir treffen uns heute nacht. Im Garten deines Hauses.« Als Lilith kopfschüttelnd ablehnte, beteuerte er: »Deine Sorge ist unbegründet. Deine Entscheidung, nicht heimkehren zu wollen, wurde akzeptiert. Während deiner Abwesenheit hat sich vieles ge wandelt. Viele Wege wurden geebnet … Aber genug.« Er wandte sich zum Gehen. »Warum sollte ich das glauben?« versuchte sie ihn aufzuhalten. Er ließ sich nicht stoppen. Lilith konnte ihn weder festhalten noch ihm folgen. Er ging und ließ sie allein mit einem Berg neuer Fragen zurück. Als das Telefon klingelte, reagierte sie gedankenversunken und hob ab. »Gut, daß du drangegangen bist«, meldete sich Beth. »Ich fürchte, wir haben da ein Problem …« Lilith nickte zynisch. Ihr auch? *siehe VAMPIRA 5: »Niemandes Freund«
* Lilith wartete an der Straße, als Macbeth in ihrem Mini Cooper an rauschte. Das Gefährt war bereits mit zwei Personen besetzt, und es zeugte von Beth’ Unerschrockenheit, auch noch einen dritten Fahr gast aufnehmen zu wollen. »Ich weiß«, kam die Reporterin jedem einschlägig bissigen Kom mentar zuvor. Sie hatte sich über ihre Mitfahrerin gebeugt und die Tür aufgehebelt. »Es ist eng. Aber es wird gehen müssen. Wir brau chen Carlotta!« Liliths Haare sträubten sich, als sie sich neben die greisenhafte Frau quetschte. Eine Welle von Übelkeit durchzog ihren Magen. Am liebsten wäre sie spontan wieder aus der Enge geflüchtet. Aber der Name, den Beth am Telefon genannt hatte, hielt sie zurück. Leroy Harps … Mit Mühe gelang es ihr, die Tür ins Schloß rasten zu lassen. »Was hast du?« fragte Beth. Lilith schüttelte unwillig den Kopf. »Fahr los!« Es war die alte Frau, die noch kein Wort gesprochen hatte. Ihre Nähe setzte Lilith zu. Sie löste das Gefühl eines Strudels aus, der sich unter Lilith bildete und ihr Bewußtsein spiralförmig zu zerstäu ben versuchte … Es war Carlottas Aura, ihre Ausstrahlung. Sie trübte Liliths Geist. Aber es hatte nicht den Anschein, als geschehe dies aus Vorsatz. Lilith kämpfte stumm dagegen an. Mit Erfolg. Bei entsprechender Konzentration vermochte sie sich gegen die destruktiven Einflüsse zu wappnen. Macbeth riskierte mit ihrer Fahrweise hundertjährigen Führer scheinentzug. Ihr einziger Vorteil war, daß nicht einmal das Auge
des Gesetzes in der Lage schien, ihre Sardinenbüchse zu orten. Die ungefähre Lage des Ziels schien die Reporterin schon vorher mit Carlotta geklärt zu haben. Erst als sie ein kaum befahrenes, ehemali ges Industriegebiet erreichten, begann die »Feinabstimmung«. Die Greisin neben Lilith erwachte zu Leben. Sie dirigierte lautstark und händefuchtelnd. Beth parkte den Wagen am Straßenrand, als Carlotta leise wim mernd verkündete: »Stopp! Hier, ganz in der Nähe, muß es sein!« Sie stiegen nacheinander ins Freie. Die Mittagssonne legte schwere Schatten über das barackenbebau te Gelände. Lilith atmete tief durch und entfernte sich von der unangenehmen Frau. Nach etwa fünf Schritten wurde es schlagartig besser. Der Druck und das Schwindelgefühl verschwanden. Fortan wahrte Li lith diese Distanz. Beth, die keine Schwierigkeiten mit ihrer greisen Führerin zu ha ben schien, stützte Carlotta, indem sie deren Arm um ihren Hals leg te und ihr so beim weiteren Vordringen über einen verwilderten Grasstreifen half. Die Seherin schloß die Augen und gab dabei mit ausgestrecktem Arm die Richtung an. Der Weg endete dort, wo eine der Baracken den Weiterweg ver baute. »Ist es hier?« fragte Beth leise. Auch Lilith wartete angespannt. Carlotta öffnete die Augen. »Hier …« Lilith hatte nur auf die Bestätigung gewartet. »Bleibt ihr draußen! Darum kümmere ich mich allein!« »Bist du sicher?«
»Ist er – anwesend?« wandte Lilith sich an die Seherin. »Ich weiß es nicht … Es ist jedenfalls der Ort der Tat. Paul Rosehill …« Lilith signalisierte ihr, daß ihr diese Auskunft reichte. Sie steuerte die Tür der Baracke an und staunte, daß sie unverschlossen war. Ohne Zögern trat sie ein. Dahinter wartete noch Verblüffenderes: Ein Inventar, das kaum Wünsche offen ließ und das man dem äußeren Eindruck des Gebäu des nach nicht erwartet hätte. Lilith’ Lippen formten unhörbar den Namen des Mannes, den sie hier anzutreffen fürchtete. Leroy Harps. Sie war ihm kurz nach ihrem Erwachen begegnet. Sie hatte mit ihm geschlafen, von seinem Blut getrunken und ihm die Erinnerung dar an genommen, ehe sie ihn verließ. Diese Begebenheit lag rund einen Monat zurück, und eigentlich hätte das Kapitel »Harps« damit abge schlossen sein müssen. Lilith übertrug, dessen war sie immer sicher gewesen, beim Stillen ihres Durstes keinen Keim, der Menschen ver sklavte und – nach deren Tod – zu rastlosen Blutjägern machte. Auch verursachte sie keine nachhaltigen Schäden bei ihren »Spen dern«. Die Wunden schlossen sich und vernarbten beinahe umge hend. Erst von Beth hatte Lilith erfahren, daß nach Leroy Harps seit ge raumer Zeit gefahndet wurde. In seiner Wohnung war eine bestia lisch zugerichtete Porno-Aktrice gefunden worden. Harps befand sich seither auf der Flucht. Bei seinem inzwischen zweifelsfrei identifizierten Opfer handelte es sich um eine gewisse Patricia Rosehill. Deren Schwester und Va ter weilten derzeit in Sydney, um sich um Patricias sterbliche Reste zu kümmern. Beth war mit Maryann Rosehill, der Schwester, in
Kontakt getreten. Paul Rosehill, der Vater, hatte Carlotta mit nach Sydney gebracht – offenbar mit der festen Absicht, die Suche nach dem Mörder selbst in die Hand zu nehmen. Das war die Situation, wie sie sich Lilith darstellte. Und die doch völlig unklar blieb. Warum mordete Harps plötzlich im Blutrausch? Sie war sicher, ihn zu keiner Kreatur gemacht zu haben! Und was war von Carlottas außersinnlichen Wahrnehmungen zu halten? Die Alte war überzeugt, daß Harps zwischenzeitlich min destens zwei weitere Opfer gefunden hatte: Paul Rosehill und eine Unbekannte. Lilith wollte Carlotta nicht als weiblichen Scharlatan abtun. Die Aura der alten Frau sprach für sich. »Etwas« hatte sie. Etwas, was bei anderen Menschen kaum ausgeprägt oder gar nicht vorhanden war … Lilith machte kein Licht, als sie tiefer in den Raum drang, dessen Fenster dicht verschlossen waren. Falls Harps anwesend war, hatte er den Eindringling längst bemerkt und hielt sich irgendwo ver steckt. Lilith bezweifelte jedoch, daß er hier war. Ihre gut ausgeprägten Instinkte rührten sich nicht. Sie glaubte einschätzen zu können, wann sie belauert wurde. Hier war es nicht der Fall. Und dennoch stimmte etwas nicht. Sie ließ die noble Einrichtung fast unbeachtet. Bis sie den Pool ent deckte, in den Wasser eingefüllt war. Am Grunde des Beckens wa ren Ablagerungen von etwas, das schwerer als Wasser war, zu erken nen. Blut. Lilith hielt sich nicht damit auf. Ihre nachtsichtigen Augen streif
ten Scheinwerfer- und Kameraaufbauten, und allmählich glaubte sie zu begreifen, worum es sich bei diesem »Nest« im Niemandsland handelte: Offenbar hatte Harps hier einige seiner Billigpornos ge dreht – ohne großen Aufwand und vielleicht mit dem Touch des »Laienhaften« versehen, der gewisse Käuferschichten stärker ani mierte als allzu perfekte, klinisch sterile Darstellungen. Oder hier waren die »ganz harten« Sachen gedreht worden, die jeden ekeln mußten, der Sexualität nicht mit Auspeitschungen und anderen Un appetitlichkeiten in Verbindung brachte. Lilith wußte, was sie von Harps – dem Harps, dessen Blut sie da mals getrunken hatte – in dieser Hinsicht zu halten hatte. Deshalb wunderte sie sich nicht sehr über seine Vorliebe für solche Prakti ken. Sie glitt auf die Stellwände zu, die den hinteren Teil des großzügi gen Raumes abtrennten. Von dort strömte etwas auf ihren Instinkt über. Keine akute Gefahr, aber … Das Licht flammte auf. Hinter ihr erschien Beth. »Verschwinde!« fauchte Lilith. »Was ist?« rief Macbeth unbeeindruckt. »Hast du etwas entdeckt?« Lilith umrundete die Paravent-Reihe – und verlor augenblicklich jedes Interesse daran, was Beth hinter ihr tun mochte. Ihre Augen waren auf das Resultat von Leroy Harps’ grausigem Treiben gerich tet. »Allmächtiger!« stöhnte Beth gepreßt. Der Vorhang der Duschzelle war zurückgezogen, so daß genü gend Licht ins Innere fiel. Dort lag Harps’ vorläufig letztes Opfer. Es hatte offenbar noch versucht, mit Blut etwas an die Kacheln zu
schreiben. Mehr als ein krakeliges M war nicht zu entziffern. Vermutlich war der Tod schneller gewesen. In diesem Fall ein fast gnädiger Tod. Der nackte Mann wies schwerste Mißhandlungen auf. Seine Kleider lagen zerfetzt in unmittelbarer Nähe. Selbst Dinge wie Brieftasche, Banknoten, Münzgeld und ein paar Privatfotos, wie stolze Eltern sie gern von ihren Kindern bei sich trugen, lagen wild über den Boden verstreut. Alles war da. Nur der Mörder fehlte. Wo steckte Harps?
