Stef Penney
Die Zärtlichkeit der Wölfe
scanned 12.2008/V1.0
1867, Kanada: Als der Winter mit Macht, Eis und Schnee üb...
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Stef Penney
Die Zärtlichkeit der Wölfe
scanned 12.2008/V1.0
1867, Kanada: Als der Winter mit Macht, Eis und Schnee über die Siedlung Dove River hereinbricht, wird ein Mann skalpiert in seinem Bett aufgefunden. In derselben Nacht verschwindet der 17-jährige Francis, der schweigsame, eigenbrötlerische Adoptivsohn der Ross-Familie. Hat er etwas mit dem Mord zu tun? Oder ist auch er nur ein unschuldiges Opfer? Wurde er womöglich von Eingeborenen verschleppt? Während in Dove River noch spekuliert wird, folgt Mrs Ross den Fußspuren, die von der Hütte des Ermordeten nach Norden, direkt in die Tundra hineinführen … ISBN: 978-3-442-31150-7 Original: The Tenderness of Wolves (2006) Deutsch von Stefanie Retterbush Verlag: Goldmann Erscheinungsjahr: 2007
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Mit dem Winter kommen die Wölfe nach Caulfield und mit der unerträglichen Kälte, die nur mit Branntwein erträglich ist, auch die Arbeitslosigkeit. Das Leben fordert den europäischen Neueinwanderern viel ab in der kleinen Siedlung Dove River mitten in der kanadischen Wildnis: Die Witterungsbedingungen sind rau, die Konflikte mit den Eingeborenen zahlreich, und das Heimweh ist groß. Als dann auch noch einer der Ihren, der Pelzjäger Laurent Jammet, brutal ermordet in seinem Bett aufgefunden wird, kippt die Stimmung in der Siedlung, und lange schwelende Konflikte brechen eruptionsartig auf. Denn in der Mordnacht verschwindet auch der 17-jährige Francis Ross spurlos. Hinter vorgehaltener Hand munkeln die Siedler von Dove River, dass Francis etwas mit dem Mord zu tun haben muss – denn mit ihm ist auch das Vermögen des Toten verschwunden sowie ein geheimnisvoller Knochenfund, der Begehrlichkeiten weckt. Um zu beweisen, dass ihr Sohn unschuldig ist, bleibt der besorgten Mutter des Verdächtigen nur eines: Sie muss den Fußspuren folgen, die von der Hütte des Ermordeten direkt in die kanadische Wildnis hineinführen, wo nachts die Wölfe heulen …
Autor Stef Penney wurde 1970 in Edinburgh geboren. Sie studierte Philosophie und Theologie, bevor sie sich ganz auf das Filmemachen konzentrierte und ein komplettes Film- und FernsehStudium mit Auszeichnung absolvierte. Mittlerweile hat Stef Penney zwei Filme abgedreht, für die sie auch das Drehbuch schrieb. »Die Zärtlichkeit der Wölfe« ist ihr Debütroman, der mit dem renommierten Costa Book Award 2006 ausgezeichnet wurde.
Meinen Eltern
VERSCHWINDEN
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as letzte Mal sah ich Laurent Jammet in Scotts Laden – mit einem toten Wolf über der Schulter. Ich war gekommen, um Nadeln zu besorgen, und er war wegen des Kopfgelds da. Seit Scott von einem Yankee hereingelegt worden war, der erst mit den Ohren auftauchte und das Kopfgeld kassierte, dann ein paar Tage später die Pfoten für einen weiteren Dollar anschleppte und schlussendlich auch noch aus dem Schwanz Kapital schlug, bestand er darauf, dass man ihm den ganzen Kadaver brachte. Es war im Winter gewesen, daher hatten die Einzelteile relativ frisch gewirkt, aber die Geschichte über diesen Schwindel hatte schnell die Runde gemacht. Sehr zu Scotts Missfallen. Das Wolfsgesicht war also das Erste, was ich beim Betreten des Ladens sah. Die Zunge hing schlaff aus der Schnauze, die zu einer Fratze verzerrt war. Ich zuckte unwillkürlich zurück. Scott brüllte los, und Jammet entschuldigte sich vielmals. Es war einfach unmöglich, ihm böse zu sein, dazu war er viel zu charmant – und außerdem hinkte er. Der Kadaver wurde irgendwo nach draußen geschafft, und während ich mich im Laden umsah, fingen die beiden Männer an, sich über das mottenzerfressene Fell zu streiten, das über der Tür hing. Ich glaube, Jammet witzelte, Scott solle es doch durch ein neues ersetzen. Auf dem darunter angebrachten Schild war zu lesen: »Canis lupus (männlich), der erste in der Stadt Caulfield erlegte 6
Wolf, II. Februar 1860«. Dieses Schild verrät eine Menge über John Scott, es demonstriert, wie wichtig es ihm ist, gebildet zu erscheinen, wie selbstherrlich er ist und wie wenig ernst er es mit der Wahrheit nimmt. Denn es war ganz sicher nicht der erste Wolf, der in dieser Gegend geschossen worden war, und so etwas wie eine »Stadt Caulfîeld« gibt es streng genommen auch überhaupt nicht, selbst wenn er das gerne hätte, denn dann gäbe es auch einen Gemeinderat, und er könnte der Bürgermeister sein. »Und überhaupt ist das ein Weibchen. Die Rüden haben einen dunkleren Kragen und sind größer. Dieses Exemplar hier ist ziemlich klein.« Jammet wusste, wovon er redete, da er mehr Wölfe zur Strecke gebracht hatte als jeder andere, den ich kenne. Er lächelte, zum Zeichen, dass er niemandem zu nahe treten wollte, aber Scott trat man immer zu nahe – und auch heute ließ er die Gelegenheit nicht aus, sich aufzuplustern. »Ich nehme an, Sie erinnern sich besser daran als ich, Mr Jammet?« Jammet zuckte die Achseln. Da er 1860 noch nicht hier gewesen und im Gegensatz zu uns Übrigen Franzose war, musste er sich vorsehen. In diesem Augenblick trat ich an den Ladentisch. »Ich glaube auch, dass es ein Weibchen war, Mr Scott. Der Mann, der es damals hergebracht hat, sagte, die Welpen hätten die ganze Nacht geheult. Ich erinnere mich noch ganz genau.« Und ich erinnerte mich auch noch genau, wie Scott den Kadaver an den Hinterbeinen vor dem Laden aufgehängt hatte, damit ihn alle angaffen konnten. Ich hatte noch nie zuvor einen Wolf gesehen und mich gewundert, wie klein er war. Er hing dort, die Nase auf die Erde gerichtet und die Augen geschlossen, als würde er sich schämen. Die Männer machten Scherze über das tote Tier, die Kinder kicherten und forderten sich gegenseitig auf, ihm die Hand in die Schnauze zu stecken. Sie posierten mit 7
dem erlegten Tier, um die anderen zum Lachen zu bringen. Scott richtete seine kleinen, leuchtend blauen Augen auf mich – und es war schwer zu sagen, ob er über mich verärgert war, weil ich mich auf die Seite eines Ausländers geschlagen hatte, oder ob er einfach so verärgert war. »Na, und was ist mit dem Kerl später passiert?« Doc Wade, der Mann, der das Kopfgeld kassiert hatte, war im Frühjahr darauf ertrunken, und Scott sagte das so verächtlich, als bewiese Doc Wades’ Ende seine Schuld. »Nun ja …« Jammet zuckte die Achseln und zwinkerte mir zu, der Frechdachs. Irgendwie – ich glaube, es war Scott, der die Rede darauf brachte – kamen wir dann auf die armen Mädchen zu sprechen, was meistens geschah, wenn ein Gespräch um das Thema Wölfe kreiste. Obwohl es jede Menge bedauernswerte Frauen gibt auf der Welt (aus eigener Erfahrung kann ich sagen, mehr als genug), bezieht sich »arme Mädchen« bei uns ausschließlich auf zwei bestimmte – die Seton-Schwestern nämlich, die vor vielen Jahren verschwanden. Wir tauschten ein paar Minuten lang belanglose Nebensächlichkeiten über den Vorfall aus, bis wir abrupt von dem Schrillen der Ladenglocke und dem Hereinkommen von Mrs Knox unterbrochen wurden. Wir taten, als wären wir voll und ganz in die Knopfauslage auf dem Ladentisch vertieft. Laurent Jammet nahm seinen Dollar, verbeugte sich vor mir und Mrs Knox und ging wortlos. Die Glocke tanzte noch eine ganze Weile an ihrer Metallfeder, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Das war alles, überhaupt nichts Bedeutsames. An jenem letzten Mal, als ich ihn sah. Laurent Jammet war unser nächster Nachbar. Und trotzdem war uns sein Leben ein Rätsel. Ich fragte mich immer wieder, wie er es schaffte, mit seinem schlimmen Bein Wölfe zu jagen, bis mir jemand erzählte, dass er mit Strychnin vergiftetes Hirschfleisch 8
als Köder auslegte. Die Kunst bestand dann nur noch darin, die Fährte bis zu dem toten Tier zu verfolgen. Eigentlich entspricht das nicht meiner Vorstellung von Jagd. Ich weiß, dass viele Wölfe gelernt haben, sich aus der Reichweite eines WinchesterGewehrs fernzuhalten, so dumm können sie also nicht sein, aber klug genug, einer geschenkten Mahlzeit zu misstrauen, sind sie dann auch wieder nicht. Worin besteht aber der Verdienst, einer zum Tode verurteilten Kreatur so lange zu folgen, bis sie ihr Ende ereilt hat? Auch sonst gab es vieles an Laurent Jammet, das ungewöhnlich war: Er machte lange Reisen in unbekannte Gebiete, bekam Besuch von dunklen, wortkargen Fremden und zeigte sich gelegentlich unerwartet großzügig, was in krassem Gegensatz zu seiner baufälligen Hütte stand. Wir wussten, dass er aus Quebec stammte. Wir wussten auch, dass er katholisch war, obwohl er nur selten in die Kirche oder zur Beichte ging (wobei er während seiner langen Abwesenheiten möglicherweise beides tat). Er war höflich und immer gutgelaunt, hatte aber keine engen Freunde und hielt sich stets ein wenig abseits. Und er sah, wenn ich das sagen darf, gut aus mit seinen nahezu schwarzen Haaren und Augen und seinem Gesicht, das immer schien, als habe er gerade gelächelt oder als werde er es jeden Moment tun. Allen Frauen begegnete er auf die gleiche charmante und respektvolle Art, ohne dass er sie oder ihre Ehemänner dabei je in Verlegenheit gebracht hätte. Er war nicht verheiratet und machte auch keinerlei Anstalten, etwas daran zu ändern, aber manche Männer sind eben allein glücklicher, besonders dann, wenn sie eher zu Unordnung und Unbeständigkeit neigen. Manche Menschen ziehen einen unbestimmten, aber ganz und gar nicht böswilligen Neid auf sich. Jammet, so faul und gutmütig, wie er war, gehörte zu diesen Menschen, die einfach so, leicht und mühelos, durch das Leben zu gleiten schienen. Ich hielt ihn für einen Glückspilz, weil er sich ganz offensichtlich nicht den Kopf über all die Dinge zerbrach, die uns anderen 9
graue Haare wachsen lassen. Er selbst hatte keine grauen Haare, dafür aber eine Vergangenheit, die er größtenteils für sich behielt. Er glaubte sicher auch eine Zukunft zu haben, nehme ich an, doch die hatte er nicht. Er war vielleicht vierzig. Älter sollte er nicht werden. Es ist ein Dienstagmorgen Mitte November, ungefähr zwei Wochen nach unserer Begegnung im Laden: In furchtbarer Stimmung gehe ich von unserem Haus den Weg hinunter und lege mir meine Strafpredigt sorgfältig zurecht. Höchstwahrscheinlich übe ich sie sogar laut – Selbstgespräche sind nur eine der vielen absonderlichen Gewohnheiten, die man sich aneignet, wenn man in der Wildnis wohnt. Der Weg, der eigentlich nicht viel mehr ist als eine Reihe von Hufen und Wagenrädern ausgetretener Spurrinnen, folgt einem Fluss, der sich dort in eine ganze Folge kleiner Wasserfälle ergießt. Unter den Birken leuchten smaragdgrüne Moospolster im Sonnenlicht. Laub, das unter dem Frost der vergangenen Nacht erstarrt ist, knistert unter meinen Füßen und erzählt flüsternd vom nahenden Winter. Der Himmel ist so gleißend blau, dass es in den Augen schmerzt. Ich gehe schnell in meinem Zorn, den Kopf hoch erhoben. Vermutlich wirke ich dadurch sogar fröhlich. Jammets Hütte steht am Ufer des Flusses auf einem mit Unkraut überwucherten Flecken, der einen Garten darstellen soll. Die ungeschälten Holzbalkenwände sind über die Jahre ausgeblichen, sodass sie nun grau und wollig aussehen, eher wie ein lebendes Wesen als ein Gebäude. Sie ist ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten, diese Hütte: Ihre Tür besteht aus einem mit Hirschleder bespannten Holzrahmen, die Fenster sind mit geöltem Pergamentpapier glasiert. Im Winter muss es dort drinnen eisig kalt sein. Dies ist kein Ort, an dem die Damen von Dove River oft vorbeikommen, und ich selbst bin seit Monaten nicht mehr hier gewesen, aber ich weiß nicht, wo ich sonst noch suchen soll. 10
Kein Rauchzeichen, das auf Leben drinnen hindeutet, aber die Tür ist offen und das Hirschleder fleckig von all den schmutzigen Händen, die es schon berührt haben. Erst rufe ich, dann klopfe ich an die Wand. Weil keine Antwort kommt, spähe ich hinein, und dann, als meine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt haben, sehe ich Jammet, der zu Hause ist und, wie man es von ihm nicht anders erwartet hätte, um diese Zeit noch auf dem Bett liegt und schläft. Ich bin schon im Begriff, mich umzudrehen und zu gehen, weil ich ihn nicht wecken will, aber mein Ärger veranlasst mich zu bleiben. Ich bin den weiten Weg schließlich nicht zum Spaß hergekommen. »Mr Jammet?«, setze ich an und klinge dabei für mein Empfinden etwas zu munter. »Mr Jammet, ich störe nur ungern, aber ich muss Sie fragen …« Laurent Jammet schläft friedlich. Um den Hals hat er das rote Tuch, das er immer zum Jagen trägt, damit die anderen Jäger ihn nicht mit einem Bären verwechseln und versehentlich erschießen. Ein Fuß hängt über die Bettkante. Er steckt in einer schmutzigen Socke. Sein rotes Halstuch liegt auf dem Tisch … ich klammere mich an die Tür. Schlagartig hat sich das gewohnte Bild vollkommen verändert: Fliegen surren um ihr spätherbstliches Festmahl, das rote Halstuch ist nicht um seinen Hals geknotet, kann es nicht sein, weil es auf dem Tisch liegt, was bedeutet … »Oh«, sage ich, und der Klang in der stillen Hütte erschreckt mich. »Nein.« Ich kralle mich an der Tür fest, versuche, nicht wegzulaufen, auch wenn ich gleich danach einsehen muss, dass ich mich auch gar nicht bewegen könnte, selbst wenn mein Leben daran hinge. Die aus seinem Hals strömende Röte kommt aus einer klaffenden Wunde und ist in die Matratze gesickert. Eine klaffende Wunde. Ich keuche, als wäre ich gerade gerannt. Der Türrahmen ist in diesem Augenblick das Wichtigste auf der ganzen Welt. Ohne ihn wüsste ich nicht, was ich tun sollte. 11
Das Halstuch hat seinen Dienst nicht erfüllt. Es hat seinen vorzeitigen Tod nicht verhindert. Ich gebe nicht vor, besonders mutig zu sein, und habe mich schon vor geraumer Zeit von der Vorstellung verabschiedet, irgendwelche außergewöhnlichen Eigenschaften zu besitzen, aber ich bin erstaunt darüber, wie ruhig ich mich in der Hütte umsehe. Mein erster Gedanke ist, dass Jammet sich selbst umgebracht hat, aber seine Hände sind leer, und nirgendwo ist die Spur einer Waffe zu sehen. Eine Hand hängt seitlich aus dem Bett. Es kommt mir gar nicht in den Sinn, mich zu fürchten. Ich weiß mit absoluter Gewissheit, dass derjenige, der das getan hat, nicht in der Nähe ist – die Hütte schreit ihre Leere förmlich heraus. Selbst der Leichnam auf dem Bett ist leer. Nicht einmal ein Schatten seines Charakters ist geblieben – Jammets Fröhlichkeit und Unordentlichkeit und seine Schießkunst, seine Großzügigkeit und seine Dickfelligkeit –, alles ist fort. Und da ist noch etwas, was mir auffällt, weil sein Gesicht leicht von mir abgewandt ist. Ich will es nicht sehen, doch es ist da, und es bestätigt nur, was ich bereits widerwillig akzeptiert habe – dass Laurent Jammets Schicksal nicht zu jenen Geheimnissen dieser Welt gehört, die niemals gelüftet werden. Das hier ist kein Unfall, und er hat sich auch nicht selbst umgebracht. Er wurde skalpiert. Irgendwann, vermutlich aber nur einige Sekunden später, ziehe ich die Tür endlich hinter mir zu, und als ich ihn nicht mehr sehen kann, geht es mir etwas besser. Und doch schmerzt meine Hand den ganzen Tag und noch Tage später von der Heftigkeit, mit der ich mich an den Türrahmen geklammert habe, als hätte ich das Holz mit meinen Fingern kneten wollen wie einen Teig.
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ir leben in Dove River, am Nordufer der Georgian Bay. Mein Mann und ich sind vor gut zehn Jahren aus den schottischen Highlands hierher ausgewandert, vertrieben wie viele andere. Eineinhalb Millionen Menschen sind innerhalb weniger Jahre nach Nordamerika gekommen, doch trotz dieser gewaltigen Zahl und obwohl wir in den Schiffen derart eingepfercht waren, dass wir dachten, in der Neuen Welt könne unmöglich genug Platz für uns alle sein, verstreuten wir uns doch von den Anlegestellen in Halifax und Montreal aus in alle Richtungen. Wir liefen auseinander wie die Nebenflüsse eines Stroms und verschwanden, jeder für sich, in der Wildnis. Das Land verschlang uns alle und wollte noch mehr. Wir rangen den Wäldern mit der Hacke Land ab und gaben unseren Siedlungen Namen – wir benannten sie nach Dingen, die wir sahen – nach einem bestimmten Vogel, nach irgendeinem anderen Tier – oder nach unseren alten Heimatstädten; und lebten fortan an Orten, die so sehr von sentimentalen Erinnerungen überschattet waren, dass sie es nicht vermochten, neue Heimatgefühle in uns auszulösen. Was einmal mehr zeigt, dass man nichts einfach hinter sich lassen kann. Man trägt seine Vergangenheit überallhin mit sich, ob man will oder nicht. Vor zwölf Jahren gab es hier nichts als Bäume. Das Land nördlich von hier ist heimtückisch und besteht nur aus Sümpfen und Geröll. Dort können nicht einmal Weiden und Lärchen Wurzeln schlagen. In der Nähe des Flusses ist die Erde aber weich und tief und der Wald so dunkelgrün, dass er fast schwarz wirkt; die alles umgebende Stille ist in ihrer Undurchdringlichkeit so unergründlich und endlos wie der Himmel. Als ich das alles zum ersten Mal sah, war meine erste Reaktion, in Tränen auszubrechen. Der Einspänner, mit dem wir gekommen waren, 13
rumpelte davon, und der Gedanke, dass von nun an nur noch der Wind mir antworten würde – egal, wie laut ich auch schrie –, ließ sich nicht vertreiben. Wenn wir Ruhe und Frieden gesucht hatten, dann hatten wir hier beides gefunden. Mein Mann wartete ruhig ab, bis mein hysterischer Anfall verflogen war, und sagte dann mit grimmigem Lächeln: »Hier draußen gibt es nichts Größeres als Gott.« Vorausgesetzt, man glaubte an so etwas, schien das eine sichere Sache. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an die Stille und an die dünne Luft, in der alles strahlender und schärfer konturiert wirkte als zu Hause. Ich fing sogar an, es zu mögen. Und ich gab dem Ort einen Namen, da er, soweit wir wussten, noch keinen hatte: Dove River. Auch ich bin nicht gefeit vor Sentimentalitäten. Andere kamen dazu. Dann baute John Scott die Getreidemühle an der Flussmündung, und wenn er schon so viel Geld hineingesteckt und man von dort einen so schönen Ausblick auf die Bucht hatte, meinte er, er könne sich ebenso gut auch selbst dort niederlassen. Irgendwie kam es daraufhin in Mode, in der Nähe des Ufers zu bauen, was für uns andere unbegreiflich war, die wir stromaufwärts gezogen waren, um den heulenden Stürmen zu entgehen, die unsere Bucht in einen wütenden Ozean zu verwandeln schienen, der seine Klauen nach dem Land ausstreckte, das wir so anmaßend besiedelt hatten. Aber Caulfield (wieder eine dieser Sentimentalitäten: Scott kommt aus Dumfriesshire, wo es einen Ort mit eben diesem Namen gibt) entwickelte sich, wie Dove River es nie schaffen wird – weil es dort ebenes Land im Überfluss gab und verhältnismäßig wenig Wald, und weil Scott einen Kurzwarenladen eröffnete, mit dem das Leben in der Wildnis wesentlich angenehmer wurde. Inzwischen ist daraus eine Siedlung mit über hundert Menschen geworden, eine seltsame Mischung aus Schotten und Yankees. 14
Und Laurent Jammet. Er ist – war – noch nicht lange da und wäre vermutlich nie hergekommen, hätte er sich nicht in ein Fleckchen Land verliebt, das niemand sonst anrühren wollte. Vor vier Jahren hatte er die Farm gekauft, die flussabwärts von unserer lag. Sie war eine ganze Zeit lang unbewohnt gewesen wegen ihres vorherigen Eigentümers, eines älteren Schotten. Doc Wade war auf der Suche nach billigem Land nach Dove River gekommen, wo er weit genug von den Menschen weg war, die meinten, ihn beurteilen zu müssen – er hatte eine reiche Schwester und einen Schwager in Toronto. Die Leute nannten ihn Doc, obwohl er, wie sich herausstellte, gar kein Doktor war, sondern nur ein kultivierter Mann, der in der Neuen Welt keinen Platz gefunden hatte, der es ihm ermöglicht hätte, seine mannigfaltigen, wenn auch nebulösen Fähigkeiten einbringen zu können. Unglücklicherweise erwies sich auch Dove River nicht als die Ausnahme, auf die er gehofft hatte. Wie so viele Männer vor ihm musste auch er feststellen, dass die Landwirtschaft ein langwieriges Geschäft ist, bei dem einem das Vermögen zwischen den Händen zerrinnt, man sich die Gesundheit ruiniert und an dem die Lebensgeister zerbrechen. Die Arbeit war zu schwer für einen Mann in seinem Alter, und er war auch nicht mit ganzem Herzen dabei. Seine Ernten brachten einen schlechten Ertrag, seine Schweine liefen frei im Wald herum, das Dach seiner Hütte fing Feuer. Eines Abends rutschte er auf einem Felsen aus, der vor seiner Hütte einen natürlichen Landesteg bildete, und wurde später aus dem tiefen Strudel unterhalb von Horsehead Bluff gefischt (das mit der typisch erfrischenden kanadischen Einfallslosigkeit so genannt wird, weil es einem Pferdekopf ähnelt). Sein Tod sei die gnädige Erlösung nach all seiner Mühsal, sagten die einen. Andere sprachen von einer Tragödie – eine jener kleinen, häuslichen Tragödien, von denen es im Busch nur so wimmelte. Ich glaube, ich sah es noch einmal anders: Wade trank, wie die meisten Männer. Eines Nachts, als all sein Geld ausgegeben war und der Whisky 15
ausgetrunken, als es für ihn nichts mehr zu tun gab auf dieser Welt, ist er zum Fluss hinuntergegangen und hat zugesehen, wie das kalte Wasser an ihm vorbeirauschte. Ich stelle mir vor, wie er hinauf zum Himmel blickte, wie er ein letztes Mal der spöttischen, gleichgültigen Stimme des Waldes lauschte, den Sog des Hochwasser führenden Flusses spürte und sich dann dessen unendlicher Güte anvertraute. Der Dorfklatsch verbreitete daraufhin, dass das Land nur Unglück bringe, aber immerhin war es billig, und Jammet gab nicht viel auf abergläubische Gerüchte, obwohl er es vielleicht besser getan hätte. Er hatte als Handlungsreisender für die Trading Company gearbeitet und war unter ein Kanu geraten, das er über ein paar Stromschnellen hatte tragen wollen. Nach dem Unfall hinkte er, und man zahlte ihm eine Entschädigung. Er schien für den Unfall eher dankbar zu sein, denn dadurch hatte er genug Geld, um etwas Land zu kaufen. Er betonte immer wieder gern, wie faul er sei und dass er ganz sicher keine Farmarbeit machen würde, um die sich andere Männer einfach nicht drücken konnten – oder wollten. Er verkaufte den größten Teil von Wades Land und lebte vom Kopfgeld für die Wölfe und von ein wenig Handel. Jeden Frühling kam eine Reihe dunkler, weit gereister Männer mit ihren Kanus und ihren Bündeln voller Waren aus dem Nordwesten, die in ihm einen angenehmen Geschäftspartner fanden. Eine halbe Stunde später klopfe ich an die Tür des größten Hauses von Caulfield. Während ich warte, versuche ich die Finger der rechten Hand zu strecken – sie scheinen sich zu einer Art Kralle zusammengekrampft zu haben. Mr Knox hat eine ungesunde, gräuliche Gesichtsfarbe, bei der ich immer an Sodbrennen denken muss. Er ist groß und dünn mit einem Profil, das so scharf wirkt wie eine Axt, die nur darauf wartet, die Unwürdigen niederzuschlagen – für einen Friedensrichter scheint mir diese Physiognomie recht vorteilhaft. 16
Mir ist auf einmal so flau, als hätte ich seit einer Woche nichts gegessen. »Ah, Mrs Ross … welch unerwartetes Vergnügen …« Um ehrlich zu sein, scheint mein Anblick ihn eher zu beunruhigen als zu erfreuen. Gut möglich, dass er jeden so ansieht, aber mir drängt sich der Eindruck auf, dass er mehr über mich weiß, als mir lieb sein kann, und dass er daher auch intuitiv spürt, dass ich nicht zu den Menschen gehöre, die er sich für seine Töchter als Umgang wünscht. »Mr Knox, es wird leider kein Vergnügen. Es gab einen … einen schrecklichen Unfall.« Mrs Knox scheint Klatsch der schmutzigsten Sorte zu wittern und gesellt sich deshalb sofort zu uns, und ich erzähle ihnen beiden, was ich in der Hütte am Fluss vorgefunden habe. Mrs Knox greift nach dem kleinen Goldkreuz an ihrem Hals. Knox nimmt die Nachricht ruhig auf, dreht sich aber irgendwann weg, und als er sich mir wieder zuwendet, habe ich das Gefühl, dass er einen der Situation angemessenen Gesichtsausdruck aufgesetzt hat – grimmig, ernst, entschlossen und so weiter. Mrs Knox sitzt jetzt neben mir und tätschelt meine Hand, und ich muss mich beherrschen, sie nicht wegzuziehen. »Wenn ich daran denke, dass es das letzte Mal war, als ich ihn dort im Laden gesehen habe. Er wirkte so …« Ich nicke zustimmend und muss daran denken, wie wir bei ihrem Eintreten in schuldbewusstes Schweigen verfallen waren. Nach vielen betroffenen Beileidsbekundungen und guten Ratschlägen für meine angeschlagenen Nerven eilt sie davon, um ihre Töchter von dem Vorfall zu unterrichten, in angemessener Form selbstverständlich (mit anderen Worten: sehr viel detaillierter, als wenn ihr Vater anwesend wäre). Knox schickt einen Boten nach Fort Edgar, um Vertreter der Company herzubeordern. Mich lässt er währenddessen allein die Aussicht bewundern, und als er zurückkehrt, erklärt er, dass er John Scott kommen lasse (dem nicht nur der Laden und die Mühle gehören, 17
sondern darüber hinaus auch etliche Lagerhallen und sehr viel Land). Der solle mit ihm gehen, um die Hütte in Augenschein zu nehmen und sie bis zum Eintreffen der Bevollmächtigten der Company gegen »Eindringlinge« zu sichern. Eindringlinge. So drückt er sich aus, und ich spüre einen Hauch von Kritik in seiner Stimme. Er kann mir zwar keinen Vorwurf machen, dass ich die Leiche gefunden habe, aber ich bin mir sicher, er bedauert es, dass die Frau eines einfachen Farmers mögliche Spuren am Tatort zerstört haben könne, bevor er die Gelegenheit hatte, seine überlegenen Fähigkeiten zur Anwendung zu bringen. Aber ich spüre noch etwas, etwas, das über sein Missfallen hinausgeht – Erregung. Er sieht sich bereits in einem Drama glänzen, das sehr viel dringlicher und publikumswirksamer ist als die meisten Vorfälle, die sich sonst in den Wäldern ereignen – er wird in diesem Fall nämlich selbst ermitteln. Ich nehme an, Scott nimmt er deshalb mit, um dem Ganzen einen offiziellen Anstrich zu geben und um einen Leumund für seine Genialität zu haben, und auch deshalb, weil Scotts Alter und sein Reichtum ihm einen gewissen Status verleihen. Mit Intelligenz kann es jedenfalls nichts zu tun haben – Scott ist der lebende Beweis dafür, dass die Reichen nicht unbedingt besser oder klüger sind als wir anderen. In Scotts zweirädrigem Wagen machen wir uns auf den Weg flussaufwärts. Da Jammets Hütte ganz in der Nähe unseres Hauses liegt, kommen die beiden nicht umhin, mich mitzunehmen, und da wir zuerst zu seiner Hütte kommen, biete ich an, sie zu begleiten. Knox legt die Stirn in onkelhafte Falten. »Sie müssen ganz erschöpft sein nach diesem furchtbaren Schreck. Ich bestehe darauf, dass Sie nach Hause gehen und sich ausruhen.« »Wir werden schon in der Lage sein, alles zu sehen, was Sie auch gesehen haben«, fügt Scott hinzu. Und möglicherweise noch mehr, will er eigentlich sagen. Ich wende mich von Scott ab – mit manchen Menschen kann 18
man einfach nicht reden – und spreche stattdessen die Hakennase an. Ich spüre, dass er schockiert darüber ist, dass ich als Frau den Gedanken ertragen kann, mich diesem Gräuel noch einmal auszusetzen. Aber irgendetwas in mir versteift sich trotzig gegen seine implizierte Annahme, dass er – und nur er allein – die richtigen Schlüsse ziehen könne. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass ich mir ungern sagen lasse, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich erkläre den Männern, dass ich ihnen sagen könne, ob irgendwas verändert worden sei, wogegen sie nichts weiter erwidern können. Und außer mich gewaltsam den Weg hinunterzuschleifen und mich in mein Haus einzusperren, können sie wenig gegen mich tun. Das Herbstwetter ist gnädig gestimmt, und trotzdem schlägt uns ein leichter Verwesungsgeruch entgegen, als Knox die Tür öffnet. Den hatte ich vorhin nicht bemerkt. Knox tritt ein, atmet durch den Mund und berührt Jammets Hand – ich sehe, wie er zögert und überlegt, wo er ihn am besten anfasst –, dann verkündet er, dass Jammet tatsächlich tot sei. Die beiden Männer unterhalten sich mit gedämpften Stimmen, sie flüstern beinahe. Das kann ich gut nachvollziehen – lauter zu reden wäre unangemessen. Scott nimmt sein Notizheft und schreibt auf, was Knox ihm diktiert, während er die Leiche untersucht und ihre Lage, die Temperatur des Ofens und die im Zimmer befindlichen Gegenstände kommentiert. Dann steht Knox eine ganze Weile untätig herum, wobei es ihm trotz allem noch gelingt, wichtig auszusehen – diese anatomische Absonderlichkeit betrachte ich mit einem gewissen Interesse. Auf dem staubigen Boden sind zwar verwischte Fußabdrücke auszumachen, es gibt jedoch keinen Hinweis auf fremde Gegenstände oder irgendeine Waffe. Der einzige Anhaltspunkt ist die entsetzliche runde Wunde an Jammets Kopf. Das muss ein indianischer Bandit gewesen sein, meint Knox. Scott stimmt ihm zu: Kein Weißer sei zu einer derart barbarischen Tat fähig. Ich habe noch das blau und grün verschwollene Gesicht seiner Frau im letzten 19
Winter vor Augen. Sie behauptete steif und fest, sie sei auf einer vereisten Pfütze ausgerutscht, obwohl wir alle die Wahrheit kannten. Die Männer gehen nach oben in das andere Zimmer. Ich kann genau ausmachen, wo sie gerade sind, weil die Bodendielen unter ihren Füßen knarren und der Staub dazwischen herunterfällt und im Sonnenlicht tanzt. Er rieselt auf Jammets Leichnam, legt sich sanft wie Schnee auf seine Wange. Kleine Staubflocken fliegen ihm in die geöffneten Augen, und ich kann den Blick nicht von diesem unerträglichen Schauspiel losreißen. Ich möchte den Staub wegwischen, will den beiden mit scharfer Stimme sagen, dass sie nichts durcheinander bringen sollen, aber ich tue weder das eine noch das andere. Ich bringe es nicht über mich, ihn zu berühren. »Hier oben ist seit Tagen niemand mehr gewesen – der Staub ist vollkommen unberührt«, erklärt Knox, als sie wieder unten sind, und klopft den Schmutz mit einem Taschentuch von seiner Hose. Knox hat ein sauberes Laken von oben mitgebracht, das er ausschüttelt, wodurch er noch mehr Staub aufwirbelt, der wie ein Schwarm von der Sonne beleuchteter Bienen durchs Zimmer schwirrt. Er breitet das Laken über die Leiche auf dem Bett. »So, das sollte die Fliegen fernhalten«, sagte er mit selbstzufriedener Miene, obwohl jeder Dummkopf sehen kann, dass das niemals funktioniert. Es wird entschieden, dass wir – oder vielmehr die beiden Männer – jetzt nichts weiter tun können, und beim Hinausgehen verschließt Knox die Tür mit einem Stückchen Draht und einem Tropfen Wachs. Ein Detail, das mich, auch wenn ich es nur ungern zugebe, durchaus beeindruckt.
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ls das Wetter umschlägt und die Kälte kommt, wird Andrew Knox sich seines Alters schmerzlich bewusst. Seit ein paar Jahren tun seine Gelenke jeden Herbst weh, und die Schmerzen plagen ihn den ganzen Winter, ganz gleich, mit wie vielen Lagen Flanell und Wolle er sie umwickelt. Er muss behutsam gehen, aus Rücksicht auf den stechenden Schmerz in der Hüfte. Jeden Herbst beginnen die Schmerzen etwas früher. Aber heute macht sich Müdigkeit in seiner ganzen Seele breit. Er sagt sich, dass das nur zu verständlich ist – ein derartig brutales Ereignis wie ein Mord in der Siedlung würde jeden erschüttern. Aber es steckt mehr dahinter. In der Geschichte der beiden Orte ist noch nie jemand ermordet worden. Wir sind hierhergekommen, um all dem zu entgehen, denkt er: Das alles hatten wir doch hinter uns lassen wollen, als wir der Stadt den Rücken kehrten. Und wie merkwürdig das alles ist … ein brutaler, barbarischer Mord, wie er sonst nur in den südlichen Bundesstaaten begangen wird. In den vergangenen Jahren hat es nur natürliche Todesfälle gegeben – einige Siedler sind an Altersschwäche gestorben, manche an Fieber, ein paar sind auch verunglückt, und dann gab es ja noch die armen Mädchen … aber niemand ist je so brutal abgeschlachtet worden, noch dazu wehrlos und strumpffüßig. Dass das Opfer keine Schuhe getragen hat, erschüttert ihn. Nach dem Abendessen liest er sich Scotts Notizen durch und muss sich zusammenreißen, um nicht die Geduld zu verlieren: »Der Ofen ist einen Meter hoch, einen halben Meter tief und war noch leicht warm.« Was, so denkt er, womöglich sogar ein brauchbarer Hinweis sein könnte. Angenommen, das Feuer hat zum Todeszeitpunkt kräftig gelodert, dann könnte es bis zu sechsunddreißig Stunden gedauert haben, bis der Ofen ausge21
kühlt ist. Und der Mord könnte bereits am Vortag verübt worden sein. Es sei denn, das Feuer war zu dem Zeitpunkt, als Jammet sein Ende ereilte, schon fast heruntergebrannt; in diesem Fall hätte sich die Tat also irgendwann im Laufe der letzten Nacht ereignet. Aber es ist auch nicht auszuschließen, dass es in der Nacht zuvor geschehen ist. Bei ihrer heutigen Suche hatten sie nicht viel entdeckt. Keine Spuren, die eindeutig auf einen Kampf hinwiesen, kein Blut außer den Blutspuren im Bett, wo er wohl überfallen worden war. Sie hatten sich gefragt, ob jemand die Hütte durchsucht hatte, weil seine Sachen so wild verstreut herumlagen – Mrs Ross zufolge sah es bei ihm zwar immer so aus, aber man konnte sich unmöglich sicher sein. Scott hatte lautstark verkündet, dass es sich bei dem Mörder um einen Eingeborenen handeln müsse: Kein Weißer könne derart barbarisch vorgehen. Knox ist sich da nicht so sicher. Vor etlichen Jahren hatte man ihn nach einem besonders bedauerlichen Zwischenfall zu einer Farm in der Nähe von Coppermine gerufen. In einigen Gemeinden pflegt man den Brauch, den Bräutigam vor der Hochzeit rituell zu demütigen. Dieses »Charivari« -Ritual als öffentliches Zeichen des Missfallens findet beispielsweise dann Anwendung, wenn ein alter Mann sich eine wesentlich jüngere Frau nimmt. In diesem Fall hatte man den in die Jahre gekommenen Bräutigam geteert und gefedert und an den Füßen an einem Baum vor seinem eigenen Haus aufgehängt, während die Dorfjugend maskiert an ihm vorbeimarschierte, auf Töpfe schlug und in Trillerpfeifen blies. Ein Dummerjungenstreich. Der Übermut der Jugend. Aber aus unerfindlichen Gründen war der Mann gestorben. Knox wusste von mindestens einem Jugendlichen, der unbestreitbar an der Geschichte beteiligt gewesen war, doch trotz ihres großen Bedauerns machte niemand von ihnen den Mund auf. Handelte es sich hier um einen Streich, der aus dem Ruder gelaufen war? Scott hatte das verklebte Gesicht des Mannes nicht gesehen, auch nicht die Drähte, die sich tief in seine 22
aufgedunsenen Knöchel gefressen hatten. Andrew Knox sieht sich nicht in der Lage, einen ganzen Menschenschlag nur deswegen nicht zu verdächtigen, weil er angeblich nicht zu Grausamkeiten fähig ist. Jetzt ist er auf die Geräusche vor seinem Fenster aufmerksam geworden. Außerhalb seiner vier Wände treibt möglicherweise eine böse Macht ihr Unwesen. Eine Macht, die vielleicht sogar so abgefeimt ist, dass sie einen Mann skalpiert, um den Verdacht auf die zu lenken, die eine andere Hautfarbe haben. Bitte, Gott, lass es niemanden aus Caulfield sein. Und welche Motive könnte es für seinen Tod gegeben haben? Ganz sicher ging es nicht um Diebstahl – Jammet hatte doch nur alte, ramponierte Besitztümer. Hatte er irgendwo Reichtümer versteckt? Hatte er sich unter den Männern, mit denen er Geschäfte machte, Feinde gemacht – hatte er vielleicht Schulden? Er seufzt, unzufrieden mit seinen Überlegungen. Er ist sich so sicher gewesen, dass er in der Hütte irgendwelche Hinweise, wenn nicht sogar Antworten finden würde, doch nun ist er unsicherer als zuvor. Es verletzt seine Eitelkeit, zugeben zu müssen, dass er die Zeichen nicht deuten konnte, noch dazu vor Mrs Ross – einer provozierenden Frau, in deren Gegenwart er sich immer etwas unbehaglich fühlt. Ihr hämischer Blick gibt niemals nach, er wurde nicht einmal weicher, als sie von ihrer entsetzlichen Entdeckung erzählte und als sie sich ein zweites Mal dem Schrecken aussetzte. Sie ist im Ort nicht besonders beliebt, weil sie den Eindruck vermittelt, auf die Menschen herabzuschauen, obwohl sie beileibe (und er hat schon eine Menge haarsträubenden Klatsch gehört) nichts vorzuweisen hat, worauf sie sich etwas einbilden könnte. Aber wenn man sie so ansieht und sich dabei an einige dieser sensationslüsternen Geschichten erinnert, erscheinen sie einem plötzlich nicht mehr glaubwürdig: Sie hat eine Haltung wie eine Königin und zugegebenermaßen ein hübsches Gesicht, auch wenn ihr widerborstiges Wesen sich mit wahrer Schönheit nicht vereinba23
ren lässt. Er hatte ihren Blick gespürt, als er hingegangen und die Leiche angefasst hatte, um zu fühlen, ob sie noch warm war. Er hatte das Zittern seiner Hand kaum unterdrücken können – es schien keine Stelle zu geben, an der die Haut nicht blutverschmiert war. Er hatte tief Luft geholt (wovon ihm nur noch übler wurde) und seine Finger auf das Handgelenk des Toten gelegt. Die Haut war kalt gewesen, doch abgesehen davon fühlte sie sich menschlich an, ganz normal. Wie seine eigene Haut. Er hatte versucht, seinen Blick von der entsetzlichen Wunde fernzuhalten, aber genau wie die Fliegen schien es diesen immer wieder genau dort hinzuziehen. Jammets Augen starrten zu ihm hinauf, und Knox schoss durch den Kopf, dass genau dort, wo er gerade stand, auch der Mörder gestanden haben musste. Jammet hatte also nicht geschlafen, jedenfalls nicht ganz am Ende. Er fand, er sollte ihm die Augen schließen, wusste aber, dass er dazu nicht in der Lage wäre. Kurz darauf holte er oben ein Laken und bedeckte die Leiche damit. Das Blut war trocken und würde keine Flecken hinterlassen, dachte er – als ob das noch etwas ausgemacht hätte. Dann versuchte er, seine Verwirrung mit einer weiteren sachlichen Bemerkung zu überspielen und verabscheute sich selbst, weil seine Stimme so munter klang. Zumindest würde er ab morgen nicht mehr allein für alles verantwortlich sein – morgen würden die Männer von der Company kommen, und vermutlich würden sie wissen, was genau zu tun war. Ganz sicher würde irgendetwas ans Licht kommen, und am Abend wäre der Fall dann gelöst. Und mit dieser falschen Hoffnung sortiert Knox die Blätter zu einem ordentlichen Stapel und pustet die Lampe aus.
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s ist nach Mitternacht, aber ich bin immer noch auf den Beinen und sitze mit einem Buch, auf das ich mich nicht konzentrieren kann, im Kerzenschein und lausche auf Schritte, horche, ob sich eine Tür öffnet und kalte Luft in die Küche weht. Wieder wandern meine Gedanken zu diesen armen Mädchen. Jeder in Dove River und Caulfield kennt die Geschichte, jeder Neuling bekommt sie zu hören, und an langen Winterabenden vor dem Kamin wird sie in unzähligen Abwandlungen wieder und wieder erzählt. Wie bei allen wirklich guten Geschichten handelt es sich natürlich um eine Tragödie. Die Setons waren eine angesehene Familie aus St. Pierre La Roche. Charles Seton war Arzt, und seine Frau Maria eine vor noch nicht allzu langer Zeit neu eingewanderte Schottin. Sie hatten zwei Töchter, die ihr ganzer Stolz waren (wie man immer so bedeutungsvoll sagt, aber sind Kinder das nicht grundsätzlich immer?). An einem milden Tag im September gingen die damals fünfzehnjährige Amy und Eve, die dreizehn war, mit ihrer Freundin Cathy Sloan los, um an einem Seeufer Beeren zu sammeln und zu picknicken. Sie kannten nicht nur den Weg, sondern auch die Gefahren, denn alle drei Mädchen waren ja in der Wildnis groß geworden. Und sie hielten sich an die Regeln, die die Natur vorgab: niemals den Weg verlassen, niemals bis zur Dämmerung fortbleiben. Cathy war ausnehmend hübsch und im ganzen Ort bekannt für ihre Schönheit. Diese Tatsache wird stets betont, weil das, was dann geschah, dadurch noch an Tragik gewinnt, obwohl ich persönlich nicht verstehe, warum ihr Aussehen einen Unterschied machen sollte. Um neun Uhr morgens machten sich die Mädchen mit einem Korb voller Essen und Getränke auf den Weg. Um vier, als sie eigentlich hätten zurück sein sollen, gab es kein Lebenszeichen 25
von ihnen. Ihre Eltern warteten noch eine Stunde, dann brachen die beiden Väter auf, um den Weg ihrer Töchter zurückzuverfolgen. Nachdem sie die Umgebung des Pfads im Zickzack abgelaufen waren und unablässig nach ihnen gerufen hatten, kamen sie auch an den See, wo sie bis in die Dunkelheit hinein weitersuchten, immer weiter ihre Namen rufend, ohne allerdings auch nur die geringste Spur von ihnen zu finden. Dann kehrten sie um, in der Hoffnung, ihre Töchter hätten vielleicht einen anderen Weg zurück genommen und wären schon längst wieder zu Hause. Aber die Mädchen waren nicht da. Eine groß angelegte Suche wurde durchgeführt, und alle im Ort halfen, nach den Kindern Ausschau zu halten. Mrs Seton bekam Ohnmachtsanfälle. Am Abend des zweiten Tages tauchte Cathy Sloan in St. Pierre auf. Sie war geschwächt, und ihre Kleider waren schmutzig. Sie hatte ihre Jacke verloren und einen ihrer Schuhe, doch den Picknickkorb hielt sie noch immer in der Hand; wobei der nun (was für ein groteskes Detail und zudem vermutlich gar nicht wahr) mit Laub gefüllt war. Die Suchenden verdoppelten ihre Anstrengungen, fanden aber nichts. Keinen Schuh, keinen Stofffetzen, nicht einmal einen Fußabdruck. Es war, als hätte sich ein Loch in der Erde aufgetan und beide Mädchen verschluckt. Cathy Sloan wurde ins Bett gesteckt, obwohl es ein strittiger Punkt blieb, ob sie tatsächlich krank war oder nicht. Sie sagte, kurz nachdem sie aufgebrochen seien, habe sie eine kleine Meinungsverschiedenheit mit Eva gehabt und sei so weit hinter den beiden Schwestern zurückgeblieben, dass sie sie schließlich aus den Augen verloren hatte. Sie sei dann zum See gelaufen, habe nach den beiden gerufen und dabei gedacht, wie gemein es von ihnen sei, sich vor ihr zu verstecken. Dann habe sie sich im Wald verlaufen und den Weg zurück nicht mehr gefunden. Die Seton-Schwestern habe sie nicht wiedergesehen. Die Leute aus dem Ort suchten weiter nach ihnen und schick26
ten Abordnungen in die nahe gelegenen Indianersiedlungen, denn der Verdacht fiel so selbstverständlich auf die Ureinwohner wie der Regen auf die Erde. Diese schworen ihre Unschuld auf die Bibel, und es fand sich auch keinerlei stichhaltiger Hinweis auf eine Entführung. Die Setons suchten an immer abgelegeneren Orten. Charles Seton warb Männer an, die ihm bei der Suche helfen sollten, darunter auch einen indianischen Fährtensucher, und dann, nachdem Mrs Seton gestorben war – an gebrochenem Herzen, wie es schien –, warb er einen Mann aus den Staaten an, der sich darauf spezialisiert hatte, Vermisste aufzuspüren. Der reiste zu Indianersiedlungen überall im nördlichen Kanada, fand aber nichts. Aus Monaten wurden Jahre. Mit zweiundfünfzig starb Charles Seton, erschöpft, ohne auch nur noch einen Penny zu besitzen, völlig ruiniert. Cathy Sloan war nicht mehr die Schönheit von früher, sie wirkte träge und dumm – oder war sie womöglich schon immer so gewesen? Keiner konnte sich mittlerweile mehr daran erinnern. Die Geschichte aber sprach sich überall herum und wurde schließlich zur Legende, wurde mit wilden Widersprüchlichkeiten von Schulkindern weitererzählt und von erschöpften Müttern dazu benutzt, dem Herumstromern ihrer unbändigen Kinder Einhalt zu gebieten. Es kursierten immer wildere Theorien darüber, was den Mädchen zugestoßen sein könnte. Menschen schrieben von entlegenen Orten und behaupteten, sie gesehen oder eine von ihnen geheiratet zu haben oder sogar, dass sie eine von ihnen seien, aber keine dieser Behauptungen konnte einer näheren Prüfung standhalten. Bis zuletzt konnte keine einzige dieser Erklärungen die Lücke schließen, die Amy und Eve Seton hinterlassen hatten. Das alles ist nunmehr fünfzehn Jahre her oder noch länger. Die Setons sind inzwischen beide tot. Erst starb die Mutter an ihrem Kummer, dann der Vater, finanziell ruiniert und gebrochen von seiner unerbittlichen Suche. Doch die Geschichte der beiden Mädchen gehört zu uns, weil Mrs Setons Schwester mit Mr 27
Knox verheiratet ist, und das ist auch der Grund, weshalb wir damals im Laden schuldbewusst verstummten, als sie das Geschäft betrat. Ich kenne sie nicht sonderlich gut, aber ich weiß, dass sie nie über die Geschichte der Mädchen spricht. Vermutlich redet sie selbst an Winterabenden vor dem Kamin von etwas anderem. Menschen verschwinden. Ich versuche nicht, gleich das Schlimmste anzunehmen, aber all die blutrünstigen Theorien über das Verschwinden der Mädchen spuken mir nun im Kopf herum. Mein Mann ist ins Bett gegangen. Entweder macht er sich keine Sorgen, oder es ist ihm egal – ich weiß schon seit Jahren nicht mehr, was er denkt. Ich nehme an, das liegt in der Natur der Ehe, vielleicht beweist meine Unwissenheit aber auch nur, dass ich nicht besonders gut darin bin, Gedanken zu lesen. Meine Nachbarin Ann Pretty würde vermutlich zu letzterer Annahme neigen, da sie auf tausenderlei Art und immer wieder durchblicken lässt, dass ich meinen ehelichen Pflichten nicht nachkomme – was eigentlich, bei Licht betrachtet, eine erstaunliche Leistung für eine derart unkultivierte Frau ist. Dass ich keine leiblichen Kinder habe, betrachtet sie als Zeichen dafür, dass ich meinen Pflichten als Einwanderin nicht nachkomme, die anscheinend darin bestehen, eine Arbeiterschaft großzuziehen, die ausreicht, um eine Farm ohne zusätzliche Hilfskräfte zu bewirtschaften. Diese Ansicht ist übrigens äußerst weit verbreitet in unserem riesigen, spärlich besiedelten Land. Manchmal denke ich, die Siedler pflanzen sich als panische Antwort auf die Größe und Leere des Landes so heldenhaft fort, als hofften sie, die gesamte Fläche mit ihren Sprösslingen bevölkern zu können. Möglicherweise treibt sie auch die begründete Angst, dass ein Kind hier so schnell verlorengehen kann, dazu, besser gleich mehrere zu haben. Vielleicht haben sie ja sogar Recht. Als ich heute Nachmittag nach Hause kam, war Angus bereits zurück. Ich erzählte ihm von Jammets Tod, und er betrachtete 28
eine ganze Zeit lang eingehend seine Pfeife, wie immer, wenn er tief in Gedanken versunken war. Ich war den Tränen nahe, obwohl ich Jammet nicht sehr gut gekannt hatte. Angus hatte ihn besser gekannt, er war gelegentlich mit ihm auf die Jagd gegangen. Doch was in diesem Moment in ihm vorging, habe ich nicht aus seinem Verhalten herauszulesen vermocht. Später saßen wir an unseren Stammplätzen in der Küche und aßen schweigend. Der Platz zwischen uns an einem der beiden Tischenden war für eine dritte Person gedeckt. Keiner von uns verlor ein Wort darüber. Vor vielen Jahren unternahm mein Mann eine Reise an die Ostküste. Drei Wochen war er weg, dann schickte er ein Telegramm, in dem er ankündigte, dass ich ihn am Sonntag zurückerwarten könnte. Vier Jahre lang hatten wir keine Nacht getrennt voneinander verbracht, und ich freute mich unbändig auf seine Rückkehr. Als ich das Rattern der Wagenräder auf dem Pfad hörte, lief ich ihm entgegen und stellte erstaunt fest, dass zwei Personen auf dem Wagen saßen. Als sie näher kamen, konnte ich sehen, dass die andere Person ein Kind von etwa fünf Jahren war, ein Mädchen. Angus brachte das Pferd zum Stehen, ich rannte ihnen entgegen, und das Herz schlug mir bis zum Hals dabei. Das Mädchen schlief, ihre langen Wimpern ruhten auf den blassen Wangen. Sie hatte schwarzes Haar. Auch ihre Brauen waren schwarz. Die Adern schimmerten in zartem Lila durch ihre Lider. Sie war wunderschön. Ich brachte kein Wort heraus. Ich starrte sie einfach nur an. »Sie war bei den Französischen Schwestern. Ihre Eltern sind an der Seuche gestorben. Ich habe davon gehört und bin zum Kloster gegangen. Und da waren all diese Kinder. Ich wollte eins im richtigen Alter, aber …« Er brach ab. Unsere kleine Tochter war das Jahr zuvor im Säuglingsalter gestorben. »Aber sie war die Hübscheste.« Er holte tief Luft. »Wir könnten sie Olivia nennen. Ich weiß ja nicht, ob du das möchtest, oder …« 29
Ich schlang die Arme um seinen Hals und merkte plötzlich, dass mein Gesicht nass war. Er hielt mich fest, und dann schlug das Kind die Augen auf. »Ich heiße Frances«, sagte sie mit deutlich hörbarem irischen Akzent. Jetzt, wo sie die Augen geöffnet hatte, wirkte sie sehr intelligent, hellwach. »Hallo, Frances«, sagte ich nervös. Was wäre, wenn sie uns nicht mochte? »Wirst du jetzt meine Mama?«, fragte sie. Ich spürte, wie ich rot wurde, als ich nickte. Danach schwieg sie. Wir führten sie ins Haus, und ich bereitete das köstlichste Abendessen, das ich auf die Schnelle auftreiben konnte – Felchen mit Gemüse und dazu Tee mit viel Zucker. Sie aß jedoch nicht viel und starrte den Fisch an, als wisse sie nicht so genau, was das war. Sie sagte kein Wort mehr, und ihre dunkelblauen Augen huschten von mir zu Angus und zurück. Sie war todmüde. Ich nahm sie auf den Arm und trug sie nach oben. Das Gefühl, diesen warmen, weichen Körper im Arm zu halten, jagte mir einen Schauer der Zärtlichkeit durch den ganzen Körper. Ihre Knochen fühlten sich so zerbrechlich an in meinen Händen, und sie roch muffig, wie ein schlecht gelüftetes Zimmer. Da sie schon beinahe schlief, zog ich ihr nur das Kleid, die Schuhe und die Socken aus, bevor ich sie unter die Decke steckte. Ich beobachtete sie, wie sie im Schlaf zuckte. Frances’ Eltern waren an Bord eines überfüllten Schiffes namens Sarah nach Belle Isle gekommen. Das Zwischendeck war bis auf den letzten Platz besetzt – hauptsächlich von Iren aus der County Mayo, das immer noch an den Folgen der großen Hungersnot litt. Wie jene Menschen, die erst dann auf eine Modewelle aufspringen, wenn diese bereits wieder passé ist, erkrankten die Passagiere auf der Überfahrt an Typhus, obwohl der Höhepunkt der Seuchenkatastrophe längst überschritten war. Beinahe hundert Männer, Frauen und Kinder starben auf dem Schiff, das auf seiner Rückfahrt nach Liverpool 30
sinken sollte. Etliche Kinder waren nun Waisen und wurden nach ihrer Ankunft in einem Nonnenkloster untergebracht, bis man neue Familien für sie fand. Als ich am nächsten Morgen ins Gästezimmer kam, schlief Frances noch – obwohl ich den Eindruck hatte, dass sie bloß so tat, als ich sie leicht an der Schulter berührte. In diesem Moment wurde mir klar, dass sie Angst hatte. Vielleicht hatte sie ja schreckliche Geschichten über kanadische Farmer gehört und dachte, wir würden sie wie eine Sklavin behandeln. Ich lächelte sie an, nahm sie bei der Hand und führte sie nach unten, wo ich direkt vor dem Herd eine Wanne mit heißem Wasser vorbereitet hatte. Sie schaute verschämt zu Boden, als sie die Arme hob, damit ich ihr den langen Unterrock ausziehen konnte … Ich rannte aus dem Haus auf der Suche nach Angus, der an einer Ecke des Hauses Holz spaltete. »Angus«, zischte ich und fühlte mich in meiner Wut sehr dumm. Er drehte sich verwirrt zu mir um, die Axt in der Hand, und sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Stimmt was nicht? Geht es ihr gut?« Auf die erste Frage schüttelte ich den Kopf. Dann überlegte ich kurz, ob er es wusste, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. Er kannte solche Reaktionen von mir und wandte sich deshalb wieder seinem Holzscheit zu. Die Axt sauste herab, und zwei sauber geteilte Hälften flogen in den Holzkorb. »Angus, du hast einen Jungen mitgebracht.« Er legte die Axt nieder. Er hatte es nicht gewusst. Wir gingen hinein, wo das Kind in der Badewanne saß und still mit der Seife spielte, die es sich durch die Finger schlüpfen ließ. Seine Augen waren groß und wachsam. Er schien nicht verwundert, dass wir ihn anstarrten. »Wollt ihr, dass ich wieder zurückgehe?«, fragte er. »Nein, natürlich nicht.« Ich kniete mich neben ihn und nahm ihm die Seife aus der Hand. Seine Schulterblätter stachen wie 31
Flügelstummel aus seinem knochigen Rücken hervor. »Lass mich das machen.« Ich fing an, ihn zu waschen. Ich hoffte, meine Hände würden ihm deutlicher sagen als meine Worte, dass es mir nichts ausmachte. Angus ging zurück zu seinem Holzstapel und ließ die Tür geräuschvoll hinter sich zuschlagen. Francis schien die Tatsache, dass er als Mädchen verkleidet zu uns gekommen war, niemals, auch im Nachhinein nicht, besonders zu verwundern. Wir hingegen haben uns noch stundenlang über die Motive der Französischen Schwestern den Kopf zerbrochen – hatten sie angenommen, ein Mädchen würde schneller ein Zuhause finden als ein Junge? Aber es waren doch auch Jungen unter den Waisen gewesen. Oder hatten sie, weil sie so geblendet waren von seinem schönen Gesicht, ganz einfach nichts bemerkt und ihm einfach die Kleider angezogen, die am besten zu ihm passten? Francis selbst machte weder Anstalten, die Angelegenheit aufzuklären, noch schien er sich dafür zu schämen. Andererseits wehrte er sich auch nicht, als ich ihm eine Hose und ein Hemd nähte und ihm die langen Haare abschnitt. Er glaubt, wir hätten ihm das nie verziehen, was aber bei mir nicht der Fall ist. Bei meinem Mann bin ich mir da allerdings nicht sicher. Er ist durch und durch Highlander und lässt sich nicht gern zum Narren halten – deshalb glaube ich auch nicht, dass er sich jemals von diesem Schlag erholt hat. Wir hatten keine Schwierigkeiten mit Francis, solange er noch ein Kind war. Er konnte sehr witzig sein, alberte herum und machte Leute nach. Aber wir wurden alle älter, und damit änderten sich die Dinge zum Schlechteren, wie das anscheinend immer der Fall ist. Aus Francis wurde ein Heranwachsender, der nirgendwo hineinzupassen schien. Ich habe ihn beobachtet, wie er versuchte, stoisch und ungerührt zu wirken, wie er sich mit der Aura des Tollkühn-Mutigen zu umgeben versuchte, eines Mannes, der den Gefahren unserer Wildnis mit der hier üblichen lässigen 32
Furchtlosigkeit begegnete. Wer ein Mann sein will, muss mutig und zäh sein, muss Schmerzen und Anstrengungen wegstecken können. Darf sich nicht beklagen. Darf nie aufgeben. Ich habe gesehen, wie er daran scheiterte. Hätten wir in Toronto gelebt oder in New York, dann wäre das alles nicht wichtig gewesen. Aber was in einer kultivierteren Umgebung als Heldentat gegolten hätte, gehörte hier bei uns in der Wildnis zum täglichen Leben. Er hörte auf, so sein zu wollen wie die anderen. Er wurde mürrisch und schweigsam, reagierte nicht mehr auf Zuneigungsbekundungen und berührte mich auch nicht mehr. Jetzt ist er siebzehn. Sein irischer Akzent ist so gut wie verschwunden, aber in vielerlei Hinsicht ist er mir fremder denn je. Er sieht aus wie der Wechselbalg, der er ist. Man sagt, in einigen Iren fließe spanisches Blut, und wenn man sich Francis so ansieht, möchte man das auch glauben – er ist so dunkel, wie Angus und ich blond und hellhäutig sind. Ann Pretty hat einmal einen ihrer bemühten Witze gemacht und gesagt, er sei nur deshalb der Pest entkommen, um unsere ganz persönliche Pest zu werden. Ich war wütend (weswegen sie mich natürlich auslachte), aber ihre Worte blieben mir im Gedächtnis haften und drängen sich jedes Mal von neuem in meinen Kopf, wenn Francis durch das Haus stürmt, die Türen knallt und knurrt, als sei er kaum der menschlichen Sprache fähig. Ich versuche mich dann immer daran zu erinnern, wie ich in seinem Alter war, und beiße mir auf die Zunge. Mein Mann ist weniger nachsichtig. Die beiden können tagelang nebeneinanderher leben, ohne dass ein gutes Wort zwischen ihnen fiele. Aus diesem Grund wollte ich Angus auch nicht erzählen, dass ich Francis seit vorgestern nicht mehr gesehen habe. Andererseits nehme ich es ihm aber auch übel, dass er nicht nach ihm gefragt hat. Es ist bald Morgen, und unser Sohn ist seit achtundvierzig Stunden nicht nach Hause gekommen. Zugegebenermaßen passiert das nicht zum ersten Mal – manchmal geht er zwei oder drei Tage allein zum Angeln, und wenn er 33
zurückkommt, normalerweise ohne Fisch, verliert er kaum ein Wort darüber, was er in der Zwischenzeit getan hat. Ich vermute, dass es ihm widerstrebt, irgendein Lebewesen zu töten, und dass er das Angeln nur als Deckmantel dafür benutzt, um allein sein zu können. Ich muss im Stuhl eingeschlafen sein, denn als ich aufwache, ist es schon beinahe hell, und ich bin steif und friere. Francis ist in der Zwischenzeit nicht zurückgekommen. So sehr ich mich auch bemühe, mir einzureden, dass alles Zufall ist, dass er nur wieder einen seiner Angeln-nach-nichts-Ausflüge unternimmt, will mir der Gedanke nicht aus dem Kopf gehen, dass mein Sohn ausgerechnet an dem Tag, an dem der erste und einzige Mord in Dove River verübt wurde, verschwunden ist.
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ie ersten Sonnenstrahlen fallen auf drei Reiter, die sich von Westen nähern. Sie sind schon seit Stunden unterwegs, und das Tageslicht ist ihnen sehr willkommen, vor allem dem Mann am Ende der Gruppe. Für Donald Moodys schwache Augen ist das Dämmerlicht besonders anstrengend. Ganz gleich, wie oft er seine Brille auch auf der Nase zurückschiebt, diese in Schwarzweiß getauchte Welt mit ihren nur schwer abschätzbaren Entfernungen und den sich dauernd verändernden Formen ist kaum erkennbar für ihn. Und außerdem ist es eisig kalt. Selbst in mehrere Lagen Wolle gehüllt und in einen Pelzmantel mit der Fellseite nach innen, sind seine Gliedmaßen taub und gefühllos. Donald atmet die dünne, aromatische Luft ein, die so ganz anders ist als die in seiner Heimatstadt Glasgow, wo er sie um diese Jahreszeit immer nur rußig und beißend erlebt hat. Die Luft hier hingegen ist so klar, dass das ungehindert strahlende Sonnenlicht viel weiter zu reichen scheint. Wenn die Sonne gerade über den Horizont hinausgestiegen ist, wie jetzt, ziehen sich die Schatten hinter ihnen bis ins Unendliche. Sein Pferd, das dicht auf das Tier vor ihm aufgerückt ist, stolpert und rammt dem Grauen die Nase in die Flanken, was ihm einen warnenden Schlag von dessen Schweif einträgt. »Verflucht, Moody«, schimpft der Mann vor ihm. Donalds ungelenkes Reittier hinkt wie immer entweder hinterher oder rempelt Mackinleys Pferd an. »Tut mir leid, Sir.« Donald zieht an den Zügeln, und das Tier legt die Ohren an. Er hat es von einem Franzosen gekauft, es scheint einige von dessen antibritischen Vorurteilen verinnerlicht zu haben. Mackinleys Rückenansicht strahlt Missfallen aus. Sein Pferd benimmt sich vorbildlich, genau wie das vor ihm. Aber Donald 35
wird ohnehin ständig an seine Unerfahrenheit erinnert – er ist erst seit gut einem Jahr in Kanada, und immer wieder passieren ihm grobe Schnitzer, weil er die ungeschriebenen Regeln, die in der Company gelten, nicht kennt. Es warnt ihn aber auch nie jemand rechtzeitig, weil es die einzige Unterhaltung seiner Kollegen ist, ihn dabei zu beobachten, wie er sich mühsam vorankämpft und dabei in jedes Fettnäpfchen tritt oder bei der örtlichen Bevölkerung aneckt. Er könnte nicht sagen, dass die anderen Männer ihm gegenüber unfreundlich wären, aber offenbar ist das hier nun mal so: Der jüngste Bedienstete muss in seiner Lehrzeit als Witzfigur herhalten. Die meisten Männer sind gebildet, mutig und voll Abenteuerlust, wenn sie zur Company stoßen – sie müssen dann aber schnell feststellen, dass das Leben in dem großen Land eine bedauerliche Ereignislosigkeit mit sich bringt. Es gibt zwar Gefahren (wie man ihnen das auch angekündigt hatte), doch die lauern meist nur in Form von Frostbeulen oder Erfrierungen und nicht im unbewaffneten Kampf mit wilden Tieren oder Kriegen gegen feindliche Ureinwohner. Ihr Alltag besteht aus lauter unbedeutenden und wenig ruhmreichen Belastungsproben – Kälte, Dunkelheit, tödliche Langeweile und übermäßiger Genuss schlechten Alkohols. Mitarbeiter der Company zu sein, das ist Donald recht schnell klar geworden, war, als würde man sich selbst in ein Arbeitslager einweisen, nur dass man mehr Papierkram zu erledigen hatte. Der Mann vor ihm, Mackinley, ist der Kommissionär von Fort Edgar, und geführt werden sie alle von ihrem indianischen Angestellten Jacob, der wiederum darauf besteht, Donald überallhin zu begleiten, was ihm eher peinlich ist. Donald hat für Mackinley, der abwechselnd sarkastisch oder einfach nur plump daherkommt, nicht viel übrig – nicht zuletzt wegen dieser seiner Doppelstrategie, jedwede Kritik abzuwehren, die er anscheinend permanent aus den eigenen Reihen zu erwarten scheint. Donald nimmt an, dass Mackinley deshalb so empfind36
lich ist, weil er sich einigen seiner Untergebenen – Donald eingeschlossen – gesellschaftlich unterlegen fühlt und deshalb ständig nach Hinweisen auf mangelnde Respektsbezeugung sucht. Würde Mackinley sich weniger darum scheren, denkt Donald, würde man ihn vermutlich auch mehr respektieren, andererseits scheint es aber eher unwahrscheinlich, dass er sich noch einmal ändert. Was ihn selbst betrifft, so ist er sich im Klaren darüber, dass Mackinley und die anderen ihn für einen ziemlich verweichlichten Erbsenzähler halten, der zwar auf seine Art nützlich ist, aber wohl nie ein Abenteurer alter Schule werden wird. Als er vom Schiff stieg, mit dem er aus Glasgow gekommen war, hatte er sich vorgenommen, immer er selbst zu bleiben. Die Männer sollten ihn einfach nehmen, wie er war. Aber in Wahrheit hat er seither einige wahrhaft tapfere Versuche unternommen, sein Ansehen bei ihnen zu verbessern. Zum einen hat er seine Toleranzgrenze für den derben Alkohol, den Lebenssaft des Forts, langsam, aber stetig erhöht, und das, obwohl er ihm nicht bekommt. Als er ankam, nippte er immer nur höflich an dem angebotenen Rum, der aus riesigen stinkenden Fässern ausgeschenkt wurde, und dachte dabei, dass er noch nie etwas derart Widerwärtiges getrunken hätte. Den anderen Männern war seine Zurückhaltung nicht entgangen, und so blieb er immer allein zurück, wenn sie in die tiefen Gewässer der Trunkenheit stachen, wenn sie ihre endlosen, todlangweiligen Geschichten zum Besten gaben und immer wieder über dieselben Witze lachten. Donald ertrug das alles, solange er konnte, doch schließlich drohte die Einsamkeit ihn langsam, aber sicher zu erdrücken, bis er es nicht mehr aushielt. Als er sich das erste Mal so richtig betrank, johlten die Männer und schlugen ihm auf den Rücken, als er auf seine Knie kotzte. Trotz seiner Übelkeit und der säuerlichen Nässe überall verspürte Donald in diesem Moment einen Funken Wärme: Endlich gehörte er dazu – endlich betrachteten sie ihn als einen von ihnen. Obwohl der 37
Rum inzwischen nicht mehr ganz so widerwärtig schmeckte wie früher, war ihm klar, dass die anderen ihn trotz allem noch amüsiert und etwas herablassend behandelten. Er war eben immer noch der zweite Buchhalter. Mehr nicht. Die andere glänzende Idee, die er ausgeheckt hatte, um sich endlich vor ihnen zu bewähren, war die Organisation einer Rugby-Partie. Diese endete zwar desaströs, immerhin aber mit einem kleinen Hoffnungsschimmer, der ihn gerader im Sattel hielt. Verglichen mit den meisten anderen Forts der Company ist Fort Edgar ein zivilisierter Außenposten. Die kleine Ansammlung von Holzhäusern, die jeweils mit Palisadenzäunen umgrenzt sind, liegt ganz in der Nähe des Great-Lake-Ufers – und versteckt sich hartnäckig vor dem atemberaubenden Anblick von Inseln und Buchten hinter einem dichten Gürtel aus Fichten. Doch was Fort Edgar wirklich zu einem zivilisierten Ort macht, ist seine Nähe zu den Siedlern, und die nächsten sind die in Caulfield und Dove River. Die Bewohner von Caulfield sind froh, so nahe an einem Handelsposten zu wohnen, in dem es importierte Waren aus England und noch aufrechte Männer gibt. Die Händler sind ebenfalls froh über die Nähe zu Caulfield, weil dort Englisch sprechende weiße Frauen leben, die sich gelegentlich dazu überreden lassen, die Tanzveranstaltungen und sonstigen gesellschaftlichen Ereignisse des Forts – wie beispielsweise Rugby-Spiele – mit ihrer Anwesenheit zu beehren. An dem Morgen, an dem das Spiel stattfinden sollte, stellte er fest, dass er nervös war. Nach einer durchzechten Nacht waren die Männer mürrisch und übernächtigt, und Donald verlor beinahe die Nerven, als zu allem Unglück auch noch eine Gesellschaft eintraf, die der Partie zuschauen wollte. Noch nervöser wurde er, als er sie dann näher kennenlernte – einen großen, ernst dreinblickenden Mann, der aussah wie ein Höllenprediger, und seine beiden Töchter, die angesichts der vielen 38
unverheirateten jungen Männer ganz aufgeregt waren. Die Knox-Schwestern beobachteten das Treiben höflich und völlig verständnislos. Ihr Vater hatte auf dem Weg nach Fort Edgar zwar versucht, ihnen die Spielregeln zu erklären, zumindest diejenigen, an die er sich erinnerte – aber seine Kenntnisse des Spiels waren derartig eingerostet, dass er sie mit seinen Ausführungen nur noch mehr verwirrt hatte. Die Spieler rannten in einem großen, wirren Knäuel über das Spielfeld, und der Ball (ein schwerer Klumpen, den die Frau eines Pelzhändlers zusammengenäht hatte) blieb größtenteils unsichtbar. Je länger das Spiel dauerte, umso stärker verfinsterte sich die Stimmung. Donalds Team schien sich stillschweigend darauf geeinigt zu haben, ihn aus dem Spiel herauszuhalten, und ignorierte deshalb beharrlich seine Rufe, an ihn abzugeben. In der Hoffnung, dass die Mädchen nicht merken würden, wie überflüssig er war, rannte er ziellos hin und her, bis der Ball plötzlich auf ihn zukullerte, wobei er kleine Flöckchen seiner pelzigen Füllung verlor. Er schnappte ihn sich und rannte über das Spielfeld, wild entschlossen, endlich Eindruck zu schinden – als er unversehens stolperte und sich dann auf dem Boden liegend und nach Luft schnappend wiederfand. Ein klein gewachsenes Halbblut namens Jacob schnappte sich den Ball und lief los, Donald hinter ihm her, um sich diese Gelegenheit auf keinen Fall entgehen zu lassen. Er warf sich auf den Gegner und riss ihm bei diesem harten, aber fairen Angriff die Beine unter dem Körper weg. Schlussendlich griff dann ein riesenhafter Steuermann zu, schnappte sich den Ball und punktete. Wie er so auf dem Boden lag, verhallte Donalds triumphaler Siegesschrei gurgelnd in seiner Kehle. Er nahm die Hände von seinem Bauch und betrachtete erst sie und dann Jacob – seine Hände waren dunkel und warm, und Jacob stand über ihm mit einem Messer in der Hand. In seinem Gesicht spiegelte sich blankes Entsetzen. Irgendwann bekamen auch die Zuschauer mit, dass etwas nicht 39
stimmte, und kamen auf das Spielfeld gestürmt. Die Spieler versammelten sich um Donald, dessen erste wahrnehmbare Regung Scham war. Er sah, wie der Friedensrichter sich mit onkelhaft besorgter Miene über ihn beugte. »… kaum verletzt. Unfall … Eifer des Gefechts.« Jacob war zutiefst bestürzt, Tränen liefen ihm übers Gesicht. Knox nahm die Wunde in Augenschein. »Maria, reich mir dein Halstuch.« Maria, die weniger hübsche Tochter, riss sich das Tuch vom Hals, doch letztendlich war es Susannahs auf dem Kopf stehendes Gesicht, an dem Donald sich festhielt, während ihm das Halstuch auf die Wunde gepresst wurde. Dann spürte er einen dumpfen Schmerz im Bauch und merkte, wie kalt ihm war. An Weiterspielen war nicht mehr zu denken, die Spieler standen linkisch herum und zündeten sich ihre Pfeifen an. Als Donalds Blick Susannahs Augen traf, in denen er ihre Sorge um ihn las, war es ihm plötzlich gleich, wie das Spiel ausging und ob er seine raue, männliche Seite hatte zeigen können, und es kümmerte ihn auch nicht mehr, dass sein Blut durch seinen Überrock sickerte und diesen braun färbte. Er war verliebt. Die Verletzung hatte seltsamerweise zur Folge, dass Jacob und er Herzensfreunde wurden. Am Tag nach dem Spiel war Jacob tränenüberströmt an Donalds Krankenbett getreten und hatte sein tiefstes, ehrliches Bedauern ausgedrückt. Der Alkohol habe ihn dazu getrieben, sagte er, und dass er von einem bösen Geist besessen gewesen sei, dass er es wiedergutmachen würde, indem er sich so lange um Donald kümmern wolle, solange er hier sei. Donald war gerührt, und als er ihm lächelnd vergab und ihm die Hand reichte, erwiderte Jacob sein Lächeln. Es war möglicherweise das erste wirklich freundschaftliche Lächeln, das er in diesem Land gesehen hatte. Donald taumelt, als er von seinem Pferd gleitet, und versucht, 40
die Blutzirkulation in seinen Beinen durch heftiges Aufstampfen wieder in Gang zu bringen. Die Größe und Eleganz des Hauses, vor dem sie stehen, beeindrucken ihn wider Willen, vor allem, wenn er bei diesem Anblick an Susannah denkt und um wie viel unerreichbarer sie angesichts dieser Pracht für ihn wird. Knox tritt heraus, lächelt herzlich zur Begrüßung und schaut dann mit kaum verhohlenem Schrecken zu Jacob hinüber. »Ist das Ihr Führer?« »Das ist Jacob«, entgegnet Donald, dem die Röte in die Wangen steigt. Doch Jacob scheint ihm das nicht übelzunehmen. »Ein guter Freund von Moody«, wirft Mackinley ätzend ein. Der Friedensrichter ist verwundert, weil er sich felsenfest daran zu erinnern glaubt, dass genau dieser Mann Donald gerade ein Messer in den Bauch gerammt hatte, als er ihn das letzte Mal sah. Aber er scheint sich ganz offenkundig zu irren. Knox berichtet, was er weiß, und Donald macht sich Notizen. Es dauert nicht besonders lange, alle Fakten zusammenzutragen. Insgeheim wissen sie beide, dass keinerlei Hoffnung besteht, den Schuldigen jemals ausfindig zu machen, es sei denn, jemand hätte etwas ganz Konkretes gesehen. Doch in einem Ort wie diesem hier sieht immer irgendwer irgendwas – Klatsch und Tratsch sind das Lebenselixier solcher kleinen Siedlungen. Donald schichtet neues Papier auf seine Notizen und klopft alles ordentlich zurecht, bevor sie sich aufmachen, um den Tatort selbst in Augenschein zu nehmen. Vor dieser Aufgabe graut ihm, und er hofft, dass er sich nicht blamiert, weil ihm möglicherweise schlecht wird, oder – er führt sich den schlimmstmöglichen Ausgang mit quälender Bildhaftigkeit vor Augen – was wäre, wenn er auf einmal in Tränen ausbricht? Er hat noch nie eine Leiche gesehen, nicht einmal die seines Großvaters. Obwohl es höchst unwahrscheinlich ist, dass er tatsächlich weinen muss, stellt er sich mit beinahe wollüstigem Schrecken vor, wie unbarmherzig ihn die anderen wegen seiner Heulerei aufziehen würden. Sie würden ihn immer wieder daran 41
erinnern. Und schließlich würde er inkognito nach Glasgow zurückkehren und dort einen anderen Namen annehmen müssen … Mit solchen Gedanken beschäftigt, kommt ihm der Weg zur Hütte wie ein Katzensprung vor.
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euigkeiten machen heutzutage schnell die Runde, denkt Thomas Sturrock. Selbst ohne Straßen und Eisenbahnschienen verbreiten sich Neuigkeiten und ihre nebulösen Artverwandten, die Gerüchte, blitzschnell – und das auch über größte Entfernungen. Dieses Phänomen erscheint ihm ebenso seltsam wie vielversprechend, es müsste sich nur ein wacher Verstand, seiner zum Beispiel, der Sache annehmen. Was ließe sich daraus machen? Eine kurze Monografie vielleicht? Der Globe oder der Star könnten sich möglicherweise für einen Artikel zu dem Thema interessieren, er müsste nur unterhaltsam genug sein. In den letzten Jahren hat er sich manchmal zu dem Gedanken hinreißen lassen, dass er mit fortschreitendem Alter noch anziehender geworden ist: Sein silbergraues Haar trägt er aus der hohen, edlen Stirn gekämmt und etwas länger, sodass es sich um die Ohren herum lockt. Sein Mantel ist zugegebenermaßen altmodisch, aber gut geschnitten und dadurch recht verwegen, er ist aus einem dunklen Blau, das die Farbe seiner Augen widerspiegelt, die heute nicht trüber sind als vor dreißig Jahren. Seine Hose ist schick, das an einen Falken erinnernde Gesicht fein geschnitten und vom Leben unter freiem Himmel reizvoll gegerbt. An der Wand gegenüber hängt ein fleckiger, stumpfer Spiegel und erinnert ihn daran, dass er selbst unter diesen bescheidenen Umständen ein Bild von einem Mann ist. Diese heimliche Eitelkeit, die er sich gelegentlich als kleine (und darüber hinaus kostenlose) Freude gönnt, lässt ihn über sich selbst lächeln. »Du bist ganz außer Frage ein verrückter alter Kerl«, flüstert er seinem Spiegelbild in Gedanken zu und nippt an seinem kalten Kaffee. Thomas Sturrock geht seiner üblichen Tätigkeit nach – in etwas schäbigen Kaffeehäusern herumzusitzen (dieses hier heißt 43
The Rising Sun) und eine oder zwei Stunden lang an derselben Tasse Kaffee zu nippen. Seine Grübelei über die Natur von Neuigkeiten und Gerüchten kam nicht von ungefähr, denkt er, als er sich dabei ertappt, wie er ein Gespräch am Tisch hinter ihm verfolgt. Er lauscht nicht – so tief würde er nie sinken –, aber irgendetwas des hinter ihm Gesagten hat seine umherschweifenden Gedanken gefesselt, und jetzt versucht er herauszufinden, was das wohl gewesen sein könnte … Caulfield, das war es, jemand hatte den Namen Caulfield erwähnt. Sturrock, dessen Verstand ebenso wie sein Kleidungsstil heute noch genauso auf der Höhe ist wie eh und je, kennt jemanden, der dort lebt, obwohl er ihn schon seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen hat. »Es heißt, so was hat man noch nicht gesehen. Blutüberströmt, Blut an den Wänden und überall … müssen wohl indianische Plünderer gewesen sein …« (Nun ja, man kann tatsächlich niemandem einen Vorwurf machen, wenn er einem derartigen Gespräch lauscht.) »Einfach in der Hütte vermodern lassen … schon tagelang dagelegen. Fliegen auf ihm, dick wie eine Decke. Stell dir nur den Geruch vor.« Seine Begleitung stimmt dem Sprecher zu. »Und ohne ersichtlichen Grund, gestohlen wurde nichts. Im Schlaf ermordet.« »Mein Gott, bald ist es hier genauso schlimm wie in den Staaten. Alle fünf Minuten Kriege und Revolutionen.« »Könnte doch einer dieser Deserteure gewesen sein, meinst du nicht?« »Händler ziehen den Ärger doch magisch an, wenn sie mit allen möglichen zwielichtigen Gestalten Geschäfte machen … war wohl Ausländer, da weiß man sowieso nie …« »So weit ist es schon mit uns gekommen …« Und so weiter und so fort. An diesem Punkt spitzt Sturrock die ohnehin schon aufgestell44
ten Ohren noch weiter. Ein paar Minuten hört er sich das Weltuntergangsgeschwätz noch an, so lange, bis er es nicht mehr aushält. »Entschuldigen Sie bitte, meine Herren …« Er spürt, wie ihm Blicke zugeworfen werden, die er allerdings geflissentlich übersieht, als er sich zu den beiden Männern umdreht: Ihrer billigen, aber auffälligen Kleidung und ihrem insgesamt eher der Unterklasse zuzuordnenden Benehmen nach scheint es sich bei den beiden um Handlungsreisende zu handeln. »Ich muss mich entschuldigen. Ich weiß, wie furchtbar öde es ist, wenn Fremde sich einfach in ein Gespräch einmischen, aber ich habe ein persönliches Interesse an dem, worüber Sie da eben gesprochen haben. Wissen Sie, ich mache gelegentlich Geschäfte mit einem Händler, der in der Nähe von Caulfield lebt, und ich konnte nicht umhin mitzuhören, wie Sie – sehr anschaulich übrigens – einen ganz besonders schockierenden und tragischen Zwischenfall beschrieben haben. Sie werden verstehen, dass ich mir angesichts dieser Geschichte natürlich Sorgen mache, und ich kann nur hoffen, dass sie nichts mit meinem Bekannten zu tun hat …« Die zwei Handelsreisenden sind beide nicht gerade helle und wissen dieser hier im Rising Sun nie gehörten Beredsamkeit nicht viel entgegenzusetzen. Der Geschichtenerzähler erholt sich als Erster und wirft einen Blick auf Sturrocks Manschette, die über der Stuhllehne hängt. Diese Art zu taxieren – und das Neigen des Kopfes während einer kurzen, nachdenklichen Pause dazu, bevor der Blick wieder zu seinem Gesicht wandert – identifiziert Sturrock auf Anhieb. Der Mann hat gerade die Wahrscheinlichkeit erwogen, für seine Auskünfte Bares herausschlagen zu können – viel ist nicht zu holen bei ihm, scheint er zu denken, man muss sich nur den Zustand seiner Manschetten ansehen; andererseits könnte die Ostküsten-Yankee-Stimme auf einen gewissen Wohlstand hindeuten … Er seufzt, aber schließ45
lich obsiegt das angeborene Vergnügen, schlechte Nachrichten weiterzuerzählen. »In der Nähe von Caulfield?« »Ja, ich glaube, er wohnt auf einer kleinen Farm oder etwas in der Richtung, der Ort heißt River-soundso … irgendetwas mit einem Vogel oder Tier im Namen.« Sturrock kennt den Namen ganz genau, aber er will ihn von seinem Gegenüber hören. »Dove River.« »Ja, genau. Dove River.« Der Mann wirft seinem Begleiter einen Seitenblick zu. »Dieser Händler, den Sie meinen, ist der Franzose?« Sturrock fährt der Schreck in alle Glieder. Die beiden Männer sehen es in seinem Gesicht. Mehr muss nicht gesagt werden. »Es ist nämlich ein französischer Händler aus Dove River ermordet worden. Ich weiß allerdings nicht, ob es da mehr als einen von der Sorte gibt.« »Das glaube ich nicht. Sie haben nicht zufällig … den Namen mitbekommen?« »Der fällt mir jetzt so auf die Schnelle nicht mehr ein – irgendwas Französisches, wenn ich mich recht erinnere.« »Mein Bekannter heißt Laurent Jammet.« Die Augen des Mannes blitzen vor Vergnügen auf. »Also, das tut mir jetzt sehr leid, ganz ehrlich, aber ich muss Ihnen sagen, dass dieser Name, glaube ich, gefallen ist.« Sturrock wird still, was sehr untypisch für ihn ist. In seiner langen Laufbahn hat er schon viele Nackenschläge einstecken müssen, und gedanklich setzt er sich bereits mit den Folgen von diesem hier auseinander. Tragisch, ganz eindeutig, tragisch für Jammet. Besorgniserregend für ihn selbst – gelinde gesagt. Denn es gibt noch unerledigte Geschäfte zwischen ihnen, darunter eines, das er dringend zum Abschluss bringen wollte. Eigentlich hat er nur noch darauf gewartet, endlich die finanzieilen Mittel dafür auftreiben zu können. Jetzt aber, wo Jammet tot 46
ist, muss er die Sache so schnell wie möglich erledigen, sonst könnte die günstige Gelegenheit ein für alle Male ungenutzt verstreichen. Er muss gerade wirklich erschüttert ausgesehen haben, denn als er wieder aufschaut, stehen eine Tasse Kaffee und ein Glas Bourbon vor ihm. Die Handelsreisenden sehen ihn mit großem, ehrlichem Interesse an – eine derartig grausame und schreckliche Nachricht ist an sich schon aufregend, aber dann noch jemandem zu begegnen, den die Tragödie direkt betrifft –, was gibt es Besseres? Das hat den Gegenwert von mehreren Mahlzeiten. Mit zitternden Händen greift Sturrock nach dem Glas. »Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen«, merkt einer der beiden an. Sturrock weiß genau, was jetzt von ihm erwartet wird, weshalb er stockend die traurige Geschichte von einem Geschenk für seine kranke Frau und unbezahlten Schulden erzählt. Er ist gar nicht verheiratet, aber das scheint die Handelsreisenden nicht zu stören. Irgendwann stützt er sich dann mit den Händen auf der Tischplatte ab und folgt mit dem Blick gebannt einem Teller Koteletts, der gerade vorbeigetragen wird. Zwei Minuten später steht ein dampfender Teller mit einer warmen Mahlzeit vor ihm. Ehrlich, denkt er (und das nicht zum ersten Mal), ich habe meinen Beruf verfehlt – ich hätte Liebesgeschichten schreiben sollen, so mühelos, wie ich die schwindsüchtige Ehefrau aus dem Hut gezaubert habe. Als er schließlich das Gefühl hat, ihnen genug für ihr Geld geboten zu haben (niemand kann ihm vorwerfen, mit seiner Fantasie zu geizen), schüttelt er beiden die Hände und verlässt das Kaffeehaus. Es ist später Nachmittag, und der Tag flieht über den westlichen Horizont dahin. Langsam geht Sturrock zurück zu seiner Bleibe und überlegt, wie er das Geld für die Reise nach Caulfield zusammenkratzen kann, denn das wird er wohl tun müssen, wenn sein Traum nicht sterben soll. Es gibt vermutlich nur noch einen einzigen Menschen in 47
Toronto, dessen Geduld er nicht bereits vollends erschöpft hat, und wenn er es richtig anstellt, würde sie ihm vielleicht zwanzig Dollar oder eine ähnliche Summe dieser Größenordnung leihen. Er biegt also am Ende der Water Street rechts ab und marschiert in Richtung der etwas saubereren Stadtviertel am Seeufer entlang.
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ls ich mir nicht mehr länger einreden konnte, es sei noch Nacht – die Sonne war bereits seit längerem aufgegangen – , gab ich erschöpft auf und schleppte mich nach oben ins Bett. Inzwischen muss es bereits Mittag sein, aber ich kann mich einfach nicht überwinden aufzustehen. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr, vielleicht hat mein Kopf aber auch aufgehört, ihm Befehle zu geben. Ich starre an die Decke und denke immer wieder, dass alles menschliche Streben, ganz besonders aber meines, vergeblich ist. Francis ist nicht nach Hause gekommen, was ein weiterer Beweis dafür ist, dass ich vollkommen unbegabt für alles, dass ich feige und nutzlos bin. Ich mache mir Sorgen um ihn, doch meine Unfähigkeit zu beschließen, dass ich etwas unternehmen muss, überwiegt die Beunruhigung. Ich wundere mich nicht, dass er vor so einer Mutter davongelaufen ist. Angus stand gerade auf, als ich nach oben kam, wir haben kein Wort über die Angelegenheit verloren. Es hatte schon zuvor schwierige Gespräche über Francis gegeben, allerdings nicht unter derart dramatischen Umständen. Angus betont gern, dass der Junge siebzehn ist und auf sich selbst aufpassen könne, dass es für Jungen in seinem Alter normal sei, einfach tagelang zu verschwinden. Aber er ist nicht wie normale Jungen, versuche ich mir zu verkneifen, sage es aber am Ende doch immer. Hier, in diesem kleinen Zimmer, bedrückt mich all das Unausgesprochene: Francis ist verschwunden, ein Mann ist tot. Natürlich kann da kein Zusammenhang bestehen. Eine Stimme in meinem Kopf fragt, ob Angus sich möglicherweise gar nicht besonders grämen würde, wenn Francis nicht zurückkäme. Manchmal sehen sie sich so hasserfüllt an, als wären sie Todfeinde. Vor einer Woche kam Francis einmal 49
sehr spät nach Hause und weigerte sich, seine Aufgaben im Haus wahrzunehmen. Das würde er am nächsten Morgen erledigen, sagte er und bewegte sich mit dieser Weigerung auf äußerst dünnem Eis, weil Angus gerade ein aussichtsloses Streitgespräch mit James Pretty wegen eines Grenzzauns geführt hatte. Angus holte Luft und sagte Francis ins Gesicht, dass er ein selbstsüchtiger, undankbarer Kerl sei. Als er das Wort undankbar aussprach, wusste ich bereits, was kommen würde. Francis ging an die Decke: Angus erwarte von ihm Dankbarkeit, weil er ihm ein Zuhause gegeben habe; er behandle ihn wie einen Knecht; er hasse ihn und habe ihn immer schon gehasst … Angus zog daraufhin den Rückzug an und versank ganz in sich selbst, aber der winzige Schimmer Missachtung, den er nicht verbergen konnte, ging mir durch Mark und Bein. Ich schrie dann Francis an, mit zitternder Stimme. Ich fragte mich insgeheim, wie sehr seine Wut auch mir gelten mochte. Es ist so lange her, seit er mir das letzte Mal in die Augen geblickt hat. Wie hätte ich verhindern können, dass es so weit gekommen ist? Vermutlich hat Ann Recht, wenn sie mich verspottet: Vielleicht bin ich tatsächlich unfähig, eine Familie zusammenzuhalten. Früher habe ich die Frauen, die ihre Familie über alles stellen, immer verachtet, aber eigentlich habe auch ich nichts anderes Nennenswertes zustande gebracht. Während meiner Nachtwache ist mir eine Art Wachtraum durch den Kopf gegeistert: Ich hatte eine Gruselgeschichte über einen künstlichen Menschen gelesen, der die Welt hasst, weil seine Erscheinung nichts als Schrecken und Abscheu hervorruft. Am Ende des Romans flüchtet sich die Kreatur in die Arktis, wo sie niemand mehr sehen kann. In meinem nächtlichen Delirium habe ich gesehen, wie Francis verfolgt wurde, genau wie das Monster aus dem Buch, das übrigens ein Mörder war … Bei Tageslicht muss ich mir jetzt eingestehen, wie dumm das war. Francis kann ja nicht einmal eine Forelle töten. Aber dennoch ist 50
er seit zwei Tagen und Nächten verschwunden. Im Gewirr der Laken kommt mir ein Gedanke, der mich schließlich zwingt, in Francis’ Zimmer zu gehen und mich durch sein Chaos zu arbeiten. Es ist schwer zu sagen, was da ist und was fehlt, deshalb dauert es eine Weile, bis ich endlich finde, was ich gesucht habe. Als ich es dann entdecke, werde ich fast verrückt, reiße Sachen aus den Schränken, stöbere unter dem Bett herum und renne auf meiner verzweifelten Suche durch das ganze Haus. Aber es nützt alles nichts – ich kann noch so sehr beten, dass Dinge nicht da sein sollen, die unwiderlegbar da sind. Ich entdecke seine zwei Angelruten und die Ersatzrute, die Angus für ihn gemacht hat, als die beiden noch miteinander redeten. Ich entdecke Zunderbüchsen und Schlafdecken. Ich finde alles, was er zu einem Angelausflug mitgenommen hätte. Das Einzige, was fehlt, sind die Kleider, die er anhatte, als ich ihn das letzte Mal sah, und sein Messer. Ohne nachzudenken nehme ich seine liebste Angelrute nach draußen hinters Haus und breche sie entzwei, verstecke die beiden Hälften im Holzhaufen. Nachdem ich das getan habe, atme ich schwer. Ich fühle mich schuldig und schmutzig, als hätte ich Francis des Mordes beschuldigt, also gehe ich nach drinnen und mache Wasser heiß, zum Baden. Glücklicherweise steige ich nicht gleich in die Wanne, denn Ann Pretty kommt in die Küche marschiert, ohne vorher anzuklopfen. »Ach, Mrs Ross, was führen Sie doch für ein angenehmes Leben! Ein Bad am helllichten Tag … Sie sollten sich vorsehen mit heißen Bädern in Ihrem Alter. Meine Schwägerin hatte in der Wanne einen Anfall, müssen Sie wissen.« Das ist mir nicht neu, weil sie es mir schon mindestens zwanzigmal erzählt hat. Ann erinnert mich gerne daran, dass sie drei Jahre jünger ist als ich, als wäre das eine ganze Generation. Ich für meinen Teil verzichte darauf, ihr zu sagen, dass sie älter aussieht, als sie ist, und die Figur eines Bären hat, wohingegen ich im Großen und Ganzen meine Figur behalten habe und, 51
zumindest in meiner Jugend, als Schönheit galt. Ihr wäre das ohnehin egal. »Haben Sie schon gehört? Sie haben Ermittlungen eingeleitet. Sie haben Männer von der Company zu Hilfe gerufen. Einen ganzen Trupp. Sie befragen die Leute flussauf und flussab.« Ich nicke unverfänglich. »Horace ist von den MacLarens raufgekommen und hat gesagt, sie reden mit allen. Ich nehme an, sie sind auch bald hier.« Sie sieht sich um wie ein Raubtier. »Er hat gesagt, Francis sei seit gestern Morgen nicht nach Hause gekommen.« Ich mache mir nicht die Mühe, sie zu verbessern und ihr zu sagen, dass er noch länger weg ist. »Er wird einen Schock bekommen, wenn er zurückkommt«, sage ich. »Hat er nicht mit Jammet gejagt?« Sie sieht verschlagen aus. Mit Argusaugen sucht sie den Raum ab – wie ein Raubvogel, ein rosiger, ausladender Bussard, der auf Aas aus ist. »Ein paar Mal. Er wird traurig sein, wenn er es erfährt. Aber sie waren nicht sehr eng befreundet.« »Eine schlimme Sache. Wo soll das nur hinführen? Aber er war ja auch Ausländer. Ganz schön hitzköpfig, diese Franzosen, nicht wahr? Ich weiß noch, als ich in Sault gelebt habe, gingen die sich dauernd gegenseitig an die Gurgel. Vermutlich ist es einer von denen gewesen, der geschäftlich hier war.« Sie wird mir nicht ins Gesicht sagen, dass sie Francis verdächtigt, aber ich kann mir vorstellen, dass sie ihre Vermutungen anderweitig herausposaunt. Sie hat Francis mit seinen dunklen Haaren und seiner dunklen Haut auch immer als Ausländer betrachtet. Sie hält sich für eine weit gereiste Frau, und von jedem Ort, den sie je besucht hat, hat sie Andenken in Form von Vorurteilen mitgebracht. »Wann kommt er denn zurück? Machen Sie sich gar keine Sorgen, wo doch ein Mörder auf freiem Fuß ist?« »Er ist zum Angeln gegangen. Wahrscheinlich nicht vor morgen.« 52
Ich will auf einmal nur noch, dass sie geht, sie versteht den Wink und bittet mich, ihr etwas Tee zu borgen – was ein Zeichen dafür ist, dass sie glaubt, sonst nichts weiter aus mir herauszubekommen. Ich gebe ihr den Tee bereitwilliger als sonst, und in einem Anfall von Großzügigkeit lege ich noch ein paar Kaffeebohnen dazu, was sicherstellt, dass sie so schnell nicht wiederkommt, da die Etikette bei uns vorsieht, dass man bei jedem Gegenbesuch etwas Gleichwertiges mitbringen muss. »Nun ja … dann sollte ich wohl besser mal gehen.« Und doch geht sie nicht, sondern bedenkt mich mit einem Blick, den ich an ihr noch nie beobachtet habe. Irgendwie verstört er mich. Heißes Wasser hat wohltuende Auswirkungen auf mich. Baden muss man hier im November zwar noch nicht unbedingt, aber ich betrachte es als vergleichsweise zivilisiertere Alternative zu den Schockbädern, mit denen wir in der Irrenanstalt traktiert wurden. Ich wurde nur zweimal kalt abgespritzt, ganz zu Anfang, und obwohl die Prozedur als solche und die Angst davor qualvoll waren, fühlte man sich danach erstaunlich ruhig und klar im Kopf, fast schon freudig erregt. Es war eine simple Einrichtung, wobei der Patient (in diesem Falle ich) in einem dünnen, weißen Baumwollunterkleid auf einen Holzstuhl gebunden wird, während ein großer Eimer eiskalten Wassers über seinem Kopf an die Decke gezogen wird. Das war bevor Paul – Dr. Watson – als Direktor eingesetzt wurde und etwas sanftere Methoden für die Verrückten eingeführt hat, die (zumindest für die Frauen) aus Nähen, Blumenstecken und dergleichen Unsinn bestand. Dabei hatte ich eigentlich nur zugestimmt, in die Anstalt zu gehen, um genau dem zu entfliehen … Der Gedanke an meine Zeit in der Anstalt muntert mich immer auf – vermutlich ist das der Vorteil einer unglücklichen Jugend. Ich muss unbedingt daran denken, diese Perle der Weisheit mit Francis zu teilen, wenn er zurückkommt. 53
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Er stellt sich vor als Mr Mackinley, Kommissionär von Fort Edgar. Er ist ein dünner Mann und trägt das dichte Haar so kurz geschnitten, dass es, ganz passend zu seinem Beruf, wie ein Pelz aussieht. Irgendetwas an mir erstaunt ihn – ich nehme an, mein Akzent, der kultivierter ist als seiner und hier vermutlich fehl am Platze wirkt. Daraufhin wird sein Verhalten ein wenig unterwürfiger, obwohl ich merke, wie er dagegen ankämpft. Alles in allem kein glücklicher Mensch. Aber da muss ich mir wohl an die eigene Nase fassen. »Ist Ihr Mann zu Hause?«, fragt er steif. Als Frau habe ich offensichtlich überhaupt nichts zu wissen. »Er ist geschäftlich unterwegs. Und unser Sohn ist zum Angeln gegangen. Ich bin Mrs Ross. Ich habe die Leiche gefunden.« »Aha. Verstehe.« Er ist ein faszinierender Fall – einer dieser selten anzutreffenden Schotten, in deren Gesicht man wie in einem Buch lesen kann. Während er alle Neuigkeiten verdaut, sehe ich in seinem Gesicht abwechselnd Erstaunen, Ehrerbietung, Höflichkeit und leichte Geringschätzung, wozu sich am Ende noch ein reges Interesse gesellt. Ich könnte ihm den ganzen Tag zusehen, aber er hat seine Arbeit zu erledigen. Und ich meine. Er holt einen Notizblock hervor, und ich sage ihm, dass Angus später wiederkommt, aber bis gestern Nachmittag in Sault war, und dass Francis gestern Morgen gegangen ist. Das ist zwar eine Lüge, aber nach einiger Überlegung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es schließlich niemand außer mir besser wissen kann. Er scheint sich für Francis zu interessieren. Ich sage ihm, dass er zum Shallow Lake gegangen ist, aber möglicherweise 54
noch woanders hin ist, wenn die Fische dort nicht angebissen hätten. Ich sage, sie waren befreundet. Er schreibt es auf. Ich habe angestrengt darüber nachgedacht, was ich über Francis und Jammet und ihre Freundschaft aussagen soll. Dabei ist mir aufgefallen, dass Jammet womöglich sein einziger Freund war, und dass, obwohl Jammet so viel älter war, und Franzose. Jammet hat Francis sogar dazu überreden können, mit ihm zum Jagen zu gehen, was Angus nie gelungen ist. Und dann war da noch dieser Tag im Sommer, als ich unterwegs zum Haus der MacLarens war und an seiner Hütte vorbeigekommen bin. Ich hörte eine Geige – eine ansteckend fröhliche Melodie, ganz anders als die schottischen Fidel-Klänge –, ich nehme an, es war eine französische Volksweise. Die Musik war so ansteckend, dass ich unwillkürlich auf die Hütte zusteuerte, weil ich unbedingt zuhören wollte. Dann sprang die Tür auf, und eine Gestalt stürzte heraus, die wild mit den Armen ruderte, um gleich wieder hineinzustolpern, als gehöre das zu einem Spiel. Die Musik, die kurz aufgehört hatte, setzte wieder ein, und ich ging weiter. Es brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass diese Gestalt Francis gewesen war. Ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt, vielleicht, weil er lachte. Dieser Mann ist nicht dumm, auch wenn man in seinem Gesicht lesen kann wie in einem Buch. Aber vielleicht macht er das absichtlich – um einen in die Irre zu führen. Jetzt drückt sein Gesicht seltsamerweise wieder etwas ganz anderes aus – er sieht mich beinahe gütig an, als sei er zu dem Schluss gekommen, ich sei eine ganz bedauernswerte Kreatur, die keine Bedrohung für ihn darstellt. Ich weiß nicht, womit ich ihm diesen Eindruck vermittelt habe, aber es ärgert mich. Durchs Fenster sehe ich, wie er den Weg zu den Prettys hinaufgeht, und denke an Ann. Ich frage mich, ob das, was ich in ihrem Gesicht gesehen habe, vielleicht Mitleid gewesen sein könnte. 55
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onald bringt rasch einige Eigenheiten über Caulfield in Erfahrung. Seine Bewohner geraten in Panik, wenn er an die Haustüren klopft – denn hier klopft normalerweise niemand an. Wenn sie sich dann davon überzeugt haben, dass keins ihrer Familienmitglieder gestorben, verletzt oder verhaftet worden ist, zerren sie ihn herein, flößen ihm Tee ein und versuchen, ihm Informationen zu entlocken. Er stößt auf ein wirres Netz von Querverweisen: Die erste Familie hat nichts gesehen, aber nach einem Cousin geschickt, der sich als Ehemann einer anderen Frau entpuppt, auf den er eine geschlagene Stunde wartet, nur um feststellen zu müssen, dass er ihn bereits gesprochen hat. Leute rennen rein und raus aus ihren Häusern, tauschen Geschichten aus, Theorien und verhängnisschwangere Prophezeiungen über den Zustand des Landes. Dem allen einen Sinn abzuringen kommt dem Versuch gleich, den Fluss mit bloßen Armen auffangen zu wollen. Es ist schon dunkel, als er endlich die ihm zugewiesene Runde hinter sich gebracht hat. Er wartet im Salon der Knox’ und versucht, Schlüsse aus dem zu ziehen, was er gehört hat. Seine Notizen verraten ihm, dass niemand, mit dem er gesprochen hat, irgendetwas Ungewöhnliches gesehen hat – wenn man mal vom seltsamen Verhalten der Eichhörnchen absieht, das George Addamont beobachtet haben will. Donald hofft, den anderen die Arbeit nicht noch schwerer zu machen, indem er etwas Wichtiges übersehen hat. Er ist müde und hat eine ganze Menge Tee und später auch Whisky verabreicht bekommen. Er hat versprochen, etliche Haushalte noch einmal zu besuchen. Aber er hat, da ist er sich ziemlich sicher, keinen Mörder angetroffen. Er fragt sich, wie er nach dem Weg zur Toilette fragen soll, als die Tür aufgeht und die weniger hübsche der beiden Knox56
Töchter hereinkommt. Donald springt sofort auf und lässt dabei ein paar Blätter fallen, die Maria ihm mit einem verschmitzten Lächeln wieder aufhebt. Donald errötet, ist aber zutiefst dankbar, dass es Maria ist und nicht Susannah, die Zeugin seiner Ungeschicklichkeit geworden ist. »Mein Vater hat Sie also eingespannt, hier Detektiv zu spielen?« Donald versteht instinktiv, dass sie seine Unsicherheit, was seine heutigen Ermittlungen betrifft, gespürt haben muss und sich nun über ihn lustig macht. »Irgendjemand muss schließlich versuchen, den Täter dingfest zu machen.« »Aber natürlich, damit wollte ich nicht sagen …« Sie bricht mitten im Satz ab und sieht verärgert aus. Sie will tatsächlich nur ein bisschen mit ihm plaudern, bemerkt er leider viel zu spät. Er hätte ihr unbeschwert zustimmen oder eine geistreiche Bemerkung machen sollen. »Wissen Sie, wann Ihr Vater zurückkommt?« »Nein.« Sie sieht ihn mit diesem berechnenden Blick an. »Woher soll ich das wissen?« Dann lächelt sie, aber nicht freundlich. »Soll ich Susannah fragen? Vielleicht weiß sie es. Ich gehe sie holen.« Maria lässt Donald einfach stehen, der sich nun fragen muss, was er getan hat, um eine derart heftige Antwort zu bekommen. Er stellt sich vor, wie die beiden Schwestern über seine mangelnden Umgangsformen kichern, und empfindet plötzlich heftige Zuneigung für die ordentlichen Zahlenreihen in seinen Büchern, die er sich mit ein bisschen Manipulation von seiner Seite am Ende immer gefügig zu machen weiß. Er ist stolz darauf, dass er selbst so vage Dinge wie von einheimischen Frauen erledigte Putzarbeiten oder das Essen, das die Jäger heranschaffen, richtig verbuchen kann, sodass sie sich am Ende die Waage halten mit der sogenannten »Gastfreundschaft«, die die Company den Familien der Pelzhändler gegenüber übt. 57
Wenn es mit Menschen doch nur genauso einfach wäre. Ein höfliches Hüsteln macht ihn auf Susannahs Gegenwart aufmerksam, kurz bevor sie die Tür aufmacht. »Mr Moody? Oh, Sie sind ja ganz allein hier. Soll ich etwas Tee kommen lassen?« Sie lächelt anmutig, ganz anders als ihre Schwester, was aber erneut zur Folge hat, dass er hastig aufspringt, diesmal aber seine Notizen festhält. »Nein, vielen Dank, ich habe schon … nun ja, vielleicht, das wäre sehr … vielen Dank.« Er versucht, nicht an die vielen Liter Tee zu denken, die er schon getrunken hat. Als der Tee gebracht wird, setzt Susannah sich zu ihm, um ihm Gesellschaft zu leisten. »Das ist eine grässliche Angelegenheit, Miss Knox. Ich wünschte, unser erneutes Zusammentreffen fände unter glücklicheren Umständen statt.« »Ich weiß. Es ist schrecklich. Aber das letzte Mal war es auch schrecklich – da wurden Sie angegriffen. Haben Sie sich denn schon ganz erholt? Es sah entsetzlich aus!« »Ganz wiederhergestellt, danke sehr.« Donald lächelt beflissen, besten Willens, mit guten Nachrichten zu dienen, obwohl das Narbengewebe noch weich und empfindlich ist und oft schmerzt. »Hat man den Mann dafür bestraft?« Donald wäre es gar nicht in den Sinn gekommen, Jacob dafür zu bestrafen. »Nein, er war ganz zerknirscht und ist mittlerweile mein erklärter Beschützer. Ich glaube, das ist die Art der Indianer, Fehler wiedergutzumachen. Sinnvoller als eine Bestrafung, finden Sie nicht auch?« Susannah reißt verblüfft die Augen auf, wobei Donald bemerkt, dass sie von einem besonders reizvollen Haselnussbraun sind, durchsetzt mit goldenen Sprenkeln. »Vertrauen Sie ihm denn?« Donald lacht. »Ja! Ich glaube, er ist ein hochanständiger Kerl. 58
Er ist auch hier.« »Grundgütiger! Er sah so furchteinflößend aus.« »Ich glaube, der wahre Übeltäter war der Alkohol, und dem hat er seither abgeschworen. Er ist eigentlich sehr sanft – er hat zwei ganz kleine Töchter, die er vergöttert. Wissen Sie, ich helfe ihm beim Lesenlernen, und er behauptet, er fände Lesen und Schreiben ebenso faszinierend wie die Hirschjagd.« »Tatsächlich?« Auch sie lacht, und dann verstummen beide. »Meinen Sie, Sie werden denjenigen finden, der diesen armen Mann umgebracht hat?« Donald wirft einen Blick auf seine Notizen, die sicher nicht von großem Nutzen sein werden. Aber Susannah sieht ihn so warm und vertrauensvoll an, dass er sich wünscht, nicht nur diesen Mordfall zu lösen, sondern gleich alles Böse auf der Welt zu beseitigen. »Ich würde annehmen, in einem Ort wie diesem müsste es doch jemandem aufgefallen sein, wenn ein Fremder hier war – wie es scheint, wissen die Leute doch im Allgemeinen, was die anderen so tun.« »Ja, das tun sie«, versichert sie und verzieht das Gesicht. »Etwas derart Abscheuliches … wir werden nicht ruhen, bis wir den Übeltäter seiner gerechten Strafe zugeführt haben. Sie sollen nicht in Angst leben müssen.« »Oh, ich habe keine Angst.« Susannah legt trotzig den Kopf schief. Sie beugt sich ein bisschen zu ihm vor und senkt die Stimme. »Wir haben schon einmal eine Tragödie durchlebt, müssen Sie wissen.« Das ist eine derart unerwartete Aussage, dass Donald sie nur anstarrt, so, wie sie es beabsichtigt hat. »Oh, das wusste ich nicht … es tut mir schrecklich leid …« Susannah steht die Freude ins Gesicht geschrieben. Als jüngstes Mitglied der Familie hat sie selten Gelegenheit, die große Geschichte zu erzählen – in Caulfield kennt sie bereits jeder, und Fremde werden ihr normalerweise nicht auf Gedeih und 59
Verderb ausgeliefert. Sie holt Luft und genießt den besonderen Augenblick. »Es ist schon ziemlich lange her, und wir waren noch sehr klein, als es passierte, also kann ich mich nicht mehr selbst daran erinnern, und es war Mamas Schwester, verstehen Sie …« Die Tür geht so unvermittelt auf, dass Donald darauf wetten würde, dass Maria daran gelauscht hat. »Susannah! Das kannst du ihm doch nicht erzählen!« Ihr Gesicht ist kreidebleich und vor Aufregung verzerrt, obwohl aus ihren Worten nicht zu ersehen ist, ob sie sich mehr darüber aufregt, dass Susannah die Geschichte erzählt oder dass Donald ihr Publikum ist. Sie wendet sich an Donald. »Sie sollten besser mitkommen, mein Vater ist wieder da.« Knox und Mackinley sind im Esszimmer, vor ihnen auf dem Tisch liegen stapelweise Notizen. Zu Donalds Bestürzung haben sie beide wesentlich mehr aufgeschrieben als er. Donald sieht sich suchend nach Jacob um. »Wo ist Jacob? Isst er mit uns zu Abend?« »Jacob geht es gut. Er kümmert sich um die, ähm, Leiche.« »Hat er sich zu der Art der Verstümmelung geäußert?« Mackinley stiert ihn leicht indigniert an. »Ich bin mir sicher, er wäre der gleichen Meinung wie wir.« Knox gibt ein Hüsteln von sich, um das Gespräch wieder auf das Thema zurückzubringen, wobei Donald auffällt, dass jener unmerklich in den Hintergrund zurückgedrängt wurde, während Mackinley mittlerweile die erste Geige spielt und das Gespräch beherrscht. Er hat die Federführung übernommen. Jetzt hat die Company das Kommando. Jeder von ihnen fasst seine Erkenntnisse zusammen, die alle darauf hinauslaufen, dass eigentlich niemand viel gesehen hat. Ein Händler namens Gros André ist vor ein paar Tagen durch den Ort gekommen. Und ein Hausierer namens Daniel Swan, den alle hier kennen, war einen Tag vorher in Caulfield und ist 60
dann in Richtung St. Pierre weitergezogen. Knox hat dem dortigen Friedensrichter eine Nachricht zukommen lassen. Mackinley hat einen Jungen ausfindig gemacht, der gesehen hat, wie Francis Ross am Abend – an welchem, weiß er nicht mehr – zu Jammets Hütte gegangen ist, und jetzt ist Francis weg. »Seine Mutter sagt, sie weiß nicht, wann er zurückkommt. Ich habe mit den Nachbarn über ihn gesprochen. Klingt, als sei er ein komischer Kauz. Bleibt lieber für sich.« »Was nicht heißen muss, dass er es war«, wirft Knox ein. »Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Wir wissen nicht, ob einer der beiden Jammet besucht hat oder nicht.« »Aber der Händler doch bestimmt? Der Name klingt französisch. Sie sagten doch bereits, es sei wahrscheinlich eine Streitigkeit über irgendein Geschäft gewesen.« Mackinley nimmt Donald ins Visier. »Ich würde vorschlagen, ich folge ihm und finde es heraus.« »Nun, soll ich dann diesem Swan folgen?« Knox schüttelt den Kopf. »Das ist nicht notwendig. Ich habe schon einen Boten geschickt, man wird ihn in St. Pierre abfangen und festsetzen. Ich muss ohnehin dorthin, also werde ich ihn selbst befragen. Wir wollten vorschlagen, dass Sie mit Jacob hierbleiben und den Jungen der Ross’ befragen, wenn er zurückkommt.« Donald ist für einen Moment enttäuscht, doch als ihm klar wird, welche Möglichkeiten sich ihm dadurch bieten, kann er sein Glück kaum fassen. Mackinley runzelt die Stirn. »Vielleicht sollte man sich doch besser auf die Suche nach ihm machen. Denn wenn er auf der Flucht ist, wäre es doch Unsinn, so lange zu warten, bis seine Spuren verwischt sind.« »Aber wo sollten sie denn suchen? Vielleicht ist er ja gar nicht zum Shallow Lake gegangen. Wir können uns da nur auf die Aussage seiner Mutter stützen. Und er ist doch noch ein Junge. 61
Soweit wir wissen, hat er keinerlei Motiv. Ganz im Gegenteil, wie es scheint, waren die beiden Freunde.« »Wir dürfen keine Möglichkeit ausschließen.« Mackinley funkelt ihn an. »Natürlich. Aber ich glaube, Mr Moody würde nur seine Zeit vergeuden, wenn er jetzt überstürzt zum See hetzte.« Er wendet sich an Donald. »Vielleicht könnten Sie ja noch ein, zwei Tage warten, und wenn er dann nicht zurück ist, könnten Sie die Verfolgung aufnehmen. Ein Tag mehr oder weniger macht für Jacob keinen Unterschied. Der Junge ist kein Indianer, es wird leicht sein, seiner Spur zu folgen.«
***
Jacob ist zwar Christ, aber der Gedanke daran, eine Leiche anfassen zu müssen, war ihm äußerst unangenehm. Noch dazu die eines Menschen, der so brutal niedergemetzelt worden war. Er hatte das Gefühl, als sei das besonders unrein. Er und zwei bezahlte Freiwillige, eine davon eine Hebamme, die geübt im Aufbahren von toten Körpern war, wurden abgestellt, die Leiche nach Caulfield zu überführen, und sie war die Einzige, die sich von dem entsetzlichen Gestank nicht abschrecken ließ. Die Hebamme schnalzte bloß missbilligend mit der Zunge und machte sich dann daran, das trockene Blut mit einem Schwamm wegzuwischen. Die Totenstarre hatte inzwischen nachgelassen, also legten sie den Leichnam gerade hin, schlossen ihm die Lider und legten ihm eine Münze in den Mund. Die Hebamme band dem Toten ein Tuch um den Kopf, damit sein Kiefer nicht herunterklappte, und dann wickelten sie ihn in Tücher, bis nur noch der Geruch übrigblieb. Der Weg nach Caulfield war so holprig, dass Jacob die Leiche mit einer Hand festhalten musste, damit sie nicht vom Karren fiel. 62
Jetzt lag sie auf dem Tisch hinter eilig aufgehängten Vorhängen in Scotts Lagerhaus für Kurzwaren, umgeben von Stoffen und Nägeln. Die drei standen mit Scotts Hausmeister in einer improvisierten Schweigeminute darum herum, ehe sie sich abwendeten. Alle machten Bemerkungen über das Wetter. Was für ein Glück, dass es kalt war. Donald folgt dem Tabakgeruch in den Stall, wo Jacob Pfeife rauchend in einem Strohnest hockt, und setzt sich schweigend zu ihm. Jacob fingert am Tabak im Pfeifenkopf herum. Über den Toten zu reden würde Unglück bringen, da ist er sich sicher. Aber er weiß, dass Donald genau das tun will. »Sag mir, was du denkst.« Jacob gewöhnt sich langsam an Donalds seltsame Fragen. Ständig will er wissen, was er über dieses oder jenes denkt. Natürlich findet er es ganz normal, danach gefragt zu werden, was er vom Wetter hält oder wie die Aussichten für eine erfolgreiche Jagd sind vielleicht oder wie lange man wohl für eine bestimmte Reise brauchen wird, aber Donald redet gern über Dinge, die vage sind und unwichtig, wie zum Beispiel eine Geschichte, die er gerade gelesen hat, oder eine Bemerkung, die jemand zwei Tage zuvor gemacht hat. Jacob versucht herauszufinden, was Donald eigentlich genau wissen will. »Du weißt doch selbst, dass er skalpiert wurde. Glatt und sauber. Die Kehle wurde ihm im Liegen durchgeschnitten, vielleicht sogar im Schlaf.« »Könnte das ein weißer Mann getan haben?« Jacob grinst, seine Zähne leuchten im Licht der Lampe. »Jeder Mann könnte das getan haben, wenn ihm danach wäre.« »Hattest du irgendeinen Verdacht – ein Gefühl, wer das getan haben könnte, und warum? Du warst doch da.« »Wer es getan hat? Ich weiß nicht. Jemand, der nichts für ihn empfunden hat. Warum er ihn umgebracht hat? Vielleicht weil er vor langer Zeit einmal etwas getan hat. Vielleicht hat er 63
jemanden verletzt …« Jacob hält inne, und sein Blick folgt dem Rauch hinauf in die Dachsparren. »Nein. Wenn man das wollte, würde man auch wollen, dass er wach ist, dass er weiß, dass man gewonnen hat.« Donald nickt aufmunternd. »Vielleicht wurde er auch umgebracht wegen etwas, das er noch tun wollte, um ihn daran zu hindern. Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, wer auch immer das getan hat, hat es nicht zum ersten Mal gemacht.« Donald erzählt ihm, dass er auf den Ross-Jungen warten und ihm, wenn nötig, folgen soll. Dass Mackinley dem Händler nachsetzen wird, dem momentan wohl Hauptverdächtigen, und sich damit die Möglichkeit sichert, ganz allein den Ruhm dafür einzuheimsen, den flüchtigen Mörder gefasst zu haben. »Vielleicht sollte er lieber nicht allein gehen, wenn der Kerl so gefährlich ist«, grinst Jacob. »Sonst macht er ihn auch noch kalt.« Er fährt sich mit dem Finger quer über den Hals. Donald bemüht sich, nicht zu lächeln. Seit er sich mit Jacob angefreundet hat, wird ihm die allgemeine Unbeliebtheit Mackinleys immer deutlicher bewusst. »Findest du es nicht merkwürdig, dass hier niemand in den vergangenen Tagen … ähm, einen Indianer gesehen hat? Falls es wirklich ein Indianer war, der ihn umgebracht hat, meine ich.« »Wenn ein Indianer nicht gesehen werden will, dann wird er nicht gesehen. Das gilt zumindest für meine Leute. Die anderen …« Er schnieft verächtlich. »Chippewa, weiß ich nicht, vielleicht sind die keine so guten Fährtensucher.« Er lächelt betont auffällig, damit Donald merkt, dass er scherzt. Manchmal kommt Donald sich neben diesem Mann wie ein Kind vor, obwohl Jacob kaum älter ist als er. Seit er sich von seiner Verletzung erholt hat, hat er zwar angefangen, Jacob Lesen und Schreiben beizubringen, aber ihr Verhältnis ist 64
deshalb noch lange keines wie das zwischen Lehrer und Schüler. Donald kommt es eher so vor, als sei sein aus Büchern erworbenes Wissen gar nicht wirklich seins und als habe er deshalb gar kein Recht, es weiterzugeben. Er weiß bloß, wie man sich dieses Wissen verschafft, wohingegen es bei Jacob, ganz gleich, was er Donald auch beibringt, ganz seins zu sein scheint, so als käme es aus seinem tiefsten Inneren. Aber vielleicht geht es Jacob ja genauso. Schließlich besteht seine Welt auch aus nichts anderem als Zeichen, die er eben zu deuten weiß, genau wie Donald ohne nachzudenken die Bedeutung geschriebener Wörter entziffern kann. Donald wüsste gern, wie Jacob darüber denkt, kann sich aber nicht mal ansatzweise vorstellen, wie er ihn danach fragen sollte.
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M
aria Knox beobachtet ein Phänomen, dessen Zeugin sie schon viele Male zuvor geworden ist: Die Wirkung ihrer Schwester auf junge Männer. Sie ist daran gewöhnt, sie sieht es seit ihrem vierzehnten Lebensjahr, als ihre Schwester gerade zwölf war und die Jungs sich um Susannah scharten und sich in ihrer Nähe ganz anders benahmen als sonst und ruppig und schüchtern oder laut und überheblich wurden, je nach Charakter. Maria hingegen wurde ignoriert. Sie war unscheinbar und sarkastisch und bloß eine Spielkameradin oder später dann jemand, von dem man die Hausaufgaben abschreiben konnte. Aber Susannah hatte ein selten sonniges Gemüt, und als sie älter wurden, sollte sich herausstellen, dass sie darüber hinaus auch noch eine echte Schönheit war. Sie war nicht eingebildet, kannte fast alle Spiele, und wenn sie sich ihres Aussehens bewusst war (selbstverständlich war sie das), so war sie doch bescheiden und verabscheute gar die Aufmerksamkeit, die ihr das einbrachte. So wie man als Mitglied einer Familie (und wohl auch der Gesellschaft) eine Rolle annimmt oder in sie hineingezwängt wird und dann nicht mehr herauskommt, so wurde Susannah jedermanns Liebling: Verwöhnt, aber immer auch ein bisschen bevormundet, als müsse man sie vor den unangenehmeren Seiten des Lebens beschützen wie beispielsweise verstopften Toiletten oder Steuern. Wohingegen Maria der streitlustige Blaustrumpf wurde, einen unstillbaren Lesehunger entwickelte, sich für den Expansionismus und den Krieg im Süden und andere, für eine junge Dame vollkommen ungeeignete Dinge interessierte. Seit drei Jahren hat sie eine ganze Reihe Abonnements kanadischer und ausländischer Zeitschriften. Nach außen hin gibt sie sich als Reformerin (obwohl sie insgeheim die radikaleren Clear Grits bevorzugt), bewundert Premierminister Tupper und streitet sich 66
mit ihrem Vater über dessen Präferenz für George Brown. Und das in einem Ort, wo das regelmäßige Lesen von Zeitungen in Kombination mit dem Tragen von Röcken einen automatisch zum Paradiesvogel macht. Trotzdem ist sich Maria darüber im Klaren, dass sie gar nicht so viel klüger ist als Susannah. Wäre Susannah unscheinbar und könnte tun und lassen, was sie wollte, wäre sie vermutlich ebenso gut in der Lage, eine Intellektuelle zu werden. Und sie ist ehrlich genug, sich einzugestehen, wäre sie von der Natur reicher beschenkt worden, hätte sie sich nicht so viel Mühe gegeben, sich so viel Wissen anzueignen. Manchmal sind es solche Kleinigkeiten, die den Lauf des Lebens bestimmen. Hin und wieder bringt Maria das Gespräch aufs College – sie ist zwanzig Jahre alt und hat das Gefühl, wenn sie nicht bald gehen darf, wird es peinlich. Aber ihre Familie behauptet steif und fest, sie sei unabkömmlich, was man dadurch unter Beweis stellt, dass sie in alles eingebunden wird, was geschieht. Ihre Mutter fragt sie bei jeder Kleinigkeit im Haushalt um Rat und versichert, alleine nicht damit zurechtzukommen ( »Was hast du denn gemacht, als ich noch ein Kind war?«, fragt Maria sie dann rhetorisch). Ihr Vater bespricht häufig seine Fälle mit ihr. Und Susannah für ihren Teil schlingt bloß die Arme um sie und jammert, sie könne ohne sie nicht leben. Vielleicht fehlt ihr aber auch einfach der Mut, aus Caulfield wegzugehen. (Vielleicht würde sie es in der Stadt ja auch gar nicht schaffen?) Sie hat sich schon so oft den Kopf darüber zerbrochen, aber darüber nachzudenken deprimiert sie, also nimmt sie, wann immer es geht, eine Zeitung zur Hand und schiebt den Gedanken weit von sich. Und außerdem, wäre sie diesen Herbst aufs College gegangen, wäre sie nicht da gewesen, um ihrer Familie in diesen schweren Zeiten zur Seite zu stehen. Ihre Mutter versucht sich nichts anmerken zu lassen, aber in ihren Augen sieht man die Sorge. Seit zwei Tagen versucht Maria, ihren Vater nun schon allein zu erwischen, um ihn über diesen Fall auszufragen, doch das 67
war heute Abend wieder unmöglich. Sie ist zuversichtlich, dass er ihr seine Gedanken anvertrauen wird, und würde nur zu gern ihre eigenen Theorien mit ihm besprechen. Aber nachdem die Männer der Company zu Bett gegangen sind, ist sein Gesicht, das übrigens nie eine besonders gesunde Farbe hat, beinahe aschgrau vor Müdigkeit. Seine Augen sind eingesunken, und seine Nase wirkt markanter denn je. Also geht sie stattdessen hin und legt zärtlich beide Arme um seinen Hals. »Keine Sorge, Papa, bald wird sich alles aufklären, und dann wird nichts weiter bleiben als eine Erinnerung.« »Das hoffe ich sehr, Mamie.« Insgeheim mag sie es, so genannt zu werden – ein Spitzname noch aus Schulzeiten, den sonst niemand ungestraft benutzen darf. »Wie lange bleiben sie hier?« »So lange es dauert, alle zu befragen, die sie befragen wollen, nehme ich an. Sie wollen warten, bis Francis Ross zurückkommt.« »Francis Ross? Wirklich?« Francis ist drei Jahre jünger als sie, weshalb sie in ihm immer noch den mürrischen, hübschen Jungen sieht, dessentwegen die älteren Mädchen in der Schule immer viel gekichert haben. »Nun ja, sie müssen ja nicht bei uns bleiben. Sie könnten bei den Scotts absteigen. Das kann sich die Company doch sicherlich leisten.« »Das kann sie ganz sicher. Wie kommen denn deine Mutter und Susannah mit alledem zurecht?« Maria verstummt einen Augenblick, um ernsthaft darüber nachzudenken. »Mama wäre glücklicher ohne die Gäste.« »Hm.« »Und Susannah geht es gut. Für sie ist es eine aufregende Abwechslung vom üblichen Lauf der Dinge. Heute habe ich sie dabei erwischt, wie sie gerade Mr Moody von unseren Cousinen erzählen wollte, ich hätte beinahe die Beherrschung verloren. 68
Ich weiß nicht so recht, warum. Aber das geht ihn doch nichts an, oder?« Nach einer langen Pause fügt sie hinzu, obwohl sie sich ein bisschen dafür schämt: »Ich glaube, sie wollte ihn beeindrucken. Auch wenn sie sich da keine Mühe geben muss.« Ihr Vater lächelt. »Das wollte sie wohl. Schließlich schaut nicht oft jemand zu ihr auf.« Maria lacht kurz auf. »Was sagst du da? Alle schauen zu ihr auf, soweit ich das beurteilen kann.« »In gewisser Weise wird sie bewundert, das stimmt. Aber man sieht sie nicht an, wie man dich ansieht, Mamie, nicht so ehrfürchtig.« Er wirft ihr einen Blick zu. Maria lächelt und spürt, wie sie rot wird. Der Gedanke, dass man ihr mit Ehrfurcht begegnet, gefällt ihr. »Ich wollte dir nicht schmeicheln.« »Keine Sorge, ich fühle mich nicht geschmeichelt, mit den Niagarafällen oder einer majestätischen Landschaft wie den Heights of Abraham verglichen zu werden.« »Na ja, dann ist es ja gut …« Maria sieht zu, wie ihr Vater die Treppen hinaufsteigt – steif, also schmerzen seine Gelenke wieder. Es ist schlimm, wenn man dabei zusehen muss, wie die eigenen Eltern altern, wenn man weiß, dass die Beschwerden und Gebrechen stetig immer mehr werden, bis der Körper schließlich endgültig seinen Dienst versagt. Maria hat bereits recht zynische Ansichten über das Leben entwickelt, vermutlich die zwangsläufige Begleiterscheinung einer schönen Schwester. Die mal wieder vollkommen gedankenlos Mr Moody verzaubert hatte. Nicht, dass Maria sich für ihn interessiert hätte. Nicht im Geringsten. Aber gelegentlich wäre es mal ganz nett zu glauben, auch eine Chance zu haben.
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L
angsam wird mir klar, dass ich etwas unternehmen muss. Als Mackinley fort ist, laufe ich in der Küche auf und ab, bis Angus nach Hause kommt, und ich muss ihm nicht erst sagen, dass Francis noch nicht zurückgekommen ist. Ich erzähle ihm, dass die Angelrute noch da ist und ich sie versteckt habe. Jetzt scheint auch er beunruhigt. »Du musst ihn suchen.« »Es sind nicht mal drei Tage. Er ist kein kleines Kind mehr.« »Es könnte ihm was zugestoßen sein. Es ist kalt. Er hat keine Decken dabei.« Angus denkt nach, dann erklärt er, am nächsten Tag zum Shallow Lake gehen zu wollen. Ich bin so erleichtert, dass ich hingehe und ihm um den Hals falle, doch er bleibt steif und erwidert meine Umarmung nicht. Er wartet einfach, bis ich ihn wieder loslasse, und dreht sich dann um, als sei nichts gewesen. Unsere Ehe schien zu funktionieren, solange ich nicht darüber nachgedacht habe. Jetzt, ich weiß nicht, je mehr ich mich um die anderen kümmere, desto weniger scheinen sie das zu mögen. Als ich an nichts als mich selbst gedacht habe, musste ich nur mit den Fingern schnippen, und die Männer taten, was immer ich von ihnen verlangte. Dann habe ich mich darum bemüht, ein besserer Mensch zu werden, und sieh an, was ich davon habe: Mein eigener Mann dreht sich weg und weicht meinem Blick aus. Aber vielleicht hat es damit gar nichts zu tun, sondern mit meinem Alter – wenn Frauen älter werden, können sie die Männer nicht mehr so leicht um den Finger wickeln, da kann man nichts machen. »Ich könnte mitkommen.« »Sei nicht albern.« »Ich halte diese Warterei nicht mehr aus. Was, wenn etwas … 70
passiert ist?« Angus seufzt, mit gebeugten Schultern wie ein alter Mann. »Rhu …«, haucht er den alten Kosenamen, bei dem ich innerlich erzittere. »Ich bin mir sicher, dass es ihm gut geht. Er kommt bald zurück.« Ich nicke, ganz gerührt von diesem Kosewort. Ja, ich stürze mich darauf wie auf einen Rettungsring – obwohl ich nachher denke, wenn ich immer noch seine »Rhu«, seine Liebste, bin, warum sieht er mich dann nicht mehr dabei an, wenn er es sagt? Als es dunkel wird, mache ich mit vollgestopften Rocktaschen einen Spaziergang. Zumindest habe ich Angus das gesagt. Ob er mir glaubt, steht in den Sternen. Um diese Zeit setzen sich alle in Dove River zum Essen an den Tisch, das ist so vorhersehbar wie das Amen in der Kirche, also wird niemand draußen unterwegs sein, der dort nichts verloren hat. Niemand außer mir. Ich habe den größten Teil des Tages darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass der frühe Abend der beste Zeitpunkt dafür ist. Ich hätte auch bis zur Morgendämmerung warten können, will es aber nicht mehr länger aufschieben. Der Fluss ist reißend und führt viel Wasser – im Norden hat es geregnet. Doch der Fels, von dem aus Doc Wade sich aus dieser Welt verabschiedet hat, ist trocken – nur das Frühlingshochwasser reicht bis dort hinauf. Und doch ist da ein Fußabdruck. Ein großer, dunkler Fleck. Selbst im Zwielicht sehe ich ihn deutlich. Vielleicht hat Knox doch eine Wache abgestellt. Die sich gelangweilt und ein kleines Bad genommen hat. Das glaube ich keine Sekunde, also schleiche ich mich leise von der Seite an die Hütte heran, außer Sichtweite der Vordertür. Alles ist still. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet – von hier aus kann ich den Fels nicht mehr sehen. Ich habe ein Messer in der Tasche, das ich jetzt in der Hand halte, etwas fester als notwendig. Ich glaube keinen Moment, der Mörder könnte zurückgekommen sein – wozu 71
auch? –, doch vorsichtshalber schleiche ich mich weiter, eine Hand an der Wand der Hütte, bis ich am Fenster auf Geräusche von drinnen lauschen kann. Ich bleibe so lange dort stehen, bis mir ein Bein einschläft, dabei habe ich nicht einmal eine Fliege atmen hören. Ich gehe zur Tür, die noch immer mit einem Draht verschlossen ist, hole eine Zange heraus und knipse das Siegel durch. Drinnen ist es düster, dennoch ziehe ich die Tür hinter mir zu, nur für alle Fälle. Im Inneren der Hütte sieht es genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte, bloß, dass das Bett jetzt leer ist. Ein entsetzlicher Gestank steigt von Matratze und Decken auf, die an der Wand aufgestapelt sind. Ich frage mich, wer die wohl waschen wird – oder wird man sie einfach verbrennen? Seine alte Mutter wird sie wohl kaum haben wollen. Ich gehe nach oben. Es sieht nicht aus, als sei Jammet sehr oft hier gewesen – an den Wänden stapeln sich Schachteln und Kisten, und über allem liegt eine Staubdecke, weshalb man sehen kann, wo die Männer gestern hingegangen sind. Ihre Füße haben kleine Löcher im Staub hinterlassen, dort, wo sie stehengeblieben sind, um sich etwas genauer anzusehen. Ich stelle die Laterne ab und fange an, mich durch die nächstgelegene Kiste zu wühlen, in der er seine besten Kleider aufbewahrt hat – einen altmodischen schwarzen Mantel mit passender Hose, die ihm meiner Meinung nach viel zu klein gewesen sein müssen. Ob die ihm gehört haben, als er viel jünger war, oder vielleicht seinem Vater? Ich gehe die anderen Kisten durch: noch mehr Kleidung, ein paar Unterlagen der Hudson Bay Company, viele davon sein Ausscheiden nach einem »Unfall im Rahmen der Ausübung seiner Pflichten« betreffend. Etliche der Dinge öffnen Türen in Jammets andere Leben, ehe er nach Dove River gekommen ist. Ich versuche, nicht allzu viel darüber nachzudenken: eine gepresste Seidenblume, zum Beispiel, ganz ausgeblichen, so alt ist sie – das Liebespfand einer Frau, oder eines, das er jemandem geben wollte, es aber 72
dann nicht getan hat? Ich denke über die unsichtbaren Frauen in seinem Leben nach. Und entdecke etwas sehr Rares – eine Fotografie, auf der Jammet als junger Mann zu sehen ist, mit seinem ansteckenden Lachen. Er steht da mit etlichen anderen Männern, von denen ich annehme, dass es sich um Pelzhändler handelt, alle mit Halstüchern und Überrock, die im grellen Sonnenlicht mal mehr, mal weniger in die Kamera blinzeln und sich um einen Berg Kisten und Kanus scharen. Doch er ist der Einzige, der es geschafft hat, so lange zu lächeln. Bei welcher Gelegenheit dieses Foto wohl gemacht wurde? Vielleicht hatten sie gerade den Rekord für einen besonders strapaziösen Transport aufgestellt. Auf so etwas sind Pelzhändler immer sehr stolz. Nachdem ich die Kisten durchsucht habe, ziehe ich sie von der Wand fort. Ich weiß nicht, was ich mir davon erhoffe, aber es findet sich nichts weiter als Staub und Mäusekot und vertrocknete Wespenpanzer. Entmutigt gehe ich nach unten. Ich weiß nicht einmal, was ich suche, abgesehen von der Bestätigung, dass Francis nichts damit zu tun hat, was ich natürlich auch so längst weiß. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es anders sein könnte. Ich merke, wie ich hastig durch den Mund atme, während ich die Lebensmittelvorräte durchsuche. Der Verwesungsgeruch hat sich im ganzen Haus festgesetzt, noch schlimmer als vorher, als er noch hier war. Der Gründlichkeit halber, damit ich mich nicht Tag und Nacht quäle und noch mal zurückkommen muss, stecke ich die Hand in die Getreide- und Mehldosen, und dort finde ich es. In der Mehldose streift meine Hand etwas, und ehe ich mich beherrschen kann, zucke ich mit einem kleinen Aufschrei zurück und verstreue dabei überall Mehl. Es ist ein Fetzen Papier, abgerissen von einem größeren Blatt, mit Nummern und Buchstaben beschriftet: ›6iHBKW‹. Sonst nichts. Ich kann mir nichts vorstellen, was mir weniger weiterhelfen würde. Warum ein Stückchen Papier in einer Mehldose verstecken, wenn nur sinnloses Zeug darauf steht, vor allem, wenn man wie Jammet 73
gar nicht lesen kann? Ich stecke mir den Zettel in die Tasche, ehe mir einfällt, dass er auch rein zufällig in die Mehldose geraten sein könnte. Und er hätte nicht nur hier, sondern überall ins Mehl gefallen sein können. In Scotts Warenlager beispielsweise. Und selbst angenommen, Jammet hätte ihn tatsächlich versteckt, wird er wohl schwerlich den Code für die Identität seines Mörders enthalten. Bisher habe ich den Bereich um das Bett herum gemieden, und, gelinde gesagt, widerstrebt es mir, es anzufassen. Ich hätte Handschuhe mitbringen sollen, aber ausgerechnet daran habe ich nicht gedacht. Ich werfe einen Blick in die leere Feuerkammer, während ich darüber nachdenke. Und dann geschieht etwas, das mich vor Schreck beinahe in Ohnmacht fallen lässt: Es klopft an der Tür. Ein paar Sekunden lang bleibe ich wie angewurzelt stehen, aber es wäre töricht zu tun, als sei ich nicht da, wo doch meine Laterne durch die lichtdurchlässigen Fenster scheint. Einige weitere Sekunden bleibe ich stehen und versuche, mir einen guten Grund auszudenken, weshalb ich hier bin. Doch als ich die Tür öffne, ist mir noch immer keiner eingefallen, und dann stehe ich einem Mann gegenüber, den ich noch nie gesehen habe.
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urz nachdem Donald aus den hellen Nebeln der Kindheit getreten war, musste er feststellen, dass er Schwierigkeiten hatte, gewisse Dinge in der Entfernung klar zu erkennen. Alles, was sich außerhalb der Reichweite seines ausgestreckten Arms befand, verschwamm ihm vor den Augen, kleinere Gegenstände übersah er ganz, Menschen blieben ihm unidentifizierbar. Er erkannte seine Freunde nicht mehr, nicht einmal die eigene Familie, was zur Folge hatte, dass er irgendwann aufhörte, Menschen, die weiter entfernt waren, zu grüßen, weil er einfach nicht wusste, wer sie waren. Das brachte ihm den Ruf ein, kaltherzig zu sein. Schließlich gestand er seiner Mutter, was ihn quälte, und er bekam eine unbequeme Brille mit Drahtgestell. Das war das erste Wunder seines Lebens – wie ihn die Brille wieder zurück in die Welt holte. Das zweite Wunder, das ebenfalls mit seiner zurückgewonnenen Sehkraft zusammenhing, geschah an einem Abend kurz darauf. Es war November, eine selten klare Nacht, und er ging gerade von der Schule nach Hause, als er zufällig nach oben sah und dann vor Verblüffung wie angewurzelt stehenblieb. Der Vollmond hing niedrig und schwer über ihm und warf seinen Schatten auf den Weg. Doch was ihm die Kinnlade herunterklappen ließ, war seine Klarheit. Er hatte immer angenommen (ohne weiter darüber nachzudenken), dass der Mond jedem wie eine unscharfe Scheibe erscheinen müsse. Wie könnte es auch anders sein, wo er doch so weit entfernt war? Aber da war er nun, gestochen scharf und bis ins kleinste Detail erkennbar – seine faltige, felsige Oberfläche, die hellen Flächen und die dunklen Krater. Seine neue, stärkere Sehkraft reichte also nicht bloß bis zur anderen Straßenseite und zum Liedanzeiger in der Kirche, sondern auch unendliche Meilen weit ins All. Atemlos 75
nahm er seine Brille ab – der Mond erschien ihm jetzt weicher, größer, irgendwie näher. Alles um ihn herum rückte näher an ihn heran, schien vertrauter und bedrohlicher zugleich. Er setzte die Brille wieder auf, und Entfernung und Klarsicht kamen zurück. An jenem Abend ging er nach Hause, ganz durchdrungen von einer gewaltigen, übersprudelnden Freude. Er lachte sogar laut vor sich hin, zum Erstaunen der Vorübergehenden. Er hätte ihnen seine Entdeckung am liebsten entgegengeschrien. Doch er wusste, dass das niemanden interessiert hätte, schließlich war es ja für die anderen nichts Neues, sie hatten den Mond immer schon so gesehen. Dennoch taten sie ihm leid, weil sie die Gabe des Sehvermögens nicht zu schätzen wussten, weil sie nicht ahnten, wie es war, es verloren und wieder zurückgewonnen zu haben. Wie oft hat er seither wieder eine solch vollkommene, überwältigende Freude verspürt? Um ehrlich zu sein, kein einziges Mal. Donald liegt auf seinem schmalen, unbequemen Bett und starrt hinauf zum Mond über Caulfield. Er setzt die Brille erst ab und dann wieder auf. Erlebt noch einmal jenen ekstatischen Moment der Offenbarung. Er weiß noch, wie sicher er sich damals gewesen war, einen Blick auf etwas Bedeutungsschweres erhascht zu haben, auch wenn er nicht so genau wusste, worin genau diese Bedeutung bestanden hatte. Jetzt aber kommt es ihm so vor, als hätte es gar nicht allzu viel zu sagen gehabt. Er hat sich daran gewöhnt, die Dinge aus der Distanz zu betrachten, um sie scharf sehen zu können. Vielleicht fühlte er sich deshalb zu Zahlen hingezogen, zu ihrer stummen Schlichtheit. Zahlen sind immer nur Zahlen. Wenn man Dinge auf Zahlen reduzieren kann, dann kann man sie ordnen und bilanzieren. Die vielen indianischen Familien zum Beispiel, die jenseits der Palisadenzäune von Fort Edgar leben und den Kommissionären ständig 76
Kopfschmerzen bereiten. In den Camps vermehren sie sich mit alarmierend rasanter Geschwindigkeit, weshalb die Company mehr und mehr Mäuler zu stopfen hat. Es wurde viel darüber geklagt, dass sie zu viel Essen verschlängen und teure ärztliche Versorgung in Anspruch nähmen, also hat Donald sich darangesetzt, alle Arbeiten aufzulisten, welche die Frauen für das Fort leisten. Er hat das Wäschewaschen und die Pflege der Gemüsegärten aufgeführt, das Gerben der Häute, das Fertigen von Schneeschuhen … und jeder dieser Aufgaben einen Wert zugeschrieben, sodass er am Ende beweisen konnte, dass die Company mindestens genauso von dieser Verbindung profitiert wie die Familien. Er war stolz auf seine Leistung gewesen, vor allem, nachdem er Jacobs Frau und Kinder kennengelernt hatte – zwei Mädchen, die den blassen Freund ihres Vaters immer mit großen, glänzenden braunen Augen ansehen. Diese Kinder, mit ihrem vertrauensvollen Blick und ihren unverständlichen, geheimen Namen, werden gegen die Pelze gerechnet, von denen die Company lebt, wobei es, wenn man ehrlich ist, keinen Zweifel daran gibt, wen von beiden man für wertvoller hält. Als Donald nach Fort Edgar kam, hatte der Kontorist, ein Mann namens Bell, ihn im Handelsposten herumgeführt. Donald hatte die Büros gesehen, die überfüllten Schlafquartiere, das Handelszentrum, das Indianerdorf jenseits der Zäune (in gebührendem Abstand), die Blockbaukirche, den Friedhof … und schließlich die riesigen, kalten Lagerräume, in denen sich die Pelze stapelten und auf ihre lange, abenteuerliche Reise nach London warteten, wo man sie in bare Münze umwandeln würde. Bell sah sich verstohlen um, ehe er einen der Ballen öffnete, und sich die schimmernden Pelze auf den nackten Erdboden ergossen. »So, darum dreht sich hier also alles«, sagte er mit seinem Edinburgher Akzent. »Dieser Ballen dürfte in London ein paar Guineas wert sein. Mal sehen …« Er wühlte mit den Händen in den Fellen herum. »Das hier ist ein Marder. Hier können Sie 77
sehr schön sehen, warum wir nicht wollen, dass sie die Viecher erschießen – die Fallen hinterlassen kaum Spuren, schauen Sie!« Er wedelte mit dem plattgedrückten Bein eines wieselähnlichen Tiers vor Donalds Nase herum. Der Kopf war noch dran – ein kleines, spitzes Gesicht mit fest zusammengekniffenen Augen, es sah aus, als könne es nicht ertragen, sich daran zu erinnern, was mit ihm geschehen war. Er legte den Marder wieder hin und fuhr abermals mit der Hand in den Berg aus Pelzen. Wie ein Zauberer führte er sie Donald in rascher Folge vor. »Das hier sind die am wenigsten wertvollen: Biber, Wolf und Bär, obwohl man die auch sehr gut gebrauchen kann – die sind gut, um die anderen Pelze darin einzuwickeln. Fühlen Sie mal, wie rau die sind …« Die schimmernden Pelze wellten sich unter seinen Händen, verkümmerte Beinchen kreuzten sich darunter. Donald nahm die Felle so, wie er sie gereicht bekam, und war erstaunt darüber, wie sie sich anfühlten. Ihn hatte die Vorstellung eines so gigantischen Warenlagers des Todes eher abgestoßen, doch als er die Hand in diesen kühlen, seidigen Luxus versenkte, verspürte er plötzlich den Drang, mit den Lippen über das weiche Fell zu streichen. Dem widerstand er natürlich, begriff aber nun, warum Frauen sich so etwas gerne um den Hals schlangen, denn so konnten sie, wenn sie den Kopf ein wenig neigten, den Pelz ihre Wange streifen lassen. Bell redete immer noch, eigentlich nur noch mit sich selbst. »Aber der wertvollste … Ah, dies ist ein Silberfuchs – der ist mehr wert als sein Gewicht in Gold.« Seine Augen leuchteten in dem schmutzigen Licht. Donald streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, und Bell zuckte beinahe zurück dabei. Der Pelz war grau und weiß und schwarz, die Farben zusammen vermischten sich zu einem silbrigen Schimmer, er war dicht und weich, glänzte wie Wasser und fiel schwer. Er zog seine Hand wieder zurück, denn Bell schien den kostbaren Pelz nicht loslassen zu wollen. 78
»Das Einzige, was noch wertvoller ist, ist der Blaufuchs – der kommt auch aus dem hohen Norden, aber den bekommt man im Laufe eines Jahres kaum einmal zu sehen. Der würde einen in London hundert Guineas kosten.« Verwundert schüttelte Donald den Kopf. Als Bell anfing, die Pelze in eine hölzerne Packform zu drücken und dann den Silberfuchs vorsichtig in die Mitte legte, fühlte Donald sich peinlich berührt, als sei er, Beils Bemühungen, es zu verbergen, zum Trotz, Zeuge eines heimlichen Aktes der Lust geworden. Donald reißt sich gedanklich los und zwingt sich, in die Gegenwart zurückzukehren. Er möchte über sein Gespräch mit Jacob nachdenken, die Fakten gegeneinander abwägen, bis er eine geniale Lösung findet, mittels derer sich alles aufklärt, aber er hat nicht genug Fakten. Ein Mann ist tot, doch niemand weiß warum, ganz zu schweigen davon, wer es getan hat. Wenn sie Jammets Leben von seinem Ende aus zurückverfolgen könnten, würde sie das zur Wahrheit führen? Ein, wie er findet, müßiger Gedanke. Er kann sich nicht vorstellen, dass die Company genügend Männer und Zeit zur Verfügung stellen würde, um das herauszufinden. Nicht für einen unabhängigen Händler. Seine Gedanken wandern zu Susannah. Er hat einige Minuten mit ihr im Salon gesessen, ohne dass ein unangenehmes Schweigen entstanden wäre, sie schien ihn interessant zu finden; sie wollte ihm Dinge erzählen und hören, was er zu sagen hatte. Er war zwar zu aufgeregt gewesen, um es genießen zu können, aber da war so etwas wie ein Glücksgefühl gewesen, das aufbrach wie eine Knospe nach einem langen kanadischen Winter. Er klappt seine Brille zusammen und legt sie in Ermangelung eines Nachttischchens auf den Fußboden, an eine Stelle, wo er sie hoffentlich am nächsten Morgen nicht zertreten wird.
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ach dem ersten Schreck wird mir klar, dass ich nicht in unmittelbarer Gefahr schwebe. Der Mann, der da im Türrahmen steht, ist mindestens sechzig Jahre alt, hat die Ausstrahlung eines Bücherwurms und ist vor allem unbewaffnet. Er sieht distinguiert aus mit seinen glatten, aus der hohen Stirn gekämmten Haaren, dem schmalen Gesicht und der Adlernase. Auf mich wirkt er recht freundlich. Ja, für einen Mann in seinem Alter ist er regelrecht (das Wort verblüfft mich, passt aber) schön. Ich habe mir tadelnswerterweise zur Gewohnheit gemacht, beim Anblick von Fremden erst mal eine kleine Liste von Dingen durchzugehen, eine Angewohnheit übrigens, die hier in der Gegend recht verbreitet ist, da der Akzent eines Menschen hier keinen verlässlichen Anhaltspunkt mehr für uns darstellt. Immer, wenn ich also jemanden zum ersten Mal sehe, schaue ich mir Ärmelaufschläge, Schuhe, Fingernägel und so weiter genau an, um seine Stellung und seine finanzielle Lage einschätzen zu können. Dieser Mann trägt einen auffälligen Rock, der fraglos schon bessere Zeiten gesehen hat, und obwohl er adrett wirkt und gut rasiert ist, sind seine Schuhe beschämend abgelaufen. In dem Augenblick, den ich brauche, um ihn einzuschätzen, merke ich, dass er mich beinahe ebenso gemustert hat und vermutlich zu dem Ergebnis gekommen ist, dass ich die Frau eines recht prosperierenden Farmers sein müsse. Ob er noch weiter geht und zu dem Schluss kommt, dass ich eine verblühte und vermutlich verbitterte ehemalige Schönheit sei, da bin ich mir ehrlich gesagt nicht ganz sicher. »Verzeihen Sie …« Er hat eine angenehme Stimme und spricht mit einem Yankee-Akzent. Mein wild pochendes Herz beruhigt sich ein wenig. 80
»Sie haben mich erschreckt«, rüge ich ihn streng und bin mir dabei bewusst, dass ich Mehl am Kleid und vermutlich auch in den Haaren habe. »Suchen Sie Mr Jammet?« »Nein. Ich habe gehört …« Er weist auf das Bett und die blutigen Decken. »Eine furchtbare Angelegenheit … ein schrecklicher Verlust. Entschuldigen Sie, Ma’am, ich weiß gar nicht, wie Sie heißen.« Er lächelt ernst, und langsam wird er mir sympathisch. Ich weiß gute Manieren zu schätzen, erst recht dann, wenn die Rechtmäßigkeit meiner Anwesenheit an einem Tatort in Frage steht. »Ich bin Mrs Ross. Seine Nachbarin. Ich bin hergekommen, um seine Sachen aufzuräumen.« Ich lächle bedauernd, um anzudeuten, was für eine unangenehme Aufgabe das ist. Bilde ich mir das ein, oder schlägt sein Herz schneller bei der Erwähnung von Jammets Sachen? »Ach, Mrs Ross, entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich bin Thomas Sturrock. Aus Toronto. Ich bin Anwalt.« Er hält mir die Hand hin, und ich ergreife sie. Er verbeugt sich leicht. »Sind Sie hier, um die Erbmasse in Augenschein zu nehmen?« Meiner Erfahrung nach tauchen Anwälte nicht einfach so aus eigenem Antrieb auf, schnüffeln im Dunkeln herum und machen sich die Hände schmutzig. Und sie haben auch keine ausgefransten Ärmelaufschläge und Löcher in den Schuhen. »Nein, ich bin nicht geschäftlich hier.« Er ist ehrlich. Also kein typischer Anwalt. »Es handelt sich um eine persönliche Angelegenheit. Ich bin mir nicht sicher, an wen ich mich wenden soll, aber, sehen Sie, die Sache ist die, Monsieur Jammet hatte etwas in seinem Besitz, das für meine Nachforschungen von ziemlicher Wichtigkeit ist. Er wollte es mir schicken.« Er hält inne und beobachtet meine Reaktion, die eine der Ratlosigkeit ist. Nachdem ich die Hütte von oben bis unten 81
durchsucht habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass es hier etwas geben sollte, das für irgendwen von Interesse sein könnte, erst recht nicht für einen Mann wie ihn. Und wenn Jammet etwas Derartiges besessen haben sollte, hätte er es vermutlich verkauft. »Nichts Wertvolles«, fügt er hinzu, »sondern nur von rein wissenschaftlichem Interesse.« Ich sage immer noch nichts. »Ich muss mich Ihnen wohl anvertrauen«, sagt er mit einem zaghaften Lächeln. »Sie haben keinerlei Anhaltspunkt, um unterscheiden zu können, ob das, was ich Ihnen erzähle, stimmt oder nicht, also muss ich Ihnen wohl alles sagen. Monsieur Jammet ist in den Besitz eines Elfenbeinplättchens gelangt, so groß ungefähr …« Er weist auf seine Handfläche. »Mit eingeschnitzten Zeichen. Es könnte sein, dass es sich dabei um einen archäologisch bedeutsamen Gegenstand handelt.« »Sie sagten, Sie seien Anwalt …« »Anwalt von Beruf, Archäologe aus Leidenschaft.« Er breitet weit die Hände aus. Ich bin verblüfft, doch er scheint aufrichtig zu sein. »Ich muss zugeben, ich habe ihn nicht allzu gut gekannt, obwohl ich seinen Tod bedaure. Ich denke, es kam alles sehr … plötzlich.« Plötzlich könnte man das wohl nennen. »Es muss Ihnen recht habgierig erscheinen, dass ich so kurz nach seinem Tod herkomme, um diesen Gegenstand zu suchen, aber ich glaube wirklich, er könnte von einiger Wichtigkeit sein. Er ist eher unscheinbar, und es wäre eine Schande, würde er aus Unwissenheit fortgeworfen. Da haben Sie es – deshalb bin ich hier.« Wie er mich ansieht, ist sehr entwaffnend – offen und eher unsicher. Selbst wenn er lügen sollte, wüsste ich nicht, was er Übles im Schilde führen könnte. »Nun, Mr Sturrock«, setze ich an, »ich habe kein …« 82
Ich breche abrupt ab, weil ich etwas höre – ein Knirschen der Kieselsteine auf dem Pfad hinter der Hütte. Schnell reiße ich die Lampe vom Ofen. »Mr Sturrock, ich will Ihnen helfen, wenn Sie mir auch helfen und tun, was ich Ihnen sage. Gehen Sie nach draußen, und verstecken Sie sich in den Büschen am Fluss. Sagen Sie keinen Ton. Wenn Sie das tun und nicht entdeckt werden, erzähle ich Ihnen, was ich weiß.« Erstaunt öffnet er den Mund, macht sich dann aber mit einer für einen Mann seines Alters beachtlichen Geschwindigkeit davon: Er ist schon zur Tür hinaus, ehe ich mit meiner Erklärung am Ende bin. Ich puste die Laterne aus und ziehe die Tür hinter mir zu, wobei ich den Draht einmal verzwirble, damit sie nicht wieder aufgeht, ehe ich zwischen die Büsche in Jammets verwucherten Garten schlüpfe. Stumm danke ich Jammet für seinen Mangel an gärtnerischem Stolz. In diesem Urwald könnte man sich zu Dutzenden verstecken. Ich versuche mich in den Büschen unsichtbar zu machen und merke, wie meine Füße in etwas Weichem, Nassem versinken. Die Schritte kommen näher und mit ihnen das Licht einer Laterne, die in der Hand einer dunklen Gestalt schlenkert. Zu meinem endlosen Entsetzen ist es mein Ehemann. Er hält die Laterne hoch, öffnet die Tür und geht hinein. Ich warte eine ganze Weile, während es immer kälter wird, meine Schuhe sich langsam mit Wasser vollsaugen und ich mich frage, wie lange es noch dauert, bis Sturrock die Nase voll hat und wieder auf den Plan tritt, um sich mit dem Neuankömmling zu unterhalten statt mit diesem offensichtlich verrückten Weib. Dann kommt Angus wieder heraus und verschließt die Tür hinter sich. Er sieht sich kaum um, ehe er den Pfad hinauf verschwindet und bald nicht einmal mehr der Schein seiner Lampe zu erkennen ist. Es ist inzwischen beinahe stockdunkel. Steif richte ich mich auf mit knackenden Gelenken, und ziehe meinen Fuß aus dem 83
weichen Schlamm. Mein Strumpf ist triefend nass. Ich suche die Streichhölzer und schaffe es mit einigen Schwierigkeiten, meine Lampe wieder anzuzünden. »Mr Sturrock«, rufe ich, und einen Augenblick später tritt er in das Licht meiner Laterne und klopft Blätter von seinem schäbigen Mantel. »Na, das nenne ich abenteuerlich.« Er lächelt mir zu. »Wer war denn der Herr, vor dem wir uns verstecken mussten?« »Ich weiß es nicht. Es war zu dunkel, um irgendwas zu erkennen. Mr Sturrock, ich muss mich für mein Benehmen entschuldigen, Sie müssen mich für sehr sonderbar halten. Ich will ganz offen zu Ihnen sein, wie Sie es auch zu mir waren, und vielleicht können wir einander helfen.« Ich mache die Tür wieder auf, während ich das sage, und der Geruch trifft mich erneut wie ein Schlag. Sollte Sturrock ihn bemerken, verbirgt er es gut. Die meisten Männer wären nicht so nachsichtig wie Angus, wenn ihre Frau bei Sonnenuntergang verschwände und erst im Dunkeln wieder nach Hause käme, einen fremden Mann im Schlepptau. Das ist einer der Gründe, warum ich ihn geheiratet habe. Anfangs war es, weil er mir vertraute. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher, vielleicht glaubt er, ich sei gar nicht mehr imstande, bei anderen unsittliche Gefühle hervorzurufen, oder es ist ihm schlichtweg egal. Fremde sind in Dove River eher selten. Normalerweise sind sie Anlass zur Freude, doch Angus schaut bloß auf und nickt ganz gelassen. Aber vielleicht hat er ihn schon in der Nähe der Hütte gesehen. Sturrock redet nicht viel über sich, doch beim Essen mache ich mir langsam ein Bild. Das Bild eines Mannes mit Löchern in den Schuhen und einer Vorliebe für vorzüglichen Tabak. Eines Mannes, der Schweinefleisch und Kartoffeln verschlingt, als hätte er seit einer Woche nicht mehr ordentlich gegessen. Eines feinen, intelligenten Menschen, der in seinem Leben vielleicht 84
schon viele Fehlschläge hat einstecken müssen. Und noch etwas meine ich zu sehen – Ehrgeiz. Denn er will dieses kleine Knochenstück, was immer es auch sein mag, unbedingt haben. Wir erzählen ihm von Francis. Kinder gehen im Wald verloren. Das ist altbekannt. Unvermeidlich kommen wir auch auf die Seton-Mädchen zu sprechen. Wie alle Leute oberhalb der Grenze kennt auch er die Geschichte. Sturrock verweist auf die Unterschiede zwischen den Seton-Mädchen und Francis, und ich stimme ihm darin zu, dass Francis kein wehrloses kleines Mädchen ist, aber ich muss sagen, sehr beruhigend finde ich das nicht. Manchmal ertappt man sich dabei, wie man den Wald plötzlich ganz anders als sonst betrachtet. Manchmal sieht man in ihm nichts weiter als Bäume, aus denen man Häuser baut und mit denen man Feuer macht und die einfach den nackten Erdboden verschönern, und man ist froh darum. Aber manchmal, wie heute Abend, kommt er einem vor wie eine gewaltige dunkle Macht, scheinbar unendlich. Er könnte, entgegen der landläufigen Erkenntnis, nicht nur Länge und Breite haben, in der man verlorengehen kann, sondern auch eine unermessliche Tiefe oder noch etwas gänzlich anderes. Und manchmal ertappt man sich dabei, wie man den eigenen Ehemann ansieht und sich fragt: Ist er so geradeheraus, wie man glaubt – Ernährer, Freund, Erzähler schlechter Witze, über die man trotzdem lachen muss –, oder hat auch er Tiefen, die man nie zu sehen bekommt? Wozu mag er alles fähig sein?
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ber Nacht fällt die Temperatur drastisch. Eine dünne Schneedecke, zart wie Puderzucker, strahlt Donald entgegen, als er den Reif von der Innenseite der Fensterscheibe wischt und hinaussieht. Er fragt sich, ob Jacob die letzte Nacht im Stall verbracht hat. Jacob ist an die Kälte gewöhnt. Der letzte Winter – Donalds erster in diesem Land – war verhältnismäßig mild und dennoch ein Schock für ihn. Die eisige Kälte an diesem Morgen, die einem in die Knochen kriecht, ist bloß der Vorgeschmack auf den kommenden Winter. Knox hat dafür gesorgt, dass ein Einheimischer Mackinley bei seiner Verfolgung des Franzosen begleitet. Jemand, der derart bescheiden ist, dass Mackinley den Ruhm nicht mit ihm wird teilen müssen … Dann verwirft Donald diesen Gedanken wieder als gehässig. In letzter Zeit sind seine Gedanken sowieso zunehmend gehässig geworden, kommt es ihm vor. Damit hatte er nicht gerechnet, als er Schottland verließ – das große, einsame Land war ihm wie eine Verheißung von Reinheit erschienen, wo das raue Klima und das einfache Leben einen Mann härter machen und seine kleinen Fehler ausmerzen und ihn läutern. Doch dem war ganz und gar nicht so. Aber vielleicht irrt er sich auch und ist einfach nicht charakterstark genug für diese Läuterung. Vielleicht hat er ja gar nicht genügend Rückrat dafür. Als Mackinley, angespannt und reizbar bis zuletzt, fort ist, bleibt Donald noch eine Weile mit seinem Kaffee sitzen, in der Hoffnung, Susannah zu sehen. Abgesehen davon ist es natürlich auch ein Vergnügen, an einem Tisch mit weißer Leinendecke sitzen zu dürfen und die Bilder an der Wand zu bewundern, von einer weißen Frau bedient zu werden – wenn auch einer derben Irin – und den Blick müßig aus dem Fenster schweifen zu
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lassen, ohne dass jemand gemeine Witze über ihn macht. Schließlich wird seine Geduld belohnt, denn beide Mädchen kommen herein und setzen sich auf ihre Plätze. »Nun, Mr Moody«, sagt Maria, »Sie wachen also über unsere Sicherheit, während die anderen die Verfolgung der Verdächtigen aufnehmen.« Es ist erstaunlich, wie Maria es mit einem einzigen Satz schafft, dass er sich wie ein Feigling vorkommt. Er versucht, sich die Kränkung nicht anmerken zu lassen. »Wir warten auf Francis Ross. Wenn er heute nicht zurückkommt, nehme ich seine Verfolgung auf.« »Sie glauben doch nicht, er könnte es getan haben?« Susannah sieht ihn mit einem charmanten Stirnrunzeln an. »Ich weiß nichts über ihn. Was glauben Sie denn?« »Ich glaube, er ist ein siebzehnjähriger Junge. Ein ziemlich gut aussehender.« Wobei Maria ihn listig ansieht. »Er ist süß«, bemerkt Susannah und blickt geradeaus vor sich auf den Tisch. »Schüchtern. Er hat nicht viele Freunde.« Maria schnaubt sarkastisch. Donald denkt, es müsse jedem jungen Mann schwerfallen, angesichts von Marias ätzenden Bemerkungen und Susannahs Schönheit einen anderen Eindruck zu hinterlassen als den, schüchtern und linkisch zu sein. Maria fügt hinzu: »Wir kennen ihn nicht besonders gut. Ich weiß nicht, was er so macht. Aber er wirkt immer wie ein ziemlicher Waschlappen. Er jagt nicht und tut auch sonst nichts von dem, was die anderen Jungs so machen.« »Was machen die anderen Jungs denn so?« Donald versucht, einen möglichst großen Abstand zwischen sich und sein siebzehnjähriges Ich zu bringen, weil auch er nicht gejagt hat und von diesen beiden jungen Damen sicherlich auch als Waschlappen bezeichnet worden wäre. »Ach, ich weiß nicht, sie laufen rum, hecken dumme Streiche aus, betrinken sich … solche törichten Sachen eben.« »Sie meinen also, jemand, der so etwas nicht macht, sei nicht 87
zu einem Mord fähig?« »Nein …« Maria scheint für einen Augenblick ganz nachdenklich. »Er wirkt immer sehr launisch und … na ja, als sei er ein stilles Wasser, das sehr tief ist.« »Einmal, ich weiß noch, in der Schule«, erzählt Susannah, und ihr Gesicht hellt sich merklich auf, »da war er ungefähr vierzehn, glaube ich, und ein anderer Junge, war es George Pretty …? Nein, nein, es war Matthew Fox. Oder …« Sie bricht ab und runzelt angestrengt die Stirn. Ihre Schwester wirft ihr einen strafenden Seitenblick zu. »Nun ja, Matthew hat ganz fürchterlich damit angegeben, Sie wissen schon, hat sich vergewissert, dass seine Freunde es mitbekamen … und auf einmal hat Francis es gemerkt und ist furchtbar wütend geworden. Ich habe noch nie gesehen, dass jemand weiß wird vor Wut, aber er schon – er wurde kalkweiß, und dabei ist seine Haut normalerweise goldbraun, wissen Sie …? Ähm, wie dem auch sei, er hat angefangen, auf Matthew einzuprügeln, als wolle er ihn umbringen. Er hat einen richtigen Wutanfall bekommen, Mr Clarke und einer der anderen Jungen mussten ihn festhalten und wegzerren. Es war wirklich erschreckend.« Sie sieht Donald an, die haselnussbraunen Augen weit aufgerissen. »Daran hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht. Glauben Sie denn …?« »Es war aber doch kein Mord aus Raserei, oder, Mr Moody?« Maria ist ganz ruhig geblieben, während Susannah sich im Laufe ihrer Geschichte immer mehr aufgeregt hat. »Wir können nichts ausschließen.« »Mr Mackinley glaubt, dass es der französische Händler war, nicht wahr? Darum ist er auch hinter ihm her. Oder vielleicht hätte er es auch nur gern, dass es der französische Händler war. Sie mögen freie Händler in der Company nicht besonders, Mr Moody, stimmt’s?« »Die Company ist selbstredend bemüht, ihre Interessen zu 88
wahren, aber es ist im Allgemeinen zum Vorteil der Trapper, wenn sie die Häute zum Festpreis bekommen. Die Company sorgt für ihre Leute – die Trapper wissen, an wen sie sich wenden können, und die Lage ist … stabil. Da, wo es freien Wettbewerb gibt, sinken die Preise, oder sie steigen, und die freien Händler kümmern sich nicht um die Familien ihrer Zulieferer. Das ist der Unterschied zwischen … Ordnung und Anarchie.« Donald hört den herablassenden Ton in seiner Stimme und windet sich innerlich. »Aber wenn ein freier Händler einen höheren Preis bietet als die Company, dann kann man den Trapper doch wohl kaum daran hindern, auf das Angebot einzugehen? Dann kann er selbst für seine Familie sorgen.« »Natürlich, das steht ihm frei. Aber dann muss er das Risiko in Kauf nehmen, dass der freie Händler im Jahr darauf vielleicht schon nicht mehr da ist – er kann sich auf ihn nicht so verlassen wie auf die Company.« »Aber stimmt es denn nicht«, beharrt sie standhaft, »dass die Company die Strategie verfolgt, Indianer, mit denen sie Handel treibt, alkoholabhängig zu machen, um dann sicherzustellen, dass sie den einzigen Zugang zum Alkohol für sie darstellt, damit sie immer wieder zurückkommen?« Donald spürt die Röte aus dem Hemdkragen nach oben kriechen. »Die Company verfolgt mitnichten eine solche Strategie. Die Trapper tun, was ihnen beliebt, sie werden zu nichts gezwungen.« Er klingt ziemlich verärgert. Susannah wendet sich gegen ihre Schwester. »Das ist eine entsetzliche Anschuldigung. Und außerdem ist es wohl kaum Mr Moodys Schuld, wenn solche Dinge geschehen.« Maria wirkt nicht gerade überzeugt und zuckt mit den Schultern. Donald geht nach draußen. Die frische Luft kühlt ihm das 89
Gesicht. Er will versuchen, Susannah später allein zu erwischen – es ist unmöglich, ein Gespräch mit ihr zu führen, wenn die lästige Maria in der Nähe ist. Er zündet seine Pfeife an, um sich zu beruhigen, und geht dann zu Jacob in den Stall, der gerade in jener Fantasiesprache mit seinem Pferd spricht. »Morgen, Mr Moody.« »Guten Morgen. Haben Sie gut geschlafen?« Jacob wirkt verwirrt, wie immer nach dieser Frage. Er hat geschlafen – was gibt es da sonst zu sagen? Er hat auch wachgelegen, an den toten Mann gedacht und seinen Kriegertod, der ihn zu Hause im Bett ereilt hatte. Er nickt allerdings, Donald zuliebe. »Jacob, arbeitest du gerne für die Company?« Wieder so eine seltsame Frage. »Ja.« »Du würdest also nicht lieber für jemand anderen arbeiten – wie beispielsweise einen freien Händler?« Jacob zuckt die Achseln. »Jetzt nicht mehr – mit meiner Familie. Ich weiß, wenn ich weg bin, sind sie nicht allein und schutzlos allem ausgeliefert, und verhungern werden sie auch nicht. Und die Company verkauft günstige Waren – viel billiger als draußen.« »Es ist also gut, dass du für die Company arbeitest?« »Ich denke schon. Warum, wollen Sie weggehen?« Donald lacht und schüttelt den Kopf, und dann fragt er sich, warum er noch nie auf diesen Gedanken gekommen ist. Weil er nicht wüsste, wo er sonst hingehen sollte? Vielleicht kann auch Jacob nirgendwo anders hin – sein Vater war auch bei der Company, er war ein so genannter Voyageur gewesen, ein Pelzhändler, und Jacob hat angefangen, für sie zu arbeiten, als er vierzehn war. Sein Vater ist jung gestorben. Er fragt sich, ob er vielleicht einen Unfall hatte, aber wie bei so vielen anderen Dingen, die Jacobs Leben betreffen, findet er einfach nie den richtigen Zeitpunkt, ihn danach zu fragen. Donald hat sich so aufgeregt, weil Maria Recht hatte, als sie 90
behauptete, die Company wache eifersüchtig über ihr Monopol – aber sie hat auch gute Gründe, die Konkurrenz zu fürchten. Der jahrzehntelangen Vormachtstellung der Hudson Bay Company in der Wildnis überdrüssig, versuchen eine Reihe unabhängiger Pelzhändler – hauptsächlich Franzosen und Yankees –, die Vorherrschaft der Handelsgesellschaft über den Pelzhandel zu brechen. Es hat in der Vergangenheit etliche Konkurrenzunternehmen gegeben, aber die hat die Company alle geschluckt oder zermalmt. Doch diese neue Allianz, bekannt unter dem Namen North America Company, bereitet den ranghöheren Angestellten Kopfzerbrechen. Diese Leute haben eine Menge Geld im Rücken und missachten sämtliche Regeln (die von der Company aufgestellten Regeln, wohlgemerkt). Sie bieten den Trappern bessere Preise für ihre Felle und ringen ihnen das Versprechen ab, die Company in Zukunft zu meiden. Wahrscheinlich sind Bestechungsgelder und Drohungen an der Tagesordnung – höchstwahrscheinlich sogar, da die Company sich ihrer ja auch bedient. Der Handel und infolgedessen auch die Preise leiden darunter. Mackinley hat bereits einige hitzige Diskussionen mit Donald wegen der querschießenden freien Händler geführt und der Notwendigkeit, die Ureinwohner mit Alkohol, Gewehren und Lebensmitteln an die Company zu binden. Das hat Donald vorhin die Röte ins Gesicht getrieben – Marias Anschuldigungen haben mitten ins Schwarze getroffen. Aber es ist auch nicht schlimmer als das, was die Yankees machen, Herrgott noch mal. Er hätte Maria von dem Indianerdorf erzählen sollen, das auf die günstigen Nahrungsmittel und den Schutz durch das Fort angewiesen ist. Er hätte ihr von Jacobs Frau erzählen sollen und den beiden kleinen Mädchen mit den vertrauensvollen Augen, aber wie gewöhnlich war ihm all dies im richtigen Moment nicht eingefallen. Während eines dieser Gespräche mit Mackinley war Donald etwas in den Sinn gekommen: Vielleicht hatten die sinkenden 91
Profite viel tiefgreifendere Gründe als bloß die Gier der Yankees. Seit über zweihundert Jahren wird hier gejagt, und das fordert nun seinen Tribut. Als die Company ihre ersten Handelsposten aufbaute, waren die Tiere noch überall, und sie waren zutraulich, doch das Profitstreben ist mit seiner mörderischen Gier immer tiefer in die Wildnis vorgedrungen und trieb die Tiere dabei vor sich her. Seit jenem Tag mit Bell im Depot hat Donald keinen Silberfuchs mehr gesehen. Einen Blaufuchs hat er noch nie zu Gesicht bekommen. Es ist keiner mehr hereingekommen.
***
Donald treibt sein Pferd an, um mit Jacob mitzuhalten. Sie reiten durch ein Waldstück; die letzten Blätter an den Bäumen leuchten bunt, und Raureif ziert das Herbstlaub. Wenn Susannah die Methoden der Company nicht interessieren, warum sollte er sich dann damit beschäftigen? Denn schlussendlich ist es doch eine Tatsache, dass Ordnung besser ist als Anarchie. Das darf er nicht vergessen. Sie lassen die Pferde am Flussufer grasen und gehen hoch zur Hütte. Donald ist erleichtert bei dem Gedanken, dass sie inzwischen leer ist. Er hat es zwar geschafft, sich nicht zu blamieren, als er vor der Leiche stand, aber das war ein Erlebnis, das er so schnell nicht wiederholen möchte. Auf dem von Unkraut überwucherten Fleckchen Erde, welches das Haus umgibt, bleibt Jacob stehen und sieht sich den Boden etwas genauer an. Selbst Donald kann die schlammigen Fußspuren klar erkennen. »Die sind von gestern Abend. Sehen Sie, hier hat sich jemand versteckt.« Jacob zeigt auf den Boden hinter einem Strauch. »Vielleicht ein paar Dorfjungs?« 92
Wie es scheint, gibt es verschiedene Fußabdrücke. Jacob weist ihn darauf hin. »Sehen Sie hier … ein Männerstiefel, und darunter noch einer, aber der hier hat eine andere Form – es waren also zwei Männer. Der Mann mit den größeren Füßen war zuerst hier. Aber die letzte Person, die das Haus verlassen hat, war diese hier – sie muss kleiner sein, ein Junge vielleicht … oder eine Frau.« »Eine Frau? Bist du dir sicher, dass diese Fußspuren von gestern sind? Könnten das nicht die von der Frau sein, die den Leichnam aufgebahrt hat?« Jacob schüttelt den Kopf. Donald freut sich diebisch, als er eine lose Diele mit einer kleinen Nische darunter entdeckt. Aber es ist Jacob, der schließlich das geheime Versteck unter ein paar Steinen findet. Das Geheimnis um Jammets fehlende Reichtümer ist damit gelüftet – in einer bleiverstärkten Kiste liegen drei amerikanische Gewehre, etwas Gold und ein Päckchen aufgerollte Dollarscheine, die in gewachste Baumwolle eingewickelt sind. Jacob stößt einen verblüfften Schrei aus, als er sie entdeckt. Donald überlegt, was er damit tun soll, und beschließt, alles wieder zu vergraben, bis er mit einem Wagen zurückkommen kann. Sie legen die Steine zurück, und Jacob verstreut etwas Laub über der glattgestrichenen Erde, damit alles ganz unberührt aussieht. Donald beobachtet Jacob, während er sich die Pfeife anzündet. Ein kleiner Funken Misstrauen flackert in ihm auf, und er rügt sich sofort dafür, auch nur daran gedacht zu haben, Jacob könne der Versuchung des Päckchens erliegen, das mehr wert ist, als er in zehn Jahren verdienen könnte. Donald ist sich darüber im Klaren, dass er in Jacobs Gesicht nicht lesen kann, wie er es vielleicht in dem eines weißen Mannes könnte. Er hofft, dass es Jacob mit ihm ähnlich geht und dass der Mann seinen kurzzeitigen Vertrauensmangel nicht bemerkt hat.
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nn Pretty ist verwundert, mich so bald nach Erhalt meiner Kaffeeleihgabe wiederzusehen, und sie scheint auf der Hut zu sein, obwohl ich nicht gekommen bin, um mir das Geliehene zurückzuholen. Ida sitzt neben dem Ofen und zupft schlechtgelaunt an ein paar Laken herum. Mit blassem, bedrücktem Gesicht schaut sie auf. Sie ist fünfzehn, und sie interessiert mich, vielleicht, weil sie in dem Alter ist, in dem Olivia nun auch wäre. Und außerdem passt sie in die Familie Pretty wie eine Kuh in einen Hühnerhof – sie ist dünn, dunkel und introvertiert und den Gerüchten zufolge sehr klug. »Mrs Ross!«, trompetet Ann aus einem Meter Abstand. »Wissen Sie was Neues über Ihren Jungen?« »Angus ist aufgebrochen, um ihn zu suchen.« Jetzt, wo ich hier bin, weiß ich nicht, ob ich die Fassade unbeschwerter Unbekümmertheit länger aufrechterhalten kann. Und wenn Angus schon nicht mit mir redet, an wen soll ich mich sonst wenden? »Ach, es ist ja so ein Kreuz mit den Kindern.« Sie wirft der schweigsamen Ida einen finsteren Blick zu. Ida schaut nicht auf, sondern starrt stur auf das Laken und näht mit kleinen, festen Stichen weiter. »Er war so düsterer Stimmung, als er ging, dass ich es nicht gewagt habe, ihn zu fragen, wo er hingeht. Und wenn er zurückkommt, wird er sich schrecklich aufregen wegen Jammet. Man kann ja viel über ihn sagen, aber er war ein freundlicher Mensch. Er war immer sehr nett zu Francis.« »Was sind das nur für Zeiten. Gott weiß, wo das noch hinführen soll.« Ida entfährt ein kaum hörbares Seufzen. Sie hat den Kopf gesenkt, so dass ich ihr Gesicht nicht sehen kann, aber sie weint. 94
Auch Ann seufzt, aber erbost. »Liebes Kind, ich weiß nicht, weswegen du schon wieder heulst. Es ist ja nicht so, als hättest du ihn näher gekannt.« Ida schnieft und sagt nichts. Kopfschüttelnd wendet Ann sich wieder mir zu. »Seine Mutter tut mir leid. Sie hat sonst niemanden, nach allem, was ich gehört habe. Wissen Sie, dass er vor gerade mal zwei Monaten noch in Chicago war? Warum bitte fährt ein Mann wie er nach Chicago, frage ich Sie?« »Ich wünschte, sie gingen nach Chicago und würden aufhören, Francis nachzustellen. Es ist doch absurd, ihn zu verdächtigen.« »Das ist es.« Wieder gibt Ida ein leises Schniefen von sich – und ihre Schultern zucken. »Ida, hörst du endlich auf damit? Geh nach oben, wenn du nicht hier sitzen kannst, ohne zu schniefen. Mein Gott …« Ida steht auf und geht ohne einen Blick hinaus. »Sie treibt mich noch in den Wahnsinn, dieses Gör. Sie sollten froh sein, dass Sie kein Mädchen haben …« In dem Moment, als ihr das über die Lippen geht, fällt ihr Olivia ein, und ich glaube, sie überlegt kurz, ob sie sich entschuldigen soll, doch diesen lächerlichen Gedanken schlägt sie sich gleich wieder aus dem Kopf. »Aber Sie haben es mit Ihrem ja auch nicht leicht.« Das kann ich bestätigen. »Es ist das Blut, das sich Bahn bricht. Dagegen kann man nichts tun. Über seine Eltern wissen Sie nichts, oder? Wer weiß, vielleicht waren es Diebe und Kesselflicker. Das ist sein irisches Erbe. Denen kann man einfach nicht über den Weg trauen. Als ich noch in Kitchener war, gab es eine Bande Iren, die haben einem die Wäsche von der Leine gestohlen, wenn man ihnen nur kurz den Rücken zudrehte. Obwohl ich das von Ihrem Francis nie behaupten würde, wohlgemerkt, aber es steckt in ihnen drin. Es steckt drin, und man muss auf der Hut sein davor.« Trotz dieser Beleidigungen weiß ich, dass sie es eigentlich nett 95
meint. Sie kann es bloß nicht anders zeigen. »Was ist denn mit Ida los? Sie sollten nicht so streng zu ihr sein, denken Sie doch bloß daran, wie Sie in dem Alter waren.« Ann schnaubt. »In dem Alter war ich nie. Mit zehn Jahren habe ich angefangen, mich um den Haushalt zu kümmern, ich hatte keine Zeit, mich hinzusetzen und zu träumen.« Sie bedenkt mich mit einem Blick, einem hinterlistig humorvollen, dem für gewöhnlich ein Witz auf meine Kosten folgt. »Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, sie hat sich in Ihren Francis verguckt. Sie würde das nie zugeben, aber ich bin mir ziemlich sicher.« Ich bin so erstaunt, dass ich beinahe laut auflache. »Ida?« Es fällt mir schwer, sie als etwas anderes zu sehen denn als dünnes, kleines Mädchen. Und ich hätte nie gedacht, dass jemand aus der Familie Pretty etwas für Francis übrighaben könnte. Vor ein paar Jahren war da dieser verhängnisvolle Ausflug gewesen, zu dem Angus und Jimmy die Jungs fast mit Gewalt gedrängt hatten. Da war Francis mit George und Emlyn losgezogen. Zwei Tage später kamen sie zurück, und Francis hat nie ein Wort darüber verloren. Danach habe ich nicht mehr versucht, ihn dazu zu bewegen, mit ihnen zu spielen. »Sie haben in der Schule immer zusammengesteckt, solange er noch dort war.« »Gestatten Sie, dass ich mit ihr rede. Ich weiß noch, wie ich in dem Alter war. Wissen Sie, ich habe immer gedacht, dass sie mich an mich selbst erinnert, als ich noch so jung war.« Ich lächle Ann an und genieße es, dass der Gedanke, ihre Tochter könne einmal werden wie ich, vermutlich ihr schlimmster Albtraum ist. Ich folge dem Schniefen, bis ich Ida finde, die in ihrem winzigen Schlafzimmer sitzt und aus dem Fenster starrt. Zumindest bin ich mir ziemlich sicher, dass sie aus dem Fenster gestarrt hat, auch wenn sie sich über das Laken beugt, als ich hereinkomme. »Deine Mutter hat gesagt, die Schule macht dir im Augenblick 96
viel Spaß.« Ida schaut mit roten Augen und rebellischem Zug um den Mund auf. »Spaß? Wohl kaum.« »Francis erzählt immer, wie klug du bist.« »Tatsächlich?« Für einen Moment wird ihr Gesicht weicher. Ann hat also vielleicht doch Recht. »Er sagt, du seiest eine richtige Gelehrte. Vielleicht könntest du ja in Coppermine die weiterführende Schule besuchen – hast du schon mal darüber nachgedacht?« »Mhm. Weiß nicht, ob Ma und Pa das erlauben würden.« »Na ja, sie haben doch genug Jungs, die sich um den Hof kümmern können, oder nicht?« »Denke schon.« Ich lächle sie an, und fast lächelt sie zurück. Sie hat ein spitzes, knochiges kleines Gesicht mit dunklen Schatten unter den Augen. Ihr wird man nicht vorwerfen können, schön zu sein. »Mrs Ross? Haben Sie eine weiterführende Schule besucht?« »Ja, das habe ich. Und es ist sehr lohnenswert.« Beinahe stimmt das auch. Ich hätte es tun können, wäre ich zu der Zeit nicht in einer geschlossenen Anstalt gewesen. Jetzt schaut sie mich mit schüchterner Bewunderung an, und ich wäre nur zu gern die, für die sie mich hält. Vielleicht könnte ich ihr so etwas wie eine Mentorin werden – so etwas habe ich noch nie gedacht, aber es ist ein schöner Gedanke. Womöglich eine Entschädigung fürs Älterwerden. »Francis sollte auch weiter zur Schule gehen. Er ist sehr gescheit.« Sie errötet angesichts der ungewohnten Anstrengung, eine eigene Meinung zu äußern. »Ja, vielleicht. Im Moment redet er nicht mit mir. Das wirst du auch noch erleben: Wenn du einmal Mutter bist, hört dir keiner mehr zu.« »Ich werde nie heiraten. Niemals.« Ihr Gesicht hat sich wieder verfinstert – der dunkle Schatten ist wieder da. 97
»Weißt du, ich kann mich noch gut daran erinnern, genau das Gleiche gesagt zu haben. Aber es kommt nicht immer alles so, wie man sich das vorstellt.« Aus irgendeinem Grund gleitet sie mir durch die Finger. Ihr steigen wieder Tränen in die Augen. »Ida … ich nehme an, dass Francis nicht zufällig mit dir gesprochen hat, ehe er zu diesem Ausflug aufgebrochen ist? Wohin er wollte oder so etwas?« Das Mädchen schüttelt den Kopf. Als sie wieder aufschaut, bin ich fassungslos angesichts des rohen Schmerzes in ihren Augen. Kummer, und noch etwas – ist es Wut? Irgendetwas, das mit Francis zu tun hat. »Nein, hat er nicht.« Auf dem Weg nach Hause fühle ich mich noch schlechter als vorher. Eigentlich erwarte ich gar nicht, dass Angus Francis mit nach Hause bringt, und als er dann endlich lange nach Einbruch der Dunkelheit, allein zurückkommt, überrascht es mich nicht. Sein Gesicht ist schlaff vor Müdigkeit, und er redet, ohne mich dabei anzusehen. »Ich war am Shallow Lake. Habe Spuren gesehen, die davon wegführten – von mehr als einer Person, das konnte man klar erkennen. Aber er war nicht da. Und da hat auch niemand geangelt, darauf würde ich schwören. Sie sind einfach weitergezogen. Wenn das Francis war, dann hatte er es sehr eilig.« Und du bist zurückgekommen, denke ich bei mir. Du hast dich einfach umgedreht und bist wieder nach Hause gegangen. Ich habe schon einen Entschluss gefasst. Ich muss nicht mehr darüber nachdenken. »Dann gehe ich ihm eben nach.« Eins muss man ihm lassen: Er lacht nicht, wie die meisten Ehemänner es wohl getan hätten. Ich weiß nicht, ob ich insgeheim hoffe, er würde versuchen, mich aufzuhalten, zumindest mit mir streiten und mich anflehen, nicht zu gehen, nicht etwas 98
so Dummes und Mutiges und Gefährliches zu tun. Aber er tut es nicht. Ich denke an die Männer der Company in Caulfield – die werden gleich morgen früh hier sein, um sich zu vergewissern, ob Francis zurückgekommen ist. Werden mit verschlagenem Blick unsere Gesichter mustern, um zu sehen, wie sehr wir uns ängstigen. Nun, ich habe nicht mehr die Kraft, ihnen weiter etwas vorzuspielen. Ich werde ihnen in die Augen sehen und ihnen zeigen, dass ich Angst habe. Todesangst.