* Virgil Codd durchwanderte die künstliche Nacht seines Heims. Alle Jalousien waren geschlossen. Nur der Hauch eines Lichts ging von den gedimmten Leuchtkörpern aus. Codd war ruhelos wie noch nie. Sein neuerlicher Canossagang zum Versammlungsort der Herren war nicht ganz so vergebens ge wesen, wie es zunächst den Anschein hatte. Nur die Hoffnung, daß sich die chaotischen Verhältnisse innerhalb der Stadt in absehbarer Zeit bessern könnten, war nicht wesentlich gestiegen. Aber wenigs tens war die lähmende Vorstellung, etwas könnte die Herren auf Dauer von hier vertrieben oder gar vernichtet haben, hatte sich als Irrtum herausgestellt. Unmittelbar vor seinem Schreibtisch blieb Codd stehen und be schloß, Al Weinberg von seiner Entdeckung zu berichten. In diesem Augenblick klang ein Geräusch hinter ihm auf.
Er wirbelte herum. Unweit der Tür von Codds häuslichem Arbeitszimmer stand ein Toter … … jedenfalls war Codd lange Zeit davon ausgegangen, diesen Un tergebenen in den sicheren Tod geschickt zu haben! Bis vor kurzem. Bis zu Mauds erschreckender Verwandlung. Am selben Tag näm lich und in unmittelbarer Nähe der Stelle, wo Maud gesessen hatte, als Codd sie fand, hatte plötzlich der Dienstrevolver des Verscholle nen gelegen, der jetzt leibhaftig vor ihm stand! In der Dunkelheit! In einem Haus, von dem Codd sicher wußte, daß Unbefugte es nicht betreten konnten, ohne in eine der vielen Fallen zu tappen! »Jeff, alter Freund …!« Er hatte sich unter Kontrolle. Der larmoyante Ton kam routiniert über Lippen, die seit Jahren nicht älter geworden waren. Irgendwie fühlte er sich sogar von einer drückenden Last befreit. Er kehrte die offenen Handflächen nach außen, um zu demonstrieren, daß er un bewaffnet war. Theatralik lag ihm. Und aus irgend einem Grund hätte er geschworen, daß Warner ihn ebenso klar sehen konnte, wie er ihn! Aber Warner schwieg. »Was ist geschehen?« fragte der oberste Polizist von Sydney. »Jeff, sagen Sie, was geschehen ist! Wo steckten Sie die ganze Zeit?« Was hast du mit Maud gemacht, du verdammter Bastard? Codd setzte sich in Bewegung. Blick und Mimik waren ohne Arg list, und Warner schien auch keinerlei Bedrohung zu fürchten. »Ich war dort, wo ich hingeschickt wurde. Ich bin ein gehorsames Wesen …«
Warners Stimme klang genau, wie Codd sie in Erinnerung hatte. Dennoch erwachten plötzlich Zweifel, ob es derselbe Mann war, den er kannte. Er blieb stehen und wahrte vorsichtige Distanz. »Eine etwas … ungewöhnliche Adresse, um sich zurückzumelden, Jeff. Warum kamen Sie her?« »Ich habe eine Mission.« »Eine Mission?« Codds Ton war nicht ohne Absicht verletzend. Er wollte den in stoischem Gleichmut dastehenden Bastard endlich aus der Reserve locken. »Was Sie nicht sagen. Meinen Sie den Auftrag, den ich Ihnen gegeben habe, oder einen Auftrag, den Sie von jemand anderem erhalten haben?« Ein wahnsinniger Verdacht keimte in ihm. Als Warner nicht antwortete, fragte Codd: »Waren Sie vor Ta gen auch bei … meiner Sekretärin?« Warner verzog keine Miene. Aber er nickte. Bingo! dachte Codd. Ich wußte es! »Dann haben Sie ihr das angetan?« Warner nickte erneut. »Du warst nicht da …« »Ich war nicht da …« Codd leckte mit spröder Zunge über spröde Lippen. »Heißt das, Sie wollten mir an den Kragen?« Warner schüttelte den Kopf. »So kann man es nicht nennen.« Dann kam er auf Codd zu. Und er bremste nicht ab, bevor er ihn erreichte. Komm, nur, Bastard! Codd wich keinen Zentimeter. Er war alt und erfahren genug, um die begrenzte Metamorphose, zu der er fähig war, mit einem einzi gen Gedanken einzuleiten. Noch während er sich verwandelte, knurrte er: »Es war ein Fehler, Jeff, ein großer Fehler, hierher zu kommen! Maud war schwach – ich bin stark. Bleiben Sie stehen! Sagen Sie mir, was Sie mit Maud ge
macht haben – vielleicht lasse ich mit mir handeln. Ich könnte mit den Herren reden … Wenn ich meine Zähne in Sie schlage, bedeutet dies ewigen Tod. Erkennen sie Sie an und tun dasselbe, bedeutet es ewiges Leben, Jeff, ewiges Leben! Wir stünden fortan auf derselben Seite … Sagen Sie mir, was Sie getan haben!« Völlig unbeeindruckt von der entmenschten Bestie, die plötzlich vor ihm stand, schüttelte Warner den Kopf. »Ich weiß etwas Besse res«, sagte er kühl. Codds Kehle zitterte. »Etwas Besseres?« Haß erhob sich wie eine Wand zwischen ihnen. Aber es war aus schließlich der Haß einer geknechteten Kreatur. »Etwas sehr viel Besseres. Ich zeige es dir …«
* »Satan und Beelzebub!« keuchte Carlotta Frost. Die alte Frau war Lilith und Beth lautlos hinter die Paravents ge folgt. Ohne auf die Einwände der beiden zu achten, ging sie auf den Toten zu und beugte sich halb in die Duschkabine über ihn. Sie be rührte ihn nicht. In ihrer seltsam altmodischen Kleidung gab sie der Tat noch eine zusätzliche Dimension der Grauenhaftigkeit. »Es ist Paul«, sagte sie. »Paul Rosehill. Er sieht aus, als wäre er – gefoltert worden. Das deckt sich mit meinen Wahrnehmungen.« »Gefoltert?« stöhnte Beth. Lilith öffnete eine weitere Tür links der Duschzelle. Sie hatte es fast erwartet, dennoch prallte sie einen Schritt vor den übel zuge richteten Opfern zurück, die allesamt demselben Mileu entsprossen schienen: Randexistenzen, Obdachlose, Verlierer im Dschungel der Großstadt. Sie wiesen ähnliche Verletzungen auf wie Rosehill. Als
hätte sich ein tollwütiges Tier an ihnen vergangen. Leroy Harps! Lilith wollte immer noch nicht wahrhaben, daß sie ihn zur reißen den Bestie gemacht hatte. Wenn dies wahr gewesen wäre, hätten auch alle anderen, die sie seit ihrem Erwachen zur Ader gelassen hatte, zu Kreaturen mutieren müssen … Der bloße Gedanke trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. »Was sollen wir tun?« Die Stimme von Beth erreichte sie wie durch dämpfende Watte. Vielleicht war es auch Carlottas Nähe, die ihr erneut zusetzte. Lilith gab sich einen Ruck. »Das Vernünftigste wird sein, wenn wir das Feld räumen und der Polizei einen anonymen Tip geben, hier vorbeizuschauen. Ich glaube nicht, daß es uns zum Vorteil gereichen würde – auch dir nicht, Beth –, wenn wir erklären müßten, wie wir zu diesem Fund kamen!« »Hältst du es nicht für möglich, daß Harps – wir reden doch von Harps? – zurückkehrt?« »Doch.« Lilith hatte Beth nie von ihrer Begegnung mit Harps er zählt. Sie hatte es immer für eine Nebensächlichkeit gehalten, und nun war sie froh darüber. »Aber darum soll sich die Polizei küm mern.« »Seit wann hältst du so große Stücke auf die Bullen?« Es war weder eine gute Zeit noch ein guter Ort, über Ängste zu sprechen. Lilith wiegelte ab: »Sorge dafür, daß Carlotta ins Hotel zu rückkehrt. Rede mit Rosehills Tochter, wenn du es nicht lassen kannst. Bereite sie schonend auf das vor, was ihrem Vater zugesto ßen ist.« Beth starrte sie ungläubig an. »Und du?« »Ich habe noch eine private Angelegenheit zu erledigen.«
Eine »private Angelegenheit« – wie das klang! Beth schüttelte nur noch den Kopf. »Das glaube ich nicht … Ich kann nicht glauben, was du da sagst!« »Du wolltest, daß ich euch begleite. Das habe ich getan. Der Rest ist Polizeisache.« Basta! Lilith wandte sich ab. Sie fühlte sich mies wie selten, aber sie konnte nicht über ihren Schatten springen. Die Angst, sich die ganze Zeit in sich getäuscht zu haben oder getäuscht worden zu sein, wirbelte ihr Denken kom plett durcheinander. Wenn sie Menschen durch ihren Biß in mordende Blutsauger ver wandelte … was unterschied sie dann noch von ihren Feinden? Die Antwort war zu niederschmetternd, um sie – und sei es nur in Gedanken – zu formulieren. »Machst du es dir nicht ein bißchen einfach?« Beth’ Stimme holte sie ein. Erst jetzt erkannte sie, wie sehr die Fun de der Reporterin an die Nieren gegangen waren. Und noch etwas erkannte Lilith. Carlotta war zum Problem geworden! Sie mußte die Greisin noch auf eine Version »einschwören«, die niemanden – weder Lilith noch Beth noch die Alte selbst – in Schwierigkeiten bringen konnte. Aber ein Blick in Carlottas Augen belehrte sie, daß diese Frau ge gen jede hypnotische Anfechtung gefeit war. Auch das noch! »Keine Sorge«, beschwichtigte das Überbleibsel vergangener Zei ten. (Grotesk, sich vorzustellen, daß sie nach Jahren jünger ist als ich, dachte Lilith.) »Ich halte dicht!«