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onald und Jacob kommen am späten Vormittag nach Caulfield zurück, und Donald besorgt einen Wagen, der Jammets gehortete Schätze abholen soll. Weil er sich noch immer schämt, ihn zuvor verdächtigt zu haben, schickt er Jacob allein zurück, die Kiste abzuholen; danach fühlt er sich besser, zumal ihm dieses Arrangement die Annehmlichkeit verschafft, mit Mrs Knox und ihren Töchtern zu Mittag essen zu können. Aber sie haben kaum mit dem Braten angefangen, als er schon ins erste Fettnäpfchen tritt. »Als ich eben zurückkam, habe ich mich gefragt, ob ich Mr Sturrock vielleicht hier antreffen würde«, plaudert er munter. »Soweit ich weiß, ist er ein alter Bekannter Ihres Mannes.« Mrs Knox schreckt hoch und sieht Donald alarmiert an. »Mr Sturrock …? Thomas Sturrock?« Die Mädchen werfen sich rasch bedeutungsvolle Blicke zu. »Nun, seinen Vornamen kenne ich nicht, aber … man sagte mir, er kenne Ihren Mann … es tut mir leid, habe ich etwas Falsches gesagt …?« Mrs Knox ist leichenblass geworden, aber sie hat einen entschlossenen Zug um den Mund. »Es ist schon gut, Mr Moody. Ich wundere mich nur, weiter nichts. Diesen Namen habe ich schon lange nicht mehr gehört.« Betreten und verwirrt blickt Donald auf seinen Teller. Susannah sieht ihre Schwester zornig an. Maria räuspert sich. »Die Erklärung, Mr Moody, ist, dass wir zwei Cousinen hatten, Amy und Eve, die im Wald spazierengegangen und nie zurückgekehrt sind. Onkel Charles hat etliche Leute geholt, die sie suchen sollten, und Mr Sturrock war einer von ihnen. Er hat einen gewissen Ruf als Fahnder – Sie wissen schon, um Kinder aufzuspüren, die von Indianern entführt wurden. Er hat lange 100
nach ihnen gesucht, sie aber nie gefunden.« »Er hat Onkel Charles’ gesamtes Geld verpulvert, und der ist dann an gebrochenem Herzen gestorben«, fügt Susannah schnell hinzu. »Er hatte einen Schlaganfall«, erklärt Maria Donald. Mrs Knox brummt missbilligend. Donald ist wie vor den Kopf gestoßen. Susannahs Gesicht verrät, dass dies die Geschichte ist, die sie ihm tags zuvor hatte erzählen wollen, nur ohne die entsprechenden Ausschmückungen. Und dass es sie fuchst, dass man ihr die Geschichte vor der Nase weggeschnappt hat. »Das tut mir leid«, stammelt er schließlich. »Eine schreckliche Sache.« »Das war es«, pflichtet Mrs Knox ihm bei. »Weder meine Schwester noch ihr Mann sind je darüber hinweggekommen. Maria hat Recht, wenn sie sagt, dass er einen Schlaganfall erlitten hat, aber er war erst zweiundfünfzig. Es hat ihm das Herz gebrochen.« Susannah sieht ihre Schwester triumphierend an. In dem darauf folgenden Schweigen hört man nur noch Donalds Gabel, die auf dem Teller herumklappert, und plötzlich kommt er sich vor wie ein Rüpel, weil er einfach weiterisst, und so hält seine Hand mit der Gabel unsicher mitten in der Bewegung inne. Selbst sein Kauen klingt entsetzlich laut, aber jetzt, mit vollem Mund, bleibt ihm nicht viel anderes übrig. »Ich hoffe, der Schweinebraten schmeckt Ihnen«, sagt Mrs Knox mit bestimmtem Lächeln. Als Gastgeberin lässt sie sich durch nichts so schnell aus der Bahn werfen. »Köstlich«, murmelt Donald, sich schmerzlich bewusst, dass Susannah zu seiner Linken die Gabel bereits auf den Teller gelegt hat. »Es ist lange her«, erklärt Maria. »Siebzehn oder achtzehn Jahre. Aber Sie haben noch gar nicht gesagt, ob Francis Ross zurückgekommen ist. Oder werden Sie morgen ins Hinterland 101
aufbrechen?« Donald ist ihr plötzlich unendlich dankbar. »Augenblicklich wohl eher Letzteres – er ist noch nicht wieder da. Seine Eltern machen sich Sorgen um ihn.« »Glauben sie, er ist verschwunden, so wie …« Susannah bricht ab, ehe sie zu Ende gesprochen hat. »Francis Ross streift ständig durch die Wälder. Er ist da fast wie ein Eingeborener. Er kennt den Wald wie seine Westentasche.« »Wie dem auch sei, wir werden die Sache aufklären, indem wir ihn aufspüren. Jacob ist ein hervorragender Fährtenleser. Ein paar Tage Rückstand machen ihm nichts.« Jetzt, nach dem Mittagessen, sitzt Donald im Herrenzimmer und geht seine Aufzeichnungen vom Vortag und die Ereignisse des heutigen Tages durch. Er hat sich gerade dazu entschlossen, Sturrock aufzusuchen und ihn zu befragen, als Susannah eintritt, ohne anzuklopfen. Er springt auf, wobei es ihm unvermeidlich gelingt, in seiner Eile den Stuhl umzustoßen. »Verdammt! Es tut mir leid, ich …« »Ach du lieber Himmel …« Susannah kommt ihm zu Hilfe, den Stuhl wieder aufzustellen, und so stehen sie dann sehr nahe beieinander und lachen, die Gesichter nur wenige Handbreit voneinander entfernt. Donald weicht einen Schritt zurück, weil er plötzlich fürchtet, sie könne das wilde Pochen seines Herzens hören. »Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen«, sagt sie. »Wir waren Ihnen keine gute Gesellschaft, und, wissen Sie, ich hatte gehofft, das wäre anders, wenn wir uns das nächste Mal sehen.« Sie schaut ganz ernst, aber ihre Wangen sind zart gerötet. Wie ein Schlag trifft Donald die vollkommen verblüffende Erkenntnis, dass dieses wunderschöne Mädchen ihn mag, und dieses neue Bewusstsein strömt durch seine Adern wie die Nachwirkungen eines starken Brandys. Er hofft, dass sein plötzliches 102
Grinsen ihn nicht wie einen völligen Idioten aussehen lässt. »Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen, Miss Knox.« »Bitte, nennen Sie mich doch Susannah.« »Susannah.« Es ist das erste Mal, dass er ihren Namen vor ihr ausspricht, und er muss lächeln. Das Gefühl beim Sagen ihres Namens und der Anblick ihres Gesichts, das zu ihm aufschaut, brennen sich in sein Herz wie ein Brandzeichen. »Sie sind eine sehr charmante Gesellschaft und eine willkommene Ablenkung von dieser … Angelegenheit. Ich bin … froh, dass ich hergekommen bin – ich meine, froh, dass Mackinley mich ausgewählt hat.« »Aber morgen werden Sie wohl wieder fort sein, und dann bekommen wir Sie nicht mehr zu sehen.« »Nun ja … ich vermute, die Company wird die Vorgänge hier im Auge behalten wollen, also … Wer weiß, vielleicht bin ich schneller wieder da, als Sie glauben.« »Ach. Verstehe.« Sie wirkt so verzweifelt, dass er sich ein Herz fasst und sagt: »Aber, wissen Sie, es wäre wundervoll … wenn Sie mir schreiben würden und, und … mich wissen ließen, wie die Dinge hier stehen.« »Sie meinen, einen Bericht?« »Nun … ja, obwohl, ich würde auch gerne wissen … wie es Ihnen geht. Und ich würde Ihnen auch gerne schreiben, wenn Ihnen das recht wäre.« »Sie möchten mir schreiben?« Sie klingt entzückend überrascht. »Das würde mich sehr freuen.« Es entsteht ein Augenblick atemlosen Erstaunens, als ihnen klar wird, was sie da sagen, und dann lächelt Susannah zur Antwort. »Mich auch.«
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Donald ist irrsinnig guter Laune und schäumt beinahe über vor Kraft und Energie, wie er es kaum je für möglich gehalten hätte. Er schickt ein stilles Dankgebet gen Himmel, stürmt, ohne wirklich zu wissen, was er tut, aus dem Haus, um dann festzustellen, dass er paradoxerweise allein sein möchte, um sein neu entdecktes Glück voll auszukosten. Er macht sich auf den Weg zu Scotts Laden, weil er sich denkt, wenn in Caulfield irgendetwas passiert, dann wird John Scott darüber Bescheid wissen. Dort marschiert er durch die Tür, bemüht, sich das dümmliche Grinsen zu verkneifen – denn schließlich ist ein Mann gestorben –, und trifft auf eine schlanke Frau mit rundem Gesicht, die hinter dem Tresen steht. Sie blickt auf, als sie die Türglocke hört, und im ersten Moment huscht ein Anflug von Angst über ihr Gesicht, den sie aber schnell wieder hinter einem neutralen, nichtssagenden Ausdruck versteckt. John Scott ist nicht da, aber Mrs Scott erweist sich als beinahe ebenso hilfreich. Donald fällt ihre leichte Zerstreutheit auf, und er versucht, sich zu konzentrieren, als sie ihm erzählt, Mr Sturrock sei in ihrem Haus untergebracht und augenblicklich vermutlich auch dort, obwohl sie da nicht ganz sicher sei. »Sie können gerne vorbeischauen. Das Dienstmädchen ist auf jeden Fall da …« Mrs Scott unterbricht sich, als sei ihr ein Gedanke gekommen. »Nein, ich schicke lieber eine Nachricht, das wäre wohl besser.« Sie verschwindet durch die Hintertür. Donald starrt aus dem Fenster in den milchigen Himmel und denkt an Susannahs weichen Mund.
***
Thomas Sturrock hat eine Art, die Donald auf Anhieb gefällt – als man ihm erzählte, der Mann sei Fahnder, hatte er sich einen alten ungehobelten Waldschrat vorgestellt, versehen mit jenem 104
sonderbaren Humor, wie er ihn im Fort immer ertragen muss, und er ist angenehm überrascht von dem distinguierten Herrn, der ihn stattdessen erwartet. »Wenn ich Sie fragen darf, wie sind Sie zu diesem Beruf gekommen?« Sie sitzen auf zwei Stühlen, die Mrs Scott vor den Ofen gestellt hat, und trinken ihren bitteren Kaffee. Sturrock blickt enttäuscht in seine Tasse, dann antwortet er. »Ich habe schon so einiges gemacht, unter anderem auch über indianische Lebensweisen geschrieben. Ich war immer ein Freund der Indianer, und jemand, der das wusste, hat mich eines Tages gebeten, in einem Fall zu ermitteln, in dem ein Junge entführt worden war. Das hatte Erfolg, und so wurde ich auch von anderen Leuten angesprochen. Ich habe mich nicht darum gerissen, es ist einfach so gekommen. Aber für so was bin ich inzwischen zu alt.« »Und dieser Gegenstand, dessentwegen Sie hergekommen sind, haben Sie irgendeinen schriftlichen Beweis dafür, dass Jammet wollte, dass Sie ihn bekommen?« »Nein. Er hat nicht damit gerechnet, umgebracht zu werden, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.« »Und Sie wissen auch von keinen Feinden?« »Nein. Er hat immer hart verhandelt, aber das ist kein Grund, jemanden umzubringen.« »Nein, wirklich nicht.« »Als er mir dieses Stück Elfenbein gezeigt hat, habe ich ihn gebeten, mir eine Kopie der Zeichen machen zu dürfen, woraus er schließen konnte, dass ich mich dafür interessierte, also hat er abgelehnt und gesagt, er würde es mir verkaufen.« »Aber Sie haben es damals nicht gekauft?« »Nein. Sehen Sie, ich war kurzfristig nicht liquide. Aber er war einverstanden, so lange zu warten, bis ich ihm den geforderten Preis bezahlen kann. Jetzt habe ich das Geld, aber natürlich …« – hilflos streckte er die Hände aus – »weiß ich nicht, wo es ist.« 105
»Ich werde mit Mr Knox darüber reden. Es wurde kein Testament gefunden. Wenn Mr Knox zustimmt, würde ich denken, dass wir es ihnen verkaufen können. Vorausgesetzt natürlich, wir finden es.« Plötzlich fragt sich Donald, ob Sturrock vielleicht schon nach dem Plättchen gesucht hat. Die Fußabdrücke vor der Hütte kommen ihm in den Sinn. Drei Paar. Drei Menschen sind am Vorabend bei der Hütte gewesen und haben etwas gesucht. »Das ist sehr großzügig von Ihnen, Mr Moody. Ich weiß das sehr zu schätzen.« »Was ist es denn für ein Ding? Etwas Römisches oder Ägyptisches?« »Ich bin mir nicht einmal sicher, was es ist. Allem Anschein nach handelt es sich um nichts dergleichen, aber darum brauche ich es ja – ich möchte es einigen Experten vom Museum zeigen, die sich mit so was auskennen.« Donald nickt. Er weiß noch immer nicht so recht, warum Sturrock sich so sehr dafür interessiert. Eins ist jedoch sicher: Wenn sich jemand derart für etwas interessiert, sollte man auf der Hut sein. Wäre es vielleicht möglich, dass Sturrock schon früher hier gewesen ist und Jammet sich weigerte, ihm das Elfenbeinstück zu verkaufen, woraufhin Sturrock ihn umgebracht hat? Oder hat Jammet es möglicherweise jemand anderem verkauft? Wie dem auch sei, Sturrock wirkt jedenfalls nicht wie ein Mörder. Andererseits fehlt jede Spur von diesem Elfenbeindings, das offensichtlich von einigem Wert ist. Und in dem Fall stellt sich die Frage: Wer hat es jetzt? Donald verlässt den Laden mit Sturrocks Beteuerung, die nächsten Tage in Caulfield zu bleiben. Er denkt darüber nach, warum er ihn nicht nach den Seton-Mädchen gefragt hat – vielleicht, weil es ihm unmöglich ist, in diesem höflichen, gebildeten Mann den habgierigen Betrüger zu sehen, den die Knox’ beschrieben haben. Er fragt sich – nicht zum ersten Mal – ob seine Unerfahrenheit ihn dazu verleitet, sich vorschnell eine 106
positive Meinung über Menschen zu bilden. Ob er misstrauischer sein sollte, wie Mackinley, der prinzipiell erst mal etwas gegen jeden hat, weil er davon ausgeht, dass sie ihn früher oder später enttäuschen werden – und damit normalerweise auch Recht behält? Auf dem Weg kommt ihm Maria mit einem Korb am Arm entgegen. Er zieht den Hut, und sie lächelt verhalten. Sie wirkt entschieden weniger feindselig als noch am Morgen, aber er hätte nicht gewagt, sie anzusprechen, hätte sie nicht das Wort an ihn gerichtet. »Mr Moody. Wie gehen die Nachforschungen voran?« »Ähm, langsam, danke.« Sie hält inne, als warte sie darauf, dass er noch etwas hinzufügt, also hört er sich sagen: »Ich habe gerade mit Mr Sturrock gesprochen.« Sie zeigt keinerlei Erstaunen, sondern nickt, als hätte sie das erwartet. »Und?« »Ich fand ihn sehr charmant. Gebildet, empfindsam … so ganz anders als erwartet.« »Er muss wohl sehr charmant gewesen sein, um meinem Onkel all sein Geld abzuluchsen – und das war eine ganze Menge, soweit ich weiß.« Donald muss die Stirn gerunzelt haben, denn sie fährt fort: »Ich weiß, mein Onkel war so verzweifelt, dass er alles versucht hätte, aber ein Mann mit ein wenig Anstand hätte ihm klargemacht, dass es sinnlos war, weiter nach den Mädchen zu suchen, und hätte sich geweigert, sein Geld anzunehmen. Auf lange Sicht gesehen wäre das besser gewesen. Denn am Ende hatte er weder seine Töchter zurück noch etwas zum Leben übrig, und er … nun ja, hat sich selbst zugrunde gerichtet. Das war, nachdem meine Tante gestorben ist. Ich weiß, es klingt furchtbar, das zu sagen, aber … ich habe immer schon angenommen, dass die Wölfe sie gefressen haben müssen. Das sagen andere auch, und 107
ich glaube, sie haben Recht. Aber meine Tante und mein Onkel konnten das einfach nicht hinnehmen.« »Wer könnte das schon?« »Ist das denn so viel schlimmer als das, was die anderen denken?« »Ich würde denken, Leben, ganz gleich zu welchem Preis … ist besser als der Tod.« Maria sieht ihn mit diesem abschätzigen Blick an – wie ein Farmer, der ein Pferd auf Dämpfigkeit in Augenschein nimmt. Sie wird nie einen Ehemann finden, wenn sie alle Männer so ansieht, denkt er irritiert. »Vielleicht haben die Wölfe sie vor einem Schicksal bewahrt, das schlimmer ist als der Tod.« Aus ihrem Mund klingt dieses Klischee wie ein schlechter Witz. »Das glauben Sie doch nicht im Ernst.« Er wundert sich über seinen Mut, ihr zu widersprechen. Maria zuckt die Achseln. »Vor ein paar Jahren sind zwei Kinder in der Bucht ertrunken. Es war ein furchtbarer Unfall. Ihre Eltern haben natürlich getrauert, aber sie leben noch. Und eigentlich wirken sie inzwischen wieder ganz glücklich – so glücklich wie wir anderen auch.« »Vielleicht ist diese Ungewissheit einfach schwer zu ertragen.« »Was es skrupellosen Menschen ermöglicht, diese Hoffnung schamlos auszunutzen und die armen Leute auszunehmen wie eine Weihnachtsgans.« Wieder wundert sich Donald über das, was sie sagt. Undeutlich hört er die Stimme seines Vaters, die ihm predigt: »Der Wunsch zu schockieren ist ein kindischer Zug, der üblicherweise mit dem Erwachsenwerden verschwindet.« Dabei wirkt Maria alles andere als unreif. Er ruft sich in Erinnerung, dass er nicht mehr einer Meinung mit seinem Vater sein muss. Sie sind jetzt auf verschiedenen Kontinenten. »Mr Sturrock scheint mir kein reicher Mann zu sein«, erklärt 108
Donald, sozusagen als Verteidigung. Maria sieht an Donald vorbei die Straße entlang und blickt ihn dann mit einem Lächeln an. Ihre Augen sind, im Gegensatz zu Susannahs, blau. »Nur, weil Sie jemanden mögen, heißt das noch nicht, dass Sie ihm auch vertrauen können.« Und mit einem leichten Nicken – fast der Parodie eines Knickses – lässt sie ihn stehen. Den restlichen Nachmittag und den Abend bringt Donald damit zu, Jammets Besitztümer durchzugehen, aber wie schon die anderen vor ihm findet er nichts, was irgendwie im Zusammenhang mit seinem Tod stehen könnte. Der weltliche Besitz des Franzosen ist in einem trockenen Teil des Stalls verstaut, und er und Jacob, der im Interesse der Sicherheit die Räumung der Hütte überwacht hat, haben alles in Schachteln und Kisten verpackt. Alles in allem erstaunlich wenig. Donald verdrängt den Gedanken daran, wie seine Kollegen seine Sachen durchwühlen würden, sollte er überraschend aus diesem Irdengetümmel abberufen werden. Es gäbe nichts, das seine frischen, aber tiefen Gefühle für Susannah belegen würde, beispielsweise. Er schwört sich, ihr zu schreiben, sobald er Caulfield verlassen hat – absurd, da sie noch unter einem Dach wohnen, und da Donald beschlossen hat zu warten, bis Mackinley und Knox zurück sind, ehe er zu dieser aussichtslosen Verfolgung aufbricht; er könnte also noch gut ein oder zwei Tage hier sein. Er wird sie auch um ein Foto bitten oder ein Andenken. Nicht, dass er vorhätte, zu Tode zu kommen. Nur für alle Fälle.
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ls ich noch ein kleines Mädchen war und meine Eltern noch lebten, litt ich unter so genannten »Nöten«. Ich wurde von lähmender Angst befallen, die es mir unmöglich machte, mich zu bewegen oder auch nur zu sprechen. Ich hatte das Gefühl, als entglitte die Erde mir und ich könne dem Boden unter meinen Füßen nicht trauen – ein erschreckendes Gefühl. Die Ärzte maßen meinen Puls und starrten mir in die Augen, bevor sie sagten, was immer ich auch hätte, es würde vermutlich vorbeigehen, wenn ich erwachsen würde (womit sie meinten, wenn ich heiratete). Doch ehe diese Theorie auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden konnte, starb meine Mutter unter ungeklärten Umständen. Ich glaube, sie hat sich das Leben genommen, auch wenn mein Vater das immer abstritt. Sie hat Laudanum genommen und ist an einer Überdosis gestorben, ob absichtlich oder nicht. Ich wurde von immer schlimmeren Ängsten heimgesucht, bis mein Vater es nicht mehr ertragen konnte und mich in eine – um es ganz deutlich zu sagen – Irrenanstalt steckte, auch wenn sie einen vornehmen Namen hatte, in dem von erschöpften Herrschaften die Rede war. Dann starb auch er, womit ich dem skrupellosen Direktor auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, und landete schließlich in einer öffentlichen Anstalt, die wenigstens so ehrlich war, sich auch so zu nennen. In der öffentlichen Anstalt war das Laudanum frei zugänglich. Erst wurde es mir gegen meine lähmenden Angstzustände verschrieben, und irgendwann war ich dann darauf angewiesen; es rückte an die Stelle von Eltern und Freunden. Es wurde in großem Umfang ausgegeben, um die Störenfriede unter den Patienten ruhigzustellen, doch bald war ich so weit, dass ich es mir lieber selbst zuteilte, und musste eine List anwenden, um 110
daranzukommen. Es fiel mir nicht schwer, die männlichen Pflegekräfte nach meiner Pfeife tanzen zu lassen, und auch den Direktor – ein idealistischer junger Mann namens Watson – konnte ich um den kleinen Finger wickeln. Wenn man sich erst einmal an etwas gewöhnt hat, vergisst man leicht, warum man es überhaupt wollte. Später dann, als mein Ehemann zu dem Schluss kam, meine Abhängigkeit verhindere wahre Intimität zwischen uns, habe ich damit aufgehört. Vielmehr hat er meinen Laudanumvorrat einfach weggeworfen, sodass mir gar nichts anderes übrigblieb, als ohne zurechtzukommen. Er war der einzige Mensch, der der Ansicht war, ich sei der Mühe wert. Es war, als sei ich nach einer langen Trunkenheit plötzlich wieder nüchtern, und anfangs war diese Nüchternheit ganz herrlich. Aber wenn man nüchtern ist, erinnert man sich an Dinge, die man ganz vergessen hatte – zum Beispiel, warum man überhaupt damit angefangen hat. Wenn es in den vergangenen Jahren hart auf hart kam, wusste ich immer ganz genau, warum ich abhängig geworden war, und in den letzten Tagen habe ich fast genauso oft an das Laudanum gedacht wie an Francis. Ich weiß, dass ich in den Laden gehen und welches kaufen könnte. Ich weiß es jede Minute des Tages und die halbe Nacht. Das Einzige, was mich davon abhält, in den Laden zu gehen, ist, dass ich der einzige Mensch bin, auf den Francis sich verlassen kann. Und bisher war ich ihm noch keine große Hilfe. Fünf Tage ist Francis jetzt schon fort, und ich gehe gerade den Pfad zu Jammets Hütte hinunter, als ich ein Geräusch von dort höre. Ein Hund kreuzt vor mir den Pfad und winselt. Ein Hund, den ich nicht kenne, groß, struppig und von ziemlich wildem Aussehen – ein Schlittenhund. Ich bleibe stehen: Es ist jemand in der Hütte. Auf der Anhöhe hinter dem Haus schleiche ich mit geübt leisen Schritten hinter einen Busch, verstecke mich und warte. Ein übellauniges Insekt versenkt seine Kiefer in meinem 111
Handgelenk. Irgendwann kommt ein Mann aus der Hütte und pfeift. Zwei Hunde laufen zu ihm hin, einer davon der, den ich kurz zuvor auf dem Pfad gesehen habe. Ich halte in meinem Versteck den Atem an, und als der Mann sich zu mir umdreht, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Er ist groß für einen Indianer, sehr muskulös, und trägt einen Überrock und eine Lederhose. Beim Anblick seines Gesichts muss ich an die Geschichte vom künstlichen Menschen denken. Er hat eine niedrige, breite Stirn und hohe Wangenknochen, Nase und Mund sind nach unten gebogen wie bei einem Raubtier, was ihm das Aussehen eines wilden, grausamen Wesens gibt. Tiefe Falten haben sich beiderseits des Munds in die kupferfarbene Haut gegraben. Das Haar ist schwarz und zerzaust. Ich habe noch nie einen so hässlichen Mann gesehen – sein Gesicht könnte mit grober Axt aus einem Holzklotz gehackt worden sein. Hätte Miss Shelley ein Vorbild für ihr furchteinflößendes Monster gebraucht, dieser Mann wäre die bestmögliche Inspiration gewesen. Ich warte und wage kaum zu atmen, bis er wieder in der Hütte verschwunden ist, dann krieche ich rückwärts aus meinem Versteck. Kurz überlege ich, was nun am besten zu tun sei – soll ich zur Farm laufen und Angus Bescheid sagen oder gleich nach Caulfield reiten und alles Knox erzählen? Heute entschließe ich mich dazu, dem Mann nicht selbst gegenüberzutreten, da er offensichtlich gefährlich ist. Auch wenn ich es nur ungern zugebe, fällt es mir schwer zu glauben, dass jemand mit einem solchen Gesicht nicht auch wild und grausam sein muss. Schließlich gehe ich zu Angus. Er hört mir schweigend zu, dann nimmt er sein Gewehr und geht den Pfad entlang zur Hütte. Später erfuhr ich dann, dass er schnurstracks zur Hütte gelaufen und hineingegangen ist. Er hat den Fremden dabei überrascht, wie er das obere Zimmer durchsuchte. Angus hat ihm zugerufen und ihm, sehr höflich, da bin ich mir sicher, erklärt, er müsse ihn nun nach Caulfield begleiten, da dies der 112
Tatort eines Mordes sei und er dort nichts zu suchen habe. Der Mann zögerte, leistete jedoch keinerlei Widerstand. Er nahm sein Gewehr und ging die drei Meilen bis zur Bucht vor ihm her. Angus marschierte mit ihm geradewegs bis zu Knox’ Hintertür. Während sie dort warteten, sah der Fremde mit stolzem, in die Ferne gerichteten Blick auf die Bucht hinaus, als kümmere es ihn nicht, was weiter mit ihm geschah. Als Angus sich schließlich wieder auf den Heimweg machte, war der Fremde bereits verhaftet und eingesperrt worden. Angus erbarmte sich seiner beiden Hunde, die Knox nicht in seinem Garten haben wollte, und brachte sie mit nach Hause, da sie, wie er sagte, keine Umstände machen würden. Ich dachte, er müsse irgendetwas an dem Fremden gefunden haben, dass er sich so viel Mühe machte.
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ndrew Knox sitzt Mackinley gegenüber und raucht seine Pfeife. Das Feuer wirft einen warmen orangefarbenen Schimmer auf ihre Gesichter – selbst Mackinleys milchsuppenbleiches Gesicht verliert seine fahle Blässe. Knox kann die unverhohlene Zufriedenheit des anderen nicht teilen. Sie haben den Mann eine Stunde lang befragt, aber nichts Konkretes herausgefunden, außer seinen Namen, William Parker, und dass er ein Fallensteller ist, der gelegentlich mit Jammet gehandelt hat. Er behauptete, nicht gewusst zu haben, dass Jammet tot ist, vielmehr sei er vorbeigekommen und habe die Hütte verlassen vorgefunden. Woraufhin er das Haus nach Hinweisen darauf, was wohl passiert sein mochte, durchsucht habe. »Sie behaupten, ein Mörder kehre nicht an den Ort seiner Tat zurück«, bricht Mackinley das Schweigen. »Aber angenommen, er hat die Gewehre und die anderen Sachen gesucht und sie beim ersten Mal nicht gefunden, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass er gewartet hat, bis sich alles ein bisschen beruhigt hat, und dann zurückgekommen ist, um alles noch einmal zu durchsuchen.« Knox nimmt zur Kenntnis, dass es so sein könnte. »Oder vielleicht hat er ja auch gedacht, er hätte etwas zurückgelassen, und ist wiedergekommen, um es zu holen.« »Wir haben nichts gefunden, was nicht dort hingehört hätte.« »Vielleicht haben wir etwas übersehen.« Knox beißt mit den Zähnen in die tief eingegrabene Furche am Mundstück seiner Pfeife. Es ist ein angenehmes Gefühl – Zähne und Mundstück passen nach langem Gebrauch perfekt aufeinander. In seinem Bedürfnis, eine schnelle Lösung zu finden, vorverurteilt Mackinley den Trapper und gestattet sich, die Tatsachen aus der Lösung abzuleiten, statt es umgekehrt zu machen. Knox hätte ihn gerne darauf hingewiesen, aber er 114
möchte seinen Stolz nicht verletzen – denn offiziell hat Mackinley trotz allem die Federführung in diesem Fall. »Ist es nicht möglich, dass es ganz einfach so ist, wie er sagt? Dass er ein Fallensteller ist, der hin und wieder mit ihm Geschäfte gemacht hat, und der nicht wusste, dass er tot ist?« »Und der dann in einem leeren Haus herumschnüffelt?« »Das ist doch kein Verbrechen – es ist nicht mal ungewöhnlich.« »Es ist kein Verbrechen, aber es ist verdächtig. Wir müssen aus dem, was wir haben, das Wahrscheinlichste schlussfolgern.« »Wir haben aber doch überhaupt nichts. Ich weiß nicht einmal, ob wir das Recht haben, ihn überhaupt festzuhalten.« Knox hat darauf bestanden, dass der Mann nicht als Gefangener und anständig zu behandeln ist. Er hat Adam ein Tablett mit Essen ins Lagerhaus bringen lassen, wo man ihn untergebracht hat, und ihn dort Feuer machen lassen. Es hatte ihm zwar widerstrebt, Scott abermals um einen Gefallen bitten zu müssen, aber er hätte es nicht verantworten können, den Mann im selben Haus wie seine Töchter und seine Frau unterzubringen, selbst dann nicht, wenn man seine Zimmertür von außen abgesperrt hätte. Denn trotz seiner beschwichtigenden Worte weckt irgendetwas im Gesicht des Fremden dunkle, beängstigende Gedanken in ihm. Es erinnert ihn an die Gesichter auf den Schnitzereien aus der Zeit der Indianerkriege: bemalte Gesichter, vor Wut verzerrt, blasphemisch, fremd. Zum zweiten Mal schließen sie die Tür zum Lagerraum auf und halten die Laternen hoch. Sie sehen den Gefangenen unbeweglich am Feuer sitzen. Er wendet nicht den Kopf, als die Tür aufgeht. »Mr Parker«, ruft Knox. »Wir würden gerne noch einmal mit Ihnen reden.« Sie sitzen auf Stühlen, die zuvor für diesen Zweck hereingebracht worden sind. Parker sagt kein Wort und sieht sie auch 115
nicht an. Nur sein Atem, der in blassen Wolken vor seinem Gesicht kondensiert, zeigt, dass der Mann lebt. »Wie kommen Sie zu dem Namen Parker?«, fragte Mackinley. Sein Tonfall ist beleidigend, als beschuldige er den Mann, bezüglich seiner Identität zu lügen. »Mein Vater war gebürtiger Engländer. Samuel Parker. Sein Vater war aus England hierhergekommen.« »War ihr Vater bei der Company?« »Er hat sein ganzes Leben für die Company gearbeitet.« »Aber jetzt nicht mehr.« »Nein.« Mackinley beugt sich vor, die Erwähnung der Company zieht ihn an wie ein Magnet. »Haben Sie auch für sie gearbeitet?« »Ich habe dort eine Lehre gemacht. Jetzt bin ich Fallensteller.« »Und Sie haben mit Jammet Geschäfte gemacht?« »Ja.« »Wie lange schon?« »Viele Jahre.« »Warum haben Sie die Company verlassen?« »Um niemandem verpflichtet zu sein.« »Wussten Sie, dass Jammet Mitglied der North America Company war?« Der Mann sieht ihn mit einem leicht amüsierten Ausdruck an. Knox wirft Mackinley einen Seitenblick zu – hat er das von dem anderen Franzosen erfahren? »Ich habe nicht mit der Company Geschäfte gemacht, sondern mit ihm.« »Sind Sie Mitglied der North America Company?« Nun lacht Parker harsch. »Ich bin Mitglied überhaupt keiner Company. Ich stelle Fallen und verkaufe Felle, weiter nichts.« »Aber Sie haben augenblicklich keine Felle.« »Es ist Herbst.« Knox legt mahnend die Hand auf Mackinleys Arm. Er bemüht 116
sich, freundlich und vernünftig zu klingen. »Sie verstehen, warum wir Ihnen diese Fragen stellen müssen – Mr Jammet ist einen grausamen Tod gestorben. Wir müssen so viel wie möglich über ihn in Erfahrung bringen, damit wir den Übeltäter seiner gerechten Strafe zuführen können.« »Er war mein Freund.« Knox seufzt. Noch ehe er etwas sagen kann, redet Mackinley schon weiter: »Wo waren Sie an dem Tag und in der Nacht des vierzehnten November – vor sechs Tagen?« »Ich habe Ihnen doch gesagt, ich bin von Sydney House in südlicher Richtung gereist.« »Hat Sie jemand gesehen?« »Ich reise allein.« »Wann haben Sie Sydney House verlassen?« Zum ersten Mal zögert der Mann. »Ich war nicht in Sydney House selbst, bloß in der Gegend.« »Aber Sie sagten doch, Sie seien von Sydney House gekommen.« »Ich habe Sydney House gesagt, damit Sie wissen, wo ich war. Ich bin aus der Richtung gekommen. Ich war in den Wäldern.« »Und was haben Sie da gemacht?« »Gejagt.« »Aber Sie sagten doch, es sei nicht die richtige Jahreszeit für Pelze.« »Gejagt, weil ich Fleisch brauchte.« Mackinley sieht Knox an und zieht die Augenbrauen hoch. »Ist das normal zu dieser Jahreszeit?« Parker zuckt die Achseln. »Das ist zu jeder Jahreszeit normal.« Knox räuspert sich. »Danke, Mr Parker. Nun ja … das reicht fürs Erste.« Er schämt sich für seine Stimme, die klingt wie die eines alten Mannes, so aufgeregt und weibisch. Sie stehen auf, um zu gehen, doch dann dreht Mackinley sich noch einmal zu dem 117
Mann am Feuer um. Er nimmt den Wasserkrug vom Tablett, gießt ihn auf die Flammen und löscht so das Feuer. »Geben Sie mir Ihre Feuertasche.« Parker sieht Mackinley an, und der hält seinem Blick stand. Parkers Augen sind im Schein der Lampe undurchsichtig. Er sieht aus, als würde er Mackinley am liebsten auf der Stelle umbringen. Langsam nimmt er den Lederbeutel, den er um den Hals trägt, und reicht ihn Mackinley. Mackinley nimmt ihn, aber Parker lässt nicht los. »Woher soll ich wissen, dass ich sie wiederbekomme?« Knox tritt hinzu, ängstlich darauf bedacht, die Spannung, die in der Luft liegt, zu verscheuchen. »Sie bekommen sie zurück. Dafür werde ich persönlich sorgen.« Parker lässt los, und die beiden Männer gehen hinaus. Mit sich nehmen sie die einzige Laterne, was bedeutet, dass ihr Gefangener in Dunkelheit und Kälte zurückbleibt. Knox späht noch einmal hinein, als er die Tür hinter sich zuzieht, und sieht – oder bildet er sich das bloß ein? – das Halbblut als konzentrierte Dunkelheit in einem finsteren Raum. »Warum haben Sie das gemacht?«, fragt Knox, als sie durch die stille Stadt zurückgehen. »Wollen Sie, dass er den Schuppen ansteckt und flüchtet? Ich kenne diese Leute. Die haben keinerlei Skrupel. Haben Sie gesehen, wie er mich angeguckt hat? Als wollte er mich an Ort und Stelle skalpieren.« Er hält die Tasche ins Licht – ein Lederbeutel, kunstvoll verziert mit Stickereien. Darin die überlebensnotwendige Ausrüstung des Mannes – Feuerstein, Zunder, Tabak und ein paar getrocknete und ziemlich unappetitliche Streifen getrockneten Fleischs. Ohne diese Dinge würde er in der Wildnis vermutlich sterben. Mackinley jubiliert. »Na, wie hat Ihnen das gefallen? Er hat seine Geschichte geändert, damit wir nicht nachprüfen können, ob er da war, wo er gesagt hat. Er hätte vor einer Woche also 118
genauso gut in Dove River sein können, ohne dass jemand davon wüsste.« Knox fällt darauf keine Erwiderung ein. Auch er hat einen Anflug von Zweifel gespürt, als Parker zögerte – eine Lücke hatte sich aufgetan im selbstsicheren Verhalten des Mannes. Er hatte nicht wirklich gewusst, was er sagen sollte. »Das ist kein Beweis«, brummt er schließlich. »Es ist ein Indiz. Würden Sie lieber davon ausgehen, dass der Junge es getan hat?« Knox seufzt. Er ist es langsam leid, sehr leid sogar, aber sein Unmut ist noch nicht groß genug, um ihm tatsächlich Ausdruck zu verleihen. »Was sollte denn das alles mit der North America Company? Von der habe ich ja noch nie gehört.« »Sie ist noch keine offizielle Handelsgesellschaft, aber sie könnte es werden. André hat mir erzählt, dass Jammet seine Finger im Spiel hatte. Er selbst übrigens auch. Französische Händler reden seit einiger Zeit darüber, eine Konkurrenzgesellschaft zu unserer auf die Beine stellen zu wollen. Sie werden von den Staaten unterstützt, und auch unter den Briten hier gibt es einiges Interesse.« Mackinley scheint mit den Zähnen zu knirschen. Er ist ein Mann schlichter Loyalitäten: Der Gedanke, ein Kanadier britischer Abstammung könne sich gegen die Company stellen, tut ihm in der Seele weh. Für Knox kommt das nicht so überraschend. Die Company wurde immer schon von reichen Männern in London geführt, die ihre Vertreter (die sie selbst als Bedienstete bezeichnen) in die Kolonien schicken, um deren Reichtümer abzuschöpfen. Für jene, die hier geboren wurden, ist sie eine fremde Macht, die ihr Land seines Wohlstands beraubt und als Gegenleistung bloß ein paar Krumen unter den Tisch fallen lässt. Er wählt seine Worte mit Bedacht. »Jammet hätte also als Gegner der Hudson Bay Company gelten können?« »Wenn Sie damit andeuten wollen, einer der Männer der 119
Company hätte ihm das antun können … ich versichere Ihnen, das ist völlig undenkbar.« »Ich will überhaupt nichts andeuten. Aber wenn es eine Tatsache ist, dürfen wir die nicht außen vor lassen. Wie sehr hat er sich denn in dieser North America Company engagiert?« »Das wusste der Mann nicht. Nur, dass Jammet sie irgendwann mal erwähnt hat.« »Und es ist ganz sicher, dass André in Sault war, als Jammet starb?« »Er lag bewusstlos in der Ecke einer Bar, den Angaben des Wirtes zufolge. Es wäre für ihn ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, zur gleichen Zeit Jammet in Dove River umzubringen.« Knox spürt Ärger über die Ereignisse des Abends in sich aufsteigen. Über Mackinleys Übereifer und seine Bestimmtheit, über die rohe, kraftvolle Gegenwart des Fremden, sogar über den unglücklichen Jammet und seinen unschönen Tod. In seiner kurzen Geschichte ist Caulfield immer eine friedliche Gemeinde gewesen, die nicht einmal ein Gefängnis hatte und auch keines brauchte. Doch in den letzten Tagen sieht er überall nur noch Gewalt und Verbitterung. Als er nach oben kommt, ist seine Frau noch wach. Obwohl dieser Parker ihnen jetzt aus den Augen ist, ist er doch in jedermanns Sinn. Möglicherweise ist ein Mörder in der Stadt, nur durch dünne Holzwände von ihnen getrennt. Der Mann hat etwas an sich, das es einem leicht macht, an seine Schuld zu glauben. Natürlich kann niemand etwas für sein Gesicht, und es sollte auch niemand danach beurteilt werden. Tut er das etwa gerade? »Manche Menschen machen es einem nicht leicht, sie zu mögen«, stellt er fest, als er sich auszieht. »Meinst du den Gefangenen oder Mackinley?« Knox gestattet sich ein unterdrücktes Lächeln. Er blickt ihr ins 120
Gesicht, sie sieht müde aus. »Geht es dir gut?« Er findet es wunderbar, wie sich ihr Haar wellt, wenn sie es öffnet. Es schimmert noch genauso braun wie damals, als sie geheiratet haben. Sie ist stolz auf ihr Haar und bürstet es jeden Abend fünf Minuten lang, so lange, bis es knistert und beginnt, an der Bürste zu haften. »Ich wollte dich genau dasselbe fragen.« »Es geht schon. Ich bin froh, wenn das alles hier vorbei ist. Mir ist Caulfield lieber, wenn es hier ruhig und langweilig ist.« Sie rückt zur Seite, als er zu ihr ins Bett steigt. »Hast du die anderen Neuigkeiten schon gehört?« An ihrer Stimme ist zu erkennen, dass es nichts Gutes sein kann. »Welche Neuigkeiten? Was gibt es denn?« Sie seufzt. »Sturrock ist hier.« »Sturrock, der Fahnder? In Caulfield?« »Ja. Mr Moody hat sich mit ihm getroffen. Anscheinend hat er Jammet gekannt.« »Gütiger Himmel.« Er ist stets aufs Neue verblüfft, was seine Frau so alles an Klatsch und Tratsch aufschnappt. »Gütiger Himmel«, wiederholt er leise. Er legt sich hin, und augenblicklich schwirren Zweifel durch seinen Kopf. Wer hätte gedacht, dass Jammet so viele unbekannte Verbindungen hatte? Irgendeine seltsame Macht geht von dieser leeren Hütte aus und lockt die unglaublichsten und unerwünschtesten Gestalten nach Caulfield, auf der Suche nach weiß Gott was. Thomas Sturrock hat er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, seit kurz nach Charles’ Tod nicht mehr. Er hat diese Begegnung zu vergessen versucht. Und so sehr er sich auch bemüht, es will ihm partout kein unschuldiger Grund für Sturrocks Anwesenheit einfallen. »Glaubst du, dass er es war?« »Wer?« Im ersten Augenblick weiß er nicht, wovon sie redet. »Wer! Der Gefangene natürlich. Meinst du, dass er es war?« »Schlaf jetzt«, murmelte Knox und gibt ihr einen Kuss. 121
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m Tag vor seiner Abreise verschwendete Donald kostbare Zeit damit, Scotts Laden nach einem Geschenk für Susannah zu durchstöbern. Er hatte zunächst erwogen, ihr einen Füllfederhalter zu kaufen. Doch auch wenn dies sicher ein passendes Abschiedsgeschenk gewesen wäre, hätte sie dies vielleicht als zu deutliche Aufforderung deuten können, ihr Versprechen einzuhalten und ihm zu schreiben. Die Auswahl an Präsenten war beschränkt, und letzten Endes entschied er sich dann für ein besticktes Taschentuch, wobei er schlicht ignorierte, dies könne eine Erwartung seinerseits implizieren, dass sie in seiner Abwesenheit weinen müsse – vermutlich käme sie nicht mal im Traum darauf. An jenem Nachmittag drückte Susannah sich stundenlang in der Bibliothek ihres Elternhauses herum, blätterte in einem Buch und wartete darauf, dass Donald zufällig hereinkommen könnte. Sie hätte genug Zeit gehabt, ein ganzes Buch zu lesen, bis er endlich merkte, was da vor sich ging, doch das tat sie nicht. Die meisten Romane in der Bibliothek waren langweilig, da entweder ihr Vater sie in jungen Jahren ausgesucht hatte oder Maria, deren Geschmack ohnehin eigenartig war. Donald hörte sie hüsteln und öffnete befangen die Tür, eine Hand auf dem Rücken. »Wir brechen morgen auf. Vor Sonnenaufgang, also werde ich Sie wohl nicht mehr sehen.« Hastig legte sie die Abhandlung übers Angeln aus der Hand und bedachte Donald mit einem ihrer unwiderstehlichen Seitenblicke. »Es wird sicher sehr langweilig sein ohne Sie.« Donald lächelte, während sein Herz im Brustkorb randalierte. »Ich hoffe, Sie finden es nicht vermessen, aber ich habe hier etwas für Sie. Ich wollte Ihnen etwas zum Abschied schenken.« 122
Er hielt ihr ein kleines Päckchen hin, eingewickelt in das braune Packpapier aus dem Laden und mit einem Band verschnürt. Susannah lächelte, öffnete es und zog das Taschentuch heraus. »Oh, das ist aber hübsch! Sie sind zu freundlich, Mr Moody.« »Bitte, nennen Sie mich Donald.« »Oh … Donald. Vielen Dank. Das werde ich immer bei mir tragen.« »Ich kann mir keine größere Ehre vorstellen.« Fast hätte er sich dazu hinreißen lassen, ihr zu sagen, wie sehr er dieses Taschentuch beneidete, doch dann verließ ihn der Mut, was vielleicht auch besser war. Was er nicht wusste war, dass Susannah genau so eins schon besaß, im selben Laden gekauft und ihr überreicht vor nicht einmal einem Jahr von einem verliebten Dorfjungen. Doch nun errötete Susannah, und die zarte Farbe auf ihren Wangen ließ sie von innen leuchten. »Jetzt machen Sie mich verlegen, weil ich gar nichts habe, was ich Ihnen zum Dank dafür geben könnte.« »Sie brauchen mir nichts zu geben.« Wieder war er kurz davor, es zu wagen, sie um einen Kuss zu bitten, doch wieder verließ ihn der Mut. »Ich wünsche mir nur, dass Sie mir hin und wieder schreiben, wenn Sie nicht allzu beschäftigt sind.« »O ja, ich werde Ihnen schreiben. Und vielleicht schreiben Sie mir auch gelegentlich zurück, wenn Sie nicht allzu beschäftigt sind.« »Jeden Tag«, versicherte er unbesonnen. »Ach, ich denke, dafür werden Sie viel zu viel zu tun haben. Ich hoffe doch, es wird nicht … gefährlich.« Die wenigen verbleibenden Minuten in der Bibliothek verstrichen wie in einem süßen Nebel. Donald wusste nicht, was er nun sagen sollte, spürte aber, dass der Ball ins Rollen gekommen war, und traute sich schließlich, ihre Hand in seine zu nehmen. Dann schlug jemand auf den riesigen fernöstlichen Gong, der in der Eingangshalle stand – das Zeichen fürs 123
Abendessen –, und sie zog die Hand fort. Wer weiß, was sonst noch passiert wäre. Ihm wird schwindlig, wenn er nur daran denkt. Es gibt nur zwei Wege, Dove River zu verlassen: in südlicher Richtung der Bucht entgegen, oder indem man durch die Wälder dem Flussverlauf in Richtung Norden folgt. Jacob nimmt die Spur hinter dem Hof der Prices auf. Angus Ross hat ihnen erzählt, dass er Anzeichen dafür gefunden hat, Francis könne am Shallow Lake vorbeigekommen sein, und Jacob hält unterwegs dorthin nur inne, um sich die Spuren etwas genauer anzusehen und abzuschätzen, ob sie von dem Jungen stammen könnten. Der Weg ist frei, sie kommen zügig voran. Am frühen Nachmittag erreichen sie den See. Jacob kniet sich auf den Boden und sieht sich die Spuren etwas genauer an. »Es ist schon ein paar Tage her, aber hier ist mehr als eine Person vorbeigekommen.« »Gleichzeitig?« Jacob zuckt die Achseln. »Es könnte dieser französische Händler gewesen sein. Er ist doch auch hier durchgekommen, nicht wahr?« »Mehr als eine Person sind in diese Richtung gegangen: zwei Paar Fußspuren, verschieden groß.« Etliche Meilen folgen sie der Spur. An der Stelle, wo ein Nebenfluss in den Dove River strömt, biegt ein Pfad nach Westen ab und folgt dem kleineren Fluss. Der Boden dort ist steinig, es sind keine Spuren zu erkennen. Donald stapft einfach hinter Jacob her in der Annahme, dass er schon wisse, was er da tut, ist aber doch erleichtert, als sie an einem Flecken Erde nahe des Ufers vorbeikommen, wo Schuhe gut sichtbar Laub und Moos in den Schlamm gepresst haben. »Angenommen, er ist seit sechs, sieben Tagen zu Fuß unterwegs. Und er ist müde und hungrig. Dann sind wir auf jeden Fall schneller. Wir können ihn einholen.« 124
»Aber wo will er nur hin? Wohin führt dieser Weg?« Jacob weiß es nicht. Der Pfad führt immer weiter, windet sich durch den Wald am Flussufer entlang, steigt stetig an, und doch gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass er irgendwo anders hinführt als in die grenzenlose Wildnis. Sie machen Halt, solange es noch hell ist, und Jacob zeigt Donald, wie man aus Zweigen einen Unterschlupf baut. Obwohl er seit über einem Jahr in Kanada lebt, ist dies Donalds erste Kostprobe der einheimischen Lebensweise, und er ist aufgeregt wie ein Kind angesichts dieser ungewohnten Erfahrung. Er legt seine Vergangenheit und seine kultivierte, pedantische Hülle ab und wird endlich ein Mann der Tat, ein rauer Grenzbewohner, ein echter Company-Abenteurer. Er schwelgt in der Vorstellung, wie er den Männern zu Hause in Fort Edgar von seinen Erlebnissen berichten wird. Nachdem sie den Unterschlupf aufgebaut und ein Feuer entfacht haben und Jacob einen Brei aus Fleisch und Mais gekocht hat, hockt Donald sich ans Feuer und holt Papier und Stift hervor, um Susannah zu schreiben. Er hat noch nicht darüber nachgedacht, wie die Briefe sie erreichen sollen, aber vermutlich werden sie auf dem Weg irgendwann eine Siedlung passieren, von wo aus er sie dann zustellen lassen kann. Er schreibt: »Liebe Susannah« und hält dann inne. Soll er ihr den heutigen Marsch schildern, den Wald mit seinem dunklen Grün und dem flammenden Gelb, die lila schimmernden Felsen, die durch das leuchtende Moos ragen, ihre Schlafgelegenheit? Er verwirft diese Gedanken, weil er fürchtet, sie damit zu langweilen, und schreibt stattdessen: »Es war höchst interessant …«, ehe er der Wärme des Feuers erliegt und einschläft, sodass Jacob ihn wachrütteln und unter das Dach aus Birkenzweigen schubsen muss, wo er sich auf die Tannenzweige fallen lässt. Die Erschöpfung trifft ihn wie ein Vorschlaghammer, und er ist zu müde, als dass ihm auffiele, wie der Mond zwischen den Bäumen ätherische Schatten wirft, und ganz sicher viel zu müde, 125
um zu bemerken, wie Jacob den Lichthof aus Eiskristallen betrachtet, der ihn umgibt, und dabei die Stirn runzelt. Über die Jahre habe ich eine bemerkenswerte, wenn auch recht eklektische Büchersammlung zusammengetragen, und einige meiner Schätze habe ich gerade Ida ausgeliehen. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter ist sie sehr dankbar, und es scheint sie wirklich zu rühren, dass ich ihr etwas derart Wertvolles anvertraue. Noch vor einer Woche hätte ich das auch nicht getan, doch nun scheinen selbst meine kostbarsten Besitztümer unwichtig. Eins der Bücher, das ich ihr geliehen habe, ist mein Wörterbuch, das ich in den vergangenen zwanzig Jahren gehütet habe wie meinen Augapfel. Während der Zeit im Irrenhaus habe ich es immer bei mir gehabt, um meinen Mangel an Bildung wettzumachen. Ida hat ausdrücklich danach gefragt, da es im Haushalt der Prettys nichts Vergleichbares gibt. Meine Mutter hat es mir gegeben, kurz bevor sie starb, als wolle sie mich damit für ihre Abwesenheit entschädigen, unter der ich bald zu leiden gehabt hätte. Ein ziemlich schwacher Trost, mag man denken, aber recht brauchbar. Ich konnte es nicht ausstehen, in Büchern Wörter zu lesen, die ich nicht verstand, und schlug sie hartnäckig nach: »transparent«, »Xanthippe«, »suggerieren«. Nach ihrem Tod schlug ich »Freitod« nach. Ich dachte, das könnte mir dabei helfen zu verstehen, warum sie es getan hatte. Die Definition war klar und prägnant, zwei Dinge, die sie nie war. »Der Akt der willentlichen Beendigung des eigenen Lebens« klang so zielgerichtet und gewaltsam, doch meine Mutter war verträumt und sanft und oft geistesabwesend. Ich fragte meinen Vater, ob er es mir erklären könne – ich nahm an, er müsse sie besser gekannt haben als ich. Er tobte und polterte, das sei Unsinn – so etwas hätte sie nie tun können, und es sei Sünde, das auch nur zu denken. Und zu meiner unendlichen Verwirrung weinte er dann. Ich schlang die Arme um ihn und versuchte, ihn zu trösten, 126
während er hilflos schluchzte. Nach ein oder zwei Minuten scheinbarer Nähe zwischen Vater und Tochter, die jedoch nichts änderte – ein oder zwei Minuten, die mir wie Stunden erschienen –, ließ ich ihn los und ging aus dem Zimmer. Er schien es nicht einmal zu merken. Ich glaube, keiner von uns beiden kannte sie richtig. Später ging mir auf, dass er wütend geworden war, weil ich die Wahrheit entdeckt hatte. Ich glaube, er gab sich die Schuld dafür, und deshalb hat er mich sicher auch in die Anstalt gesteckt, aus Angst, meine Mutter in die Depression getrieben zu haben, aus Angst, mit mir könne dasselbe passieren. Er war kein anregender Mensch, und vermutlich hatte er sogar Recht. Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, nicht zu werden wie meine Eltern. Jetzt, wo ich langsam in das Alter komme, in dem meine Mutter war, als sie gestorben ist, weiß ich nicht so recht, ob mir das wirklich geglückt ist: Mein einziges Kind ist unter entsetzlichen Umständen davongelaufen, und das kann ich wohl kaum alles auf sein irisches Erbe schieben. Ich habe bei seinem Schicksal zweifelsohne eine Rolle gespielt, ich weiß nur noch nicht, wie groß sie war. Es ist tröstlich für mich, mit Ida zu reden, die heute schon viel fröhlicher ist, zumal sie mich mit neuem Klatsch versorgt über den Mann, der in Caulfield im Warenlager eingesperrt ist. Ida ist sehr gut darin, Scott nachzuahmen, wie er entrüstet die Backen aufblies, als man ihm mit dem Ansinnen kam, seinen kostbaren Hausbesitz für einen solchen Zweck zur Verfügung zu stellen. Und sie erzählt noch etwas Interessantes – ihre Brüder haben Hinweise dafür gefunden, dass der Mann auf dem Weg zu Jammets Farm ihr Haus passiert hat, was bedeuten würde, dass er von Norden gekommen ist. Was wiederum hieße, dass er möglicherweise Francis gesehen hat. Und was heißt, dass ich, auch wenn er ein Schurke ist, hingehen und ihn fragen muss. Und kurz bevor sie geht, erwähnt sie auch noch Thomas Sturrock, der bei den Scotts abgestiegen ist. Ob ich diesen 127
berühmten Indianer-Fahnder kenne, der die Seton-Mädchen nicht hatte aufspüren können? Die ganze Stadt rede darüber. Ich nicke gedankenverloren und sage, ich hätte so was schon läuten hören. Ich frage mich, warum er das nicht erwähnt hat, als wir darüber gesprochen haben. Wieder einmal ein gutes Beispiel dafür, dass ich immer alles als Letzte erfahre. Wie erwartet macht Knox großes Aufhebens um meine Bitte, mit dem Gefangenen sprechen zu dürfen. Er wendet ein, ich würde ohnehin nichts aus dem Mann herausbekommen, sie hätten ihn bereits befragt, es könne der Sache hinderlich sein, es wäre unpassend, und schließlich, es könne gefährlich sein. Ich bleibe sachlich. Ich weiß, wenn ich lange genug hierbleibe und mich schlichtweg weigere zu gehen, wird er irgendwann nachgeben, und das tut er dann auch, unter reichlich Kopfschütteln und finsterem Seufzen. Ich versichere ihm, dass ich keine Angst vor dem Mann habe, ganz gleich, wie furchterregend er auch aussehen mag – dass er viel zu verlieren hat, wenn er sich danebenbenimmt (es sei denn, er wird verurteilt, dann wäre es wohl völlig gleich, für wie viele Morde er gehängt wird, doch das sage ich natürlich nicht). Wie dem auch sei, Knox besteht darauf, einen seiner Bediensteten mitzuschicken, der Anweisung hat, neben der Tür zum Lagerhaus sitzenzubleiben und alles im Auge zu behalten. Adam schließt die Tür zum Lagerhaus auf, aus dem man so viele Waren herausgeräumt hat, dass der Gefangene in einem Meer der Leere gestrandet zu sein scheint. Zwei kleine Fenster gibt es, gleich unter dem Dach, die kaum eine Fluchtmöglichkeit bieten, aber er ist ohnehin auf einer Palette zusammengesunken und nimmt keine Notiz davon, als die Tür aufgeht. Er könnte auch geschlafen haben – denn er rührt sich erst, als Adam ihn ruft, woraufhin er sich langsam aufsetzt und eine dünne Decke um sich zieht. Es brennt kein Feuer, die Kälte scheint hier drin noch beißender und gemeiner als draußen. 128
Ich wende mich an Adam. »Wollen Sie den Mann erfrieren lassen?« Adam murmelt irgendetwas von »Alles bis auf die Grundmauern niederbrennen«, und ich befehle ihm, ein paar heiße Steine für die Füße zu holen und etwas Kaffee. Adam schaut mich verwundert an. »Ich darf Sie nicht allein lassen.« »Auf der Stelle holen Sie die Sachen. Machen Sie sich nicht lächerlich, wir können doch in dieser Kälte nicht hier sitzen und uns unterhalten.« Ich starre ihn mit dem gebieterischsten Blick an, den ich auf Lager habe, bis er schließlich geht und zu meiner Beunruhigung die Tür hinter sich abschließt. Der Gefangene sieht mich nicht an, sondern sitzt still wie eine Statue da. Ich rücke einen Stuhl bis auf ein paar Fuß an die Palette heran und setze mich. Ich bin aufgeregt, aber fest entschlossen, mir das nicht anmerken zu lassen. Wenn ich will, dass er mir hilft, muss ich versuchen, ihm den Eindruck zu vermitteln, ich würde ihm vertrauen. »Mr Parker.« Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich es ausdrücken soll. »Ich heiße Mrs Ross. Ich bin hergekommen, weil ich Sie um Hilfe bitten möchte. Entschuldigen Sie bitte, dass ich dazu die Gelegenheit ausnutze, dass Sie hier … festgehalten werden.« Er sieht mich nicht an und lässt auch sonst nicht erkennen, dass er meine Anwesenheit in irgendeiner Form zur Kenntnis nimmt. Mir kommt in den Sinn, dass er möglicherweise etwas schwerhörig sein könnte. »Mr Parker«, fahre ich etwas lauter fort, »soweit ich gehört habe, sind Sie aus dem Norden gekommen und haben dabei Shallow Lake passiert.« Nach langem Schweigen sagt er leise: »Was kümmert Sie das?« »Mich kümmert es, weil ich einen Sohn habe, Francis. Vor sieben Tagen ist er einfach so weggegangen. Ich glaube, er ist in Richtung Norden unterwegs. Er kennt dort niemanden. Ich 129
mache mir Sorgen. Ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht irgendetwas gesehen haben …? Er ist erst siebzehn. Er hat … dunkle Haare. Ist recht schmal.« Damit ist es raus. Ich kann es nicht anders ausdrücken, und außerdem hat sich mir die Kehle so zugeschnürt, dass ich nicht weiß, ob ich noch ein weiteres Wort herausbringe. Parker scheint nachzudenken. Sein Gesicht wirkt nicht mehr so leer, und seine schwarzen Augen sind auf mich gerichtet. »Vor sieben Tagen?« Ich hätte mich in den Hintern treten können. Ich hätte acht sagen sollen. Oder neun. Ich nicke. »Und Jammet wurde vor sechs Tagen gefunden.« »Mein Sohn hat ihn nicht umgebracht, Mr Parker.« »Woher wissen Sie das?« Wut steigt in mir auf angesichts dieser Frage. Ich weiß es eben. Ich bin seine Mutter. »Er war sein Freund.« Daraufhin tut Parker etwas sehr Unerwartetes: Er lacht. Wie seine Stimme ist sein Lachen tief und rau, aber nicht unangenehm. »Ich war auch ein Freund von ihm. Und doch scheinen Mr Knox und Mr Mackinley zu glauben, ich hätte ihn umgebracht.« »Nun ja …« Mich erwischt diese unerwartete Wendung auf dem falschen Fuß. »Ich glaube, das liegt daran, dass sie Sie nicht kennen. Aber ich glaube, ein unschuldiger Mann würde sein Möglichstes tun, um einer Frau in meiner Lage zu helfen. Das würde seinen Charakter in einem guten Licht erscheinen lassen.« Bilde ich mir das nur ein, oder lächelt er tatsächlich? Seine heruntergezogenen Mundwinkel zucken ein wenig. »Wenn ich Ihnen helfe, glauben Sie, Mr Mackinley würde mich dann freilassen?« Ich weiß nicht, ob er das sarkastisch meint. »Das kommt wohl auf Umstände an, von denen ich nichts weiß, Mr Parker, beispielsweise darauf, ob Sie schuldig sind oder nicht.« 130
»Das bin ich nicht. Und Sie?« »Ich …« Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. »Ich habe ihn gefunden. Ich habe gesehen, was man ihm angetan hat!« Das scheint ihn doch sehr zu überraschen. Und mir drängt sich ganz stark der Eindruck auf, dass er wissen will, was ich gesehen habe. Und, so schießt es mir durch den Kopf, wenn er das wissen will, dann ist es naheliegend, dass er es nicht gewesen ist. »Sie haben ihn gesehen? Man hat mir nicht gesagt, was passiert ist.« Wenn er lügt, ist er ein guter Schauspieler. Er beugt sich vor. Ich versuche nicht zurückzuweichen, aber sein Gesicht ist furchteinflößend. Ich kann seinen Zorn fast mit Händen greifen. »Erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben. Vielleicht kann ich Ihnen dann helfen.« »Das kann ich nicht. Ich kann mit Ihnen keinen Tauschhandel abschließen.« »Warum sollte ich Ihnen dann helfen?« »Warum sollten Sie nicht?« Unvermittelt steht er auf und marschiert bis zur Wand des Lagers – es sind nur ein paar Schritte, aber ich kann mich nicht beherrschen und zucke zusammen. Er seufzt. Womöglich ist er daran gewöhnt, dass Menschen Angst vor ihm haben. Ich frage mich, wo Adam mit dem Kaffee bleibt – es kommt mir vor, als sei er seit mindestens einer Stunde fort. »Ich bin ein Halbblut und werde des Mordes an einem Weißen beschuldigt. Meinen Sie, die geben einen Pfifferling darauf, dass er mein Freund war? Meinen Sie, die glauben mir auch nur ein Wort?« Parker steht in einer besonders dunklen Ecke des Lagers, sodass ich sein Gesicht nicht sehen kann. Dann geht er wieder zu seinem Palettenbett. »Ich bin müde. Ich will versuchen, mich zu erinnern. Fragen 131
Sie mich morgen noch mal.« Er legt sich auf das Bett, deckt sich zu und dreht mir den Rücken zu. »Mr Parker, ich flehe Sie an, noch einmal darüber nachzudenken.« Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob ich mir noch einmal Zugang zu ihm werde verschaffen können. »Mr Parker …?« Als Adam zurückkommt, stehe ich direkt hinter der Tür und warte. Er sieht mich erstaunt an, und die Kaffeekanne dampft wie ein Miniaturvulkan in der feuchtkalten Luft. »Mr Parker und ich sind fürs Erste fertig«, erkläre ich ihm. »Aber lassen Sie den Kaffee doch bitte da.« Adam wirkt darüber nicht glücklich, tut aber, wie ihm geheißen, und stellt die Kanne und eine Tasse in einem Sicherheitsabstand von der Palette ab. Und wie es scheint, war das wohl alles.
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ndrew Knox wünscht sich manchmal, er wäre nicht der aufrechte Gemeindeälteste, der er geworden ist. Als er sich von seinem Richteramt zurückzog, war es, um all diesen Menschen zu entkommen, die ihn anflehten, für Ordnung in ihrem verworrenen, unübersichtlichen Leben zu sorgen. Menschen, die logen und betrogen und dennoch dachten, die ganze Welt habe sich gegen sie verschworen, und deren Probleme, ganz gleich, welche Untaten sie auch begangen hatten, nie ihre eigene Schuld waren. Als reichte es noch nicht, dass die ganze Stadt in Aufruhr war, weil ein potenzieller Mörder mitten unter ihnen weilte, stand heute Morgen auch noch John Scott in seinem Arbeitszimmer und beschwerte sich, er brauche sein Lager zurück oder verlange zumindest eine ordentliche Entschädigung dafür, das Gebäude zum Wohle der Allgemeinheit der Stadt zu überlassen, wie er sich ausdrückte, sonst würde er die Sache vor die Regierung bringen. Knox hatte ihm dabei alles Gute gewünscht. Andere Einwohner haben ihn auf der Straße zur Rede gestellt, warum der Übeltäter noch nicht in ein richtiges Gefängnis überstellt worden sei – niemand scheint auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken, dass er unschuldig sein könnte. Und Mackinley hat keine Eile abzureisen – Knox hat den Verdacht, dass er dem Mann unter allen Umständen ein Geständnis entlocken will, damit er das Urteil wie eine Trophäe herumzeigen kann. Knox fühlt sich wie ein Gefangener des Geltungshungers ehrgeiziger Männer, und damit will er nichts mehr zu tun haben. Und dann ist da noch die Sache mit Sturrock, die er nicht einfach ignorieren kann. Mary klopft an die Tür und teilt ihm mit, Mrs Ross wolle ihn sprechen – schon wieder. Die Frau lässt ihm einfach keine Ruhe. Er nickt und seufzt stumm – er hat das ungute Gefühl, dass, 133
wenn er nein sagen würde, sie eben in der Eingangshalle warten könnte – oder sogar, Gott bewahre, auf der Straße. »Mr Knox …« setzt sie schon an, noch ehe die Tür hinter ihr zugegangen ist. »Mrs Ross, ich darf doch annehmen, dass das Gespräch hilfreich war?« »Er wollte nicht reden. Aber er weiß etwas. Ich muss unbedingt morgen noch einmal wiederkommen.« »Das kann ich nicht zulassen, verstehen Sie …« »Er war es nicht.« Sie klingt, als sei sie sich ihrer Sache ganz sicher, sodass er sie mit offenem Mund anstarrt, bis ihm einfällt, ihn wieder zuzumachen. »Warum sind Sie sich da so sicher? Weibliche Intuition?« Sie lächelt sarkastisch – ein unschöner Zug an einer Frau. »Er wollte wissen, wie Jammet gestorben ist. Er wusste es nicht. Und ich bin mir sicher, er weiß etwas über Francis. Aber er traut Mackinley nicht, dass er unparteiisch ist, einem … einem Halbblut gegenüber.« Knox argwöhnt, dass Parker auch ihm nicht traut und sie nur diplomatisch ist. »Vielleicht wissen Sie dann ja auch, was er in Jammets Hütte zu suchen hatte.« »Ich werde ihn fragen.« Knox runzelt die Stirn. Das Ganze entgleitet ihm. Er vergisst, dass er sich noch einen Moment zuvor gewünscht hat, von allen Pflichten entbunden zu sein – aber die Vorstellung, eine Bauersfrau könne sie ihm aus den Händen nehmen, ist einfach zu absurd. »Es tut mir leid, aber das kommt nicht in Frage. Wir werden den Gefangenen so bald als möglich fortbringen. Ich kann es nicht zulassen, dass jeder, dem gerade danach ist, hingeht und mit ihm redet.« »Mr Knox.« Sie macht einen Schritt auf ihn zu, fast, als wolle sie ihn (wäre sie ein Mann) bedrohen. »Mein Sohn ist irgendwo 134
da draußen in der Wildnis, und die Männer der Company werden ihn womöglich nicht finden. Vielleicht hat er sich verirrt. Vielleicht ist er verletzt. Er ist noch ein Junge, und wenn Sie mich daran hindern, so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen, dann sind Sie möglicherweise verantwortlich für seinen Tod.« Knox muss sich zusammenreißen, um nicht vor ihr zurückzuweichen. Sie hat irgendetwas Besonderes an sich – oder vielleicht ist es auch bloß das Gefühl der Unzulänglichkeit, das große, gut aussehende Frauen bei ihm wecken. Mit einem Blick in ihre unnachgiebigen Augen wird ihm klar, wie entschlossen sie ist. »Ich hätte gedacht, wenn jemand versteht, was es heißt, ein Kind zu verlieren, dann Sie. Und Sie wollen mir mögliche Hilfe versagen?« Knox seufzt, aufgebracht, dass sie die Tragödie um die Setons gegen ihn verwendet, weiß aber auch, dass er deshalb nachgeben wird. Sollte der Junge sich tatsächlich nur verlaufen haben, möchte er lieber nicht an die Konsequenzen denken. Und vielleicht muss Mackinley es ja gar nicht wissen. Wenn er diskret vorgeht, wird niemand es je erfahren. Er sagt ihr, sie solle am nächsten Morgen wiederkommen, ganz früh, und mahnt sie noch einmal zur Verschwiegenheit. Als sie geht, seufzt er erleichtert. Er nimmt an, dass es nur natürlich ist, dass eine Mutter so handelt, um ihren Sohn zu schützen. Es wäre nur natürlicher (und er könnte viel eher Mitgefühl empfinden), würde sie weinen oder sonst irgendwie weibliche Schwäche zeigen. »Mr Knox!« Mackinley kommt hereingestürmt, ohne anzuklopfen. Der Mann wird wirklich immer unerträglicher. Er stolziert durchs Haus, als sei es seins. »Ich glaube, noch ein Tag sollte reichen, meinen Sie nicht?« Resigniert sieht Knox ihn an. »Reichen wofür, Mr Mackinley?« 135
»Um ein Geständnis zu bekommen. Man muss es ja nicht unnötig in die Länge ziehen.« »Und wenn er nicht gesteht?« »Ach, ich denke, das dürfte kein Problem sein.« Mackinley lächelt verschlagen. »Beraubt man diese Burschen erst mal ihrer Freiheit, kriechen sie bald zu Kreuze. Sie halten es nicht aus, eingesperrt zu sein. Da sind sie wie die Tiere.« Knox sieht ihn hasserfüllt an. Mackinley bemerkt es nicht. »Ich dachte, ich versuche es vor dem Abendessen noch einmal.« »Ich habe dringende Schreibarbeiten zu erledigen. Kann das nicht warten?« »Ich wüsste nicht, weshalb Sie sich bemühen sollten, Mr Knox. Ich bin sehr wohl in der Lage, ihn auch allein zu befragen.« »Ich finde, es wäre … korrekter, wenn wir beide anwesend wären.« »Ich glaube nicht, dass mir irgendeine Gefahr droht.« Er schlägt die Jacke zurück, unter der im Hosenbund ein Revolver aufblitzt. Knox spürt Wut in sich aufsteigen. »Ich dachte dabei weniger an Ihre eigene Sicherheit, Mr Mackinley. Sondern eher daran, dass Sie mehr als einen Zeugen brauchen, der bestätigt, was immer er sagt.« »Dann nehme ich Adam mit, wenn das Ihre einzigen Bedenken sind. Den Schlüssel bitte.« Knox beißt sich auf die Zunge und öffnet die Schublade, in der er die beiden Schlüssel für das Lagerhaus verwahrt. Er erwägt kurz, es sich doch noch einmal anders zu überlegen. Irgendwie sieht er Mackinley fast als Verbrecher, und das ist er nicht, sondern ein angesehener Angestellter der Company. Er reicht ihm den Schlüssel und ringt sich ein Lächeln ab. »Adam müsste in der Küche sein.«
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Als Mackinley fort ist, hört Knox erhobene Stimmen aus dem Salon. Seine Töchter streiten sich. Er überlegt kurz einzuschreiten, wie früher, als sie noch kleiner waren, aber dazu fehlt ihm die Kraft. Und außerdem sind die beiden inzwischen erwachsene Frauen. Er lauscht auf die vertrauten Geräusche: auf Susannahs in Tränen aufgelöste Stimme, auf Marias oberlehrerhaften Ton, der ihn zusammenzucken lässt, hört eine Tür, die zugeschlagen wird, und dann schnelle Schritte die Treppe hinauf. In der Tat, seine Töchter benehmen sich wie erwachsene Frauen.
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turrock hat sich gerade mit Mrs Scott unterhalten, und nun blickt sie in ihrer gewohnt nervösen Art auf und sieht mich an, vermutlich fürchtet sie, es könne ihr Mann sein, der etwas zu meckern hat. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass die beiden ein recht vertrauliches Gespräch geführt haben: Als ich den Laden betrete, rücken sie unmerklich voneinander ab, wie zum Zeichen, dass die Vertraulichkeit nun ein Ende hat. Ich bin verstimmt, hatte ich doch angenommen, ich sei seine Mitverschwörerin. Wie es scheint, hat Sturrock es sich zur Gewohnheit gemacht, mit den Ehefrauen anderer Männer Gespräche im Flüsterton zu führen. Er dreht sich zu mir um, lächelt und beugt den silbergrauen Kopf. »Mrs Ross. Sie haben den wärmsten und einladendsten Ort von ganz Caulfield gefunden an diesem kalten Tag.« Ich nicke ein wenig steif. Aus irgendeinem Grund hatte ich fast erwartet, er würde so tun, als kennte er mich nicht. »Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Mrs Ross? Aufs Haus?« Mrs Scott sieht mich ungewohnt freimütig an. Mr Sturrocks Anwesenheit scheint ihr die Courage zu verleihen, freigiebig mit dem Kaffee ihres Gatten umzugehen. »Danke. Das wäre sehr angenehm.« Ich hätte ihn sogar zu ihrem unverschämten Preis genommen. Ich war völlig durchgefroren. Lagerhauskalt. Mordskalt. Dem zum Trotz, was ich vor Mr Knox behauptet habe, habe ich nicht die geringste Ahnung, ob Parker ein Mörder ist oder nicht. Meine Gewissheit, dass er nicht wusste, was Jammet zugestoßen ist, schwand in dem Augenblick, als Adam das Vorhängeschloss an der Tür absperrte. »Sie haben mir gar nicht erzählt, dass Sie Mr Knox kennen«, sage ich, um es hinter mich zu bringen, und wünsche mir, ich 138
klänge nicht so gereizt. »Das habe ich wohl wirklich nicht. Tut mir leid.« »Sie hätten zu ihm gehen und ihn nach Jammets Habe fragen können. Sie hätten nicht herumschleichen müssen wie ein Dieb.« Wie ich. Ich fühle mich verraten. Ich mochte ihn lieber, als er noch so heimlichtuerisch war wie ich. »Meine Bekanntschaft mit Knox ist lange her. Ich glaube nicht, dass er mich heute überhaupt noch wiedererkennen würde.« »Weiß er, dass Sie hier sind?« »Ich glaube, er kann es wohl schwerlich nicht wissen.« »Ich möchte meine Nase ja nicht in fremde Angelegenheiten stecken. Ich fühle mich nur … benachteiligt.« Eine Weile nippen wir schweigend an unserem Kaffee. »Ich wollte Sie neulich Abend nicht in die Irre führen, Mrs Ross, bitte glauben Sie mir. Manchmal ist man enttäuscht über die Rolle, die man in einer Geschichte spielt. Wir wollen doch alle gern der Held sein, nicht wahr? Der Held der Geschichte oder … gar nichts.« »Ich bin mir sicher, Sie haben Ihr Äußerstes getan.« Er seufzt. Ich bin geneigt, ihm zu glauben, auch wenn mir bewusst ist, dass dies wohl eher an seiner charmanten Art liegt als an meiner berühmten unbestechlichen Menschenkenntnis. »Wenn sie unauffindbar waren, dann gab es nichts, was Sie hätten tun können, um sie aufzuspüren.« Er lächelt. »Aber manche behaupten, wie ich gehört habe, ich hätte zu lange gesucht und damit die Hoffnung am Leben erhalten, die längst hätte tot und begraben sein sollen.« »Wenn Eltern die Hoffnung nicht aufgeben wollen, dann kann nichts und niemand sie davon abbringen.« Es klingt schärfer als beabsichtigt, und Sturrock sieht mich mit einem beredt mitfühlenden Blick an, den ich schon einmal bei ihm gesehen habe. Die Zynikerin in mir fragt sich, wie viele von 139
Angst gepeinigte Familien diesen Blick schon gesehen und Trost daraus geschöpft haben. Wobei ich in meiner Lage natürlich keinen Trost brauche, sondern Taten. Etwas, das sich schon lange in mir regt, etwas Namenloses, Erschreckendes, nimmt plötzlich Gestalt an. Und ich weiß, dass ich mich nicht mehr auf andere verlassen kann, auf niemanden. Man wird immer enttäuscht.
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nox sucht Sturrock im Haus der Scotts auf. Er meldet sich bei dem Dienstmädchen an, und Scott kommt heraus und begrüßt ihn. Er sieht ihn mit unverhohlener Neugier an, doch Knox verrät den Grund seines Besuchs nicht. Sollen sie sich doch alle das Maul zerreißen (was sie ohnehin tun werden, auch ohne seine Billigung), es geht sie nichts an. Vielleicht werden sie glauben, Sturrock sei ebenfalls ein Tatverdächtiger. Man führt ihn zu dem auf der Rückseite des Hauses gelegenen Zimmer, das Scott an Handelsreisende vermietet. Der Dienstbote klopft an die Tür, und als Sturrock antwortet, geht Knox hinein. Thomas Sturrock ist gealtert, seit er ihn das letzte Mal gesehen hat. Aber das muss nun auch schon zehn Jahre her sein – und die Jahre zwischen fünfzig und sechzig können bei einem Mann den Unterschied zwischen der Blüte der Jahre und Altersschwäche machen. Knox fragt sich, ob er selbst sich auch so verändert hat. Sturrock wirkt ungebeugt und elegant wie immer, aber dünner, ausgezehrter, zerbrechlicher. Er steht auf, als Knox eintritt, und verbirgt sein Erstaunen oder was immer er verspüren mag hinter einem unbeschwerten Lächeln. »Mr Knox. Ich sollte mich wohl nicht wundern.« »Mr Sturrock.« Sie geben sich die Hand. »Ich hoffe, es geht Ihnen gut.« »Es gelingt mir, Dinge zu finden, die mich auch im Ruhestand auf Trab halten.« »Gut. Ich nehme an, Sie wissen, weshalb ich hergekommen bin.« Sturrock zuckt übertrieben die Achseln. Selbst mit ausgefransten Ärmelaufschlägen und leicht verschmutzter Hose wirkt er geckenhaft. Das hat seinen Ruf auch nicht gerade verbessert. 141
Knox ist das Ganze sehr unangenehm. Er hatte ganz vergessen, welche Wirkung Sturrock auf andere hat, und hätte sich beinahe einreden lassen, die Geschichte, die in Caulfield die Runde macht, entspreche der Wahrheit. »Das mit … Sie wissen schon … tut mir leid. Ich weiß, wie die Leute tratschen. Das muss sehr unangenehm sein.« Sturrock lächelt. »Ich bin nicht versucht, ihnen zu widersprechen, falls das Ihnen Sorgen bereitet.« Knox nickt erleichtert. »Es ist wegen meiner Frau. Ihretwegen mache ich mir Sorgen. Es wäre so eine Qual für sie und für meine Töchter … Das werden Sie doch sicher verstehen.« »Ja, natürlich.« Er stimmt ihm nicht zu, wie Knox bemerkt. Er kann ihm nicht vertrauen. Er will seinen guten Ruf zurück. »Wie dem auch sei, was führt Sie nach Caulfield? Mir sind allerhand merkwürdige Geschichten zu Ohren gekommen.« »Die entsprechen wohl der Wahrheit«, erwidert Sturrock mit einem Lächeln. In diesem Augenblick hört Knox ein Knacken vor der Tür. Lautlos steht er auf und öffnet. Dort steht John Scott mit einem Tablett in der Hand und versucht, so zu tun, als sei er gerade erst gekommen. »Ich dachte, Sie möchten vielleicht ein kleines Schlückchen«, erklärt er mit wenig überzeugender Herzlichkeit. »Danke.« Knox nimmt das Tablett mit strengem Blick entgegen. »Wie nett von Ihnen. Ich nehme an, Sie brauchen meine Unterstützung für Ihren Antrag auf Entschädigung?« Scott zieht ein mürrisches Gesicht, und dann wird er, um die Lage zu retten, verschwörerisch. »Ein interessanter Mann«, wispert er und deutet mit dem Kopf in Sturrocks Richtung. Scotts Gesicht glüht beunruhigend rosa und glänzt im Licht der Lampe. Knox muss plötzlich an das Schwein denken, das auf dem Hof seiner Eltern immer kokett nach Leckereien schnüffelte und dabei die Nase durch die Hecke am Ende des 142
Gartens steckte. So sehr verblüfft ihn dieser Zusammenprall konträrer Bilder, dass er bloß nickt und die Tür mit dem Fuß zustößt. Er stellt das Tablett auf den Tisch. »Mr Scott ist nicht nur unser Lebensmittelhändler, Müller und Vorzeige-Unternehmer, sondern auch noch die örtliche Tageszeitung.« Er gießt Sturrock ein Glas Whisky ein. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein während Ihres Aufenthalts bei uns? Außer natürlich, Ihnen ein Zimmer in meinem Haus anzubieten, was sehr … unangebracht wäre.« »Wie nett, dass Sie fragen.« Sturrock scheint darüber nachzudenken, was er aber eigentlich gar nicht braucht. Er erzählt Knox vom Grund seines Besuchs, und Knox verspricht, sein Bestes zu tun, auch wenn ihn dieses Anliegen insgeheim verwirrt. Eine halbe Stunde später und um etliche Dollar erleichtert verlässt er das Haus und merkt, wie seine Füße ihn zum Lagerhaus tragen, das drohend wie ein großer, fensterloser Monolith hinter den beleuchteten Wohnhäusern aufragt. Draußen bleibt er stehen – es ist fast dunkel – und lauscht auf Geräusche von drinnen. Als er nichts hört, nimmt er den zweiten Schlüssel heraus, zuversichtlich, dass Mackinley bereits fort ist. Noch ehe sich seine Augen an die Dunkelheit drinnen gewöhnt haben, merkt er, dass irgendetwas nicht stimmt. Der Gefangene dreht sich nicht zu ihm um. »Mr Parker? Ich bin es, Mr Knox.« Jetzt dreht der Mann sich um, und man sieht sein Gesicht. Im ersten Augenblick wollen Knox’ Augen nicht glauben, was sie da sehen – das Gesicht erinnert, wie vorher auch, an eine grob geschnitzte Darstellung eines Gesichts, doch diesmal so, als sei sie unvollendet oder als hätte das Ausrutschen des Messers sie verdorben. Mit Schaudern erkennt Knox die Schwellung an Stirn und Wange und das Blut, das die Haut dunkel färbt. »Gütiger Gott, was ich passiert?«, entfährt es ihm, ehe sein Hirn seinen Mund eingeholt hat und er sich auf die Zunge beißt. 143
»Sind Sie jetzt dran?« Seine Stimme klingt rau, verrät aber keine Gefühlsregung. »Was hat er getan?« Er hätte darauf bestehen sollen, Mackinley nicht allein gehen zu lassen. Er hätte auf seine Zweifel hören sollen. Zum Teufel mit diesem Kerl! Er hatte alles verdorben. »Er dachte, er könnte mich zu einem Geständnis ermuntern. Aber ich kann nicht gestehen, was ich nicht getan habe.« Knox läuft vor Erregung auf und ab. Er muss an Mrs Ross’ Zusicherung denken, Parker sei unschuldig, und ist geneigt, ihr zuzustimmen. Knox erlebt die aufsteigende Panik eines Jongleurs, dem plötzlich klar wird, dass zu viele Bälle durch die Luft wirbeln, und dann einsehen muss, dass die Katastrophe und damit einhergehend auch die Demütigung unausweichlich sind. »Ich … besorge Ihnen etwas dafür.« »Es ist nichts gebrochen.« »Ich … ich muss mich entschuldigen. Das hätte nicht passieren dürfen.« »Ich sage Ihnen etwas, das ich dem anderen nicht gesagt habe.« Knox starrt den Mann in verzweifelter Hoffnung an. »Laurent hatte Feinde. Und seine schlimmsten Feinde waren in der Company. Lebendig war er eine Bedrohung für sie. Tot ist er keine mehr.« »Was für eine Bedrohung?« »Er war einer der Mitbegründer der North America Company. Aber viel wichtiger noch, er war früher mal einer von ihnen, genau wie ich. Die Company hat was gegen Leute, die sich gegen sie wenden.« »Wer in der Company?« Ein langes Schweigen. »Ich weiß es nicht.« Knox spürt, wie ein kleines Rinnsal Schweiß sein Brustbein hinabläuft, obwohl es eiskalt ist im Lager. Ihm ist ein Gedanke gekommen, ein dummer, unbesonnener und beharrlicher Gedanke, mit nichts von dem, was er bislang je getan hat, 144
vergleichbar – und er weiß, was er nun tun wird. An diesem Abend beobachtet er das ganze Abendessen hindurch, wie Mackinley durch den Wein und die Aufmerksamkeit der Damenwelt immer jovialer wird. Seine Stimme wird desto lauter, je roter sein Gesicht wird, und er schwadroniert von den Tugenden der Männer der Company. Er erzählt von einem ihrer Kommissionäre, der berühmt dafür ist, den Streit zwischen zwei verfeindeten Indianerstämmen beigelegt zu haben, zu beider Ungunsten versteht sich, und dann von einem bewundernswerten Waldläufer, dem es überhaupt nichts ausmachte, im tiefsten Winter hunderte von Meilen quer durch die Wildnis zurückzulegen. Angeblich bewunderten selbst die indianischen Führer seine Orientierung und Überlebensfähigkeit, was nur beweist, dass das Geschick der Indianer, in der Wildnis zurechtzukommen, keineswegs angeboren ist. Jedenfalls nichts, worin ein weißer Mann (und vor allem ein Schotte) sie unter den richtigen Voraussetzungen nicht überflügeln könnte. Knox sieht Mackinley zu, wie er erzählt, und wenn er auch nicht an dem Gespräch teilnimmt, so gelingt es ihm zumindest, seinen Abscheu vor dem Mann zu verbergen. Nach dem Essen fragt ihn seine Frau, ob ihm auch wohl sei, und da lächelt er und sagt, dass er müde sei, sie sich aber keine Sorgen zu machen brauche. Von nun an wird man von ihm reden. Gerüchte werden bis in die entlegensten Winkel vordringen und von seiner Inkompetenz und seiner Untauglichkeit künden. Zum Glück ist er in Rente. Wenn sein Ruf der Preis ist, den er für die Gerechtigkeit zahlen muss, dann sei es so. Es ist nicht das erste Mal, dass er die Wahrheit verschweigt. Das kann er wieder tun.
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HIMMELSFELDER
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Er hat versagt. Seit Tagen liegt er nun schon in diesem Zimmer und hat kaum die Kraft, sich zu bewegen. Sein linkes Bein pocht gelegentlich, wovon er nachts wach wird. Von seinem schmalen Bett aus hat er die weißgekalkten Wände studiert, die bemalten Holzstühle und das gardinenlose Fenster, von dem aus man nur den Himmel sehen kann. Wenn er sich auf die Ellbogen stützt, kann er einen kleinen Kirchturm sehen, blassrot gestrichen. Meist war der Himmel bisher grau oder weiß. Oder schwarz. Das Zittern hat nachgelassen. Er weiß, dass er Fieber bekommen haben muss, nachdem er ins Moor gefallen war. Er hatte einen ruhigen, torfigen Bach überquert – das Wasser war so still gewesen, dass ölig glänzende Regenbogen auf der Oberfläche tanzten –, als er auf der anderen Seite ausgerutscht und in den Morast gefallen war. Er war entsetzt gewesen, wie schnell er versank, hatte mit beiden Händen ins Schilf gegriffen und sich mit dem Oberkörper so flach wie möglich auf den Schlamm gelegt, um nicht noch tiefer einzusinken. Schon sah er klar vor Augen, wie er verschluckt werden, wie der Schlamm ihm in Mund und Augen laufen und ihm den Hals zuschnüren würde. Er schrie, mehr um des Schreiens willen, als um Hilfe herbeizurufen – das wäre ohnehin sinnlos gewesen, so viel war ihm schmerzlich klar. Es dauerte, wie es schien, Stunden, bis er sich aus dem Morast vorgearbeitet hatte, und dann noch einmal so lange, sich die graubraune Böschung hinauf bis auf einen Flecken mit Heidelbeerbüschen zu schleppen. Heidelbeeren waren gut, waren sicher, sie wurzelten in fester, steiniger Erde. Erschöpft lag er da. Irgendetwas Schlimmes war mit seinem linken Bein passiert. Als er aufzustehen versuchte, gab es einfach unter ihm nach, und der Schmerz im Knie war so stark, dass er würgen musste, auch wenn nichts herauskam. Drei Tage 147
hatte er nicht mehr ordentlich gegessen – oder sogar noch länger? Er kann sich nicht mehr erinnern. Er kann sich auch nicht mehr erinnern, wie er gefunden wurde, und auch nicht, wie man ihn hierhergebracht hat, wo auch immer er sein mag. Er ist in einem weißen Zimmer aufgewacht und hat sich gefragt, ob der Tod wohl so aussieht: ein konturloser weißer Raum, durch den Engel schweben und in fremden Zungen reden. Dann ließ das Fieber nach, und er sah, dass das Zimmer sehr wohl Konturen hatte und die Engel eher irdisch und recht gewöhnlich waren, auch wenn er sie immer noch nicht verstand. Zwei Frauen kümmern sich um ihn, füttern ihn mit Suppe und tun Dinge, die ihn beim bloßen Gedanken daran schon erröten lassen. Aber sie sind ungefähr so alt wie seine Mutter und behandeln ihn, als sei er ihr eigener Sohn. Sie sind kurz angebunden und geradlinig: waschen ihn mit einem Schwamm, richten die Laken, streichen ihm übers Haar. Gestern – er glaubt jedenfalls, dass es gestern war – ist ein Mann hereingekommen, hat mit einer der Frauen geredet und sich dann, wie es ihm vorkam aus großer Höhe, zu ihm heruntergebeugt. Der Mann war ungefähr so alt wie sein Vater, hatte einen blonden, sehr unmodernen Vollbart und hervorstehende Glupschaugen. »Êtes-vous français?«, fragte er mit einem seltsamen Akzent. Francis war alarmiert, dass der Mann wusste, wie er heißt, bis er merkte, dass er Französisch sprach. Er fragte sich, was er darauf antworten sollte. Es gibt so vieles, was er nicht weiß. Der Mann wendete sich dann an die Frau und redete einen Moment in seiner kehligen Sprache mit ihr. »Enk-lisch?« Francis starrte den Mann an und beschloss, überhaupt nichts zu sagen. Das war vermutlich das Beste. Der Mann und die Frau sahen sich an. Der Mann zuckte daraufhin die Achseln, und kurz darauf faltete er die Hände und begann zu reden. Nach einiger Zeit ging Francis auf, dass er 148
betete. Die Frau betete auch, aber indem sie dem Mann zuhörte. Ihre Kleidung war schlicht, aus grobem Stoff in Schwarz und Weiß und Grau, genau wie ihr Himmel. Erst jetzt – im Laufe der letzten Stunde ungefähr – fällt ihm alles wieder ein: Er erinnert sich daran, wie er Meile um Meile am Fluss entlanggetrottet ist, der sich durch den Wald schlängelte, weiter denn je zuvor in seinem Leben, und der Spur des Mannes folgte. Seit jener Nacht an der Hütte hatte er ihn nicht mehr gesehen, und es hatte seine Fähigkeiten als Fährtensucher aufs Äußerste strapaziert, seiner Spur zu folgen. Doch das Land hatte sich ihm gnädig gezeigt. Jedes Mal, wenn er glaubte, die Spur verloren zu haben – wenn er stundenlang gelaufen war, gesucht und gespäht und nicht den kleinsten Abdruck auf dem Boden gefunden hatte –, war er über eine neue Spur gestolpert: einen deutlichen Mokassin-Abdruck im Laub, einen Halbkreis aus Urin im geschmolzenen Raureif. Er entdeckte die Fußabdrücke des Mannes und kümmerliche Überreste seines Lagerfeuers, das er nur dürftig wieder zugedeckt hatte. Er fragte sich, wann der Mann aß. Noch nie hatte er jemanden erlebt, der so schnell war. Nur einmal hatte Francis es gewagt, ein Feuer zu entzünden, und dann hatte er nicht schlafen können, aus Angst, der Mann könne merken, dass er verfolgt wurde, und ihn entdecken. Doch nichts dergleichen war geschehen. Er gab Acht, nicht zu nahe an ihn heranzukommen, und schaute immer voraus, um nicht in eine von ihm gestellte Falle zu tappen. Schließlich wurde ihm seine Vorsicht zum Verhängnis. Am vierten Tag verlor er die Spur. Sie führte aus dem Wald hinaus auf höhergelegenes Gebiet und machte einen Bogen in nordwestlicher Richtung, geradewegs in eine trostlose, baumlose Landschaft – ein mit Büschen bewachsenes, morastiges Plateau, auf dem ihn Sumpflöcher aufhielten und der Nordwind durch seinen Wolfsfellmantel schnitt. Er kam nur langsam voran, und weil er 149
sich an den Schutz der Bäume gewöhnt hatte, war er jetzt beunruhigt, man könne ihn auf der freien Fläche leicht ausmachen. Nach etlichen Stunden des Gehens wäre er beinahe in einen anderen, kleineren Fluss gefallen, der sich einen Weg durch den öligen Schlamm gegraben hatte. Das Wasser war trüb, und er konnte nirgendwo eine geeignete Stelle entdecken, wo er den Fluss sicher überqueren könnte. Als er es dann doch versuchte, geriet er plötzlich ins Schwimmen, er saß in der Falle. In diesem Moment bekam er es zum ersten Mal richtig mit der Angst zu tun. Angst hatte er natürlich die ganze Zeit schon gehabt, doch nun ging ihm auf, dass das Land ihn in seiner Gewalt hatte und ihn an einem Ort sterben lassen würde, wo man ihn niemals finden würde. Seine Knochen würden unter freiem Himmel liegen, ausgebleicht und abgenagt wie die Hirschskelette, die um ihn herum verstreut lagen. Bis zur Hüfte im Schlamm hatte er bis nach Einbruch der Dunkelheit gekämpft. Er hatte sogar geschrien, für den Fall, dass der Mann noch in der Nähe war – zumindest ginge es schnell, wenn der ihn umbrächte. Es wäre wenigstens human. Aber irgendwie, irgendwie hatte er sich schließlich doch befreien können. Und dann hatten ihn die Kräfte verlassen. Am Ende war es doch alles egal: Am Flussufer war er ohnmächtig geworden, erschöpft, schwach und durchgefroren. Er hatte versagt.