»Sie hält dicht …«, echote Beth, die daneben stand, und riß die Arme nach oben. »Bin ich die einzig Normale hier?« »Unbedingt!« entgegnete Carlotta trocken. »Ich würde mir aber nichts darauf einbilden, junge Frau.«
* Der Friedhof der Vampire … Es war Liliths’ dritter Besuch hier an Sydneys Randzone, wo die Vampire der Stadt einen Totenacker als zeitweiligen Treffpunkt und Unterschlupf genutzt und nach ihren Bedürfnissen »umgestaltet« hatten. Längst fanden hier keine Beisetzungen mehr statt, und dem Besucher bot sich der Eindruck hemmungslosen Vandalismus’. Lilith, die unter reiner christlicher Symbolik des Erbes ihrer Mutter wegen zu leiden hatte, spürte die unheilige Kraft, die diesen Boden vereinnahmt hatte. Grabkreuze waren niedergebrannt oder umge dreht worden, Steine umgestürzt und mit Satanszeichen beschmiert. Die durchgehende Stacheldrahtumzäunung konnte nicht der ein zige Grund sein, warum kein Mensch diesen offensichtlichen Ver wüstungen nachging. Lilith hegte den Verdacht, daß sich das wahre Aussehen des ehemaligen Friedhofs nicht jedem offenbarte. Die Vampire wußten sich zu schützen. Sie hoffte, daß sich ihr zuletzt gewonnener Eindruck bestätigte und die Sippe längerfristig von hier verschwunden war. Auch wenn es keinen Hinweis gab, warum ein etabliertes Versteck so einfach fallengelassen worden war. Vielleicht hatte Landru den Befehl gegeben. Landru kristallisierte sich immer stärker als die Ausnahmeerschei nung unter den Vampiren heraus. Das bezog sich nicht allein auf
sein sehr hohes Alter. Der Respekt und Gehorsam, der ihm alleror ten gezollt wurde, sprach für sich. Lilith glaubte nicht, daß Landru im Himalaya umgekommen war. Sie fürchtete im Gegenteil, daß er binnen kürzester Zeit ebenfalls nach Sydney zurückkehren könnte. Vielleicht schon hier war. Dies war mit ein Grund für die Eile, die sie hierher trieb. Seit Lilith wußte, daß der Kopf ihres vor Jahren enthaupteten Va ters immer noch existierte, war es ihr Bestreben, ihn an sich zu brin gen, um ihm die letzte Ruhe geben zu können. Landru, der Mörder, hatte Sean Lancasters Kopf wie in bestimmten Kulturkreisen üblich als Schrumpfkopf präpariert. Bei der Begegnung in den Tempeln hatte er behauptet, die für ihn wertlos gewordene Trophäe in Syd ney zurückgelassen zu haben. Der naheliegendste Ort, der dafür in Frage kam, war die verfallene Friedhofskapelle mit ihren unterirdischen Ausläufern! Lilith nutzte die bereits bekannte Lücke im Zaun, um diese Unru hestätte der ersten Siedler – in der überwiegenden Zahl Sträflinge und die Nachkommen solcher, die damals aus Europa herüberge schifft worden waren – zu betreten. Inzwischen war es Nachmittag. Die Sonne stand bereits tiefer und warf lange Schatten. Es war heiß geworden, aber darauf achtete Li lith, die sich ohnehin gleich in die unterirdische Kühle begeben wür de, kaum. Hinter dem zerstörten Steinaltar der Kapelle lag der Einstieg in ein Reich, das ständiger Veränderung unterworfen war. Zu Zeiten der Vampire hatten die Räume und Korridore dort unten wie Bestand teile eines prunkvollen Schlosses gewirkt. Seit dem Verschwinden der Wiedergänger war diese überbordende Pracht der Atmosphäre feuchter, mittelalterlicher Verliese gewichen. Lilith nahm es hin.
Es war ihr sogar lieber. Sie war ohnehin nicht gekommen, um sich zu amüsieren. Grabesstille empfing sie, als sie die unterirdische Ebene erreichte. Die abwärtsführende Treppe war von zentimeterdickem Staub be deckt, der auch in den kahlen Gängen zu finden war. Liliths Fuß spuren zeichneten sich deutlich darauf ab. Die, die sie bei ihrem letzten Besuch hinterlassen hatte, waren merkwürdigerweise ver schwunden. Aber mit solchen Ungereimtheiten hielt sie sich nicht auf. Trotz hallender Leere, die überall herrschte, erinnerte sie sich genau an die Lage der Kammer, die Landru während seines Aufenthaltes als Ge mach gedient hatte. Obwohl es keine funktionierende Lichtquelle gab, orientierte sich Lilith mit Sinnen, die ihre Umgebung kaum verfälscht wiedergaben. Dies geschah zwischenzeitlich so selbstverständlich, daß sie sich kei ne Gedanken mehr darüber machte, sich eigentlich durch stock dunkle Finsternis zu bewegen. Landrus Kammer war auf den ersten Blick ebenso leer und verlas sen wie alles andere. Dennoch suchte Lilith jeden Winkel ab und überprüfte Wände und Boden nach geheimen Fächern. Leider blieb das Ergebnis auch auf den zweiten und dritten Blick enttäuschend. Er hat gelogen, dachte sie und fügte erzitternd hinzu: Wenn die ›Tro phäe‹ wirklich wertlos für ihn war, hat er sie vermutlich vernichtet … Sie wußte nicht, was das für ihren Vater bedeutete. Seit sie von dem Schrumpfkopf wußte, wurde sie von der entsetz lichen Ahnung geplagt, daß Landru ihren Vater selbst in diesem Zu stand noch hatte peinigen können. Das war der Hauptgrund, weshalb sie ihn aus den Fängen des Mörders befreien wollte. Sie hatte den Menschen, den ihre Mutter
als Vater ihres Kindes ausgewählt hatte, nie wirklich kennengelernt. Kannte ihn nur aus visionären »Rückschauen«, aus – rückblickend betrachtet – inhaltsleeren Träumen. Dennoch fühlte sie sich ihm tief verbunden und verpflichtet. Es war eine von vielen Absurditäten, die ihr Leben bestimmten. Aber sie hatte entschieden, nicht zuviel darüber nachzudenken, son dern ihrem jeweiligen Gefühl bei einer Sache zu folgen. Deshalb gab sie ihre Suche auch nicht auf. Nach Landrus Kammer durchforschte sie jeden anderen auch noch so kleinen Raum und jede unscheinbare Nische. Doch das Ergebnis blieb sich gleich. Ganz zuletzt, als keine andere Möglichkeit mehr übrigblieb, ge stand sie sich ein, daß sie einer Möglichkeit – der scheußlichsten überhaupt – noch nicht nachgegangen war. Beim letzten Mal hatte sie hinter der steilen Treppe zum Altar raum eine verborgene Tür entdeckt. Dort, unter einem Berg von toten, verfaulten Menschenleibern, hatte sie noch nicht nachgesehen. Sie holte es – schaudernd bis ins Mark – nach. Öffnete die schwere Tür. Dahinter tränkte ein süßliches, betäubendes Aroma die Luft. Verwesungsgestank. Lilith trat in die Leichenkammer und starrte auf ein Bild, das noch tausendmal schrecklicher war als alles, was sie mit Beth und Carlot ta in der Baracke vorgefunden hatte. Die Toten hier waren ausnahmslos Männer, das war Lilith schon beim erstenmal aufgefallen. Ihr zweites hervorstechendes Merkmal war, daß etliche der Leichen Spuren aufwiesen, die kaum einen an deren Schluß zuließen als den, daß an ihnen herumgefressen wor
den war! Nicht von Ratten oder anderem Kleingetier, sondern von etwas Großem mit großem Appetit … Lilith erinnerte sich genau an ihre ersten Gedanken bei diesem An blick. Ihr Mangel an Wissen über ihr eigenes Stiefvolk hatte sie zu der grauenhaften These animiert, weibliche Vampire könnten kanni balischen Neigungen frönen. Weibliche Vampire deshalb, weil sie hier ausschließlich männliche Opfer gefunden hatte! Der Schatten dieses Verdachts belastete Lilith mindestens ebenso wie der, daß auch sie den Vampirkeim weitergeben konnte. Daß es auch andere Gründe für diesen Leichenkeller im Unter schlupf einer Vampirsippe geben konnte, half ihr wenig, solange sie diese Gründe nicht kannte. Jedenfalls traute sie Landru zu, den Schrumpfkopf hier »entsorgt« zu haben. Zugleich erkannte sie, daß sie sich nicht würde überwinden kön nen, zwischen den Leichen zu wühlen. Auf dem Boden hatten sich Lachen aus Absonderungen gebildet. Lilith kämpfte gegen die Übel keit an, die ihr die Kehle zuschnürte. Das ist es nicht wert, dachte sie. Selbst wenn er hier wäre … In diesem Augenblick hörte sie ein Geräusch von jenseits der über einandergestapelten Toten. Ein Geräusch, das ihr den Rest gab und sie dennoch nicht in die Lage versetzte, dem Raum den Rücken zu kehren. Es waren Schritte. Schwerfällige, plumpe, schleifende Schritte, die von einem Ge misch anderer, völlig undefinierbarer Geräusche begleitet wurden. Liliths Erstarrung löste sich erst, als Bewegung in den Leichenberg
vor ihr kam.