***
Es muss wohl Nachmittag sein: Vor einer Stunde hat er etwas Suppe gegessen, und danach hat er die Peinlichkeit ertragen müssen, in Anwesenheit einer der Frauen, der dunkelhaarigen, eine Bettpfanne zu benutzen. Er hat den Blick abgewendet, und sie hat gelacht, als fände sie ihn äußerst komisch, ihr schien es 150
überhaupt nicht peinlich zu sein. Er kann seine Kleider nirgendwo sehen, weiß aber nicht so recht, ob er nach ihnen fragen soll, und wenn ja, wie. Er könnte den Mann fragen, wenn er zurückkommt. Aber eigentlich weiß er bereits, dass er es wohl nicht tun wird, weder auf Französisch noch auf Englisch. Denn die Vorstellung, gar nicht reden zu müssen, erscheint ihm verlockend. Wenn er nicht spricht, wird ihn vielleicht auch niemand etwas fragen. Er grämt sich über sein Versagen – aber mit etwas Abstand betrachtet hat er getan, was er tun konnte. Die Gründe für sein Fortgehen erscheinen ihm nun ganz weit weg, wie aus einer anderen Welt. Einer schmerzvollen Welt, in die er so schnell nicht wieder zurückkehren will. Viel dringlicher aber ist die Frage nach dem Verbleib des Knochenplättchens. Als eine der Frauen später wiederkommt – die mit dem trockenen blonden Haar und dem lauten Lachen –, versucht er sich ein bisschen in Pantomime. Sie erinnert ihn an Idas Mutter – sie scheint über die gleiche pragmatische Sachlichkeit zu verfügen. Während sie um ihn herumwuselt, die Decke unter die Matratze stopft und seine Stirn befühlt, sieht er ihr eindringlich in die Augen, und streicht dann mit den Händen über die Arme und tut, als streife er sich eine Jacke über. Dann hebt er fragend die Hände. Sie versteht und zupft als Antwort an ihrem Rock. Dann entlädt sich ein Schwall sperriger Wörter. Er lächelt, weil er sie auf seine Seite bringen will. Dann tut er, als schriebe er auf seine Handfläche, und malt die Form des Täfelchens in die Luft. Darauf runzelt sie die Stirn, doch dann scheint sie zu verstehen, was er damit meint. Sie sieht ihn missbilligend an, geht aber aus dem Zimmer. Vor einigen Monaten hatte Laurent eines Abends das Elfenbeintäfelchen aus seinem Versteck geholt (er war betrunken) und es Francis gezeigt, und dann hatten sie sich gemeinsam die kleinen Strichmännchen angesehen und die eckigen Zeichen, die wie eine Schrift aussahen. Laurent dachte, Francis könne vielleicht wissen, was es sei. Francis versuchte, sich an das zu 151
erinnern, was er in der Schule gelernt hatte, an ägyptische Hieroglyphen, an Altgriechisch, an die Bilder in den Büchern seiner Mutter, aber ihm fiel nichts ein, das Ähnlichkeit mit diesen Zeichen gehabt hätte. Wo oben und unten war, konnte man nur an den Strichmännchen erkennen, die am Rand entlangmarschierten. Laurent sagte, er habe ihn von einem Händler aus den Staaten, und behauptete, einen Herren in Toronto getroffen zu haben, der ihm eine Menge Geld dafür bezahlen würde. Sie hatten über die Torheit der Reichen gelacht. Später dann hatte er gesagt, Francis solle es bekommen. Francis hatte sich geweigert, es anzunehmen, weil ihm Dinge Angst machten, die er nicht verstand. Wer weiß – vielleicht lag ja ein Fluch darauf? Doch Laurent hatte es ihm angeboten, also hatte er es auch eigentlich nicht gestohlen, als er es an sich genommen hatte. Und die anderen Sachen hatte er nur mitgenommen, um zu überleben. Das Gewehr hätte er auch an sich genommen, wenn er es nur gefunden hätte. Wobei ein Teil von ihm – jener Teil, der ein Echo der Jungen ist, die er all die langen Jahre in der Dorfschule hatte ertragen müssen – sagt: Was hättest du denn damit gemacht, wenn du es mitgenommen hättest? Du bringst es ja nicht einmal über dich, einen Hasen zu erschießen. Als er die Augen wieder aufschlägt, sitzt der bärtige Mann an seinem Bett. Er legt ein Buch beiseite – er hat darauf gewartet, dass er aufwacht. Francis fällt der Buchtitel ins Auge, doch die Worte scheinen nur ein wüstes Durcheinander von Konsonanten zu sein. Der Mann lächelt ihn an. Er hat verfärbte Zähne, die umso mehr auffallen, weil er so rote Lippen hat. Francis starrt zurück, aber irgendwie muss sein Gesichtsausdruck weicher geworden sein, weil der Mann vor Freude strahlt und ihm auf die Schulter klopft. Er fängt an zu reden und fragt ihn wieder, ob er Franzose sei oder Engländer. Francis ist in der Zwischenzeit eingefallen, dass die Leute, die ihn gefunden haben, möglicherweise auch den Mann gesehen haben, den er verfolgt hat. Wer weiß, vielleicht ist er ja sogar hier gewesen? Francis könnte 152
zwar das Sprechen ganz bleibenlassen, doch damit würde er auch jegliche Hoffnung aufgeben. Und zu seinem Erstaunen stellt er fest, dass er noch nicht bereit dazu ist aufzugeben. Er befeuchtet die Lippen, sein Mund fühlt sich rostig an und schmutzig. »Engländer«, krächzt er. »Engländer! Gut.« Der Mann ist außer sich vor Freude. »Wissen Sie, wie Sie heißen?« Francis zögert für den Bruchteil einer Sekunde, dann platzt er ohne nachzudenken heraus: »Laurent.« »Laurent? Ach. Laurent. Ja. Gut. Ich bin Per.« Er dreht den Kopf und ruft: »Britta! Komm.« Die blonde Frau muss ganz in der Nähe gewesen sein und ist schnell da. Sie lächelt Francis an. Per redet in ihrer Sprache mit ihr und erklärt. »Laurent«, sagt sie. »Willkommen.« »Sie spricht nicht sehr viel Englisch. Meins ist etwas besser. Wissen Sie, wo Sie sind?« Francis schüttelt den Kopf. »Sie sind in Himmelvanger. Das heißt Himmelsfeld. Guter Name, ja?« Francis nickt. Er hat noch nie davon gehört. »Was für ein Fluss …?« Seine Stimme klingt noch immer seltsam und schwach. »Fluss? Ach, wo wir Sie gefunden haben … ja. Ach, ein Fluss ohne Namen. Jens war auf der Jagd … und hat Sie dort gefunden. Sehr gewundert!« Per ahmt die Verwunderung eines Mannes nach, der nach Hasen Ausschau hält und stattdessen einen verdreckten, verwahrlosten jungen Mann findet. Francis lächelt, so gut er kann. Was sein Mund sehr anstrengend findet. »Könnte ich mit Jens sprechen?« Per wirkt überrascht. »Ja, sicher. Aber jetzt … Sie sind krank. Schlafen und Essen. Britta und Line kümmern sich gut, ja?« Francis nickt. Er lächelt Britta zu, die unerwartet anfängt zu kichern. 153
Per beugt sich vor und nimmt Francis’ Kleider in die Hand. »Alle sauber, ja? Und das …« Er holt Laurents Beutel hervor, und Francis nimmt ihn an sich. »Danke vielmals. Und danken Sie … Jens, dass er mich gefunden hat. Ich hoffe, ich kann bald mit ihm sprechen.« Die anderen lächeln und nicken. Britta redet mit Per, der seinen Stuhl im Aufstehen quietschend zurückschiebt und dabei zufrieden brummt. »Jetzt schlafen Sie, sagt Britta mir. Ja?« Francis nickt. Er gestattet sich, an seine Eltern zu Hause auf dem Hof zu denken. Er geht davon aus, dass sie sich Sorgen um ihn machen, obwohl es auf einem anderen Blatt steht, ob sie sich so viele Sorgen machen, dass sie nach ihm suchen. Inzwischen müssen sie Laurent entdeckt haben. Was sie wohl denken? Ob sie glauben, dass er es war? Beim Gedanken daran muss er fast lächeln.
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ine ist mit Torbin und Anna draußen, als Britta herauskommt und ihnen erzählt, dass der Junge endlich geredet hat. Line findet es seltsam, dass ein englischer Junge Laurent heißen soll. In ihrem früheren Leben, als Janni noch lebte, hat sie mal einen Franzosen namens Laurent gekannt. Ihr Englisch ist besser als das aller anderen hier, selbst das von Per, also ist sie insgeheim hocherfreut. Sie hat den Drang verspürt, ihn unter ihre Fittiche zu nehmen, schon seit dem Moment, als Jens ihn hergebracht hat, über den Rücken eines Ponys geworfen, und jetzt fühlt sie sich bestätigt – sie kann die Verbindung sein zwischen ihm und den anderen. Torbin und Anna kommen mit gespitzten Ohren zu ihr gelaufen, mitten durch die krakeelenden Hühner. »Können wir ihn jetzt sehen?«, fragt Torbin, das Gesicht von der Kälte gerötet. »Nein, noch nicht. Er ist noch sehr schwach. Ihr würdet ihn nur müde machen.« »Würden wir nicht. Wir wären wie die Mäuschen. Ganz kleine Mäuschen.« Anna fiept leise wie eine kleine Maus. »Bald«, erklärt Line. »Wenn er aufstehen und gehen kann.« »Wie Lazarus«, meint Anna in ihrer Bemühung, den Fremden in ihr von Himmelvanger geprägtes Weltbild einzufügen. »Nicht ganz wie Lazarus. Er war ja nicht tot.« »Aber fast! War er doch?« Torbin hofft auf noch mehr Dramatik. »Ja, fast. Er war bewusstlos.« »Ja, so. Mama – guck mal!« Torbin wirft sich in den Schnee und simuliert eine Ohnmacht, bei der in seiner Interpretation die Zunge seitlich aus dem Mund hängt. Line lächelt. Torbin gelingt es immer, sie zum Lachen zu bringen. Er ist unbezähmbar, 155
unverwüstlich, wie ein kleiner harter Gummiball. Er erinnert sie so gar nicht an Janni, ganz im Gegensatz zu Anna, die eine Reinkarnation Jannis zu sein scheint – breite Wangenknochen, braunes Haar, fjordblaue Augen. Und ein schrecklich süßes Lächeln, das nur ein paarmal im Jahr zum Vorschein kommt und ob seiner Seltenheit umso mehr ans Herz geht. Die Kinder klettern aus dem Hühnergehege und laufen über den Hof. Line soll die Hühner füttern und anschließend Britta beim Nähen einer Steppdecke helfen. Sie hat nicht viel Zeit für sich, aber dafür ist sie auch nicht hergekommen. Sie ist gerne im Hühnerstall, der stabil genug gebaut ist, den Winterstürmen zu widerstehen, und ein steil aufragendes Dach hat, das den Schnee abhält. Alle Gebäude in Himmelvanger sind von beruhigend stabiler Bauart. Es muss auch alles ordentlich gebaut sein, weil es für Gott gebaut ist: die Schwalbenschwanzverbindungen, die doppelten Wände, die ausladenden, mit hübschen, beinahe herzförmigen Zedernschindeln gedeckten Dächer. Das Türmchen der kleinen Kirche mit dem aufgemalten Kreuz. Seit zehn Jahren widersteht es schlimmstem Sturm und Wetter, die der kanadische Winter aufzubieten hat. Gott hat sie beschützt. Und die Menschen hier haben sie freundlich und herzlich aufgenommen, allerdings nicht ohne ihr eine Vielzahl von Ratschlägen zu erteilen. Du solltest mehr beten, Line, du solltest Gott vertrauen, du solltest deine Arbeit gläubig tun, dann bekommt dein Leben einen Sinn. Du solltest aufhören, um Janni zu trauern, weil er jetzt bei Gott ist, also ist er jetzt glücklich. Sie hat sich bemüht, die Ratschläge zu befolgen, weil sie den Leuten hier ihr Leben verdankt. Als Janni verschwunden war – es fällt ihr noch immer schwer zu sagen »gestorben«, selbst im Stillen –, stand sie da, mit zwei Kindern und ohne Geld. Sie wurde aus ihrer Unterkunft geworfen und wusste nicht wohin. Hatte schon in Erwägung gezogen, nach Norwegen zurückzugehen, aber das Geld für die Schiffsreise nicht zusammenbekommen. Hatte überlegt, sich und die Kinder in den St. 156
Lawrence zu stürzen. Und dann hatte ihr ein Freund von Himmelvanger erzählt. Die Vorstellung, in eine religiöse Modellgemeinde zu gehen, war so abwegig, dass es schon wieder komisch war. Aber es waren Norweger, und sie brauchten Leute, die hart arbeiteten. Und was noch viel wichtiger war, sie wollten kein Geld. Ironischerweise hatte sie die gleiche Richtung eingeschlagen wie Janni damals bei seiner letzten Reise. Oder wenn es nicht seine letzte Reise war, dann zumindest das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte. Er war auf der Suche nach Arbeit und hatte einen anderen Norweger getroffen, der bei der Hudson Bay Company anfangen wollte. Die Company versprach hohe Löhne, wenn man eine Saison für sie arbeitete, aber sie war weit weg, oben im hohen Norden. Aber dafür, so sagte er, hätten sie dann genug Geld, um ein Haus zu kaufen. Es wäre wie eine Abkürzung zu dem Leben, das sie sich wünschten: ein eigenes Haus und ein bisschen Land. Line würde nie mehr anderer Leute Wäsche waschen und flicken müssen, und er müsste sich nicht mehr auf die Zunge beißen und für irgendwelche Idioten arbeiten. Sie bekam nur einen einzigen Brief, nachdem er fort war. Janni war kein großer Briefeschreiber, sie hatte also auch keine leidenschaftlichen Liebesbriefe erwartet, aber trotzdem, nur ein Brief in sechs Wochen kränkte sie dann doch ein wenig. Er hatte geschrieben, dass die Dinge sich nicht ganz wie erwartet entwickelten – sein Freund und er seien mit einer Gruppe norwegischer Strafgefangener kaserniert, die die Company hatte einschiffen lassen. Die Männer seien grob und gewalttätig und hätten eine Bande gebildet, die von den anderen Angestellten in Ruhe gelassen wurde. Janni war es unangenehm, mit diesen Männern in einen Topf geworfen zu werden, aber die Gräben zwischen den einzelnen Nationalitäten seien tiefer als die zwischen Recht und Unrecht. Aber manche von ihnen seien ganz anständig, schrieb er, und er freue sich darauf, Line und die 157
Kinder im kommenden Sommer wiederzusehen und einen Platz für ihr Haus auszusuchen. Kein Wort von Liebe, keine Zärtlichkeiten. Diesen Brief hätte er auch seiner Tante schreiben können. Und danach dann nichts mehr. Als der Sommer kam, wurde sie langsam ungeduldig und fragte alle Leute aus, ob sie etwas gehört hätten. In Toronto war es heiß und schwül, die Kriebelmücken quälten die Kinder, und ihre überfüllte, billige Unterkunft stank nach Abwasser. Nachts träumte sie von offener Weite, von einem Land ohne Menschen, bedeckt mit kaltem, reinem, weißem Schnee, nur um verschwitzt und an einem neuen Insektenstich herumkratzend aufzuwachen. Sie wurde übellaunig und reizbar. Dann, im Juli, bekam sie einen Brief, adressiert an die »Familie von Jan Fjelstad«. Er war an die falsche Adresse geschickt worden, man hatte ihn geöffnet und mit einer kindlichen Handschrift die neue Adresse draufgeschrieben. In hölzernen Phrasen bedauerte man ihr mitteilen zu müssen, dass ihr Ehemann zu einer Gruppe Norwegern gehört habe, die gemeutert hätten und im Januar vom Handelsposten desertiert seien, wobei sie wertvollen Besitz der Gesellschaft gestohlen hätten. Sie seien in der Wildnis verschwunden, wo sie zweifelsohne in den Schneestürmen umgekommen seien, die in jenem Monat über das Land gefegt waren. Sollten sie allerdings (wurde in dem Brief ausdrücklich betont) nicht verstorben sein, so seien sie vor dem Gesetz als flüchtig anzusehen. Zuerst wollte Line es einfach nicht glauben. Sie wartete weiter auf ihren Mann, weil sie annahm, es müsse sich um eine Verwechslung handeln. Für Engländer waren norwegische Namen verwirrend, sagte sie sich. Sie konnte nicht glauben, dass Janni etwas gestohlen haben sollte. Das war so gar nicht seine Art. Sie ging zum Büro der Company in Toronto und verlangte jemanden zu sprechen, dann wurde sie von einem rotblonden jungen Engländer in seinem winzigen Büro empfangen. Er war höflich und drückte sein Bedauern aus, sagte aber, es gebe 158
keinen Grund, den Wahrheitsgehalt des Briefes anzuzweifeln. Etliche Männer seien desertiert, und auch wenn er persönlich nicht wisse, wer im Einzelnen daran beteiligt gewesen war, so sei er sich doch sicher, dass die Angaben korrekt seien. Line brüllte den jungen Mann an, der nun ärgerlich wurde. Er schien nicht zu verstehen, dass er über den Tod ihres Ehemanns sprach, und den Tod all ihrer Hoffnungen. Sie stürmte aus dem Büro und wartete weiter. Doch die Wochen krochen vorbei, und er kam nicht zurück, und ihr ging das Geld aus. Am Ende war es dann schon fast egal, was sie glaubte. Ob es nun stimmte oder nicht, sie musste eine Entscheidung treffen, also machte sie sich eines Morgens im September mit den Kindern auf die dreiwöchige Reise nach Himmelvanger, den Ort mit dem lächerlichen Namen, und nahm dabei fast denselben Weg wie Janni auf seiner vorletzten Reise, die ihn an einen Ort mit ähnlich lächerlichem Namen geführt hatte, nach Moose Factory. Drei Jahre ist das jetzt her, und sie hat sich inzwischen an ihr neues Leben gewöhnt. Zuerst war sie sich noch sicher gewesen, Janni würde sie irgendwann aufspüren. Eines Tages würde er auf einem großen Pferd auf den Hof reiten und sie rufen, und sie würde alles stehen- und liegenlassen und zu ihm laufen. Anfangs dachte sie jeden Tag daran. Dann allmählich verabschiedete sie sich von diesem Traum. Sie wurde teilnahmslos und niedergeschlagen, bis Sigi Jordal sie gedrängt hatte, ihr Herz auszuschütten. Line weinte zum ersten Mal, seit sie hier war, und gestand Sigi, dass sie sich manchmal wünschte, tot zu sein. Das war ein Fehler. Sie wurde von der ganzen Gemeinschaft belagert. Reihum kamen alle zu ihr und bestürmten sie, der großen Sünde der Hoffnungslosigkeit zu entsagen, den Herrn in ihr Herz zu lassen und ihn die Verzweiflung austreiben zu lassen. Woraufhin sie ihnen eilig versicherte, sie habe (urplötzlich) Gott angenommen, und er führe sie nun aus dem 159
dunklen Jammertal des Kummers. Irgendwie war diese Täuschung tröstlich, und manchmal fragte sie sich, ob sie vielleicht wirklich ein bisschen daran glaubte. Sie ging in die Kirche, setzte sich hin, sah den Sonnenstrahlen zu, die hereinfielen, und verfolgte ein einzelnes Staubkorn, bis ihre Augen schmerzten. Ihre Gedanken wanderten auf angenehmeren Pfaden. Streng genommen betete sie zwar nicht, aber sie fühlte sich auch nicht einsam. Ungefähr zu dieser Zeit hatte dann auch Espen Moland angefangen, ihr besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Er war ein verheirateter Mann (die Gemeinschaft war eigentlich nur für Familien gedacht), und seine Kinder spielten mit Torbin und Anna, aber sein Interesse war nicht rein spiritueller Natur. Zuerst war sie auf der Hut, weil sie sehr wohl wusste, dass dies streng verpönt war. Insgeheim aber gefiel es ihr. Durch Espen fühlte sie sich wieder begehrenswert. Er behauptete, sie sei die schönste Frau in Himmelvanger und sie mache ihn verrückt. Line tat das ab, stimmte ihm aber im Stillen zu. Espen war nicht unbedingt gutaussehend, nicht wie Janni, aber er war flink und lustig und hatte bei Streitgesprächen oder Wortwechseln immer das letzte Wort. Es war besonders süß, diese leidenschaftlichen Beteuerungen von einem Mann zu hören, der sonst ständig Witze machte, und ihr Fleisch war zu schwach, um ihm auf Dauer zu widerstehen. Vor ein paar Monaten hatten sie schließlich begonnen zu sündigen. So nannte sie es, wenn sie darüber nachdachte, auch wenn sie keine Schuldgefühle plagten. Sie war bloß vorsichtig und gab immer gut Acht. Eine weitere Katastrophe konnte sie sich nicht leisten. Line hört ihn kommen, er pfeift eine seiner selbst erdachten Melodien. Kommt er in den Hühnerstall? Ja – die Tür geht auf. »Line! Ich habe dich den ganzen Tag noch nicht gesehen!« »Ich habe meine Arbeit, das weißt du doch.« »Natürlich, aber wenn ich dich nicht sehe, bin ich traurig.« 160
»O ja, natürlich.« »Ich bin hier, um das Loch im Dach zu flicken.« Er hat seinen Werkzeuggurt umgeschnallt – er ist der Zimmermann –, und Line wirft einen Blick nach oben zum Dach. »Da ist kein Loch.« »Na ja, aber es könnte eins da sein. Man sollte lieber auf Nummer sicher gehen. Wir wollen doch nicht, dass unsere Eier nass werden, oder?« Sie kichert. Espen bringt sie immer zum Lachen, selbst wenn er dummes Zeug redet. Er hat den Arm um ihre Taille gelegt und drückt sich an sie, und sie spürt wieder dieses vertraute Gefühl, als würde sie zerschmelzen, wenn sie in seiner Nähe ist. »Britta wartet auf mich.« »Na und? Ein paar Minuten machen doch nichts.« Wie schwer es doch ist, anständig zu bleiben, selbst in einer religiösen Gemeinschaft wie dieser. Er küsst sie auf den Hals, seine Lippen sind heiß auf ihrer Haut. Wenn sie nicht augenblicklich geht, ist sie verloren. »Das ist jetzt kein guter Zeitpunkt.« Heftig atmend entwindet sie sich seinen Armen. »Mein Gott, du siehst heute wunderschön aus. Ich könnte …« »Hör auf!« Sie liebt diesen flehentlichen Blick. Es ist schön zu wissen, dass es in ihrer Macht steht, jemanden glücklich zu machen, nur indem sie ihn berührt. Aber wenn sie nicht auf der Stelle aus dem Hühnerstall verschwindet, könnte er jene Worte sagen, die ihr das Blut in den Kopf schießen lassen und ihren Verstand auslöschen. Schmutzige, obszöne Worte, die sie nie über die Lippen bringen würde, die aber eine außergewöhnliche, beinahe magische Macht über sie ausüben. Janni hätte so etwas nie getan, aber er war ohnehin nicht sehr gesprächig. Ja, so wie sie sich bei Espen fühlt, das hat sie noch nie erlebt. Sie scheint sich auf beunruhigende Art zu verändern, als reite sie in einem papierdünnen Kanu auf einer hohen Flutwelle – sie wird 161
getragen, hochgehoben, es ist aufregend, aber sie weiß nicht, ob sie es noch beherrschen kann. Sie zwingt sich, einen Schritt von ihm weg zu machen, auch wenn ihr Körper mit jeder Faser nach ihm schreit, und lächelt in allerletzter Minute, damit er nicht – Gott bewahre! – glaubt, sie habe das Interesse verloren. Draußen vor dem Hühnerstall zwingt sie sich, ernst zu gucken, und versucht, an etwas anderes zu denken. Etwas Ekelhaftes wie den Gestank von Schweinen, bloß nicht an Espen und seinen süßen, schmutzigen Mund. Gleich muss sie sich mit Britta an die Näharbeiten machen, und in letzter Zeit hat sie zu viele durchdringende, fragende Blicke von Britta geerntet. Sie kann es unmöglich wissen, aber vielleicht hat sie sich irgendwie verraten. Sie lenkt ihre Gedanken zu dem kranken Jungen, um wieder zur Besinnung zu kommen, aber irgendwie hat das nicht die erwünschte Wirkung. Stattdessen stellt sie sich vor, wie sie die Laken hochhebt und seinen nackten Körper betrachtet. Sie hat ihn gesehen, alles an ihm, seine entzückend goldbraune Haut, hat gefühlt, wie weich er ist … O Gott! Espen hat ihren Verstand vergiftet. Vielleicht sollte sie sich für ein paar Minuten in die Kirche schleichen und beten und ein paar ziemliche Schamgefühle heraufbeschwören.
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s ist eisig kalt. Der kälteste der fünf Tage, seit sie die Spur verfolgen. Der Wind bläst aus der Arktis herunter und peitscht ihnen Hagel ins Gesicht. Donald tränen die Augen, und die Tränen gefrieren ihm auf den Wangen, die rissig und aufgesprungen sind. Auch in seinem Schnurrbart gefriert Wasser von wer weiß woher, also hat er sich den Schal um die untere Hälfte des Gesichts gewickelt, bis auch der stocksteif gefroren war von der Feuchtigkeit seines Atems und er ihn unter Schmerzen wegreißen musste, um nicht zu ersticken. Ihm ist kalt, und er ist erschöpft, obwohl Jacob den Hauptteil der Last trägt, da Donald nicht Schritt halten könnte, müsste er die Hälfte tragen. Ab dem zweiten Tag, so stellte Donald fest, sorgte jede seiner Bewegungen in irgendeinem Teil seines Körpers für Schmerzen. Früher hatte er sich immer für einen ziemlich starken, gesunden jungen Mann gehalten, doch nun muss er einsehen, dass er gerade erst lernt, was Durchhalten eigentlich heißt. Jacob stapft vor ihm her, trägt die schwere Last, macht Umwege, um den Weg auszukundschaften, und wenn sie dann am späten Nachmittag Halt machen, sammelt Jacob Holz, macht Feuer und schneidet Zweige für ihre Schlafstätte. Zuerst hatte Donald noch protestiert und seinen Anteil der Arbeit übernehmen wollen, aber er war einfach zu müde und ungeschickt, um eine echte Hilfe zu sein, und ihr Lager war viel schneller aufgeschlagen, wenn er einfach Jacob alles überließ. Jacob sagte ihm also freundlich, aber bestimmt, dass er sich hinsetzen solle und sich darauf konzentrieren, das Wasser zum Kochen zu bringen. Früh an diesem Morgen sind sie aus dem Wald getreten und auf eine öde, hügelige Hochebene gelangt, wo nichts zwischen ihnen und dem Wind zu stehen scheint, der von der zugefrorenen Hudson Bay zu ihnen herüberweht. Durch die dicke 163
Kleidung hindurch trifft der Wind seine empfindlichsten Körperstellen mit scharfen, vorwitzigen Stichen. Sehr schnell wird ihnen klar, dass die Hochebene ein einziger großer Sumpf ist. Kleine Pfützen schwarzen Wassers mit Rändern aus Eis sickern aus dem Boden. Schilfrohr und niedrige Weiden fangen den umherwehenden Schnee ein und halten ihn im Gewirr ihrer Halme und Zweige fest. Es ist unmöglich, mehr als ein paar Schritte hintereinander festen Boden unter den Füßen zu haben, und Jacob hat bereits den Versuch aufgegeben, sich keine nassen Füße zu holen. Nun trottet er grimmigen, entschlossenen, gleichmäßigen Schritts von Hügel zu Mulde. Ganz gleich, wie sehr er auch mitzuhalten versucht – Donald musste ihm schon dreimal hinterherrufen, dass er langsamer gehen solle, und nun bleibt Jacob immer wieder stehen, damit Donald aufholen kann. Er tut das, ohne dass Donald sich dabei wie ein Versager vorkommen muss, weil er immer so tut, als wolle er Donald über den neusten Stand der Fährte unterrichten. Es ist eindeutig, dass es ihm in dieser Landschaft schwerer fällt, ihr zu folgen, aber Donald hört ihm mit wachsender Gleichgültigkeit zu. Gestern war es ihm schon beinahe einerlei, ob sie den Jungen fänden oder nicht. Heute kommt es ihm zum ersten Mal in den Sinn, dass er möglicherweise nicht von dieser Reise zurückkehren könnte. Und er weiß nicht einmal, ob ihm das etwas ausmachen würde. Immer häufiger passieren sie Tierkadaver. Gerade stapfen sie an einem Hirschskelett vorbei, das schon seit geraumer Zeit dort liegen muss, da es zwar sauber abgenagt, aber dunkelgelb verfärbt ist. Der Schädel zeigt in ihre Richtung, nur einen Steinwurf von den verstreuten Knochen entfernt, und sieht Donald durch leere Augenhöhlen an, eine stille Mahnung an die Vergeblichkeit ihres Unterfangens. Donald versucht, seine Gedanken auf Susannah zu lenken, eine Trennlinie zu ziehen zwischen dem, was sein Körper ertragen muss, und seinen Gefühlen. Zu seiner Enttäuschung 164
hört er aber nur die Stimme seines Vater, der ihn belehrt: »Der Geist bezwingt die Materie, Donnie. Der Geist bezwingt die Materie. Zeig Willensstärke! Wir alle müssen Dinge tun, die wir nicht tun wollen.« Er spürt die altbekannte Wut in sich aufsteigen wie Sumpfgas. Sein Vater – Buchhalter in Bearsden – musste nie im kanadischen Winter durch eine endlose Sumpflandschaft waten. In seinem Hemd, ganz nahe an seinem Herzen, stecken drei Briefe an Susannah. Er ist enttäuscht über seinen Mangel an Sprachgewandtheit, tröstet sich aber damit, dass es schwierig ist, geistreiche Prosa zu schreiben, während man einerseits versucht, dicht genug ans Feuer zu rücken, um etwas sehen zu können, und andererseits darauf achten muss, sich dabei nicht die Haare zu versengen. Leider sind die Briefe wohl ein wenig verschmiert und schmuddelig und riechen vermutlich nach Rauch, wenn nicht nach Schlimmerem. Vielleicht kann er sie, wenn sie wieder in der Zivilisation angekommen sind, auf sauberes Papier kopieren, oder auch noch einmal ganz neu schreiben, in einem gehobeneren literarischen Stil. Das wäre vermutlich das Beste. Gegen vier Uhr nachmittags gerät Jacob in Verwirrung. Er heißt Donald warten, während er im Kreis herumgeht und die Spur sucht. Dann gibt er Donald ein Zeichen, zu ihm zu kommen. Sie gehen den Weg, den sie gekommen sind, wieder ein Stück zurück. Stillschweigend verflucht Donald diese Energieverschwendung, doch er ist zu erschöpft, um Fragen zu stellen. Es schneit leicht, die Sichtverhältnisse sind schlecht. Die Luft ist feucht und schneidend zugleich. Jacob atmet langsam aus, das macht er immer, wenn er scharf nachdenkt. »Ich glaube, ab hier sind sie in verschiedene Richtungen gegangen.« Donald sieht angestrengt auf die Erde, sieht aber nichts, das beweisen würde, dass hier jemals schon mal jemand gewesen ist. 165
»Sie sind beide an der gleichen Stelle aus dem Wald gekommen. Bis dahin war die Fährte klar zu erkennen, aber ich glaube, dann ist der zweite Mann langsamer geworden. Jetzt führt eine Spur nach dort, denn da ist ein gefrorener Fußabdruck im Schlamm, der in diese Richtung weist. Aber der ist ein ganzes Stück weg, und es ist schwer, in diesem Sumpf einer Spur zu folgen. Ich glaube, der zweite hat hier die Fährte verloren und ist dort entlang weitergegangen …« Er zeigt auf eine Stelle, an der das Gelände ein Gefälle aufweist. »Hier sind Anzeichen dafür, dass jemand eingesunken und dann weitergegangen ist. Das hätte ich schon früher sehen sollen.« Donald stimmt ihm innerlich zu. »Und du glaubst, die zweite Spur ist die von Ross?« »Die erste Spur ist von jemandem, der sehr schnell vorwärtskommt und daran gewöhnt ist, lange Strecken zurückzulegen. Er weiß, wo er hinwill, ohne stehenzubleiben und sich orientieren zu müssen. Also, ja, die zweite Spur ist die des Jungen, und er ist müde.« »Aber wo zum Teufel wollen sie hin? Ich meine, der Wald ist eine Sache, aber das hier … Mein Gott, sieh dir das doch nur an! Hier kann doch niemand leben!« So weit das Auge reicht, sind nur Gestrüpp und diese höllischen Tümpel zu sehen. Es gibt keine landschaftlichen Elemente, die gemeinhin als sehenswert gelten dürfen (und mit Recht, denkt Donald) – kein Gegensatz von Bergen und Tälern, keine Seen, keine Wälder. Sollte diese Landschaft einen Charakter haben, dann ist er düster, gleichgültig, feindselig. »Ich kenne diese Gegend nicht besonders gut«, erklärt Jacob, »aber es gibt hier Wohnsiedlungen, weiter nördlich.« »Gott. Die armen Schweine tun mir leid, die da leben müssen.« Jacob lächelt. Mit einiger Erleichterung haben sie sich in die Rolle von Schüler und Lehrer gefügt. Das macht es ihnen leichter, miteinander umzugehen. Man kann vorhersehen, wie 166
der andere reagiert. Im Lauf der vergangenen Tage haben sie sich eine inzwischen vertraute Routine zugelegt. »Menschen leben überall. Aber das hier nennt man das Land des Hungers.« Donald flucht. »Dann sollten wir ihn so schnell wie möglich finden.« Die andere Alternative muss er nicht erst erwähnen. »Vielleicht war der erste Mann auf dem Weg zu einem der Posten da oben.« Jacob deutet in den heulenden Wind, in eine Richtung, die genauso wenig vielversprechend wirkt wie alle anderen. »Und der zweite?« »Ich weiß nicht. Vielleicht hat er sich verlaufen.« Sie nehmen ihre entsetzlich langsame Verfolgung wieder auf und stolpern über Grasbüschel und Felsbrocken, die plötzlich die Sumpfpflanzen ablösen. Manche Steine leuchten in grellen Farben – dunkelgrün oder lila oder matt-orange. Und manchmal sind die Tümpel zugefroren, aber manchmal bricht man auch mit dem Fuß durch die Eiskruste und versinkt in der abscheulichen Dunkelheit eiskalten Wassers und Schlamms. Donald ist ganz entsetzt bei der Vorstellung, vielleicht nur noch eine Leiche zu finden, wofür mittlerweile eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht. Wie lange könnte jemand in so einer Gegend überleben, verirrt und allein? Er versucht sich einzureden, dass sie ihm dicht auf den Fersen sind, aber er wird von dem morbiden Gedanken gequält, Jacob könne ihn versehentlich zurücklassen, und dann wäre er, Donald, genauso allein wie der Junge. Wie lange er wohl überleben würde? Er kämpft sich weiter hinter Jacobs dunkler Gestalt her, entschlossen, das nicht zuzulassen. Aus irgendeinem seltsamen Grund, der sicher in seiner Psyche zu suchen ist, hat die erst kürzlich verheilte Narbe unterhalb der Rippen wieder angefangen zu pochen, was ihn an seine Schwäche gemahnt – oder gemahnt es ihn daran, dass Jacob, von dem sein Überleben abhängt, ihn erst kürzlich mit einem Messer angegriffen hat? 167
Schließlich kommen die beiden Männer an einen Fluss, der sich kaum sichtbar durch die Landschaft schlängelt. Schwarz wie Öl liegt er zwischen den vereisten Ufern. Jacob heißt ihn anhalten und zeigt auf eine Stelle, an der der Schlamm aufgewühlt und zu Erhöhungen und Mulden gefroren ist. »Hier waren Leute. Und ein Pferd. Ich würde sagen, denen hat er sich angeschlossen.« Jacob lächelt, und Donald versucht sich zu freuen. Aber es überwiegt das Gefühl, dass er nicht mehr viel länger durchhalten wird. Er hegt einen stetig wachsenden Groll gegen diese Landschaft, wie er ihn noch nie verspürt hat. Menschen gehören nicht hierher. Der Gedanke, ein Mann mit einem Pferd könne den Jungen mitgenommen haben, birgt etwas Erschreckendes – weiß Gott, wie lange sie dann noch weiterlaufen mussten. Er versteht einfach nicht, warum Jacob sich geweigert hat, die Pferde mitzunehmen. Kurz überlegt er, ob das Ganze ein ausgeklügelter Plan ist, um das zu Ende zu bringen, was ihm mit dem Messer nicht gelungen ist. Jacob führt ihn vom Fluss fort, und Donald stolpert hinter ihm her, die Augen beharrlich auf den tückischen Boden gerichtet, und gleichgültig, wie sie vorankommen. Plötzlich bleibt Jacob stehen, und Donald läuft von hinten geradewegs in ihn hinein, so stumpfsinnig trottet er vor sich hin. Jacob nimmt ihn am Arm und lacht ihm ins Gesicht. »Mr Moody, sehen Sie! Sehen Sie!« Er zeigt in den fallenden Schnee und die Dämmerung, die sich kaum merklich herangeschlichen hat. In dem wirbelnden Grau sieht Donald kleine Lichtpunkte. Er grinst übers ganze Gesicht und spürt, wie etwas Warmes an seinem Kinn herunterläuft – seine Lippe ist aufgeplatzt. Doch das kann seine wilde Freude nicht dämpfen. Da gibt es Häuser, Menschen, Wärme … da gibt es Feuer und, besser noch, Wände! Wände, die zwischen ihm und den Elementen stehen. In einem Augenblick glühender 168
Begeisterung durchlebt er noch einmal die Erfahrung, die Oberfläche des Mondes zu sehen, er verspürt die ungetrübte Freude eines vierzehnjährigen Jungen, und er erlebt ein derart reines Glücksgefühl, dass alle Anstrengungen dieses Tages, ja alle Entbehrungen der letzten anderthalb Jahre, plötzlich der Mühe wert erscheinen. Unbeholfen gibt er Jacob einen Klaps auf die Schulter, fest davon überzeugt, dass er der beste, anständigste Kerl ist, den er je im Leben kennengelernt hat. Vierzig Minuten später betreten sie einen großen Platz, der von schmucken Holzhäusern umgeben ist. Daneben sind Ställe, in denen der Dampf vom zusammengepferchten Vieh aufsteigt, und eine kleine Kirche mit einer gedrungenen Spitze, die von einem matt-rot gestrichenen Kreuz gekrönt ist. Drinnen brennen Lichter, die ihren Schein auf den vereisten Platz werfen – alles sieht aus wie das gelobte Land. Donald schluckt Tränen der Dankbarkeit herunter, als sie zum größten der Häuser gehen und an die Tür klopfen.
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ls ich noch ein kleines Mädchen war und später in der Anstalt, dachte ich immer, wenn Menschen heirateten, seien sie nie wieder einsam. Damals bezweifelte ich ernsthaft, dass ich je heiraten würde. Ich ging davon aus, als Außenseiterin der Gesellschaft zu enden, oder schlimmer noch, als alte Jungfer. Ich hatte Freunde in der Anstalt und in Dr Watson sogar einen ganz besonderen Freund. Doch als Muse eines Irrenarztes fühlte ich mich nicht gerade als Teil der normalen Welt, noch vermochte er mir ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Mein Mann hat mir etwas gegeben, womit ich nie gerechnet hätte: das Gefühl der Legitimität. Und das Gefühl, dass es jemanden gab, vor dem ich nichts verbergen musste. Ich musste nichts vorgeben. Was ich wohl damit sagen will, ist, ich habe ihn geliebt. Ich weiß, dass auch er mich geliebt hat, ich bin mir nur nicht sicher, wann das aufgehört hat. Es ist spät, und ich finde wieder keinen Schlaf, weil ich über mein nächstes Zusammentreffen mit dem Gefangenen nachdenke. Knox hat zugestimmt, dass ich ihn noch einmal besuchen darf, solange es möglichst unauffällig vonstatten geht. Ich glaube, es hat ihn verletzt, dass ich das schwere Schicksal seiner Frau gegen ihn verwendet habe, und es spricht für ihn, dass er es mir hat durchgehen lassen. Er fürchtet die Männer der Company. Er fürchtet auch, für zu nachgiebig gehalten zu werden. Eine ganze Weile liege ich neben meinem Mann, bis Angus sich im Schlaf umdreht und mich in die Arme nimmt, was er schon lange nicht mehr getan hat. Ich wage nicht, mich zu bewegen, und frage mich, ob er weiß, was er da tut, oder ob er träumt. Schließlich brummt er, dreht sich um und wendet mir wieder den Rücken zu. Und mir scheint, dass ich mich noch nie, nicht mal in meinen dunkelsten Momenten in der Anstalt nach dem 170
Tod meines Vaters, so einsam gefühlt habe. Ob es anders wäre, wenn Olivia noch lebte? Wenn Francis nicht zu uns gekommen wäre? Gegenstandslose Fragen. Die sind mir die liebsten. Ich verachte diese Schwäche an mir – diese endlosen einseitigen Unterhaltungen, die ich mit mir führe, anstatt einfach etwas zu tun, und manchmal (gewöhnlich spätnachts) wünsche ich mir, ich wäre mehr wie Ann Pretty. Ihr Nachname mag ein wenig unglücklich sein, doch gelegentlich denke ich, sie ist eine vorbildliche Pionierfrau, hartnäckig und hart im Nehmen, robust, fantasie- und skrupellos. Sie liegt ganz bestimmt nicht nächtelang wach und grübelt, was ihr Mann oder sonst wer über sie denkt. Sie würde auch nicht ihr einziges Kind an die Wildnis verlieren. Ich stehe auf, und um endlich etwas zu tun, beginne ich damit, einen Beutel Sachen zusammenzupacken für die Reise, die ich zu unternehmen gedenke. Um ehrlich zu sein, fehlt mir ein wenig der Mut dazu. Ich stehe meinen Ängsten vor der Wildnis und meiner mangelnden Courage Auge in Auge gegenüber. Wer weiß, vielleicht kommen Moody und dieser andere Mann morgen zurück und haben Francis bei sich. Es ist mir egal, ob sie ihn verhaften müssen, solange sie ihn nur finden und es ihm gut geht. Dann sitzt er vielleicht auch bald in Caulfield im Lagerhaus und zittert in dem dämmrigen, höhlenartigen Verlies vor sich hin, aber er ist in Sicherheit. Das sage ich mir, während ich meine wärmsten Sachen und eine Auswahl winterharter, unverderblicher Lebensmittel einpacke. Es ist ein bisschen so, wie ein Winterpicknick vorzubereiten. Wenn ich mir das einrede, ist es nicht ganz so schlimm. Ein kaum hörbares Klopfen an der Tür überrascht mich nicht so sehr, wie ich gedacht hätte: Ich denke unentwegt an Francis, also ist es vielleicht unvermeidlich, dass meine Sehnsucht sich endlich erfüllt. Vor Freude heftig atmend, reiße ich die Tür auf, will ihn schon mit Worten überschütten und mit Tränen, doch es 171
starrt mich nur Dunkelheit an. Ich sehe mich um, flüstere seinen Namen – es ist seltsam, dass ich flüstere, als hätte ich eine Art Vorahnung. Er steht da in der Dunkelheit – er tut das, um meinen Schrecken etwas abzumildern, nehme ich an, damit meine Blicke ihn erst suchen müssen und ich erst allmählich erkenne, um wen es sich handelt. Mit einer beschwichtigenden Geste hebt der Gefangene die Hände. »Bitte, schreien Sie nicht.« Ich starre ihn an. Ich hatte nicht vor zu schreien. Ich bin stolz darauf, dass ich nie schreie, nicht einmal unter schwierigsten Bedingungen. »Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Knox hat mich freigelassen. Ich will Ihrem Sohn folgen, weil ich denke, dass er den Mörder gesehen hat. Aber ich brauche Proviant, und mein Gewehr ist beschlagnahmt worden. Und ich glaube, Sie haben meine Hunde.« Ich starre ihn vollkommen ungläubig an und verstehe kaum, was er da sagt. »Mrs Ross, ich brauche Ihre Hilfe, und ich glaube, Sie brauchen meine.« So funktioniert das also: Gegenseitige Abhängigkeit bringt Menschen dazu zusammenzuarbeiten. Das hat nichts mit Vertrauen oder Güte oder anderen sentimentalen Anwandlungen zu tun. Ich verstehe nicht so recht, was er von Knox erzählt und warum der ihn so klammheimlich freigelassen hat, aber wenn ich mir sein übel zugerichtetes Gesicht so ansehe, nehme ich an, dass Mackinley daran schuld ist. Parker braucht ein Gewehr und Essen und seine Hunde, und ich brauche einen Führer, um Francis’ Spur zu folgen, und vielleicht glaubt er auch, Francis würde eher auspacken, wenn ich dabei wäre – Francis hat demnach auch etwas, das er will. Während mein Mann oben tief und fest schläft, packen wir unsere Sachen – ich bin dabei, mit einem Mordverdächtigen in die Wildnis aufzubrechen. Schlim172
mer noch, mit einem Mann, der mir nicht einmal offiziell vorgestellt worden ist. Ich bin zu erschrocken, um mich zu ängstigen, und zu aufgeregt, um mich darum zu scheren, wie unziemlich das ist. Ich nehme an, wenn man das Wichtigste ohnehin bereits verloren hat, verlieren Begriffe wie Ansehen und Anstand ihren Glanz. (Und außerdem, wenn es zum Schlimmsten kommen sollte, kann ich mir in Erinnerung rufen, dass ich mich schon viel billiger verkauft habe. Das kann ich mir einreden, wenn es sein muss.) Es schneit ganz leicht, als wir Dove River verlassen. Die beiden Hunde tapsen lautlos neben ihm her. Eine Stunde, nachdem wir den Hof der Prettys hinter uns gelassen haben, geht er zu einem Versteck unter ein paar Baumwurzeln und baut aus den Dingen, die er dort herausholt, rasch einen Schlitten zusammen – eine leichte, schlanke Konstruktion aus Weidenzweigen mit einer Art Sitz aus versteifter Tierhaut. Ich will mich gerade schon für die Aufmerksamkeit bedanken, als er das Bündel mit den Nahrungsmitteln und Decken darauf befestigt. Die Hunde sind ganz aufgeregt angesichts des Schnees und des Schlittens und bellen ein paarmal winselnd. Während dieses gesamten Unterfangens, das ungefähr eine halbe Stunde dauert, sieht Parker mich nicht einmal an und sagt kein Wort. Irgendwie habe ich das Gefühl, er ist nicht allzu erpicht darauf, mich meiner Ehre zu berauben. Er zieht noch einmal kräftig am Geschirr, und dann geht es los, in nördlicher Richtung, dem Verlauf des Dove River folgend, geleitet nur vom Rauschen des Flusses und einem trüben, amorphen Leuchten, das vom Schnee selbst auszugehen scheint. Ich folge ihm und stolpere in den ungewohnten Mokassins, auf die er als Ausrüstung für mich bestanden hat, fest entschlossen, mich nicht zu beklagen, ganz gleich, was auch passiert.
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bwohl es nicht häufig vorkommt, ist es doch nicht völlig außergewöhnlich, dass aus heiterem Himmel in Himmelvanger Besucher hereinschneien. Normalerweise handelt es sich dabei um Indianer, die vorbeikommen, um Güter und Neuigkeiten auszutauschen. Per heißt sie immer willkommen, denn es sind Nachbarn, und mit seinen Nachbarn soll man in Frieden leben. Und auch sie sind Gottes Kinder, selbst wenn sie in Dreck und Unwissenheit leben wie die Schweine. Manchmal kommen sie auch, wenn ihre Angehörigen krank sind und ihre eigenen Heilmittel versagt haben. Dann stehen sie mit ernsten Gesichtern und verzweifelt hoffend da und sehen zu, wie die Norweger winzige Dosen Laudanum verabreichen oder Brechwurz oder Kampfer oder ihre eigenen traditionellen Heilmittel anwenden, die für gewöhnlich ebenfalls nicht anschlagen. Per hofft, dies möge keiner dieser Fälle sein. Der weiße Mann streckt ihm eine eiskalte Hand entgegen. Er trägt eine Brille, deren Metallgestell mit Reif bedeckt ist, was ihm ein erstauntes Aussehen verleiht und an eine Eule erinnert. »Entschuldigen Sie unser Eindringen. Wir kommen von der Hudson Bay Company, und wir sind geschäftlich hier.« Das erstaunt Per, und er fragt sich, was um alles in der Welt die Company von ihm wollen könnte. »Bitte, kommen Sie doch herein. Sie müssen ja halb erfroren sein. Ihre Hand …« Die Hand, die er ergreift, ist blau vor Kälte und hat keinerlei Kraft mehr, sodass sie sich anfühlt wie ein Schweinekotelett. Per tritt einen Schritt von der Tür zurück und lässt sie hinein in die Wärme. »Haben Sie Tiere dabei?« »Nein. Wir sind zu Fuß unterwegs.« Per zieht erstaunt die Augenbrauen hoch und führt sie in einen kleinen Raum gleich neben der Küche, wo er nach Sigi und 174
Hilde ruft und heißen Eintopf und Brot und Kaffee für die Männer bestellt. Sigis Augen werden beim Anblick der beiden Fremden kugelrund vor Neugier. »Gütiger Himmel, Per, der Herr schickt uns diesen Winter aber auch alle möglichen Gäste!« Per antwortet darauf recht scharf – er gibt ihnen zu verstehen, dass er auf keinen Fall Gerüchte und Klatsch will, nicht ehe er weiß, was hier vor sich geht. Glücklicherweise scheinen die Männer kein Norwegisch zu verstehen. Sie grinsen das törichte Lächeln der Hungrigen und Müden, reiben sich die Hände und fallen mit inbrünstigen Dankesrufen über das Essen her. Als die Wärme langsam in seine Hände kriecht, verspürt Donald einen stechenden, kribbelnden Schmerz, und als er sie im Schein des Feuers betrachtet, sehen sie bläulich und aufgequollen aus. Eine Frau bringt eine Schale mit Schnee herein und besteht darauf, ihm die Hände damit einzureiben, wodurch langsam und schmerzhaft wieder Leben in sie zurückkehrt. Die Frau lächelt ihn an, während sie sich um ihn kümmert, sagt aber kein Wort – Per erklärt, dass sie Norweger sind und nicht alle von ihnen Englisch sprechen. »Also, was machen denn zwei Männer von der Company hier, mitten im November?« »Streng genommen ist es keine Angelegenheit der Company.« Donald fällt es schwer, nicht zu grinsen – er kann sein Glück kaum fassen, nicht bloß eine Unterkunft gefunden zu haben, sondern eine derart zivilisierte noch dazu, und einen kultivierten Mann wie Per Olsen zum Reden. »Sind Sie auf dem Weg irgendwohin?« In seinem Tonfall schwingt mit, für wie unwahrscheinlich er diese Möglichkeit hält. Donald muss sich beherrschen, nicht mit dem Mund voller Mandelkuchen zu antworten. (Mandeln! Die Leute hier müssen wahrlich vom Glück verwöhnt sein.) »Wir sind unterwegs, weil wir jemanden verfolgen. Wir haben 175
die Spur am Dove River an der Bay aufgenommen, sind dem Fluss gefolgt, der durch die Hochebene fließt, und dann führte die Fährte hierher.« Er sieht Jacob an, der dies bestätigen soll, doch der scheint eingeschüchtert durch die anderen Anwesenden und neigt nur den Kopf. Per hört ernsthaft zu und verlässt dann für eine Weile den Raum. Donald nimmt an, dass er sich mit einigen der anderen berät, denn als er zurückkommt, hat er einen jungen Mann bei sich, den er als Jens Andreassen vorstellt. »Jens möchte Ihnen etwas erzählen«, sagt er. Jens, ein schüchterner, schwerfälliger Mann mit einer Zunge, die viel zu groß wirkt für seinen Mund, berichtet, wie er am Flussufer einen halbtoten Jungen gefunden hat. Er hat ihn nach Himmelvanger gebracht, wo man ihn seither pflegt. Er erzählt auf Norwegisch, und Per übersetzt, bedächtig und bemüht, die richtigen Worte zu benutzen. Donald spürt Pers Beschützerinstinkt. Francis ist das verlorene Lamm, das Gott in seine Obhut geführt hat. »Wessen verdächtigen Sie ihn? Was ist passiert?« Donald will nicht alles preisgeben. Wenn Per den Jungen unter seine Fittiche genommen hat, will er ihn nicht gegen sich aufbringen. »Nun, es hat einen schlimmen Übergriff gegeben.« Per schaut auf, die blassen Augen weit aufgerissen. Als er das für Jens übersetzt, treffen sich ihre schockierten Blicke. »Wir wissen natürlich noch nicht sicher, ob Francis schuldig ist. Aber wir mussten ihn suchen. Die Mutter des Jungen macht sich jedenfalls allergrößte Sorgen.« Per runzelt die Stirn. »Wer ist Francis?« »Der Junge. Er heißt Francis Ross.« Per überlegt einen Augenblick. »Der Junge hat uns gesagt, er hieße Laurent.« Donald und Jacob sehen sich an. Donald jagt die Erkenntnis einen eiskalten Schauer über den Rücken. »Vielleicht ist er es gar nicht«, meint Per. 176
Donald erhebt aufgeregt die Stimme. »Die Spur führt hierher. Daran gibt es keinen Zweifel. Er ist ein englischer Junge mit schwarzem Haar. Er sieht nicht englisch aus, eher … französisch oder spanisch.« So hat Maria ihn beschrieben. Per schürzt die mädchenhaft roten Lippen. »Klingt, als sei er es.« »Was hat er sonst noch gesagt?« »Nur das … und dass er unterwegs war zu einer neuen Anstellung, aber dass sein Führer ihn im Stich gelassen hat. Er sagt, er sei in nordwestlicher Richtung unterwegs gewesen mit einem indianischen Führer.« Pers Blick streift Jacob ganz kurz. Per wendet sich an Jens und erklärt ihm die Lage. Dann sagt Jens etwas als Antwort auf irgendeine Frage. »Jens sagt, er fand es seltsam, dass er ganz allein unterwegs war. Dieser Junge kann nicht … kann nicht allein bis hierhergekommen sein, nicht bei diesem Wetter.« »Warum nicht?« »Der Junge war so erschöpft, so … ausgelaugt. Er kann unmöglich so weit gekommen sein, ohne Hilfe … oder ohne Zwang.« Schuldgefühle sind ein guter Ansporn, denkt Donald. »Ich fand es schon etwas seltsam«, fährt Per fort, »er sagte, er bräuchte Arbeit, um Geld zu verdienen, dabei hatte er einen ganzen Batzen Geld dabei, über vierzig Dollar. Das hier hatte er ebenfalls bei sich, und er war sehr erpicht darauf, es zu behalten.« Er hebt etwas vom Boden auf, das Donald bisher nicht aufgefallen ist: einen Lederbeutel, wie ihn die Indianer um den Hals tragen, gefüllt mit Tabak und Zunder. Er macht ihn auf und nimmt eine Rolle Geldscheine heraus sowie ein dünnes, handtellergroßes Täfelchen aus Knochen oder Elfenbein mit geschnitzten Figuren und kleinen dunklen Markierungen. Es ist sehr schmutzig. Donald starrt es an, der Hals schnürt sich ihm zu, und er streckt die Hand danach aus. »Das gehörte Laurent Jammet.« 177
»Laurent Jammet?« »Dem Opfer des Überfalls.« »Sie sagen ›gehörte‹.« Per starrt ihn an. »Verstehe.« Als man sie ins Krankenzimmer führt, kann Donald auf Anhieb Marias Beschreibung von Francis nachvollziehen. Eine dunkelhaarige, hübsche junge Frau steht auf, als sie die Tür öffnen, wirft ihnen einen misstrauischen Blick zu und geht hinaus, wobei ihr Rock ganz unverschämt seine Hosenbeine streift. Der Junge sieht wortlos zu, wie sie sich setzen, und Per stellt ihn vor. Gegen das weiße Laken wirkt seine Haut gelblich braun, beinahe südländisch. Sein Haar ist schwarz und recht lang, seine Augen von einem tiefen, bemerkenswerten Blau. Maria hat auch gesagt, er sei hübsch; ein hübsches Kind. Donald weiß zwar nicht, ob man Francis als hübsch bezeichnen könnte, aber an der Feindseligkeit, die er ausstrahlt, ist nichts Kindliches. Die blauen Augen starren ihn an, ohne zu blinzeln, und bewirken, dass er sich unbeholfen und linkisch vorkommt. Er nimmt sein Notizbüchlein hervor und rückt dann den Stuhl zurecht, wobei ihm das Büchlein von seinem Schoß auf den Boden rutscht. Er flucht stumm und hebt es auf, wobei er die Hitze, die ihm in Hals und Gesicht strömt, zu ignorieren versucht. Er ruft sich ins Gedächtnis, wer er ist und was er hier tut. Dann sieht er dem Jungen wieder in die Augen, der nun den Blick abwendet, und räuspert sich. »Dieser Herr ist Mr Moody von der Hudson Bay Company. Er ist aus Dove River hierhergekommen. Er sagt, deine Mutter und dein Vater machen sich große Sorgen um dich.« Per versucht, ihn zu beruhigen. »Hallo, Francis.« Francis nickt verhalten, als sei Donald eigentlich nicht der Beachtung wert. »Weißt du, weshalb ich hier bin?« Francis funkelt ihn finster an. »Du heißt Francis Ross?« 178
Francis senkt den Blick, was Donald als Zustimmung deutet. Donald sieht Per an, der den Jungen ansieht und offenbar gekränkt ist. »Ähm.. in Dove River, kanntest du da einen Mann namens Laurent Jammet?« Der Junge schluckt. Die Muskeln seines Unterkiefers scheinen sich anzuspannen, wie Donald bemerkt, und dann, zu seinem Erstaunen, nickt er. »Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?« Es entsteht eine lange Pause, und Donald fragt sich schon, ob der Junge überhaupt den Mund aufmachen wird. »Ich habe ihn gesehen, als er tot war. Ich habe den Mann gesehen, der ihn umgebracht hat, also bin ich ihm vier Tage lang Richtung Norden gefolgt, aber dann habe ich ihn verloren.« Seine Stimme ist, als er schließlich doch redet, tonlos und leise. Donald starrt den Jungen aufgeregt und ungläubig zugleich an. Er muss sich ermahnen, vorsichtig zu sein, eins nach dem anderen anzugehen, zu warten, bis er sicheren Boden unter den Füßen hat, ehe er den nächsten Schritt wagt, wie beim Durchqueren dieses höllischen Sumpfs. Er rückt das Notizbuch auf seinem Schoß zurecht. »Was … ähm, erzähl mir doch, was du genau gesehen hast … und wann das alles passiert ist.« Francis seufzt. »In der Nacht, als ich weggegangen bin. Das ist … viele Tage her. Ich kann mich nicht genau erinnern.« »Du bist seit fünf Tagen hier«, hilft Per ihm sanft auf die Sprünge. Donald sieht ihn mit gerunzelter Stirn an. Per erwidert seinen Blick mit unschuldiger Güte. »Also … dann vielleicht fünf Tage davor? Ich wollte zu Laurent Jammets Hütte. Es war schon spät, und es sah so aus, als sei er nicht da. Dann habe ich einen Mann herauskommen und weggehen gesehen. Ich bin reingegangen und habe ihn gesehen.« »Wen hast du gesehen?« 179
»Jammet.« Wieder schluckt er, anscheinend mit Mühe. Donald wartet eine ganze Weile, bis er weiterredet. »Er war gerade … gestorben. Er war noch warm, das Blut war noch feucht. Und daher wusste ich auch, dass der andere Mann der Mörder war.« Donald schreibt mit, was Francis erzählt. »Dieser … andere Mann – hast du den gekannt?« »Nein.« »Hast du gesehen, wie er aussah?« »Nur, dass es ein Indianer war, mit langen Haaren. Ich habe ganz flüchtig sein Gesicht gesehen, aber es war zu dunkel. Ich konnte nicht viel erkennen.« Donald schreibt weiter und versucht, dabei ganz unbeteiligt auszusehen. »Würdest du ihn erkennen, wenn du ihn wiedersiehst?« Diesmal lässt die Antwort lange auf sich warten. »Vielleicht.« »Und was ist mit den Kleidern – was hatte er an?« Francis schüttelt den Kopf. »Es war dunkel. Dunkle Sachen.« »War er angezogen wie ich? Oder wie ein Fallensteller? Du musst doch irgendeinen Eindruck bekommen haben.« »Wie ein Fallensteller.« »Warum wolltest du zu Jammets Hütte?« »Wir waren Freunde.« »Und um wie viel Uhr war das?« »Ich weiß nicht. Elf. Vielleicht auch Mitternacht.« Donald blickt auf und versucht, gleichzeitig dem Jungen ins Gesicht zu sehen und aufzuschreiben, was er sagt. »War das nicht ziemlich spät?« Francis zuckt mit den Schultern. »Hast du ihn oft so spät noch besucht?« »Er ging nicht so früh ins Bett. Er war kein Farmer.« »Also … du hast die Leiche gesehen. Und was hast du dann gemacht?« 180
»Ich bin dem Mann gefolgt.« »Bist du nach Hause gegangen … zum Packen?« »Nein. Ich habe ein paar von Jammets Sachen mitgenommen.« »Ist es dir nicht in den Sinn gekommen, deinen Eltern Bescheid zu sagen? Oder jemanden um Hilfe zu bitten, jemand, der sich mit so etwas auskennt?« »Dazu war keine Zeit. Ich wollte ihn nicht entwischen lassen.« »Wolltest ihn nicht entwischen lassen. Was hast du denn mitgenommen?« »Nur das Nötigste. Einen Mantel … was zu Essen.« »Sonst noch was?« »Warum? Wieso ist das denn wichtig?« Francis sieht auf und dann wieder Donald an. »Glauben Sie, ich hätte ihn umgebracht?« Donald erwidert ganz ruhig seinen Blick. »Hast du das?« »Ich habe doch schon gesagt – ich habe den Mörder gesehen. Er war mein Freund. Warum sollte ich ihn umbringen?« »Ich versuche nur herauszufinden, was passiert ist.« Per tritt von einem Fuß auf den anderen, fast wie um damit eine Warnung auszusprechen. Donald überlegt, ob er den Jungen noch weiter in die Enge treiben oder ihn einfach geradeheraus beschuldigen soll. Er tastet sich im Dunkeln vor, wie ein Chirurg bei seiner ersten Operation, nicht wissend, wo er das lebenswichtige Organ der Wahrheit suchen soll. »Er ist sehr müde.« Das kommt von Per. Der Junge sieht tatsächlich ganz ausgelaugt aus, die Haut spannt sich über seinen Knochen. »Nur noch einen Augenblick, wenn’s recht ist. Du sagst also, du seist gegen Mitternacht in das Haus dieses Mannes – Mr Jammet – gegangen, hättest ihn dort tot aufgefunden und seist dann dem Mann gefolgt, den du für seinen Mörder gehalten, dessen Spur du dann aber verloren hast.« »Ja.« Der Junge schließt die Augen. »Was ist das für ein Knochenplättchen?« 181
Francis macht die Augen wieder auf, diesmal vor Erstaunen. »Du weißt, was es bedeutet, nicht wahr?« »Ich weiß nicht mal, was es ist.« »Du hast es mitgenommen. Du musst doch einen Grund dafür gehabt haben.« »Er hat es mir geschenkt.« »Er hat es dir geschenkt? Es ist wertvoll.« »Haben Sie es gesehen? Ich glaube nicht, dass es wertvoll ist.« »Was ist mit dem Geld? Hat er dir das auch geschenkt?« »Nein. Aber ich brauchte Hilfe, um den … Mann zu finden. Ich dachte, ich müsste vielleicht … jemandem Geld geben.« »Es tut mir leid, aber das verstehe ich nicht. Wofür wolltest du denn jemandem Geld geben?« Francis dreht den Kopf weg. »Was hattest du vor?« Per räuspert sich und funkelt Donald wütend an. Der schließt widerstrebend und mit einem kleinen Knall sein Notizbuch.
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Draußen nimmt Per Donald am Arm. »Es tut mir leid, aber ich muss an seine Gesundheit denken. Er war dem Tode nahe, als Jens ihn hergebracht hat.« »Ich verstehe schon.« Das denkt Donald zwar augenblicklich nicht, aber er ist hier schließlich zu Gast. »Aber ich hoffe, Sie werden verstehen, dass ich ihn unter den gegebenen Umständen unter Arrest stellen muss. Wegen des Geldes, das er bei sich hatte, und so weiter.« Per hat die Angewohnheit, sich ganz leicht zu seinem Gegenüber vorzubeugen, wenn er mit einem redet, was, so nimmt Donald an, mit seiner Kurzsichtigkeit zu tun haben muss. Aus der Nähe scheint Per mit seinen hervorquellenden blassen Augen sogar ganz leicht nach Ziege zu riechen. 182
»Das ist natürlich Ihnen überlassen.« »Ja. Ist es. Also … ich würde es gerne so einrichten, dass eine Wache vor seinem Zimmer postiert wird.« »Wozu? Er kann Himmelvanger schwerlich verlassen, selbst wenn er laufen könnte.« »Gut. Nun …« Donald kommt sich dumm vor und bemerkt plötzlich den Schnee, der jenseits des Fensters fällt. »Solange wir ihn im Auge behalten.« »Hier gibt es keine Geheimnisse«, erklärt Per ernst und sieht ehrfurchtsvoll hoch zur Decke.
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it gemischten Gefühlen starrt Andrew Knox zum Fenster hinaus auf den fallenden Schnee. Einerseits weiß er wegen der Bemerkungen, mit denen Maria ihre Schwester aufzieht, dass Susannah sich mit Mr Moody eingelassen hat, und macht sich daher auf väterliche Art und Weise Sorgen um den jungen Mann der Company, der da draußen in der Wildnis ist. Andererseits ist er erleichtert, weil die Spuren des Gefangenen nun langsam unter der Schneedecke verschwinden. Es ist ein trockener Pulverschnee, echter Winterschnee, der, wenn er erst einmal gefallen ist, den Boden bis zum Frühling verstecken wird. Natürlich hat er mit Mackinley und den anderen über die Flucht gejammert und hat geholfen, Freiwillige zu kleinen Suchtrupps zusammenzustellen, um zumindest die Richtung zu bestimmen, die der Flüchtige eingeschlagen haben könnte. Nachdem die Trupps losgezogen waren, ist Knox mit Adam in sein Arbeitszimmer gegangen und hat ihm eine lange Gardinenpredigt darüber gehalten, was für einen schweren Fehler er sich erlaubt hat. Adam protestierte vehement, er könne sich ganz genau daran erinnern, wie er die Tür mit Kette und Vorhängeschloss gesichert habe, und Knox räumte ein, es bestehe die sehr geringe Wahrscheinlichkeit, dass es noch eine andere Erklärung für die Flucht gab, und aus diesem Grunde würde Adam seine Anstellung nicht verlieren. In Adams Gesicht spiegelten sich rechtschaffener Protest und widerstrebende Dankbarkeit. Beide wissen, dass Adam im Recht ist, aber sie wissen auch, wie weit man im Streit mit seinem Arbeitgeber gehen darf und dass es gewisse Grenzen gibt. Das Leben ist eben ungerecht. Und als sei das alles noch nicht verwickelt genug, erreichte sie vor etwa einer Stunde aus Dove River das Gerücht, Mrs Ross sei verschwunden, und man zerreißt sich das Maul über die 184
Vermutung, sie sei von dem Flüchtigen entführt worden. Knox ist entsetzt über die Wendung, die die Dinge nehmen, und zermartert sich das Hirn über seine Rolle bei der ganzen Geschichte. Ob er irgendwie dafür mitverantwortlich ist, weil er ihr gestattet hat, mit dem Mann zu reden? Oder ist es reiner Zufall, dass die beiden zur gleichen Zeit verschwunden sind? Das, so muss er gestehen, ist eher unwahrscheinlich. So gesehen hofft er fast, dass sie entführt wurde, denn sollte sie allein dort draußen unterwegs sein, sind die Aussichten, dass sie bei dieser Witterung überlebt, ziemlich düster. Als er seiner Frau und seinen Töchtern diese Nachricht überbrachte, betonte er ganz besonders, dass der Gefangene sich ganz sicherlich so weit wie möglich von Caulfield entfernen würde. Wie erwartet reagierten sie auf die Neuigkeit von Mrs Ross’ Verschwinden mit Schrecken. Das ist der Albtraum einer jeden weißen Frau im unzivilisierten Hinterland, auch wenn er ihnen in Erinnerung ruft, dass es sich bis dato nur um ein Gerücht handelt. Aber in den Köpfen der Leute hat seine Flucht und das Verschwinden einer einheimischen Frau seine Schuld besiegelt. Mackinley nahm die Nachricht mit grimmiger Zufriedenheit auf, obschon er gleichzeitig Adams Dämlichkeit verfluchte und auf Caulfields Mangel an geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten für Verdächtige schimpfte. Nun ist er mit einem der Suchtrupps unterwegs und fahndet entlang der Bucht nach möglichen Spuren. Nach seiner Unterredung mit Mackinley, in der er ihm von dem leeren Lager erzählte, hatte Knox sich mit einem Glas Brandy in seinem Arbeitszimmer einschließen müssen, wo ihn dann ein heftiges Zittern überkam. Glücklicherweise ging es nach ein paar Minuten vorüber, aber er sieht sich noch immer nicht in der Lage, all seinen Mut zusammenzunehmen und sich der Welt zu stellen. »Daddy?« So hat Maria ihn schon seit Ewigkeiten nicht mehr genannt. »Geht es dir gut?« Sie tritt von hinten an ihn heran und 185
legt ihm die Hände auf die Schultern. »Es ist furchtbar.« »Es könnte schlimmer sein. Es könnte immer schlimmer sein.« Maria sieht aus, als hätte sie geweint – noch eine dieser kindischen Angewohnheiten, von denen er vermutet hatte, dass sie sie längst abgelegt hätte. Er weiß, sie sorgt sich nicht um sich selbst, sondern um seinen guten Ruf. »Ich will nicht mal daran danken, was die Leute sagen werden.« »Zieh’ keine voreiligen Schlüsse. Wir glauben alle zu wissen, was passiert ist, aber das sind bloß Vermutungen. Wenn du wissen willst, was ich denke …« Er unterbricht sich. »Entflohene Häftlinge kommen meist nicht sehr weit. Wahrscheinlich ist er in ein oder zwei Tagen schon wieder hinter Gittern.« »Ich darf gar nicht an diese arme Frau denken.« »Es hat noch niemand mit ihrem Mann gesprochen. Ich gehe hin und rede mit ihm. Vielleicht ist ja gar nichts dran.« »Mackinley sah so wütend aus, ich dachte schon, er würde Adam schlagen.« »Er ist enttäuscht. Er glaubt, eine Verurteilung würde ihm eine Beförderung einbringen.« Maria schnaubt verächtlich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es nach alldem jemals wieder so wird wie früher.« »Ach … in ein paar Monaten werden wir uns kaum noch daran erinnern.« Er wirft einen Blick zum Fenster hinaus und fragt sich, ob sie das überzeugt. Wieder hat er das schwindelerregende Gefühl, dass eine Katastrophe unmittelbar bevorsteht. Als er sich umsieht (ein paar Sekunden später? eine Minute? er weiß es nicht), ist Maria verschwunden. Er ist wie hypnotisiert von dem wirbelnden Weiß dort draußen. Die Flocken sinken zu Boden wie Federn und schließen die Luft am Boden ein, wobei jede Schneeflocke die andere nur mit den Spitzen ihres Kristalls berührt. Der perfekte Schnee, um Spuren zu verdecken.
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Susannahs Reaktion auf die nervenaufreibenden Ereignisse des Tages besteht darin, in ihrem Zimmer all ihre Kleider anzuprobieren und jene beiseitezuschleudern, die aus der Mode gekommen sind. Dieses Ritual findet alle paar Monate statt, immer dann, wenn Susannah das Gefühl hat, das Joch des Landlebens laste allzu schwer auf ihren Schultern. Maria steht in der Tür und sieht ihr dabei zu, wie sie mit grimmiger Verachtung an den Schleifen eines grünen Moiré-Kleides zupft. Eine Welle der Zuneigung zu ihrer Schwester steigt in ihr auf, die sich in einer solch schweren Zeit über Nebensächlichkeiten wie Taille und Ärmelweite Gedanken macht. »Das Kleid könnte man ganz wunderbar ändern, Susannah. Zerreiß es nicht.« Susannah schaut auf. »Nun, mit diesen albernen Dingern kann ich es jedenfalls nicht tragen, die sehen einfach lächerlich aus.« Sie seufzt, gibt sich geschlagen und wirft das Kleid auf den Boden. Die Schleifen des Anstoßes hat Maria selbst angenäht, mit kleinen, festen Stichen. Maria hebt es auf. »Wir könnten neue Ärmel drannähen, vielleicht ein bisschen Spitze, die hier abmachen, und den Ausschnitt ändern, so, und dann wäre es wieder recht modern.« »Von mir aus. Und was machen wir aus dem hier?« Sie hält ein geblümtes Kattunkleid in die Höhe, das mehr als nur einen Hauch von Marie Antoinette als Milchmädchen hat. »Ähm … Putzlappen.« Susannah lacht – ihr privates Zuhause-Lachen, ein lautes, ungehemmtes Wiehern, ganz anders als dieses alberne Gekicher, das sie in der Öffentlichkeit von sich gibt und von dem ihre Mutter behauptet, es sei damenhafter. »Es ist furchtbar, oder? Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.« »Matthew Fox, soweit ich mich erinnere.« Susannah wirft das Kleid nach ihr. »Ein Grund mehr, es zu Putzlappen zu verarbeiten.« Maria sitzt auf dem Bett, umgeben von all den verschmähten, 187
ausgemusterten Kleidern. »Hast du schon an Donald Moody geschrieben?« Susannah weicht ihrem Blick aus. »Wie sollte ich denn? Es ist doch unmöglich, ihm etwas zukommen zu lassen.« »Ich dachte, du hättest es ihm versprochen?« »Na ja, das hat er mir ja auch versprochen, aber ich habe noch nichts bekommen – und im Gegensatz zu mir weiß er, wo ich bin.« »Wir müssten eigentlich bald etwas hören. Ich nehme an, sie werden von dem Häftling erfahren und einsehen, dass es vergebene Liebesmüh ist.« Sie legt sich zwischen die verstreuten Kleider. »Ich dachte, du magst ihn.« »Er ist ganz passabel.« Susannah steigt die Röte in die Wangen, sehr zu ihrem Ärger. Maria grinst sie an. »Hör auf! Was soll ich denn machen?« »Och, ich dachte, du hättest ihm vielleicht ein paar lange, leidenschaftliche Briefe geschrieben und würdest sie mit einem rosa Schleifchen versehen ganz nahe an deinem Herzen tragen.« Maria freut sich, dass Susannah errötet. So oft hat sie gesehen, wie junge Männer ihre leidenschaftliche Zuneigung für ihre Schwester entdeckten und glaubten, diese beruhe auf Gegenseitigkeit, bis Susannah nach einer Woche oder zweien das Interesse verlor und ein Auge auf etwas Anziehendes gleich um die nächste Ecke warf. Die Schubladen ihrer Kommode sind vollgestopft mit Pfändern unerwiderter Liebe. Marias Kommode ist nicht so überladen, doch ist sie deswegen nicht eifersüchtig auf ihre Schwester. Ganz im Gegenteil. Ihr entgeht nicht, dass Susannah diese Aufmerksamkeit sehr irritiert, weil sie sie umso mehr dazu zwingt, sich wie eine junge Dame zu benehmen. All die Männer, die ihr Gesicht und ihre Figur so reizend finden, übersehen dabei eine grundlegende Tatsache – Susannah ist ein durch und durch pragmatisches Mädchen, das an Schwimmen und Angeln mehr Gefallen findet als an eleganten Teegesellschaften. Gegenstandsloses Gerede langweilt sie, und blumige 188
Zuneigungsbekundungen beschämen sie. Weil Maria all das weiß, beneidet sie Susannah nicht um die Aufmerksamkeit, die sie erregt. Und weil Maria all das wusste, hatte Susannah, als Maria sich in einen jungen Mann verguckte, der im letzten Jahr an der Schule unterrichtete, von ganzem Herzen gehofft, er möge sie glücklich machen. Es war nicht Susannahs Schuld, dass Robert, als er sie kennenlernte, sich seiner Gefühle plötzlich nicht mehr so sicher war, und ihr, Susannah, schließlich ein gestammeltes Geständnis seiner Liebe machte, wonach er sich auf ihre entsetzte Reaktion hin mit dem nächsten Dampfschiff zurück nach Sarina verkrümelte. Susannah hatte Maria kein Wort davon erzählt, doch das Gerücht machte nichtsdestotrotz die Runde, wie es in Caulfield früher oder später immer der Fall war. Nach einer Zeit stummer Seelenpein hatte Maria dann eine Wachspuppe nach Robert Fischers Ebenbild angefertigt und sie langsam über dem Feuer in ihrem Zimmer geröstet. Merkwürdigerweise ging es ihr danach besser. Seither hat Maria mehr oder weniger ein Keuschheitsgelübde abgelegt, da sie sich nicht vorstellen kann, dass irgendjemand ihrem Ideal eines Mannes entsprechen könnte – ihrem Vater. Und außerdem ist sie sich nicht so sicher, dass Ehe und häusliches Glück wirklich so erstrebenswert sind, wie alle immer behaupteten. In Caulfield und Dove River arbeiten die Frauen sich die Hände wund und altern erschreckend schnell; und wenn die Männer in das Alter kommen, das man gemeinhin als die Blüte ihrer Jahre bezeichnen könnte, noch gesund, wenn auch ein wenig mitgenommen, sieht es so aus, als seien sie mit ihren Müttern verheiratet. Kein Schicksal, dass sie sich für sich selber wünscht. Doch Donald scheint ein anständiger, intelligenter Mann zu sein. Seit langem schon hat sie die Angewohnheit, provokativ und aufbrausend zu tun, um all jene abzuschrecken, die zu oberflächlich sind, um hinter diese Fassade zu schauen. Das ist, dessen ist sie sich sehr wohl bewusst, eine Art Selbstschutz, den 189
sie nach ihrer unglücklichen Affäre noch verstärkt hat. Donald hat sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen lassen, wenn auch nur um Susannahs Willen, und dafür muss sie ihm Respekt zollen. Und als sie sich nach seinem Treffen mit Sturrock auf der Straße begegnet waren, hatte er sie so tief beeindruckt mit dem, was er gesagt hatte, dass sie sich sogar fragte, ob alles, was man ihr über den Fahnder erzählt hatte, auch wirklich der Wahrheit entsprach. »Wie steht’s mit dem hier?« Susannah hält ein blassblaues Wollkleid hoch, eins ihrer ehemaligen Lieblingsstücke. »Das würde ich gerne wieder anziehen, wenn wir was mit den Ärmeln machen könnten.« Sie scheint alle Gedanken an Donald aus ihrem Kopf vertrieben zu haben. In gewisser Weise war es, seit er Caulfield verlassen hatte, als gebe es ihn gar nicht mehr, sei zu etwas Abstraktem geworden, einem Ding in der Schwebe, mit dem man sich wieder befassen konnte, wenn er wiederkam, aber vorher nicht. Maria überlegt sich, dass Susannah ihm sicher niemals als Erste schreiben wird, wenn überhaupt. Sie fragt sich, ob sie, wäre es nicht gleich bei ihrer ersten Begegnung klar gewesen, dass Donald ganz vernarrt in Susannah war, es sich erlaubt hätte, etwas für ihn zu empfinden. Aber es war natürlich dumm, überhaupt darüber nachzudenken. Mit dem leichten zweirädrigen Wagen fährt Knox höchstpersönlich nach Dove River, um Angus Ross einen Besuch abzustatten. Es ist ihm nicht gelungen, den Urheber des Gerüchts ausfindig zu machen, und er schimpft auf sich selbst, weil er so leichtgläubig ist. Seit das Gerücht im Umlauf ist, kommen ihm immer haarsträubendere Versionen der Geschichte zu Ohren: Die MacLarens seien in ihren Betten regelrecht abgeschlachtet worden, ein Kind werde vermisst, der Häftling habe Knox höchstselbst gefesselt, um entkommen zu können. Er hat also Anlass zur Hoffnung, Mrs Ross zu Hause vorzufinden. 190
Ross flickt gerade Zäune an der Wiese hinter dem Haus. Er arbeitet weiter, während Knox auf ihn zugeht, und richtet sich erst auf und sieht ihn an, als er nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt ist. Der Mann ist bekannt dafür, sehr wortkarg zu sein, so wie seine Frau für ihre Missachtung aller Konventionen bekannt ist, aber er begrüßt ihn doch recht herzlich. »Angus.« »Andrew, ich hoffe, es geht Ihnen gut.« »Ganz gut.« Er gehört zu den wenigen Menschen in Dove River, die offensichtlich keine Probleme damit haben, Knox bei seinem Vornamen anzusprechen. »Ich weiß, weshalb Sie hier sind.« Ross hat helle Augen und ein schwerfälliges Gebaren. Er erinnert Knox an verwitterten Granit: ein typischer Pikte. Er und seine Frau sind beide gleich stur, auch wenn sie dabei eher elegant und englisch wirkt, und als hätte sie ein Herz aus Stein. Feuerstein. Granit und Feuerstein. Solche Leute kann man sich unmöglich Intimitäten austauschend vorstellen. (Knox wendet sich innerlich mit Schaudern und schuldbewussten Selbstvorwürfen von dieser Vorstellung ab.) Und sie sind beide so ganz anders als Francis, dass man nie auf den irrigen Gedanken käme, er könnte ihr leiblicher Sohn sein. »Ja. Wir haben heute ziemlich wilde Gerüchte zu hören bekommen. Alle sind in heller Aufregung, weil der Gefangene entkommen ist. Das ist wirklich sehr bedauerlich.« »Nun, es stimmt. Sie ist weg, aber sie ist nicht gegen ihren Willen gegangen.« Knox wartet einen Augenblick ab, ob er das näher erläutert. Doch so entgegenkommend ist Ross nicht. »Wissen Sie, wo sie hin ist?« »Francis suchen. Sie hat gesagt, sie wolle ihm nachgehen. Sie konnte es nicht mehr ertragen, sich zu sorgen.« Knox wundert sich darüber, wie gelassen der Mann ist, auch wenn er etwas in der Richtung erwartet hat. 191
»Vermutlich wird sie den Männern von der Company in die Arme laufen.« »Ist sie allein?« Ross zuckt kaum merklich die Achseln und sieht ihm dabei in die Augen. »Wenn Sie mich damit fragen wollen, ob der Gefangene mit ihr gegangen ist, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich kann mir nicht vorstellen, warum er ihr helfen sollte, Sie etwa?« »Machen Sie sich denn gar keine Sorgen, Mann? Ihre Frau, da draußen … um diese Jahreszeit?« Ross nimmt seine Axt und seine Haue und geht in Richtung Haus. »Kommen Sie, und trinken Sie einen Tee mit mir.« Knox muss einsehen, dass ihm keine andere Wahl bleibt. Was Ross ihm dann in der Küche zeigt, lässt vermuten, dass er sich keine übermäßigen Sorgen über Mrs Ross’ Wohlergehen machen muss. Sie ist, wie es scheint, gut ausgerüstet. Er liest ihm sogar die Zeilen vor, die sie an ihn gerichtet hat. Die sind zwar knapp, aber aussagekräftig. Die Formulierung »Hör nicht auf das, was dir zu Ohren kommt« könnte vielleicht auf den Häftling anspielen, vielleicht aber auch nicht. Ross sagt nichts dazu. Knox fragt sich, ob Ross nicht ein bisschen Eifersucht verspürt, die Sorge eines Mannes, dessen Frau möglicherweise mit einem anderen Mann weggelaufen ist, wie merkwürdig die Umstände auch immer sein mögen. Doch davon ist nichts zu spüren. Während er an dem Tee nippt – der unerwartet gut schmeckt –, ertappt er sich dabei, wie er über den Zustand der Ehe der Ross’ spekuliert. Vielleicht können sie sich nach all diesen Jahren nicht mehr ausstehen. Vielleicht ist er froh, dass sie fort ist. Und der Sohn ebenfalls. »Vielleicht wäre es fürs Erste am besten, wenn Sie darüber mit niemand anderem sprächen. Ich werde sagen, dass ich mit Ihnen gesprochen habe, und dass es keinen unmittelbaren Anlass zur 192
Sorge gibt. Wir wollen doch die … Hysterie nicht noch weiterschüren.« Er stellt sich vor, wie sich immer mehr Männer auf den Weg nach Norden machen, und bei dem Gedanken spürt er ein irrsinniges Lachen in seiner Kehle aufsteigen. Eine unangemessene Reaktion, die sich mit fortschreitendem Alter immer häufiger seiner bemächtigen will. Vielleicht sind das die Vorboten der Senilität. Er schluckt es herunter – dies ist eine ernste Angelegenheit. Aber vielleicht wird es gar nicht nötig sein, noch mehr Männer zu entsenden, da Donald Moody und Jacob ja hoffentlich schon vor Ort sind – wo immer dieser Ort sein mag. Ross nickt. »Wenn Sie meinen.« »Gehe ich … recht in der Annahme, dass Sie nicht beabsichtigen, ihr selbst zu folgen?« Eine klitzekleine Pause. Die meisten Männer würden diese Frage als Kränkung auffassen. »Wo sollte ich denn suchen? Bei diesem Wetter wüsste ich doch gar nicht, wo sie hingegangen ist. Wie ich schon sagte, höchstwahrscheinlich wird sie den Männern der Company in die Arme laufen.« Versucht er sich gerade zu rechtfertigen? Knox fühlt, wie Abneigung in ihm hochsteigt. So langsam findet er diesen Gleichmut irritierend, um nicht zu sagen abstoßend. »Nun …« Knox steht auf und gibt seinem Drang zu gehen nach. »Danke, dass Sie so offen mit mir gesprochen haben. Ich hoffe aufrichtig, Ihre Familie wird sehr bald wieder vereint sein.« Ross nickt und dankt ihm für sein Kommen. Ihm scheinen sowohl Sorge als auch Begeisterung völlig abzugehen. Knox ist erleichtert, als er Angus Ross wieder verlassen hat. Ihm war ganz ähnlich zumute gewesen, als er mit den Eingeborenen zu tun gehabt hatte, die ihre Gefühle nicht so überschwänglich ausdrücken wie die Weißen, und es ist an193
strengend, mit Menschen zusammen zu sein, für die ein spontanes Lächeln eine kindische Schwäche ist.