* Die Siegel der Nacht öffneten sich ihr bereitwillig. Dunkel war für sie nicht dunkel, Tod nicht Tod. Sie war hungrig. Und gelangweilt. Früher waren die dagewesen, die nur Abscheu – und Reste – für sie übrig hatten. Aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Nun waren sie verschwunden. Irgendwann (sie besaß kein Zeitgefühl) war einer der Diener ge kommen, aber nicht geblieben. Sie hatte sich rasch zurückgezogen, als sie seiner ansichtig wurde. Sein Fleisch war schon zu lange tot und verpestet vom Keim. Es konnte sie nicht mehr nähren. Hunger. Ja, der Hunger war das einzige, was ihr geblieben war. Wieder tat sie sich an den Resten gütlich, die ihre Frische längst eingebüßt hatten. Und in diesem Moment witterte sie lebendes Menschenfleisch. Doch etwas war ungewöhnlich an dem Geruch. So, als ob das Fleisch nicht rein wäre. Als ob es sich mit totem Gewebe mischte … Verwirrt, mehr aber noch erregt hielt sie in ihrem grausigen Mahl inne und blickte auf. Und da war … sie!
* In dem Moment, als Lilith das Monster sah, löste sich ein Schrei von ihren Lippen.
Sie hatte den Leichenberg halb umrundet und dabei die Ursache sowohl der Geräusche als auch der plötzlichen Erschütterungen er kannt. Dennoch setzte ihr Begreifen an diesem Punkt für eine nicht meß bare Zeit völlig aus. Die Gestalt, die sich mit unüberhörbarer Gier an einem der Toten verging, handelte nicht nur völlig abstoßend, sie war auch von kon turloser, atemberaubender Häßlichkeit. Sie mußte – aufgerichtet – mindestens zweieinhalb Meter hoch sein. Im Moment hing sie, den gewaltigen haarlosen Schädel voran, über ihr grausiges Mahl ge beugt. Einzelheiten dessen, was dort geschah, waren nicht zu erken nen. Nur unmißverständliche Grunz- und Schmatzlaute. Das Wort »Ekel« mußte für dieses Wesen erfunden worden sein! Aber schlimmer noch war, daß dieses mit grünlichem Sekret be deckte Geschöpf genau das um den Hals trug, was Lilith die ganze Zeit über gesucht hatte: Den Kopf ihres Vaters! »Nein …!« Ihr Ausruf fror das Monster inmitten seines grausigen Mahls ein. Für Sekunden eroberte völlige Stille den Raum. Das Drehen von Rumpf und Gesicht war eine Bewegung. Einen Hals als Übergang zwischen diesen beiden Körperteilen gab es nicht. Grollend richtete die Kreatur sich auf. Zwei Augen leuchteten wie flüssiger Schwefel inmitten einer breiigen Physiognomie, die au ßerdem von einem lippenlosen Mund, breit wie das ganze Gesicht, und mehreren Nasenschlitzen bestimmt wurde. Alles an diesem monströsen Gebilde wirkte teigig, aufgebläht und von schwammigem, großporigem Gewebe ummantelt. Lilith wahrte mühsam die Kontrolle über ihre Glieder, die in einen Fluchtreflex verfallen wollten.
Von irgendwo her, aus einem Bewußtsein, das nicht ihr eigenes sein konnte, strömte jäh die Kenntnis, daß unter Friedhöfen mitun ter Aasfresser wie dieser hausten. Ungetüme, die sich an den Lei bern der Verstorbenen vergingen, die ganze Labyrinthe aus unterir dischen Gängen und Höhlen errichteten und im geheimen ihr ver werfliches Dasein fristeten. Ghul genannt! Die Ghul – ausschließlich weibliche Dämonen … Lilith ballte die Fäuste. Wieso fiel ihr das erst jetzt ein? Warum war sie nicht früher darauf gekommen, daß die Vampire sich hier eine makabre »Hofhündin« zur Beseitigung ihrer Reste gehalten hatten? Aber warum nur männliche Leichen? Hatte dieses … Ding etwa Vorlieben auf dem Speiseplan entwickelt? Spätestens als die unförmige Riesin den ersten wankenden Schritt auf Lilith zumachte, dämmerte dieser, daß die Kreatur auch Leben diges nicht verschmähte. Langsam wich Lilith zurück, beobachtete dabei angeekelt-faszi niert weiter, wie sich das Monster behäbig nun vollends in ihre Richtung drehte. Gerade diese plumpe Behäbigkeit verleitete Lilith zu dem gefährlichen Schluß, es mit ihm aufnehmen zu können. Sie hatte den Kopf ihres Vaters immer noch nicht abgeschrieben. Und es verursachte ihr zusätzliche Qual, ihn vor der – als solche gar nicht erkennbaren – Brust dieses monströsen Fledderers zu erbli cken. Landru hatte den Mann, der einst mit ihrer Mutter Creanna nach Australien geflohen war, ein letztes Mal gedemütigt! Liliths Haß gegen den Vampir flammte neu auf und verhalf ihr dazu, den Ekel beiseitezuschieben. Mit dem nächsten Schritt, den das Monster auf sie zu tat, eilte auch Lilith ihm entgegen. Sie stufte
ihre Behendheit als entscheidenden Trumpf in der bevorstehenden Auseinandersetzung ein. Zu einem Kampf wollte sie es gar nicht kommen lassen. Ihre Absicht war, das Band mit dem magisch kon servierten Schrumpfkopf blitzschnell vom Körper des Ungetüms zu reißen und damit von hier zu verschwinden. Sollte das Monster nach seinem Gusto selig werden. Sollte es – »Rrrrroooaaaaaaaarrrgh …!« Zu spät erinnerte sich Lilith, daß es schon einmal eine innere »Sperre« gegeben hatte, den Kopf ihres Vaters zu berühren. Ihre ausgestreckten Arme verzögerten unmittelbar vor dem Ziel. Aber das lag nicht daran, daß es ihr immer noch nicht möglich war, den Schrumpfkopf zu greifen. Es waren plötzlich aufkommende Selbstzweifel, die sie stocken ließen. Ein Fehler. Im selben Moment blitzte es in den Schwefelaugen der Ghul auf, und sie bewies, daß sie auch anders konnte. Blitzschnell schoß eine der Pranken, die gerade noch in totem Fleisch versunken gewesen waren, nach oben und legte sich wie eine Klammer um Liliths Handgelenk. Die Berührung jagte Schauder über Liliths Haut. Auch dort, wo der Symbiont sie bedeckte. Aber bei ihm löste es keine Reaktion aus. »Verdammt! Laß los!« Mit der freien Hand versuchte Lilith, die Umklammerung zu lö sen. Aber obwohl sie über beachtliche Körperkräfte verfügte und das Fleisch des Ungetüms weich und zudem von einer Art Schleim film überzogen wirkte, gelang es ihr nicht, sich zu befreien. Über ihr öffnete sich das lippenlose Maul, aus dem fauliger Aasge ruch strömte und ein undefinierbarer Batzen – vielleicht Reste des Leichenmahls – herausfiel.
Wieder brüllte die Ghul auf. Schauriger und lauter als zuvor, und zugleich meinte Lilith auch eindeutigen Triumph herauszuhören. Zähne, die wie beinahe zufällig aneinandergereihte, zugespitzte Felsen aussahen, wurden sichtbar. Die andere Pranke schnappte nach Liliths freiem Arm. Im letzten Moment konnte sie eine Ausweichbewegung vollfüh ren. Dabei streifte sie – eher unabsichtlich – den Schrumpfkopf. Sofort setzte eine gespenstische Veränderung ein. Selbst das Ungetüm wirkte überrascht. Der makabere Schmuck, der durch die Erschütterungen leicht vor der Brust hin und her pendelte, begann plötzlich in unwirklichem Glanz zu pulsieren. Zugleich warnte Liliths Instinkt vor einer Gefahr, die nichts mit der sichtbaren Bedrohung durch die Ghul zu tun hatte und sich mit unwiderstehlicher Geschwindigkeit ausweitete. Wo? Sie nutzte die Sekunde, die auch das Ungetüm irritiert war. Mit Schnelligkeit, weniger mit Kraft, konnte sie den Arm aus der Um klammerung zerren. Irritation glitzerte in den Schwefelaugen über ihr. Die Fratze des Ungeheuers nahm beinahe etwas Mitleiderregendes an. Lilith ließ sich nicht blenden. Der Schrumpfkopf pulsierte jetzt in rasendem Takt. Lilith wollte erneut zugreifen und ihn mit auf ihre Flucht nehmen. In diesem Moment begriff sie. Wieder verharrten ihre Hände vor dem einst in Qual erstarrten, ganz klein gewordenen und von Runzeln übersäten bräunlich-ver dorrten Gesicht ihres Vaters. Sie sah die trüben Augen und erkannte die lautlose Warnung darin.
Mit einem Ton dumpfen Entsetzens auf den Lippen schnellte sie sich vom Boden ab und hechtete hinter die zweifelhafte Deckung to ter Leiber. Noch während sie aufschlug, ergoß sich ein Licht, heller als hun dert Sonnen, aber absolut kalt, über den Raum. Die Ghul kam nicht einmal mehr zum Schrei. Die Explosion ver zehrte sie restlos.
* Wie taub richtete Lilith sich auf und betrachtete, was Landrus heim tückische Bombe angerichtet hatte. Ihre Verachtung steigerte sie in einen Rauschzustand, auf dessen Höhepunkt sie sich nichts sehnlicher wünschte, als den Vampir jetzt in die Hände zu bekommen. Er tat ihr nicht den Gefallen. Es war typisch, daß er offenbar schon bei seiner Abreise die Even tualität in Betracht gezogen hatte, daß sie versuchen würde, den Kopf ihres Vaters in ihren Besitz zu bringen. Erst in Nepal hatte er die Bestätigung aus Liliths Mund erfahren. Es muß ihm ein Fest gewesen sein, dachte sie, vor Haß immer noch wie betäubt. Landru hatte den Schrumpfkopf in eine magische Bombe verwan delt, die auf niemand sonst reagierte als auf Lilith. Eine flüchtige Be rührung hatte genügt, den Zündmechanismus in Gang zu setzen … Als Lilith den Friedhof verließ, war die Nacht bereits hereingebro chen. Und zum erstenmal, noch geblendet von der Explosion, in der die letzte greifbare Erinnerung an ihren Vater untergegangen war, glaubte Lilith die Finsternis tatsächlich wahrzunehmen.
Aber vielleicht war es auch nur die Trauer, die ihr Herz zusam menpreßte wie ein eiserner Schraubstock … Der Vollmond stand wie ein glühendes Fanal am wolkenlosen Himmel, als sie Beth’ Apartment erreichte. Die Freundin war zu Hause – wie es aussah, weil sie auf Lilith ge wartet hatte. Lange, wie es außerdem den Anschein hatte. Lilith interpretierte den verschlossenen Ausdruck auf Beth’ Ge sicht richtig. Die Reporterin war immer noch sauer auf sie. Wortlos ging sie auf sie zu und nahm sie in die Arme. Offenbar kam die Geste so überraschend, daß Beth spontan ihre Haltung lockerte. »Was ist denn in dich gefahren?« So verletzlich hatte sie Lilith noch nie gesehen. So verletzlich hatte niemand sie je gesehen. Gemeinsam gingen sie zur Couch und setzten sich, immer noch halb umarmt. Lilith legte sich keine Scheu auf. Sie berichtete, was passiert war. Das Wesentliche. Den zweiten Tod ihres Vaters – so empfand sie es. Beth hörte schweigend zu. Vielleicht konnte sie das Band nicht nachempfinden, das jemand zu einem solch makaberen menschli chen Überbleibsel wie einem Schrumpfkopf zu knüpfen vermochte. Aber sie besaß genügend Einfühlungsvermögen, um zu erkennen, wie nahe der endgültige Verlust Lilith ging. Sie fuhr ihr zart über das schwarze Haar und drückte ihre Hand. »Ging bei dir alles glatt?« fragte Lilith schließlich. »Wie man’s nimmt. Carlotta wollte sich um Maryann Rosehill kümmern. Sie schickte mich heim. Dann habe ich mich als anony mer Anrufer betätigt – die Polizei weiß also Bescheid. Wir werden,
schätze ich, morgen in meiner Zeitung darüber lesen können.« Stille senkte sich über die beiden jungen Frauen. Eine ganze Weile sprach keine von ihnen ein Wort. Dann erwiderte Lilith, zunächst unbewußt, Beth’ Streicheln. Ihre Blicke trafen sich. Vielleicht lag es an der besonderen Stimmung, vielleicht aber auch einfach daran, daß beide spürten, sich nicht länger etwas vormachen zu müssen. In keiner Beziehung. Jedenfalls strichen ihre Hände plötzlich über Stellen, die sie kurz vorher noch bewußt gemieden hatten. Der Atem der Reporterin beschleunigte sich. Ihre Finger rieben un ruhig über den Pseudostoff, der Liliths Busen bedeckte. Liliths Gesicht grub sich in Beth’ Bauch. Dabei seufzte sie behag lich. Zugleich kam ihr aber wieder das gerade Erlebte zu Bewußt sein. Der Verlust … Als sie deshalb stockte, schien Beth zu fürchten, zu weit gegangen zu sein. Liliths Frage vertrieb diese Sorge schnell. »Was hältst du von einem gemeinsamen Bad?« Wortlos löste sich Beth aus der Umarmung und verschwand flink im Nebenraum. Das Geräusch fließenden Wassers lockte Lilith hin terher. Beth schien nicht nur über ein unüberschaubares Repertoire unter schiedlicher Haftschalen zu verfügen, sondern über mindestens ebenso viele anregende Badezusätze. Immer noch schweigend half Lilith der Freundin dabei, sich aus Kleid und Wäsche zu befreien. Als sie nackt vor ihr stand, zerfloß Lilith bereits vor Verlangen. »Was machen wir damit?« fragte Beth und deutete auf das Kleid,
das Lilith trug. »Das regelt sich von selbst«, behauptete und hoffte die Halbvam pirin. Wenige Augenblicke später floß der Symbiont tatsächlich von ih rer Haut und ballte sich nur noch als durchaus ansehnlicher Gürtel um ihre schmale Taille. Nun war auch Beth nicht mehr zu bremsen. Sie drängte Lilith förmlich in die Wanne hinein, wo sie sich gedankenlos völliger Ek stase hingaben. Lilith verhielt sich zunächst ungewöhnlich passiv, weil sie in Beth die erfahrenere Liebhaberin in dieser speziellen Konstellation akzep tierte. Bald konnte sie sich jedoch nicht mehr beherrschen. Zärtlich wuschen sie sich gegenseitig, kosten und küßten dabei jeden Qua dratzentimeter Haut. Beth schien völlig vernarrt in Liliths üppigen Busen zu sein. Lilith konnte dasselbe von Beth’ kleinen, aber den noch sehr fraulichen Brüsten sagen, deren Spitzen keck auf sie zeig ten. Sie saugte daran und hörte auch nicht auf, als sie hart geworden waren. Beth wimmerte vor Lust und revanchierte sich, indem sie Liliths Schoß unter Wasser streichelte. Mit Lippen, Zungen und Händen reihten sie gegenseitig Orgas men wie Perlen einer Kette auf. Völlig ermattet lagen sie auch danach noch eng aneinanderge schmiegt im erkaltenden Wasser. Irgendwann aber fragte Lilith: »Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?« »Nein. Warum?« »Ich habe noch eine Verabredung …«
* Der Mond am Nachthimmel erinnerte Lilith daran, daß sie seit ihrer Rückkehr nicht mehr daran gearbeitet hatte, ihre Fähigkeit der Ge staltwandlung zu trainieren. Auf der nepalesischen Seite des Himalayamassivs war ihr erstmals gelungen, was man Vampiren als verbreitete magische Gabe nach sagte: die Verwandlung in eine Fledermaus! Es war eine unbeschreibliche Erfahrung gewesen, plötzlich wie ein Vogel durch die Lüfte zu schweben, von eigener Kraft getragen. Sie verzichtete auch jetzt darauf, einen neuen Versuch zu starten. Lieber verließ sie sich darauf, mit Hilfe des Symbionten »wie der Wind« durch das Viertel zu eilen, mit dem sie viele ungute Erinne rungen verbanden. Die Paddington Street vermittelte nach außen wieder den Ein druck zaghafter Normalität. Zugleich spürte Lilith jedoch, daß längst nicht alles wieder so war wie vor der Blockade durch Polizei kräfte. In einigen Fenstern, an denen sie nahe der Hausnummer 333 vor beikam, brannte Licht – aber viele Fensterhöhlen waren auch noch dunkel. Die Häuser machten einen aufgegebenen Eindruck, viel leicht weil ihre auf dem Höhepunkt der Ereignisse zwangsevakuier ten Besitzer dem »Frieden« noch nicht trauten. Lilith blieb nicht einmal stehen, bis sie die Einfriedung des geister haft im Mondschein liegenden Grundstücks erreichte. Tor und Mauer schienen das einzige zu sein, was alle Veränderun gen unbeschadet überstanden hatte. Das Tor war (Behördeneinfalt oder -Sorgfalt) mit einer dicken Gliederkette und einem Vorhänge schloß verriegelt, obwohl einige Meter weiter der nach wie vor offe
ne Durchbruch zu finden war, durch den kettengetriebene Abbruch maschinen eingedrungen waren. Lilith entschied sich dennoch für ein Überklettern der Mauer. Kein Mensch hatte eine Chance, der Bewegung zu folgen, zumal der Symbiont ihren Körper wie eine zweite, lichtschluckende Haut nachzeichnete. Oben angelangt, spähte sie über das gesamte Grundstück, dessen wüstenhafte Leere sie betroffener machte als erwartet. Vom Haus, in dem sie 98 Realjahre verträumt hatte, war kein Stein mehr zu sehen. Die Spuren im Boden ließen darauf schließen, daß der ehemalige Keller damit aufgefüllt worden und dann alles mit einer Erdschicht übertüncht worden war. Allerdings verstand sie nicht, daß es so einfach gewesen sein soll te, das Haus vom Erdboden zu tilgen. Sie erinnerte sich gut daran, daß es ganz und gar nicht wehrlos gewesen war … War wirklich alle Magie, die diesen Ort über ein Jahrhundert ge kennzeichnet hatte, im Ansturm stupider Automaten verpufft …? Von Warner war keine Spur zu entdecken. Eventuell war sie be reits zu spät dran. Aber er hatte keinen genauen Zeitpunkt genannt, wann ihr Treffen stattfinden sollte. »Diese Nacht« war ein sehr vage gehaltener Begriff. Sie zog immer noch die Möglichkeit in Betracht, daß der Besuch dieses Grundstücks böse ausgehen konnte. Deshalb hatte sie Beth ihr Ziel verschwiegen. Wenn alles gutging, würde sie hinterher da von erfahren. Lilith sprang auf die andere Seite und landete federnd auf krumi gem Boden. Der Untergrund war so weich, daß sie sich unwillkür lich fragte, was sie getan hätte, wenn der ehemalige Garten sie wie Treibsand in seinen dunklen Bauch gezogen hätte. Eine Antwort fand sie nicht, und so ging sie rasch weiter.