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n einem geliehenen Wintermantel stapft Sturrock durch den frischen Schnee und sucht den Boden nach Spuren der Flucht ab. Zu seiner Rechten tut ein Mann namens Edward Mackay dasselbe. Zu seiner Linken stochert ein Junge mit beunruhigend großem Adamsapfel mit einem langen Stock in der Erde herum. Es ist, dessen ist Sturrock sich wohl bewusst, ein vergebliches Unterfangen. Von Anfang an wurde alles falsch gemacht. Als man das Lagerhaus, in dem der Häftling eingesperrt gewesen war, leer vorgefunden hatte, hatte diese Nachricht sich verbreitet wie ein Lauffeuer, war gleichzeitig in sämtlichen Haushalten Caulfields angekommen, und die Leute waren losgelaufen, um alles mit eigenen Augen anzusehen und Theorien aufzustellen, wobei sie sämtliche Spuren in unmittelbarer Umgebung vollkommen ausgelöscht hatten. Der Pulverschnee hatte mitten in der Nacht eingesetzt und hätte vermutlich ohnehin alle Spuren verdeckt, aber die vielen Menschen hatten es nun völlig unmöglich gemacht, irgendwelche Informationen zu sammeln. Als Sturrock am Lagerhaus ankam, war der Boden rundherum bereits ein Meer aus Schlamm und Matsch, und niemand hatte die geringste Ahnung, wo er suchen sollte. Also teilte man die kräftigen Männer in Gruppen ein, von denen jede in eine andere Richtung loszog und den Boden in Zehnerreihen absuchte. Und so durchkämmten sie die ganze Gegend um Caulfield und vernichteten jegliche Botschaft, die der Boden vielleicht für sie bereitgehalten hätte. Sturrock hatte sanft protestiert und genau davor gewarnt, doch da er ein Außenseiter war, hörte man ihm höflich zu und ignorierte ihn dann. Ein paarmal gab es falschen Alarm, als Leute schrien, sie hätten einen Fußabdruck oder irgendeine andere Spur gefunden, doch stets entpuppte sich das Entdeckte als eine natürliche Vertiefung im Boden, oder es war 195
die Spur eines Tiers oder eine von ihnen selbst. Sturrocks Gedanken wandern zurück zum Haus der Scotts, wo er seine Unterlagen unter der Matratze versteckt hat (die er zuvor auf Schädlinge, die sich daran gütlich tun könnten, untersucht hat). Er ist darauf eingerichtet, so lange zu bleiben wie nötig, überzeugt davon, Knox um Geld bitten zu können, weil er auf die Rückkehr von Mrs Ross’ Sohn und das Knochenplättchen warten muss. Niemand hier, davon ist er überzeugt, weiß, was es damit auf sich hat. Er selbst weiß es auch nicht, und nur ein scharfer Verstand wie der seine kann überhaupt begreifen, dass es sich um etwas wirklich Außergewöhnliches handelt. Sturrock begegnete Jammet zum ersten Mal vor einem Jahr an einem trüben, windigen Tag in Toronto. Sturrock hatte wie gewöhnlich zugelassen, dass seine Verpflichtungen seine Mittel überstiegen, und hatte eine endlose Gardinenpredigt seiner Vermieterin Mrs Pratt über sich ergehen lassen müssen. Sie gehörte zu den – leider zahlreichen – Menschen, die nicht erkannten, dass Sturrock ein Mann für die feineren Dinge des Lebens war, und dass sie sich glücklich schätzen sollte, dass er ihren schäbigen Räumlichkeiten die Ehre gab. Um sich von diesem äußerst unangenehmen Erlebnis zu erholen und darüber nachzudenken, wie er Abhilfe schaffen könnte, war er in ein Kaffeehaus gegangen, in dem er sich sicher war, noch ein wenig anschreiben lassen zu können. Er schwenkte gerade den letzten Schluck Kaffee in der Tasse, als er ein paar Gesprächsfetzen von den Männern am Nebentisch aufschnappte. Einer von ihnen, seinem Akzent nach Franzose, erzählte, er habe mit einem Mann aus Thunder Bay Geschäfte gemacht und einen seltsamen und vermutlich wertlosen Gegenstand bekommen, der ihm erst viel später aufgefallen sei. Es sei ein geschnitztes Elfenbeinplättchen mit Zeichen, die »irgendwie ägyptisch« aussahen, hatte er gesagt. 196
»Das ist nicht ägyptisch, das sind Bilder, Vögel und so was«, meinte ein anderer, der Stimme nach einer jener wertlosen Yankees, die die lange Grenze genutzt hatten, um vor dem Krieg davonzulaufen. Offensichtlich reichten sie das fragliche Ding am Tisch herum. »Ich weiß nicht, was das ist«, erklärte der Dritte. »Vielleicht ist es griechisch.« »Dann könnte es wertvoll sein«, meinte der Franzose. An diesem Punkt war Sturrock aufgestanden und hatte sich den Männern am Nebentisch vorgestellt. Das ist sein größtes Talent, sich in jede nur erdenkliche Gesellschaft einzuschleichen, von Bergarbeitern bis hin zu Grafen, und er ist einer der wenigen weißen Männer, die sich das Vertrauen und die Freundschaft etlicher Indianerhäuptlinge diesseits und jenseits der Grenze erarbeitet haben. Darum ist er ein so guter Fahnder; der Yankee hatte sogar schon von Sturrock gehört, was diesmal von Vorteil war. Er erzählte ihnen, er habe archäologische Studien betrieben und könne ihnen vielleicht helfen. Der Yankee bedrängte ihn, ein paar Geschichten zu erzählen, und Sturrock tat ihm den Gefallen, während er das Ding hin und her wendete und genau in Augenschein nahm. Er machte sich einen Spaß daraus, seine Bedeutung herunterzuspielen, doch in Wahrheit konnte er sich keinen Reim darauf machen. Ausgehend von dem bisschen, was er über griechische und ägyptische Kultur wusste – seine »Studien« waren eine leichte Übertreibung –, nahm er an, dass es keins von beidem war. Aber er war fasziniert von den kleinen Figürchen, welche die eckigen Markierungen umgaben, die eine Art Schrift zu sein schienen. Sie erinnerten ihn im Stil an die naiven Figuren indianischer Geschichten, die er auf Gürtel gestickt gesehen hatte. Schließlich gab er das Elfenbeinplättchen dem Franzosen zurück, der Jammet hieß, und sagte, er wisse auch nicht, was es sei, sei sich aber sicher, dass es sich weder um Ägyptisch noch Latein oder Griechisch handele und daher 197
nicht aus einer der großen alten Kulturen stammen könne. Einer der anderen Männer sprach Jammet sein Bedauern aus und sagte: »Vielleicht ist es ja was altes Indianisches, wäre doch typisch für dich, hm?« Die Männer lachten laut. Kurz darauf gingen sie ihrer eigenen Wege, und Sturrock blieb noch eine Stunde sitzen und nippte an dem Kaffee, den der Franzose ihm spendiert hatte. In den nächsten Tagen entstand eine Idee in seinem Kopf, die sich nicht mehr verdrängen ließ. Sturrock ging die Straße entlang (zu fahren konnte er sich nicht leisten) und hatte plötzlich die kleine Tafel und ihre seltsamen Zeichen vor Augen. Natürlich wusste jeder, dass die Indianer keine Schriftkultur hatten. Und nie gehabt hatten. Und doch. Und doch. Sturrock ging zurück zu dem Kaffeehaus und fragte nach dem Franzosen, und dann traf er ihn wie durch Zufall vor einer der Unterkünfte wieder – in einem besseren Viertel als seinem, wie er sehr wohl bemerkte. Sie unterhielten sich eine Weile, und Sturrock sagte, er habe mit einem Freund gesprochen, einem Mann, der sich mit alten Sprachen auskenne und der daran interessiert sei, sich das Täfelchen einmal anzusehen. Ob er es vielleicht ausborgen könnte, für ein oder zwei Tage, um es seinem Freund zu zeigen, vielleicht könne der ja bei der Wertbestimmung behilflich sein. Woraufhin Jammet sich als ausgebuffter Händler entpuppte und sich weigerte, das Ding herauszurücken, es sei denn für einen ordentlichen Batzen Geld. Sturrock, der glaubte, sein Interesse an dem Plättchen gut überspielt zu haben, war gekränkt ob dieses Mangels an Vertrauen, doch Jammet lachte nur und klopfte ihm auf die Schulter und sagte, er würde es für ihn aufbewahren, bis er das Geld beisammen hätte. Sturrock tat gleichgültig, dann druckste er herum und flehte ihn an, die Zeichen wenigstens abmalen zu dürfen, nur um sichergehen zu können, dass der Gegenstand überhaupt von Interesse sei. Jammet holte es hervor, sichtlich 198
amüsiert, und er kritzelte die Markierungen auf einen Fetzen Papier. Diesen hatte Sturrock danach in Museen in Toronto und Chicago vorgezeigt, hatte ihn Universitätsprofessoren und für ihre hohe Bildung bekannten Männern vorgelegt, und hatte doch niemanden gefunden, der seine Theorie widerlegte. Er verriet nicht, wofür er das Plättchen hielt, sondern fragte nur, ob es sich um eine der indogermanischen Sprachen handeln könne. Die Gelehrten glaubten das nicht. Einer nach dem anderen schlossen sie sämtliche Sprachen der Alten Welt aus. Es wäre vielleicht hilfreich gewesen, hätte er gewusst, woher das Plättchen kam, doch er hütete sich, dem Händler sein Interesse noch deutlicher zu zeigen. Irgendwann in den darauf folgenden Monaten erlosch sein Interesse. Es wurde zu einer Obsession. Zum Aufspüren vermisster Personen war er, wie er Moody bereits erzählt hatte, per Zufall gekommen. Sturrock hatte sich einen Namen als Journalist gemacht, nachdem er sich zuvor als Jurist, am Theater und in der Kirche versucht hatte. Bei letzterer Beschäftigung dieses unglückseligen Trios war er am erfolgreichsten gewesen: Seine Kirche hatte eine Gemeinde von mehreren Hundert um sich geschart, angelockt von seiner geistreichen, beredten Art, und er hatte großen Erfolg gehabt – bis seine Affäre mit der Frau eines der führenden Gemeindemitglieder aufgeflogen war und man ihn aus der Stadt vertrieben hatte. Der Journalismus kam seiner Außenseiternatur mehr entgegen. Es war abwechslungsreich, man kam unter Menschen, und er konnte seine Meinung in anschaulicher Sprache kundtun. Aber wichtiger war noch, dass er einen wahren Agitationsgeist in sich entdeckte. Anfangs gerührt von der romantischen Vorstellung des edlen Wilden, begann er, über Indianerfragen zu schreiben, und obwohl er schnell seiner pittoresken Illusionen beraubt wurde, rührte ihn die Realität, die er dann kennenlernte, ebenso an. Er freundete sich mit einem Mann namens Joseph 199
Lock an, einem Achtzigjährigen, der nahe Ottawa in bitterer Armut lebte und ihm Geschichten über seinen Stamm, die Pennacook, erzählte, und wie man sie von ihrem Land in Massachusetts vertrieben hatte. Er gehörte zu den wenigen Überlebenden seines Stamms, wenn er nicht sogar der letzte war. Sturrock schrieb brillant – wie man ihm oft versicherte und er gerne glaubte – über Josephs Notlage und wurde unversehens zu einem begehrten Gast in den eleganten Salons von Toronto und Ottawa. Er glaubte, seine Nische gefunden zu haben. Doch er musste hier, wie auch schon bei seinen anderen Unternehmungen, einsehen, dass nichts ewig währt. Sein Ruhm führte dazu, dass er andere Indianer kennenlernte, jüngere, wütendere Männer als Joseph, und in seinen Artikeln wurde er, statt anschaulich die Armut zu beschreiben und die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit anzuprangern (es gab nur begrenzte Möglichkeiten, das alles zu beschreiben), zunehmend polemisch. Plötzlich musste Sturrock feststellen, dass die Redakteure zögerten, seine Artikel zu veröffentlichen. Sie brachten vage Ausflüchte vor oder gaben ihren wankelmütigen Lesern die Schuld. Er führte ins Feld, die Leute müssten darüber in Kenntnis gesetzt werden, was die Ureinwohner dachten und empfanden. Die Redakteure murmelten etwas darüber, die Vorgänge in England seien wichtiger, und zuckten die Achseln. Türen schlossen sich vor seiner Nase. Der Strom der Einladungen riss ab. Er fand das ungerecht, und es kam ihm vor, als behandle man ihn, wie man die Indianer behandelt hatte. Ungefähr zu dieser Zeit war es, dass eine amerikanische Familie Kontakt zu ihm aufnahm, die ihren Sohn seit einem Indianerüberfall vermisste. Obwohl dies südlich der Great Lakes geschehen war, in Michigan, hatte der Vater von Sturrock gehört, und er war verzweifelt und klug genug zu glauben, dieser könne ihnen helfen. Sturrock war inzwischen beinahe fünfzig, doch er stürzte sich mit Fantasie und Begeisterung in seine neue Aufgabe. Vielleicht zum Teil aufgrund seiner 200
Außenseiterrolle wurde er von den Indianern freundlich aufgenommen, und sie vertrauten ihm. Nach etlichen Monaten entdeckte er den Jungen, der bei einer Huron-Sippe in Wisconsin lebte. Der Junge war einverstanden, zu seiner Familie zurückzukehren. Wieder einmal hatte Thomas Sturrock sich Respekt verdient. Nach diesem ersten befriedigenden Ausgang nahm er sich einiger weiterer Fälle entführter Kinder an, von denen er zwei Drittel aufklärte. Für gewöhnlich bestand das Problem nicht hauptsächlich darin, die entführten Kinder aufzuspüren, sondern darin, sie dazu zu überreden, in ihr früheres Leben zurückzukehren. Und im Überreden war er gut. Dann, ein paar Jahre später, bekam er einen Brief von Charles Seton. Dieser Fall war anders als die anderen, mit denen er sich befasst hatte, da mittlerweile über fünf Jahre vergangen waren, seit die Kinder von Indianern verschleppt worden waren. Doch mit seinem vom Erfolg bestärkten Selbstvertrauen wollte Sturrock diesen Fall, der, wie er glaubte, der krönende Abschluss seiner Karriere sein könnte, nicht ablehnen. Er hatte sein Auskommen, aber niemand wurde reich damit, die Kinder armer Siedler aufzuspüren. Er hatte nicht gemerkt, als es anfing auszuufern. Charles Seton war noch immer, nach fünf Jahren, außer sich vor Gram. Seine Frau war darüber gestorben, ein weiterer herber Verlust für ihn. Er arbeitete nicht mehr, sondern hatte sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen dem Auffinden seiner Töchter gewidmet. Die Suche nach ihnen war das Einzige, was ihm noch geblieben war. Sturrock hätte die Zeichen erkennen müssen, die darauf hindeuteten, dass dieser Mann keine Erklärung hinnehmen würde, dass kein Ausgang wiedergutmachen konnte, was er erlitten hatte. Sturrocks Hoffnung, die Mädchen zu finden, schwand. Viele glaubten, sie müssten gleich gestorben sein, und ihre sterblichen Überreste seien von wilden Tieren weggeschleppt worden. Nach einem Jahr Suche war auch Sturrock so 201
weit, dies zu glauben, doch Charles Seton wollte nichts davon wissen. Es war unmöglich, eine derartige Vermutung in seiner Nähe zu äußern. In dieser Zeit, als Sturrock häufig zwischen dem Lake Ontario und der Georgian Bay unterwegs war, lernte er einen jungen Indianer namens Kahon’wes kennen, der über die politischen Anliegen der Ureinwohner schrieb. Kahon’wes war sehr erpicht darauf, Sturrock kennenzulernen und Ansprechpartner bei den Zeitungen zu finden, und obwohl Sturrock ihm dabei nicht allzu sehr helfen konnte, da er ja nicht mehr in diesen Kreisen verkehrte, wurden sie gute Freunde. Kahon’wes nannte ihn Sakota:tis, was so viel heißt wie Prediger, und Sturrock schmeichelte die Aufmerksamkeit und die Art und Weise, wie der junge Mann ihn idealisierte. Nächtelang redeten sie über den Krieg südlich der Grenze und die Politiker in Ottawa. Sie redeten über Kultur, darüber, dass Indianer als Steinzeitvolk betrachtet wurden, und über die Vorurteile einer Schriftkultur gegenüber einer Kultur, die nur die mündliche Überlieferung kennt. Kahon’wes erzählte ihm von den Ausgrabungen entlang des Ohio River, bei denen man gewaltige Erdarbeiten und Artefakte aus der Zeit vor Christi Geburt entdeckt hatte. Als sie auf diese Funde gestoßen waren, hatten die weißen Archäologen sich hartnäckig geweigert zu glauben, die Indianer könnten demselben Volk angehören wie diese Gesellschaft von Baumeistern und Schnitzkünstlern (weswegen die Weißen die Indianer auch weiterhin skrupellos vertreiben konnten, weil die Indianer es angeblich mit diesen Menschen genauso gemacht hatten). Diese Gespräche kamen Sturrock zehn Jahre später, als er die Straßen von Toronto entlanglief und seine Nachforschungen über das Knochenplättchen anstellte, wieder in den Sinn. Er fing an, sich die Monografie auszumalen, die er über das Thema schreiben würde, und die schweren Erschütterungen, die seine Veröffentlichung in ganz Nordamerika verursachen würde. Ein solches Werk könnte der Sache seiner indianischen Freunde 202
unschätzbare Dienste erweisen, und nebenbei würde es ihn berühmt machen. Leider konnte er Kahon’wes nicht mehr nach seiner Meinung fragen, da der Mann dem Alkohol verfallen und über die Grenze verschwunden war. Ein Schicksal, wie es häufig Menschen befällt, die von dem für sie vorbestimmten Weg abweichen. Wie Sturrock also durch den Schnee stiefelt, nimmt er die atemberaubende, düstere Landschaft und seine unfähigen Mitsucher (allesamt Amateure) überhaupt nicht zur Kenntnis, sondern denkt an Kahon’wes und seine eigenen, lange unerfüllten Ambitionen. Ein solcher Lohn wäre jede Wartezeit, jede Unannehmlichkeit wert.
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V
on meinem Mann abgesehen habe ich in meinem Leben bisher nur wenig Zeit allein mit einem Mann verbracht, also kann ich kaum beurteilen, was normal ist und was nicht. Aber am dritten Tag nach unserer Abreise aus Dove River marschiere ich hinter Parker und dem Schlitten her und frage mich, warum er bisher gerade mal fünf Sätze an mich gerichtet hat, und ob ich etwas falsch gemacht habe. Mir ist natürlich klar, dass außergewöhnliche Umstände uns zusammengeführt haben, und ich bin selbst ein überaus schweigsamer Mensch, dennoch finde ich dieses Schweigen irritierend. Seit zwei Tagen verspüre ich keinen Drang mehr, ihm Fragen zu stellen, weil ich all meine Kräfte brauche, um mit seinem strammen Tempo Schritt zu halten, doch heute fällt es mir ein bisschen leichter. Das Gelände ist relativ eben, der Pfad führt durch ein Zedernwäldchen, und die Bäume bieten ein wenig Schutz vor dem Wind. Wir laufen durch ein nicht enden wollendes Dämmerlicht unter den Bäumen, die einzigen Geräusche sind das Knirschen unserer Schritte und das Zischen der Weidenkufen auf dem Schnee. Ohne zu zögern, schlägt Parker einen Weg entlang des Flusses ein, und mir kommt der Gedanke, dass er genau weiß, wo wir hingehen. Als wir Pause machen und schwarzen Tee trinken und Maisbrot essen, frage ich: »Das ist also der Weg, den Francis genommen hat?« Er nickt. Er ist, gelinde gesagt, kein Mann der vielen Worte. »Und … Sie haben diese Spur schon auf dem Weg nach Dove River gesehen?« »Ja. Zwei Männer sind hier vorbeigekommen, ungefähr zur gleichen Zeit.« »Zwei? Sie meinen, es war jemand bei ihm?« »Der eine hat den anderen verfolgt.« 204
»Woher wissen Sie das?« »Eine Spur bleibt immer hinter der anderen.« Er scheint einen Moment abzuwarten. Ich sage nichts. »Jeder hat sein eigenes Feuer gemacht. Wären sie zusammen unterwegs gewesen, hätten sie ein gemeinsames Feuer gehabt.« Ich komme mir ziemlich dumm vor, weil mir das nicht selbst aufgefallen ist. Parker verströmt eine kaum wahrnehmbare Zufriedenheit. Oder vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Wir stehen an unserem winzig kleinen Feuer, und der Becher wärmt meine erfrorenen Hände durch die Handschuhe hindurch – ein willkommener Schmerz. Ich halte die Tasse so, dass sie mein Gesicht mit dem heißen, feuchten Dampf umhüllt, wohl wissend, dass es umso mehr wehtun wird, wenn ich ihn wieder wegnehme, aber ich bin noch kein so abgehärteter WinterVeteran, dass ich mir dieses flüchtige Vergnügen versagen könnte. Einer der Hunde bellt. Ein Windstoß fährt durch die schneebeladenen Äste, und ein Vorhang weißer Flocken fällt zu Boden. Ich weiß nicht, wie er der Spur weiter folgen will, jetzt, wo sie unter dem Schnee verborgen liegt. Als könne er Gedanken lesen, sagt er: »Vier Männer hinterlassen deutliche Spuren.« »Vier?« »Die Leute von der Company, die Ihrem Sohn gefolgt sind. Die sind leicht auszumachen.« Bilde ich mir das nur ein, oder sehe ich da den Anflug eines Lächelns? Mit einem großen Schluck trinkt er seine Tasse aus und geht ein paar Meter abseits, ich nehme an, um sich zu erleichtern. Er scheint, wie viele andere Menschen, die sich häufig draußen aufhalten, siedendheiße Flüssigkeiten herunterschlucken zu können, ohne sich dabei zu verbrühen. Er muss einen Mund wie Leder haben. Ich wende mich ab und sehe zu den Hunden hinüber, die sich zusammen in den Schnee gekuschelt haben und sich gegenseitig wärmen. Seltsamerweise heißt einer von ihnen, 205
der kleinere, sandfarbene, Lucie, was er französisch ausspricht. Darum verspüre ich eine zärtliche Zuneigung zu ihr – sie wirkt freundlich und zutraulich, so wie man es von Hunden eigentlich erwartet, ganz anders als ihr Kumpel Sisco mit seinen beunruhigend blauen Augen und dem bedrohlichen Knurren. Mir fällt auf, dass es eine gewisse Symmetrie gibt zwischen den beiden Hunden und den beiden Menschen bei diesem Unternehmen. Ich frage mich, ob Parker auch schon auf diesen Gedanken gekommen ist, obwohl ich ihm natürlich nicht gesagt habe, wie ich mit Vornamen heiße, und er mich sicher auch nicht danach fragen wird. In der eisigen Luft kühlt der Tee so schnell ab, dass er innerhalb einer halben Minute eine angenehme Trinktemperatur hat und dann schnell getrunken werden sollte. Denn kurz darauf ist er auch schon eiskalt.
***
Abends schlägt Parker immer ein Lager auf und macht ein kleines Feuer, an dem ich sitze und mir die Hände ansenge, während mein Rücken einfriert. Währenddessen schlägt er mit der Axt ein paar Kiefernzweige ab. (Angus wird fluchen, weil sie weg ist, aber das ist sein Pech. Daran hätte er denken sollen, ehe er seinen Sohn einfach im Stich gelassen hat.) Den größten Ast befreit er von seinen Zweigen und benutzt ihn als Gerüst für unseren Unterschlupf, den er im Windschatten eines großen Baumstammes errichtet, oder, wenn er einen solchen findet, an einem umgestürzten Baum unter den herausgerissenen Wurzeln. Das Innere polstert er mit kleineren, belaubten Ästen aus, die er im Kreis auslegt, mit den Blättern in der Mitte, sodass sie wie Sonnenstrahlen angeordnet sind. Als ich das zum ersten Mal sehe, kommt es mir vor wie eine Opferstätte, und ich muss 206
diesen Gedanken gewaltsam aus meinem Kopf vertreiben, ehe ich ihn noch weiterverfolge. Dann deckt er eine geteerte Leinenplane auf das Ganze, die ich aus dem Keller geholt und mitgenommen habe. Die Plane wird mit weiteren Ästen im Boden verankert und dann mit Schnee abgedichtet, den er mit etwas Baumrinde zusammenscharrt, bis er eine Wand ringsherum bildet, die die Wärme im Inneren hält. Drinnen befestigt er eine kleinere Plane an dem Ast, der die Zeltstange bildet, sodass eine Art Vorhang entsteht, der den Unterschlupf zweiteilt. Dies ist sein einziges Zugeständnis an die Schicklichkeit, für das ich ihm allerdings sehr dankbar bin. All das baut er in der Zeit auf, die ich brauche, um Wasser zum Kochen zu bringen und einen Brei aus Hafermehl und Pemmikan zuzubereiten, in den ich dann noch ein paar verschrumpelte Beeren werfe. Daran, Salz mitzubringen, habe ich nicht gedacht, weshalb es ekelhaft schmeckt, aber es ist wunderbar, etwas Heißes, Handfestes zu sich zu nehmen und zu spüren, wie es auf dem Weg in den Magen die Kehle verbrüht. Dann gibt es noch etwas Tee mit Zucker, um den Geschmack des Eintopfs runterzuspülen, während ich mir vorstelle, welch angeregte Gespräche ich führen könnte, wäre jemand anderer mein Führer – oder ist er mein Entführer? Dann krabbeln wir erschöpft (ich zumindest) ins Zelt, und die Hunde schlängeln sich hinter uns hinein, woraufhin Parker den Eingang mit einem Stein verschließt. Am ersten Abend bin ich mit bis zum Hals klopfendem Herzen hineingeschlüpft, habe mich unter meinen Decken zusammengerollt, viel zu verängstigt, um mich zu bewegen, und erwartete ein Schicksal, das schlimmer ist als der Tod. Ich hielt den Atem an und lauschte auf Parker, der sich drehte und wendete und atmete, nur wenige Zentimeter entfernt. Lucie schob sich – oder wurde geschoben – unter dem Vorhang hindurch und ringelte sich neben mir zusammen, und ich freute mich über die Wärme und Nähe dieses kleinen Wesens neben mir. Dann lag Parker 207
still, doch zu meinem Entsetzen war irgendein Körperteil gegen den Leinenvorhang gepresst – und somit gegen meinen Rücken. Ich hatte keinen Platz, um von ihm abzurücken – mit dem Gesicht lag ich schon fast an der schneebedeckten Plane. Ich wartete darauf, dass etwas Entsetzliches passierte – an Schlaf war überhaupt nicht zu denken –, und irgendwann spürte ich die Wärme, die er ausstrahlte. Ich hatte die Augen weit aufgerissen, ohne etwas sehen zu können, spitzte die Ohren beim leisesten Geräusch, doch nichts geschah. Ich glaube, irgendwann bin ich sogar eingenickt. Schließlich ging mir dann auf, auch wenn ich beim Gedanken daran erröte, wie nützlich dieses Arrangement war, bei dem jeder ein wenig Privatsphäre hatte, wir aber unsere Körperwärme dennoch teilen konnten. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schimmerte schwaches Licht durch das Leintuch. In meinem Kokon war es stickig und muffig, und es roch nach Hund. Es war zwar kalt im Zelt, doch als ich hinaus ins Tageslicht krabbelte, wunderte ich mich, wie warm es im Vergleich mit der Luft draußen immer noch war. Ich bin mir sicher, dass Parker mich dabei beobachtete, wie ich unbeholfen auf Ellbogen und Knien herausgekrochen kam, das Haar wirr vom Gesicht abstehend, doch Gott sei Dank hat er dabei weder gegrinst noch mich angestarrt. Ernst reichte er mir einen Becher Tee, und ich stand auf und versuchte, meine Haare zumindest halbwegs ordentlich zurückzustreichen, und wünschte mir, ich hätte einen Taschenspiegel mitgenommen. Es ist unglaublich, wie sehr einem die Eitelkeit auch in den unangemessensten Situationen noch anhängt. Aber, so tröste ich mich, die Eitelkeit ist eine jener Eigenschaften, die uns von den Tieren unterscheidet, also sollte ich vielleicht stolz darauf sein. An diesem Abend – es ist unser dritter – bin ich fest entschlossen, mir ein wenig mehr Mühe mit meinem schweigsamen Begleiter zu geben. Beim Essen unseres Eintopfs beginne ich ein Gespräch. Ich habe das Gefühl, ich muss erst den Boden 208
dafür bereiten, sozusagen, und hatte mir vorher stundenlang Gedanken gemacht, worüber ich mit ihm reden könnte. »Ich muss schon sagen, Mr Parker, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich mitgenommen haben, und ich weiß Ihre Bemühungen sehr zu schätzen, es mir so angenehm wie möglich zu machen.« Im orange glühenden Schein des Feuers ist sein Gesicht eine undurchdringliche Maske aus Schatten, obwohl die Dunkelheit die Prellungen auf seinen Wangen verschleiert und seine harten Gesichtszüge etwas weicher erscheinen lässt. »Ich weiß, die Umstände sind etwas … ungewöhnlich, aber ich hoffe, wir können trotzdem gute Weggefährten sein.« »Weggefährten« schlägt den richtigen Ton an, finde ich, herzlich, aber ohne allzu viel persönliche Nähe zu implizieren. Er sieht mich an und kaut auf einem Stück Knorpel herum. Ich denke schon, er werde weiter schweigen, als gäbe es mich gar nicht oder als sei ich nicht weiter der Beachtung wert, wie ein Mistkäfer, doch dann schluckt er und sagt: »Haben Sie ihn je Geige spielen hören?« Es dauert einige Augenblicke, ehe mir klar wird, dass er über Laurent Jammet redet. Und dann stehe ich zu Hause vor der Hütte am Fluss, höre die liebliche Melodie und sehe Francis aus der Tür stürzen, das Gesicht ganz verwandelt vor Lachen – und der Verlust trifft mich wie ein Schlag und lähmt mich. Ich habe in meinem Leben nicht viel geweint – wenn man die Umstände bedenkt. Jeder hat sein Kreuz zu tragen – wenn man erst mal in mein Alter kommt und einen Ozean überquert und Eltern und ein Kind verloren hat –, aber ich denke, nicht zu anmaßend zu sein, wenn ich behaupte, dass meins ein wenig schwerer ist als das der meisten Menschen. Und doch hatte ich stets das Gefühl, Weinen sei sinnlos, es wäre, als ginge man davon aus, jemand würde einen dabei beobachten und sich erbarmen, was wiederum hieße, dass man glaube, jemand 209
anderer könne einem helfen – und ich habe schon früh gelernt, dass mir niemand helfen kann. Ich habe in den letzten Tagen nicht um Francis geweint, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, zu lügen und alles zu vertuschen und mir zu überlegen, wie ich ihm helfen könnte, und es wäre mir wie eine Verschwendung meiner knappen Kräfte vorgekommen. Und so weiß ich auch nicht, weshalb ich nun dasitze und mir die Tränen übers Gesicht laufen und warme Schlieren auf meinen Wangen hinterlassen. Ich schließe die Augen und wende betreten den Kopf ab und hoffe, dass Parker nichts merkt. Er kann auch nicht mehr tun als mich durch den Wald führen, wie er es bereits tut. Ich schäme mich, weil es nun aussieht, als appelliere ich an sein Mitgefühl. Als liefere ich mich seiner Barmherzigkeit aus, obwohl er vielleicht nicht einmal weiß, was das ist. Doch während ich so dasitze und schluchze, merke ich, wie wohltuend das ist. Die Tränen streicheln mein Gesicht wie warme Finger und trösten mich. Als ich die Augen wieder aufmache, hat Parker Tee gekocht. Er verlangt keine Erklärung. »Bitte verzeihen Sie mir. Mein Sohn mochte seine Musik so gern.« Er hält mir die Blechtasse hin. Ich nippe daran und bin überrascht. Er hat besonders viel Zucker hineingegeben, das Allheilmittel bei allen Wehwehchen. Könnten wir doch all unseren Kummer nur so einfach versüßen. »Er hat immer für uns gespielt, als wir im Trupp zusammengearbeitet haben. Unsere Chefs haben ihm gestattet, seine Geige mitzunehmen. Sie wussten, dass sich das zusätzliche Gepäck auszahlen würde.« »Sie haben mit ihm zusammengearbeitet? Für die Company?« Mir fällt die Fotografie von Jammet und der Gruppe Pelzhändler wieder ein, und ich gehe es im Geiste durch und versuche, mich zu erinnern, ob Parker darunter gewesen sein könnte. Ich bin mir sicher, ein Gesicht wie seins wäre mir aufgefallen, aber 210
ich kann mich nicht daran erinnern. »Das ist lange her.« »Sie wirken nicht wie ein … ein Mann der Company.« Ich lächle rasch, für den Fall, dass er das als Beleidigung auffassen sollte. »Mein Großvater war Engländer. Er hieß auch William Parker. Er kam aus einem Ort namens Hereford.« Er raucht Pfeife. Es ist eine meines Mannes, da seine eigene konfisziert wurde. »Hereford? In England?« »Kennen Sie es?« »Nein. Aber ich glaube, es gibt dort eine sehr schöne Kathedrale.« Er nickt, als sei das Vorhandensein einer Kathedrale Beweis genug. »Haben Sie ihn gekannt?« »Nein. Wie die meisten anderen ist er nicht hiergeblieben. Er hat meine Großmutter geheiratet, sie war eine Cree, ist aber dann nach England zurückgegangen. Sie hatten ein Kind, meinen Vater. Er hat sein ganzes Leben lang für die Company gearbeitet.« »Und Ihre Mutter?« »Ach …« Ein Funken Gefühl erhellt sein Gesicht. »Er hat eine Mohikanerin geheiratet, eine Frau von einer französischen Missionsstation.« »Aha«, sage ich, als erkläre das irgendwas. Und das tut es auch, da die Irokesen für ihre Größe und Kraft bekannt sind. Und angeblich (obwohl ich mir da natürlich kein Urteil erlauben kann) für ihr gutes Aussehen. »Sie sind also Irokese. Darum sind Sie so groß.« »Mohikaner, nicht Irokese«, korrigiert er mich, aber sanft, ohne beleidigt zu klingen. »Ich dachte, das sei dasselbe.« »Wissen Sie, was ›Irokese‹ bedeutet?« 211
Ich schüttle den Kopf. »Es heißt« Klapperschlange ». Den Namen haben uns unsere Feinde gegeben.« »Tut mir leid. Das wusste ich nicht.« Sein Mund verzieht sich zu etwas, das ich langsam als Lächeln erkenne. »Sie hätte eine brave, in der Missionsstation erzogene Katholikin sein sollen, aber sie war immer zuallererst Mohikanerin.« Seine Stimme klingt warm, humorvoll. Ich lächle ihn über das flackernde Feuer an. Es ist immer ein gutes Gefühl zu wissen, dass ein Mordverdächtiger seine Mutter liebt. Ich habe meinen Tee beinahe ausgetrunken, der mittlerweile natürlich eiskalt ist. Ich möchte ihn gern nach Jammets Tod fragen, befürchte aber, dass dies die aufkeimende Verbundenheit zwischen uns zerstören könnte. Stattdessen weise ich auf ihn. »Wie steht es mit Ihrem Gesicht?« Er berührt es mit zwei Fingern. »Tut kaum noch weh.« »Gut. Die Schwellung ist zurückgegangen.« Ich denke an Mackinley. Er scheint kein Mann zu sein, der so schnell aufgibt. »Vermutlich wird man uns zu folgen versuchen.« Parker schnaubt. »Selbst wenn, bei diesem Schnee werden sie die Fährte verlieren. Und sie werden nicht schnell vorankommen.« »Aber Sie werden der Fährte folgen können?« Diese Frage macht mir zunehmend Sorgen. Je mehr Schnee fällt – trügerisch leichter, schöner Schnee, trocken und pulverig –, desto mehr habe ich mir einzureden versucht, Francis habe Unterschlupf in irgendeinem Dorf in der Nähe gefunden. Daran glaube ich, weil ich es muss. »Ja.« Ich sage mir, dass er ein Fallensteller ist und daran gewöhnt, kleine, leichtfüßige Kreaturen durch den Schnee zu verfolgen. Doch seine Zuversicht scheint sich aus einer anderen Quelle zu speisen. Wieder einmal habe ich das Gefühl, dass er bereits 212
weiß, wo die Spur hinführt. Eine Weile sitzen wir schweigend beieinander, und ich beneide ihn um Rhythmus und Ritual des Pfeiferauchens, bei dem Männer immer beschäftigt und tief in Gedanken versunken wirken, auch wenn sie gerade überhaupt nichts tun und denken. Und doch bin ich innerlich ruhiger, als ich es lange war. Wir sind auf dem Weg. Ich tue etwas, um Francis zu helfen. Ich tue etwas, das beweist, wie sehr ich ihn liebe, und das ist wichtig, denn ich fürchte, er hat es vergessen.
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rgendwann wird Francis klar, dass er unter Arrest steht. Es hat ihm niemand gesagt, aber irgendwas in der Art, wie Per ihn ansieht, und diesen Moody auch, lässt ihn zu dieser Vermutung kommen. Moody hält ihn für Laurents Mörder. Das ärgert ihn, mehr als es ihn erschreckt oder wütend macht. An Moodys Stelle würde er das womöglich auch glauben. »Ich verstehe das nicht«, sagt Moody gerade und schiebt zum hundertsten Mal die Brille hoch, »warum du nicht irgendwem erzählt hast, was du gesehen hast. Du hättest es deinem Vater sagen können. Er ist ein angesehener Mann in eurem Dorf.« Francis beißt sich auf die Zunge, um sich die naheliegende Replik zu verkneifen. Die Idee klingt ziemlich einleuchtend, jetzt, wo Moody es so sagt. Er fragt sich, ob Moody seinen Vater kennengelernt hat. »Ich dachte, er würde zu viel Vorsprung bekommen. Ich habe nicht klar denken können.« Das ist eine Untertreibung. Donald hat den Kopf schief gelegt, als versuche er, den Ausdruck »unklar Denken« zu verstehen. Er sieht aus, als wolle ihm das nicht gelingen. Neben Moody sitzt diesmal schweigend ein junges Halbblut, das man Francis als Jacob vorgestellt hat. Francis hat ihn noch nie reden hören, doch er vermutet, dass er als eine Art Zeuge für die Hudson Bay Company fungieren soll. Er hat gehört – unter anderem von Jammet –, dass die Gesellschaft in Prince Rupert’s Land Männer aussendet, um zumindest ansatzweise für Recht und Ordnung zu sorgen. Wenn man von einem Mörder weiß, spüren die Männer der Company ihn ohne viel Aufsehen zu erregen auf und töten ihn. Er fragt sich, ob Jacob als Henker vorgesehen ist. Sein Henker. Meist sitzt er mit gesenktem Kopf da, doch er lässt Francis nicht aus den Augen. Vielleicht hoffen 214
sie, er könnte einen Fehler machen und sich verraten. Moody dreht sich um und flüstert irgendwas, woraufhin Jacob aufsteht und aus dem Zimmer geht. Moody rückt mit dem Stuhl näher an Francis heran und lächelt ihn kurz an, wie ein Junge, der am ersten Tag in einer neuen Schule versucht, Freunde zu finden. »Ich möchte dir etwas zeigen.« Dann zieht er an seinem Hemd und zerrt es aus der Hose, bis Francis die Narbe sieht – empfindliche, glänzende Haut, leuchtendes Rot auf Weiß. »Siehst du das? Die Klinge ist gut sieben Zentimeter tief eingedrungen. Und der Mann, der mir das angetan hat … hat eben hier gesessen.« Er sieht Francis in die Augen. Gegen seinen Willen reißt Francis erstaunt die Augen auf. »Und doch glaube ich, es gibt in diesem ganzen Land keinen Menschen, dem ich mehr am Herzen liege als ihm.« Francis ist so überrascht, dass er beinahe lächelt. Donald grinst ermutigt. »Du wirst lachen, wenn ich dir erzähle, wie das gekommen ist. Wir haben Rugby gespielt, und ich habe ihn angegriffen. Habe ihm die Beine unter dem Körper weggefegt – ein klassischer Angriff, einfach in ihn reingerutscht. Und er hat sich instinktiv gewehrt. Er hatte noch nie Rugby gespielt. Ich wusste nicht mal, dass er ein Messer bei sich hatte.« Donald lacht, und Francis spürt kurz ein warmes Gefühl der Zuneigung. Einen Augenblick lang ist es beinahe, als seien sie Freunde. Donald steckt das Hemd wieder in den Hosenbund. »Was ich damit sagen will, ist, man kann sich auch mit Menschen, mit denen man befreundet ist, mal streiten, und schnell hat man jemanden in einem Anfall von Zorn verletzt. Ohne es zu wollen. Einen Augenblick später – und man hätte sein Leben dafür gegeben, es ungeschehen zu machen. War es so? Ihr habt euch gestritten – vielleicht war er betrunken … du warst betrunken … er hat dich wütend gemacht, und du bist handgreif215
lich geworden, ohne nachzudenken …« Francis starrt die Decke an. »Wenn Ihnen die Gerechtigkeit so am Herzen liegt, warum verfolgen Sie dann nicht die andere Spur, die des Mörders? Die müssen Sie doch gesehen haben. Ich bin ihr gefolgt. Selbst wenn Sie mir nicht glauben, müssen Sie die doch gesehen haben.« Irgendwo in ihm ist ein Damm gebrochen, und die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus und werden immer lauter. »Vielleicht bist du den Spuren nur gefolgt, um sicherzugehen, dass du heil irgendwo ankommst.« Donald beugt sich vor, als habe er das Gefühl, endlich voranzukommen. »Hätte ich weglaufen wollen, wäre ich doch nicht hierhergekommen! Ich wäre nach Toronto gegangen oder hätte ein Schiff genommen …« Francis verdreht die Augen zur Decke mit ihren vertrauten Rissen und Sprüngen. Unlesbare Zeichen. »Wie hätte ich das Geld denn hier ausgeben sollen? Es ist verrückt zu glauben, ich hätte ihn umgebracht, sehen Sie das denn nicht? Es ist verrückt, auch nur zu glauben …« »Vielleicht bist du ja deshalb hergekommen, gerade weil es nicht so naheliegend ist … Du versteckst dich hier und gehst, wohin es dir beliebt, sobald sich die Lage wieder beruhigt hat – ziemlich gerissen, würde ich sagen.« Francis starrt ihn an – was nützt es schon, mit diesem Idioten zu reden, der sich schon sicher ist zu wissen, was geschehen ist? Soll es tatsächlich so weit kommen? Wenn es so sein soll, dann sei es. Es schnürt ihm die Kehle zu, und er hat den Geschmack von Erbrochenem im Mund. Er möchte am liebsten schreien. Wenn sie die reine Wahrheit erführen, ob sie ihm dann glauben würden? Wenn er ihnen erzählte, wie es wirklich war? Doch stattdessen macht er den Mund auf und sagt: »Leck mich, du Arschloch! Ihr könnt mich alle mal!« Dann dreht er sich mit dem Gesicht zur Wand. In dem Moment, als er sich umdreht, kommt Donald ein Gedanke. Endlich ist ihm wieder eingefallen, was ihn in den 216
vergangenen Tagen immer wieder beschäftigt hat – die Frage nämlich, was Francis an sich hat, das ihn an einen Jungen erinnert, mit dem er zur Schule gegangen ist, doch den er, wie alle anderen auch, gemieden hat. Vielleicht war das ja dann sein Motiv. Wäre jedenfalls nicht weiter verwunderlich.
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E
twas Bemerkenswertes geschieht. Das Wetter ist weiterhin vollkommen ruhig, es ist windstill, und wir wandern weiter in nördlicher Richtung durch den Wald, als mir plötzlich bewusst wird, dass es mir Spaß macht. Ich bin schockiert und fühle mich schuldig, da ich mir doch Sorgen um Francis machen sollte, aber es lässt sich nicht leugnen: Solange ich nicht unbedingt daran denke, wie er verwundet und erfroren irgendwo liegt, bin ich so glücklich, wie ich es lange nicht mehr gewesen bin. Nie hätte ich geglaubt, mich so weit in die Wildnis wagen zu können, ohne vor Angst zu sterben. Was ich an Wäldern noch nie habe ausstehen können, auch wenn ich das niemandem je gesagt habe, ist ihre Eintönigkeit. Es gibt so wenig Abwechslung, so wenig verschiedene Bäume, vor allem jetzt, wo der Schnee verhüllte, drohende Gestalten aus ihnen macht und es im Wald immer dämmrig und düster ist. In unserer Anfangszeit in Dove River verfolgte mich ein wiederkehrender Albtraum: Ich stehe mitten im Wald und drehe mich um, und als ich in die Richtung zurücksehe, aus der ich gekommen bin, merke ich, dass alles genau gleich aussieht, egal in welche Richtung ich schaue. Ich gerate in Panik, bin vollkommen desorientiert. Ich weiß, dass ich mich verirrt habe, dass ich nie wieder hinausfinden werde. Vielleicht liegt es an meiner verzweifelten Lage, die es mir unmöglich – oder schlicht sinnlos – erscheinen lässt, mich zu fürchten. Ich habe auch keine Angst mehr vor meinem schweigsamen Führer. Da er mich bisher noch nicht ermordet hat, trotz unzähliger sich bietender Gelegenheiten, beginne ich, ihm langsam zu vertrauen. Ich frage mich kurz, was wohl geschehen wäre, hätte ich mich geweigert mitzukommen – ob er mich 218
gewaltsam dazu gezwungen hätte? Dann höre ich auf, mir solche Fragen zu stellen. Acht Stunden lang durch frischen Schnee zu stapfen ist eine gute Methode, einen rastlosen Geist zu beruhigen. ***
Angus’ Gewehr ist am Hundeschlitten festgebunden und nicht geladen, bietet also wenig Schutz für den Fall eines unerwarteten Angriffs. Als ich Parker frage, ob das denn weise sei, lacht er. Er sagt, in dieser Gegend gebe es keine Bären. Und was ist mit Wölfen?, möchte ich wissen. Er sieht mich mitleidig an. »Wölfe greifen Menschen nicht an. Sie mögen vielleicht neugierig sein, aber angreifen würden sie nie.« Ich erzähle ihm von diesen armen Mädchen, die von Wölfen gefressen wurden. Er hört zu, ohne mich zu unterbrechen, und sagt dann: »Ich habe schon davon gehört. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass die Mädchen von Wölfen angegriffen wurden.« »Aber es gab auch keine Anzeichen dafür, dass sie entführt wurden, und man hat nicht die kleinste Spur von ihnen gefunden.« »Wölfe würden nicht den ganzen Kadaver fressen. Wären sie von Wölfen angegriffen worden, hätte man Spuren gefunden – Knochensplitter zum Beispiel, und sie hätten Magen und Gedärme liegenlassen.« Ich weiß nicht recht, was ich darauf erwidern soll. Ich frage mich, ob er über diese makabren Details Bescheid weiß, weil er sie mit eigenen Augen gesehen hat. »Aber«, fährt er fort, »ich habe es noch nie erlebt, dass Wölfe angreifen, ohne dass man sie provoziert hätte. Wir wurden bisher nicht angegriffen, nur beobachtet.« »Wollen Sie mir Angst machen, Mr Parker?«, frage ich mit 219
einem unbekümmerten Lächeln, obwohl er vor mir geht und mein Gesicht gar nicht sehen kann. »Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. So, wie die Hunde sich benehmen, sind Wölfe in der Nähe, vor allem abends. Und wir sind immer noch da.« Er wirft diese Bemerkung über die Schulter, als sei es ein belangloser Kommentar bezüglich des Wetters, doch ich sehe mich nun ständig um, weil ich mich vergewissern will, ob wir verfolgt werden, und bin noch ängstlicher darauf bedacht als zuvor, möglichst dicht beim Schlitten zu bleiben. Als es anfängt zu dämmern, glaube ich Schatten um mich herum zu sehen, die immer näher kommen. Ich wünsche mir, ich hätte dieses Thema nicht angesprochen. Ich setze mich ganz nahe ans Feuer, die Müdigkeit kommt gegen meine flatternden Nerven nicht an, und zucke bei jedem Blätterrascheln und jedem Schneewirbeln zusammen. Ich sammle ganz dicht am Feuer Schnee und bereite das Abendbrot mit weniger Aufmerksamkeit, als es verdient hat. Parker ist außer Sichtweite und sammelt Zweige; ich kneife die Augen zusammen und halte nach ihm Ausschau, und als die Hunde mal wieder anfangen, aufgeregt zu bellen, erschrecke ich mich beinahe zu Tode. Als ich dann später wie eine Sardine im Zelt liege, werde ich von irgendetwas geweckt. Ein schwaches graues Licht dringt durch das Leintuch, also muss es wohl kurz vor Anbruch der Morgendämmerung sein, oder der Mond scheint sehr hell. Dann höre ich, gleich rechts neben mir, was mich zusammenzucken lässt, Parkers Stimme: »Mrs Ross. Sind Sie wach?« »Ja«, flüstere ich schließlich. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich mir alle nur erdenklichen Schrecken auf der anderen Seite der Leintuchwand ausmale. »Wenn es geht, robben Sie rüber zum Ausgang und sehen Sie hinaus. Haben Sie keine Angst. Es ist nichts Schlimmes. Vielleicht interessiert es Sie.« 220
Es ist nicht schwer, mich so zu drehen, dass ich hinausschauen kann, da ich seit jener ersten Nacht immer mit dem Kopf zur Öffnung schlafe. Ich stelle fest, dass Parker meinen Teil der Gardine ein wenig zurückgeschoben hat, und spähe hinaus. Es dämmert noch nicht, aber ein kühles, gräuliches Licht liegt auf allem, vielleicht von einem unsichtbaren Mond, das vom Schnee zurückgeworfen wird und es möglich macht, Dinge zu erkennen, obwohl es unter den Bäumen schwach und diffus ist. Vor mir sehe ich einen schwarzen Fleck, die Überreste unseres Feuers, und dahinter stehen die beiden Hunde, hellwach und angespannt und starren auf irgendetwas unter den Bäumen. Einer der beiden winselt, vielleicht bin ich davon wach geworden. Zuerst sehe ich weiter nichts, doch nach ein, zwei Minuten registriere ich eine Bewegung in den Schatten. Ich zucke zusammen, als ich sehe, dass dort noch eine weitere hundeartige Gestalt steht, grau vor dem helleren Grau des Schnees. Das dritte Tier beobachtet die Hunde, seine Augen und Schnauze sind etwas dunkler als sein Fell. Die Tiere beobachten sich gegenseitig, höchst interessiert, aber nicht offensichtlich feindselig, obwohl augenscheinlich keiner dem anderen den Rücken zudrehen möchte. Wieder ein Winseln, diesmal vielleicht von dem Wolf. Er sieht klein aus, kleiner als Sisco. Er scheint allein zu sein. Ich sehe zu, wie er ein paar Schritte näher kommt und dann wieder zurückweicht, wie ein schüchternes Kind, das gern mitspielen möchte, aber nicht so recht weiß, ob man es lässt. Ungefähr zehn Minuten lang beobachte ich diese fast lautlose Kommunikation zwischen Hunden und Wolf und vergesse dabei ganz, mich zu fürchten. Parker ist gleich neben mir und sieht ebenfalls zu. Und obwohl ich nicht den Kopf zu ihm hindrehe, ist er mir so nahe, dass ich ihn riechen kann. Das alles wird mir erst nach und nach bewusst. Normalerweise ist die Luft so kalt, dass sie jeden Geruch abtötet. Wofür man eigentlich dankbar 221
sein sollte, habe ich bisher immer gedacht. Aber wie ich so die Tiere beobachte, riecht irgendetwas nach Leben – nicht nach Hunden und nicht einmal nach Schweiß, sondern eher nach Blätterwerk, wie der durchdringende, schwere Duft in einem Gewächshaus, feucht und nach Wachstum. Ich spüre einen Stich wie von einer Nessel, und zwar den meiner Erinnerung: die Erinnerung an das Gewächshaus in der Irrenanstalt, in dem wir Tomaten züchteten, und dass es genauso roch wie Dr Watson, wenn ich mein Gesicht in sein Hemd oder gegen seine Brust drückte. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass ein Mann so riechen konnte, nicht nach Tabak und Rasierwasser wie mein Vater oder eher unangenehm nach körperlicher Anstrengung und ungewaschenen Kleidern wie die meisten Insassen. Das Einzige, was in diesem erfrorenen Wald nach Watson und dem Gewächshaus duften kann, ist Parker. An diesem Punkt kann ich mich nicht beherrschen und drehe den Kopf ein wenig in seine Richtung. Ich atme ein, um die Erinnerung noch besser greifen zu können, die verlockend ist und überhaupt nicht unangenehm. Ich versuche es möglichst unauffällig zu tun, aber ich merke, dass er es merkt, und muss aufschauen, um mich zu vergewissern, und als ich das tue, sieht er mir aus wenigen Handbreit Entfernung direkt in die Augen. Ich weiche zurück, und dann lächle ich, um meine Verlegenheit zu überspielen. Ich sehe wieder hinüber zu den Hunden, doch der Wolf ist verschwunden wie ein grauer Geist, und ich weiß nicht, ob er gerade eben erst fortgelaufen ist oder schon vor etlichen Minuten. »Das war ein Wolf«, sage ich wahrhaft geistreich. »Und Sie hatten keine Angst.« Wieder sehe ich ihn an, weil ich nicht weiß, ob er mich foppen will, aber er zieht sich schon in seinen Teil des Zelts zurück. »Danke«, murmle ich und ärgere mich über mich selbst. Schließlich hat er den Besuch des Wolfs nicht speziell für mich arrangiert, also ist es ziemlich albern, so etwas zu sagen. Sisco 222
starrt immer noch dem Eindringling hinterher in den Wald, aber Lucie sieht mich an, mit offener Schnauze und heraushängender Zunge, als lache sie mich aus.
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D
ie Suchtrupps fanden keine Spur des entflohenen Häftlings, und die Hysterie um Mrs Ross Verschwinden legte sich allmählich angesichts der stoischen Haltung ihres Mannes. Man nimmt an, dass sie früher oder später auf Moody und ihren Sohn stoßen wird. Mackinley scheint diese beiden Dinge noch nicht miteinander in Zusammenhang gebracht zu haben und sitzt die meiste Zeit des Tages in seinem Zimmer und brütet vor sich hin. Beinahe drei Tage nach dem Verschwinden des Gefangenen spukt Mackinley noch immer durch das Haus der Knox’ wie ein rachsüchtiger Geist. Er schäumt vor ohnmächtiger Verbitterung, wie ein Mann, der das, was er suchte, schon in Händen gehalten und dann doch wieder verloren hat. Die Familie Knox erwähnt nicht einmal seinen Namen, als müsse er, wenn sie so tun, als gäbe es ihn nicht, wieder verschwinden. Knox schlägt ihm vor, er solle nach Fort Edgar zurückkehren und dort auf Nachricht von Moody warten. Mackinley weigert sich rundweg. Er ist fest entschlossen dazubleiben, während man Nachrichten mit einer Beschreibung des Flüchtigen hinausschickt. Er ist davon besessen, seine Pflicht zu tun, zumindest behauptet er das. Knox ist sich da nicht mehr ganz so sicher. An diesem Abend fängt Mackinley nach dem Essen an, über Glück und Pech zu schwadronieren. Er kehrt dafür zurück zu seinem Lieblingsthema, den Helden der Company, und erzählt Knox die bereits allseits bekannte Geschichte von einem Mann namens James Stewart, der seine Männer durch tiefsten Schnee und Winter peitschte, um Vorräte zu einem Handelsposten zu bringen, und diese bemerkenswerte Reise unter schlimmsten Witterungsbedingungen vollbrachte. Mackinley ist betrunken. Er hat ein fieses Funkeln in den Augen, das Knox beunruhigt. 224
Wenn er betrunken ist, dann jedenfalls nicht von Knox’ Wein. Er muss heimlich auf seinem Zimmer trinken. »Aber wissen Sie was?« Mackinley redet mit Knox, doch sein Blick ist auf den feinen Pulverschnee draußen gerichtet, den er als persönliche Beleidigung zu empfinden scheint. Seine Stimme klingt sanft. Er versucht, nicht zu schreien, versucht, kein kleiner Mann zu sein. Und obwohl Knox dieses Gehabe durchschaut, hat es doch eine haarsträubende Wirkung. »Wissen Sie, was man mit ihm gemacht hat – einem feinen Burschen wie ihm? Und das nur, weil er ein klein wenig Pech hatte. Er war einer der Besten. Ein anständiger Bediensteter der Company, der alles gegeben hat. Eigentlich sollte er inzwischen die ganze Chose führen, aber nun haben sie ihn an einen gottverlassenen Posten irgendwo im Nirgendwo versetzt – keine Pelze, eine einzige Ödnis. Und das alles bloß wegen ein bisschen Pech. Das ist nicht gerecht. Das ist doch nicht gerecht, oder?« »Ganz sicher nicht.« Genauso wenig, wie er Mackinley als Hausgast am Hals haben sollte, aber bei wem soll er sich darüber beschweren? Wäre Mackinley doch bloß selbst dem Jungen der Ross’ gefolgt und hätte Moody hiergelassen. Auch Susannah hätte das mehr gefreut. »Ich lasse mich nicht aufs Abstellgleis schieben. Mit mir machen die das nicht.« »Das wird ganz sicher nicht passieren. Es war ja schließlich nicht Ihre Schuld.« »Aber woher soll ich wissen, ob die das auch so sehen? Ich bin verantwortlich für Recht und Ordnung in meinem Fort und der Umgebung. Vielleicht, wenn Sie einen Brief schreiben könnten … die Fakten klarstellen und so weiter …« Mackinley sieht Knox mit weit aufgerissenen Augen an, als sei ihm die Idee gerade erst gekommen. Knox unterdrückt ein ungläubiges Luftholen. Er hatte sich schon gefragt, ob Mackinley möglicherweise ein solches Ansinnen stellen würde, hielt es dann aber selbst für seine 225
Verhältnisse für zu schamlos. Er lässt sich einige Momente Zeit, ehe er seine Antwort formuliert. »Sollte ich einen solchen Brief schreiben, Mr Mackinley, wäre es recht und billig, alle mir bekannten Fakten zu nennen, um eventuelle Missverständnisse zu vermeiden.« Er sieht Mackinley an und bemüht sich dabei, ruhig und neutral auszusehen. »Nun, ja natürlich …« Mackinley setzt an und hält dann mit großen Augen inne. »Wie meinen Sie das? Was hat Adam gesagt?« »Adam hat überhaupt nichts gesagt. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Sie Ihre Vorstellung von Recht durchzusetzen versuchen.« Mackinley sieht ihn wutentbrannt an, sagt aber nichts mehr. Knox verspürt ein klammheimliches Vergnügen, ihn zum Schweigen gebracht zu haben.
***
Als Knox schließlich das Haus verlässt, verbünden sich Schnee und Wolken und sorgen für ein seltsames, fahles Licht, das die Dämmerung noch kälter erscheinen lässt. Obwohl die Tage kurz sind und die Sonne tief steht, liegt irgendetwas in der Luft – vielleicht kündigt sich das Erscheinen eines Polarlichts an –, das seinen Schritten eine gewisse Leichtigkeit verleiht. Seltsam, so unbeschwert zu sein, während er auf eine Blamage zusteuert. Thomas Sturrock öffnet die Tür und entlässt dabei eine schwere, rauchige Miefwolke in den Flur. Er gehört offensichtlich zu den Menschen, die der Meinung sind, frische Luft gehöre vor die Tür. »Ich glaube, heute Abend bleiben wir ungestört. Es hat irgendeinen häuslichen Krach gegeben, meine Gastgeber sind anderweitig beschäftigt.« 226
Knox weiß nicht so recht, was er darauf erwidern soll. Aber er ist nicht darauf eingerichtet, John Scott gegenüberzutreten, wenn der getrunken hat. Vielleicht ist es auch besser, wenn er seine Frustration an seiner Frau auslässt und in der Öffentlichkeit zumindest die Fassade des rechtschaffenen Bürgers aufrechterhält. Er schämt sich sofort wieder für diesen Gedanken und schiebt ihn daher weit von sich. »Ich habe Ihre Nachricht bekommen, und ich bin gespannt, was Sie zu erzählen haben.« Er ermahnt sich, auf der Hut zu sein, auch in Sturrocks Gegenwart. »Ich habe vorhin über Jammet nachgedacht, als wir das Seeufer absuchten.« Sturrock schenkt zwei Gläser Whisky ein und schwenkt das Glas mit der goldbraunen Flüssigkeit. »Und ich habe an einen Mann gedacht, den ich einmal kannte, als ich noch ein Fahnder war. Er hieß Kahon’wes.« Knox wartet. »Ich weiß nicht so recht, ob ich das überhaupt ansprechen soll … ich habe mich gefragt, warum man einen Händler wie Jammet umbringen würde – zu welchem Zweck? Und ich habe den Verdacht, obwohl ich mir da natürlich keinesfalls sicher bin – dass es wegen des Knochenplättchens sein könnte.« »Das Knochenplättchen, von dem Sie schon gesprochen haben?« »Ja. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich es für meine Forschungen brauche, die ich zurzeit anstelle, und vielleicht ist Ihnen auch schon der Gedanke gekommen: Wenn ich mir schon solche Umstände mache, um an diesen Gegenstand zu gelangen, dann wären andere möglicherweise bereit, ebenfalls eine Menge dafür zu tun. Wie dem auch sei … ach, verdammt, ich weiß ja nicht einmal, ob es das ist, wofür ich es halte.« Im Schein der Lampe wirkt sein Gesicht alt und vertrocknet. »Wofür halten Sie es denn?« Sturrock trinkt das Glas mit einem Schluck leer und verzieht das Gesicht, als sei es Medizin. 227
»Das klingt jetzt sicher absurd, aber … nun ja, ich glaube, es könnte der Beweis sein für eine indianische Schriftkultur.« Knox’ erster Impuls ist zu lachen. Das klingt in der Tat absurd – wie die Räuberpistole eines kleinen Jungen. So etwas Lächerliches hat er ja noch nie gehört. »Und was führt Sie zu der Annahme?« Er hätte Sturrock nie für einen Narren gehalten, trotz all seiner Unzulänglichkeiten. Aber vielleicht irrt er sich ja, und Sturrock ist tatsächlich ein Narr. Und dieser Umstand auch der Grund, warum dieser Mann von Mitte sechzig einen altmodischen Mantel mit ausgefransten Ärmelaufschlägen trägt. »Ich kann gut verstehen, dass Sie meine These für absurd halten. Ich habe aber meine Gründe. Ich beschäftige mich seit über einem Jahr mit dem Thema.« »Aber jeder weiß, dass es so etwas nicht gibt!« Knox kann sich nicht mehr zügeln. »Es gibt nicht einmal den Hauch eines Beweises. Hätte es wirklich eine solche Schrift gegeben, hätte man Hinweise auf sie gefunden … es gäbe irgendein Dokument oder eine Aufzeichnung oder Berichte … aber es gibt nichts dergleichen.« Sturrock sieht ihn ernst an. Knox schlägt einen versöhnlicheren Tonfall an. »Es tut mir leid, wenn das herablassend klingt, aber das ist einfach zu … fantastisch.« »Vielleicht. Tatsache ist aber, dass manche Menschen es für möglich halten. Würden Sie mir da zustimmen?« »Ja. Ja, vielleicht tun sie das.« »Und wenn ich danach suche, könnten vielleicht auch andere danach suchen.« »Auch das ist möglich.« »Nun denn, ich habe mir Folgendes gedacht: Der Mann, den ich eben erwähnte, Kahon’wes, war so etwas wie ein Journalist, ein Autor. Ein Indianer, aber ein sehr talentierter. Gebildet, intelligent, konnte wunderbar geschnörkelte Sätze schreiben und so weiter. Ich dachte immer, es müsse etwas weißes Blut in 228
seinen Adern fließen, aber ich habe ihn nie danach gefragt. Er war fanatisch in seinem Stolz, besessen von der Vorstellung, die Indianer besäßen eine eigene, große Kultur, die der weißen in jeder Hinsicht ebenbürtig sei. In ihm brannte ein loderndes Feuer, wie es manchmal in frommen Männern brennt. Er hielt mich für einen Sympathisanten, und das war ich auch bis zu einem gewissen Grad … Er war sehr wankelmütig, der arme Kerl – verfiel dem Alkohol, als er nicht wie erhofft für Furore sorgen konnte.« »Was wollen Sie damit andeuten?« »Dass er oder jemand wie er, der mit ganzer Seele an eine indianische Nation und Kultur glaubt, beinahe alles tun würde, um an ein solches Beweisstück zu gelangen.« »Und kannte dieser Mann Jammet denn?« Sturrock wirkt etwas erstaunt. »Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Aber solche Dinge sprechen sich herum, nicht wahr – man muss einen Menschen nicht unbedingt kennen, um das haben zu wollen, was er besitzt. Ich kannte Jammet auch nicht, bis ich in einem Kaffeehaus in Toronto hörte, wie er über das Täfelchen redete. Er war nicht gerade verschwiegen.« Knox zuckt die Achseln. Er fragt sich, ob Sturrock ihn wirklich aus dem Haus gelockt hat, um ihm diese bizarre Geschichte zu erzählen. »Und wo lebt dieser Kahon’wes jetzt?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist Jahre her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Als ich mit ihm zu tun hatte, reiste er noch auf der ganzen Halbinsel herum und schrieb Artikel. Wie ich schon sagte, hat er irgendwann angefangen zu trinken und ist einfach abgetaucht. Ich habe gehört, er sei über die Grenze gegangen, aber mehr weiß ich nicht.« »Und das erzählen Sie mir, weil Sie glauben, dass er ein Verdächtiger sein könnte? Da bewegen Sie sich aber auf ziemlich dünnem Eis, meinen Sie nicht?« Sturrock betrachtet sein leeres Glas. Schon jetzt klebt Staub an dem Rest Flüssigkeit und zieht Schlieren. 229
»Kahon’wes hat mir einmal von einer uralten geschriebenen Sprache erzählt. Von der Möglichkeit einer solchen, meine ich. Ich hatte noch nie von so etwas gehört.« Sturrock lächelt, ein kaltes Lächeln mit zusammengekniffenen Mundwinkeln. »Ich hielt ihn natürlich für verrückt.« Er zuckt in einer Weise die Schultern, die Knox irgendwie erbärmlich vorkommt. »Und dann stieß ich auf diese Tafel. Und mir fiel wieder ein, was er gesagt hatte. Vielleicht fällt es auf mich zurück, wenn ich Ihnen das jetzt erzähle, aber ich möchte, dass Sie alles wissen. Möglicherweise ist es nicht weiter wichtig, ich sage Ihnen nur, was ich weiß. Ich will nicht, dass der Tod eines Mannes ungesühnt bleibt, nur weil ich geschwiegen habe.« Knox senkt den Blick und spürt wieder dieses vertraute Gefühl von Absurdität in sich aufsteigen. »Schade, dass Sie diese Informationen nicht schon früher weitergegeben haben, ehe der Gefangene entkommen ist. Vielleicht hätten Sie ihn identifizieren können.« »Wirklich? Sie meinen …? Nun ja.« Knox kauft Sturrock diese Miene gerade einsetzender Erkenntnis keinen Augenblick lang ab. Ja, langsam fängt er an, die ganze Geschichte in Zweifel zu ziehen. Vielleicht hat Sturrock einen ganz anderen Grund, den Verdacht auf das Halbblut lenken zu wollen, vielleicht um von seiner eigenen Anwesenheit abzulenken. Ja, je mehr er darüber nachdenkt, desto irrsinniger wird die ganze Geschichte. Knox fragt sich, ob es dieses Elfenbeinplättchen je gegeben hat, da niemand außer Sturrock es bisher erwähnt hat. »Nun, vielen Dank, dass Sie mich davon in Kenntnis gesetzt haben, Mr Sturrock. Das … könnte sich als sehr hilfreich erweisen. Ich werde es mit Mr Mackinley besprechen.« Sturrock breitet die Hände aus. »Ich will bloß helfen, den Mörder seiner gerechten Strafe zuzuführen.« »Natürlich.« »Da ist noch etwas …« 230
Aha, nun kommen wir zum Kern der Sache, denkt Knox. »Ich wollte fragen, ob Sie mir vielleicht ein wenig mit dem schnöden Mammon aushelfen könnten.« Auf dem kurzen, kalten Weg nach Hause fällt Knox plötzlich mit schrecklicher, stechender Deutlichkeit wieder ein, was er zu Mackinley gesagt hat. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Sie Ihre Vorstellung von Recht durchzusetzen versuchen.« Er hatte Mackinley gesagt (oder ihn zumindest in dem Glauben gelassen), dass er den Gefangenen nach der Befragung durch Mackinley nicht mehr gesehen habe. Nun bleibt nur zu hoffen, dass Mackinley zu betrunken oder zu aufgebracht war, um das zu bemerken. Eine grundlose Hoffnung, in Anbetracht der Umstände.
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B
eim Frühstück redet Parker über unseren nächtlichen Besucher. Der Wolf, den wir gesehen haben, ist ein junges Weibchen, vermutlich ungefähr zwei Jahre alt und noch nicht ganz ausgewachsen. Er glaubt, dass sie uns schon seit einigen Tagen folgt, aus Neugier vermutlich, und sich außer Sichtweite hält. Vielleicht habe sie sich mit Sisco paaren wollen, vielleicht habe sie es sogar getan. »Wäre sie uns auch ohne die Hunde nachgelaufen?«, frage ich. Parker zuckt die Achseln. »Vielleicht.« »Woher wussten Sie, dass sie gestern Abend da sein würde?« »Ich wusste es nicht. Aber es bestand durchaus die Möglichkeit.« »Ich bin froh, dass Sie mir Bescheid gesagt haben.« »Vor ein paar Jahren …«, Parker unterbricht sich, als wundere er sich selbst darüber, dass er im Begriff ist, etwas zu erzählen. Ich warte. »Vor ein paar Jahren habe ich ein verlassenes Wolfsjunges gefunden. Ich nehme an, seine Mutter wurde getötet, oder es ist vielleicht aus dem Rudel getrieben worden. Ich habe versucht, den kleinen Wolf großzuziehen wie einen Hund. Eine Weile war er glücklich. Er war wie ein Haustier, verstehen Sie … so anhänglich. Er hat mir die Hand geleckt und sich auf den Rücken gedreht und wollte spielen. Aber dann wurde er älter und spielte nicht mehr. Er erinnerte sich daran, dass er ein Wolf war und kein Haustier. Er starrte in die Ferne. Und dann, eines Tages, war er verschwunden. Die Chippewa haben ein Wort dafür – es heißt« Das Übel langen Nachdenkens ». Man kann ein wildes Tier nicht zähmen, weil es sich immer daran erinnert, wo es herkommt, und sich danach sehnt, dorthin zurückzukehren.« 232
Ich versuche, mir einen jüngeren Parker vorzustellen, der mit einem Wolfsjungen spielt, aber es gelingt mir nicht.
***
Vier Tage lang hängt der Himmel grau und tief über uns, und die Luft ist so nass, als liefe man durch eine Wolke. Wir wandern langsam, aber stetig bergauf, immer im Wald, wobei die Bäume sich allmählich verändern. Sie werden kleiner, es sind mehr Kiefern und Weiden dazwischen und weniger Zedern. Doch nun wird der Wald immer lichter, die Bäume weichen spärlichem Buschwerk, und wir gelangen, kaum zu glauben, an den Waldrand. Das Ende des Waldes, der kein Ende zu haben schien. Wir kommen auf eine ausgedehnte Ebene, gerade als die Sonne durch die Wolken bricht und die ganze Welt mit Licht überflutet. Wir stehen am Rand eines weißen Meeres, auf dem Schneewellen, so weit das Auge reicht, in alle Richtungen zu fließen scheinen. Solch unglaubliche Entfernungen habe ich nicht einmal gesehen, als ich am Ufer der Georgian Bay stand, und mir wird schwindlig davon. Hinter uns der Wald, vor uns ein anderes Land. Die Temperatur ist um etliche Grad gefallen. Es weht zwar kein Wind, doch die Kälte ist wie eine Hand, die sanft, aber unerbittlich schwer auf dem Schnee liegt und ihm zu bleiben gebietet. Ich spüre Panik in mir aufsteigen, wie damals, als ich mich zum ersten Mal dem unberührten Wald von Dove River gegenübersah: Das hier ist zu gewaltig, zu leer für Menschen, und wenn wir uns auf diese Ebene hinauswagen, sind wir so verwundbar wie Ameisen auf einem Platzteller. Hier kann man sich wirklich nirgendwo verstecken. Ich versuche, dem Drang zu widerstehen, mich wieder unter den Bäumen zu verkriechen, während ich in 233
Parkers Fußstapfen trete und mich immer weiter vom vertrauten, freundlichen Wald entferne. Plötzlich fühle ich mich jenen Tieren sehr verbunden, die sich im Winter in den Schnee eingraben und in unterirdischen Tunnels leben. Die Hochebene ist eigentlich nicht ganz eben, sondern voller Hügel und Erhebungen aus Schnee, unter denen sich Büsche und Erdhaufen und Steine verbergen. Das ganze Plateau ist ein einziger Sumpf und wohl kaum zu überqueren, solange es nicht zugefroren ist. Parker zeigt auf eine aufgewühlte Stelle, wo, so behauptet er, jemand eingesunken sein muss. Einer der Männer, die wir verfolgen. Wir haben es anscheinend leichter. Und dennoch ist der Boden so uneben, dass ich nach zwei Stunden kaum mehr einen Schritt laufen kann. Ich beiße die Zähne zusammen und konzentriere mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber ich falle immer weiter zurück. Parker bleibt stehen und wartet, bis ich ihn eingeholt habe. Ich bin wütend. Es ist einfach zu schwer. Mein Gesicht und meine Ohren sind eingefroren, aber unter den Kleidern schwitze ich. Ich will ein Dach über dem Kopf und mich ausruhen. Ich bin so durstig, dass meine Zunge sich in meinem trockenen Mund wie ein Schwamm anfühlt. »Ich kann nicht mehr!«, rufe ich ihm zu. Parker stapft zu mir herüber. »Ich kann nicht mehr. Ich muss mich ausruhen.« »Wir sind noch nicht weit genug gelaufen, um Pause zu machen. Das Wetter könnte umschlagen.« »Ist mir egal. Ich kann mich nicht mehr bewegen.« Ich lasse mich im Schnee auf die Knie sinken, einfach aus Protest. Es ist so herrlich, nicht mehr auf den Füßen zu sein, dass ich entzückt die Augen schließe. »Dann müssen Sie wohl hierbleiben.« Parkers Gesicht und Stimme sind unverändert, aber er dreht sich einfach um und geht. Das kann er doch nicht ernst meinen, denke ich, als er zum Schlitten und den Hunden geht, die 234
herumgezappelt und sich im Geschirr verheddert haben. Er sieht nicht mal zurück. Er schnalzt mit der Zunge, und die Hunde ziehen an. Ich bin empört. Er würde einfach weggehen und mich hierlassen. Mit Tränen der Wut in den Augen kämpfe ich mich auf die Füße und quäle mich mühsam hinter dem Schlitten her. Mein Zorn treibt mich noch eine Stunde voran, und dann bin ich so müde, dass ich überhaupt nichts mehr empfinde. Und dann bleibt Parker endlich stehen. Er kocht Tee, ordnet das Gepäck auf dem Schlitten neu und bedeutet mir, ich solle mich daraufsetzen. Er hat die Sachen so gepackt, dass sie eine unebene Rückenlehne bilden. Nun bin ich so gerührt, wie ich vorhin wütend war. »Schaffen die Hunde das denn?« »Wir schaffen das schon«, erwidert er, aber ich verstehe erst, was er meint, als er eine zusätzliche Leine am Schlitten befestigt, um den Hunden zu helfen. Er legt sich das mit einer Lederschlaufe versehene Ende der Leine um die Stirn und lehnt sich mit ganzer Kraft hinein, dann ruft er den Hunden etwas zu, so lange, bis der Schlitten sich endlich von dem Fleck losgerissen hat, an dem er am Schnee festgefroren war. Er zieht und zerrt und fällt dann in den gleichen metronomischen Schritt wie zuvor. Ich schäme mich, Teil seiner Last zu sein, etwas noch schwieriger zu machen, das ohnehin schon nahe an der Grenze des Erträglichen ist. Er klagt nicht. Ich habe mir Mühe gegeben, ebenfalls nicht zu klagen, kann aber nicht behaupten, dass mir das sonderlich gut gelungen wäre. Ich klammere mich an den Schlitten, der über die Schneehügel ruckelt und bockt, und stelle fest, dass die Ebene wunderschön ist. Von der Helligkeit tränen mir die Augen, und ich bin geblendet, nicht nur physisch, sondern auch regelrecht überwältigt von der unermesslichen, leeren Reinheit. Wir kommen an Büschen vorbei, in deren Zweigen Spinnennetze aus gewebtem Schnee hängen, und Schneeklumpen, die das Sonnenlicht 235
einfangen und in schillernde Regenbogen aufspalten. Der Himmel ist von einem polierten, metallischen Blau. Kein Lüftchen regt sich, und nicht das geringste Geräusch ist zu hören. Die Stille ist erdrückend. Im Gegensatz zu anderen Menschen habe ich mich in der Wildnis nie frei gefühlt. Die Leere droht mich zu ersticken. Ich erkenne die Symptome einsetzender Hysterie und versuche, sie abzuwehren. Ich zwinge mich, an die dunkle Nacht zu denken und die Befreiung von dieser blendenden Weitsicht. Ich zwinge mich, daran zu denken, wie klein und unwichtig ich bin, wie unwürdig jeglicher Beachtung. Ich fand es immer schon eher tröstlich, mir meine eigene Bedeutungslosigkeit in Erinnerung zu rufen, denn wenn ich unbedeutend bin, warum sollte man mich dann verfolgen? Ich kannte mal einen Mann, zu dem Gott gesprochen hatte. Natürlich gab es in den Anstalten, in denen ich gewesen bin, viele solcher Menschen – so viele, dass ich mir immer vorstellte, sollte es zufällig einen Fremden aus einem anderen Land zu uns verschlagen, müsste er annehmen, an einen Ort geraten zu sein, an dem die Heiligsten unserer Gesellschaft versammelt sind. Matthew Steward wurde von diesem Gespräch mit Gott gequält. Er war Ingenieur und besessen von der Idee, die Dampfkraft sei so gewaltig, dass sie die ganze Welt von der Sünde befreien könne. Und er war von Gott beauftragt worden, zu diesem Zwecke eine Maschine zu bauen, und hatte beachtliche Mittel in die Verwirklichung dieses Projekts gesteckt. Als ihm das Geld ausging, wurden sein Plan und sein Wahn offenbar; dass man ihn von seiner Maschine trennte, war ihm eine schier unerträgliche Qual, denn er war fest davon überzeugt, wegen seiner erzwungenen Müßigkeit würden wir nun alle zur Hölle fahren. Er wusste, welch wichtiger Teil des großen Plans er war, und so schnappte er sich einen nach dem anderen von uns und flehte uns an, ihm bei seiner Flucht zu helfen, damit er sein lebens236
wichtiges Werk vollenden könne. Unter all diesen gemarterten Seelen, die fast alle schlimme Seelenpein zu erdulden hatten, war sein Flehen das herzerweichendste, das ich je gehört habe. Ein- oder zweimal war ich sogar versucht, ihm meine aufgezogene Spritze in den Leib zu stoßen und ihn von seinem Leid zu erlösen (allerdings nicht allzu versucht, natürlich). So sehr kann die Kenntnis der eigenen Bedeutung zur Qual werden. Parker ruft den Hunden etwas zu, und wir kommen rumpelnd zum Stehen. Wir sind noch immer nirgendwo, doch der Wald ist mittlerweile längst außer Sichtweite, und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn noch einmal wiederfinden würde. Er kommt zu mir herüber. »Ich glaube, ich weiß, wo sie hingegangen sind.« Ich sehe mich um, kann aber natürlich nichts entdecken. Die Ebene erstreckt sich endlos in alle Richtungen. Es ist wirklich, als sei man auf hoher See. Ohne die Sonne hätte ich nicht die geringste Ahnung, in welche Himmelsrichtung wir unterwegs sind. »Dort drüben«, erklärt er und zeigt in die Richtung entgegen der Sonne, die gerade zu unserer Linken untergeht, »gibt es einen Handelsposten der Company namens Hanover House. Etliche Tagesreisen entfernt. Die Spur geht in diese Richtung. Da ist auch eine Siedlung namens Himmelvanger – irgendeine religiöse Gemeinschaft. Ausländer. Schweden, glaube ich.« Mit dem Blick folge ich seinem ausgestreckten Zeigefinger, spähe gen Westen in die schwindelerregende Ferne und denke an die Anstalt und ihre fanatisch frommen Insassen. »Francis könnte also …?« Ich wage kaum, meiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen. Sie droht mir die Kehle zuzuschnüren. »Bei Anbruch der Dunkelheit sollten wir da sein.« »Oh …« Mehr bringe ich nicht heraus, aus Angst, das große Geschenk des Glücks zu zerstören. Im Sonnenlicht fällt mir plötzlich auf, 237
dass Parkers Haar doch nicht ganz schwarz ist, sondern einen braunen und kastanienroten Schimmer hat, und nicht eine einzige weiße Strähne. Wieder ruft er den Hunden zu, ein wilder Schrei, der über die leere Ebene hallt wie das Brüllen eines Tieres, und wirft sich ins Geschirr, und der Schlitten setzt sich ruckelnd in Bewegung. Der Ruck nimmt mir den Atem, doch das ist mir egal. Ich danke, auf meine eigene Art.
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spen ist zu dem Schluss gekommen, dass seine Frau Merete irgendetwas ahnt. Er schlägt vor, dass sie sich eine Weile nicht mehr sehen, bis die Lage sich wieder beruhigt hat. Wütend verrichtet Line ihre Aufgaben, gibt den Hühnern einen Tritt, wenn sie ihr zwischen die Füße laufen, stößt die Nadel heftig in die Steppdecken und zieht den Faden viel zu fest, wodurch die Nähte sich wellen. Das Einzige, was ihr noch Freude macht, ist, sich um den Jungen zu kümmern. Natürlich wissen sie alle, dass er wegen eines abscheulichen Verbrechens unter Arrest steht. Heute sieht er blass und teilnahmslos aus, als sie die Bettlaken wechselt. »Hast du denn keine Angst vor mir?« Line schaut aus dem Fenster. Er merkt, dass sie herumbummelt. Sie lächelt. »Nein, natürlich nicht. Ich glaube das keinen Augenblick. Nein, ich glaube eher, das sind alles Narren.« Sie spuckt das so heftig aus, dass er ganz bestürzt ist. »Das habe ich dem Schotten auch schon gesagt, aber der glaubt, er tue seine Pflicht. Er glaubt, das Geld sei der Beweis für dein Vergehen.« »Vermutlich werden sie mich mitnehmen und vor Gericht stellen. Er hat also nicht das letzte Wort.« Line hat die Laken fertig aufgezogen, und er legt sich wieder hin. Ihr fällt auf, wie dünn seine Hand- und Fußgelenke sind. Noch dünner. Er wirkt so jung und wehrlos, dass sie kochen könnte vor Wut. »Ich würde hier weggehen, wenn ich könnte. Glaub mir, es ist der Tod der Seele, in so einem Nest zu leben.« »Ich dachte, ihr lebt alle ein anständiges Leben weit weg von Verführung und Sünde.« »So etwas gibt es nicht.« 239
»Würdest du nach Toronto zurückgehen?« »Das kann ich nicht. Ich habe kein Geld. Darum bin ich ja überhaupt hierhergekommen. Das Leben ist nicht leicht für eine alleinstehende Frau mit Kindern.« »Und wenn du Geld hättest? Könntest du dann gehen?« Line zuckt die Achseln. »Sinnlos darüber nachzudenken. Es sei denn, mein Mann käme überraschend zurück, mit einem Goldschatz im Gepäck. Aber das wird er nicht.« Sie lächelt »Line …« Francis nimmt ihre Hand, und sie hört auf zu lächeln. Sein todernster Blick lässt ihr Herz aussetzen. Wenn Männer einen so ansehen, dann meist nur aus einem Grund. »Line, ich möchte, dass du das Geld nimmst. Mir nützt es jetzt sowieso nichts mehr. Per hat nicht zugelassen, dass sie es mir wegnehmen, wenn du es also jetzt mitnimmst, kannst du es verstecken und dann irgendwann weggehen – im Frühling vielleicht.« Line sieht ihn verblüfft an, als er das sagt. »Nein, das meinst du nicht ernst. Das ist … nein, das könnte ich nicht.« »Ich meine es ganz ernst. Nimm es jetzt gleich mit. Sonst ist es futsch. Es war Jammets Geld – und dem wäre es auch lieber gewesen, du bekommst es als diese Kerle. Wo landet es nämlich sonst am Ende? In deren Taschen höchstwahrscheinlich.« Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Was für eine Gelegenheit! »Du weißt ja nicht, was du da sagst.« »Ich weiß ganz genau, was ich sage. Du bist hier nicht glücklich. Nimm es und bau dir damit ein neues Leben auf. Du bist jung, du bist schön, du solltest nicht hier festsitzen mit all diesen verheirateten Männern … du solltest glücklich sein.« Francis bricht ab, ein wenig außer Atem. Line legt eine Hand auf seine. »Du findest mich schön?« Francis lächelt ein wenig verlegen. »Natürlich. Alle finden das.« 240
»Ach, wirklich?« »Das sieht man doch daran, wie sie dich ansehen.« Vor Freude steigt ihr die Röte ins Gesicht, und dann beugt sie sich zu ihm hinunter und legt ihre Lippen auf seine. Sein Mund ist warm, aber starr, und obwohl er die Augen geschlossen hat, weiß sie augenblicklich, dass sie einen schlimmen Fehler gemacht hat. Sein Mund scheint sich angewidert zu verziehen, als hätte er eine Schlange oder einen Wurm berührt. Sie schlägt die Augen auf und weicht ein wenig zurück. Sie ist verwirrt. Er hat den Blick abgewendet, und ihm stehen Schrecken und Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Sie versucht, sich zu entschuldigen. »Ich …« Sie versteht nicht, was sie falsch gemacht hat. »Ich dachte, du hättest gesagt, ich sei schön.« »Bist du auch. Aber ich habe nicht gemeint … Darum wollte ich dir das Geld nicht geben. So habe ich das nicht gemeint.« Er scheint so weit von ihr abrücken zu wollen, wie es das stramm gespannte Laken zulässt. »Oh … ach Gott.« Line wird heiß und übel vor Scham. Wie konnte sie bloß alles noch schlimmer machen? Es war, als hätte sie sich heute Morgen nach dem Aufstehen überlegt, was sie alles Dummes anstellen könnte, und dann hätte sie es sich zwar verkniffen, Espen beim gemeinsamen Morgengebet ihre Gefühle ins Gesicht zu schreien und auch, Britta eine Nadel in ihren fetten Hintern zu rammen (beides sehr verlockende Vorstellungen), aber dafür dann einen Jungen geküsst, der wegen Mordverdachts unter Arrest steht. Sie muss lachen, und dann, ebenso plötzlich, weinen. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist. Ich bin augenblicklich einfach nicht ich selbst. Ständig mache ich dumme Sachen.« Sie wendet sich vom Bett ab. »Line, bitte weine nicht. Mir tut es leid, ganz ehrlich. Und ich finde dich wirklich schön. Aber ich bin nicht … es ist meine Schuld. Nicht weinen.« 241
Mit dem Ärmel wischt Line sich die Tränen aus dem Gesicht, wie Anna es tun würde. Ihr ist gerade das ein oder andere klar geworden. Sie dreht sich nicht mehr um, weil sie es nicht ertragen könnte, wenn er sie immer noch so angewidert ansehen würde. »Das ist sehr nett von dir. Ich nehme das Geld, wenn es dir wirklich ernst ist damit, weil ich glaube, dass ich nicht hierbleiben kann. Nein, ich weiß, dass ich es nicht kann.« »Gut. Nimm es.« Und dann dreht sie sich doch um, und Francis sitzt aufrecht im Bett, den Lederbeutel in der Hand. Sie nimmt die aufgerollten Geldscheine, die er ihr hinhält, und widersteht dem Drang, sie zu zählen, denn das sähe doch etwas undankbar aus. Aber wie es scheint, sind es mindestens vierzig Dollar (vierzig Dollar! Und noch dazu Yankee-Dollar), und sie versteckt das Geld in ihrer Bluse. Denn jetzt macht es auch nichts mehr aus, wenn er ihr dabei zusieht. Später steht sie in der Küche und stopft sich verstohlen Käse in den Mund, als Jens hochrot vor Aufregung hereinstürzt. »Stell dir vor! Noch mehr Besuch!« Jens und Sigi laufen nach draußen, und Line folgt ihnen schlechtgelaunt. Sie sieht den Umriss zweier Gestalten und eines Hundeschlittens. Die Norweger gehen hin und helfen der Gestalt, die auf dem Schlitten kauert, auf die Beine. Sie taumelt und muss sich stützen lassen. Line erhascht einen Blick auf ein grimmiges, dunkles Gesicht, und dann bleibt ihr Blick an der anderen Person hängen, weil sie plötzlich merkt, dass es sich um eine Frau handelt. Es ist nicht gerade alltäglich, eine Frau zu sehen, die so reist – zumal sie trotz der vielen Lagen Kleider etwas sehr Kultiviertes ausstrahlt –, und dann auch noch mit einem derart finster aussehenden Eingeborenen, dass zuerst niemand etwas zu sagen weiß. Die Frau ist offensichtlich so 242
erschöpft, dass Per sich zunächst nur an den Indianer wendet. Die ersten Worte, die gewechselt werden, versteht Line nicht, doch dann hört sie auf Englisch: »Wir suchen Francis Ross. Diese Frau ist seine Mutter.« Lines erster, verwerflicher Gedanke ist, dass Francis nun sicher sein Geld zurückhaben will. Die Eifersucht versetzt ihr einen Stich. Nach den peinlichen Ereignissen des Nachmittags hat sie das Gefühl, ein ganz besonderes Band zwischen sich und dem Jungen geknüpft zu haben. Er ist ihr Freund und Verbündeter – der Einzige in Himmelvanger, der sie nicht bevormundet. Sie will sich nicht verscheuchen lassen, nicht einmal aus dem Herzen eines potenziellen Mörders. Line legt eine Hand auf die Brust und das Geldbündel dazwischen und presst fest dagegen. Niemand, schwört sie stumm, wird ihr das jetzt wieder wegnehmen.
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änner und Frauen mit eifrigen, aufgeregten Gesichtern helfen mir auf die Füße und halten mich fest, als ich stolpere. Ich verstehe nicht, warum sie so erfreut sind, uns zu sehen, und dann trifft mich die Erschöpfung wie eine Keule, und ich werde von einem seltsamen Zittern und einem Pfeifen in den Ohren übermannt. Und als die Menschen, die mich umringen, nicken und lächeln und als Antwort auf irgendetwas, das Parker gesagt hat, aufgeregt losschnattern, höre ich nur noch ein lautes, wirres Summen und merke, dass meine Augen, obgleich sie brennen, völlig trocken bleiben. Vielleicht bin ich ausgetrocknet, vielleicht auch krank. Doch das ist alles unwichtig. Wichtig ist nur, dass Francis lebt, und dass wir ihn gefunden haben, das ist alles, was jetzt zählt. Unversehens danke ich sogar Gott, für den Fall, dass die längst eingerosteten Kommunikationswege doch noch nicht ganz verschüttet sind. Ich glaube, es gelingt mir, meine überbordenden Gefühle im Zaum zu halten, als ich ihn zum ersten Mal wiedersehe. Mehr als zwei Wochen sind vergangen, seit er von zu Hause weggegangen ist. Er sieht blass aus, sein Haar wirkt schwärzer denn je, und unter den Laken sieht sein Körper aus wie der eines dünnen, kleinen Jungen. Es ist, als ginge mir das Herz auf, bis es beinahe zerspringt und droht, mich zu ersticken. Ich bringe kein Wort heraus, sondern beuge mich nur zu ihm hinunter und fühle seine spitzen, dicht unter der Haut liegenden Knochen. Er schlingt mir die Arme um die Schultern, ich atme seinen Geruch ein, und das ist beinahe mehr, als ich ertragen kann. Dann muss ich ein bisschen abrücken, da ich ihn so nicht mehr sehen kann, ich muss ihn aber sehen. Ich streiche ihm übers Haar, das Gesicht. Ich nehme seine Hände in meine. Ich kann nicht aufhören, ihn zu berühren. 244
Er sieht mich an. Er ist auf mein Kommen gefasst, wie ich glauben will, sieht aber dennoch überrascht aus, und der Anflug eines Lächelns huscht über sein Gesicht. »Mama. Du bist gekommen. Wie hast du das gemacht?« »Francis, wir haben uns solche Sorgen gemacht …« Ich tätschle seine Schultern und Arme und kämpfe gegen die Tränen an. Ich will ihn nicht in Verlegenheit bringen. Und außerdem habe ich keinen Grund mehr zu weinen. Nie mehr. »Du hasst es zu verreisen.« Wir lachen beide etwas unsicher. Einen kurzen Augenblick gebe ich mich der Vorstellung hin, dass wir, wenn wir nach Hause kommen, noch einmal ganz von vorne anfangen. Dass es dann keine verschlossenen Türen mehr gibt und kein grüblerisches Schweigen. Ab jetzt werden wir glücklich sein. »Ist Papa auch hier?« »Oh … er konnte die Farm nicht im Stich lassen. Wir dachten, es wäre besser, wenn nur einer von uns losginge.« Francis’ gesenkter Blick fällt auf das Bettlaken. Diese Ausrede klingt genauso fadenscheinig wie sie ist. Ich wünschte, ich hätte überzeugender geklungen, aber die Tatsache, dass Angus nicht da ist, sagt mehr als tausend Worte. Francis entzieht mir seine Hand nicht, aber irgendwie entgleitet er mir. Er ist enttäuscht, trotz allem. »Er wird sich ja so freuen, dich zu sehen.« »Er wird böse sein.« »Nein, sag nicht so was Dummes.« »Wie bist du hierhergekommen?« »Mit einem Fährtensucher namens Parker. Er hat freundlicherweise angeboten, mich hierherzuführen, und …« Er hat natürlich nicht die geringste Ahnung, was seit seinem Verschwinden in Dove River passiert ist. Oder wer Parker ist oder sein könnte. »Sie glauben, ich hätte Laurent Jammet umgebracht. Das weißt du doch, oder?« Seine Stimme ist tonlos. 245
»Mein Liebling, sie haben Unrecht. Ich habe ihn gesehen … ich weiß, dass du das nicht warst. Mr Parker hat Monsieur Jammet gekannt. Er hat eine Vermutung …« »Du hast ihn gesehen?« Er sieht mich an mit weit aufgerissenen Augen, ob vor Entsetzen oder aus Mitgefühl vermag ich nicht zu sagen. Natürlich überrascht ihn das. Seit jenem Augenblick, als ich in der Tür von Jammets Hütte stand, habe ich sicher tausendmal an diesen furchtbaren Anblick gedacht, an jedem einzelnen Tag seither, aber mittlerweile hat die Erinnerung daran ihren Schrecken weitgehend verloren. Sie macht mir keine Angst mehr. »Ich habe ihn gefunden.« Francis kneift die Augen zusammen, als überkämen ihn heftige Gefühle. Im ersten Moment denke ich, er sei wütend, obwohl er keinen Grund dazu hat. »Ich habe ihn gefunden.« Er sagt das mit Nachdruck; ruhig, aber unüberhörbar. Als müsse er darauf bestehen. »Ich habe ihn gefunden, und ich bin dem Mann gefolgt, der es getan hat, aber dann habe ich ihn verloren. Mr Moody glaubt mir nicht.« »Francis, das wird er noch. Er hat die Spur gesehen, der du gefolgt bist. Du musst ihm alles erzählen, was du weißt, dann wird er es verstehen.« Francis seufzt tief – jenes verächtliche Seufzen, dass er zu Hause immer dann von sich gibt, wenn ich mal wieder meine bodenlose Dummheit an den Tag lege. »Ich habe ihm schon alles erzählt.« »Wenn du … ihn gefunden hast, warum hast du uns dann nicht Bescheid gesagt? Warum bist du dem Mann allein gefolgt? Was, wenn er dich angegriffen hätte?« Francis zuckt die Achseln. »Ich dachte, wenn ich warte, verliere ich ihn.« Ich sage nicht – weil er das vermutlich ohnehin denkt –, dass 246
er ihn auch so verloren hat. »Denkt Papa, ich hätte es getan?« »Francis … natürlich nicht. Wie kannst du nur so etwas sagen?« Wieder lächelt er – schief und unglücklich. Er ist zu jung für so ein Lächeln, und ich weiß, dass es meine Schuld ist. Es ist mir nicht gelungen, ihm eine glückliche Kindheit zu bereiten, und jetzt, wo er erwachsen ist, kann ich ihn nicht mehr vor dem Kummer und den Widrigkeiten der Welt beschützen. Ich strecke die Hand nach ihm aus und lege sie ihm auf die Wange. »Es tut mir leid.« Er weiß nicht einmal, wofür ich mich entschuldige. Ich zwinge mich dazu weiterzureden, darüber, dass ich mit Mr Moody sprechen und ihn dazu bringen werde einzusehen, dass er sich irrt. Über die Zukunft, und dass er sich keine Sorgen machen muss. Aber sein Blick schweift zur Zimmerdecke, er hört mir nicht zu, und obwohl ich seine Hand in meiner halte, weiß ich, dass er mir entglitten ist. Ich lächle, zwinge mich, ein fröhliches Gesicht zu machen und mich heiter zu geben und plappere über dies und das, denn was soll ich sonst tun? Heute war die Bucht ruhig. Gestern hat den ganzen Tag ein Schneesturm getobt, und das Tosen der Wellen, die gegen die Felsen krachten, klang wie ein wütendes Grollen, das in der ganzen Stadt zu hören war. Knox ist schon früher einmal der Gedanke gekommen, dass die felsige Küste von besonderer Beschaffenheit sein müsse, weil sie unter bestimmten Witterungsverhältnissen dieses tiefe, aber durchdringende Fauchen hervorbringt. So weit man im herumwirbelnden Schnee sehen konnte – nicht sehr weit also –, war die Bucht grau und weiß gewesen und die Wasseroberfläche aufgewühlt und windgepeitscht. Zu solchen Zeiten kann er verstehen, warum die ersten Siedler ihre Häuser lieber in Dove River gebaut haben, weit genug weg von dieser brutalen, unberechenbaren Naturgewalt. 247
Jetzt, bei Anbruch der Dunkelheit, sind nur noch wenige Menschen unterwegs. Der unverwehte Schnee ist fünfundvierzig Zentimeter hoch, aber nass, und wird immer kompakter. Trampelpfade ziehen sich kreuz und quer über die Straßen, und die meist begangenen hinterlassen tiefe, schmutzige Furchen im Weiß. Die wenig benutzten sind wie feine Striche, Umrisszeichnungen. Sie führen von Häusern zum Laden oder von Haus zu Haus. Man sieht, wer in Caulfield besonders beliebt ist und wer kaum vor die Tür geht. Er folgt einer der dünneren, und seine Füße werden mit jedem Schritt nasser und kälter. Warum um alles in der Welt ist er ohne Galoschen aus dem Haus gegangen? Er versucht, sich an den Augenblick zu erinnern, ehe er das Haus verlassen hat, sich ins Gedächtnis zu rufen, worüber er nachgedacht hat, aber da ist nichts. Er hat ein schwarzes Loch in seiner Erinnerung. Davon hat es in letzter Zeit einige gegeben. Doch er findet das nicht sonderlich besorgniserregend. Im Haus ist alles ruhig. Er geht in den Salon und fragt sich, wo die normalerweise recht laute Susannah wohl steckt, und zu seinem Erstaunen sitzen Scott und Mackinley zusammen auf seinem Sofa. Keine Spur von seiner Familie. Er bekommt den Eindruck, dass sie auf ihn gewartet haben. »Gentlemen … ach, John, es tut mir leid, wir waren heute Abend gar nicht auf Besuch eingerichtet.« Scott sieht betreten zu Boden. Er schürzt seinen schmalen Mund. Mackinley eröffnet das Gespräch. Seine Stimme klingt bestimmt und nüchtern. »Wir sind heute Abend nicht zu Besuch hier.« Knox versteht sogleich und schließt die Tür hinter sich. Kurz überlegt er, alles abzustreiten, darauf zu beharren, Mackinleys Trunkenheit habe ihn dazu verleitet, Dinge zu hören, die niemand gesagt habe, doch er verwirft die Idee gleich wieder. »Vor ein paar Tagen«, setzt Mackinley an, »sagten Sie, Sie seien nicht mehr im Lager gewesen und Adam und ich seien die 248
Letzten gewesen, die den Gefangenen gesehen haben. Adam wurde dafür bestraft, dass er das Schloss nicht verriegelt hat. Und heute erklären Sie mir, Sie hätten den Häftling mit eigenen Augen gesehen, nachdem ich bei ihm war.« Er lehnt sich zurück, zufrieden wie ein Jäger, der eine geschickt konstruierte Falle aufgestellt hat. Knox wirft Scott einen Blick zu, der ihn ganz kurz erwidert, ehe er sich wieder abwendet. Knox spürt wieder dieses tückische Verlangen in sich aufsteigen, einfach lauthals loszulachen. Vielleicht ist es ja tatsächlich wahr, vielleicht verliert er langsam den Verstand. Er fragt sich, ob er, wenn er jetzt damit anfängt, die Wahrheit zu sagen, jemals wieder damit aufhören kann. »Nun, eigentlich habe ich gesagt, ich hätte mit eigenen Augen gesehen, wie Sie ihre Vorstellung von Gerechtigkeit durchzusetzen versuchen.« »Dann streiten Sie es nicht ab?« »Ich habe es gesehen, und es hat mich angewidert. Also habe ich die nötigen Schritte unternommen, um diese Perversion von Gerechtigkeit zu verhindern. Denn das haben Sie aus ihr gemacht.« Scott sieht ihn an, als hätte er es sich nicht zugetraut, fände aber nun doch den Mut, ihn zur Rede zu stellen. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie … den Gefangenen freigelassen haben?« Er klingt entrüstet. Knox holt tief Luft. »Ja. Ich bin zu dem Schluss gekommen, das sei das Beste.« »Haben Sie vollkommen den Verstand verloren? Sie hatten keinerlei Befugnis dazu!« Wieder Scott, der irgendwie krank aussieht, als hätte er grüne Kartoffeln gegessen. »Ich bin hier immer noch der Friedensrichter, wenn ich mich recht entsinne.« Mackinley schnaubt kurz. »Das ist Sache der Company. Ich habe hier das Kommando. Sie haben willentlich die Rechtsfindung behindert.« 249
»Nein, das ist nicht Sache der Company. Sie haben es nur dazu gemacht. Aber wenn die Company irgendetwas mit den Ereignissen zu tun hat, dann sollte die Rechtsprechung erst recht unparteiisch sein. Und das war nicht gewährleistet, solange Sie diesen Mann da eingesperrt hatten.« »Ich werde Sie dafür anzeigen.« Mackinley ist hochrot im Gesicht und atmet heftig und schnell. Knox betrachtet einen Riss in seinem linken Daumennagel, als er darauf antwortet. »Tun Sie, was Sie für angemessen erachten. Ich bleibe hier. Sie dagegen … ich glaube, es wäre an der Zeit, dass Sie sich eine andere Unterkunft suchen. Mr Scott kann Ihnen in dieser Angelegenheit, wie in vielen anderen auch, sicher weiterhelfen. Guten Abend, meine Herren.« Knox erhebt sich und hält ihnen die Tür auf. Die beiden Männer stehen auf und gehen an ihm vorbei. Mackinley hat die Augen fest auf irgendeinen Punkt im Flur gerichtet, und Scott folgt ihm gesenkten Blicks. Knox sieht zu, wie sich die Haustür hinter ihnen schließt, und lauscht auf die knarrende Stille im Haus. Am Rande bekommt er mit, dass die beiden Männer vor der Haustür stehenbleiben und sich leise unterhalten, ehe sie schließlich gehen. Er bereut nicht, was er getan hat, und hat auch keine Angst. Wie er so im unbeleuchteten Flur steht, fallen Andrew Knox drei Dinge auf: eine zittrige Lockerheit, als sei ein Strick, der ihn sein ganzes Leben lang gefesselt hat, plötzlich gekappt worden, ein Verlangen, Thomas Sturrock zu sprechen, der augenblicklich wohl der einzige Mann ist, der ihn verstehen kann; und die Tatsache, dass die Schmerzen in seinen Gelenken zum ersten Mal seit Wochen vollkommen verschwunden sind.