Jetzt, da kein Halm mehr aus dem Boden ragte, wirkte die Fläche zwischen den Mauern auf beklemmende Weise geschrumpft. Be klemmend deshalb, weil Lilith das »Universum«, in dem sie so lan ge behütet aufgewachsen war, stets als etwas Großes empfunden hat te. Auch noch, nachdem sie ihm längst entronnen war. Dort, wo das Haus gestanden hatte, welches ihre Mutter einst mit unerklärlich starker Magie gegen Mensch und Vampir gesichert hat te, blieb Lilith stehen. Sie atmete die klare Nachtluft und genoß die nicht erwartete Ruhe. Im Grunde hatte sie selten anderswo eine ähn liche Geborgenheit gespürt wie ausgerechnet hier, wo es nichts mehr zum Wohlfühlen gab. Alles Vertraute war verschwunden, und doch war die Atmosphäre noch dieselbe, die sie von ihrem »ge träumten Leben« her kannte. Sie hatte oft darüber nachgedacht, welchen Zweck ihre gefälschten Erinnerungen erfüllen sollten. Hätte sie das Leben einer Kämpferin geträumt, wäre es leichter zu verstehen gewesen. Aber sie war in der Rolle eines ganz normalen Mädchens und Teenagers »großge worden«. Im Grunde gab es dafür nur eine Erklärung: Ich kann mich immer noch nicht erinnern, was in 98 Jahren Entwicklung WIRKLICH auf mich eingewirkt hat. Was ich zu wissen glaube, berührt lediglich die Oberfläche. Es muß viel mehr dahinterstecken. Ich beherrsche Sprachen, die ich nie be wußt gelernt habe, und ich vermag eine uralte Keilschrift in den Bergen des Himalaya zu lesen … WIESO? Die fehlenden zwei Jahre … Es lief immer wieder auf das gleiche hinaus! Oder war auch dies nur Wunschdenken? Der Wunsch, daß da mehr sein mußte als das, was mittlerweile offenlag …? Und was würde in zwei Jahren sein? Zwei Jahren, die sie wach ver bracht hatte, ohne vielleicht das letzte Quentchen Kraft und Wissen
eingeimpft zu bekommen, das es am Ende ausmachte… Sinnlos! Sinnlos, darüber zu grübeln. Sie hatte sich für ihren Weg entschie den, und wenn das Haus es tatsächlich endlich akzeptierte, um so besser … Leises Lachen ließ sie erstarren. »Du denkst, das ist gut«, sagte Jeff Warner. Er stand hinter ihr, ohne daß sie seine Annäherung bemerkt hatte. Unmöglich, dachte sie. Ich hätte es bemerken müssen! Sie schluckte die Bemerkung, die ihr diesbezügliches Unvermögen entlarvt hätte, hinunter. Aber wenn er Gedanken lesen konnte, war auch das umsonst. »Hier bin ich also«, sagte sie nur. Sie unterstrich ihre Worte, indem sie entsprechend gestikulierte. »Und jetzt will ich Erklärungen! Warum bin ich hier?« »Ich habe eine Botschaft«, sagte Warner (war er immer noch elek trisch geladen?). »Von wem?« »Das tut nichts zur Sache.« Bevor Lilith ihn korrigieren konnte, fuhr er fort: »Die, die dir deine Bestimmung gab, hat entschieden, den Prozeß deiner Entwicklung künftig außerhalb deiner Geburts stätte zu unterstützen.« Die, die dir deine Bestimmung gab … Wer war das? Ihre Mutter? Lilith verneinte innerlich. Auch ihre verstorbene Mutter hatte in ihrer kurzen Botschaft, die sie hinterlassen hatte, angedeutet, daß sie nicht die eigentliche Initiatorin des undurchsichtigen Plans war. Li lith erinnerte sich genau an die Worte: »Über deine Bestimmung darf
ich dir nichts verraten – was dir schon zeigt, daß auch ich nicht aus freien Stücken so handelte, wie es geschah. Nicht einmal dein Vater ahnte, wie fremdbestimmt ich war. Ich konnte mich meinem Schicksal so wenig wider setzen wie du dich dem deinen …« Was hieß das genau? WER zog die Fäden? »Es ist zu früh, dir das zu sagen«, erklärte Warner – oder das, was erneut »mit ihm gekommen« war, wie er es bei der ersten Begeg nung ausgedrückt hatte. Lilith war immer fester überzeugt, daß sich ein Teil des HAUSES in Jeff Warner manifestiert hatte. Blieb zu klären, was das HAUS ei gentlich war. Nicht die bloßen Mauern, die hier untergepflügt wor den waren, sondern das, was es so lange Zeit beseelt und was Lilith über ein nicht ganz vollendetes Jahrhundert hinweg erzogen hatte. Vorbereitet auf den Kampf gegen das Volk, dem auch Creanna an gehört hatte … Lilith gab sich einen Ruck. »Warum sollte ich kommen?« »Um zu erfahren, daß du nicht länger allein bist.« »Was heißt das?« »Die, die dir deine Bestimmung gab, ist um Schadensbegrenzung bemüht.« Lilith spürte, wie ihr die Hitze zu Kopf stieg. »Wessen Schaden?« »Du wirst es bald selbst erkennen, was dein verfrühter Aufbruch und der in Gang geratene Prozeß verschuldet hat!« »Mir hat schon einmal jemand deshalb Schuldgefühle eingeredet. Er nannte sich Esben Storm. Sagt dir der Name etwas?« »Er sagt mir nichts, aber wenn er die Vorgänge erkannt hat, war er klug.« Konnte sie ihm trauen? Konnte sie einem Wesen trauen, das wie
ein Mensch aussah, sich aber nicht die geringste menschliche Blöße gab? »Was heißt, ich bin nicht länger allein?« wiederholte sie ihre Frage. »Gibt es noch andere wie mich?« »Nein«, sagte Warner. »Was dann?« »Die, die dir deine Bestimmung gab, hat Befreier ausgesandt.« »Befreier?« »Du sahst sie die Früchte des Baumes ernten, hier im Garten.« »Du warst einer von ihnen!« »Ich war einer von ihnen.« »Was bedeutet das?« keuchte Lilith. Nach der Hitze kam die Kälte. Sie fror ohne ersichtlichen Grund. »Es bedeutet, daß in den letzten Tagen jede geerntete Frucht eine Kreatur der Finsternis befreit und in einen Menschen zurückver wandelt hat, der auf deiner Seite stehen wird, wenn er die kritische Zeit überlebt!« Liliths Verstand arbeitete auf Hochtouren. »Die kritische Zeit?« »Die Diener des Bösen«, erklärte Warner, »sind in einem grausa men Traum gefangen – viel grausamer als jener, den du träumtest. Sie können ihm unter normalen Umständen nicht mehr entrinnen. Sie tragen den Keim deiner Feinde – ihrer Herren – in sich. – Du weißt, wie Diener gemacht werden?« »Nicht genau«, wich Lilith aus. »Ein Vampir trinkt nicht einfach das Blut seines auserwählten Op fers. Ein Vampir tötet. Und der Keim erweckt das Tote wieder zu ei nem Scheinleben, das die Seele des Opfers daran hindert, ins Jenseits zu wechseln. Sie ist fortan gefangen in einem Traum, den der Keim ihr suggeriert. Das macht die Kreaturen gefügig. Sie trinken selbst
Blut, um den Keim zu nähren, der sie unterjocht – aber sie können ihn nicht weiterpflanzen.« »Aber dann würde die Befreiung von diesem ›Keim‹ doch ledig lich ihren Tod bedeuten!« warf Lilith mit unverhohlener Skepsis ein. »Nicht, wenn man es richtig macht.« »Warum«, fühlte sie ihm weiter auf den Zahn, »verwandelt ›die, die mir meine Bestimmung gab‹, dann nicht alle Dienerkreaturen rund um den Globus in die Menschen zurück, die sie einmal waren?« »Es ergäbe keinen Sinn. Die Vampire können jederzeit neue Skla ven zeugen, auch ohne Kelch – außerdem unterschätzt du den Auf wand, der zur Befreiung einer Dienerkreatur nötig ist.« Lilith schwirrte der Kopf. »Was weißt du vom Kelch?« »Er existiert immer noch.« »Wo?« »Niemand weiß es. Seine Spur verlor sich vor mehr als zweiein halb Jahrhunderten bei einem Ort namens Llandrinwyth.« »Was war das für eine Spur?« »Finde es heraus!« Es klang nicht nur wie ein Befehl – es war ein solcher. Absolut un überhörbar. Lilith wollte aufbegehren. Sie wollte sich nicht schon wieder benut zen lassen. Aber ihre Zunge belehrte sie, daß sie nie eine Wahl haben würde: »Wo liegt dieser Ort – Llandrinwyth?« »Im Südwesten Englands, in Cymru, in Radnor …« Obwohl die Namen regelrecht auf sie niederprasselten, hatte Lilith das Gefühl, das Wesentliche gar nicht vergessen zu können. Dennoch war sie weit entfernt, Zufriedenheit zu empfinden. Sie preßte die Lippen zusammen. »Du sprachst vorhin von einer