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ie nächsten zwei Tage schneit es unablässig, und jeden Tag ist es kälter als am Tag zuvor. Jacob und Parker gehen eines Morgens hinaus und kehren mit drei Vögeln und einem Hasen zurück. Gott allein weiß, wie sie es schaffen, in diesem Wetter irgendetwas zu sehen. Viel haben sie ja auch nicht erbeutet, aber es ist eine nette Geste, jetzt, wo die Norweger so viele zusätzliche Mäuler zu stopfen haben. Ich bin die meiste Zeit bei Francis, obwohl er viel schläft oder es zumindest vorgibt. Ich mache mir Sorgen um ihn und die Verletzung an seinem Knie, denn es ist geschwollen und schmerzt augenscheinlich sehr. Per, der behauptet, über einige medizinische Kenntnisse zu verfügen, erklärt, es sei nicht gebrochen, nur schlimm verstaucht, und es brauche Zeit, bis es heilt. Durch geduldiges Fragen – freiwillig sagt Francis keinen Ton – gelingt es mir, ihm einige Einzelheiten seiner Reise zu entlocken, und ich staune und bin gerührt, dass er es so weit geschafft hat. Ich frage mich, ob Angus wohl stolz auf ihn wäre, wenn er das alles wüsste. Ehe ich herkam, hat sich meistens eine Frau namens Line um ihn gekümmert, doch nun habe ich ihre Aufgaben übernommen. Sie schien über meine Ankunft nicht sonderlich erfreut und meidet mich, aber mit Parker, habe ich gesehen, hat sie sich gegenüber in der Scheune ausführlich unterhalten. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was sie sich zu sagen haben. Ich muss gestehen, dass ein missgünstiger Gedanke sich in meinen Kopf geschlichen hat: Sie ist schließlich die einzige unverheiratete Frau hier, auch wenn sie nichts dafür kann. Und sie ist zugegebenermaßen ziemlich hübsch, ein dunkler, fremdländischer Typ. Als man uns einander vorstellte, begrüßte sie mich mit feindseligen Blicken. Ich dankte ihr dafür, dass sie sich 251
so gut um Francis gekümmert hat, und sie winkte ab, in ausgezeichnetem Englisch, doch mit einem mürrischen Gesicht, das ich mir nicht erklären konnte. Doch dann ist mir klar geworden, dass ich sie mit meiner Ankunft verdrängt habe und sie nun wieder ihre immer gleichen Alltagspflichten erledigen muss, und sich, vermutlich aufgrund der Tatsache, dass sie Witwe ist, von den verheirateten Frauen dabei herumkommandieren lassen muss. Francis sagt, sie sei sehr nett gewesen, er scheint sie zu mögen. Entweder Moody oder häufiger Jacob sitzen draußen vor der Tür und halten Wache, als warteten sie nur darauf, dass Francis mich angreift, um dann hereinzustürmen und mir das Leben zu retten. Ich habe meine Meinung bezüglich Mr Moody revidieren müssen. In Dove River wirkte er freundlich und zurückhaltend, eher wie ein unwilliger Vertreter des Gesetzes. Jetzt aber legt er eine verdrießliche Ungeduld an den Tag. Er hat sich den Mantel der Amtsgewalt umgelegt und trägt ihn ohne Würde. Ich habe ihn um ein Gespräch unter vier Augen gebeten, das er bisher erfolgreich zu umgehen wusste, indem er dringende Aufgaben vorschob. Doch nach zwei Tagen unaufhörlichen Schneefalls wissen wir alle nur zu gut, dass er nichts tun kann als warten, und ich sehe ihm an, wie er mit dem Gedanken spielt, sich andere Ausflüchte einfallen zu lassen. »Also gut, Mrs Ross. Warum gehen wir nicht in … ähm, mein Zimmer.« Ich folge ihm den Gang entlang, und diese Frau, Line, kommt uns entgegen und wirft Moody im Vorübergehen einen gehässigen Blick zu. Moodys Zimmer ist ebenso karg wie meins, doch sind seine Siebensachen überall verstreut, auf Möbelstücken und quer über den Boden, als sei jemand eingebrochen und hätte alles durchwühlt. Er fegt die Kleider von den Stühlen und wirft sie aufs Bett. Als ich mich setze, sehe ich auf dem Schreibtisch einen Umschlag liegen, adressiert an Miss S. Knox. Was ich sehr 252
interessant finde. Ich bin mir sicher, er wollte nicht, dass ich den Brief sehe, und dieser Verdacht bestätigt sich einen Augenblick später, als er sämtliche Unterlagen auf dem Schreibtisch zu einem wüsten Haufen zusammenschiebt. Kurz kramt er in dem Durcheinander herum, und mir kommt der Gedanke, dass ich unter anderen Umständen Mitgefühl für ihn empfunden hätte. Er ist nur ein paar Jahre älter als Francis und erst kürzlich ganz allein in dieses fremde Land gekommen. Er räuspert sich ein paarmal, ehe er das Wort ergreift. »Mrs Ross, ich kann Ihre Besorgnis bezüglich Francis voll und ganz verstehen. Es ist nur natürlich, dass Sie als seine Mutter so empfinden.« »Und es ist auch nur natürlich, dass Sie den Schuldigen für dieses entsetzliche Verbrechen aufspüren wollen«, sage ich meinem Empfinden nach recht freundlich, doch auf seinem Gesicht macht sich ein Ausdruck gequälter Verärgerung breit. »Francis möchte den Verantwortlichen ebenfalls ausfindig machen, wie er Ihnen schon sagte.« Moody reißt sich zusammen und macht ein Gesicht, das seine große Geduld und Toleranz selbst angesichts dieser widrigen Umstände zum Ausdruck bringen soll. »Mrs Ross, ich kann Ihnen unmöglich alle Gründe nennen, derentwegen ich Ihren Sohn als Verdächtigen festhalte, aber seien Sie versichert, es sind triftige Gründe. Das müssen Sie mir glauben.« »Ich hätte gedacht, gerade mir könnten Sie diese Gründe doch wohl verraten.« »Dies ist eine gerichtliche Untersuchung, Mrs Ross. Ich habe sehr gute Gründe für das, was ich tue. Mord ist ein schwer wiegendes Verbrechen.« »Die Fußspuren«, entgegne ich. »Die andere Fährte. Was ist damit?« Er seufzt. »Reiner Zufall. Eine Fährte, der der … der Ihr Sohn gefolgt ist, um einen Unterschlupf zu finden.« 253
»Oder die Spur des Mörders.« »Ich kann sehr gut verstehen, dass Sie an die Unschuld Ihres Sohnes glauben möchten. Aber er ist nach dem Mord aus Dove River geflüchtet, mit dem Geld des Toten, und er hat diesbezüglich gelogen. Die Fakten lassen nur einen Schluss zu. Ich würde meine Pflichten vernachlässigen, wenn ich nichts Dementsprechendes einleiten würde.« Ich halte einen Augenblick die Luft an und versuche, meine Verwunderung zu verbergen. Von gestohlenem Geld hat Francis mir nichts gesagt. »Es wäre sicher ebenso fahrlässig, nicht auch andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Die Spur könnte die des Mörders sein … oder vielleicht auch nicht. Wie wollen Sie das wissen, wenn Sie ihr nicht folgen?« Moody seufzt durch die Nase und reibt sich dann den Nasenrücken, auf dem seine Brille zwei rote Dellen hinterlassen hat. Er hat keine Lust, irgendetwas bezüglich der zweiten Spur zu unternehmen. »Unter den gegebenen Umständen besteht meine Pflicht darin, den Verdächtigen an einen sicheren Ort zu überführen. Weitere Ermittlungen werden warten müssen, bis das Wetter es erlaubt.« Er scheint angetan von seiner kleinen Rede, mit der er der Pflichterfüllung den Schwarzen Peter zugeschoben und alle Verantwortung von sich gewiesen hat. Er gestattet sich sogar ein dünnes Lächeln, als bedaure er, dass ihm in dieser Sache die Hände gebunden sind. Ich lächle ebenfalls. So ist es nun mal. Aber mein Mitgefühl spare ich mir, einsamer junger Mann hin oder her. »Mr Moody, das ist keine Entschuldigung. Wir müssen dieser Spur folgen, denn wenn das Wetter es zulässt, wie Sie so schön sagen, dann gibt es da draußen nichts mehr zu verfolgen, und Ihre Pflicht ist es, die Wahrheit herauszufinden, und sonst nichts. Sie können Francis in der Obhut der Leute hierlassen, oder wenn Sie denen nicht trauen, dann lassen Sie Ihren Kollegen zur Bewa254
chung da. Parker kann der Spur folgen, und Sie und ich überzeugen uns mit eigenen Augen davon, wohin sie führt.« Moody wirkt erstaunt und verärgert. »Es ist nicht an Ihnen, Mrs Ross, mir Vorschriften zu machen, wie ich meine Pflichten zu erfüllen habe.« »In einem so wichtigen Fall wie diesem ist es an jedem, auf ein eklatantes Pflichtversäumnis hinzuweisen.« Er starrt mich an, verdutzt, dass jemand so mit ihm zu reden wagt. Ich merke, dass ich eine empfindliche Stelle getroffen habe. Vielleicht hat er sich auch schon Gedanken über die zweite Spur gemacht, und es nagt an ihm. Ich vermute, er ist ein sehr ordnungsliebender Mensch, und diese Fußspuren, die in die Wildnis hinausführen, sind wie ein loser Faden. »Denn sollten Sie Recht damit haben, dass …« Ich bringe es nicht über mich, es zu auszusprechen. »Sollten Sie Recht haben, dann können Sie mit Gewissheit behaupten, alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen zu haben, und Sie hätten ein reines Gewissen. Und außerdem, wenn der Fall vor Gericht kommt, würden die Existenz dieser Spur und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten Anlass geben zu … nun, sie würden ihre Schlussfolgerungen zumindest in Frage stellen, meinen Sie nicht auch?« Moody sieht mich durchdringend an, dann wandert sein Blick zum Fenster. Doch selbst dort scheint er keine Antwort zu finden. Als ich Francis nach dem Geld frage, wird er stumm wie ein Fisch. Er seufzt schwer, was wohl heißen soll, dass die Antwort auf der Hand liegt und ich dumm bin, wenn ich das nicht selbst sehe. Ich spüre den altbekannten Ärger über ihn in mir aufsteigen. »Ich versuche, dir zu helfen. Aber das kann ich nicht, wenn du mir nicht erzählst, was passiert ist. Moody denkt, du hättest es gestohlen.« 255
Francis starrt an die Decke, an die Wände, sieht überallhin, nur nicht mir in die Augen. »Ich habe es gestohlen.« »Was? Warum um alles in der Welt?« »Weil ich Geld brauchte für den Weg. Ich dachte, ich würde vielleicht Hilfe brauchen, um den Mörder zu finden. Ich dachte, ich würde vielleicht dafür bezahlen müssen.« »Hilfe hattest du zu Hause. Geld hattest du zu Hause. Warum hast du es genommen?« »Ich habe dir doch gesagt, warum ich nicht nach Hause gekommen bin.« »Aber … so schnell verschwindet eine Fährte nicht.« »Du glaubst also auch, dass ich es war?« Er lächelt. Es ist dieses verbitterte, wohlbekannte Lächeln. »Nein … natürlich nicht. Aber – ich wünschte, du würdest mir sagen, warum du mitten in der Nacht überhaupt dort warst.« Das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht. Eine ganze Weile sagt er gar nichts mehr, so lange, dass ich schon überlege, aufzustehen und zu gehen. »Laurent Jammet …«, er stockt, »… war der einzige Mensch, mit dem ich reden konnte. Jetzt gibt es niemanden mehr. Nichts, weswegen ich wieder zurückgehen wollte.« Erst einige Augenblicke später merke ich, dass ich aufgehört habe zu atmen. Ich sage mir, dass er das nicht so meint, dass er mir nur wehtun will. Francis hat mir immer schon mehr wehtun können als jeder andere. »Es tut mir leid, dass du einen Freund verloren hast. Und auf solch furchtbare Art und Weise. Ich würde alles geben, hättest du das nicht mit ansehen müssen.« Seine Wut trifft mich wie ein Schlag, kindliche Wut mit Tränen in den Augen. »Mehr fällt dir nicht dazu ein? Du wünschtest, ich hätte es nicht mit ansehen müssen? Was macht das denn für einen Unterschied? Warum denkt eigentlich niemand an Laurent? Er ist schließlich umgebracht worden. Warum wünschst du nicht, 256
er wäre nicht ermordet worden?« Er wirft sich rückwärts in die Kissen, ohne eine weitere Träne zu vergießen; die Wut ist so schnell verraucht, wie sie aufgeflackert ist. »Es tut mir leid, Liebling. Es tut mir leid. Natürlich wünschte ich das. Keiner sollte so sterben. Er war ein netter Mensch. Er schien … das Leben zu lieben.« Mir fällt auf, dass ich ihn kaum kannte, aber so viel kann man wohl mit Fug und Recht behaupten. Doch wenn ich meine, Francis damit trösten zu können oder zu sagen, was er gerne hören möchte, habe ich wie üblich weit gefehlt. Seine Stimme ist ein kaum hörbares Murmeln. »Er war nicht nett. Er war kaltschnäuzig. Er hat die Schwächen der anderen gesehen und sich darüber lustig gemacht. Für einen guten Witz hätte er alles getan, ganz egal was. Er hat sich einen Dreck um andere geschert.« Dieser plötzlichen Kehrtwende kann ich nicht mehr folgen. Plötzlich beschleicht mich die entsetzliche Angst, Francis könnte mir etwas gestehen wollen. Ich streiche ihm über die Stirn und sage »pst«, als sei er ein kleines Kind; ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Also plappere ich dummes Zeug, nur damit Francis nicht den Mund aufmacht und etwas sagt, das mir leidtun würde. Parker ist mit Jacob und einem der Norweger im Stall. Sie scheinen sich von dem Drama, das sich auf der anderen Seite des Platzes abspielt, fernhalten zu wollen, und reden über Flechtengrind, soweit ich das verstehe. Es ist mir unangenehm, Parker um ein Gespräch unter vier Augen zu bitten, jetzt, wo wir ansatzweise wieder in der Zivilisation angekommen sind. Ich bemerke den Blick, den der Norweger mir zuwirft, der sich sicher fragt, ob ich verheiratet bin, und sich über meinen seltsamen Begleiter wundert. Das Halbdunkel im Stall erinnert mich an das kalte, finstere Lagerhaus. Das scheint sehr lange her zu sein. 257
»Mr Moody hat keinerlei Ambitionen, die andere Spur zu verfolgen. Möglicherweise müssen wir allein aufbrechen.« »Das wird sehr schwer. Es wäre besser, Sie blieben hier bei Ihrem Sohn.« »Aber es muss doch … einen Zeugen geben.« Ich denke, ich habe mich vorsichtig genug ausgedrückt – ohne offen zu sagen, dass ich ihm misstraue. Er ist jedenfalls nicht beleidigt. »Sie sind sich nicht sicher, dass ich wieder zurückkäme.« »Man muss Moody die Augen öffnen … für was auch immer wir finden. Könnte ich Francis doch nur mitnehmen …« Parker zuckt die Achseln. »Wenn Ihr Sohn der Mörder wäre, würde er natürlich die Schuld auf jemand anderen schieben wollen. Und Moody würde das nicht hinnehmen.« Ich weiß, dass Parker Recht hat. Zum ersten Mal überkommt mich ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, der unendlichen Müdigkeit. Ich habe mich einen steilen, rutschigen Abhang hinaufgekämpft, doch nun bin ich oben. Und jetzt entgleitet mir der Boden unter den Füßen, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, ob ich auf Parkers Hilfe zählen kann. Ich wüsste nicht, warum er mir helfen sollte. Wenn ich in seine Augen sehe, erkenne ich keinen Funken Mitgefühl – nicht die Spur irgendeiner erkennbaren menschlichen Regung. Und doch, wenn ich betteln muss, dann bin ich bereit, das zu tun. Das und noch viel mehr. »Sie müssen mich mitnehmen. Ich muss den Beweis dafür erbringen, dass er unschuldig ist. Denen ist es doch egal, wen sie einsperren, solange sie nur einen Schuldigen haben. Ich flehe Sie an.« »Und wenn es nichts zu finden gibt? Haben Sie schon mal darüber nachgedacht?« Ich habe schon darüber nachgedacht, aber keine Antwort auf diese Frage gefunden. Ich starre in sein ungerührtes Gesicht, in seine Augen, die keinen Unterschied kennen zwischen Iris und 258
Pupille, wo nur Dunkelheit herrscht, und mir ist, als umwehte mich ein eisiger Hauch.
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I
n Himmelsfeld gibt es keinerlei berauschenden Alkohol. Die Auserwählten haben keinen Bedarf an künstlichen Anregungsmitteln oder Wegen ins Vergessen. Sie sind allzeit glücklich und heiter. Nach der Gardinenpredigt von Mrs Ross überlegt Donald, was er jetzt für ein Glas dieses ekelhaften Rums geben würde, der in Fort Edgar in solch gewaltigen Mengen konsumiert wird. Im Winter muss man einfach trinken. Trinken versüßt die nicht enden wollenden Nächte, in denen Wärme nur noch eine ferne Erinnerung ist. Es macht die furchtbaren Witze erträglich, welche die Kameraden immer und immer wieder zum Besten geben. Es macht auch die Kameraden selbst erträglich. Donald hat eine halbe Flasche Rum dabei, die er eigentlich, so hat er sich geschworen, für die Rückreise aufsparen will, doch die Versuchung ist groß. Er hat den dumpfen Verdacht, dass es noch eine ganze Weile dauern wird, bis er den Rückweg antreten kann. Der Schnee geht in Regen über. Die Temperatur steigt, und die Schneeflocken sind schwer von Feuchtigkeit. Sie schweben nicht mehr zu Boden, sie fallen. Auch der Schnee, der schon auf der Erde liegt, verändert sich: War er vorher leicht und fedrig wie eine Daunendecke, ist er jetzt durchweicht und unbeständig. Mit Wasser vollgesogen hat der Schnee keine Kraft mehr. Große Massen brechen los und rutschen vor Donalds Fenster mit einem dumpfen, schweren Plumps vom Dach gegenüber. Allmählich werden die matten Farben der Dächer sichtbar – Rostrot, Mineralblau. Der Schnee selbst ist auch nicht mehr weiß, sondern eher durchscheinend grau. Unaufhörlich tropft Wasser von den Dachvorsprüngen. Man kann dem Geräusch nicht entkommen. Es ist leise, aber unüberhörbar, wie ein schlechtes Gewissen. 260
Er sieht den großen Indianer Parker über den Platz gehen. Er scheint zu packen und alles für die Abreise vorzubereiten. Tief in seinem Innern weiß Donald ganz genau, dass er mit Parker und dieser Frau mitgehen wird. Nur, um sich zu vergewissern, dass an ihrer Geschichte nichts dran ist. Er fragt sich, ob das Tapferkeit ist. Der Gedanke daran, in diese schrecklich weite Ebene hinauszugehen, macht ihm Angst. Andererseits, sollte er den Jungen als Verdächtigen mitnehmen, und es würde sich dann herausstellen, dass er unschuldig ist, würde man ihn rüffeln, verurteilen und mit gesenkter Stimme in Trinkstuben über ihn reden. Ein derart eklatantes Pflichtversäumnis wäre nicht gut für seine Karriere. Vor die Wahl gestellt zwischen Wildnis und beruflicher Schande weiß er ganz genau, wovor es ihm mehr graut. Parker hat ihm erzählt, der Handelsposten sei nicht mehr als sechs Tagesmärsche entfernt – immer vorausgesetzt, das Wetter spiele mit. Es ist eine gute Gelegenheit, den dortigen Kommissionär kennenzulernen – vielleicht kann der Mann ihm ja weiterhelfen. Er erklärt Jacob, dass er dableiben und auf den Jungen aufpassen muss. Fürs Erste sei der Gefangene hier gut untergebracht. Jacob guckt ganz ernst. »Entschuldigen Sie, aber es wäre besser, wenn ich mitginge. Das wird eine beschwerliche Reise. Ich weiß, wonach man suchen muss.« Nichts wäre Donald lieber, als in Himmelvanger zu bleiben, während Jacob durch den Schneematsch und das Eis zu diesem gottverlassenen Posten stapft, aber es nützt alles nichts. »Danke, Jacob, aber ich muss mitgehen und entscheiden, was zu tun ist. Und einer von uns muss hierbleiben.« Er lächelt Jacob an, der ihn ernst ansieht. »Es wäre wirklich besser, wenn ich mitkäme. Ich könnte … auf Sie aufpassen.« Donald lächelt, gerührt von so viel Loyalität. Und auch, weil Jacob ihn wohl ansieht, als sei er ein schutzloses Kind. 261
»Das wird nicht nötig sein. Parker muss sowieso wieder hierherkommen und Mrs Ross zurückbringen. Es wird auch sicher interessant, mal einen anderen Handelsposten der Company zu sehen.« Er zwingt sich, munterer zu klingen, als ihm zumute ist. Er hat düstere Vorahnungen, und es graut ihm nicht zu knapp beim Gedanken an die kalte Wildnis, die vor ihm liegt. Jacob wirkt nachdenklich, als kämpfe auch er mit sich. »Aber verstehen Sie … ich hatte einen Traum. Sie werden das vielleicht albern finden, aber hören Sie zu: Ich habe geträumt, Sie seien ganz allein. Es drohte Gefahr. Ich glaube, ich sollte besser mitkommen.« Donald unterdrückt das ungute Gefühl, das sich in seiner Magengegend breitmacht, und redet noch lauter, um diese abergläubischen Hirngespinste aus Jacobs Kopf zu vertreiben, und aus seinem auch. Indianergeschwätz – er hätte nicht gedacht, dass Jacob anfällig für solche Fantastereien war. »Kein Wunder, dass du schlecht träumst, bei diesem verfluchten Ziegenkäse, den es hier gibt. Davon würde jeder Albträume bekommen!« Jacob stimmt nicht in sein Lachen ein. Er weiß, dass das ein versteckter Tadel war. »Es ist wichtig, den Jungen im Auge zu behalten. Vielleicht … sagt er ja etwas Wichtiges. Du könntest versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen.« Jacob sieht ihn fragend an, nickt aber. »Würdest du zu Mr Parker gehen und ihm sagen, dass ich mitkomme?« Als Jacob fort ist, verspürt Donald den plötzlichen Impuls, ihm hinterherzurufen, ihm inbrünstig zu danken für seine Sorge um ihn, mochte sie auch noch so fehl am Platz sein, und seine Freundschaft. Jacob ist der einzige Mensch weit und breit, der auch nur einen Pfifferling darauf gibt, was mit ihm geschieht. Doch dann bremst er sich. Schließlich ist er ein erwachsener 262
Mann. Er braucht keinen einheimischen Diener, der auf ihn aufpasst, nicht einmal Jacob. Donald denkt darüber nach, wie sich ihre Beziehung verändert hat. Nach der Reise nach Dove River und dem grausigen Nachspiel ist eine Nähe zwischen ihnen entstanden, an der ihm wohl mehr liegt, als ihm bewusst war, jetzt, wo sie ihm abhandenkommt. Donald schiebt das auf den Umstand, dass er nun das Kommando übernommen hat, während Mackinley sie zuvor beide mit derselben gleichgültigen Missachtung behandelt hat, und sie beide (oder zumindest Donald) ihm diese Missachtung in abgeschwächter Form zurückgegeben haben. Jetzt sieht er Mackinley in einem anderen Licht, weil er die Schwierigkeiten der Befehlsführung besser versteht. Sein Vater hatte ihm immer erklärt, das Leben sei kein Zuckerschlecken, sprich, nicht zum Vergnügen da. Als Kind war ihm das immer wie eine unerhörte, wunderliche Idee vorgekommen, doch nun verstand er die Worte seines Vaters. Erwachsensein bedeutete, sich ungewissen und beunruhigenden Herausforderungen zu stellen und Freundschaften zugunsten von Verantwortung aufzugeben. Und noch etwas fällt ihm dazu ein: etwas, das mit seinen Gedanken an Susannah zu tun hat. Denn nur, wenn er respektiert wird, kann ein Mann wahre Liebe erringen, da der Liebe einer Frau immer auch etwas Ehrfurcht innewohnen muss. Er wirft einen Blick auf seine Briefe: Liebesbriefe, so denkt er, auch wenn in ihnen nichts von seinen Gefühlen steht. Dazu ist es noch viel zu früh. Aber eines Tages vielleicht, wer weiß … Es sind vier, ordentlich gefaltet und adressiert, und die will er Per geben, der sie nach Dove River schicken soll, sobald das Wetter es zulässt. Er ist zufrieden mit den Briefen, die er in seinem Zimmer noch einmal abgeschrieben und mit gewundenen philosophischen Exkursen ausgeschmückt hat, deren Abfassung ihn zwei lange alkoholfreie Abende gekostet hat. Er stellt sich vor, wie Susannah sie liest und sie dann in ihrer Tasche aufbewahrt oder in einer Schublade, in ein duftendes 263
Taschentuch gewickelt (jenes, das er ihr geschenkt hat, vielleicht?). Von Gefühlen übermannt versucht er, sich an ihr Gesicht zu erinnern, an jenen Augenblick, als sie ihn in der Bibliothek angelächelt hat, muss aber zu seiner Bestürzung feststellen, dass er es nicht mehr greifen kann. Er hat zwar noch eine vage Vorstellung von ihrem Lächeln, ihrem weichen, hellbraunen Haar, ihrer blassen, strahlenden Haut und den haselnussbraunen Augen, doch diese Einzelheiten verschwimmen, schieben sich übereinander und wollen sich nicht mehr zu einem harmonischen Gesamtbild zusammenfügen. Aus unerfindlichen Gründen hat er dann plötzlich in vollkommener, dreidimensionaler Klarheit das Gesicht ihrer Schwester Maria vor Augen und das ihres Vaters, nur Susannahs Konterfei bleibt undeutlich und einfach nicht greifbar. Er setzt sich, um eine kurze Nachricht an sie zu schreiben, ihr von seiner bevorstehenden Reise zu erzählen. Er ist hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, es gefährlich und waghalsig klingen zu lassen, und dem Bestreben, ihr nicht unnötig Sorgen zu machen, sollte die Nachricht sie noch vor seiner Rückkehr erreichen. Schließlich spielt er alles herunter und schreibt, er werde voraussichtlich in drei Wochen wieder da sein, und die Reise sei eine gute Gelegenheit, die Company zu vertreten und einen anderen Kommissionär kennenzulernen, während er gleichzeitig die letzten Zweifel bezüglich Francis’ Schuld ausräumen werde. Er versichert sie seiner besten Wünsche und bittet sie in einem Schlusssatz, der ihn selbst verblüfft, ihre Schwester herzlich zu grüßen. Einen Augenblick starrt er auf das Blatt und fragt sich, ob das irgendwie merkwürdig wirkt, aber er hat keine Zeit mehr, den ganzen Brief noch einmal abzuschreiben, also steckt er ihn in einen Umschlag und legt ihn zu den anderen.
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s ist zehn Uhr an einem Donnerstagabend, drei Wochen nachdem Laurent Jammets Leiche gefunden wurde. Maria steht im Arbeitszimmer ihres Vaters und sieht zum Fenster hinaus, obwohl es dort nichts zu sehen gibt. Nur der Regen ist zu sehen, dessen nasse Fäden wie Pfeile in den Schlamm spritzen, der eigentlich der Garten sein soll, augenblicklich aber eher an einen Rinderpferch erinnert. Dahinter ist nichts als brodelnde Dunkelheit, wo hin und wieder Wasserschleier vom Wind hierhin und dorthin gerissen werden und Licht von wer weiß wo spiegeln. Im Haus ist es auch nicht viel besser. Nach den Ereignissen des Nachmittags liegt Mrs Knox im Bett danieder und steht unter dem Einfluss von irgendetwas, das Dr Gray ihr vor einer Stunde verabreicht hat. Sie hat sich nicht so sehr aufgeregt, wie Maria befürchtet hätte, aber der Arzt hatte sehr eindringlich vor den Gefahren eines verspäteten Schocks gewarnt, weshalb Maria ihrer Mutter gut zugeredet hatte, den Trank zu schlucken. Susannah war viel offenkundiger erschüttert, aber so ist Susannah nun einmal – ein heftiger Sturm, dem wieder blauer Himmel folgt. Im Augenblick tobt der Sturm noch, obwohl Maria hier nichts davon mitbekommt. Im Haus herrscht Totenstille. Nach kurzer Beratung – oder vielmehr langer Beratung, da die Gemeindeältesten sich nicht einigen konnten und es einen solchen Fall vorher nie gegeben hatte – hat man ihren Vater in Gewahrsam genommen. Die Anklage lautete auf Rechtsbeugung. Da er aber immer noch der Friedensrichter der Gemeinde ist und kein streunendes, wildfremdes Halbblut, sperrt man ihn nicht im Lagerhaus ein, sondern gibt ihn in John Scotts Gewahrsam. Was heißt, dass man ihn in den Raum gleich neben Mr Sturrock schließt und ihm das Essen aufs Zimmer bringt. Das 265
Zimmer ist Mr Sturrocks Unterkunft sehr ähnlich und die Miete genauso hoch, doch Marias Vater muss für das Vorrecht, hier zu logieren, nicht zahlen. John Scott war zusammen mit Mr Mackinley und Archie Spence gekommen und hatte um halb sechs am Abend an die Tür geklopft. Maria hatte aufgemacht und sie in den Salon geführt, dann ging sie ihren Vater holen. Zwanzig Minuten redeten sie hinter verschlossenen Türen, und dann kam ihr Vater heraus und erklärte, man hätte ihn gerade mit sofortiger Wirkung in Haft genommen. Ein kleines Lächeln umspielte dabei seine Lippen, als hätte er sich gerade selbst einen Witz erzählt. Während seine Frau ohne eine Träne zu vergießen wutentbrannt protestierte und Susannah heulte, stand Maria tatenlos daneben und wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Ihre Mutter marschierte in den Salon und funkelte die Männer an. Die saßen mit offenem Mund ganz eingeschüchtert da und wurden angesichts ihrer Verachtung immer kleiner. John Scott schien ernste Bedenken gegen das Vorhaben zu bekommen, ihren Vater in seinem Haus einzusperren, aber Mackinley blieb hart, und seine Augen und sein Mund verrieten, welch teuflisches Vergnügen ihm das Ganze bereitete. Ihr Vater beendete das Hin und Her, indem er erklärte, er sei ja nur ein paar Häuser weiter, und das auch nur, bis der Friedensrichter aus St. Pierre herkam, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Ohne einen Hauch von Ironie fragte er, ob sie eine Kaution festsetzen würden. Daran hatten die Männer offenbar noch gar nicht gedacht. John Scott machte den Mund auf, doch es kam kein Ton heraus. Mackinley räusperte sich und sagte, sie würden eine Nacht über die Angelegenheit schlafen und die Summe am nächsten Tag festsetzen. Das Problem war nur, dass sie wegen des weiteren Vorgehens eigentlich ihren Vater befragen müssten. Knox bereitete dem schließlich ein Ende, indem er vorschlug zu gehen. Es sei Zeit zum Abendessen, sagte er, und die Köche warteten schon. Er meinte damit natürlich Mary in der Küche, 266
aber es klang eher so, als tadle er die Männer, die ihn festgenommen hatten, weil er zu spät zum Abendbrot kam; Mackinley runzelte auch prompt die Stirn, aber ihr Vater schien das nicht zu bemerken. Sein Benehmen hatte eine gewisse Leichtigkeit, dachte Maria. Fast als freue es ihn, dass man ihn in Arrest genommen hatte, als seien sie in eine Falle getappt, die er für sie aufgestellt hatte. Die drei Frauen sahen zu, wie ihr Ehemann und Vater von den anderen Männern aus dem Haus geführt wurde, nicht ohne anzubieten, ihnen Regenschirme oder Galoschen auszuleihen. Mackinley und die anderen lehnten dankend ab, obwohl es inzwischen wie aus Eimern schüttete und sie etliche in Reserve hatten.
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turrock lauscht auf die Schritte, die die Treppe heraufkommen. Er hat sich gerade auf dem Bett ausgeruht und über Mrs Ross nachgedacht, darüber, ob sie ihren Sohn wohl inzwischen eingeholt hat – der, daran hat er nicht den geringsten Zweifel, das Elfenbeinplättchen bei sich haben muss. Die chaotischen Ereignisse der letzten Tage lassen in ihm den Gedanken reifen, dass es besser wäre, nicht mehr allzu lange dazubleiben. Der Schnee schmilzt jetzt, vielleicht ist es an der Zeit, sich aus dem Staub zu machen. Doch wenn er jetzt ginge, egal wohin, wäre er nur noch weiter vom Objekt seiner Begierde entfernt; denn sie müssen den Jungen doch mit zurückbringen, wenn sie ihn gefunden haben. Er seufzt. Die Whiskyflasche, die ihm in den vergangenen Tagen so gute Gesellschaft geleistet hat, ist beinahe leer. So ergeht es ihm immer: So nahe vorm Ziel und doch so weit davon entfernt, irgendetwas von bleibendem Wert zu schaffen, und dann geht einem auch noch der Schnaps aus. An diesem Punkt seiner Überlegungen erhebt er sich vom Bett, um herauszufinden, woher die Geräusche kommen: von einem neuen Nachbarn womöglich. Er öffnet die Tür und sieht Mr Mackinley von der Handelsgesellschaft und John Scott, zusammen mit einem ihm unbekannten Mann. Scott kommt zu ihm herüber, nachdem er die Tür zu dem Zimmer gegenüber geschlossen hat. »Ach, Mr Sturrock, ich wollte gerade zu Ihnen kommen und Ihnen sagen …« »Ein neuer Nachbar?«, fragt Sturrock mit einem Lächeln, denn die Aussicht auf ein gutes Gespräch ist ihm immer Anlass zu Optimismus. »Nicht ganz.« Sturrock bemerkt den verächtlichen Blick, mit 268
dem Mackinley Scotts Hinterkopf bedenkt. »Nein, wir befinden uns in der misslichen Lage, ähm, unseren Friedensrichter unter Arrest stellen zu müssen, Mr Knox … und da wir ihn nicht ins Lager sperren können, ha ha, erschien es uns angebracht, ihn vorübergehend hier unterzubringen.« Scott bricht ab. Kleine Schweißperlen treten ihm auf die Stirn. Der Mann sieht aus, als stünde er unter gewaltiger Anspannung, und sein Gesicht ist noch geröteter als sonst. »Ich hoffe, das stört Sie nicht, Mr Sturrock.« Das kommt von Mackinley. »Sie meinen, Sie haben Knox in dieses Zimmer gesperrt?«, fragt Sturrock fast fröhlich. »Was zum Teufel hat er denn angestellt?« Die Männer werfen sich Blicke zu, als fragten sie sich, ob Sturrock Anspruch auf derartige Auskünfte hat. »Wie sich herausgestellt hat, ist der Gefangene nicht versehentlich entkommen. Knox hat ihn freigelassen und somit die Mühlen der Gerechtigkeit angehalten.« Sturrocks Augenbrauen wollen ihm vor Erstaunen schier die Stirn hinaufkriechen und sich in seinen Haaren verstecken. »Gütiger Himmel, ist er verrückt geworden?« Plötzlich geht ihm auf, dass Knox vermutlich jedes Wort hört – das lässt sich kaum vermeiden. »Will sagen, das ist ja ungeheuerlich.« »Ungeheuerlich, ja.« Mackinley will sich abwenden, und Sturrock überkommt eine ungeheure Abneigung gegen den Mann. »Tja ja …« »Genau.« Scott sagt ganz beiläufig: »Das Abendessen ist bald fertig, Mr Sturrock.« »Ach, danke. Dankeschön.« Auf Mackinleys Zeichen gehen die anderen mit ihm nach unten und lassen Sturrock stehen, der die verschlossene Tür 269
anstarrt. Als die Tritte verhallt sind, ruft er leise: »Mr Knox? Mr Knox?« »Ich kann Sie hören, Mr Sturrock.« »Ist das wahr?« »Ja, das ist wahr.« »Nun … geht es Ihnen gut?« »Ganz gut, danke sehr. Ich glaube, ich werde mich dann jetzt hinlegen.« »Dann gute Nacht. Rufen Sie mich einfach … na ja, wenn Sie jemanden zum Reden brauchen.« Er bekommt keine Antwort mehr. Sturrock fragt sich, ob das heißt, dass seine Geldquelle nun versiegt ist.
***
Sturrock steht unten am Ofen in Scotts Laden, der sich nach Einbruch der Dunkelheit in eine Bar verwandelt, als Maria Knox hereinkommt. Der Regen prasselt seit Stunden unbarmherzig nieder, der Schnee ist restlos geschmolzen, und die guten Bürger von Caulfield waten bis zu den Knöcheln im Schlamm. Es ist spät – er weiß nicht mehr genau, wie spät, aber vermutlich ist sie hergekommen, um mit ihrem Vater zu sprechen. Wie dem auch sei, sie kommt geradewegs auf ihn zu. Er weiß, wer sie ist, obwohl sie noch nie miteinander geredet haben. »Mr Sturrock? Ich bin Maria Knox.« Ernst neigt er den Kopf aus Achtung vor ihrer Lage. Er wirkt umso ernster aufgrund der etwa fünf Gläser Whisky, die er getrunken hat, und der Erinnerungen, in die er im Lauf der letzten Stunde versunken war. »Ich weiß, es ist schon spät, aber ich hatte gehofft, ich könnte mit Ihnen reden.« »Mit mir reden?« Wieder neigt er den Kopf – er muss wirklich 270
ziemlich betrunken sein –, diesmal allerdings aus Ritterlichkeit. »Das wäre mir ein unverdientes Vergnügen.« »Es besteht keinerlei Veranlassung zu Schmeicheleien. Ich wollte mit jemandem reden … Sie sind keiner von uns, und die ganze Stadt scheint den Verstand verloren zu haben.« Sie spricht sehr leise, obwohl niemand in Hörweite ist. »Sie meinen die … missliche Lage Ihres Vaters.« Mit einem Blick, der ebenso verärgert wie abwägend ist, sieht sie ihn an. »Ich weiß eigentlich gar nicht so recht, was ich hier tue. Ich glaube, es ist, weil Mr Moody von Ihnen erzählt hat. Auf ihn scheinen Sie einen guten Eindruck gemacht zu haben, trotz … allem. Weiß Gott, was ich erwartet habe …« Ihm geht auf – er ist ein wenig begriffsstutzig vom Alkohol –, dass sie kurz davor steht, in Tränen auszubrechen, und ihre Verbitterung sich gegen sie selbst richtet. »Ich weiß nicht, mit wem ich sonst reden soll. Ich mache mir große Sorgen, sehr große Sorgen sogar. Sie sind doch ein erfahrener Mann, Mr Sturrock, was würden Sie an meiner Stelle tun?« »Bezüglich Ihres Vaters? Kann man denn da überhaupt irgendetwas tun außer warten? Soweit ich weiß, haben sie nach dem Friedensrichter aus St. Pierre geschickt, der am Morgen kommen soll oder sobald die Straßen passierbar sind.« »Sie glauben, sie sind noch nicht passierbar?« »Bei diesem Wetter? Das wage ich zu bezweifeln.« »Ich hatte vor, heute Abend hinzufahren, um vor ihnen dort zu sein. Man weiß ja nicht, was sie über ihn erzählen werden.« »Mein liebes Mädchen … das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Diese Reise heute Nacht anzutreten, bei diesem Regen … das wäre Irrsinn. Ihr Vater wäre entsetzt. Es wäre das Schlimmste, was Sie ihm augenblicklich antun könnten.« »Meinen Sie? Vielleicht haben Sie Recht. Aber ich bin ohnehin ein viel zu großer Hasenfuß, um eine solche Reise ganz allein zu wagen. O Gott!« Sie verbirgt das Gesicht in den Händen, aber nur für einen Augenblick. Sie bricht nicht in 271
Tränen aus. Sturrock bewundert sie dafür und bestellt noch einen Whisky für sich und einen für sie. »Sie kannten Monsieur Jammet, nicht wahr? Was, glauben Sie, ist ihm zugestoßen?« »So gut kannte ich ihn nicht. Aber er war ein Mann mit vielen Geheimnissen, und Männer mit Geheimnissen haben womöglich mehr Feinde als solche ohne.« »Wovon um alles in der Welt reden Sie?« »Ähäm, nur davon … also, ich bin nach Caulfield gekommen – und bin immer noch hier –, weil ich etwas kaufen wollte, das Jammet gehörte. Er wusste das. Nur, dass dieser Gegenstand verschwunden ist.« »Gestohlen?« »Das ist sehr wahrscheinlich. Vielleicht von Francis Ross. Also muss ich auf seine Rückkehr warten.« »Glauben Sie, Francis hat ihn ermordet?« »Ich kannte ihn doch überhaupt nicht. Das wage ich also nicht zu sagen.« »Ich kannte … ich meine, ich kenne ihn.« »Und was glauben Sie?« Maria zögert und starrt in ihr Glas – das zu ihrer Verwunderung bereits leer ist. »Woher soll man wissen, wozu ein Mensch fähig ist? Ich dachte immer, ich wüsste die Menschen richtig einzuschätzen, doch sie strafen mich immer wieder Lügen.«
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A
n dem Morgen, als die anderen aufbrechen wollen, kommt Jacob herein und bleibt vor dem Bett stehen. Er redet mit Francis, sieht aber zur Wand. »Ich nehme nicht an, dass du vorhast, irgendwohin zu gehen, aber wenn doch, dann sei versichert, ich werde dich kriegen, und dann breche ich dir auch noch das andere Bein. Verstanden?« Francis nickt im Gedanken an die Narbe von der Stichverletzung, die Donald ihm gezeigt hat. »Ich brauche also nicht den ganzen Tag hier herumzusitzen.« Francis schüttelt den Kopf. Er ist also ziemlich erstaunt, als Jacob kurz darauf wieder zurückkommt. Er hat ein Stück Holz im Lager gefunden. Es ist gerade und stark – der Stamm einer jungen Birke – und hat genau die richtige Länge. Er schält die Rinde ab und glättet alle Unebenheiten, dann rundet er das gegabelte Ende zu einem gleichmäßigen Y. Francis beobachtet seine Hände mit widerstrebender Faszination. Es ist erstaunlich, wie schnell sich das Bäumchen in eine Krücke verwandelt. Jacob polstert das obere Ende mit Stoffstreifen, die er aus einer alten Decke zurechtgeschnitten hat und nun wie einen Verband um das Holz wickelt. »Eigentlich sollte ich das besser mit Leder machen, sonst wird es nass.« »Bei meiner Flucht, meinen Sie.« Als Francis anfangs unbesonnene oder dumme Sachen sagte und sich nicht darum scherte, was Jacob von ihm hielt, schien Jacob nicht so recht zu wissen, ob Francis scherzte oder nicht. Er sah ihn dann zweifelnd mit ausdruckslosem Gesicht an. Diesmal jedoch lächelt er. Francis denkt: Er ist nicht viel älter als ich.
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***
Es wird eine Erleichterung sein – für sie beide, glaubt er –, den verspannten, ängstlichen Moody endlich los zu sein. Und für ihn auch eine Erleichterung, selbst wenn ihn bei diesem Eingeständnis Schuldgefühle plagen, seine Mutter los zu sein. Immer wenn sie bei ihm im Zimmer ist, drückt die Last unausgesprochener Worte sie beide nieder, sodass sie kaum atmen können. Es würde Jahre brauchen, sie alle zu sagen, nur damit sie aus dem Weg sind. Kurz bevor sie aufbrechen, kommt seine Mutter noch mal rein und sieht Jacob an, der daraufhin aufsteht und wortlos den Raum verlässt. Sie setzt sich an Francis’ Bett und faltet die Hände. »Wir machen uns jetzt auf den Weg. Wir wollen der Spur folgen, der du gefolgt bist – Mr Parker weiß, wo sie hinführt. Es ist schade, dass du nicht mitkommen kannst, für den Fall, dass wir den Mann sehen, aber … wir können zumindest die Augen offen halten.« Francis nickt. Seine Mutter macht ein finsteres, fest entschlossenes Gesicht, aber sie sieht auch müde aus, und die Fältchen um ihre Augen sind deutlicher zu sehen als sonst. Auf einmal überkommt ihn eine Welle der Dankbarkeit, dafür, dass sie tut, was eigentlich er tun sollte, und das, obwohl sie doch solche Angst vor der Wildnis hat. »Danke. Du bist sehr tapfer, das zu tun.« Sie zuckt mit den Schultern, als sei sie verärgert. Doch das ist sie nicht, sie freut sich. Sie streicht ihm mit der Hand übers Gesicht, fährt mit den Fingern an seinem Kinn entlang. Jemand anderer hat manchmal etwas ganz Ähnliches getan. Francis versucht, nicht daran zu denken. »Sei nicht albern. Mr Parker und Mr Moody sind bei mir. Das hat doch nichts mit Tapferkeit zu tun.« Sie lächeln sich an, scheu und bedrückt. Francis kämpft mit 274
dem beinahe unwiderstehlichen Drang, ihr die Wahrheit zu sagen. Es wäre eine solche Erleichterung, es irgendwem zu erzählen, die Last auf seinen Schultern endlich abzuwerfen. Doch im selben Augenblick, in dem er sich gestattet, sich diesen Luxus auch nur vorzustellen, weiß er schon, dass er nichts sagen wird. Dann sagt sie zu seinem Erstaunen: »Du weißt, dass ich dich liebe, oder?« Francis ist das peinlich. Er nickt und kann ihr im ersten Moment nicht in die Augen sehen. »Dein Vater liebt dich auch.« Nein, tut er nicht, denkt Francis. Du hast keine Ahnung, wie sehr er mich hasst. Doch er sagt kein Wort. »Kannst du mir sonst nichts mehr sagen?« Francis seufzt. Es gibt so vieles, was sie nicht weiß. »Mr Moody glaubt, das Knochenplättchen könnte wichtig sein. Wenn es wertvoll ist, könnte es ein … Motiv gewesen sein. Darf ich es mitnehmen?« Francis will es nicht hergeben, doch ihm will kein guter Grund dafür einfallen, also reicht er seiner Mutter den Lederbeutel mit dem Täfelchen darin. Sie nimmt es heraus und betrachtet es. Sie hat viel gelesen und weiß viel, doch sie starrt die winzigen eckigen Zeichen mit einem verständnislosen Stirnrunzeln an. »Pass gut darauf auf«, murmelt er. Sie wirft ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie, die immer so gut auf alles aufpasst. Im Sommer, vor den Ferien, die immer früh anfingen, damit die Jungen jenen Vätern, die nicht genug Arbeiter hatten, zur Hand gehen konnten, ist ihm etwas nie Dagewesenes passiert. Francis, der nie viel über solche Sachen nachgedacht hatte, verliebte sich, wie alle anderen Jungs im Umkreis von zehn Meilen auch, in Susannah Knox. Sie war eine Klasse über ihm und ohne Frage die unbestritten 275
Schönste ihres Jahrgangs: schlank, kurvig, fröhlich und mit einem süßen, außerordentlich hübschen Gesicht. Nachts träumte er von Susannah, und tags stellte er sich vor, er und sie seien zusammen – in diversen romantischen Szenarien: in einem Ruderboot mitten auf der Bucht, oder sie beide im Wald, wie er ihr seine geheimen Verstecke zeigt. Wenn sie am Klassenzimmer vorbeiging oder mit ihren Freundinnen auf dem Schulhof herumkicherte, jagte ihm ihr Anblick wunderbare prickelnde Schauer über den ganzen Körper. Er bekam eine Gänsehaut, bekam keine Luft mehr, das Blut pochte in seinem Schädel. Er drehte dann immer den Kopf weg und tat ganz uninteressiert, und da er keine engen Freunde hatte, blieb sein Geheimnis unentdeckt. Er war sich sehr wohl darüber bewusst, dass er mit seiner Leidenschaft nicht allein dastand und sie freie Auswahl zwischen den älteren, beliebteren Bewerbern hatte, doch sie schien keinen von ihnen besonders zu bevorzugen. Vermutlich wäre es auch egal gewesen, hätte sie es doch getan. Schließlich erwartete er ja gar nicht, dass tatsächlich etwas geschehen würde. Es genügte, wenn er sie in seinen Träumen ganz für sich allein hatte. Es gab eine Gelegenheit – den jährlichen Sommerausflug, der stets zum Ende des Schuljahrs stattfand und bei dem die gesamte Schule hinunter zu einem schmalen Streifen Sandstrand unten an der Bucht pilgerte. Unter den trägen Blicken zweier gelangweilter Lehrer aßen sie Sandwiches, tranken Ingwerlimonade und schwammen, kreischten und planschten, bis es dunkel wurde. Francis, der solch erzwungene Heiterkeit verabscheute und sich schon überlegt hatte fernzubleiben, war dann schließlich doch mitgegangen, weil Susannah auch da sein würde, und da sie die Schule bald verlassen würde, wusste er nicht, wie er in Zukunft die raschen, süßen Blicke auf sie erhaschen sollte, aus denen sich seine Leidenschaft nährte. Nicht allzu weit entfernt von Susannah und einigen anderen Mädchen der Abschlussklasse machte er es sich bequem, aber 276
nur einen Augenblick später kam schon Ida Pretty und setzte sich zu ihm. Ida war zwei Jahre jünger als Francis und seine nächste Nachbarin. Er mochte sie, als Einzige ihrer großen Familie. Sie hatte eine spitze Zunge und war witzig, aber manchmal auch ein wenig gewöhnlich. Sie mochte Francis und belästigte ihn ständig. Sie beobachtete ihn ebenso unablässig (wenn auch nicht ganz so unauffällig) wie er Susannah. Jetzt setzte sie sich mit ihrem Körbchen neben ihn, schirmte mit der Hand die Augen ab und sah hinaus aufs Wasser. »Regnet nachher bestimmt noch. Guck dir mal die Wolke an. Die hätten sich auch einen besseren Tag aussuchen können, meinste nicht?« Das klang hoffnungsvoll. Ebenso unzufrieden und einsam wie er, teilte sie seine Abscheu vor Anlässen, bei denen es gesellig und spaßig zugehen sollte. »Ich weiß nicht. Vielleicht.« Wenn er nicht mit ihr redete, so hoffte Francis, würde Ida den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und abhauen. Er überlegte kurz, ob es schlimmer wäre, von ihr gesehen zu werden, wie er allein Trübsal blies, oder gemeinsam mit einer nervigen Schülerin aus einer der unteren Klassen, aber angesichts Susannahs eifrigem Geflüster mit ihren Freundinnen schien es ohnehin unwahrscheinlich, dass ihr überhaupt auffallen würde, was er machte. Und es strichen etliche der älteren Jungs herum, die angeberisch taten, als kümmerten sie sich um ihren eigenen Kram, das aber immer in Sichtweite der älteren Mädchen. Sie machten Fez, johlten und wetteiferten, wer die Steine am weitesten ins Wasser werfen konnte. Je heißer die Sonne vom Himmel brannte, desto träger wurden alle. Man aß Sandwiches, schlug nach den Fliegen, entledigte sich überflüssiger Kleidungsstücke. Susannahs Freundinnen hatten sich zu Zweier- und Dreiergrüppchen zusammengefunden, während sie selbst einen kleinen Spaziergang mit Marion Mackay gemacht hatte. Francis lehnte sich zurück, den Kopf 277
gegen einen Felsbrocken gelehnt, und zog sich den Hut über die Augen. Sonnenstrahlen mogelten sich durch das lockere Geflecht und machten ihn angenehm benommen. Ida versank in mürrischem Schweigen und tat, als läse sie »Pudd’nhead Wilson«. Er drehte den Kopf unruhig hin und her, sodass die Sonne ihm in die Augen schien und dann wieder verschwand, als Ida sagte: »Was hältst du von Susannah Knox?« »Hä?« Natürlich hatte er an sie gedacht. Schuldbewusst versuchte er, sie aus seinen Gedanken zu vertreiben. »Susannah Knox. Was hältst du von ihr?« »Sie ist ganz in Ordnung, denke ich.« »In der Schule scheinen alle zu denken, sie sei das hübscheste Mädchen, dass sie je gesehen haben.« »Ach, wirklich?« »Na ja, ja.« Er wusste nicht, ob Ida ihn dabei ansah oder nicht. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, doch seine Stimme klang ziemlich gelangweilt. »Sie ist hübsch.« »Findest du?« »Glaub schon.« Langsam ging ihm das auf die Nerven. Er schob den Hut nach hinten und blinzelte sie an. Sie saß da mit angezogenen Knien, die Ohren zwischen den Schultern. Ihr kleines Gesicht war gegen die grelle Sonne zusammengekniffen, und sie sah traurig und wütend aus. »Warum?« »Ist das wichtig?« »Ist was wichtig? Dass sie hübsch ist?« »Ja.« »Ich weiß nicht. Kommt wohl drauf an.« »Worauf?« 278
»Darauf, mit wem du redest. Ihr ist es bestimmt wichtig. Herrje, Ida.« Er zog sich den Hut wieder ins Gesicht, und einen Augenblick später hörte er, wie sie aufstand und eingeschnappt wegging. Er musste wohl eingeschlafen sein, denn er wachte auf, als sie sich wieder neben ihn setzte, und war erst mal etwas verwirrt, weil er nicht genau wusste, wo er war und warum es so heiß war. Der Hut war ihm aus dem Gesicht gerutscht, und er war geblendet. Rote Raketen zerbarsten vor seinen Augen. Die Haut in seinem Gesicht spannte und war ganz empfindlich. Sicher würde er einen Sonnenbrand bekommen. »Hast du was dagegen, wenn ich mich kurz zu dir setze?« Das war nicht Idas Stimme. Francis rappelte sich auf, und da saß Susannah Knox und lächelte ihn an. Der Schreck lief ihm kalt den Rücken hinunter wie ein Kübel Eiswasser. »Nein. Nein, überhaupt nicht.« Er sah sich um. Der Strand schien viel leerer als zuvor, und die Mädchen, bei denen sie vorhin noch gesessen hatte, waren nirgends zu sehen. »Ich muss wohl eingeschlafen sein.« »Tut mir leid. Ich habe dich geweckt.« »Schon in Ordnung. Das war gut. Ich glaube, ich bekomme einen Sonnenbrand.« Vorsichtig fasste er sich an die Stirn. Susannah beugte sich vor und sah ihn aus nächster Nähe aufmerksam an. Er konnte jede einzelne ihrer geschwungenen Wimpern sehen und die hauchzarten blonden Härchen auf ihrer Wange. »Ja, sieht ein bisschen rot aus. Ist aber nicht so schlimm. Du hast Glück, dass du so eine Haut hast, die ist ziemlich dunkel, weißt du, was ich meine? Ich kriege immer bloß Sommersprossen und sehe aus wie Rote Beete.« Sie lächelte ihr entzückendes Lächeln. Die Sonne stand fast direkt hinter ihr, zauberte einen gleißenden Heiligenschein um ihren Kopf und verwandelte ihr hellbraunes Haar in goldene und 279
platinblonde Strähnen. Francis hatte Mühe zu atmen. Zumindest würde sie jetzt nicht merken, wenn er rot wurde. »Und, amüsierst du dich?«, brachte er schließlich heraus, weil ihm nichts Besseres einfiel. »Was, hier? Es ist ganz nett. Ein paar von den Jungs sind allerdings echte Plagegeister. Emlyn Pretty hat Matthew vollständig bekleidet ins Wasser geschubst und eine ganze Stunde lang nur noch gelacht. Das war ziemlich gemein.« »Ja?« Francis jubelte innerlich. Er hatte eine ziemlich unglückliche Vergangenheit mit Emlyn. Ein Glück, dass er nicht ihn ins Wasser geschubst hatte. Doch dann wollte ihm, so sehr er sich auch bemühte, nichts mehr einfallen, was er noch sagen könnte. Lange starrte er nur hinaus aufs Wasser und betete um einen Geistesblitz. Susannah schien das nicht zu stören. Sie spielte mit ihrem Haar, wie es schien, tief in Gedanken versunken. »Ist Ida deine Freundin?« Das kam derart aus heiterem Himmel, dass Francis vor Verblüffung kaum ein Wort herausbekam. Dann lachte er. Was für eine abwegige Vorstellung. Was für eine abwegige Frage. »Nein! Ich meine, sie ist bloß eine Freundin. Sie wohnt nebenan, weißt du. Ein Stück flussaufwärts. Sie ist zwei Jahre jünger als ich«, fügte er dann noch hinzu. »Ach … du wohnst also nebenan von den Prettys, hm?« Das musste sie ohnehin gewusst haben, da hier jeder wusste, wo die anderen wohnten. Sie beschäftigte sich noch eingehender mit ihren Haaren. Was sie da machte, wusste er nicht. Offensichtlich etwas Kompliziertes, das enorme Aufmerksamkeit verlangte. »Weißt du«, – irgendwann warf sie die Haarsträhne schließlich mit entschlossener Geste zurück und schüttelte sie aus dem Gesicht –, »wir veranstalten nächsten Samstag ein Picknick, nur ein paar von uns, oben am Schwimmkessel. Du kannst ja auch 280
kommen, wenn du magst. Es sind nur Maria dabei, du weißt schon, meine Schwester, und Marion und Emma und vielleicht Joe …« Jetzt sah sie ihn an, endlich, mit undurchschaubarem Blick. Francis sah sie als dunklen Schatten, der die Sonne verstellte, und ihr Gesicht war verschwommen und gleißend, wie das Gesicht des Engels aus der Sonntagsschule. »Samstag? Hm …« Er konnte kaum fassen, was da gerade geschah. Aber wie es schien, lud Susannah – die unvergleichliche, einzigartige Susannah Knox – ihn gerade zu einem Picknick ein. Einem exklusiven Picknick, zu dem nur ihre engsten Freunde eingeladen waren (und Joe Bell, aber von dem wusste man, dass er mit Emma Spence angebandelt hatte). Doch dann schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, es könne sich dabei um einen grausamen Scherz handeln. Was, wenn sie hergekommen war, um ihn zu einem Picknick einzuladen, das gar nicht stattfand? Wenn er nächsten Samstag antanzte, wäre niemand da, oder schlimmer noch, eine Horde Schüler der Abschlussklasse würde dasitzen und sich totlachen, was er sich da eigentlich einbildete. Aber sie sah nicht aus, als erlaube sie sich einen Scherz. Sie sah ihn noch immer an, und dann lachte sie kurz und ziemlich nervös auf. »Herrje. Du lässt die Mädels aber warten, was?« »Entschuldige. Ähm … es ist bloß so, dass ich erst meinen Dad fragen muss, ob er mich vielleicht braucht … zum Arbeiten. Aber danke. Klingt nett.« Sein Herz pochte wild vor Bestürzung. Hatte er das tatsächlich gerade gesagt? »Also gut. Sag mir Bescheid, ob du kommen kannst, ja?« Unsicher stand sie wieder auf. »Ja, mach ich. Danke.« In diesem Augenblick, als sie sich mit ernstem, entzückendem Gesicht das Haar glattstrich, sah sie noch schöner aus als sonst. Sie lächelte ihn kurz an und drehte sich dann um. Er fand, sie 281
sah traurig aus. Er lehnte sich zurück und zog sich den Hut wieder in die Augen, damit er sie heimlich beobachten konnte, wie sie über den Strand schlenderte und zu einigen anderen aus der Abschlussklasse ging. Plötzlich überkam ihn das Gefühl, Zeuge eines Wunders geworden zu sein. Sie hatte ihn zu einem Picknick eingeladen. Sie, die vorher nie mehr als zehn Worte mit ihm gewechselt hatte. Sie hatte ihn zu einem Picknick eingeladen! Francis sah zu, wie einige der jüngeren Jungs ein Stück Treibholz ins flache Wasser warfen, es gefährlich dicht um ihre Beine herumwirbeln ließen und vor den aufspritzenden Wasserfontänen davonliefen. Ihr Freudengeheul klang seltsam weit weg. Er dachte an den kommenden Samstag. Sein Vater hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben, ihn am Wochenende um Hilfe zu bitten, und er würde es sicher auch diesmal nicht von ihm erwarten. Er dachte an das Picknick beim Schwimmkessel am Fluss, wo durch die Eichen und Weiden Sonnenflecken auf das Wasser fielen, das die gleiche Farbe hatte wie Tee, und wo die Mädchen in ihren Sommerkleidern wie auf kleinen Baumwollinseln sitzen würden. Und er wusste, er würde nicht hingehen.
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DIE WINTERGEFÄHRTEN
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Der Watson war ein experimentierfreudiger Anstaltsleiter. Er wollte sich einen Namen machen, Monografien schreiben und Vorträge halten, wo er dann von einer bewundernden Schar junger Damen umgeben wäre. Augenblicklich jedoch waren die einzigen jungen Damen in Reichweite mehr oder weniger verrückt, und aus ihnen erwählte er mich, um sich mit mir die Zeit zu vertreiben, bis er berühmt genug wäre, wieder zu gehen. Ich war bereits einige Monate in der öffentlichen Anstalt, als er kam, und kurz davor brummte es nur so vor Gerüchten über einen neuen Direktor. Das Leben in einer Irrenanstalt ist im Großen und Ganzen todlangweilig, jede Änderung der Lebensverhältnisse gibt Anlass zu heißen Diskussionen, wie beispielsweise, wenn es zum Frühstück plötzlich andere Haferflocken gibt oder die Nähstunde von drei auf vier Uhr verschoben wird. Ein neuer Anstaltsleiter war ein wichtiges Ereignis: Es bot wochenlang Futter für Klatsch und Spekulationen. Und als er schließlich kam, enttäuschte er nicht. Er war jung und gut aussehend, hatte ein sonniges, freundliches Gesicht und einen angenehmen Bariton. Sämtliche Frauen verliebten sich Hals über Kopf in ihn. Ich behaupte nicht, ihm gegenüber vollkommen gleichgültig gewesen zu sein, aber es war unterhaltsam zu sehen, wie manche Frauen sich mit Schleifen und Blumen schmückten, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Watson war stets galant und charmant, nahm ihre Hand und machte ihnen Komplimente, die sie kichern und erröten ließen. In diesem Sommer wurde in den Frauenschlafsälen viel geseufzt. Da ich mich an der allgemeinen Schwärmerei nicht beteiligte, wunderte ich mich, als ich eines Tages zu Watson ins Büro gerufen wurde, und fragte mich, ob ich wohl etwas falsch gemacht hätte. Als ich hereinkam, war er gerade mit einer 284
riesigen Gerätschaft beschäftigt, die mitten im Zimmer stand. Ich dachte mir gleich, es müsse sich dabei um eine ähnliche Vorrichtung handeln wie das Sturzbad, mit dem man die Insassen erschreckte, aber ich konnte nicht so recht erkennen, was genau es sein sollte, und war daher ziemlich nervös. »Ach, guten Morgen, Miss Hay.« Watson sah auf und lächelte. Er wirkte sehr zufrieden mit sich. Ich war aber nicht so sehr von ihm beeindruckt als vielmehr davon, wie dieser Raum sich verändert hatte, denn unter dem vorherigen Direktor war er dunkel und niederdrückend gewesen und hatte immer ein wenig muffig gerochen. Es war ein sehr schönes Zimmer (die gesamte Anstalt war auf ihre neoklassische Art recht beeindruckend) mit hohen Decken und einem großen Erkerfenster, das einen grandiosen Ausblick auf die Anlage bot. Watson hatte die schweren Vorhänge vor dem Fenster entfernen lassen, das Zimmer war jetzt lichtdurchflutet. Die Wände waren zartgelb gestrichen, Blumen standen auf dem Tisch, und ein malerisches Arrangement aus Steinen und Farnen thronte vor einer der Wände. »Guten Morgen«, sagte ich, und konnte einfach nicht anders: Ich musste lächeln. »Gefällt Ihnen mein Büro?« »Ja, sehr.« »Gut. Dann haben wir den gleichen Geschmack. Ich glaube, dass es wichtig ist, sich seine Umgebung möglichst ansprechend zu gestalten. Wenn man von Hässlichkeit umgeben ist, wie soll man da glücklich sein?« Ich nahm an, dass er das nicht ganz ernst meinte, murmelte irgendeine belanglose Antwort und dachte bei mir, dass er das Glück hatte, seine Umgebung seinen Wünschen entsprechend gestalten zu können. »Natürlich«, fuhr er fort, »ist das Zimmer noch schöner, wenn Sie darin sind.« Obwohl ich seine Art kannte, errötete ich einen Hauch, ver285
suchte es aber zu verbergen, indem ich aus dem Fenster schaute und einige der Insassen beobachtete, die draußen umherspazierten oder durch den Garten geführt wurden. Wir redeten eine Weile über dies und das, und ich nahm an, er wolle sich ein Bild über meinen geistigen Zustand machen und darüber, ob ich zu gewalttätigen Ausbrüchen neigte. Ihm schien zu gefallen, was ich sagte, denn er begann mir die Maschine zu erklären. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um eine Art Kasten, mit dem man Bilder machen konnte, und er wollte, so sagte er, einige Studien der Insassen anfertigen. Er war der Meinung, dies könne dem Verständnis des Irrsinns und seiner Behandlung förderlich sein, obschon ich nie so recht verstanden habe, wie das funktionieren sollte. Offenbar wollte er vornehmlich von mir Bilder machen. »Ihr Gesicht ist sehr geeignet für die Kamera, es ist klar und ausdrucksstark, genau, was ich brauche.« Der Gedanke, dass ich ihm aufgefallen war und er mich aus allen anderen ausgewählt hatte, schmeichelte mir, außerdem bot es eine willkommene Abwechslung zum täglichen Einerlei. Wie ich schon sagte, war das Anstaltsleben, von dem einen Krampfanfall oder dem anderen Selbstmordversuch abgesehen, unerträglich öde. »Ich habe dabei«, erklärte er und senkte den Blick zum Schreibtisch, »an eine Reihe von Bildern gedacht, von … Ihnen, sagen wir, in Posen, die typisch sind für das, was wir den Ophelia-Komplex nennen, Ophelia nach der Figur in dem berühmten Stück, die eben darunter leidet …« An dieser Stelle blickte er hoch, um zu sehen, ob ich irgendeine Reaktion darauf zeigte. »Ich kenne es«, erwiderte ich. »Ach, wunderbar. Also, verstehen Sie, eine Illustration dessen wäre eine … eine vor Liebeskummer vergehende Pose, mit einem Blütenkranz und so weiter. Verstehen Sie, was ich meine?« 286
»Ich glaube schon.« ’ »Es wäre eine große Hilfe für die Monografie, an der ich gerade schreibe. Die Bilder könnten meine These illustrieren, vor allem jenen Menschen, die noch nie eine Anstalt von innen gesehen haben und sich das nur schwerlich vorstellen können.« Ich nickte höflich, und als er das nicht weiter ausführte, fragte ich: »Wie lautet denn Ihre These?« Er wirkte ein wenig verdutzt. »Oh. Meine These lautet, also … dass es gewisse Muster des Irrsinns gibt; gewisse körperliche Merkmale und Bewegungsabläufe, die verschiedenen Patienten gemeinsam sind und ihren inneren Zustand widerspiegeln. Dass sie sich, obschon jeder Patient natürlich eine eigene Geschichte hat, Gruppen zuordnen lassen, denen gewisse Charakteristika und ein bestimmtes Verhalten gemeinsam sind. Und auch, dass …« Er stockte, wie es schien, tief in Gedanken versunken, »… man durch wiederholtes und konzentriertes Studium dieser Verhaltensmuster mehr darüber erfahren kann, wie diesen armen Unglücklichen zu helfen ist.« »Aha«, lautete mein brillanter Kommentar, während ich mich fragte, welches Verhaltensmuster ich als eine dieser Unglücklichen wohl an den Tag legte. Mir kamen etliche unpassende Bilder in den Sinn. »Und«, erklärte er weiter, »vielleicht könnten Sie mir ja an den Tagen, an denen Sie mir freundlicherweise Ihre Zeit schenken, auch gleich zum Mittagessen Gesellschaft leisten?« Bei dem Gedanken lief mir das Wasser im Mund zusammen. Das Anstaltsessen war zwar recht nahrhaft, aber fad, schwer verdaulich und immer dasselbe. Ich glaube, es gab eine Theorie (vielleicht sogar eine These), die besagte, dass gewisse Geschmäcker gefährlich anregend seien und zu viel Fleisch oder auch zu schweres oder scharfes Essen empfindsame Gemüter erregen und Unruhe auslösen könnte. Die Vorstellung, ein Fotomodell zu werden, fand ich schon sehr reizvoll, aber allein die Aussicht auf ordentliches, abwechslungsreiches Essen 287
überzeugte mich vollends. »Nun«, sagte er lächelnd, und ich merkte, dass er doch tatsächlich nervös war, »klingt das für Sie … annehmbar?« Ich war fasziniert davon, dass er nervös war – etwa meinetwegen? Weil ich womöglich nein sagen könnte? –, und nickte. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie man ein Heilmittel gegen Irrsinn finden wollte, indem man sich Bilder von blumenbekränzten Frauen ansah, aber wer war ich schon, ihm zu widersprechen? Und außerdem war er ein gut aussehender, netter und noch junger Mann, und ich war eine Waise in einer Irrenanstalt, hatte niemanden, der mich protegierte, und wenig Aussichten, jemals wieder herauszukommen. Ganz gleich, wie ungewöhnlich diese Ereignisse auch sein mochten, sie würden mein Leben wohl kaum zum Schlechteren verändern. Und so fing alles an. Anfangs ging ich vielleicht ein- oder zweimal im Monat in sein Büro. Watson hatte dann immer eine ganze Reihe Kostüme und Requisiten zusammengetragen, um alles in Szene zu setzen. Das erste Bild sollte Melancholie heißen, für deren Darstellung ich mehr als geeignet war. Er hatte einen Stuhl vors Fenster gestellt, auf dem ich in einem düsteren Kleid sitzen sollte, ein Buch in der Hand, den Blick sehnsuchtsvoll nach draußen gerichtet, als träumte ich, wie er sagte, von einer verlorenen Liebe. Ich hätte ihm sagen können, dass es im Leben Schlimmeres gab als einen abhandengekommenen Verehrer, doch ich hielt meine Zunge im Zaum und starrte zum Fenster hinaus und träumte stattdessen von Hirschschmorbraten mit Portweinsoße, Curryhuhn und Schichtdessert mit Muskat. Als das Mittagessen dann serviert wurde, war es mindestens so gut wie alles, wovon ich geträumt hatte. Ich fürchte, ich aß mit der Anmut eines Hilfsarbeiters, und er saß da und sah mir zu und lächelte, während ich mir erst ein zweites und dann ein drittes Stück des Birnen-Zimt-Kuchens genehmigte. Ich stopfte mich voll, nicht etwa, weil ich so hungrig gewesen wäre, 288
sondern weil ich ausgehungert war nach Geschmack, nach Würze und Raffinesse. Zum ersten Mal seit vier oder fünf Jahren (mit Ausnahme von Weihnachten) wieder Gewürze und Blauschimmelkäse und Wein zu schmecken war der Himmel. Ich glaube, etwas in der Art habe ich auch gesagt, und er hat gelacht und schien äußert zufrieden. Als er mich zur Tür brachte, hielt er meine Hand in beiden Händen und bedankte sich mit einem tiefen Blick in die Augen bei mir. Wie ich es nicht anders erwartet hatte, wurde ich immer häufiger in sein Büro gerufen, und je vertrauter wir miteinander wurden, desto ungezwungener wurden die Posen. Soll heißen, ich trug allmählich immer weniger, bis ich schließlich in ein durchsichtiges Stück Musselin gewickelt gegen den Farntopf gelehnt dastand. Ich glaube, wir hatten uns recht schnell von dem Vorwand, die Wissenschaft fördern zu wollen, verabschiedet. Watson, oder Paul, wie ich ihn schließlich nannte, machte die Bilder, die ihm gefielen, manchmal schuldbewusst blinzelnd und meinen Blicken ausweichend, als schäme er sich dafür, mich um diesen Gefallen zu bitten. Er war freundlich und fürsorglich und interessierte sich für meine Meinung, was viele Männer, die ich außerhalb der Anstalt kennengelernt habe, nie taten. Ich mochte ihn und war glücklich, als er eines Tages nach dem Essen seine Hand zitternd auf meine legte. Er war niedlich, verzweifelt, hatte furchtbare Angst, etwas Falsches zu tun, und entschuldigte sich jedes Mal dafür, dass er mich ausnutzte und seinen niederen Trieben nachgab. Mir machte das nichts aus. Für mich war es ein prickelndes Geheimnis, ein süßes Verlangen, obwohl er stets nervös und angespannt war, wenn wir uns nach einem weiteren spektakulären Mittagessen eilig und hinter verschlossener Bürotür einander hingaben. Und er roch nach Gewächshaus, nach Tomatenblättern und feuchter Erde, scharf und gut. Auch heute noch kann ich nicht an diesen Geruch denken, ohne gleichzeitig an Obstkuchen mit 289
Sahne oder Steak in Brandysoße denken zu müssen. Selbst kürzlich, in jener Nacht in dem eiskalten Zelt im Wald, war mir, als dieser Duft von Parker mir in die Nase stieg, das Wasser im Mund zusammengelaufen, und ich hatte an Bitterschokoladenkuchen gedacht. Was dann passierte, werde ich wohl nie erfahren. Jedenfalls fiel Watson in Ungnade. Nicht durch mich, zumindest nicht, dass ich wüsste, und es wurde auch nie darüber geredet, aber eines Morgens wurde uns vom Oberaufseher verkündet, Dr Watson habe uns überraschend verlassen müssen und in wenigen Tagen werde ein neuer Anstaltsleiter seinen Posten übernehmen. An einem Tag war er noch da, am nächsten war er fort. Seinen Apparat muss er mitgenommen haben, und auch die Bilder, die wir gemeinsam gemacht haben. Manche davon waren wunderschön, voller dunkler, silbriger Schattierungen, die schimmerten, wenn man sie im Licht drehte. Ich frage mich, ob es sie noch gibt. Wenn mir melancholisch zumute ist, und das ist häufiger der Fall, denke ich daran, wie er immer zitterte, wenn er mich berührte, und dass ich einmal jemandes Muse war. Seit drei Tagen laufen wir über die Ebene, und noch immer ist kein Ende oder auch nur die geringste landschaftliche Abwechslung in Sicht. Der Regen, den das Tauwetter mitbrachte, hielt zwei Tage an und ließ uns nur beschwerlich vorankommen. Wir wateten bis zu den Knöcheln im Schlamm, und wenn das nicht so schlimm klingt, so kann ich nur immer wieder bekräftigen, dass es wirklich schlimm war. An jedem Fuß klebten etliche Pfund Matsch, und mein Rock schleifte am Boden, schwer vom Wasser. Parker und Moody, die sich wenigstens nicht mit Röcken herumplagen mussten, trotteten mit dem Schlitten voran. Spät am zweiten Tag hat es zu regnen aufgehört, und ich dankte gerade denjenigen Göttern, die mich freundlich bedacht hatten, als ein Wind aufkam, der seither unaufhörlich bläst. Er 290
hat zwar den Boden ausgetrocknet und uns so das Gehen erleichtert, doch kommt er aus dem Nordosten und ist so kalt, dass ich gerade ein Phänomen erlebe, von dem ich bisher nur gehört habe, nämlich dass die Tränen in den Augenwinkeln gefrieren. Nach einer Stunde sind meine Augen rot und wund. Jetzt wartet Parker mit den Hunden darauf, dass wir zu ihnen aufschließen. Er steht auf einer leichten Anhöhe, und als wir endlich hinzugestolpert kommen, sehe ich, warum er gewartet hat: Ein paar hundert Meter entfernt stehen etliche Gebäude – das erste von Menschen Gemachte, das wir zu sehen bekommen, seit wir Himmelvanger verlassen haben. »Wir sind auf dem richtigen Weg«, meint Parker, obwohl ich das nicht unbedingt als Weg bezeichnen würde. »Was ist das da?« Moody späht durch seine Brille hinunter. Er hat schlechte Augen, und das dämmrige graue Licht, das sich durch die Wolken kämpft, ist ihm keine große Hilfe. »Das war mal ein Handelsposten.« Schon von weitem fällt mir auf, das etwas damit nicht stimmen kann. Es sieht düster aus, wie ein Haus aus einem Albtraum. »Wir sollten hingehen und nachsehen. Für den Fall, dass er da war.« Als wir näherkommen, erkenne ich, was passiert ist. Der Posten ist bis auf die nackten Mauern niedergebrannt und sieht aus wie ein Skelett: Dachsparren ragen schauerlich in den Himmel, zerbrochene Balken stehen in schiefen Winkeln ab. Die Mauern, die noch stehen, sind schwarz und verkohlt und drohen einzustürzen. Doch das Seltsamste ist, dass das Ganze kürzlich noch schneebedeckt war und der Schnee tagsüber geschmolzen und nachts wieder gefroren ist, so dass das Schmelzwasser Schicht um Schicht erstarrt und allmählich zu einer dicken Glasur aus Eiskruste geworden ist, unter der die kahlen Balken wie aufgedunsen aussehen. Es ist ein ungewöhnlicher Anblick: Schwarz, knollig, glitzernd schließt das Eis die 291
Gebäude ein, als seien sie von irgendeiner amorphen Kreatur verschlungen worden. Es flößt mir, und ich glaube Moody auch, Angst ein. Ich will am liebsten so schnell wie möglich wieder weg. Parker läuft zwischen den verbliebenen Mauern herum und betrachtet angestrengt den Boden. »Jemand hat Kleider hier liegengelassen.« Er zeigt auf ein unförmiges Bündel, das in einer Ecke auf der Erde liegt. Ich frage nicht, warum dieser Jemand das getan haben könnte, weil ich es nämlich lieber nicht wissen will. »Das hier ist Elbow Ridge. Haben Sie schon mal davon gehört?« Ich schüttle den Kopf und bin mir ziemlich sicher, dass ich auch das lieber nicht wissen will. »Es wurde von einer anderen Company erbaut. Der Hudson Bay Company hat nicht gefallen, dass sie hier einen Handelsposten aufbauen wollten, also haben sie alles niedergebrannt.« »Woher wollen Sie das wissen?« Parker zuckt die Achseln. »Das weiß doch jeder. So was passiert halt.« Ich sehe rüber zu Moody, der dreißig Meter entfernt vor einer verschwundenen Tür steht und in einem Häufchen verkohltem Holz herumstochert, das vielleicht vor langer Zeit einmal ein Klavier gewesen ist. Dann sehe ich wieder Parker an, weil ich wissen will, ob er das nur aus Bosheit gesagt hat, aber sein Gesicht verrät keine Regung. Er hat den steifgefrorenen Stoff aufgehoben und breitet ihn aus – das Eis knirscht und splittert aus Protest –, und zum Vorschein kommt ein Hemd, das vermutlich irgendwann einmal blau war, jetzt aber so schmutzig ist, dass man seine Farbe nicht mehr mit Gewissheit bestimmen kann. Es ist durchweicht und voller Flecken und einfach hier liegengelassen worden, wo es nun vermodert. Erst jetzt geht mir plötzlich auf, was das möglicherweise bedeutet. »Ist das Blut?« 292
»Ich weiß nicht. Vielleicht.« Er sucht noch ein bisschen herum und stößt einen kleinen Schrei aus, als er schließlich dicht an einer Mauer fündig wird. Diesmal verstehe selbst ich, warum – da sind Spuren eines Feuers, schwarz und rußig. »Frisch?« »’Ungefähr eine Woche alt. Unser Mann ist also hier vorbeigekommen und hat hier übernachtet. Wäre nicht das Dümmste, es ihm nachzutun.« »Hierbleiben? Aber es ist doch noch früh. Sollten wir nicht lieber weitergehen?« »Sehen Sie sich mal den Himmel an.« Ich blicke nach oben. Die von den Deckenbalken in Vierecke zerschnittenen Wolken hängen tief und dunkel über uns. Sturmfarben. Als Moody von dem Plan erfährt, schaltet er auf stur. »Aber es sind doch noch – was, zwei Tage Marsch bis Hanover House? Ich finde, wir sollten weitergehen.« Parker erwidert ruhig: »Ein Sturm zieht auf. Wir werden froh sein über einen guten Unterschlupf.« Man kann förmlich sehen, wie sich die Gedanken in Moodys Kopf überschlagen, wie er überlegt, ob er es auf eine Auseinandersetzung ankommen lassen soll, und ob Parker sich wohl seiner Befehlsgewalt beugen würde. Aber es wird immer stürmischer, und er hat nicht den Mumm dazu. Der Himmel sieht tückisch und beklemmend aus. Und obwohl der verlassene Posten so bedrückend fremd wirkt, ist er doch bedeutend besser als gar nichts. Also schlagen wir unser Lager in den Ruinen auf. Parker baut einen großen Unterschlupf an eine der noch stehenden Mauern und verstärkt ihn mit rußgeschwärzten Balken. Ich mache mir Sorgen, als ich sehe, wie viel stabiler dieses Konstrukt ist als alle, die er zuvor aufgebaut hat, doch ich befolge seine Anweisungen und lade die Sachen vom Schlitten ab. Im Verlauf der 293
letzten Tage bin ich sehr viel geschickter geworden, was die Handgriffe angeht, die wir fürs Überleben und ein wenig Behaglichkeit brauchen. Ich bringe unsere Vorräte in den Unterschlupf (glaubt er wirklich, wir könnten hier tagelang festsitzen?), während Moody Holz sammelt – zumindest gibt es davon genug hier – und Eis von den Wänden schlägt, damit wir Wasser haben. Wir arbeiten zügig, getrieben von der Angst vor dem sich rasch verdunkelnden Himmel und dem schnell auffrischenden Wind. Als wir unsere Vorbereitungen abgeschlossen haben, peitscht bereits Schnee um uns herum und prasselt auf unsere Gesichter wie ein Schwarm Bienen. Wir krabbeln in unser Lager, und Parker entfacht ein Feuer. Moody und ich sitzen da und starren auf den Eingang, der mit dicken Balken verstärkt ist, aber jetzt zuckt und flattert, als versuchten verzweifelte Menschen hereinzukommen. Im Lauf der nächsten Stunde wird der Sturm immer heftiger und so laut, dass wir uns kaum noch verständigen können. Der Wind heult, dass es einem durch Mark und Bein geht, und dazu kommt das durchdringende Knattern des Leintuchs und das entsetzliche Knirschen der Holzwände. Ich frage mich, ob sie dem Sturm standhalten oder unter seiner Wucht und der Last des Eises zusammenbrechen und uns unter sich begraben werden. Parker scheint sich keine Sorgen darüber zu machen, aber ich würde wetten, Moody teilt meine Bedenken. Er hat die Augen hinter der Brille weit aufgerissen und zuckt bei jedem neuen Geräusch zusammen. »Geht es den Hunden gut da draußen?«, fragt er. »Ja. Die legen sich eng aneinander und halten sich gegenseitig warm.« »Aha. Gute Idee.« Moody lacht kurz auf und sieht mich an, schaut dann aber gleich wieder weg, als ich nicht mitlache. Moody trinkt seinen Tee aus und zieht Stiefel und Strümpfe aus. Zum Vorschein kommen blutverkrustete Füße. Ich habe schon an den vergangenen Abenden gesehen, wie er sie notdürf294
tig verarztet hat, aber heute Abend biete ich an, das zu übernehmen. Vielleicht ist es der Gedanke an Francis, und weil der Altersunterschied zwischen ihnen nicht allzu groß ist. Vielleicht ist es auch, weil draußen dieser Sturm tobt und ich jeden Freund brauche, den ich bekommen kann. Er lehnt sich zurück und hält mir erst den einen und dann den anderen Fuß hin. Ich reinige und verbinde sie mit Leinenstreifen, mehr haben wir nicht. Ich bin nicht gerade sanft, aber er sagt keinen Ton, als ich die Wunden mit Franzbranntwein säubere und sie fest verbinde. Er hat die Augen zugemacht. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Parker uns beobachtet, aber durch den Qualm des Feuers und den Rauch von seiner Pfeife ist die Sicht im Zelt gleich null, also könnte ich mich auch irren. Als ich seine Füße fertig verbunden habe, holt Moody einen Flachmann heraus und bietet ihn mir an. Ich sehe ihn zum ersten Mal. Dankbar nehme ich das Angebot an. Es ist Whisky, zwar kein besonders guter, aber er brennt klar und feurig in meiner Kehle und treibt mir Tränen in die Augen. Er bietet auch Parker die Flasche an, doch der schüttelt nur den Kopf. Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich ihn noch nie Alkohol trinken sehen. Moody zieht die blutgetränkten Socken und Schuhe wieder an – es ist zu kalt, es nicht zu tun. »Mrs Ross, Sie müssen eine ziemlich hartgesottene Siedlerfrau sein, wenn Sie das alles ohne Blasen überstehen.« »Ich trage Mokassins«, erkläre ich. »In denen läuft man sich die Füße nicht so wund. Sie sollten sich auch welche besorgen, wenn wir nach Hanover House kommen.« »Ach so. Ja.« Er wendet sich an Parker. »Und wann, glauben Sie, Mr Parker, werden wir da sein? Meinen Sie, der Sturm tobt sich über Nacht aus und ist morgen vorüber?« Parker zuckt die Achseln. »Vielleicht. Doch selbst wenn, wird der Schnee unser Fortkommen behindern. Wir könnten mehr als zwei Tage brauchen.« »Waren Sie schon einmal dort?« 295
»Schon lange nicht mehr.« »Sie scheinen den Weg gut zu kennen.« Ein kurzes, feindseliges Schweigen entsteht. Ich bin mir nicht sicher, wo diese Feindseligkeit herkommt, doch sie ist plötzlich da. »Kennen Sie den dortigen Kommissionär?« »Er heißt Stewart.« Mir fällt auf, dass er damit die Frage nicht beantwortet. »Stewart … Wissen Sie, wie er mit Vornamen heißt?« »James Stewart.« »Ach, ich frage mich, ob das derselbe ist … ich habe erst kürzlich eine Geschichte über einen James Stewart gehört, der berühmt wurde, weil er im tiefsten Winter unter äußerst widrigen Umständen eine lange Reise unternommen hat. Wohl eine echte Heldentat, glaube ich.« Parkers Gesicht ist wie üblich nicht zu deuten. »Das weiß ich nicht genau.« »Ach, na ja …« Moody klingt höchst zufrieden. Wenn man in einem fremden Land niemanden kennt, dann ist es wahrscheinlich beinahe so, als träfe man einen alten Freund wieder, wenn man bald jemanden treffen soll, von dem man schon mal gehört hat. »Sie kennen Ihn also?«, frage ich Parker. Er wirft mir einen strengen Blick zu. »Ich habe ihn kennengelernt, als ich noch für die Company arbeitete. Das ist Jahre her.« Irgendetwas an seinem Tonfall warnt mich davor, weiter nachzuhaken. Was Moody natürlich nicht bemerkt. »Na, na, ist das nicht famos … ein großes Wiedersehen.« Ich lächle. Moody hat wirklich etwas ziemlich Liebenswürdiges an sich, wie er so wie ein Elefant durch den Porzellanladen poltert … Doch dann fällt mir wieder ein, was er vorhat, und mir vergeht das Lächeln.