›kritischen Zeit‹ der Befreiten …« »Wenn sie die Fesseln des Traums abstreifen, treten sie in eine Phase der Neuorientierung, die sie für Tage oder Wochen sehr an greifbar macht. Sie müssen sich erst wieder selbst finden. Und sich über den Preis ihrer Befreiung klarwerden.« »Welchen Preis?« »Fortan einem neuen Herrn zu dienen«, sagte Warner. »Wem?« »Dir.« Nach dieser ungeheuerlichen Antwort begann Jeff Warner lang sam im Boden des Gartens zu versinken, und fast gleichzeitig begriff Lilith, daß er die ganze Zeit schon nicht auf dem Grund, sondern knöcheltief darin gestanden hatte. Als sie ihm helfen wollte, wehrte er ab. »Es ist alles in Ordnung. Ich muß dorthin zurückkehren, wo ich geheilt wurde. Ich muß mich der Pflicht stellen, die mir zugeordnet wurde – so wie du dich der deinen! Du wirst die Befreiten auf den Tag genau in zwei Monaten treffen. Alles weitere ergibt sich.« »Wo werde ich sie treffen?« rief Lilith klamm. »Auch das ergibt sich! Geh jetzt! Noch jemand wartet auf seine Be freiung – durch dich! Und dann suche den Grund dessen, worüber wir sprachen!« »Noch jemand …?« Keine Antwort. Sekunden später schloß sich die krumige Erde über Warners Kopf, und Lilith spürte eine Ausbeulung an ihrer »Kleidung«, die vorher nicht dagewesen war. An ihrer rechten Hüfte hatte sich eine Tasche gebildet. Als Lilith vorsichtig hineintastete, fand sie etwas, das sich anfühlte und aus
sah wie ein – Apfel. Eine giftrote Frucht …
* Maryann floh mit rudernden Armen rückwärts. »Trish-Darling!« brabbelte die abgerissene Gestalt, der sie arglos nach dezentem Klopfen die Tür des Hotelzimmers geöffnet hatte. Blitzschnell hastete der Mann in den Raum und warf die Tür mit Schwung hinter sich ins Schloß. Ehe Maryann zu einem richtigen Schrei ansetzen konnte, lag sie auf dem Teppichboden, und der bä renstarke Mann kauerte krötenhaft über ihr. Seine Hand verschloß ihr den Mund. Sie glaubte Blut zu riechen. »Ganz ruhig, Trish-Darling, du brauchst keine Angst zu haben. Diesmal wird es funktionieren. Ich hatte Zeit zum Üben. Dein Dad war so freundlich …« Maryann erstarrte. Sie erkannte den brutalen Eindringling verspätet, weil sie das Foto in Harps’ Wohnung nur flüchtig über die Schulter ihres Vaters hatte betrachten können. O Gott, Vater …! Vor Stunden war Carlotta zurückgekehrt und hatte versucht, ihr seinen Tod so schonend wie möglich beizubrin gen. Maryann hatte sie hinausgeworfen. Kurz darauf hatte sie einen Anruf der Polizei erhalten, der Carlot tas Aussagen bestätigte … Und der Alptraum nahm kein Ende. »Hör auf, dich zu wehren, dumme Gans! Wenn du versprichst,
lieb zu sein, laß ich dich los.« Maryanns Herz trommelte. Ihre Augen schienen aus den Höhlen quellen zu wollen. Sie nahm alle Kraft zusammen und nickte. »Wenn du mich aber reinlegen willst«, kündigte Leroy Harps an, »werde ich dich ganz ordinär killen. Dann hast du nichts Besseres verdient …!« Sie nickte nochmals. Er löste die Hand. »Ich wußte, daß wir uns vertragen.« »Was – wollen Sie?« keuchte sie heiser. »Wie kommen Sie – hier her …?« Harps hockte immer noch auf ihr. »Dein Daddy war so nett.« Er grinste gemein. »Was konnte der reden! Wie ein Wasserfall. Die hüb schen Bilder von dir wollte er mir erst nicht zeigen …« Maryann verstand nur die Hälfte. »Ich – bin nicht – Trish!« Daß sie einen gemeingefährlichen, unberechenbaren Irren vor sich hatte, hatte sie verstanden. Harps nickte. »Ich weiß. Aber du bist so gut wie Trish … Bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Vielleicht noch eine Spur hüb scher, unschuldsvoller. Ich steh’ auf Unschuld …!« Maryanns Augen füllten sich mit Tränen. »Was – haben Sie vor?« Harps’ Gesicht nahm einen fast weichen Ausdruck an. »Ich schen ke dir dasselbe, was der Meister mir schenkte …« Ein verlorener Zug trat auf seine Lippen. »Der Meister ist tot … kam nicht wieder … Ich wartete und wartete …« Maryann begriff plötzlich, wie sich Trish gefühlt haben mußte. Oder ihr Vater. Sie wollte nicht sterben. Schon gar nicht durch die Hand eines sol chen … »Hören Sie auf! Lassen Sie los! Sie sind ja …«
»Am Anfang tut es ein ganz klein bißchen weh. Tat es auch bei mir«, unterbrach Harps. Hinter seiner Oberlippe drängte etwas her vor. Etwas, das Maryann plötzlich an ihrem Verstand zweifeln ließ. Zähne! Lange, leicht gebogene, nadelspitze Zähne, die wie elfenbeinerne Kanülen schimmerten. Und ohne weitere Erklärung auf ihren Hals niederstießen. Das Entsetzen verschlang sie. Sie wurde ohnmächtig.
* Lilith riß die nur angelehnte Tür auf und erfaßte die Situation sofort. Harps kauerte über Maryann Rosehill – ganz wie sie es vermutet hatte. Nach der Berührung des seltsamen »Apfels« hatte es in ihrem Be wußtsein plötzlich klick gemacht. Sie hatte plötzlich gewußt, was das M an den Fliesen über dem to ten Paul Rosehill zu bedeuten hatte. »Er sieht aus, als wäre er gefoltert worden«, hatten Carlottas Worte in ihren Ohren geklungen. Um an welche Informationen zu gelangen? Und da hatte sie noch einmal die über den Boden verstreuten Bilder von Rosehills Töchtern gese hen. M wie Maryann … Plötzlich hatte sie gewußt, wo sie die Kreatur Harps finden konn te. Von Beth erfuhr sie, wo genau Rosehills Tochter abgestiegen war. »Halt!« Das Geräusch der sich öffnenden Tür hatte er noch ignoriert.
Ihre Stimme nicht mehr. Im letzten Moment, bevor sich seine Hauer wieder verheerend in ein Opfer bohren konnten, schnellte er hoch. Vielleicht ahnte er das wahre Ausmaß der Gefahr, in der er schwebte. Vielleicht erkannte er sogar Liliths Stimme … »Ah, du …!« Lilith glitt auf ihn zu. Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Das Mäd chen am Boden rührte sich nicht, aber Lilith hoffte, daß es noch leb te. »Wer hat dir das angetan?« fragte sie, ohne sich ihre Anspannung anmerken zu lassen. »Wer hat dich zur Kreatur gemacht?« Schatten huschten über Harps’ Miene. In plötzlich weinerlichem Ton klagte er: »Der Meister ist tot! Ich fühle es, du hast ihn mir ge nommen! Du …« »Der Meister?« »Hora …« In diesem Moment fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Hora hatte sich ihr damals auf die Fersen geheftet. Er mußte nach ihr bei Harps gewesen sein. Er hatte die Kreatur ge zeugt, die seither führungslos ihr Unwesen trieb. Weiter kam Lilith mit ihren Erklärungsversuchen nicht. Harps schien sich entschieden zu haben, ihr die Tat mehr als übel zu neh men. »Vielleicht bist du auch schuld, daß es nicht funktioniert!« »Was nicht funktioniert?« »Unsterblichkeit … Der Keim!« brach es Harps heraus. »Der Meis ter versprach mir ewiges Wandeln. Aber er starb, bevor er mir sagen konnte, wie ich mir Begleiter auf diesem langen Weg schaffen kann
… Er –« »Da hast du deinen ›Meister‹ gründlich mißverstanden!« unter brach Lilith ihn harsch. Die Schatten der Schuld waren von ihr abge fallen. Harps brüllte markerschütternd und warf sich auf sie. Lilith war darauf gefaßt. Blitzschnell brachte sie die Hand mit der »Frucht«, die sie in der Paddington Street erhalten hatte, in Position. Ehe Harps wußte, wie ihm geschah, berührte der giftrote Apfel sei ne Lippen – und bahnte sich von dort aus weiter seinen Weg. Was dann geschah, lag jenseits des Begreifens. Lilith wurde mit ei genen Augen Zeuge einer Befreiung! Grauen, Gier und Haß verschwanden aus Harps’ Augen. Er wank te. Seine Klauen fielen von Lilith ab und baumelten als Hände kraft los herab. Mit gesenktem Kopf ging Harps neben Maryann in die Knie. Eine verschwommene Erinnerung, daß er schuld an ihrem Zu stand war, schien ihn zu übermannen. Er schluchzte auf. Grabschte nach dem Mädchen – aber nicht um ihr zu schaden,sondern … Sondern? Lilith wußte nicht mehr, was richtig und was falsch war. Aber sie wollte kein Risiko eingehen. Sie griff nach einem massiven Hotelaschenbecher, trat neben Harps, holte aus und schlug ihm die Keramik über den Schädel. Diesem Harps war damit beizukommen. Mit einem leisen Seufzer sank er neben Maryann zu Boden und blieb liegen. Lilith legte den Ascher neben das Mädchen, wartete ungeduldig, bis sie zu sich kam, und suggerierte ihr, wie Harps’ Angriff »wirk lich« geendet hatte. Damit nämlich, daß Maryann ihn in einem Not wehrreflex niederschlagen konnte …
Als Lilith das Hotelzimmer wenig später unbeobachtet verließ, hörte sie Maryanns hysterischen Schrei noch bis zur Treppe, die sie statt des Lifts benutzte. Sie konnte sicher sein, daß Harps keinen Widerstand mehr leistete und die Polizei ihn in Kürze abführen würde. Auch an Beth würde sich Maryann nicht mehr erinnern. Beth … Lilith beschleunigte ihre Schritte. Die Gedanken an die Freundin waren das einzig wirklich Erfreuliche in diesen Stunden.