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Es hört nicht auf zu schneien, und der kreischende Wind lässt auch nicht nach. Ohne dass ein Wort darüber verloren wird, hängen wir diesmal keinen Vorhang auf, um mir die gewohnte Privatsphäre zu verschaffen. In mehrere Decken gewickelt lege mich zwischen die beiden Männer und spüre, wie die Hitze der Glut mir die Füße versengt, will aber nicht wegrücken. Dann legt Moody sich irgendwann neben mich, und schließlich erstickt Parker die Glut und legt sich ebenfalls hin, so dicht, dass ich ihn fühlen und seinen ganz eigenen Gewächshausduft riechen kann. Es ist stockdunkel, aber ich glaube nicht, dass ich heute Nacht ein Auge zutun werde, so wie der Wind heult und das Zelt hin und her gerüttelt wird, das sich wie ein lebendiges Wesen aufbäumt und zittert. Ich habe furchtbare Angst, unter dem Schnee begraben zu werden, oder davor, dass die Wände einstürzen und uns darunter einschließen könnten. Ich male mir alle nur erdenklichen furchtbaren Szenarien aus, während ich mit wild klopfendem Herzen und weit aufgerissenen Augen daliege. Aber ich muss wohl doch eingeschlafen sein, denn ich träume, obwohl ich glaube, seit Wochen nicht mehr geträumt zu haben. Ich wache auf, und das Zelt – so scheint es – ist verschwunden. Der Wind kreischt wie tausend gemarterte Seelen, und die Luft ist voller Schnee, der so hell ist, dass er mich fast blind macht. Ich stoße einen Schrei aus, das denke ich jedenfalls, aber er geht in diesem Wirbel sofort unter. Parker und Moody sind auf den Knien und mühen sich ab, die Zeltöffnung zu verschließen, die sich losgerissen hat. Endlich gelingt es ihnen, den Eingang wieder zu sichern, doch inzwischen ist Schnee in hohen Wehen ins Zelt getrieben worden. Wir haben Schnee auf den Kleidern und in den Haaren. Moody entzündet die Lampe. Er ist erschüttert. Selbst Parker wirkt nicht ganz so gefasst wie sonst. »Tja.« Moody schüttelt den Kopf und klopft sich den Schnee von den Beinen. Wir sind inzwischen alle hellwach und ausgekühlt. »Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich brauche jetzt was zu trinken.« 297
Er zieht seinen Flachmann aus der Tasche und trinkt daraus, dann reicht er ihn an mich weiter. Ich gebe ihn Parker, der erst zögert und dann auch einen Schluck nimmt. Moody lächelt, als sei das sein persönlicher Triumph. Parker macht Feuer, um Tee zu kochen, und wir alle drücken uns dankbar ums Feuer und verbrennen uns die Finger. Ich zittere, ob vor Schreck oder Kälte weiß ich nicht, und höre erst wieder auf, als ich einen Becher süßen Tee getrunken habe. Neidisch sehe ich zu, wie die Männer ihre Pfeifen stopfen. Rauchen hat etwas Warmes, Tröstliches und wäre mir daher jetzt auch sehr willkommen, ebenso wie ein Rosenholzstöckchen, das ich mir zwischen die klappernden Zähne stecken könnte. »Sah ganz schön tief aus da draußen«, bemerkt Moody, als der Whisky leer ist. Parker nickt. »Je tiefer der Schnee draußen, desto wärmer wird es hier drinnen.« »Na, das ist doch mal ein schöner Gedanke«, murre ich. »Dann haben wir es wenigstens schön warm und kuschelig, wenn wir hier drinnen alle ersticken.« Parker lächelt. »Wir können uns ganz leicht wieder herausgraben.« Ich erwidere sein Lächeln und wundere mich, dass er so vergnügt ist, und dann erinnert mich irgendeine Kleinigkeit an den Traum, den ich hatte, ehe ich aufgewacht bin, und ich verstecke mein Gesicht in der Tasse. Ich weiß zwar nicht mehr genau, was ich geträumt habe, es ist mehr ein Gefühl, das mich ganz plötzlich und ganz sonderbar warm überkommt und mich dazu bringt, den Kopf abzuwenden. Ich täusche einen Hustenanfall vor, damit die Männer nicht sehen, wie ich in der Dunkelheit erröte. Am Vormittag hat der Sturm sich ausgetobt. Als ich wach werde, ist es hell, und noch mehr Schnee ist in die Ecken unseres Unterschlupfs und zwischen uns geweht worden. Ich 298
kämpfe mich aus dem Zelt in einen Tag hinaus, der zwar windig und trüb ist, aber nichtsdestotrotz herrlich verglichen mit der letzten Nacht. Unser Zelt ist halb unter einer meterhohen Schneewehe verschwunden, und mit der Schneedecke sieht alles ganz anders aus. Irgendwie weicher, weniger bedrohlich. Es dauert einige Minuten, ehe ich merke, dass Parkers Versicherungen zum Trotz in der Nacht ein Teil der Wand eingestürzt ist, gleichwohl ohne uns zu gefährden. Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, was passiert wäre, hätten wir unser Lager ein paar Meter weiter östlich aufgeschlagen. Das haben wir nicht, und das ist die Hauptsache. Zuerst befürchte ich schon, die Hunde seien verschwunden, ein für alle Male begraben, denn als ich mich umschaue, kann ich sie nirgends entdecken, obwohl sie sich sonst die Seele aus dem Leib bellen und lauthals nach Futter verlangen. Dann taucht von irgendwoher Parker auf, mit einem langen Stock bewaffnet, den er in eine der Schneewehen steckt, und ruft seine Hunde mit diesem seltsamen, durchdringenden Schrei, mit dem er sich mit ihnen verständigt. Plötzlich gibt es neben ihm eine Art Explosion, und Sisco stiebt aus einer hohen Wehe, gefolgt von Lucie. Sie springen ihn an, bellen aufgeregt und wedeln mit dem ganzen Körper, und Parker streichelt sie kurz. Er muss erleichtert sein, sie zu sehen, denn normalerweise fasst er sie überhaupt nicht an, und doch lächelt er jetzt und wirkt richtiggehend erfreut. So hat er mich noch nie angelächelt. Und sonst natürlich auch niemanden. Ich gehe rüber zu Moody, der unbeholfen die Sachen für unser Zelt zusammenpackt. »Lassen Sie mich das machen.« »Ach, würden Sie, Mrs Ross? Danke. Sie beschämen mich. Wie geht es Ihnen heute Morgen?« »Ich bin erleichtert, danke der Nachfrage.« »Ich ebenso. Das war eine interessante Nacht, nicht wahr?« Er lächelt und wirkt fast schon spitzbübisch. Auch er scheint heute Morgen guter Dinge zu sein. Vielleicht hatten wir letzte 299
Nacht alle mehr Angst, als wir uns eingestehen wollen. Und später dann, als wir wieder in nordöstlicher Richtung unterwegs sind, bleiben wir, obwohl wir uns durch Schneeverwehungen kämpfen müssen und Parker sein Tempo unserem anpasst, dicht zusammen, wie drei Menschen, die in der Gesellschaft der anderen Trost finden.
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E
spens Stimme klingt dringlich. »Line. Ich muss mit dir reden.« Line versucht, ihr wild in der Brust springendes Herz zu beruhigen, das Purzelbäume schlägt, als sie ihn ihren Namen sagen hört. Sie haben seit Tagen kein Wort mehr miteinander gesprochen. »Wieso? Ich dachte, deine Frau sei zu misstrauisch.« Sein flehentlicher Blick lässt sie vor Freude beinahe weinen. »Ich kann es nicht ertragen. Seit Tagen hast du mich nicht mehr angeschaut. Machst du dir so wenig aus mir? Hast du überhaupt mal an mich gedacht?« Line gibt auf und lächelt, und er umarmt sie, zieht sie an sich, drückt sich gegen sie, küsst ihr Gesicht, ihren Mund, ihren Hals. Dann zieht er sie hinter sich her, macht eine Tür auf – die in eine Vorratskammer führt – und schließt sie wieder hinter ihnen. Wie sie so in der völligen Dunkelheit der Kammer mit ihren Kleidern kämpfen, gegen Seifenstapel und etwas, das sich wie ein Besen anfühlt, gedrückt, sieht Line nur bruchstückhaft, unzusammenhängend. Es ist, als ob das fehlende Licht sie freier macht. Sie könnte nicht mal mit Bestimmtheit sagen, wer mit ihr in dieser Kammer ist. Ihm muss es genauso gehen – sie könnten irgendein Mann und irgendeine Frau sein, irgendwo. Toronto, zum Beispiel. Und dann weiß sie plötzlich, was sie tun wird. Line löst ihren Mund gerade so lange von seiner Haut, um zu sagen: »Ich kann nicht hierbleiben. Ich gehe fort. So bald wie möglich.« Espen rückt von ihr ab. Sie kann ihn atmen hören, aber in der Dunkelheit sein Gesicht nicht sehen. »Nein, Line, ich kann ohne dich nicht sein. Wir müssen vorsichtig sein. Dann merkt es niemand.« 301
Line fühlt die Geldrolle in ihrer Tasche und verspürt ein Gefühl von Macht. »Ich habe Geld.« »Was meinst du damit, du hast Geld?« Espen hat noch nie im Leben Geld gehabt, er hat immer von der Hand in den Mund gelebt, bis er herkam, um Himmelvanger mit aufzubauen, und dageblieben ist. Line lächelt in sich hinein. »Ich habe vierzig Dollar. Yankee-Dollar.« »Was?« »Niemand weiß es außer dir.« »Wie kommst du denn daran?« »Das ist ein Geheimnis!« Ein ungläubiges Grinsen macht sich auf Espens Gesicht breit. Irgendwie weiß sie das. Sie spürt, wie er unter ihren Händen zittert vor Lachen. »Wir könnten zwei Pferde nehmen. Wir brauchen nur drei Tage bis Caulfield, wir könnten all unsere Kleider anziehen und die Kinder mitnehmen. Dann nehmen wir einen Dampfer nach Toronto … oder Chicago. Irgendwohin. Ich habe genug Geld, damit wir uns ein Haus leisten können, während wir Arbeit suchen.« Espen klingt etwas alarmiert. »Aber Line, es ist tiefster Winter. Wäre es nicht besser, wir warten bis zum Frühling – gerade mit den Kindern?« Line wird ein bisschen ungeduldig. »Es schneit nicht mal – es ist fast schon warm! Worauf willst du denn noch warten?« Espen seufzt. »Außerdem, wenn du ›Kinder‹ sagst, meinst du Torbin und Anna, stimmt’s?« Darauf hat Line schon gewartet. Eigentlich ist Merete an allem schuld. Wenn sie doch bloß tot wäre. Sie ist zu nichts nutze, und niemand mag sie, nicht einmal Per, der eigentlich alle mag. »Ich weiß, das fällt dir schwer, mein Schatz, aber wir können nicht alle Kinder mitnehmen. Vielleicht könntest du später, wenn wir ein Haus haben, zurückkommen und sie holen, hm?« Insgeheim hält sie das für höchst unwahrscheinlich. Sie kann 302
sich nicht vorstellen, dass Merete oder auch Per zulassen würden, dass Espen die Kinder mitnimmt, damit sie bei seinem Flittchen groß werden. Aber Espen hängt an seinen drei Kindern. »Wir können bald alle wieder vereint sein. Aber jetzt … jetzt muss ich gehen. Ich kann nicht hierbleiben.« »Warum denn diese Eile?« Das ist ihre Trumpfkarte, und Line spielt sie mit Bedacht aus. »Na ja, ich bin mir fast sicher … nein, ich bin mir ganz sicher, dass ich in anderen Umständen bin.« In der Vorratskammer herrscht tiefes Schweigen. Herrgott noch mal, denkt Line bei sich, er muss doch wissen, wie so was passiert. »Wie kann das sein? Wir waren doch so vorsichtig!« »Na ja … wir waren nicht immer vorsichtig.« Er überhaupt nicht – es hätte schon viel früher passieren können, denkt sie, hätte er seinen Willen bekommen. »Du bist doch nicht böse, oder, Espen?« »Nein, ich liebe dich. Es ist bloß …« »Ich weiß. Aber darum kann ich nicht bis zum Frühling warten. Die anderen würden es bald merken. Hier …« Sie nimmt seine Hand und steckt sie unter den Bund ihres Rocks. »Ach, Line …« »Wir sollten also lieber gehen, nicht wahr, ehe der richtige Schnee kommt? Sonst …« Sonst – die andere Möglichkeit ist undenkbar. Ganz spät am selben Nachmittag geht Line zum Zimmer des Jungen. Sie wartet, bis sie Jacob nach draußen gehen und im Stall verschwinden sieht, dann geht sie hinein. Der Schlüssel steckt von außen – seit Moody weg ist, nehmen sie es nicht mehr so genau mit dem Abschließen der Tür. Francis sieht erstaunt auf, als sie hereinkommt. Sie war nicht mehr allein bei ihm, seit seine Mutter angekommen ist. Seit dem 303
Tag, als sie versucht, hat ihn zu küssen, und er ihr das Geld gegeben hat. Der Gedanke daran treibt ihr immer noch die Röte ins Gesicht. Francis trägt seine eigenen Kleider und sitzt auf einem Stuhl am Fenster. Er hat ein Stück Holz und ein Messer in der Hand – er schnitzt an irgendwas herum. Line ist verblüfft – sie hatte erwartet, er würde noch im Bett liegen, schwach und blass. »Oh«, sagt sie, ehe sie sich bremsen kann. »Du bist auf.« »Ja, es geht mir schon viel besser. Jacob hat mir sogar sein Messer überlassen.« Er fuchtelt damit herum und lächelt sie an. »Du brauchst keine Angst zu haben.« »Kannst du wieder gehen?« »Ich humple herum, mit der Krücke.« »Sehr schön.« »Geht es dir gut? Ist alles in Ordnung, ich meine, da draußen?« Er klingt besorgt. »Ja … das heißt, nein, eigentlich nicht. Ich bin hier, weil ich dich etwas fragen wollte – ich brauche deine Hilfe. Es geht um deine Reise von Caulfield hierher … Versprichst du mir, niemandem was zu sagen? Auch Jacob nicht?« Er starrt sie verwundert an. »Ja, gut.« »Ich gehe weg. Ich muss bald gehen, ehe wir wieder Schnee bekommen. Wir wollen die Pferde nehmen und nach Süden gehen. Du musst mir den Weg erklären.« Francis wirkt verwundert. »Den Weg nach Caulfield?« Sie nickt. »Und wenn es schneit, wenn ihr unterwegs seid?« »Deine Mutter hat es auch geschafft. Trotz Schnee. Mit Pferden kann es doch so schwer nicht sein.« »Du meinst, du und deine Kinder?« »Ja.« Sie reckt das Kinn und spürt, wie ihr die Röte den Hals hinauf bis in die Haarwurzeln steigt. Francis sieht sich um, sucht etwas, wo er Holz und Messer ablegen kann. Jetzt habe ich dich schon wieder in Verlegenheit gebracht, denkt sie, und nimmt 304
Bleistift und Papier heraus, die sie mitgebracht hat. Na ja, manchmal muss es eben sein. Wenigstens bist du nicht eifersüchtig.
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D
er Friedensrichter von St. Pierre sitzt Knox in seinem Schlafzimmergefängnis gegenüber und seufzt. Er ist ein älterer, untersetzter Herr, mindestens siebzig, mit milchig-trüben Augen und dicken Brillengläsern, die viel zu schwer für seine zierliche Nase wirken. »Wenn ich Sie richtig verstehe«, sagt er mit einem Blick in seine Notizen, »sagten Sie, Sie« konnten Mackinleys brutale Versuche, William Parker zu einem Geständnis zu zwingen, nicht gutheißen », weswegen sie ihn freigelassen haben.« »Es gab keine stichhaltigen Gründe, ihn noch länger festzuhalten.« »Aber Mr Mackinley behauptet, er habe nicht erklären können, wo er in der fraglichen Zeit war.« »Er konnte es sehr wohl erklären. Es gab bloß niemanden, der seine Aussage bestätigen konnte, aber das ist bei einem Fallensteller nicht weiter verwunderlich.« »Des Weiteren behauptet Mr Mackinley, der Gefangene habe ihn angegriffen. Und jegliche Verletzungen, die der Gefangene davongetragen habe, seien in Notwehr entstanden.« »Mackinley hatte nicht den leisesten Kratzer, und wäre er angegriffen worden, hätte er es jedem erzählt. Ich habe den Gefangenen gesehen. Das war ein hinterhältiger Angriff. Ich wusste, dass er die Wahrheit sagt.« »Hm. Ich kenne einen William Parker. Vielleicht interessiert es Sie zu erfahren, dass dieser William Parker aktenkundig geworden ist wegen eines tätlichen Angriffs auf Bedienstete der Hudson Bay Company.« Knox denkt: Oh nein. »Das ist zwar schon eine Weile her, aber er stand unter dringendem Tatverdacht im Fall eines ziemlich brutalen Übergriffs. 306
Sehen Sie, hätten Sie nur noch ein bisschen länger gewartet, wäre das alles ans Licht gekommen.« »Ich glaube immer noch nicht, dass er der Mörder ist, den wir suchen. Nur, weil ein Mann einmal etwas Falsches getan hat – und das auch noch vor geraumer Zeit –, heißt das doch nicht, dass er es zwangsläufig wieder tut.« »Stimmt. Aber wenn ein Mann eine gewalttätige Natur hat, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Veranlagung sich immer wieder Bahn bricht. Ein und derselbe Mann ist nicht einmal gewalttätig und dann wieder friedlich.« »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen da zustimmen kann. Vor allem dann nicht, wenn er die Gewalttätigkeiten in seiner Jugend begangen hat.« »Nein. Schön. Und ein anderer Verdächtiger ist immer noch auf freiem Fuß?« »So würde ich das nicht unbedingt sagen. Ich habe zwei Männer losgeschickt, einen Jungen aus dem Ort aufzuspüren, der ungefähr zur Zeit des Mordes verschwunden ist. Bisher sind sie noch nicht zurückgekommen.« Und wo zum Teufel stecken sie?, fragt er sich. Sie sind schon beinahe zwei Wochen fort. »Und wie ich hörte, ist die Mutter des Jungen ebenfalls verschollen?« »Sie sucht ihren Sohn.« »Vermutlich.« Er nimmt die Brille ab, die zwei leuchtend rote Flecken auf seinem Nasenrücken hinterlässt, und reibt die Stellen mit Zeigefinger und Daumen. Der Blick, mit dem er Knox bedenkt, sagt unmissverständlich: »Was haben Sie da bloß für ein entsetzliches Durcheinander angerichtet in diesem Städtchen?« »Was haben Sie mit mir vor?« Der Friedensrichter von St. Pierre schüttelt den Kopf. »Das ist wirklich äußerst ungewöhnlich.« Sein Kopf wackelt weiter hin und her, als bewege er sich, einmal angestoßen, ganz von allein 307
weiter. »Höchst ungewöhnlich. Ich weiß gar nicht, was ich denken soll, Mr Knox. Aber fürs Erste können wir Sie wohl wieder nach Hause schicken. Solange Sie nicht – ha ha – das Land verlassen!« »Ha ha. Nein. Das hatte ich eigentlich nicht vor.« Knox steht auf und verweigert es, das freudlose Lächeln des anderen zu erwidern. Wie er findet, steht er mindestens einen Meter über diesem anderen Friedensrichter.
***
Jetzt, wo er frei ist zu gehen, widerstrebt es Knox irgendwie, gleich nach Hause zurückzukehren. Er bleibt auf dem Treppenabsatz stehen und klopft spontan an Sturrocks Tür. Der öffnet sofort. »Mr Knox! Wie ich mich freue, Sie wieder in Freiheit zu sehen – wie ich annehme, oder sind Sie etwa entflohen?« »Nein, ich bin wieder frei, fürs Erste jedenfalls. Ich fühle mich wie ein neuer Mensch.« Obwohl er lächelt und sich um einen scherzhaften Ton bemüht, weiß er nicht so genau, ob Sturrock merkt, dass es ein Witz sein soll. Er war noch nie ein guter Witze-Erzähler, nicht mal in seiner Jugend – vielleicht hat es damit zu tun, dass er immer so ernst aussieht. Als junger Anwalt wurde ihm irgendwann bewusst, dass er den meisten Menschen Angst und so etwas wie vorauseilende Schuldgefühle einjagte. Das hat sich zuweilen als recht nützlich erwiesen. »Kommen Sie herein.« Sturrock führt ihn hinein, als sei Knox augenblicklich der Mensch, den er am liebsten auf der ganzen Welt sehen wolle. Knox gestattet es sich, geschmeichelt zu sein, und nimmt das Angebot eines Whiskys an. »Nun denn, Slainthé!« 308
»Slainthé! Tut mir leid, dass es kein Malt ist, aber bitteschön … Jetzt sagen Sie mal, wie war denn die Nacht hinter Gittern?« »Ach, na ja …« »Ich wollte, ich könnte behaupten, noch nie das Vergnügen gehabt zu haben, doch das ist bedauerlicherweise nicht der Fall. Lange her, in Illinois. Aber da die meisten Leute da unten Verbrecher sind, befand ich mich in bester Gesellschaft …« Sie reden eine Weile und genießen die Gesellschaft des anderen. Der Füllstand der Flasche sinkt mit zunehmender Dunkelheit. Knox sieht sich den Himmel an, und was er da über den Dächern sieht, ist dunkel und schwer und verheißt noch mehr schlechtes Wetter. Unten auf der Straße eilt eine kleine Gestalt quer über die Straße in den Laden im Erdgeschoß. Er erkennt sie nicht. Er denkt, dass es sicher wieder schneien wird. »Sie bleiben also hier und warten, bis der Junge wieder da ist?« »Ich denke ja.« Sie schweigen eine ganze Weile. Der Whisky ist ausgetrunken. Sie denken beide dasselbe. »Sie müssen wirklich großen Wert auf diesen … Knochen legen.« Sturrock wirft ihm einen abwägenden Seitenblick zu. »Das muss ich wohl.«
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m Abend des sechsten Tages sehen sie ihr Reiseziel zum ersten Mal. Donald hinkt hinterher – selbst Mrs Ross ist schneller als er mit seinen geschundenen Füßen. Die mörderischen Stiefel einfach auszuziehen ist unmöglich, doch selbst mit verbundenen Füßen ist jeder Schritt eine Qual. Außerdem, das hat er den anderen verheimlicht, hat seine Narbe wieder angefangen zu schmerzen. Gestern war er fest davon überzeugt, sie sei wieder aufgeplatzt, und unter dem Vorwand austreten zu müssen hat er sein Hemd aufgeknöpft und nachgesehen. Die Narbe war unversehrt, aber leicht geschwollen, und nässte. Ängstlich hat er sie berührt, weil er wissen wollte, wo die Flüssigkeit herkam. Vermutlich machte ihm bloß die beschwerliche Reise zu schaffen. Wenn sie endlich am Ziel waren, würde er sich sicher schnell erholen. Und so ist der Anblick des Handelspostens in der Ferne – dessen Existenz er in dunklen Momenten bereits zu bezweifeln begann – ein Grund zum Jubeln. Augenblicklich kann Donald sich nichts Schöneres vorstellen, als ganz lange in einem weichen, warmen Bett zu liegen. Das Geheimnis des Glücks scheint, so überlegt er fröhlich, offensichtlich doch auf dem Grundprinzip zu beruhen, den Kopf gegen eine Wand zu schlagen und dann damit aufzuhören. Hanover House steht auf einem Hügel, der auf drei Seiten von einem Fluss eingerahmt wird. Dahinter stehen ein paar Bäume, die ersten Bäume, die sie seit Tagen zu sehen bekommen – krumme, verkrüppelte Birken und Lärchen, kaum größer als mannshoch zwar, aber nichtsdestotrotz Bäume. Der Fluss ist nicht sehr tief und fließt langsam, ist also nicht gefroren – dafür ist es noch nicht kalt genug – und liegt schwarz in seinem verschneiten Bett. 310
Als sie schon recht nahe herangekommen sind und immer noch kein Anzeichen dafür erkennen können, dass man sie bemerkt hat, beschleicht Donald die nagende Angst, es könne möglicherweise niemand da sein. Der Posten ist nach dem gleichen Grundprinzip gebaut wie Fort Edgar, aber unverkennbar sehr viel älter. Der Palisadenzaun ist schief, die Häuser selbst grau und verwittert vom Ansturm der Naturgewalten. Insgesamt macht der Posten einen heruntergekommenen Eindruck – obwohl man anscheinend versucht hat, hier und da etwas zu reparieren, wirkt er ziemlich vernachlässigt. Donald ahnt die Gründe dafür. Sie sind mittlerweile tief im Shield Country südlich der Hudson Bay. Diese Gegend war mal eine unermüdlich sprudelnde Pelzquelle für die Company, doch das ist lange her. Hanover House ist ein Relikt früherer Pracht und Herrlichkeit, ein verkümmerter Arm. Außerhalb des Zauns, hinaus auf die Ebene gerichtet, stehen einige kleine Kanonen, und jemand hat sich – trotz des Schneesturms – die Mühe gemacht, hinzugehen und sie vom Schnee zu befreien. Die gedrungenen schwarzen Gebilde, die da im Schnee stehen, sind das einzige Zeichen menschlicher Aktivität. Das Tor des Palisadenzauns steht halb offen, und Fußspuren führen hierhin und dorthin. Und obwohl die drei und ihr Hundeschlitten seit sicher einer Stunde im Schnee gut auszumachen waren, kommt sie niemand begrüßen. »Sieht ziemlich verlassen aus«, meint Donald und sieht Parker in Erwartung einer zustimmenden Bemerkung an. Parker jedoch antwortet nicht, sondern schiebt das Tor auf, das sich durch das Gewicht des Schnees, der sich dahinter aufgetürmt hat, nach ein paar Zentimetern nicht mehr bewegen lässt. Der Hof dahinter ist nicht gefegt – in Fort Edgar ein Kapitalverbrechen. »Ja«, sagt Parker. »Vielleicht ist der Posten aufgegeben worden.« Donald sieht sich in dem verlassenen Hof um. »Nein, nicht aufgegeben.« Parker betrachtet eine dünne 311
Rauchfahne, die aus einem niedrigen Lagerhaus aufsteigt. Der Rauch hat dieselbe Farbe wie der Himmel. Donald kommt mühsam auf die Füße – eine übermenschliche Anstrengung – und stolpert ein paar Schritte nach vorne. Dann kommt ein Mann um die Ecke eines der Häuser und bleibt wie angewurzelt stehen. Ein großer, dunkelhäutiger Mann mit breiten Schultern und langem, zotteligem Haar. Trotz der Eiseskälte trägt er nur ein flatterndes Flanellunterhemd, das bis zur Hüfte offen steht. Er starrt sie mit offenem Mund und mürrischem Unverständnis an, der große Körper schlaff und anscheinend unempfindlich gegen die Kälte. Mrs Ross starrt zurück, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Parker will ihm gerade zurufen, sie seien von weit hergekommen und Donald sei ein Angestellter der Company, doch noch ehe er fertig ist, hat der Mann sich auch schon umgedreht und ist in die Richtung zurückgegangen, aus der er gekommen ist, und lässt Parker einfach mitten im Satz stehen. Parker sieht Mrs Ross an und zuckt die Achseln. Donald hört, wie sie ihm zuflüstert: »Ich glaube, der Mann ist betrunken«, und lächelt finster in sich hinein. Offensichtlich hat sie nicht die geringste Ahnung, womit man sich in einem abgelegenen Handelsposten im Winter die Zeit vertreibt. »Ob wir ihm folgen sollen?«, fragt Mrs Ross. Wie gewöhnlich ist das an Parker adressiert, doch Donald humpelt hinüber zu ihnen, mit halb erfrorenen Füßen, die aber wunderbarerweise nicht mehr wehtun. Dies ist ein Posten der Company, also ist er der Meinung, er sollte nun das Kommando übernehmen. »Sicher kommt gleich jemand. Wissen Sie, Mrs Ross, in einem Handelposten, vor allem in einem so abgelegenen wie diesem, ist es im Winter so, dass die Männer sich oft mit allem trösten, was sie finden können.« Die Hunde, die vor dem Tor noch im Geschirr stehen, bellen wie wild und steigern sich immer mehr hinein. Anscheinend können sie nicht stillstehen, ohne einen Streit anzufangen. 312
Augenblicklich scheint es, als wollten sie sich gegenseitig umbringen. Parker geht hin, schreit sie an und schlägt mit einem Stock auf sie ein. Eine Strategie, die nicht sehr schön anzusehen, aber sehr wirksam ist. Noch ein paar Minuten später hört man Schritte im Schnee, und ein anderer Mann kommt um die Ecke. Zu Donalds Erleichterung ist es diesmal ein Weißer, vielleicht ein wenig älter als Donald, mit blassem, sorgenvollem Gesicht und wirr abstehendem rötlichem Haar. Er wirkt beunruhigt, aber nüchtern. »Gütiger Himmel«, ruft er mit unverhohlenem Ärger. »Es stimmt also wirklich …« »Hallo!« Donald freut sich umso mehr, weil er einen schottischen Akzent hört. »Na dann … willkommen.« Der andere reißt sich zusammen. »Verzeihen Sie, es ist so lange her, seit wir das letzte Mal Besuch hatten, und noch dazu im Winter … außergewöhnlich. Wo habe ich nur meine Manieren …« »Donald Moody, Buchhalter der Company in Fort Edgar.« Donald streckt die Hand aus, wobei er ein bisschen schwankt. »Ah ja, Mr Moody. Ähm, Nesbit. Frank Nesbit, stellvertretender Kommissionär.« Donald stutzt kurz bei der Bezeichnung »stellvertretender Kommissionär«, da er von dieser Stellung noch nie etwas gehört hat, denkt aber dann doch noch daran, mit großer Geste auf Mrs Ross zu weisen. »Dies ist Mrs Ross, und das ist …«, wie aufs Stichwort erscheint Parker im Tordurchgang, eine bedrohliche Figur mit einem großen Stock, »… ähm, Parker, der uns hierhergeführt hat.« Nesbit schüttelt ihnen die Hand und starrt dann entsetzt auf Donalds Füße. »Mein Gott, Ihre Füße … haben Sie denn keine Stiefel?« »Doch, aber die waren so unbequem, dass ich sie ausgezogen habe, da drüben … halb so wild. Nur ein paar Blasen, wissen Sie …« 313
Donald wird plötzlich angenehm schwindlig, und er fragt sich, ob er wohl gleich umkippen wird. Nesbit macht keinerlei Anstalten, sie nach drinnen zu führen, obwohl es beinahe dunkel ist und friert. Er wirkt nervös und fahrig und überlegt laut, ob er ihnen die furchtbar heruntergekommenen Gästezimmer zumuten kann oder ob er selbst sein Quartier räumen soll … Schließlich, nach stundenlangem Zaudern, so kommt es Donald jedenfalls vor, führt er sie um die Ecke und dann durch eine Tür, während Donalds Füße, die vorher schon eiskalt waren, vollkommen taub werden. Er führt sie einen unbeleuchteten Flur entlang und öffnet die Tür zu einem großen, unbeheizten Zimmer. »Vielleicht wären Sie so nett, einen Augenblick hier zu warten. Ich hole jemanden, der Feuer macht und Ihnen etwas Heißes bringt. Entschuldigen Sie mich …« Nesbit geht hinaus und schlägt die Tür hinter sich zu. Donald humpelt zu dem leeren Kamin und lässt sich auf einen Stuhl daneben sinken. Parker sagt, er wolle die Hunde versorgen, und verschwindet. Donald denkt an Fort Edgar, wo Besucher immer ein Grund zum Feiern sind und wie Könige behandelt werden. Vielleicht ist das Personal ja größtenteils desertiert. Ihm fällt auf, dass der Kamin äußerst schmutzig ist, ehe die Erschöpfung, die nur darauf gewartet hat, ihn zu übermannen, ihm mit Samthandschuhen die Augen schließt. »Mr Moody!« Ihre Stimme klingt schrill, und er reißt die Augen auf. »Hm? Ja, Mrs Ross?« »Lassen Sie uns lieber nicht sagen, weshalb wir hier sind, jedenfalls nicht heute Abend. Sehen wir uns erst einmal um. Wir wollen doch nicht, dass sie gleich auf der Hut sind.« »Wie Sie wollen.« Er schließt die Augen wieder. Er kann sich nicht vorstellen, ein zusammenhängendes Gespräch zu führen, ehe er ein bisschen geschlafen hat. Allein schon aus der unbarmherzigen, beißenden Kälte heraus zu sein ist eine Wohltat. 314
Er hat die Augen, so glaubt er, bloß einen kleinen Moment geschlossen, aber als er sie wieder aufmacht, brennt ein Feuer im Kamin, und von Mrs Ross fehlt jede Spur. Hinter dem Fenster sieht man nur Schwarz, und er hat keine Ahnung, wie spät es ist. Aber es ist ein solcher Luxus, im Warmen zu sein, dass er sich nicht dazu aufraffen kann aufzustehen. Nur wenn irgendwo ein Bett auf ihn wartete, würde er sich vermutlich aufrappeln können. Und dann bemerkt er trotz seiner ungeheuren Müdigkeit, dass noch jemand im Zimmer ist. Er dreht sich um und sieht eine Frau, ein Halbblut, die eine Schale mit Wasser und ein paar Verbände mitgebracht hat. Sie nickt ihm zu und setzt sich auf den Boden zu seinen Füßen. Dann fängt sie an, die blutverkrusteten Leinenfetzen zu entfernen. »Oh, danke sehr.« Donald ist diese Aufmerksamkeit ein bisschen peinlich, auch weil die Bandagen ziemlich eklig sind. Er versucht, ein kieferausrenkendes Gähnen zu unterdrücken. »Ich heiße … Donald Moody, Buchhalter der Company in Fort Edgar. Wie heißen Sie?« »Elizabeth Bird.« Sie sieht ihn kaum an und reinigt stattdessen die Wunden an seinen Füßen. Donald lässt den Kopf nach hinten gegen die Stuhllehne sinken und ist froh, nicht reden und nicht einmal denken zu müssen. Seine Verpflichtungen können bis morgen warten. Bis dahin kann er, zum Rhythmus der Hände dieser schwarzhaarigen, dunkelhäutigen Frau, die seine Füße versorgt, schlafen und schlafen und schlafen.
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er Hof ist vollkommen dunkel, und ich höre nirgendwo einen Hund, was ziemlich seltsam ist. Normalerweise gibt es, wo immer man mit Hunden hinkommt, ein großes Hallo mit wütendem Kläffen und furchterregendem Knurren, aber als wir ankamen, war alles still. Ich rufe nach Parker. Ein scharfer Wind bläst, und ein paar Schneeflocken pieksen mich in die Wangen. Keine Antwort, und plötzlich packt mich nackte Angst. Vielleicht ist er, jetzt, wo wir hier sind, einfach weitergegangen und kümmert sich um seine Angelegenheiten. Gerade, als mir die ersten Tränen in die Augen steigen, macht jemand zu meiner Linken eine Tür auf, und ein rechteckiger Lichtfleck fällt auf den Schnee. Dann folgt eine kurze, heftige Auseinandersetzung, und ich höre Nesbits Stimme. »Du sagst besser keinen Ton über ihn, wenn du meine Hand nicht zu spüren bekommen willst. Ja, wahrscheinlich wäre es das Beste, du hältst dich ganz von ihnen fern.« Die andere Stimme ist kaum zu verstehen – aber es ist eine Frauenstimme, die ihm Vorhaltungen macht. Ohne weiter darüber nachzudenken, habe ich mich im Schatten einer Dachtraufe versteckt. Aber man hört weiter nichts, bis Nesbit die Auseinandersetzung, wenn es denn eine war, beendet mit einem verdrießlichen: »Ach, Herrgott noch mal, dann tu, was du nicht lassen kannst. Aber warte nur, bis er zurückkommt!« Die Tür wird zugeschlagen, und Nesbit will den Hof überqueren, fährt sich mit der Hand durch die Haare, wovon diese allerdings auch nicht ordentlicher werden. Ich mache die Tür auf und trete auf den Hof hinaus und gehe auf ihn zu, als sei ich gerade erst nach draußen gekommen. »Ach, Mr Nesbit, da sind Sie ja …« »Ach, Mrs …« Er bleibt wie angewurzelt stehen und fuchtelt mit der Hand in der Luft herum. 316
»Ross.« »Mrs Ross, ja, natürlich. Verzeihen Sie. Ich war nur …« Er lacht kurz auf. »Ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie einfach so stehengelassen habe. Hat noch niemand Feuer gemacht? Sie müssen uns entschuldigen, wir sind derzeit ein bisschen unterbesetzt, und das um diese Jahreszeit …« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Wir haben Sie ja ganz unvorhergesehen überfallen.« »Aber das ist doch kein Überfall. Die Company legt großen Wert auf Gastfreundschaft und all das … Sie sind sehr willkommen, das versichere ich Ihnen.« Er lächelt mich an, was ihn allerdings einige Mühe zu kosten scheint. »Sie müssen mir zum Abendessen Gesellschaft leisten … und Mr Moody und Mr Parker selbstverständlich auch.« »Mr Moody hat geschlafen, als ich hinausgegangen bin. Ich fürchte, er ist ziemlich mitgenommen wegen seiner Blasen.« »Sie denn nicht? Ich muss schon sagen, das ist sehr erstaunlich. Wo, sagten Sie, kommen Sie her?« »Warum gehen wir nicht nach drinnen? Es ist so kalt …« Ich weiß nicht recht, wie ich dieses Thema angehen soll. Eigentlich hatte ich mit Parker darüber reden wollen, aber Parker ist nicht zu finden. Ich folge Nesbit einen anderen Flur entlang – von dem eine ganze Menge Türen abgehen – in ein kleines warmes Zimmer, in dem ein Feuer im Kamin brennt. Ein Klapptisch, ein sogenannter Sutherland, steht in der Mitte, daneben zwei Stühle. An den Wänden hängen farbige Bilder von aus Zeitschriften ausgeschnittenen Rennpferden und Preisboxern. »Bitte setzen Sie sich doch. Hier drinnen ist es schon ein bisschen wärmer, was? Es geht doch nichts über ein ordentliches Feuer an diesem gottverlassenen Flecken Erde …« Plötzlich und unvermittelt geht er aus dem Zimmer und lässt mich dort sitzen, und ich frage mich, was da wohl gerade passiert ist. Dabei habe ich den Mund nicht mal aufgemacht. 317
Unter den Boxern und Pferden befinden sich ein paar recht schöne Drucke, und wie ich sehe, sind auch die Möbel ziemlich anständig. Eingeschifft, nicht aus der Gegend. Der Tisch ist aus Mahagoni, das vom vielen Gebrauch ganz glatt poliert ist. Die Stühle sind aus Obstholz und haben kunstvoll geschnitzte Rückenlehnen, vielleicht sind sie italienisch. Über dem Kamin hängt in einem reich verzierten, vergoldeten Rahmen eine kleine Jagdszene, aus der die Röcke der Jäger in sattem Rot hervorleuchten. Und auf dem Tisch stehen schwere Bleikristallgläser mit feiner Vogelgravur. Hier wohnt ein kultivierter Mann mit Geschmack, aber ich vermute, es ist nicht Nesbit. Nesbit platzt wieder ins Zimmer, einen weiteren Stuhl in den Händen. »Normalerweise, müssen Sie wissen …«, sagt er, als sei er nie weggewesen, »… sind wir nur zwei – Funktionäre, meine ich, also ist es hier sehr ruhig. Ich habe Abendessen bestellt, also … Ach, ha, natürlich!« Wieder springt er auf, obwohl er sich gerade erst gesetzt hatte. »Sie möchten bestimmt ein Gläschen Brandy, würde ich vermuten. Wir haben einen ziemlich guten. Ich habe ihn selbst mitgebracht, aus Kingston, vorletzten Sommer.« »Nur ein kleines Glas. Ich fürchte, ein Tröpfchen zu viel, und ich schlafe auf der Stelle ein.« Das war die Wahrheit. Die Wärme kriecht mir zum ersten Mal seit Tagen in die Glieder und macht mir die Lider schwer. Er schenkt zwei Gläser ein, wobei er sich allergrößte Mühe gibt, in beide ganz genau gleich viel einzugießen, und reicht mir dann eins. »Nun denn, Slainthé. Und was führt Sie und Ihre Freunde hierher – was bereitet uns dieses unerwartete, willkommene Vergnügen?« Vorsichtig stelle ich mein Glas ab. Es ist ärgerlich, dass wir keine Zeit hatten, uns abzusprechen, ehe wir ankamen, oder vielmehr, dass wir sogar Zeit gehabt hätten – immerhin waren wir sechs Tage unterwegs –, aber es sich einfach irgendwie nicht 318
ergeben hat. In Gedanken gehe ich meine Geschichte noch einmal durch und prüfe sie auf Schwachstellen. Ich hoffe, Moody wacht so schnell nicht wieder auf. »Wir kommen aus Himmelvanger – kennen Sie das?« Nesbit sieht mich mit seinen durchdringenden braunen Augen an. »Nein, nein, ich glaube nicht.« »Dort lebt eine lutherische Gemeinde. Norweger. Sie wollen dort einen Ort aufbauen, an dem sie ein gerechtes Leben vor Gottes Angesicht führen können.« »Bewundernswert.« Mit den Fingern der rechten Hand fummelt er unablässig an einem Bleistiftstummel herum, schnipst ihn hin und her, wirbelt ihn herum, klopft damit leise auf den Tisch, und bei mir macht etwas klick. Laudanum, oder vielleicht Strychnin. Nur der liebe Gott weiß, welches Missgeschick ihn hierherverschlagen hat, so weit weg von Apothekern und Ärzten. »Wir sind unterwegs, weil …« Ich breche ab und seufze tief. »Es fällt mir schwer, darüber zu reden … mein Sohn ist von zu Hause weggelaufen. Er wurde zuletzt in Himmelvanger gesehen, und von dort aus führte eine Spur in diese Richtung.« Nesbit, der mich so durchdringend anstarrt, dass ich eine Gänsehaut bekomme, entspannt sich ein wenig. Vielleicht hatte er ja doch etwas anderes befürchtet. »Eine Spur in diese Richtung? Bis hierher?« »So schien es, obwohl wir uns nach dem Schneesturm nicht mehr so sicher waren.« »Nein.« Er wackelt nachdenklich mit dem Kopf. »Aber Mr Parker dachte, es sei am wahrscheinlichsten, dass er hierhergekommen ist. In diesem Teil des Landes gibt es nicht allzu viele Siedlungen, glaube ich – eigentlich fast gar keine.« »Nein, wir sind hier ziemlich abgelegen. Ist er … sehr jung, Ihr Sohn?« »Siebzehn.« Ich senke den Blick. »Sie können sicher verstehen, wie besorgt ich bin.« 319
»Ja, natürlich. Und Mr Moody …?« »Mr Moody war so freundlich, uns seine Begleitung anzubieten, da wir ja zu einem Handelsposten der Company unterwegs waren. Ich glaube, er wollte unbedingt Ihren Kommissionär kennenlernen.« »Ah ja. Ich bin mir sicher … Also, Mr Stewart ist zu einer kurzen Reise aufgebrochen, aber er sollte in den nächsten ein bis zwei Tagen wieder zurück sein.« »Haben Sie irgendwelche Nachbarn?« »Nein, er ist auf die Jagd gegangen. Eine seiner liebsten Beschäftigungen.« Nesbit hat sein Glas bereits ausgetrunken und wieder gefüllt. Ich trinke meins schlückchenweise. »Sie haben also … weder einen Fremden gesehen noch von einem gehört?« »Leider nein. Überhaupt nichts. Aber vielleicht ist er einer Gruppe Indianer begegnet oder Fallenstellern … Hier verkehren die unterschiedlichsten Leute. Sie würden sich wundern, wie viele Leute sich auch im Winter hier herumtreiben.« Ich seufze abermals und gucke ganz verzagt, was mir nicht schwerfällt. Er nimmt mein Glas und gießt mir noch mal ein. Die Tür geht auf, und herein kommt eine kleine, pummelige Indianerin unbestimmbaren Alters mit einem Tablett in der Hand. »Der andere Mann, er möchte schlafen«, sagt sie mit einem unheilvollen Blick in Nesbits Richtung. »Ja, gut, Norah. Na, stell es schon hin … danke. Würdest du nachsehen, ob du eventuell unseren anderen Besucher auftreiben kannst?« In seiner Stimme schwingt eine Spur Sarkasmus mit. Die Frau stellt das Tablett mit lautem Scheppern auf den Tisch. Mit ungeschickten Bewegungen deckt Nesbit das Tablett ab und serviert mir einen Teller Elchsteak und Maispuffer. Der Teller ist aus gutem englischen Porzellan, aber das Steak ist alt und zäh und nicht viel besser als das, was wir während unserer 320
Reise gegessen haben. Ich muss mich zusammenreißen, damit mir die Augen nicht zufallen und ich meine sechs Sinne beisammenhalte. Nesbit isst wenig, trinkt aber viel, also ist sein Wahrnehmungsvermögen nicht das Beste. Ich habe das dringende Bedürfnis, ihn noch heute Abend zum Reden zu bringen, solange er noch keinen Verdacht geschöpft hat. »Wer lebt eigentlich alles hier? Ist das ein großer Handelsposten?« »Herrgott, nein! Wir sind ein sehr kleiner Posten. Das ist hier nicht gerade das Herz der Pelzfanggründe. Nicht mehr.« Er lächelt bitter, aber ich glaube, nicht wegen verpasster Karrierechancen. »Mr Stewart ist hier der Kommissionär, und er ist einer der anständigsten Männer, die Sie je kennenlernen werden. Und dann ich, Ihr ergebener Diener, das Mädchen für alles …«, er macht eine hämische Verbeugung, »… und dann sind da noch etliche Familien, Halbblut und Indianer, die hier in der Nähe wohnen.« »Die Frau, die eben hereingekommen ist, Norah – ist sie die Frau eines Ihrer Männer?« »Ganz genau.« Nesbit trinkt einen großen Schluck Brandy. »Und was machen die Pelzhändler im Winter?« Ich denke an den halbnackten Mann auf dem Hof. Der hatte kaum stehen können. Nesbit scheint Gedanken lesen zu können. »Ach, na ja, wenn es wenig zu tun gibt, wie jetzt, dann erliegen Sie leider … leicht der Versuchung. Die Winter sind sehr lang.« Sein Blick geht ins Leere, und seine Augen sind glasig und blutunterlaufen, ob vom Alkohol oder aus anderen Gründen, weiß ich nicht. »Aber trotzdem sind die Leute viel unterwegs …« »O ja, sie gehen jagen, die Männer – und Mr Stewart … Meine Sache ist das nicht.« Er macht eine elegante Geste, um seinen Widerwillen zu zeigen. »Ein bisschen Fallenstellen natürlich. Wir nehmen, was wir kriegen können.« 321
»Und ist in letzter Zeit irgendjemand aus dem Südwesten hierhergekommen? Ich frage mich bloß, ob die Spur, die wir gesehen haben, vielleicht von einem Ihrer Männer stammen könnte statt von meinem Sohn. Dann wüssten wir wenigstens, dass wir woanders suchen müssen.« Ich versuche, so unbeteiligt wie möglich zu klingen, aber einen Hauch von Traurigkeit mitschwingen zu lassen. »Einer unserer …?« Er tut ganz unschuldig, die Stirn in ulkige Falten gelegt. Aber schließlich ist er betrunken. »Ich kann mich nicht erinnern … nein, nicht, dass ich wüsste. Ich könnte nachfragen …« Er lächelt mich offenherzig an. Ich glaube, er lügt, aber ich bin so müde, dass ich meinen eigenen Sinnen nicht trauen kann. Das Verlangen, mich hinzulegen und zu schlafen, ist so übermächtig geworden wie ein körperlicher Schmerz. Einen Augenblick später komme ich nicht mehr dagegen an. »Es tut mir leid, Mr Nesbit, aber ich muss mich … zurückziehen.« Nesbit steht auf und nimmt meinen Arm, als fürchte er, ich könne umfallen oder weglaufen. Nicht einmal die plötzliche Kälte auf dem Gang macht mich wieder munter. Irgendetwas weckt mich. Es ist beinahe völlig dunkel und still, bis auf den Wind. Im ersten Augenblick habe ich das Gefühl, dass noch jemand anderes im Zimmer ist, und setze mich mit einem Schrei auf, den ich nicht unterdrücken kann. Als meine Augen sich an die fast vollständige Dunkelheit gewöhnt haben, erkenne ich, dass niemand da ist. Es dämmert noch nicht. Aber irgendetwas hat mich geweckt, und ich bin in Alarmbereitschaft. Das Herz klopft mir bis zum Hals, ich habe die Ohren gespitzt. Ich schlüpfe aus dem Bett und ziehe die wenigen Kleider an, die ich am Abend zuvor abgelegt habe, ehe ich ins Bett gefallen bin. Ich greife nach der Lampe, will sie aber nicht anzünden. Auf Zehenspitzen schleiche ich zur Tür. Auch draußen ist niemand. 322
Die Holzbalkendecke ächzt und knarzt, der Wind fährt pfeifend unter die Schindeln. Und dann ein seltsames Knistern, sehr leise und undeutlich. An jeder Tür bleibe ich stehen und lausche, ehe ich den Knauf drehe und hineinspähe. Ein Zimmer ist abgeschlossen, die meisten sind leer, und durch das Fenster eines leeren Zimmers sehe ich ein grünliches Leuchten draußen, einen zuckenden Lichtervorhang im Norden, der die Dunkelheit erhellt und es mir ermöglicht zu sehen. Hinter einer Tür, die ich aufmache, sehe ich Moody. Sein Gesicht wirkt jung und verletzlich ohne die Brille. Schnell mache ich die Tür wieder zu. Parker, denke ich, ich muss Parker finden. Ich muss mit ihm reden. Darüber, was ich tue, und zwar ehe ich etwas unbeschreiblich Dummes tue. Aber auch hinter den nächsten Türen entdecke ich ihn nicht, und dann läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Nesbit liegt da, im Tiefschlaf oder im Rausch, und neben ihm die Indianerin, die uns das Abendessen serviert hat; einer ihrer stämmigen Arme liegt über seiner Brust, dunkel auf seiner milchig-weißen Haut. Sie atmen laut. Ich hatte den Eindruck, sie hasst ihn, aber da liegen sie, und trotz der Anstößigkeit ihres Tuns strahlen sie doch eine seltsam anrührende Unschuld aus. Ich sehe länger hin, als ich will, und dann, damit sie nicht unvermittelt aufwachen, schließe ich die Tür ganz besonders vorsichtig hinter mir. Schließlich finde ich Parker doch noch, und zwar da, wo ich ihn auch fast vermutet hatte: im Stall bei den Hunden. Er liegt in seine Decke gewickelt und schläft mit dem Gesicht zur Tür. Ich weiß auf einmal nicht mehr, was ich tun soll, also entzünde ich die Lampe, setze mich hin und warte. Obwohl wir viele Nächte zusammen unter einer Leinenplane geschlafen haben, erscheint es mir jetzt, da wir unter einem festen Dach beisammen sind, irgendwie ungebührlich, ihm wie ein Dieb ins Stroh gekauert beim Schlafen zuzusehen. Einige Augenblicke später weckt ihn das Licht. 323
»Mr Parker, ich bin es, Mrs Ross.« Es scheint, als sei er sofort hellwach, ohne die übliche Benommenheit, die mich beim Aufwachen immer erst umfängt. Sein Gesicht ist so undeutbar wie immer, er wirkt weder verärgert noch überrascht, mich zu sehen. »Ist etwas passiert?« Ich schüttle den Kopf. »Irgendetwas hat mich geweckt, aber ich konnte nicht herausfinden was. Wo sind Sie gestern Abend hin?« »Ich habe mich um die Hunde gekümmert.« Ich warte auf weitere Erklärungen, aber es gibt keine. »Ich habe mit Nesbit zu Abend gegessen. Er hat mich gefragt, was wir hier machen. Ich habe gesagt, wir suchen meinen Sohn, der von zu Hause weggelaufen ist und zuletzt in Himmelvanger gesehen wurde. Ich habe ihn gefragt, ob einer seiner Leute kürzlich von einer Reise zurückgekehrt sei, und er sagte, das wisse er nicht. Aber ich glaube, er war nicht ganz ehrlich.« Parker lehnt sich gegen die Stallwand und sieht mich nachdenklich an. »Ich habe mit einem Mann und dessen Frau gesprochen. Sie sagten, in letzter Zeit sei niemand fortgewesen, aber sie waren unglücklich. Sie sahen in die Ferne oder knapp an mir vorbei, während sie mit mir redeten.« Ich weiß nicht, was ich mit dieser Information anfangen soll. Dann höre ich ganz entfernt, aber sehr deutlich etwas, das mir einen eiskalten Schauer den Rücken hinunterlaufen lässt. Ein unheimliches, tieftrauriges und doch gleichgültig klingendes Heulen. Eine gejaulte Symphonie. Die Hunde wachen auf, und ein tiefes Knurren ist aus ihrer Ecke des Stalls zu vernehmen. Ich schaue Parker an, sehe in seine schwarzen Augen. »Wölfe?« »Weit weg.« Ich weiß, dass wir von dicken Steinmauern umgeben sind und dass diese Wände kanonenbewehrt sind, und doch lässt mir dieses Geräusch das Blut in den Adern gefrieren. Wehmütig 324
denke ich an die drangvolle Enge unseres Zelts zurück. Dort habe ich mich sicherer gefühlt. Vielleicht zittere ich sogar und rücke ein wenig näher an Parker heran. »Ihre Vorräte gehen zur Neige. Die Jagd bringt kaum etwas ein. Die Nahrungsmittel werden knapp.« »Wie kann das sein? Das ist doch ein Posten der Company.« Er schüttelt den Kopf. »Es gibt auch schlecht geführte Posten.« Ich denke an Nesbit in seiner narkotischen Wiege. Wenn er hier für die Verwaltung und die Lebensmittel zuständig ist, erstaunt mich das nicht. »Nesbit nimmt Drogen. Opium oder etwas in der Art. Und …« Ich starre auf einen Strohhalm. »Er … er hat eine Affäre mit einer der indianischen Frauen.« Ich bin mir sicher, dass ich versuche, es nicht zu tun, aber ich ertappe mich dabei, wie ich Parker für eine Sekunde, die kein Ende nimmt und zur Minute wird, in die Augen schaue. Keiner von uns beiden sagt irgendetwas, als hätte man uns hypnotisiert. Ich merke plötzlich, dass mein Atem sehr laut klingt, und bin mir sicher, dass er mein Herz schlagen hört. Selbst die Wölfe sind still und lauschen. Schließlich reiße ich den Blick von ihm los, und mir ist ein wenig schwindlig. »Ich sollte besser wieder reingehen. Ich habe Sie bloß gesucht, um … zu besprechen, wie wir morgen früh vorgehen. Ich dachte, es sei das Beste, den wahren Grund zu verschweigen, weshalb wir hier sind. Das habe ich Mr Moody auch schon gesagt, obwohl ich mir nicht sicher bin, was er morgen vorhat.« »Ich glaube, wir werden nichts mehr erfahren, bis Stewart zurückkommt.« »Was genau wissen Sie über ihn?« Nach kurzem Zögern schüttelt Parker den Kopf. »Das weiß ich erst, wenn ich ihn sehe.« Ich warte noch einen Augenblick, aber mir gehen die Gründe aus, noch länger hierzubleiben. Als ich aufstehen will, streife ich 325
mit dem Arm sein Bein im Stroh. Ich wusste nicht, dass sein Bein da lag, das schwöre ich, oder ob er mich vielleicht absichtlich berührt hat. Ich springe wie von der Tarantel gestochen auf und greife nach der Lampe. Im Durcheinander aus Licht und Schatten kann ich nicht sehen, was sein Gesicht sagt. »Also dann, eine gute Nacht.« Schnell laufe ich hinaus auf den Hof, sehr wohl registrierend und gekränkt, dass er darauf nichts erwidert hat. Die Kälte kühlt mein erhitztes Gesicht, aber gegen meine aufgewühlten Gedanken kann sie nichts ausrichten. Ich verspüre ein unbändiges Verlangen, in den Stall zurückzugehen und mich neben ihn ins Stroh zu legen. Mich in seinem Geruch und seiner Wärme zu verlieren. Was ist los – übermannen mich Angst und Hilflosigkeit? Dass er mich da eben im Stroh berührt hat, war ein Versehen. Ein Versehen. Ein Mann ist tot. Francis braucht meine Hilfe. Darum bin ich hier, aus keinem anderen Grund. Das Polarlicht schimmert im Norden wie ein schöner Traum, und der Wind hat aufgehört zu wehen. Der Himmel ist schwindelerregend hoch und klar, und die eisige Kälte ist zurückgekehrt. Eine strenge, klirrende Kälte, die mir sagt, dass da nichts ist zwischen mir und der unendlichen Weite des Weltalls. Ich stehe da, den Kopf in den Nacken gelegt, auch als mir schon längst schwindlig geworden ist. Ich bin mir bewusst, dass ich einen gefährlich schmalen Pfad beschreite, der auf allen Seiten von Unwägbarkeiten und möglichen Katastrophen umgeben ist. Alles entzieht sich meiner Kontrolle. Der Himmel gähnt über mir wie der Höllenschlund, und da ist nichts, das mich davon abhalten könnte zu fallen, nichts außer dem wirren Labyrinth der Sterne.
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ls Donald erwacht, ist es draußen schon hell. Zunächst weiß er gar nicht, wo er ist, und dann fällt ihm alles wieder ein: das Ende der Fährte. Endlich ein wenig Erholung von dieser höllischen Reise. Jeder Zentimeter seines Körpers schmerzt, als hätte man ihn geprügelt. Gott … ist er gestern Abend wirklich einfach bewusstlos geworden – einfach aus den Schuhen gekippt? Die Frau, die seine Füße verarztet hat … er streckt einen Fuß unter der Bettdecke hervor und sieht, dass er frisch verbunden ist. Sie war also echt und nicht bloß ein Traum. Ob sie ihn auch ausgezogen hat? Er kann sich an nichts erinnern, aber ein kribbelndes Schamgefühl überkommt ihn. Er ist ganz zweifellos vollkommen entkleidet. Seine Wunde ist eingecremt und bandagiert worden. Er tastet sich am Bett entlang, bis er seine Brille findet. Mit ihr auf der Nase ist er ruhiger, hat das Gefühl, etwas mehr Herr der Lage zu sein. Drinnen: ein kleines, spärlich möbliertes Zimmer wie die Gästezimmer in Fort Edgar. Draußen: trüb, es schneit nicht, wird aber sicher bald anfangen. Und irgendwo in einem der Gebäude: Mrs Ross und Parker, die in seiner Abwesenheit Fragen stellen. Weiß der Himmel, was sie Stewart erzählen, wenn man nicht auf sie aufpasst. Er müht sich aus dem Bett und sammelt seine Kleider ein, die jemand sehr ordentlich über die Stuhllehne gelegt hat. Er zieht sich an, steif wie ein alter Mann. Seltsam (und doch irgendwie auch ein Glück), wie viel schlechter es ihm geht, seit sie endlich angekommen sind. Er schlurft auf den Flur und schleppt sich an zwei Seiten des Innenhofs vorbei, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Dies ist wirklich ein seltsamer Handelsposten. Hier ist nichts von der Betriebsamkeit zu spüren, an die er aus Fort Edgar gewöhnt ist. Er fragt sich, wo Stewart bleibt, was für ein Regiment er wohl 327
führt. Seine Uhr ist stehengeblieben, er weiß nicht, wie spät es ist, ob Morgen oder schon Mittag. Schließlich fliegt ein Stückchen weiter den Gang hinunter eine Tür auf, Nesbit stürmt heraus und schlägt sie wieder hinter sich zu. Er ist unrasiert und hat tiefe Schatten unter den Augen, aber immerhin ist er angezogen. »Ah, Mr Moody! Ich hoffe, Sie haben sich gut erholt. Wie geht es, ähm, Ihren Füßen?« »Schon viel besser. Die … Elizabeth hat sie verbunden, sehr aufmerksam. Ich fürchte, ich war zu müde, um mich bei ihr zu bedanken.« »Kommen Sie herein, und frühstücken Sie etwas. Inzwischen sollten sie es hinbekommen haben, ein Feuer anzumachen und irgendwas zu Essen zu machen. Gott weiß, wie schwer es ist, diese Satansbraten dazu zu bringen, im Winter überhaupt etwas zu tun. Haben Sie in Ihrem Posten auch solche Probleme?« »In Fort Edgar?« »Ja. Wo ist das eigentlich?« Donald wundert sich, dass er das nicht weiß. »An der Georgian Bay.« »Wie zivilisiert. Ich träume davon, irgendwohin versetzt zu werden, wo es … na ja, irgendwo Menschen in der Nähe gibt. Wir müssen Ihnen im Vergleich dazu ziemlich armselig vorkommen.« Nesbit führt Donald in das Zimmer, in das man sie zuerst gebracht hatte, doch jetzt brennt hier ein Feuer, und man hat einen Tisch und Stühle aufgestellt. Donald sieht noch die Schleifspuren auf dem staubigen Boden. Mit der Hausarbeit scheint man es hier nicht so genau zu nehmen. Womit man es hier überhaupt genau nimmt, weiß er nicht so recht. »Sind Mrs Ross und Mr Parker auch irgendwo?« Als Nesbit zur Tür geht, kommt Mrs Ross herein. Es ist ihr gelungen, irgendetwas mit ihren Kleidern anzustellen, wodurch sie halbwegs präsentabel aussehen, und ihr Haar ist ordentlich 328
frisiert. Das leichte Tauwetter, das sie nach dem Sturm zu spüren glaubte, scheint zu Ende zu sein. »Mr Moody.« »Großartig! Da sind Sie ja … Und Mr Parker?« »Ich weiß es nicht.« Sie senkt den Blick, und Nesbit geht hinaus und ruft nach der indianischen Frau. Schnell geht Mrs Ross auf Donald zu. Sie wirkt angespannt. »Wir müssen reden, ehe Nesbit zurückkommt. Ich habe ihm gestern Abend erzählt, dass wir hier sind, weil wir meinen Sohn suchen, der von zu Hause weggelaufen ist, nicht, weil wir einen Mörder verfolgen. Wir sollten sie nicht misstrauisch machen.« Donald starrt sie mit vor Erstaunen offenem Mund an. »Meine liebe Frau, ich wünschte, Sie hätten sich mit mir besprochen, ehe Sie eine Lügengeschichte erfinden …« »Dazu war keine Zeit. Sagen Sie nichts Gegenteiliges, sonst machen wir uns verdächtig. Es ist das Beste für uns, wenn sie keinen Verdacht schöpfen, da müssen Sie mir doch wohl zustimmen?« Ihr Mund hat einen entschlossenen Zug, und ihre Augen sind hart wie Stein. »Und was, wenn …?« Er unterbricht sich, als Nesbit wieder hereinkommt, gefolgt von Norah, die ein Tablett trägt. Beide lächeln, und Donald hat das Gefühl, es muss ganz offensichtlich sein, dass sie aufgeregt miteinander getuschelt haben. Mit ein bisschen Glück könnte Nesbit vermuten, ihr Geheimnis sei romantischer Natur … und bei diesem Gedanken errötet er. Vielleicht hat er ein bisschen Fieber. Wie er da so am Tisch sitzt, zwingt er sich mit einiger Anstrengung, an Susannah zu denken. Seltsam, dass er so lange nicht an sie gedacht hat. Parker kommt herein, und als sie alle gegrilltes Fleisch und Maisbrot essen – Donald so gierig, als hätte er seit Tagen nichts bekommen –, erklärt Nesbit, Stewart sei mit einem der Männer unterwegs zum Jagen, und entschuldigt sich für die dürftige Gastfreundschaft. Auf eins ist er jedoch sehr stolz: Er fährt Norah heftig an und beklagt sich über den Kaffee, den sie 329
gebracht hat, und sie räumt ihn schweigend fort und kommt dann mit einer Kanne zurück, die etwas gänzlich anderes enthält. Der Duft dringt schon vor ihr in den Raum – das Aroma echter Kaffeebohnen, das sie seit Wochen nicht mehr gerochen haben. Und als Donald den Kaffee dann probiert, glaubt er, vielleicht noch nie etwas Vergleichbares getrunken zu haben. Nesbit lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und grinst übers ganze Gesicht. »Bohnen aus Südamerika. Ich habe sie aus New York mitgebracht, als ich auf dem Weg hierher war. Die mahle ich nur zu besonderen Gelegenheiten.« »Wie lange sind Sie denn schon hier, Mr Nesbit?« Die Frage kommt von Mrs Ross. »Vier Jahre und fünf Monate. Sie kommen aus Edinburgh, nicht wahr?« »Ursprünglich.« Irgendwie klingt das bei ihr wie ein Tadel. »Und Sie kommen aus Perth, wenn ich mich nicht irre?« Donald lächelt ihn an, ängstlich darauf bedacht, ihre Unfreundlichkeit wiedergutzumachen. Dann funkelt er Mrs Ross an. Wenn sie keinen Verdacht erregen will, sollte sie ein bisschen höflicher sein. »Kincardine.« Es entsteht eine Pause. Mrs Ross erwidert Donalds Blick ungerührt. »Es tut mir leid, dass wir Ihnen mit Mrs Ross’ vermisstem Sohn nicht weiterhelfen können. Das muss Ihnen große Sorgen bereiten.« »Oh. Ja.« Donald nickt peinlich berührt. Schauspielern gehört nicht zu seinen Stärken. Und er ist wütend auf sie, weil sie ihm das Heft aus der Hand genommen hat, obwohl er doch in Sachen, die mit der Company zu tun haben, die Führung übernehmen sollte. Er weiß nicht, wie er weiter vorgehen soll. »Also, Sie glauben …«, setzt Donald an, aber im selben Augenblick hört man rasches Trappeln auf dem Flur und von 330
draußen einen Schrei. Nesbit ist schlagartig hellwach wie ein Tier, hoch konzentriert, und steht ungelenk auf. Mit einem schiefen Lächeln, das mehr nach einer Grimasse aussieht, richtet er das Wort an sie. »Ich glaube, meine Lieben – das könnte Mr Stewart sein, der gerade zurückkommt.« Fast rennt er aus dem Zimmer. Donald und die anderen bleiben verdutzt zurück und sehen sich an. Donald ist ein bisschen eingeschnappt – warum hat Nesbit sie, oder zumindest ihn, nicht mit nach draußen gebeten? Ein nagendes Gefühl, dass da irgendetwas nicht stimmt, hat sich seiner bemächtigt, und nun ist er ratlos und weiß nicht mehr weiter. Nach kurzem Schweigen murmelt Donald eine Entschuldigung und folgt Nesbit zögernd hinaus auf den Hof. Vier oder fünf Männer und Frauen haben sich um einen Mann mit einem Schlitten und wild durcheinanderspringenden Hunden geschart. Immer mehr Menschen kommen aus verschiedenen Richtungen dazugelaufen, manche bleiben im Schatten der Häuser, manche gehen direkt auf den Ankömmling zu. Donald muss sich fragen, wo die alle herkommen. Die meisten hat er noch nie gesehen, aber er erkennt die große Frau, die ihm am Abend zuvor die Füße gewaschen hat. Der Mann, der gerade angekommen ist, dick in Pelze eingewickelt, das Gesicht unter einer Fellkapuze versteckt, redet mit den Leuten, und dann wird es still. Donald geht als Einziger weiter auf sie zu, und ein paar Gesichter drehen sich zu ihm um und starren ihn an, als käme er von einem anderen Stern. Er bleibt ganz verwirrt stehen, und dann stößt die groß gewachsene Frau, die schon die ganze Zeit dabei gestanden hat, einen langgezogenen, hohen Klagelaut aus. Sie sinkt in den Schnee und gibt ein schrilles, dünnes, jenseitiges Geheul von sich, das weder Schrei ist noch Schluchzen. Es hört einfach nicht mehr auf. Niemand versucht, sie zu trösten. Einer der Männer scheint Stewart Vorhaltungen zu machen, 331
doch der lässt ihn achselzuckend stehen und geht hinüber zu den Häusern. Nesbit sagt in schroffem Ton etwas zu dem Mann und folgt seinem Vorgesetzten. Als er Donald sieht, guckt er ihn wütend an, reißt sich dann aber zusammen und winkt ihm, mit hineinzugehen. Sein Gesicht hat dieselbe Farbe wie der schmutzige Schnee. »Was ist denn los?«, flüstert Donald, als sie außer Hörweite der Leute auf dem Hof sind. Nesbit hat den Mund zu einer schmalen Linie verzogen. »Äußerst bedauerlich. Nepapanees hatte einen Unfall. Tödlich. Das da draußen ist seine Frau.« Er klingt eher wütend als betroffen. Als wüsste er nicht, was jetzt zu tun sei. »Sie meinen, die Frau auf dem Boden … Elizabeth? Ihr Mann ist tot?« Nesbit nickt. »Manchmal glaube ich, wir sind verflucht.« Das murmelt er in seinen Bart, mehr zu sich selbst als zu Donald. Dann dreht Nesbit sich abrupt um und versperrt Donald damit den Weg. Trotzdem bemüht er sich zu lächeln. »Das ist wirklich sehr bedauerlich, aber … warum gehen Sie nicht zurück zu den anderen? Lassen Sie sich das Frühstück schmecken … ich muss erst mit Mr Stewart sprechen, unter den gegebenen Umständen. Wir kommen dann später zu Ihnen.« Donald glaubt, keine andere Wahl zu haben, also nickt er und sieht zu, wie Nesbit um die Ecke verschwindet. Er drückt sich auf dem Flur herum, verwirrt und durcheinander. Es hatte beinahe schon etwas Obszönes, wie Nesbit und auch Stewart selbst den Gram der anderen abgetan haben, als wollten sie nichts damit zu tun haben. Statt wieder in den Frühstücksraum zu gehen, kehrt er auf den Hof zurück, wo inzwischen in angestrengter Stille Schnee fällt, als wolle er sagen: Es ist Winter, und ich meine es ernst. Die Flocken sind winzig und flüchtig und scheinen aus allen Richtungen um ihn herumzuwirbeln, und sie schränken die Sicht 332
auf ein paar Schritte ein. Nur die verwitwete Frau ist noch da, hockt im Schnee und wiegt sich vor und zurück. Von den anderen fehlt jede Spur. Donald ist wütend, weil sie die Frau einfach so hier alleingelassen haben. Die Frau trägt nicht einmal warme Sachen, Himmelherrgott noch mal, nur ein dünnes Kleid mit kurzen Ärmeln. Er geht zu ihr. Sie kauert halb auf den Knien, wiegt sich hin und her, ist zwar jetzt still, aber ihr Blick geht ins Leere, und sie reißt sich an den Haaren. Sie sieht ihn nicht an. Er ist entsetzt, als er die nackte Haut oberhalb ihrer fleckigen Mokassins sieht. »Entschuldigen Sie … Mrs Bird.« Er kommt sich sehr unbeholfen vor, weiß aber nicht, wie er sie sonst ansprechen soll. »Sie erkälten sich hier draußen. Kommen Sie doch bitte mit hinein.« Es ist nicht zu erkennen, ob sie ihn überhaupt gehört hat. »Elizabeth. Sie waren gestern Abend sehr gut zu mir … Bitte, kommen Sie mit hinein. Ich weiß, dass Sie untröstlich sind. Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen helfe.« Er streckt eine Hand aus in der Hoffnung, sie würde sie ergreifen, doch nichts geschieht. Schneeflocken kleben an ihren Wimpern und in ihrem Haar und schmelzen auf ihren Armen. Sie wischt sie nicht fort. Donald ist betroffen, als er sie ansieht, von ihrem dünnen Gesicht, ihren feinen, beinahe englischen Zügen. Aber so manches Halbblut sieht so aus, eher wie ein Weißer denn wie ein Indianer. »Bitte …« Er legt ihr die Hand auf den Arm, und plötzlich ertönt wieder dieses dünne, wehklagende Heulen. Entsetzt weicht er zurück. Es ist ein so seltsames, geisterhaftes Geräusch, wie von einem Tier. Ihn verlässt der Mut. Denn was weiß er schon über sie oder ihren toten Ehemann? Was kann er schon sagen, um ihren Schmerz zu lindern? Donald sieht sich um, nach Hilfe, nach einem Zeugen. Durch den wirbelnden Schnee sieht man keinerlei Bewegung, obwohl er an einem Fenster gegenüber eine undeutliche Gestalt sieht, 333
die sie zu beobachten scheint. Er steht auf – er hat neben ihr gehockt – und beschließt, jemanden zu Hilfe zu holen. Vielleicht eine Freundin, die sie überreden kann, wieder hineinzugehen. Er glaubt, nicht das Recht zu haben, sie zu zwingen oder zu tragen. Jacob wüsste ganz sicher, was zu tun wäre, aber Jacob ist nicht da. Er klopft sich den Schnee von der Hose und lässt die Witwe allein, obwohl er nicht gehen kann, ohne noch einmal einen Blick auf sie zu werfen. Ihre schwarze Gestalt ist halb unterm Schnee begraben, sie sieht aus wie eine Verrückte auf einem japanischen Druck. Ihm kommt eine ermutigende Idee: Er will ihr etwas von dem Kaffee bringen – das ist das Mindeste, was Nesbit tun kann. Er ist sich sicher, dass sie ihn nicht trinken wird, aber vielleicht freut sie sich wenigstens, dass er ihr welchen geholt hat.
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ine liegt vollständig bekleidet im Bett. Sie ist wach und starrt durch das gardinenlose Fenster nach draußen. Torbin und Anna liegen neben ihr und schlafen. Sie hat ihnen kein Wort gesagt, weil sie davon ausgegangen ist, sie könnten dieses Geheimnis nicht für sich behalten. Bald wird sie die beiden wecken und anziehen und so tun, als sei das Ganze ein großes Abenteuer. Sie wissen nichts von ihrem Plan. Sie will ihnen nichts davon erzählen, bis sie weit genug von Himmelvanger fort sind. Sie wünschte, sie hätten sich früher verabredet – alle schlafen schon seit gut einer Stunde. Eine Stunde verschwendete Reisezeit. Ihr ist schrecklich heiß, sie trägt mehrere Lagen Unterröcke unter zwei Röcken und alle ihre Blusen, eine über der anderen, sodass ihre Arme aussehen wie fest gestopfte Würstchen. Espen wird genau dasselbe getan haben. Gut, dass Winter ist. Wieder wirft sie einen Blick auf die Uhr und verstellt die Zeiger, wie es ihr gerade passt. Sie kann einfach nicht mehr warten. Sie beugt sich zu ihnen hinunter und weckt die Kinder. »Hört zu, wir machen Ferien. Aber es ist sehr wichtig, dass ihr ganz, ganz still seid. Verstanden?« Anna blinzelt mürrisch. »Ich will schlafen.« »Du kannst später schlafen. Jetzt gehen wir auf Abenteuerreise. Kommt schon, zieht das an, so schnell ihr könnt.« »Wo gehen wir denn hin?« Torbin scheint etwas begeisterter. »Draußen ist es dunkel.« »Es wird schon bald hell, seht mal – fünf Uhr. Ihr habt schon stundenlang geschlafen. Wir müssen früh los, damit wir heute noch ankommen.« Sie zerrt Anna das Kleid über den Kopf. »Ich will aber hierbleiben.« »Ach, Anna.« Noch keine fünf Jahre alt, und schon so stur. 335
Woher hatte sie das bloß? »Zieh das Kleid über diesem hier an. Es wird kalt. Und so müssen wir weniger Sachen tragen.« »Wo gehen wir denn hin?« »In den Süden. Wo es wärmer ist.« »Kann Elke mitkommen?« Elke ist Torbins beste Freundin und Brittas Tochter. »Vielleicht kann sie nachkommen. Vielleicht kommen auch noch andere nach.« »Ich habe Hunger.« Anna ist nicht erfreut und will, dass jeder das merkt. Line gibt ihr und Torbin je einen Keks, die sie eigens zu dem Zweck gestohlen hat, sich ihr Schweigen zu erkaufen. Um zehn vor beschwört sie die beiden, still zu sein, und lauscht einen Augenblick in den Flur. Dann zieht sie die Kinder hinter sich her. Sie schließt die Tür zu dem Zimmer, dass in den letzten drei Jahren ihr Zuhause war. Alles ist still. Die schwere Tasche mit den Lebensmitteln und einigen persönlichen Dingen, die sie einfach nicht zurücklassen kann, schlägt ihr gegen den Rücken. Sie überqueren den Hof und gehen zum Stall. Es ist stockdunkel, kein Mond scheint, und sie stolpert und flucht. Line hat das Gefühl, als starrten tausend Augen sie an, und aus Angst packt sie die Hände der Kinder zu fest, sodass Anna wimmert. »Tut mir leid, Schatz. Da sind wir, sieh mal.« Sie macht die Stalltür auf. Drinnen ist es noch dunkler, aber auch wärmer, und man hört, wie die Pferde mit den Hufen im Heu herumstampfen. Sie bleibt stehen und lauscht, ob sie ihn hört. »Espen?« Er ist noch nicht da, aber sie sind ja auch ein paar Minuten zu früh dran. Sie hofft, dass er nicht zu spät kommt. Sie könnten schon seit einer Stunde unterwegs sein und mit jedem Schritt Himmelvanger weiter hinter sich lassen. Sie setzt die Kinder in eine leere Box. Noch ein paar Minuten, dann wird Espen hier sein.
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ie hat keine Uhr, aber ein ganz gutes Gefühl dafür, wie viel Zeit vergangen ist, weil ihre Finger und Zehen taub sind und ihre Hände wie Eis. Die Kinder haben eine Weile herumgehampelt, doch inzwischen hat Anna sich zusammengeringelt und schläft, und Torbin döst an sie gelehnt immer wieder ein: Sie müssen seit mindestens einer Stunde im Stall sein, und bisher ist niemand gekommen. Anfangs hat sie sich gesagt: Er kommt doch immer zu spät. Er kann einfach nicht anders. Dann hat sie sich überlegt, dass er sich vielleicht in der Zeit geirrt hat und denkt, sie seien um zwei Uhr verabredet. Dann, als die Stunde vergangen und er noch immer nicht da war, stellte sie sich vor, Merete habe vielleicht nicht schlafen können, und deshalb habe er, wegen des Babys oder weil jemand krank war, nicht gehen können. Vielleicht lag er wach im Bett, fluchte innerlich und machte sich Sorgen um sie. Aber vielleicht hatte er ja auch gar nicht vorgehabt zu kommen. Sie denkt über diese unerfreuliche Möglichkeit nach. Nein. Er würde sie nicht einfach so im Stich lassen. Würde er nicht. Wird er nicht. Sie will ihm noch eine Chance geben – oder ihn vor allen anderen bloßstellen. Sie rüttelt die Kinder wach, grober als nötig. »Hört zu. Es hat sich was verschoben. Es hat sich herausgestellt, dass wir heute Nacht doch noch nicht aufbrechen können. Wir müssen bis morgen Nacht warten. Tut mir leid …« Sie lässt ihre vorhersehbaren Einwände erst gar nicht zu. »Tut mir leid, aber so ist es eben.« Ihr fällt wieder ein, dass sie das auch gesagt hat, als sie ihnen erklären musste, dass ihr Vater nicht mehr wiederkommen 337
würde und sie wegziehen und am Ende der Welt leben müssten. »Jammern hat überhaupt keinen Zweck. Es ist einfach so.« Sie beschwört die beiden, niemandem etwas zu sagen – wenn sie das Geheimnis verraten, dann können sie keine Ferien mehr machen, und sie malt den beiden den sonnigen Süden in schillernden Farben aus. Mit etwas Glück werden sie ihn eines Tages sogar sehen. Als sie aufsteht und die beiden wieder ins Schlafzimmer bringen will – wenigstens ist es noch immer dunkel –, rührt sich etwas gleich bei der Tür. Sie bleibt wie angewurzelt stehen, und die Kinder ebenso, die sie mit ihrer plötzlichen Angst ansteckt. Dann eine Stimme: »Ist da jemand?« Einen Augenblick – den kleinsten Bruchteil einer Sekunde – glaubt sie, es sei Espen, und ihr Herz macht einen Satz. Dann wird ihr klar, dass es nicht seine Stimme ist. Man hat sie ertappt. Der Mann kommt auf sie zu. Vor Schreck kann Line sich nicht rühren. Was soll sie bloß sagen? Es dauert einen weiteren Augenblick, bis ihr klar wird, dass er Englisch gesprochen hat, nicht Norwegisch. Es ist das Halbblut, Jacob. Noch ist sie nicht verloren, noch nicht. Er zündet eine Lampe an und hält sie zwischen sich und Line hoch. »Oh, Mrs …« Dann geht ihm auf, dass er ihren Namen nicht kennt oder nicht aussprechen kann. »Hallo Torbin. Hallo Anna.« »Tut mir leid, wenn wir Sie gestört haben«, sagt Line unbeholfen. Was tut er eigentlich hier? Schläft er etwa im Stall? »Nein, haben Sie nicht.« »Na dann. Gute Nacht.« Sie lächelt und geht an ihm vorbei, und dann, als die Kinder vor ihr her über den Hof laufen, dreht sie sich noch einmal um. »Bitte, es ist sehr wichtig, dass Sie das nicht weitersagen, niemandem. Wirklich niemandem. Ich flehe Sie an … oder mein Leben ist nichts mehr wert, das müssen Sie mir glauben. Kann ich Ihnen vertrauen?« 338
Jacob hat die Laterne gelöscht, als respektiere er ihren Wunsch, alles geheim zu halten. »Ja«, sagt er nur. Er klingt nicht einmal neugierig. »Sie können mir vertrauen.« Line hilft den Kindern beim Ausziehen und beobachtet, wie sie einschlafen. Sie selbst ist zu aufgewühlt, um zu schlafen. Sie schiebt die Tasche hinter einen Stuhl. Sie bringt es nicht über sich auszupacken, das käme ihr so vor, als müsse sie ihr Scheitern eingestehen. Am Morgen wird sie ein paar Kleider im Zimmer verstreuen müssen, um keinen Verdacht zu erregen. Sollte jemand ins Zimmer sehen, wird ihn das hoffentlich täuschen. Ach, irgendwo hinzugehen, wo sie ein eigenes Haus hätte, mit Türen, die sie abschließen könnte. Sie kann es nicht ausstehen, dass man hier keine Privatsphäre hat. Das schmerzt sie wie eine scharfe Trense. Beim Frühstück ist sie vorsichtig und trägt eine höfliche, fröhliche Maske. Sie würdigt Espen keines Blickes, bis das Frühstück schon halb vorüber ist, und als sie schließlich doch zu ihm hinübersieht, hält er den Kopf gesenkt. Er schaut nicht in ihre Richtung. Sie versucht zu erkennen, ob er oder Merete besonders müde aussehen, aber das lässt sich nur schwer sagen. Das Baby schreit, also hat es vielleicht eine Kolik. Sie wird abwarten müssen. Erst am Nachmittag bietet sich eine Gelegenheit. Er kommt zu ihr, als sie gerade die Hühner füttert. Plötzlich ist er da, obwohl sie ihn nicht hat kommen sehen. Sie wartet ab, was er zu sagen hat. »Line, es tut mir leid. Es tut mir so leid. Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte … Merete konnte stundenlang nicht einschlafen, und ich wusste nicht, was tun.« Er ist nervös, unruhig, sieht überall hin, nur nicht zu ihr. Line seufzt. »Schon in Ordnung. Ich habe mir für die Kinder eine Geschichte ausgedacht. Dann gehen wir eben heute Nacht. Ein Uhr.« 339
Er ist still. »Hast du es dir anders überlegt?« Er seufzt. Sie merkt, dass sie zittert. »Denn sollte das der Fall sein, ohne dich gehe ich nicht. Dann bleibe ich hier und sage allen, dass ich dein Kind unter dem Herzen trage. Ich werde dich vor allen anderen bloßstellen. Vor deiner Frau und deinen Kindern. Wenn Per mich hinauswirft, ist mir das egal. Und wenn wir erfrieren. Dann stirbt dein Kind, und ich sterbe auch. Und das ist dann deine Schuld. Willst du das?« Espen wird blass. »Line, sag doch so was nicht! Das ist ja schrecklich … Ich wollte ja gar nicht sagen, dass ich nicht mitkommen will. Es ist bloß nicht so einfach, das ist alles. Was ich hier zurücklasse … du lässt nichts zurück.« »Liebst du sie?« »Wen? Merete? Du weißt, dass ich sie nicht liebe. Ich liebe dich.« »Dann heute Nacht um eins. Wenn Merete wieder nicht schlafen kann, musst du dir eben eine Ausrede einfallen lassen.« Er macht ein resigniertes Gesicht. Alles wird gut. Er ist bloß ein Mann, den man führen muss, wie so viele andere auch. Trotzdem weiß Line nicht, wie sie die folgenden endlosen Stunden überstehen soll. Sie kann nicht stillsitzen, und als Britta ihre Hibbeligkeit bemerkt, während sie beide Steppdecken nähen, fragt sie: »Was ist denn mit dir los, Mädchen? Hast du Hummeln im Hintern?« Line gelingt es nur mit Mühe, sie anzulächeln. Aber schließlich und endlich wird es irgendwann doch ein Uhr, und sie sind wieder auf dem Weg in den Stall. Sobald sie die Tür hinter sich schließen, spürt sie, dass Espen da ist. Im Dunkeln flüstert er ihren Namen. »Wir sind es«, erwidert sie. Er entzündet eine Laterne und lächelt die Kinder an, die ihn 340
zweifelnd, misstrauisch und scheu ansehen. »Freut ihr euch auf die Ferien?« »Warum müssen wir denn mitten in der Nacht gehen? Laufen wir weg?«, fragt Torbin scharfsinnig. »Natürlich nicht. Wir müssen bloß so früh aufbrechen, damit wir möglichst weit kommen, ehe es hell wird. So reist man im Winter.« »Beeilt euch, genug geplappert. Ihr werdet schon sehen, wenn wir erst da sind.« Line ist angst und bange, und ihre Stimme klingt schrill. Espen bindet die Taschen hinter den Sätteln fest – er hat die Pferde schon fertig gemacht. Line überkommt ein heftiges Gefühl der Zuneigung für die stämmigen, langsamen Tiere. Sie tun, was man von ihnen verlangt, ohne Aufhebens oder Widerworte, selbst um ein Uhr morgens. Sie führen sie nach draußen, wo der Hof so matschig ist, dass man ihre Hufe nicht hört. Nirgendwo in Himmelvanger brennt Licht; sie bringen die Pferde zu einem kleinen Birkenwäldchen außer Sichtweite der Fenster, bevor Espen erst den Kindern und dann Line in den Sattel hilft und dann selbst hinter Torbin aufs Pferd steigt. Line hat einen gestohlenen Kompass in der Hand. »Wir müssen zunächst Richtung Südosten.« Sie sieht zum Himmel hinauf. »Sieh mal, da sind Sterne. Die werden uns helfen. Wir reiten auf diesen da zu, seht ihr?« »Willst du Gott nicht bitten, unsere Reise zu segnen?« Torbin rutscht herum und dreht sich zu seiner Mutter um. Er kann manchmal ein ziemlich pedantisches Kerlchen sein, will immer alles genau richtig machen und lebt seit über drei Jahren in Himmelvanger, wo man kaum einen Finger rühren kann, ohne ein Gebet zu sprechen. »Natürlich. Das wollte ich gerade.« Espen zieht die Zügel an und senkt den Kopf. Brummt rasch etwas, als könnten Pers fromme Ohren ein Gebet im Umkreis von mehreren Meilen aufschnappen. »Möge der gute Gott, der 341
Herr des Himmels und der Erde, der uns sieht und behütet, bei unserer Reise über uns wachen, uns sicher durch alle Gefahren führen und uns auf den rechten Pfad leiten. Amen.« Line drückt ihrem Pferd die Hacken in die Flanken. Die dunklen Umrisse von Himmelvanger werden hinter ihnen immer kleiner. Der Himmel ist klar, und es ist kalt geworden. Viel kälter als in der Nacht zuvor. Sie sind gerade noch rechtzeitig aufgebrochen.