* Er sog den Atem ein. Atem? Sein Herz schlug ruhig und gleichmäßig, nur sein Gesicht und die Kehle schmerzten beinahe unerträglich. Er lauschte dem ungewohnten Geräusch, das durch seinen wieder warmen Körper pochte, und spürte etwas Feuch tes, Salziges, das über seine Wangen bis zu den Mundwinkeln und weiter rann. Er brauchte nur Stunden, wofür andere Tagen und Wochen benötigt hat ten. Stunden, um das alte Leben abzustreifen wie einen zu eng gewordenen Anzug und um das neue überzustreifen wie einen lichten, warmen, weiten Mantel. Er zögerte nicht, den Kerker seines Hauses zu verlassen. Die Saat war aufgegangen. Das Ziel seiner Schritte lag irgendwo auf diesem Kontinent und war Vir gil Codd bekannt … ENDE
Magie, Kult und Schöpfungsmythos in Mesopotamien Der Totenkult, oder die Furcht vor wiederkehrenden Toten generell, hat ihren Niederschlag in jedem Kulturkreis gefunden. Eine der ver breitetsten Ängste dabei betrifft die sogenannten »Wiedergänger«, die aus ihren Gräbern zurückkehren, um sich vom Blut der Leben den zu nähren und dadurch die Erinnerung an die frühere Existenz aufzufrischen. Selbst der babylonische Schöpfungsmythos kennt seine »Vampire«: Zu den ersten vampirähnlichen Geschöpfen zählt da nach der edimmu, eine rastlose Seele, die die Lande durchstreifte, um ihre Opfer aufzuspüren und ihre Adern auszusaugen. Bereits die Babylonier lebten in ständiger Furcht, die Dämonin Li litu zu vergrämen, welche vorzugsweise das Blut unschuldiger Kin der trank. Auch wurde sie für erotische Männerträume verantwort lich gemacht, weshalb diese nächtliche Heimsuchungen und den Verlust ihres Spermas befürchteten. Noch bis ins 19. Jahrhundert trugen Frauen in Persien bei der Nie derkunft ein Amulett, um ihre Kinder vor dieser blutrünstigen Dä monin zu schützen. Angeblich schonte Lilitu Kinder, wenn sie die Inschriften auf den Amuletten (oft mit Vogeldarstellungen, etwa der Eule, versehen) las. Über die Entstehung der Welt und der Menschen weiß der babylo nische Mythos zu berichten: Am Anfang waren Abzu und Tiamat, das Süß- und das Salzwas ser, die noch nicht getrennt waren. Aus ihnen gingen Lahmu und Lahamu hervor; aus diesen wiederum Anschar und Kischar. Sie zeugten die Götter An und Enki. Abzu aber wollte die Götterknaben vernichten, weil sie ihn durch ihr Lärmen störten. Doch Enki schlä
ferte Abzu mittels einer Beschwörungsformel ein und tötete ihn. Dann ließ er sich am »Orte Abzu« nieder und zeugte Marduk, der von Damkina geboren wurde. Marduk hatte vier Augen und vier Ohren, und wenn er die Lippen bewegte, sprühte Feuer. Indessen bereitete Tiamat, das Meer, sich zum Kampf gegen die Götter vor, um ihren Gemahl Abzu zu rächen. Sie erschuf zwölf Un geheuer, die ihr helfen sollten. Ihren Sohn Kingu ernannte sie zum Anführer und übergab ihm zum Zeichen der Weltherrschaft Schick saltafeln, in denen der Weltenlauf vorgezeichnet war. Zunächst traten An und Enki (oder Ea) gegen Tiamat an, doch ohne Erfolg. Nun erklärte sich Marduk bereit, für die Götter zu kämpfen, unter der Bedingung, daß sie ihn vorher zu ihrem König machten. Alle Götter versammelten sich daraufhin zu einem Gast mahl und huldigten Marduk. Danach zog er, bewaffnet mit Bogen, Fangnetz und Keule, gegen Tiamat aus. Zur Kampfunterstützung gegen die Meeresungeheuer nahm er elf Winde mit. Der böse Wind riß Tiamat den Rachen auf, und Marduk schoß einen Pfeil hinein, der ihre Eingeweide zerfetzte und ihr Herz zerriß. Dann spaltete er Tiamat in zwei Hälften, spannte die obere als Him melsgewölbe auf und machte die untere zur Erde. Er fesselte die Un geheuer und bemächtigte sich der Schicksalstafeln. Dann teilte er den Göttern ihre Herrschaftsbereiche zu und bestimmte den Lauf der Gestirne. Doch fehlte noch der Mensch. Daher schuf Enki-Ea auf Marduks Geheiß aus dem Blute des Kingu den Lullu. Zu ihrem Dienste und zu ihrer Versorgung bedurften die Götter des Men schen. Zum Dank für den Sieg über das Chaos erbauten die großen Götter für Marduk Babylon und sein Tempelheiligtum Esangila. Aus einem Text der sumerischen Zeit geht außerdem hervor, daß der Gott Enki die Muttergöttin Nammu aufforderte, Menschen aus Lehm zu bilden und ihr Schicksal im voraus zu bestimmen. Dabei sollten sieben Muttergöttinnen als Geburtshelferinnen teilnehmen.
Die Muttergöttin Ninmah, die sich zurückgesetzt fühlte, erschuf aus dem restlichen Lehm sieben menschliche Geschöpfe mit Defekten, um Enki zu schaden. Der aber wies all den mit Behinderungen Be hafteten ungerührt ihren Platz im Leben zu. Das Praktizieren Schwarzer Magie ohne Erlaubnis war in Mesopota mien bei strengen Strafen verboten. Dennoch wurde diese Form der Magie von »nicht amtlichen« Magiern praktiziert, und die Aufgabe der amtlichen Magier war es, deren unheilvolle Einflüsse wieder aufzuheben. Die Kunst der Magie war das Spezialgebiet einer be stimmten Priesterklasse und stand unter dem Schutz der Hauptgott heiten Ea und Marduk. Mit der Schutz- und Heilmagie wurden Krankheiten geheilt sowie Dämonen und Geister vertrieben. Das Wirken eines bösen Zaubers, von einem anderen Magier verhängt, konnte durch die Schaffung ei nes Wachsbildes dieses Magiers und sein Schmelzen im Feuer auf gehoben werden. Die Wahrsagung beruhte auf der Annahme, daß je des gute oder schlechte Ereignis aufgrund bestimmter Zeichen vor ausgesagt werden konnte, die aber nur für die Augen Eingeweihter erkennbar waren. Solche Zeichen wurden auf Tontafeln festgehal ten. Als Zeichen zählte man kosmische Beobachtungen, atmosphäri sche Veränderungen, Naturereignisse wie Vogel- und Insektenflug, besonders aber auch unnatürliche Geburten bei Tier und Mensch. Verbreitet war die Leberschau, ebenso wie die Becher- oder Tas senschau. Bei letzterer Version wurden dem mit Wasser gefüllten Gefäß ein paar Tropfen Öl beigemengt. Das Verlaufen des Öls er möglichte Deutungen der Zukunft. Umgekehrt war es ebenso mög lich, Wasser in Öl zu gießen. Zur gebräuchlichen Magie gehörte auch das weite Feld der Traumdeutung. Es gab Beschwörungen zur Beseitigung der Nachwirkungen schlechter Träume. Daneben galt das Hauptinteresse auch hier den Zukunftsdeutungen bestimmter wiederkehrender Symbole.
Adrian Doyle Archäologisches Bibel-Lexikon, hänssler-Lexikon, Stuttgart, Hrsg. Avraham Negev Sonnengötter und Vampire, Safari-Verlag, Berlin, Herbert Gott schalk Wesensverwandlungen, Time-Life-Bücher, Amsterdam
Das Dorf der Toten von Adrian Doyle Eine erste konkrete Spur des Lilienkelchs! Fieberhaft machen sich Li lith und Beth daran, Warners Informationen zu nutzen. Ihr Weg führt sie nach Wales im Südwesten Englands. Und in ein Dorf, das eigentlich schon seit zweieinhalb Jahrhunderten nicht mehr existiert. Wo es sich einst erhob, finden die Halbvampirin und die Reporterin nur noch Heidekraut und Felsen – nicht einmal Ruinen. Trotzdem geben sie nicht auf. Ihr Lohn ist Erkenntnis … die Er kenntnis, in eine Falle zu geraten, aus der es nur noch einen Ausweg gibt: den Tod.