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eit ihr Vater nach seiner Inhaftierung nach Hause zurückgekommen ist, ist er ein anderer Mensch. Er sitzt allein in seinem Arbeitszimmer, ohne zu lesen oder Briefe zu schreiben oder sich sonst irgendwie zu beschäftigen, und starrt stundenlang reglos aus dem Fenster. Maria weiß das, weil sie durch das Schlüsselloch gelugt hat, da man ihr verboten hat, ihn zu stören. Es sieht ihm gar nicht ähnlich, sich so von ihr abzusondern, und deshalb macht sie sich Sorgen. Susannah macht sich ebenfalls Sorgen, allerdings aus anderen Gründen. Natürlich geben ihr Vater und sein seltsames Verhalten ihr zu denken, aber er nimmt immer noch alle Mahlzeiten mit der Familie ein und wirkt recht fröhlich. Wie sie ihrer Schwester schon sagte, könnte er seine richterlichen Aufgaben momentan ohnehin nicht wahrnehmen, was sollte er also sonst tun? Nein, Susannah hat den Entschluss gefasst, sich leidenschaftlich um Donald zu sorgen. Er und Jacob sind seit drei Wochen fort. Das ist zwar nicht besonders lang, aber man hatte sie früher zurückerwartet. Maria und Susannah haben schon über die Gründe dafür spekuliert. Die naheliegende Antwort wäre, dass sie Francis Ross noch nicht gefunden haben. Wäre er tot, wären sie bereits zurückgekehrt. Ebenso, hätten sie ihn irgendwo in der Nähe gefunden. »Aber was, wenn sie Francis gefunden haben, und er hat sie umgebracht, um seiner gerechten Strafe zu entgehen?«, fragt Susannah mit großen, runden Augen, den Tränen nahe. Maria sieht sie verächtlich an. »Kannst du dir allen Ernstes vorstellen, Francis könnte Mr Moody und Jacob umbringen, obwohl beide bewaffnet sind? Außerdem wäre er gar nicht stark genug. Er ist nicht größer als du. Ehrlich, das ist ja das Absurdeste, was ich je gehört habe.« 343
»Maria …«, tadelt ihre Mutter sie, die in einem Sessel sitzt und Näharbeiten macht. Susannah zuckt verärgert die Achseln. »Ich hätte nur gedacht, sie würden eine Nachricht senden.« »Wenn niemand da ist, der die Nachricht überbringt, ist das ein Ding der Unmöglichkeit.« »Ach, es ist doch nicht, als seien sie mitten in … der äußeren Mongolei.« »Genau genommen ist die Mongolei dichter besiedelt als Kanada.« Maria kann sich diese Bemerkung nicht verkneifen. »Wenn mich das beruhigen soll, tja … tut es nicht!« Susannah steht auf, rauscht aus dem Salon und schlägt die Tür hinter sich zu. »Du könntest etwas netter zu ihr sein«, bemerkt Mrs Knox sanft. »Sie macht sich Sorgen.« Maria schluckt eine Erwiderung herunter. Vielleicht macht sie sich selbst ja auch Sorgen. Aber wie gewöhnlich kümmern sich alle viel mehr um Susannahs Gemütszustand als um ihren. »Tatsache ist doch, dass es durchaus Anlass zur Sorge gibt. Man hätte doch erwarten können, zwischenzeitlich von ihnen gehört zu haben. In gewisser Weise wundert es mich, dass die Company noch niemanden geschickt hat, um sie zu suchen.« »Nun, meiner Erfahrung nach …« Mrs Knox beißt beherzt einen Faden ab, »… verbreiten sich schlechte Nachrichten immer am schnellsten.« Die Atmosphäre im Haus ist erdrückend, mit ihrem Vater, der wie eine Sphinx in seinem Arbeitszimmer sitzt, und der in Tränen aufgelösten Susannah und ihrer seltsam ruhigen Mutter. Maria muss einfach mal weg von all dem. Tatsächlich ist sie etwas verstört darüber, wie aufgewühlt sie nach dem Gespräch über Moody war. Auch sie hat sich des Öfteren gefragt, wo er und Jacob wohl geblieben sind, und gehofft, dass es ihm gut geht. So, wie man sich Sorgen um einen Freund macht, von dem man eine Weile nichts gehört hat. Aber dann hat sie an sein Gesicht gedacht und sich gewundert, an wie viele Einzelheiten 344
sie sich erinnern konnte: die Sommersprossen ganz oben auf den Wangenknochen, wie ihm die Brille immer auf der Nase nach unten rutscht und sein belustigtes Lachen, wenn man ihm eine Frage stellt, als ziehe er seine Fähigkeit, diese zu beantworten, in Frage, wolle es aber trotzdem versuchen. Als sie zum Laden kommt, kleben etliche Lagen gefrierenden Schlamms an ihren Schuhen und ihrem Rock. Mrs Scott steht hinter der Ladentheke und hebt kaum den Kopf, als Maria hereinkommt. Bei der Begrüßung erhascht Maria einen Blick auf einen geschwollenen, gelblichen Fleck auf ihrem linken Wangenknochen, der ihr ebenmäßiges Gesicht verunstaltet. Mrs Scott – oder Rachel Spence, wie sie damals noch hieß – hat einmal bei der Schulaufführung eines Krippenspiels die Jungfrau Maria gespielt. Die älteren Dorfbewohner sprechen sie immer noch darauf an, aber es ist lange her, seit sie sich das letzte Mal nach einem ihrer Unfälle erkundigt haben, die ihr heutzutage mit schönster Regelmäßigkeit zuzustoßen scheinen. Mr Sturrock ist auf seinem Zimmer. Maria wartet unten vor dem Ofen und ist sich nicht sicher, ob er sie empfangen wird, doch kurz darauf kommt er herunter. »Miss Knox. Welchem glücklichen Umstand verdanke ich dieses Vergnügen?« »Mr Sturrock. Der Langeweile, fürchte ich.« Er zuckt elegant die Achseln und nimmt es so, wie es gemeint war. »Dann freue ich mich über sie, wenn sie Sie hierherführt.« Irgendetwas an seinem Blick macht sie ein wenig befangen. Wäre er etwas jünger, würde sie vermuten, er wolle mit ihr poussieren. Vielleicht tut er das auch. Sie denkt, es wäre ja wieder einmal typisch, wenn der einzige Mann, der sich für sie interessiert, älter ist als ihr Vater. Sturrock bestellt Kaffee und sagt dann: »Fänden Sie es sehr ungehörig, wenn ich Sie auf mein Zimmer bäte? Ich habe da nämlich etwas, das ich Ihnen sehr gerne zeigen möchte.« 345
»Nein, ich fände das nicht ungehörig.« Und seltsamerweise tut sie das, trotz ihres Argwohns, wirklich nicht. Sein Zimmer ist stickig, aber sauber. Er räumt den Tisch am Fenster frei, auf dem sich Papier stapelt, und rückt zwei Stühle zurecht. Maria setzt sich und genießt seine aufmerksame Art. Als junger Mann muss er außerordentlich gut aussehend gewesen sein, und das ist er eigentlich auch heute noch, mit seinem dichten, silbergrauen Haar und den strahlend blauen Augen. Sie muss über ihre eigene Torheit lächeln. Der Blick aus dem Fenster zeigt die Straße vor dem Laden. Vorzüglich für einen Beobachter menschlichen Kommens und Gehens. Jeder Einwohner Caulfields kommt früher oder später in den Laden. Selbst ein Teil ihres Elternhauses ist in der Ferne zu sehen und ein Stückchen dahinter das weite graue Wasser, das unter tief hängenden Wolken liegt. »Nicht gerade ein Palast, aber mir genügt es.« »Arbeiten Sie hier?« »Gewissermaßen.« Er setzt sich und schiebt ihr ein Blatt Papier zu. »Was halten Sie davon?« Maria nimmt das Blatt, das nicht erst kürzlich aus einem Notizbuch gerissen wurde. Darauf ist etwas mit Bleistift gezeichnet, doch zunächst kann sie nicht erkennen, wie herum es überhaupt gehört. Es sind kleine eckige Zeichen … hauptsächlich Striche in verschiedenen Anordnungen: diagonal, parallel und so weiter. Um diese Striche herum sind ein paar kleine Strichmännchen gemalt, aber in keinem erkennbaren Muster. Sie sieht sich alles aufmerksam an. »Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber das sagt mir nichts. Ist es vollständig?« »Ja – soweit ich weiß. Ich habe es von einem vollständigen Teil abgezeichnet, aber es könnte noch mehr von der Sorte geben.« »Abgezeichnet wovon? Das ist nicht Babylonisch, oder, obwohl es ein wenig an Keilschrift erinnert.« 346
»Das war auch mein erster Gedanke. Aber es ist nicht Babylonisch, und es sind auch keine Hieroglyphen. Es ist nicht Linearschrift B. Und auch nicht Sanskrit, Hebräisch, Aramäisch oder Arabisch.« Maria lächelt. Er stellt ihr ein Rätsel, und sie mag Rätsel. »Nun, es ist auch kein Chinesisch oder Japanisch. Ich weiß es nicht, ich erkenne es nicht – diese Figuren … Ist es irgendeine afrikanische Sprache?« Er schüttelt den Kopf. »Ich wäre sehr überrascht, würden Sie es erkennen. Ich war damit schon in etlichen Museen und Universitäten und habe es vielen Sprachwissenschaftlern gezeigt, und keiner hatte auch nur den blassesten Schimmer, worum es sich dabei handeln könnte.« »Und aus irgendeinem Grund nehmen Sie an, dass es mehr sein muss als ein … ein abstraktes Muster? Ich meine, diese Figuren wirken recht kindlich.« »Ich fürchte, das hat mehr mit meiner Unfähigkeit, sie adäquat wiederzugeben, zu tun. Im Original wirken sie ganz anders. Wie Sie sagten, ist dies nur ein Ausschnitt. Aber ja, ich glaube, dass es mehr ist als nur geschnitztes Gekritzel.« »Geschnitztes Gekritzel?« »Das Original ist in Elfenbein geschnitzt und mit einem schwarzen Pigment eingefärbt, möglicherweise einer Rußmischung. Es ist sehr sorgfältig gearbeitet. Diese Figuren laufen außen herum wie eine Kette. Ich glaube, die Zeichen sind eine Sprache und ein Bericht irgendeines Ereignisses, welches die Figuren illustrieren.« »Tatsächlich? Das alles haben Sie sich zusammengereimt? Wo ist denn das Original?« »Ich wünschte, ich wüsste es. Der Mann, dem es gehört hat, hat versprochen, es mir zu geben, aber …« Er zuckt die Achseln. Maria beobachtet ihn genau. »Dieser Mann … das war Jammet?« 347
»Gut erkannt.« Sie ist hocherfreut. »Dann müsste es sich doch in seinem Nachlass befinden, nicht wahr?« »Es ist verschwunden.« »Verschwunden? Sie meinen gestohlen?« »Das kann ich nicht sagen. Entweder wurde es gestohlen, oder er hat es an jemand anderen verkauft. Aber Letzteres halte ich für sehr unwahrscheinlich. Er sagte, er wolle es für mich aufheben.« »So, so … dann warten Sie also darauf, dass Mr Moody es mit zurückbringt?« »Vielleicht eine vergebliche Hoffnung, aber, ja.« Maria sieht sich das Blatt Papier noch einmal an. »Wissen Sie, es erinnert mich doch an etwas … oder vielmehr die Figuren. Ich bin mir allerdings nicht sicher, an was. Es will mir einfach nicht einfallen.« »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich zu erinnern versuchten.« »Bitte, Mr Sturrock, erlösen Sie mich von dieser Qual. Was ist es?« »Bedaure, das kann ich nicht. Ich weiß es auch nicht.« »Aber Sie haben eine Ahnung.« »Ja. Es mag fantastisch klingen, aber … ich habe eine – nun ja, Hoffnung wäre wohl das beste Wort. Ich habe die Hoffnung, dass es sich um eine indianische Sprache handelt.« »Sie meinen … eine Sprache der amerikanischen Indianer? Aber die Indianer haben doch keine Schriftsprache – das weiß doch jeder.« »Vielleicht hatten sie einmal eine.« Maria denkt darüber nach, was er da sagt. Es scheint ihm ganz ernst damit zu sein. »Wie alt ist das Original?« »Nun – ich müsste es haben, um das herauszufinden.« »Wissen Sie denn, woher es stammt?« 348
»Nein, und so wie es jetzt aussieht, wird es sehr schwer sein, das festzustellen.« »Also …« Sie wählt ihre Worte mit Bedacht, weil sie ihn nicht kränken will. »Natürlich haben Sie auch schon daran gedacht, dass es sich um eine Fälschung handeln könnte?« »Das habe ich. Aber Fälschungen werden normalerweise nur hergestellt, wenn sich damit Profit machen lässt. Wenn es einen Markt für solche Artefakte gibt. Warum sollte sich jemand die doch recht große Mühe machen, etwas zu fälschen, das keinerlei Wert hat?« »Aber es ist doch der Grund, weshalb Sie hier in Caulfield sind, nicht wahr? Also müssen Sie wohl daran glauben.« »Ich bin nicht reich.« Er grinst spöttisch über sich selbst. »Aber es besteht die – wenn auch sehr geringe – Möglichkeit, dass es echt ist.« Wieder lächelt Maria. Sie weiß nicht, was sie davon halten soll. Ihre angeborene Skepsis ist ein Schutzschild, das sie benutzt, um sich nicht lächerlich zu machen, und es liegt ihr, den Advocatus Diaboli zu spielen. Doch sie fürchtet nun ernstlich, dass er einer falschen Fährte folgt. »Diese Figuren … die erinnern mich doch sehr an die indianischen Gemälde, die ich gesehen habe. Kalender und so weiter, wissen Sie.« »Sie sind nicht überzeugt.« »Ich weiß nicht. Vielleicht, wenn ich das Original sähe …« »Natürlich, das müssten Sie schon haben. Sie haben Recht, deshalb bin ich hier. Das ist eins meiner Steckenpferde, indianische Angelegenheiten und Geschichte. Früher habe ich Zeitungsartikel geschrieben. Ich hatte mir einen Namen gemacht, zumindest in gewissen Kreisen. Ich glaube doch …«, er stockt und sieht aus dem Fenster, »… ich glaube doch, dass man die Indianer, hätten sie eine Schriftkultur, wesentlich besser behandeln würde.« »Da könnten Sie Recht haben.« 349
»Ich habe einen Freund, einen indianischen Freund, der immer von einer solchen Möglichkeit gesprochen hat. Verstehen Sie, so unerhört ist dieser Gedanke nicht.« Sollte Sturrock enttäuscht sein von ihrer Reaktion, so lässt er sich nichts anmerken. Weil sie das Gefühl hat, ein wenig zu harsch gewesen zu sein, greift sie nach dem Blatt. »Darf ich es mir kopieren? Wenn Sie gestatten – ich könnte es mitnehmen und … ein paar Dinge ausprobieren.« »Was denn zum Beispiel?« »Schrift ist doch ein Kode, nicht wahr? Und jeden Kode kann man knacken.« Sie zuckt die Achseln zum Zeichen, dass ihr jegliche Fachkompetenz auf diesem Gebiet fehlt. Sturrock lächelt und schiebt ihr das Blatt zu. Maria bezweifelt, ihm weiterhelfen zu können, aber zumindest kann sie sich damit ein wenig von den Enttäuschungen und Sorgen, die sie von allen Seiten umzingeln, ablenken.
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E
r ist mittleren Alters und von mittlerer Größe, hat strahlend blaue Augen, ein wettergegerbtes Gesicht und kurzgeschorenes Haar, das bereits halb ergraut ist. Von den Augen abgesehen ist er eher unscheinbar, aber er macht den Eindruck eines bescheidenen, gut aussehenden, vertrauenswürdigen Mannes. Ich könnte ihn mir gut als Anwalt irgendwo auf dem Land vorstellen oder als Arzt oder Beamten, der seinen wachen Verstand in den Dienst des Allgemeinwohls gestellt hat – nur seine Augen passen nicht in dieses Bild, diese durchdringenden, weit blickenden, klaren und doch verträumten Augen. Die Augen eines Propheten. Ich bin überrascht, ja bezaubert. Aus irgendeinem Grund hatte ich ein Monster erwartet. »Mrs Ross. Erfreut, Sie kennenzulernen.« Stewart nimmt meine Hand und verbeugt sich leicht. Ich nicke. »Und Sie müssen Moody sein. Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Frank hat mir erzählt, dass Sie an der Georgian Bay stationiert sind. Eine schöne Gegend.« »Ja, in der Tat«, entgegnet Moody lächelnd und gibt ihm die Hand. »Ich bin ebenfalls erfreut, Sie kennenzulernen, Sir. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.« »Ach, na ja …« Lächelnd schüttelt Stewart den Kopf. Er scheint beschämt. »Mr Parker. Ich glaube, ich schulde Ihnen Dank, dass Sie diese Leute auf Ihrer gefährlichen Reise sicher geführt haben.« Parker zögert für den Bruchteil einer Sekunde und nimmt dann die dargebotene Hand. In Stewarts Gesicht ist, soweit ich das beurteilen kann, nicht das geringste Anzeichen zu entdecken, dass er ihn erkennt. »Mr Stewart. Schön, Sie wiederzusehen.« »Wieder?« Stewart sieht ihn verwundert an. »Ich weiß nicht, 351
ob ich mich erinnere …« »William Parker. Clear Lake. Vor fünfzehn Jahren.« »Clear Lake? Sie müssen mir verzeihen, Mr Parker, aber mein Gedächtnis ist nicht mehr das beste.« Er lächelt freundlich. Parker lächelt nicht. »Wenn Sie Ihren linken Ärmel aufkrempeln, könnte das Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.« Stewarts Gesichtsausdruck verändert sich, und zunächst kann ich ihn nicht deuten. Dann bricht er in schallendes Gelächter aus und schlägt Parker auf die Schulter. »Mein Gott! Wie konnte ich das nur vergessen? William! Ja, natürlich. Ach ja, das ist lange her, wie du sagtest.« Dann wird er wieder ernst. »Es tut mir leid, dass ich Sie nicht gleich bei meiner Ankunft begrüßt habe. Es hat sich ein Unfall ereignet, von dem Sie sicher schon gehört haben.« Wir nicken wie Kinder vor ihrem Schuldirektor. »Nepapanees war einer meiner besten Leute. Wir haben an einem Fluss nicht weit von hier gejagt.« Seine Stimme verliert sich, und ich glaube, auch wenn ich mir da nicht ganz sicher bin, dass ich Tränen in seinen Augen glitzern sehe. »Wir sind ein paar Fährten gefolgt, und … ich kann noch immer nicht fassen, was geschehen ist. Nepapanees war ein sehr erfahrener Fährtensucher, ein geschickter Jäger. Niemand kannte sich in der Wildnis besser aus als er. Aber als er diesmal einer Spur folgte, die über den Fluss führte, ist er auf dünnes Eis geraten und eingebrochen.« Er hält inne, die Augen auf irgendetwas außerhalb des Raums gerichtet. Mir fällt auf, dass sein Gesicht, das auf den ersten Blick so vertrauenswürdig wirkt, auch faltig und müde ist. Er könnte vierzig sein. Er könnte aber auch fünfzehn Jahre älter sein. Ich kann es nicht mit Gewissheit sagen. »In einem Moment war er noch da, und im nächsten war er verschwunden. Er ist eingebrochen, und obwohl ich so weit wie möglich hinausgekrochen bin, war nichts mehr von ihm zu 352
sehen. Ich habe sogar den Kopf ins Wasser gesteckt, aber es hat alles nichts genützt. Ich frage mich dauernd – hätte ich nicht noch mehr tun können?« Er schüttelt den Kopf. »Man kann etwas tausendmal machen, ohne sich etwas dabei zu denken. Wie auf Eis zu laufen. Man lernt zu erkennen, wie dick es ist, ob die Strömung stark ist oder eher schwach. Und dann tritt man drauf, und irgendwann, nach all den vielen Malen, die man wusste, dass es sicher ist, irrt man sich, und es trägt einen nicht.« Moody nickt mitfühlend. Parker beobachtet Stewart ganz genau, mit demselben prüfenden Blick, den ich bei ihm gesehen habe, wenn er den Boden nach einer Spur absucht. Ich weiß nicht, was er an ihm so rätselhaft findet. Stewart zeigt nichts als Bedauern und Trauer. »War das da draußen seine Frau?«, frage ich. »Die arme Elizabeth. Ja. Und noch dazu haben sie vier Kinder. Vier Kinder ohne Vater. Eine furchtbare Sache. Ich habe gesehen, wie Sie zu ihr gegangen sind.« Er spricht mit Moody. »Vielleicht fanden Sie uns kaltschnäuzig, sie da draußen alleingelassen zu haben, aber so sind diese Leute. Sie glauben, dass in solchen Zeiten niemand das Richtige sagen kann. Sie müssen auf ihre eigene Art trauern.« »Aber Sie hätten ihr doch zumindest sagen können, dass sie nicht allein ist, oder? Erst recht bei diesem Wetter …« »Aber in ihrem Kummer ist sie doch allein, nicht wahr? Er hatte nur eine Frau, und sie nur einen Mann.« Er richtet seine verblüffend blauen Augen auf mich, und ich kann ihm nicht widersprechen. »Es trifft sie besonders schwer, dass ich seinen Leichnam nicht mitbringen konnte. Für Indianer, müssen Sie wissen, ist Ertrinken ein sehr unglücklicher Tod. Sie glauben, der Geist ist dann gefangen. Aber sie ist getauft, vielleicht tröstet sie das ein bisschen. Und die Kinder auch. Das ist ein Segen.«
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Trotz der betroffenen Stimmung besteht Stewart darauf, uns herumzuführen. Die Führung, die man aus Höflichkeit allen Besuchern gewährt, hat etwas Gestelltes und Unwirkliches, als spielten wir mit gemurmeltem Beifall die Rolle von Gästen. Zuerst zeigt er uns das Hauptgebäude, das an drei Seiten einen Hof umschließt. Es ist ein einstöckiges Holzgebäude mit einem Gang, der sich wie ein Rückrat hindurchzieht, mit Zimmern auf beiden Seiten. Während wir durchgehen, tritt der Unterschied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart immer deutlicher zutage. Ein ganzer Flügel war einmal für Gäste vorgesehen, für mindestens ein Dutzend. Die Zimmer, in die man uns einquartiert hat, bieten normalerweise auch einen herrlichen Ausblick über den Fluss und die Ebene. Doch im Augenblick sieht man nur horizontale weiße und graue Linien, die unmerklich ineinanderübergehen und vom schmutzigen Braun des Palisadenzauns halbiert werden. Aber im Sommer muss der Ausblick atemberaubend sein. Es gibt auch ein Esszimmer, das aber ohne einen langen Tisch leer und verlassen aussieht. In der guten alten Zeit, erklärt Stewart uns, als Hanover noch das Zentrum eines pelzreichen Landstrichs war, haben hier hundert Angestellte mit ihren Familien gewohnt, und die fetten Gewinne der Company feierte man mit Festgelagen, die bis in die frühen Morgenstunden dauerten. Aber all das ist Jahre her, war lange, bevor Stewart hierhergekommen ist. Seit ungefähr zwanzig Jahren wird der Posten nur noch von einer Handvoll Leuten gehalten, in erster Linie, um die wacklige Vormachtstellung der Company in der Wildnis zu sichern, mehr der Vergangenheit zu Ehren als aus irgendwelchen stichhaltigen ökonomischen Gründen. Der lange Hauptflügel steht jetzt größtenteils leer. Früher diente er als Unterkunft für die Funktionäre, jetzt ist er das Zuhause von Spinnen und Mäusen. Und von den dutzend Bediensteten der Gesellschaft sind nur noch Stewart und Nesbit übriggeblieben. Der einzige Angestellte, der noch hier wohnt, ist der erste Übersetzer, Olivier, ein Junge nicht älter als Francis. 354
Stewart ruft ihn zu sich, um ihn uns vorzustellen, und wenn er bekümmert ist, so verbirgt er es gut. Olivier ist ein schlagfertiges Kerlchen, das uns gerne gefallen möchte, und Stewart erklärt uns stolz, er spreche vier Sprachen fließend, da er einen Französisch sprechenden und einen Englisch sprechenden Elternteil habe, die jeweils einem anderen Stamm angehörten. »Olivier wird es noch weit bringen bei uns«, meint Stewart, und Olivier strahlt verschämt vor Stolz. Ich frage mich allerdings, ob das der Wahrheit entspricht. Denn wie weit kann es ein dunkelhäutiger Junge schon bringen in einer von Ausländern geführten Handelsgesellschaft? Aber vielleicht ist er ja doch nicht so schlecht dran. Er hat Arbeit und eine Begabung und in Stewart auch so etwas wie einen Mentor. Vom dritten Flügel, in dem sich die Büros befinden, führt Stewart uns in ein Lager, in dem diverse Güter aufbewahrt werden. Die meisten ihrer Pelze haben sie im Laufe des Sommers abtransportiert, erklärt er, weshalb der Bestand nicht sehr groß ist. Die Fallensteller jagen im Winter, und im Frühling bringen sie dann ihre Ausbeute zum Verkauf hierher. Donald stellt Fragen bezüglich Ausstattung und Gewinn, und Stewart antwortet mit Interesse und nicht ohne ihm zu schmeicheln. Ich sehe hinüber zu Parker, um seine Reaktion zu beobachten, doch er erwidert meinen Blick nicht. Ich fühle mich unerwünscht. Während die anderen mich geflissentlich übersehen, fällt mir etwas ins Auge. Ich bücke mich und hebe ein Stückchen Papier auf. Darauf stehen ein paar Zahlen und Buchstaben: 66HBPH, gefolgt von einigen Tiernamen. Das erinnert mich daran, dass ich immer noch diesen Papierfetzen habe, den Jammet möglicherweise so sorgfältig in seiner Hütte versteckt hatte. »Was ist das?« Ich reiche Stewart das Stückchen Papier. »Das ist ein Packzettel. Wenn wir die Felle verpacken …« Er redet nur mit mir, der Einzigen, die sich mit den Gepflogenheiten der Company nicht auskennt, »… kommt oben auf den Ballen eine genaue Liste von allem, damit nichts verlorengeht. 355
Der Kode darauf enthält das Datum – hier also den vergangenen Mai, die Company natürlich, den Bezirk, das ist in diesem Fall Missinaibi, für den der Buchstabe P steht, und den jeweiligen Handelsposten – Hanover, H. So kann man jederzeit zurückverfolgen, wo der jeweilige Ballen hergekommen ist und wann.« Ich nicke. An die Buchstaben auf Jammets Zettel kann ich mich nicht mehr erinnern, nur, dass das Datum ein viel früheres war. Vielleicht stammt der Zettel noch aus der Zeit, als er für die Company gearbeitet hat. Sehr viel erklärt das allein natürlich noch nicht. Hinter dem Lager befinden sich die Ställe, die bis auf die Hunde und ein paar stämmige Ponys leer sind. Und dahinter stehen sieben oder acht Holzhütten, in denen die Pelzhändler mit ihren Familien leben, und die Kirche. »Normalerweise würde ich Sie hinführen, damit Sie alle Leute kennenlernen können, aber heute … Es ist eine sehr enge Gemeinschaft, erst recht, seit wir nur noch so wenige sind. Und alle trauern. Bitte nehmen Sie sich die Freiheit«, damit dreht er sich um und scheint wieder mehr mich anzusprechen als die anderen, »wann immer Sie möchten, die Kirche aufzusuchen. Sie steht immer offen.« »Mr Stewart, ich weiß, Sie haben augenblicklich andere Sorgen, aber Sie wissen doch, dass wir aus einem bestimmten Grund hier sind, nicht wahr?« Es ist mir ganz egal, ob dies der richtige Zeitpunkt ist, das anzusprechen, oder nicht. Ich will nicht, dass Moody mir zuvorkommt. »O ja, natürlich. Frank hat so etwas erwähnt … Sie suchen jemanden, stimmt’s?« »Meinen Sohn. Wir sind seiner Spur gefolgt. Sie hat uns hierhergeführt … oder zumindest ganz in die Nähe. Hier sind in der letzten Zeit keine Fremden vorbeigekommen? Er ist siebzehn, hat schwarze Haare …« »Nein, tut mir leid. Hier ist niemand vorbeigekommen, außer Ihnen. Daran habe ich leider gar nicht mehr gedacht, hei all dem 356
anderen … Aber ich will mich umhören. Soweit ich weiß, ist allerdings niemand hier gewesen.« Das wäre es also fürs Erste. Moody sieht aus, als sei er nicht sehr erfreut über mein Verhalten, aber das ist augenblicklich mein kleinstes Problem. Stewart verlässt uns, um sich um dringende Angelegenheiten zu kümmern, und ich wende mich an Parker und Moody. Man hat uns in Stewarts Salon geführt, wo es wegen des lodernden Feuers recht gemütlich ist, und über dem Kamin hängt ein Ölgemälde mit Engeln. »Letzte Nacht, kurz nachdem wir angekommen sind, habe ich gehört, wie Nesbit einer Frau gedroht hat. Er sagte, er würde sie seine Hand spüren lassen, wenn sie nicht den Mund ›über ihn‹ hielte. Das hat er gesagt – ›über ihn‹. Sie hat mit ihm gestritten, hat sich gewehrt, glaube ich. Und dann hat er gesagt, es würde etwas passieren, wenn ›er‹ wiederkäme. Damit muss er Stewart gemeint haben.« »Wer war die Frau?«, fragt Moody. »Ich weiß es nicht. Ich habe sie nicht gesehen, und sie hat leiser geredet als er.« Ich zögere, weil ich nicht weiß, ob ich Moody von Nesbit und Norah erzählen soll. Irgendwie habe ich den Verdacht, dass sie es war. Sie sieht aus, als ließe sie sich nichts gefallen. Aber dann geht die Tür auf, und Olivier, der junge Übersetzer, kommt herein. Es scheint, als habe man ihn geschickt, damit er uns Gesellschaft leiste. Aber irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass uns da jemand bewachen lassen will.
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S
ie hat einmal von einer Frau gehört, die in Not war, weil ihr Mann gedroht hatte, sie umzubringen. Sie ging zum nächsten Handelsposten und stellte sich dort vor das Tor. All ihr Hab und Gut hatte sie vor sich aufgetürmt. Erst zündete sie ihre Habe an. Und dann hielt sie ein Streichholz an den Beutel, den sie um den Hals trug. Der war randvoll mit Schwarzpulver und explodierte, blendete sie und verbrannte ihr Gesicht und Brust. Da sie aber unerklärlicherweise noch am Leben war, nahm sie einen Strick und versuchte, sich an einem Ast zu erhängen. Aber sie überlebte auch das, also nahm sie eine lange Nadel und stach sie sich ins rechte Ohr. Selbst mit der Nadel im Kopf konnte sie nicht sterben. Also gab sie schließlich auf und ging fort, um sich anderswo ein neues Leben aufzubauen, und sie fand ihr Glück. Sie hieß Vogel-der-in-der-Sonne-fliegt. Seltsam, dass sie sich so genau an die Geschichte erinnern kann. An den Namen erinnert sie sich vielleicht, weil er ein wenig an ihren eigenen erinnert: Bird. Sonst weiß sie nichts über diese Frau, nur, dass sie auch sterben will. Wären die Kinder nicht, denkt sie, würde sie versuchen, sich zu erhängen. Alec würde auch ohne sie zurechtkommen: Er ist dreizehn und sehr klug und hat bereits bei Olivier eine Ausbildung zum Übersetzer begonnen. Josiah und William sind noch jünger, aber sie haben auch weniger Fantasie, die ihnen Angst macht und sie verwirrt. Aber Amy ist noch so klein, und Mädchen brauchen auf dieser Welt mehr Hilfe, also muss sie wohl noch ein bisschen bleiben, bis ihre Zeit gekommen ist. Aber ohne ihren Mann an ihrer Seite wird immer Winter sein. Ohne zu merken, dass sie aus dem Fenster schaut, sieht sie die drei Besucher kommen, die ein paar Meter vor dem Haus stehenbleiben und in ihre Richtung gucken. Sie spürt, dass sie über sie 358
reden. Er redet bestimmt über ihren Mann und spinnt sich eine Geschichte zurecht, wie er gestorben ist. Sie traut ihm nicht mehr, denn wenn er mit einem redet, bringt er einen dazu, Geheimnisse zu haben. Er hat ihren Mann gegen seinen Willen dazu gebracht, Geheimnisse zu haben, obwohl er das einfach mit einem Achselnzucken abgetan hat. Er hat sie immer vor der Haustür gelassen, wenn sie von ihren Jagdausflügen zurückkamen. An diesem Morgen – sie hat ihn gleich nach dem Aufwachen zurückerwartet, und Amy hat gefragt, ob Papa heute zurückkäme, und sie hat ja gesagt – ist sie zum Westtor gegangen, hat in der Ferne die Hunde bellen hören und stillvergnügt gelächelt. Sie waren so klar und deutlich zu vernehmen, dass sie schon glaubte, die Kufen auf dem Schnee hören zu können. Sie lächelte noch immer, wenn er wieder nach Hause kam, obwohl sie schon so lange verheiratet waren. Sie hörte die Hunde und ging zu dem kleinen Hügel, von dem aus sie über den Zaun sehen konnte. Und dann erkannte sie, dass nur ein Mann bei dem Schlitten war. Sie stand da und sah zu, wie er an die Palisade kam, und lief dann runter auf den Hof, um sich anzuhören, was er zu sagen hatte, auch wenn sie es schon wusste. Die anderen, William und George und Kenowas und Mary hatten auch gesehen, dass er allein war, und waren herausgekommen, um zu hören, was passiert war, aber er hatte nur mit ihr geredet und verhexte sie mit seinen blauen Augen, sodass sie keinen Ton mehr herausbrachte. Danach konnte sie sich an nichts mehr erinnern, bis dieser Gast, der mit der Messernarbe und den schlimmen Füßen, herauskam und mit ihr zu reden versuchte, aber seine Stimme klang wie Bienensummen, und sie verstand nicht, was er sagte. Dann, ein wenig später, hatte er ihr eine Tasse Kaffee gebracht und sie neben sie in den Schnee gestellt. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn darum gebeten zu haben, aber vielleicht hatte sie es doch. Er roch gut, besser als jeder andere Kaffee, den sie je getrunken hatte, und sie sah zu, wie kleine Schneeflocken auf seiner öligen Oberfläche landeten 359
und schmolzen. Landeten und schmolzen, sodass sie auf ewig verschwunden waren. Und dann sah sie nur noch das Gesicht ihres Mannes vor sich, der versuchte, ihr etwas zu sagen, aber sie konnte ihn nicht hören, weil er unter einer dicken Schicht aus Flusseis gefangen war und darunter ertrank. Sie nahm die Tasse und schüttete sich den Kaffee auf die Innenseite ihres Unterarms. Er war heiß, aber nicht heiß genug. Ihre Haut färbte sich rosa, mehr nicht, und ihr Arm dampfte wie Fleisch in der kalten Luft. Irgendwann haben sie sie ins Haus gebracht, und Mary ist bei ihr geblieben, hat sich um das Feuer gekümmert und den Kindern etwas zu essen gebracht. Sie ist immer noch da, als befürchte sie, Elizabeth könne sich in die Flammen werfen, wenn man sie allein ließe. Alec ist gekommen und hat sie in den Arm genommen und ihr gesagt, sie solle nicht weinen, obwohl sie gar nicht geweint hat. Ihre Augen sind so trocken wie ein Stück Holz. Amy weint auch nicht, aber sie ist auch noch zu jung, um zu verstehen. Die Jungs weinen, bis sie schließlich erschöpft einschlafen. Mary sitzt neben ihr und sagt nichts. So dumm ist sie nicht. George ist kurz hereingekommen und hat gesagt, er wolle für die Seele ihres Mannes beten. George ist Christ und sehr fromm. Mary hat ihn wieder rausgescheucht. Sie und Elizabeth sind auch getauft, aber Nepapanees war es nicht. Er war ein Chippewa ohne einen einzigen Tropfen weißen Bluts in den Adern. Er ist zwar in die Kirche gegangen und hat sich ein paarmal die Predigt angehört, aber dann sagte er, das sei nichts für ihn. Elizabeth hat George zugenickt. Sie wusste, dass er nur helfen wollte. Und vielleicht hilft es ja wirklich: Wer wollte schon behaupten, der Vater im Himmel könne nicht auch das Schicksal ihres Mannes beeinflussen? Vielleicht gibt es ja ein gegenseitiges Abkommen. »Mary«, sagt Elizabeth, und ihre Stimme klingt rau wie ein Schlüssel in einem rostigen Schloss. »Sag mir, ob es immer noch schneit.« 360
Mary schaut auf. Sie hält Amy auf dem Schoß, in Elizabeths Fantasie ist Mary einen Augenblick lang die Mutter und Amy ein Kind, das sie nicht kennt. »Nein, es hat vor einer Stunde aufgehört. Aber es wird langsam dunkel. Wir müssen bis morgen warten.« Elizabeth nickt. Es hat nur aus einem einzigen Grund aufgehört zu schneien, und sie weiß, was sie am nächsten Morgen tun wird. Sie hätte es schon früher getan, wäre der Schnee nicht gewesen, der gefallen war, um sie aufzuhalten und zum Nachdenken zu bringen. Damit sie mit Bedacht vorgehen. Am Morgen werden sie hinuntergehen zum Fluss und ihn suchen und mit nach Hause bringen. Amy wacht auf und sieht ihre Mutter mit großen Augen an. Sie ist doch ihre Tochter, mit ihren graubraunen Augen und der blassen Haut. Sie hatten sich noch ein Mädchen gewünscht. Nepapanees hatte gescherzt, er wolle ein Mädchen, das ihm ähnlich sah, nicht ihr. Jetzt werden sie kein Mädchen mehr bekommen. Ihr Geist wird, wenn das, woran Nepapanees geglaubt hat, wahr ist, darauf warten müssen, zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort geboren zu werden. Das Problem ist bloß, dass sie an gar nichts mehr glaubt.
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onald zieht sich nach dem Abendessen zurück, um an Susannah zu schreiben. Während des Essens hat es noch mehr geschneit. Wenn Stewart Recht hat, könnte der Sturm tagelang anhalten, und sie können unmöglich Weiterreisen, solange er noch tobt. Doch er hat mehr als nur einen Grund, dafür dankbar zu sein. Er ist beängstigend müde. Obwohl seine Füße inzwischen in Mokassins stecken, schmerzen sie höllisch, und die Wunde an seinem Bauch ist rot und nässt noch immer. Er hat im Esszimmer einen günstigen Moment abgepasst, Stewart unauffällig beiseitezunehmen und leise anzudeuten, er könne möglicherweise ärztliche Hilfe benötigen. Stewart hat ihm zugenickt und versprochen, jemanden zu schicken, der sich mit so etwas auskennt. Und dann hat er ihm ganz unerwartet zugezwinkert. Doch wie er da mit seinem Schreibpapier und der wieder aufgetauten Tinte an dem wackligen Tisch sitzt, um den er gebeten hat, geht es ihm gar nicht so schlecht. Ehe er anfängt, versucht er, sich Susannahs ovales Gesicht ganz genau vorzustellen, aber wieder fällt es ihm schwer, sich an Einzelheiten zu erinnern. Wieder sieht er plötzlich Marias Gesicht in aller Deutlichkeit vor sich, und er überlegt, dass er es sehr interessant fände, ihr zu schreiben und mit ihr die verzwickte Lage zu besprechen, was ihre Schwester sicher zu Tode langweilen würde. Ganz zu schweigen von der aufwühlenden Geschichte mit der armen Witwe. Irgendwie denkt er, er wüsste nur zu gern, was Maria zu der ganzen Sache zu sagen hätte. Morgen oder übermorgen, es besteht ja kein Grund zur Eile, wird er anfangen müssen, ein paar Ermittlungen anzustellen, überlegt er sich. Aber fürs Erste braucht er nicht mehr an seine Pflichten zu denken. 362
»Liebe Susannah«, schreibt er eigentlich ganz zuversichtlich. Doch danach gerät er ins Stocken. Warum nicht an beide Schwestern schreiben? Schließlich kennt er sie beide. Ein paarmal klopft er mit dem Federhalter auf den Tisch, dann nimmt er ein neues Blatt Papier und schreibt »Liebe Maria«. Nach ungefähr einer Stunde ist ein leises Klopfen an der Tür zu vernehmen. »Herein«, sagt er und kritzelt noch immer unbeirrt weiter. Die Tür geht auf, und ein junges indianisches Mädchen schlüpft lautlos herein. Man hat ihn schon vorhin einmal auf sie hingewiesen. Sie heißt Nancy Eagles und ist die Frau des jüngsten Pelzhändlers. Sie kann nicht älter sein als zwanzig, hat ein aufsehenerregend schönes Gesicht und eine so leise Stimme, dass er die Ohren spitzen muss, um sie zu verstehen. »Ach, Nancy, nicht wahr? Danke …«, ruft er, erstaunt und erfreut gleichermaßen. »Mr Stewart hat gesagt, Sie sind verletzt.« Ihre Stimme ist leise und tonlos, als rede sie mit sich selbst. Sie hat eine Schale Wasser und ein paar Streifen Stoff dabei – sie ist offensichtlich hergekommen, um seine Wunde zu versorgen. Ohne ein weiteres Wort bedeutet sie ihm, das Hemd auszuziehen, und stellt die Schale auf den Boden. Donald versteckt den Brief unter einem Blatt Löschpapier, knöpft sein Hemd auf und muss plötzlich an seinen mageren weißen Oberkörper denken. »Es ist nichts Ernstes, aber … hier, sehen Sie, da habe ich mich verletzt, das ist jetzt zwei … drei Monate her, und die Wunde ist nicht richtig verheilt.« Er entfernt den Verband, der rosa und klamm ist von der Feuchtigkeit. Nancy streckt die Hand aus und drückt ihn sanft nach hinten, damit er sich aufs Bett setzt. »Das war ein Messer.« Sie sagt das ganz unbeteiligt. Es ist keine Frage. »Ja. Aber es war ein Unfall …« Donald lacht und fängt an, ihr die lange, weitschweifige Geschichte von dem Rugby-Spiel zu erzählen. 363
Nancy kniet sich vor ihn. Wo die Wunde herkommt, interessiert sie nicht. Als sie sie mit einem Schwamm reinigt, schnappt er nach Luft und hört auf zu reden, die Beschreibung eines göttlichen Angriffs auf den Gegner bleibt unerzählt. Nancy beugt sich nach vorne und riecht an der Wunde. Donald spürt, wie ihm die Röte in die Wangen schießt, und hält die Luft an, weil ihm peinlich bewusst wird, dass ihr Kopf beinahe in seinem Schoß liegt. Sie hat blauschwarzes feines, seidiges Haar, überhaupt nicht strohig, wie er erwartet hätte. Auch ihre Haut ist seidig, von einem hellen, cremigen Braun. Ein seidiges Mädchen, zart und vollkommen unschuldig. Er fragt sich, ob sie wohl weiß, wie schön sie ist. Er stellt sich vor, ihr Mann Peter – ein großer, kräftiger Pelzhändler – käme in diesem Augenblick herein, und erblasst bei diesem Gedanken. Nancy scheint ganz gelassen. Sie bereitet einen neuen Verband vor und trägt eine stark riechende Kräutersalbe auf. Dann bedeutet sie ihm, die Arme zu heben, und verbindet ihn so fest, dass Donald schon fürchtet, im Schlaf zu ersticken. »Danke. Das ist sehr nett …« Er fragt sich, ob er ihr zum Dank etwas geben kann und geht im Geiste hektisch seine wenigen Habseligkeiten durch. Ihm will nichts Passendes einfallen. Nancy schenkt ihm ein flüchtiges Lächeln und sieht ihn mit ihren schönen schwarzen Augen zum ersten Mal direkt an. Ihm fällt auf, dass ihre Augenbrauen so fein geschwungen sind wie die Flügel einer Möwe, und dann nimmt sie zu seinem allergrößten Erstaunen seine Hand und drückt sie an ihre Brust. Noch ehe er ein Wort sagen oder ihr die Hand entreißen kann, presst sie ihre Lippen auf seine, und mit der anderen Hand ergreift sie das alles andere als teilnahmslose Organ zwischen seinen Beinen. Er ruft irgendetwas – was, weiß er nicht so genau –, und einen langen Augenblick später, während dessen seine Sinne so überwältigt sind, dass er gar nicht versteht, was da vor sich geht, stößt er sie bestimmt von sich. (Mal ehrlich, Moody – wie lang war dieser Augenblick? Ziemlich lang.) 364
»Nein! Ich … es tut mir leid. Das nicht. Nein.« Das Herz klopft ihm bis zum Hals, das Pochen seines Pulses wummert wie ein Trommelwirbel in seinen Ohren. Nancy sieht ihn an, ihre frechen mandelfarbenen Lippen sind leicht geöffnet. Er dachte immer, eine indianische Frau könne nie so schön sein wie eine Weiße, aber er kann sich nichts Schöneres vorstellen als das Mädchen, das da vor ihm kniet. Donald macht die Augen zu, um sie nicht ansehen zu müssen. Ihre Finger liegen noch auf seinem Arm, mit dem er sie von sich fernhält, als hätten sie miteinander getanzt und wären plötzlich erstarrt. »Ich kann nicht. Du bist wunderschön, aber … nein, ich kann das nicht.« Sie wirft einen Blick auf seine Hose, die ihm zu widersprechen scheint. »Dein Mann …« Sie zuckt die Achseln. »Das ist egal.« »Mir ist es nicht egal. Tut mir leid.« Es gelingt ihm, sich abzuwenden, und fast erwartet er einen erneuten Angriff. Doch nichts geschieht. Als er verstohlen nachsieht, sammelt sie gerade die Schale mit dem Schmutzwasser, die Lappen und benutzten Verbände ein. »Danke, Nancy. Bitte, sei nicht … gekränkt.« Nancy wirft ihm einen kurzen Blick zu, sagt aber nichts. Donald seufzt, und sie verschwindet so lautlos, wie sie gekommen ist. Er sieht auf die verschlossene Tür und flucht. Verflucht sich selbst und sie und diesen ganzen baufälligen, gottverlassenen Posten. Der Brief drüben auf dem Tisch ist wie ein Tadel. Die kühlen, wohl formulierten Sätze, die humorvollen Nebenbemerkungen … warum schreibt er überhaupt an Maria? Er nimmt den Brief und zerknüllt ihn, was ihm im selben Augenblick schon wieder leidtut. Dann nimmt er sein anderes Hemd und wirft es auf den Boden, nur, um mit irgendetwas zu werfen (aber mit etwas, das nicht kaputtgeht). Der Boden ist dreckig. Warum ist er bloß so wütend, obwohl er sich korrekt verhalten 365
hat? (Bedauern, vielleicht? Weil er ein milchbärtiger, feiger Waschlappen ist, der nicht den Mumm hat anzunehmen, was man ihm anbietet?) Verdammt, verdammt, verdammt.
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K
urz nachdem Moody sich entschuldigen ließ und den Tisch verlassen hat, erhebt Parker sich ebenfalls und bittet darum, sich zurückziehen zu dürfen. Als er fort ist, frage ich mich, ob die beiden irgendetwas im Schilde führen, obwohl Moody so erschöpft aussah, dass es durchaus möglich ist, dass er sich gleich schlafen gelegt hat. Bei Parker bin ich mir da nicht so sicher. Ich hoffe, dass er mit seinem messerscharfen Verstand ein Wunder vollbringt und zu einer nützlichen Schlussfolgerung kommt. Zu welcher, weiß ich momentan auch nicht so genau. Stewart schlägt vor, Nesbit solle mich in den Salon begleiten und noch ein Gläschen mit mir trinken. Er wolle in ein paar Minuten dazukommen – so, wie er das sagt, frage ich mich gleich, was er wohl vorhat. Es ist ja schön und gut, dass ich so misstrauisch und wachsam bin, doch bis jetzt, muss ich zugeben, hat mich dies noch zu keiner bahnbrechenden Entdeckung geführt. Nesbit schenkt zwei Gläser Malt Whisky ein und reicht mir eins davon. Wir stoßen an. Den ganzen Abend schon ist er angespannt und nervös. Seine Augen glühen, und dauernd zucken seine Hände, oder er trommelt auf dem Tisch herum. Er hat so gut wie gar nichts gegessen. Und noch bevor der Kaffee serviert wurde, ließ er sich entschuldigen. Stewart gab darauf eine höfliche Antwort, aber seine Augen waren eiskalt. Er weiß es, habe ich gedacht. Norah hat uns den ganzen Abend lang bedient, doch obwohl ich sie aufmerksam beobachtet habe, konnte ich bei ihr nichts von dieser Anspannung entdecken. Jetzt, wo Stewart wieder da ist, wirkt sie wesentlich fügsamer und legt nicht mehr diese Verdrossenheit vom ersten Abend an den Tag. Als Nesbit zehn oder fünfzehn Minuten später wieder zurückkam, benahm er sich völlig anders: Seine Bewegungen waren träge, seine Augen müde. Parker und Moody schienen 367
nicht zu bemerken, dass da etwas nicht stimmte. Ich trete ans Fenster und schiebe die Gardine beiseite. Es schneit nicht mehr, doch der Schnee ist etliche Zoll hoch. »Glauben Sie, wir bekommen noch mehr Schnee, Mr Nesbit?« »Ich würde nicht behaupten wollen, das Wetter hier zu verstehen, aber das ist doch sehr wahrscheinlich, meinen Sie nicht?« »Ich habe mich nur gefragt, wann wir wohl wieder aufbrechen können. Wenn wir weitersuchen müssen …« »Ach ja, aber natürlich. Nicht gerade die beste Jahreszeit dafür.« Ihn scheint das Schicksal meines siebzehnjährigen Sohns, der ganz allein durch die Wildnis irrt, nicht sonderlich zu berühren. Oder er ist klüger, als ich ihm zugestehen will. »Ein schrecklicher Ort, dieser Posten. Wäre doch ideal für Strafgefangene, denke ich immer, statt sie nach Tasmanien zu deportieren, wo es, soweit ich das beurteilen kann, recht nett sein muss. Eher wie am Lake District.« »Aber hier ist man nicht so abgeschieden. Und nicht ganz so weit weg von zu Hause.« »Man kommt sich schon sehr abgeschieden vor. Wissen Sie, vor ein paar Jahren haben etliche Bedienstete der Gesellschaft – Ausländer, soweit ich weiß – versucht, aus Moose Factory hierherzukommen. Im Januar! Natürlich wurden sie nie wieder gesehen. Mitten in der Einöde erfroren, die armen Schweine.« Er lacht leise und bitter. »Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, Mrs Ross. Es ist so lange her, dass ich in Gesellschaft einer Dame war, dass ich mich gar nicht mehr zu benehmen weiß.« Ich wiegle ab und erkläre, schon Schlimmeres gehört zu haben. Er sieht mich so seltsam nachdenklich an. Das gefällt mir nicht. Heute Abend ist er nicht betrunken. Seine Pupillen sind sehr klein, selbst in diesem Dämmerlicht. Seine Hände sind jetzt ruhig und entspannt. Besänftigt. Ich kenne dich, denke ich. Ich weiß, wie sich das anfühlt. 368
»Verschwunden, sagen Sie? Wie schrecklich.« »Ja. Regen Sie sich nicht zu sehr auf – wie gesagt, es waren Ausländer. Deutsche oder so was.« »Sie mögen keine Ausländer?« »Nicht besonders. Mir sind die Schotten lieber.« »Wie Mr Stewart?« »Genau. Wie Mr Stewart.« Ich trinke mein Glas aus. Angetrunkener Mut, aber besser als gar keiner. Als Stewart hereinkommt, glüht mein Gesicht vom Whisky, aber mein Kopf ist noch ganz klar. Nesbit gießt Stewart ein Glas ein, und wir plaudern ein paar Minuten lang. Dann richtet Stewart das Wort an mich. »Ich habe über Ihren Mr Parker nachgedacht. Wissen Sie, ich kann es nicht fassen, dass es bei diesem Namen bei mir nicht gleich geklingelt hat, aber es ist ja auch schon eine ganze Weile her. Sagen Sie, wie haben Sie ihn denn kennengelernt?« »Wir kennen uns erst seit kurzem. Er war in Caulfield, und als wir einen Führer brauchten, hat jemand vorgeschlagen, ihn zu nehmen.« »Sie kennen ihn also nicht besonders gut?« »Nicht besonders. Warum?« Stewart lächelt wie einer, der interessante Neuigkeiten zu verkünden hat. »Ach … er ist, oder vielmehr war, ein ziemlich bunter Hund. Es gab gewisse Zwischenfälle in Clear Lake … Sagen wir einmal so, einige unserer Pelzhändler sind ein ziemlich rauer Haufen, und … er hat auch dazu gehört.« »Wie spannend! Erzählen Sie doch weiter.« Ich lächle, als sei das Ganze für mich bloß bedeutungsloser Klatsch. »So spannend ist es nun auch wieder nicht. Es gab ein paar eher unerfreuliche Zwischenfälle. William neigte in jungen Jahren zu Prügeleien. Wir sind zusammen unterwegs gewesen – das ist schon über fünfzehn Jahre her, müssen Sie wissen –, und es war Winter. Es waren auch noch andere Männer dabei, aber 369
… es war eine beschwerliche Reise, und es kam zu Querelen. Ob man weitergehen solle oder lieber umkehren, solche Sachen. Die Vorräte wurden knapp und so weiter. Wie dem auch sei, wir sind aneinandergeraten.« »Aneinandergeraten? Gütiger Himmel!« Ich beuge mich vor und lächle ihn aufmunternd an. »Sie erinnern sich vielleicht daran, was er gesagt hat, und es stimmt, er hat mir etwas beigebracht, das mich an ihn erinnert.« Stewart krempelt den linken Ärmel hoch. Längs über seinen Unterarm zieht sich eine lange weiße Narbe, gut einen haben Zoll breit. Ich muss mein Entsetzen nicht heucheln. »Bei so manchem Halbblut ist es so, wenn man ihnen eine halbe Flasche Rum gibt, verwandeln sie sich in Teufel. Wir hatten eine Auseinandersetzung, und er hat mich mit dem Messer angegriffen. Mitten in der Einöde. Das war nicht witzig, kann ich Ihnen sagen.« Er rollt den Ärmel wieder herunter. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. »Es tut mir leid, vielleicht hätte ich Ihnen das nicht zeigen sollen. Manche Damen finden Narben sehr abstoßend.« »O nein …« Ich schüttle den Kopf. Nesbit schenkt mir noch ein Glas ein. Nicht die Narbe hat mich aufgewühlt, sondern der Gedanke an Jammet, an seinen Anblick, der mir immer wieder in den Sinn kommt. Und an meinen ersten Eindruck von Parker: der künstliche Mensch, der die Hütte durchsucht. Eine wilde, fremde, furchteinflößende Kreatur. »Es liegt nicht am Anblick Ihrer Narbe«, erklärt Nesbit fröhlich, »sondern vielmehr an dem Gedanken, dass ihr Führer so trefflich mit dem Messer umzugehen weiß!« »In den vergangenen Wochen hat er bei mir einen ganz anderen Eindruck hinterlassen. Er ist ein beispielhafter Führer. Vielleicht war dieser Gewaltausbruch ja, wie Sie sagten, durch ein Zuviel an Rum bedingt. Inzwischen trinkt er nicht mehr.« 370
Stewart könnte auch lügen, sage ich mir. Ich sehe ihm in die Augen und versuche, in seiner Seele zu lesen. Doch er wirkt ganz freundlich, aufrichtig und ein wenig wehmütig, wenn er über die alten Zeiten nachdenkt. »Es ist gut zu hören, dass manche Menschen aus ihren Fehlern lernen, nicht wahr, Frank?« »In der Tat«, murmle ich. »Wenn wir das doch nur alle täten.« Als ich später auf meinem Zimmer bin, entkleide ich mich nicht und bleibe auf dem Stuhl sitzen, damit ich nicht einschlafe. Nichts täte ich lieber, als mich hinzulegen und mich dem süßen Vergessen anheimzugeben. Doch das kann ich nicht, und ich bin mir auch nicht sicher, ob das Vergessen mich haben wollte. Ich bin aufgewühlt. Ich möchte Parker nach Stewart fragen, nach ihrer Vergangenheit, aber es widerstrebt mir, zu ihm zu gehen und ihn zu wecken. Es widerstrebt mir, oder ich habe Angst davor. Das Bild, das ich eben wieder vor Augen hatte, hat mich schockiert. Ich hatte ganz vergessen, dass Parkers Anblick mir zu Anfang kalte Schauer über den Rücken gejagt hat. Wie brutal und fremd er auf mich gewirkt hat. Ich hatte vergessen, wie er aussah, aber auch, welche Wirkung er anfangs auf mich hatte. Seltsam, wie man so etwas verdrängt, wenn man jemanden näher kennenlernt. Aber ich kenne ihn ja gar nicht. Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass er die Tatsache, dass die beiden sich schon einmal begegnet sind, nicht vor mir zu verbergen versucht hat, aber vielleicht hat er damit nur das Unvermeidliche vorweggenommen. Eine doppelte Täuschung. Meine Augen haben sich längst an die Dunkelheit gewöhnt, der Schnee wirft ein mattes, richtungsloses Licht zurück, das gerade ausreicht, um den Weg zu finden, als ich auf den Flur hinaustrete. Ich klopfe ganz leise an die Tür, gehe dann hinein und schließe sie wieder hinter mir. Ich finde, ich bin sehr leise gewesen, aber er fährt mit einem Entsetzensschrei auf. 371
»Mein Gott … Nein! Gehen Sie weg!« Er klingt ängstlich und verärgert. »Mr Moody, ich bin es, Mrs Ross.« »Was? Was zum Teufel?« Er fummelt mit den Streichhölzern herum und zündet eine Kerze gleich neben dem Bett an. Als sein Gesicht in der Dunkelheit aufleuchtet, hat er seine Brille schon aufgesetzt, und die Augen fallen ihm fast aus dem Kopf. »Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken.« »Was zum Teufel denken Sie sich dabei, einfach mitten in der Nacht hier hereinzuplatzen?« Mit Erstaunen und Verwunderung hatte ich gerechnet, aber nicht mit zügelloser Wut. »Ich musste mit jemandem reden. Bitte … es wird nicht lange dauern.« »Ich dachte, Sie reden immer mit Parker.« Ein Unterton schwingt da mit, den ich nicht recht zu deuten weiß. Ich setze mich auf den einzigen Stuhl und zerdrücke dabei einige seiner Kleider. »Es gibt da ein paar ungeklärte Dinge, über die wir reden müssen.« »Hat das nicht bis morgen Zeit?« »Sie wollen nicht, dass wir zusammen allein sind. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?« »Nein.« »Also … ich habe Ihnen erzählt, was ich Nesbit sagen hörte, und dann ist Olivier hereingekommen, und wir konnten nicht weiter darüber reden.« »Und?« Seine Stimme ist noch immer schrill vor Ärger, aber er ist nicht mehr so verängstigt wie eben, als ich hereinkam. Als hätte er befürchtet, jemand anderen zu sehen. »Glauben Sie nicht, dass das darauf schließen lässt, hier könnten Dinge vor sich gehen, von denen man nicht möchte, dass wir sie erfahren? Und da wir einen Mörder verfolgen, könnten diese Dinge damit zu tun haben.« Er sieht mich übellaunig an. Immerhin wirft er mich nicht 372
hinaus. »Stewart hat gesagt, in letzter Zeit seien keine Fremden im Fort gewesen.« »Vielleicht war es ja kein Fremder.« »Wollen Sie damit sagen, es war jemand von hier?« Er klingt schockiert, dass ich ein Mitglied der Company verdächtige.. »Das ist gut möglich. Jemand, den Nesbit kennt. Vielleicht weiß Stewart gar nichts davon.« Moody starrt in die Ecke hinter meinem linken Ohr. »Ich glaube, es wäre besser gewesen, wir hätten mit offenen Karten gespielt. Wenn wir ihnen ehrlich gesagt hätten, weshalb wir hier sind, statt ihnen Ihre absurde Geschichte aufzutischen.« »Aber irgendwer hat uns bereits im Verdacht. Ich glaube, allein die Tatsache, dass wir erzählt haben, wir seien einer Spur gefolgt, hat sie alarmiert. Nesbit hat einer Frau gedroht – Norah, glaube ich –, nicht über irgendwen zu reden. Warum sollte er das tun?« »Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Ich dachte, Sie hätten keine Ahnung, mit wem er geredet hat.« »Das stimmt, ich habe sie nicht gesehen, aber Norah … Norah und Nesbit haben eine … Affäre.« »Was? Mit einem Dienstmädchen?« Moody wirkt schockiert. Aber mehr darüber, dass es die stämmige, wenig liebreizende Norah ist, als über die Tatsache, dass Nesbit etwas Ungebührliches tut. Solche Dinge passieren ständig. Er presst die Lippen zusammen. Möglich, dass er überlegt, das zu melden. »Woher wissen Sie das?« »Ich habe sie gesehen.« Ich möchte ihm lieber nicht erzählen, dass ich nachts im Fort herumgeschlichen bin, und glücklicherweise fragt er nicht nach. »Nun ja … sie ist Witwe.« »Tatsächlich?« »Einer der örtlichen Fallensteller. Traurige Geschichte.« »Das wusste ich nicht.« Mir kommt der Gedanke, dass man als Bediensteter der Company anscheinend einen gefährlichen 373
Beruf hat. »Was ich damit sagen wollte, ist, dass wir die Leute befragen müssen … ohne, dass sie etwas erfahren.« Noch während ich das sage, frage ich mich, wie um alles in der Welt wir das anstellen wollen. Moody wirkt nicht sehr überzeugt. Ich muss zugeben, ein genialer Plan ist das nicht, aber mir fällt nichts Besseres ein. »Also, wenn sonst nichts weiter ist …« Er wirft einen bedeutungsvollen Blick zur Tür. Ich denke an Stewarts Arm und daran, Moody davon zu erzählen, aber er traut Parker ohnehin nicht und könnte anfangen, Fragen zu stellen, weshalb Parker überhaupt in Dove River war. Fragen, die ich, glaube ich, momentan nicht beantworten möchte. »Ich muss wirklich mal ein wenig schlafen. Wenn Sie nichts dagegen haben.« »Natürlich nicht. Danke.« Ich stehe auf. Er sieht irgendwie kleiner aus, wie er so auf dem zerknüllten Laken sitzt. Jünger und verletzlicher. »Sie sehen erschöpft aus. Hat sich jemand um Ihre Blasen gekümmert? Hier gibt es doch sicher jemanden mit medizinischen Kenntnissen …« Moody schnappt sich das Laken und zieht es hoch bis zum Kinn, als wäre ich mit einer Axt auf ihn losgegangen. »Ja. Bitte, gehen Sie! Ich muss jetzt schlafen, Himmelherrgott noch mal …« Wie sich herausstellt, müssen wir unser Vorhaben, am nächsten Morgen die Bediensteten zu befragen, verschieben, da die meisten fort sind. George Cummings, Peter Eagles, William Blackfeather und Kenowas – mit anderen Worten, sämtliche erwachsenen, nicht-weißen Männer, die in Hanover House leben und arbeiten, mit der einzigen Ausnahme von Olivier – haben sich aufgemacht, Nepapanees’ Leiche zu suchen. Sie sind still und leise vor Tagesanbruch aufgebrochen – zu Fuß. Selbst den Mann, den wir bei unserer Ankunft gesehen haben, der sturzbetrunkene Arnaud (der, wie wir erfahren, der Wachmann ist), hat 374
der Kummer so weit ausgenüchtert, dass er sich dem Suchtrupp angeschlossen hat. Die Witwe und ihr dreizehnjähriger Sohn sind ebenfalls dabei.
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E
ine Woche nachdem Francis Susannahs Avancen abgewiesen hatte, ging er zu Jammets Hütte, um etwas für seinen Vater zu erledigen. Er dachte immer noch an Susannah Knox, doch jetzt hatten die Sommerferien angefangen, und der Tag am Strand schien ihm wie eine nebulöse, verschwommene Erinnerung. Er war weder zum Picknick gegangen, noch hatte er abgesagt. Er hatte nicht gewusst, was er sagen sollte. Wenn er sich auch darüber wunderte, dass er etwas verschmähte, von dem er so lange geträumt hatte, dann doch nicht allzu oft und ohne Selbstvorwürfe. Es war bloß so, dass sie für ihn so lange ein unerreichbares Ideal gewesen war, dass er sich nicht vorstellen konnte, sie könne irgendetwas anderes sein. An diesem Tag kam er am späten Nachmittag zur Hütte, und Laurent kochte gerade Tee. »Salut, François«, rief er, und Francis drückte die Tür auf. »Willst du welchen?« Francis nickte. Er mochte die Hütte des Franzosen, in der es chaotisch war und so ganz anders als bei seinen Eltern zu Hause. Hier wurde alles mit Schnur und Nägeln zusammengehalten, die Teekanne hatte keinen Deckel, und seine Kleider hatte Laurent in Teekisten verstaut. Als Francis ihn fragte, warum er sich keine Kommode kaufte, da er sich das doch durchaus leisten könnte, erwiderte er, eine Holzkiste sei so gut wie die andere, oder etwa nicht? Sie setzten sich auf zwei Stühle gleich hinter der Tür, die Laurent weit aufmachte, und Francis roch den Brandy im Atem des Franzosen. Manchmal trank er schon tagsüber, aber Francis fand, man merkte ihm das nicht an. Die Hütte war nach Westen ausgerichtet, und die untergehende Sonne schien ihnen direkt ins Gesicht, also schloss Francis die Augen und lehnte den Kopf 376
zurück. Als er Laurent wieder ansah, ertappte er ihn dabei, wie er ihn betrachtete, und die Sonne zauberte goldene Funken in die Tiefe seiner Augen. »Quel visage«, raunte er, mehr zu sich selbst. Francis fragte ihn nicht, was das hieß, da er glaubte, das sei nicht für seine Ohren bestimmt gewesen. Die Luft war herrlich still, und nur das Zirpen der Grillen war zu hören. Laurent holte die Brandy-Flasche heraus und goss Francis ungefragt etwas davon in den Tee. Francis trank ihn und fühlte sich angenehm beschwingt. Seine Eltern würden ihn anschreien, sollten sie das herausfinden. Und das sagte er auch. »Ach, na ja, man kann nicht sein ganzes Leben damit zubringen, seine Eltern zufriedenzustellen.« »Ich glaube, ich stelle sie überhaupt nie zufrieden.« »Du wirst erwachsen. Bald musst du weggehen, nicht? Heirate, bau dir ein Haus, das ganze Pipapo.« »Ich weiß nicht.« Das schien ihm sehr unwahrscheinlich und verwirrend weit weg von den Grillen und dem Brandy und der tief stehenden, blendenden Sonne. »Hast du ein Liebchen? Dieses kleine dunkelhaarige Mädchen – ist das dein Liebchen?« »Ach … Ida? Nein, die ist bloß eine Freundin – wir gehen manchmal zusammen von der Schule nach Hause.« Gütiger Himmel! Glaubte denn jeder, Ida sei seine Freundin? »Nein, ich …« Aus irgendeinem Grund wollte er mit Laurent darüber reden. »Es gab da ein Mädchen, das ich gernhatte. Alle haben sie gern, sie ist sehr hübsch und auch sehr nett … Am Ende des Schuljahrs hat sie mich zu einem Picknick eingeladen. Sie hatte davor nie richtig mit mir geredet … und ich habe mich sehr geschmeichelt gefühlt. Aber ich bin nicht hingegangen.« Danach entstand ein sehr langes Schweigen. Francis fühlte sich unbehaglich und wünschte sich schon, er hätte nicht darüber geredet. »Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist!« Er versuchte, es mit 377
einem Lachen abzutun, allerdings nicht sehr erfolgreich. Laurent tätschelte sein Bein. »Nichts ist los mit dir, mon ami. Mein Gott, überhaupt nichts.« Da blickte Francis Laurent an. Der Franzose sah sehr ernst aus, fast schon traurig. Ob es an ihm lag? Ob er die Leute traurig machte? Vielleicht lag es ja daran. Ida schien in letzter Zeit auch immer traurig zu sein, wenn sie mit ihm zusammen war. Und seine Eltern, … die waren auch immer bedrückt, das war kaum auszuhalten. Francis versuchte zu lächeln, um ihn aufzuheitern. Und dann wurde alles anders. Alles schien auf einmal ganz langsam zu passieren – oder doch ganz schnell? Er merkte, dass Laurents Hand immer noch auf seinem Bein lag, nur dass er ihn jetzt nicht mehr tätschelte. Jetzt streichelte er seinen Oberschenkel mit kräftigen, rhythmischen Bewegungen. Er konnte sich einfach nicht von seinen goldbraunen Augen losreißen. Er roch nach Brandy und Tabak und Schweiß, und es schien, als sei er am Stuhl festgeklebt. Seine Glieder waren schwer und unbeweglich, als seien sie mit einer warmen, zähflüssigen Masse gefüllt. Er fühlte sich unwiderstehlich zu Laurent hingezogen, und keine Macht dieser Erde hätte ihn zurückhalten können. Irgendwann stand Laurent auf, um die Tür zu schließen, und drehte sich dann noch mal zu Francis um. »Du weißt, dass du gehen kannst, wenn du willst.« Francis starrte ihn an, atemlos und plötzlich ganz entsetzt. Er glaubte nicht sprechen zu können, also schüttelte er bloß einmal den Kopf, und mit einem Tritt schloss Laurent die Tür. Hinterher wurde Francis klar, dass er irgendwann wieder nach Hause gehen musste. Er erinnerte sich sogar an das Werkzeug, das er hatte ausborgen sollen, obwohl es ihm vorkam, als sei das vor unvorstellbar langer Zeit gewesen. Er hatte Angst davor wegzugehen, weil er fürchtete, alles könne wieder werden wie vorher. Was, wenn Laurent das nächste Mal, wenn sie sich sahen, tat, als sei nichts gewesen? Er schien vollkommen 378
entspannt, zog sich das Hemd an, hatte die Pfeife zwischen die Zähne geklemmt und Rauchwölkchen um den Kopf, als sei das etwas ganz Gewöhnliches, Alltägliches, als sei die Erde nicht gerade aus ihrer Umlaufbahn gesprungen. Francis hatte Angst davor, nach Hause zu gehen und seine Eltern mit diesen Augen anzusehen und sich von nun an immer fragen zu müssen, ob sie es wussten. Er stand auf der Schwelle, das Werkzeug in der Hand, unschlüssig, ob er gehen sollte oder nicht. Laurent kam zu ihm herüber und lächelte sein verruchtes Grinsen. »S … so …«, stammelte Francis. Er hatte noch nie im Leben gestottert. »Soll ich … morgen wiederkommen?« Laurent nahm Francis’ Gesicht in beide Hände. Rau und zart zugleich liebkoste er mit den Daumen seine Wangenknochen. Sie waren genau auf gleicher Augenhöhe. Er küsste ihn, und sein Mund schmeckte wie die Essenz des Lebens selbst. »Wenn du magst.« Francis ging den Pfad hinauf nach Hause, verzückt und zu Tode erschreckt. Wie aberwitzig: Der Pfad, die Bäume, die Grillen, der Himmel in der Abenddämmerung, der aufgehende Mond, alles sah genauso aus wie immer. Als wüssten sie es nicht, als sei es ganz egal. Und wie er so ging, dachte er: »O Gott, bin ich das wirklich?« Verzückt und zu Tode erschrocken: »Bin ich das wirklich?« Susannah war vergessen. Die Schule und die Schuljungensorgen wurden zu einer verblassenden Erinnerung. In diesem Sommer, in diesen paar Wochen, war er glücklich. Er lief durch den Wald, stark, mächtig, ein Mann mit Geheimnissen. Er ging mit Laurent zum Jagen und Angeln, obwohl er weder jagte noch angelte. Wenn sie im Wald jemandem begegneten, nickte Francis demjenigen zu, brummte kurz etwas, die Augen auf das Ende der Angelrute gerichtet oder die Bäume nach irgendwelchen Bewegungen absuchend, und Laurent machte eine Bemerkung, welch 379
ausgezeichneter, unbarmherziger und scharfsichtiger Schütze doch aus ihm geworden sei. Aber am schönsten war es, wenn sie dann abends allein waren, im Wald oder in der Hütte, und Laurent ernst wurde. Normalerweise war er dann auch betrunken und nahm Francis’ Gesicht in beide Hände und sah ihn unverwandt an, als könne er nicht genug von ihm bekommen. Wenn er so zurückdachte, war das nicht allzu oft so – Laurent bestand darauf, er solle nicht zu oft zur Hütte kommen, damit die Leute keinen Verdacht schöpften. Einen nicht unerheblichen Teil seiner Zeit musste er also zu Hause bei seinen Eltern verbringen. Das fiel ihm nicht leicht – seit jenem ersten Abend nicht, als sie sich gerade zum Abendbrot an den Tisch gesetzt hatten, als er hereinkam. Er hielt das Werkzeug hoch. »Ich musste warten, bis er zurückkam.« Sein Vater nickte kurz. Seine Mutter drehte sich um. »Du warst so lange weg. Dein Vater wollte das noch vor dem Abendessen erledigen. Wo hast du bloß gesteckt?« »Hab ich doch gesagt, ich musste warten.« Er legte das Werkzeug auf den Tisch, ging nach oben und überhörte geflissentlich die Rufe seiner Mutter, was mit dem Abendessen sei. Gezittert hatte er vor schaudernder Freude. Da die Beziehung zu seinen Eltern bestenfalls rudimentär war, schien es ihnen nicht aufzufallen, dass er still und geistesabwesend war. Die Zeit zwischen den Besuchen bei Laurent vertrieb er sich, indem er spazieren ging, auf seinem Bett herumlag oder ungeduldig und übellaunig seine Aufgaben erledigte. Er wartete. Und dann kam wieder ein Abend in der Hütte oder ein Angelausflug zum See, wo er wieder er selbst sein durfte. Gestohlene Augenblicke, die leidenschaftlich waren und nach Leben schmeckten und in denen die Zeit entweder wie an einem Sonntagnachmittag einfach nicht vergehen wollte oder aber wie ein reißender Sturzbach verrann. Würde er die Abende zählen, die er mit Laurent in seiner Hütte verbracht hatte, was würde dabei herauskommen? 380
Zwanzig vielleicht. Fünfundzwanzig. Zu wenige. Francis wird aus seinen Träumen gerissen, als Jacob ins Zimmer kommt. Er ist dankbar für die Störung. Jacob wirkt so aufgeregt, wie er ihn noch nie erlebt hat. Francis fährt sich mit der Hand durchs Gesicht, als hätte er geschlafen, in der Hoffnung, dass Jacob seine Tränen nicht sieht. »Was ist los?« Jacob hat den Mund aufgemacht, aber bisher keinen Ton gesagt. »Etwas ganz Seltsames. Diese Frau, Line, und ihre Kinder und der Zimmermann – sie sind in der Nacht weggelaufen. Die Frau des Zimmermanns droht damit, sich umzubringen.« Francis starrt ihn mit offenem Mund an. Der Zimmermann, den er noch nie gesehen hat, ist mit seiner Krankenschwester verschwunden. (Warum hat sie ihn dann geküsst?) Jacob läuft auf und ab. »Es wird Schnee geben. Das ist keine gute Zeit zu reisen, nicht mit Kindern. Und ich habe sie gesehen, vorgestern Nacht, im Stall. Sie hat mich gebeten, niemandem etwas zu sagen. Also habe ich das auch nicht getan.« Francis holt tief Luft. »Sie sind erwachsen. Sie können tun, was immer sie möchten.« »Aber wenn sie das Gelände nicht kennen … sie wissen nicht, wie man im Winter reist …« »Wie lange dauert es noch, bis es anfängt zu schneien?« »Was?« »Wie lange noch, bis es anfängt zu schneien? Einen Tag? Eine Woche?« »Ein oder zwei Tage. Bald. Warum?« »Weil ich zu wissen glaube, wo sie hinwollen. Sie hat mit mir geredet. Sie hat mich nach dem Weg nach Caulfield gefragt.« Jacob folgt seinem Gedanken. »Das könnten sie schaffen. Wenn sie Glück haben.«
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or einer Stunde sind sie zu den ersten Bäumen gekommen, sie sind zwar klein und wirklich sehr verstreut, aber nichtsdestotrotz sind es Bäume, und in Line kam Freude auf. Sie sind tatsächlich auf dem richtigen Weg. Da ist der Wald, und der Wald reicht hinunter bis zum Seeufer. Es ist fast, als seien sie schon da. Auf ihrem Zettel steht, sie sollen sich in südöstlicher Richtung halten, bis sie an einen kleinen Bach kommen, und ihm dann flussabwärts folgen. Torbin sitzt vor ihr im Sattel, und sie hat ihm gerade die Geschichte von dem Hund erzählt, den sie damals in Norwegen hatte. Sie hat ihn beschrieben wie den Hund in dem Märchen von dem Soldaten, mit Augen so groß wie Suppenteller. »Du kannst auch einen Hund haben, wenn wir ein Haus gefunden haben. Wie fändest du das, hm?« Das rutscht ihr einfach so heraus, und sie möchte sich am liebsten auf die Zunge beißen. »Ein Haus?«, fragt Torbin, »du hast gesagt, wir machen Ferien. Tun wir gar nicht, oder?« Line seufzt. »Nein, wir gehen woanders hin, dahin, wo es schöner ist, und wärmer.« Torbin dreht sich im Sattel um und sieht ihr in die Augen. Sein Gesicht wirkt gefährlich, verschlossen und verkniffen. »Warum hast du gelogen?« »Eigentlich war das keine Lüge, Schätzchen. Das ist alles nicht so einfach, und ich konnte es dir nicht erklären, nicht, solange wir noch in Himmelvanger waren. Es war wichtig, dass niemand davon erfährt, sonst hätten sie uns nicht gehen lassen.« »Du hast uns angelogen.« Sein Blick ist hart und verwirrt. Per und die Kirche mit dem roten Dach haben einen pedantischen kleinen Jungen aus ihm gemacht. »Lügen ist eine Sünde.« »In diesem Fall war es keine Sünde. Streite nicht mit mir, 382
Torbin. Es gibt Dinge, die du nicht verstehst, weil du noch zu klein bist. Es tut mir leid, dass wir es so machen mussten, aber so ist es.« »Ich bin nicht zu klein!« Er ist wütend, seine Wangen glühen vor Kälte und Erregung. Er zappelt herum. »Sitz still, junger Mann, oder ich verpasse dir eine. Glaub mir, das ist jetzt nicht die richtige Zeit, einen Streit vom Zaun zu brechen!« Aber irgendwie schafft er es, ihr beim Herumzappeln den Ellbogen in den Magen zu rammen, und sie schnappt nach Luft und wird zornig. »Das reicht!« Sie lässt die Zügel los und gibt ihm einen Klaps aufs Bein. »Du bist eine Lügnerin! Lügnerin! Ich wäre nicht mitgekommen!«, schreit er, windet sich aus ihren Armen und rutscht vom Pferd. Seine Beine geben kurz unter ihm nach, dann rappelt er sich auf und rennt weg, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen sind. »Torbin! Torbin! Espen!«, schreit Line, ihre Stimme ist nur ein schrilles Kreischen, sie reißt an den Zügeln und will ihr Pferd wenden, das anscheinend nicht versteht, was sie will. Es bleibt stehen, bewegt sich keinen Zoll mehr, wie ein Zug, der am Bahnhof angekommen ist. Espen, der mit Anna weiter vorn ist, wendet sein Pferd und sieht Torbin zwischen den Bäumen verschwinden. »Torbin!« Er springt ab, Anna in den Armen, und reicht sie Line, die ebenfalls abgestiegen ist und ihr Pferd einfach stehenlässt. »Bleib hier, ich hole ihn! Beweg dich nicht vom Fleck!« Er rennt hinter Torbin her, läuft im Zickzack durch die Bäume und stolpert über umgestürzte Stämme. Erschreckend schnell ist er außer Sichtweite. Anna sieht Line mit ihren ernsten blauen Augen an und fängt an zu weinen. »Schon gut, Schätzchen, dein Bruder stellt sich nur ganz dumm an. Sie sind gleich wieder da.« Spontan bückt sie sich, 383
schlingt die Arme um ihre Tochter und schließt die Augen in ihrem kalten, fettigen Haar. Es dauert vermutlich nicht mehr als ein paar Minuten, ehe sie wieder zwischen den Bäumen auftauchen. Espen macht ein wütendes Gesicht, und er zerrt den eingeschüchterten Torbin an der Hand hinter sich her. Aber in der Zwischenzeit hat Line gemerkt, dass etwas viel Schlimmeres geschehen ist. Sie und Anna haben schon gesucht und zuerst gedacht, sie fänden ihn gleich wieder: Ein runder harter Metallgegenstand wie ein Kompass gehört nicht hierher, der muss doch gleich ins Auge fallen. Line macht für Anna ein Spiel daraus, wer ihn findet, bekommt einen Preis. Bald wird das Spiel langweilig. Der Boden hier ist äußerst tückisch: Felsbrocken, Löcher, in denen man sich den Knöchel umknickt, verborgene Kaninchenbauten und Wurzelgeflecht, und überall kreuz und quer abgestorbene, verrottende Äste. Sie weiß nicht, ob sie ihn fallengelassen hat, als Torbin sie gestoßen hat, oder danach, oder erst als sie ihr Pferd hinter sich hergezogen hat. Auf dem zerwühlten Boden sieht man nicht einmal, wo sie gewesen sind. Sie erzählt Espen, dass sie ihn nicht finden kann, und Torbin sieht die Angst in ihrem Gesicht und hält den Mund. Er weiß, dass es seine Schuld ist. Alle vier fangen an zu suchen, laufen gebückt im Kreis um die gleichgültigen Pferde herum, reißen Flechten heraus und schieben vermodertes Laub beiseite und stecken die Hände in dunkle, feuchte Löcher. Alles sieht irgendwie gleich aus. Krüppelkiefern wachsen und sterben, kippen um, lehnen sich aneinander und flechten um sie herum eine verfilzte Falle aus totem Holz. Anna merkt es als Erste. »Mama, es schneit.« Line richtet sich mit schmerzendem Rücken auf. Schnee. Lautlos fallen die trockenen Flocken um sie herum. Espen sieht ihren Blick. »Wir suchen noch eine halbe Stunde weiter, dann machen wir uns wieder auf den Weg. Wir können die Richtung auch so ganz 384
gut bestimmen. Es war nur wichtig, erst einmal den Wald zu finden. Jetzt ist es viel leichter.« Einmal schreit Torbin auf und stürzt sich auf etwas, aber es entpuppt sich als grauer Stein. Line ist insgeheim erleichtert, als Espen die Suche abbrechen lässt. Sie liebt ihn dafür, wie er das Kommando übernimmt, sie zu einer kleinen Unterredung um sich schart und die Richtung bestimmt, in der sie nun weiterziehen. Er erklärt, auf der Nordseite der Bäume wüchsen Flechten, weshalb sie also darauf achten müssten, wo die Flechten sind. In Lines Augen sieht es zwar so aus, als wüchsen die Flechten überall, aber diesen Gedanken verscheucht sie, schlägt die Tür hinter ihm zu und schließt gründlich ab. Espen weiß Bescheid. Er ist ihr Beschützer. Sie ist bloß eine Frau. Espen nimmt Torbin zu sich aufs Pferd, und sie reiten schweigend los. Der Schnee verschluckt alle Geräusche, selbst das Klirren des Zaumzeugs.
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I
ch gehe ohne festen Entschluss in den Stall. Eigentlich will ich mit den Frauen reden, aber um ehrlich zu sein, habe ich Angst vor ihnen. Sie wirken so grob und fremd und verächtlich, hart vor Kummer. Und wer bin ich, ihnen Fragen zu stellen, ich, die ich nie vor Mitgefühl und Güte oder auch nur Neugier für meine Mitmenschen übergeflossen bin? Zumindest die Hunde freuen sich, mich zu sehen. Sie langweilen sich zu Tode in ihrem Gefängnis. Lucie kommt mit wedelndem Schwanz auf mich zugelaufen und hat die Lefzen zu einem freudigen Hundelächeln hochgezogen. Ich spüre eine absurde Zuneigung zu ihr aufsteigen, fühle ihren rauen Kopf an meiner Hand, ihre Zunge wie heißen Sand. Und dann steht auf einmal Parker da. Ich frage mich, ob er mich beobachtet hat. Es ist das erste Mal, dass er auf mich zugeht. Das erste Mal, seit er mitten in der Nacht an meine Tür geklopft hat und wir unseren Pakt geschlossen haben. Gestern hätte ich mich noch gefreut. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Meine Stimme klingt schriller, als mir lieb ist. »Haben Sie, was Sie wollten?« »Wie meinen Sie das?« »Warum Sie hier sind. Das war doch nicht wegen Francis oder Jammet. Sie wollten Stewart wiedersehen. Wegen etwas, das vor fünfzehn Jahren geschehen ist. Wegen eines dummen Streits.« Parker redet, ohne mich dabei anzusehen. »Das stimmt nicht. Jammet war mein Freund. Und Ihr Sohn … na ja, er hat Jammet geliebt. Ich glaube, sie haben sich geliebt, Sie nicht auch?« »Also ehrlich!« Ich stoße ein ersticktes Lachen aus. »Das ist aber eine merkwürdige Ausdrucksweise. So wie Sie es sagen, klingt es beinahe, als …« Parker sagt nichts. Lucie leckt weiter meine Hand, und ich 386
vergesse sie wegzuziehen. »Wirklich, ich …« Parker hat wohl die Hand auf meinen Arm gelegt, und obwohl ein Teil von mir sie wegstoßen will, tue ich es nicht. »Wirklich, ich wollte nicht …« Ich kann nicht fassen, dass ich es nicht wusste. »Was sagen Sie denn da?« Meine Stimme knistert wie trockenes Laub. »Jammet war … nun ja, er war einmal verheiratet, aber manchmal hatte er … Freunde. Junge, gut aussehende Männer, wie ihr Sohn.« Irgendwie hat er mich von der Tür weggeführt, hinüber in eine Ecke, in der aufgestapelte Heuballen liegen, und ich sitze auf einem davon. »Das letzte Mal, als ich ihn lebend gesehen habe – das war im Frühjahr –, wissen Sie, da hat er jemanden erwähnt, der ganz in der Nähe wohnt. Er wusste, dass ich ihn nicht verurteilen würde. Obwohl ihm das auch egal gewesen wäre.« Der Anflug eines Lächelns liegt auf seinem Gesicht. Er zündet sich die Pfeife an, ganz ohne Eile. »Er lag ihm sehr am Herzen.« Ich streiche mir das Haar zurück. Ein paar lose Strähnen sind aus dem Haarknoten gerutscht, und in den Sonnenstrahlen, die durch die Tür scheinen, sehe ich, dass ein paar weiße Haare dabei sind. Ich muss den Tatsachen ins Auge sehen. Ich werde alt, und in meinem Kopf schwirren unzählige Gedanken umher, die ich nicht ertragen kann. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass ich nicht gemerkt habe, was da vor sich ging. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass Angus ihn dafür gehasst hat, denn nun wird mir klar, dass er es gewusst haben muss. Ich kann den Gedanken an Francis’ Kummer nicht ertragen, der unendlich und in seiner Heimlichkeit unerträglich einsam gewesen sein muss – und wohl noch immer ist. Und ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass ich ihn, als ich ihn gesehen habe, nicht genug getröstet habe. »O Gott. Ich hätte bei ihm bleiben sollen.« »Sie sind eine tapfere Frau.« 387
Darüber muss ich beinahe lachen. »Ich bin eine dumme Frau.« »Sie sind den ganzen Weg hierher nur wegen Ihres Sohnes gekommen. Er weiß das, da bin ich mir sicher.« »Es war aber alles umsonst. Wir haben den Mann nicht gefunden, von dem die Spur stammte.« Parker leugnet das nicht. Einen Augenblick lang raucht er schweigend. »Stewart hat Ihnen seine Narbe gezeigt?« Ich nicke. »Er hat gesagt, Sie hätten ihm die bei einem Streit zugefügt, während einer Reise.« »Nein, nach der Reise. Danach. Ich erzähle Ihnen ein paar Dinge, die er vermutlich ausgelassen hat, und dann können Sie sich selbst ein Urteil bilden. Stewart hatte eine große Karriere vor sich. Alle sagten, er würde es weit bringen. Er war der Typ dazu. Eines Winters am Clear Lake hat er eine Gruppe von Leuten zusammengestellt und sich mit uns auf den Weg zu einem anderen Handelsposten gemacht. Dreihundert Meilen. Der Schnee war schon drei Fuß hoch, ehe die Verwehungen dazukamen. Es herrschte schreckliches Wetter. Man macht sich nicht einfach so mitten im Winter auf eine Reise, nicht, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Er hat es nur getan, um zu beweisen, dass er es schafft.« »War das die berühmte Reise, von der Mr Moody gesprochen hat?« »Sie war berühmt, aber nicht aus den Gründen, die er genannt hat. Wir waren zu fünft. Stewart, ein weiterer Mann der Company namens Rae und Raes siebzehnjähriger Neffe. Der Junge arbeitete nicht für die Company, er war nur zu Besuch da. Dann ich und noch ein Führer, Laurent Jammet. Wie gesagt war das Wetter schlecht: tiefer Schnee und Stürme. Dann wurde es noch schlimmer. Es gab einen Schneesturm, und durch einen glücklichen Zufall stießen wir auf eine Hütte hundert Meilen weit im Nirgendwo. Der Schneesturm dauerte und dauerte. Wir warteten darauf, dass er sich wieder legen würde, aber es war einer dieser Januarstürme, die wochenlang 388
toben. Die Vorräte wurden knapp. Das Einzige, was wir im Überfluss hatten, war Schnaps. Jammet und ich entschlossen uns, Hilfe zu holen. Das schien uns die einzige Chance. Wir sagten den anderen dreien, wir würden so bald wie möglich wiederkommen, überließen ihnen die gesamten Nahrungsvorräte und machten uns auf den Weg. Wir hatten Glück. Nach zwei Tagen stießen wir auf ein Indianerdorf, dann wurde das Wetter schlechter, und wir saßen drei weitere Tage lang fest. Als wir schließlich zurückkamen, war etwas vorgefallen. Stewart und Rae hatten sich bewusstlos gesoffen. Der Junge war tot, er lag auf dem Boden, an seinem Erbrochenen erstickt. Aus ihrem Gebrabbel wurden wir nicht klug, aber ich glaube, es ist Folgendes passiert: Stewart hatte davon geschwafelt, ehrenhaft unterzugehen. Er hatte darüber gescherzt. Ich glaube, als wir nicht gleich wieder zurückgekommen sind, hat er sich aufgegeben. Er hat beschlossen, sie sollten sich totsaufen. Rae und er haben es nicht geschafft, aber der Junge ist gestorben.« »Woher wollen Sie wissen, dass es seine Idee war?« Es schaudert mich bei diesem Gedanken. Der Junge war genauso alt wie Francis. »Er denkt so.« Seine Stimme war tonlos vor Abscheu. »Und dann? Wurde er denn nicht entlassen?« »Wie hätte man das beweisen sollen? Es war bloß ein tragisches Unglück. Eine Fehleinschätzung. Das war schlimm genug. Rae ist nach Schottland zurückgegangen, Stewart hat weitergemacht, und der Junge ist unter der Erde. Ich habe die Company verlassen. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.« »Und die Narbe?« »Ich war dabei, als er über den Jungen herzog. Als er behauptete, er sei schwach und ängstlich gewesen und habe sterben wollen. Damals habe ich noch getrunken.« Er zuckt die Achseln, zeigt keine Reue. Lange schweigen wir. Trotzdem weiß ich, dass er noch nicht fertig ist. 389
»Und was noch?« »Nun. Vor fünf oder sechs Jahren fehlte es der Company an Männern, also haben sie Leute aus Norwegen geholt. Sträflinge. Stewart war der Vorsteher der Moose Factory, und man hatte einen Teil dieser Männer dort hingebracht. Es gab auch eine Gruppe Norweger in Kanada. Die Witwe aus Himmelvanger, die sich um Ihren Sohn gekümmert hat – ihr Mann war einer von ihnen.« Ich denke an die Witwe – jung, schön, mit einer großen Portion Ungeduld und Hunger. Vielleicht erklärte es das. »Ich war nicht dabei, ich weiß es also nur vom Hörensagen. Einige der Norweger haben gemeutert und sind geflohen. Irgendwie gelang es ihnen, ein paar wertvolle Pelze mitgehen zu lassen. Sie haben sich querfeldein aus dem Staub gemacht, Schneestürme kamen auf, sie sind verschwunden. Stewart hat damals Ärger bekommen, sowohl wegen der Meuterei als auch, weil ihm all die wertvolle Ware abhandengekommen ist. Irgendwer im Lager muss mit ihnen unter einer Decke gesteckt haben.« »Stewart?« »Ich weiß es nicht. Die Leute haben natürlich maßlos übertrieben, gesagt, wer auch immer die Pelze fände, wäre ein gemachter Mann. Es seien dutzende Silber- und Graufuchspelze darunter.« »Das klingt, als sei es der Mühe kaum wert.« »Wissen Sie, wie viel ein Silberfuchspelz wert ist?« Ich schüttle den Kopf. »In London mehr als sein Gewicht in Gold.« Ich bin schockiert. Und die Tiere tun mir leid. Ich mag zwar nicht zu viel nütze sein, aber immerhin bin ich lebendig mehr wert als tot. »Man hat Stewart hierhergeschickt. Heute gibt es hier keine Pelze mehr. Nur noch Hasen. Und die sind nichts wert. Ich bin mir nicht sicher, warum sie Hanover House überhaupt noch 390
behalten haben. Für einen ehrgeizigen Mann war das jedenfalls eine Beleidigung. An einem solchen Ort wird man nicht mehr befördert. Es war die Strafe für das, was er möglicherweise getan hat.« »Und was hat das alles mit Jammet zu tun?« Ich bin ungeduldig, endlich zum Schluss zu kommen. »Letztes Jahr …« Dann hält er inne und fummelt am Tabak in seiner Pfeife herum – absichtlich, wie es mir scheint. »Letzten Winter … habe ich die Pelze gefunden.« »Die Silber- und Graufuchspelze?« »Ja.« Ein Hauch Belustigung schwingt in seiner Stimme mit, oder vielleicht will er sich auch bloß verteidigen. »Und die waren ein Vermögen wert?« Ich bin – und dafür entschuldige ich mich im Geiste bei Francis – plötzlich sehr aufgeregt. Schätze gibt es in vielerlei Gestalt, ganz gleich welch grausamer Fluch auch auf ihnen liegen mag, und ein Herz wie meines schlägt beim Gedanken daran schneller. Parker zieht eine Grimasse. »Nicht so viel, wie man munkelte, aber … es reicht.« »Und … die Norweger?« »Die habe ich nicht gefunden. Aber von denen wäre inzwischen ohnehin nichts mehr übrig. Sie waren draußen auf freiem Feld.« »Sie meinen Wölfe?« Ich kann mir die Frage nicht verkneifen. »Vielleicht.« »Aber ich dachte, Sie hätten gesagt, die würden … Reste übrig lassen.« »Im Laufe der Jahre machen sich alle nur erdenklichen Tiere darüber her: Vögel, Füchse … Vielleicht sind sie aber auch einfach weitergezogen. Ich sage nur, ich habe nichts gesehen. Die Felle waren gut versteckt, als hätten sie vorgehabt zurückzukommen. Doch sie sind nie zurückgekommen.« »Also habe ich Laurent Bescheid gesagt. Er wollte sich in den Staaten um Käufer kümmern. Aber er konnte einfach nicht die 391
Klappe halten, wenn er getrunken hatte. Er hat damit geprahlt. Es muss sich bis zu Stewart hier draußen herumgesprochen haben. Darum ist er gestorben.« »Wieso glauben Sie, dass es Stewart war?« »Stewart wollte diese Pelze mehr als jeder andere. Weil sie ihm abhandengekommen waren. Würde er sie zurückbekommen, wäre er ein Held. Die Company würde ihn wieder mit offenen Armen willkommen heißen.« »Oder er könnte reich werden.« Parker schüttelt den Kopf. »Ich glaube, es geht ihm nicht ums Geld. Es geht um seinen Stolz.« »Es hätte doch auch jemand anderes sein können – egal wer –, der Jammet reden gehört hat und das Geld wollte.« Er sieht mich an. »Aber die Spur führt hierher.« Ich denke einen Moment lang nach. Das stimmt. Es stimmt, aber es reicht nicht. »Sie führt hierher, aber jetzt ist sie verschwunden. Und wenn wir den Mann nicht finden …« Plötzlich fällt mir siedend heiß etwas ein. »Hier, das habe ich bei Jammet gefunden …« Ich ziehe den Zettel aus der Tasche und reiche ihn Parker. Er wirft einen Blick darauf und hält ihn ins Licht, um besser lesen zu können. »Einundsechzig, das ist der Stützpunkt, nicht wahr?« »Ja. Ja, ist es. Wo haben Sie das gefunden?« »In der Mehldose.« Parker lächelt. Ich werde rot vor Freude – eine Sekunde lang, und dann ist es schon wieder vorbei. Der Zettel beweist gar nichts, nur, dass Jammet sich in irgendeiner Weise für die Pelze interessiert hat. Das hilft uns auch nicht weiter. »Den habe ich ihm gegeben, zusammen mit einem Silberfuchspelz. Er musste darüber lachen, also hat er ihn behalten. Den Pelz hat er natürlich verkauft.« »Behalten Sie den Zettel«, murmle ich. »Vielleicht fällt Ihnen ja noch ein, wie er uns von Nutzen sein könnte.« Ich frage mich 392
nicht einmal, was ich damit meine. Parker fragt auch nicht, doch ich sehe den Zettel nicht mehr. Ich weiß noch immer nicht, was wir nun tun sollen. Natürlich müssen wir Moody überzeugen. »Würden Sie Moody die ganze Geschichte erzählen? Vielleicht sieht er es ja dann ein.« »Wir haben keinen Beweis, wie Sie schon sagten. Moody mag Stewart. Stewart war schon immer gut darin, Leute für sich zu gewinnen. Außerdem war Stewart nicht in Dove River. Es war jemand anderes.« »Warum sollte jemand für einen anderen Menschen töten?« »Aus vielerlei Gründen. Geld, Angst. Wenn wir herausgefunden haben, wer es war, wissen wir auch, warum er es getan hat.« »Es könnte einer der Männer hier gewesen sein. Vielleicht war es Nepapanees, und dann hat er … hat er gedroht auszupacken, und deshalb hat Stewart ihn umgebracht.« »Ich habe mich auch schon gefragt, ob sie seine Leiche finden werden.« »Soll heißen?« »Soll heißen, sie sind in die Richtung gegangen, die Stewart ihnen vorgegeben hat. Der Schnee wird alle Spuren ausgelöscht haben. Sie können sich nur auf das verlassen, was Stewart ihnen gesagt hat.« Die Stille ist so gewaltig, dass selbst das Winseln der Hunde sie nicht durchdringen kann.
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A
m frühen Abend erreichen sie die Stelle, die Stewart ihnen beschrieben hat. Das Licht sickert langsam aus dem Himmel, und alles ist grau: perlgraue Wolken, blassgrauer Schnee. Auf dem gefrorenen Fluss ist der Schnee ganz glatt, was ihn verrät. Er sieht aus wie ein breiter Weg, der sich sechs oder sieben Fuß unterhalb der Bodenhöhe durch die Ebene schlängelt. Der Fluss gräbt sich seit Anbeginn einen immer tieferen Lauf in die Erde. Es gibt Anzeichen dafür, dass hier kürzlich jemand gewesen ist, wenn auch verborgen unter dem Schnee. Ein aufgewühlter, zerstampfter Flecken Erde an einer Böschung führt zu einer Art Strand. Von oben betrachtet ist die Eisschicht, die auf dem Fluss liegt, glatt und fast weiß, nur an einer Stelle weiter oben nicht, da sieht sie etwas dunkler aus, wie ein Schatten; also ist das Eis an dieser Stelle gebrochen, hat sich dünn neu gebildet und ist nur ganz leicht mit Schnee bestäubt. Dort muss es gewesen sein. Alec ist die ganze Zeit neben seiner Mutter hergelaufen, hat hin und wieder ihre Hand genommen und sie dann wieder losgelassen. Es ist nicht leicht für ihn. Elizabeth hat geschwankt, ob sie ihn überhaupt mitnehmen soll, aber der Blick, mit dem er sie ansah, hat sie an Nepapanees erinnert. Er war so resolut und ernst. Gestern war er noch ein Junge mit einem Vater, an dem er sich messen konnte. Jetzt muss er plötzlich ein Mann sein. Die Männer lassen die Schlitten oben an der Böschung stehen. Elizabeth nimmt Alec an die Hand. Es ist nicht an ihm, die Leiche seines Vaters aus dem Wasser zu ziehen. Die Männer bewegen sich vorsichtig vorwärts, stechen mit langen Stangen ins Eis, um seine Festigkeit zu prüfen. Als es schließlich nahe dem Schatten bricht, ist das Wasser darunter schwarz. Einer der Männer ruft etwas – das Wasser ist flacher als erwartet. Sie 394
beobachten die Strömung, besprechen, wie weiter vorzugehen sei. Von ihrem erhöhten Aussichtspunkt oben auf der Böschung sieht Elizabeth flussabwärts über den weißen, sich windenden Weg. Irgendwo da unten wartet Nepapanees. »Bleib hier«, befiehlt sie Alec, wohl wissend, dass er nicht auf sie hören wird. Ohne einen Blick zurück marschiert sie flussabwärts. Die Männer sehen ihr beunruhigt nach. Sie hat etwas gesehen, das die glatte weiße Oberfläche des Flusses aufbricht. Eine raue Stelle, an der sich Äste an einem versunkenen Baumstamm verfangen haben, hängen geblieben sind und so eine Art Wehr formen. Alles, was die Strömung mit sich fortgerissen hat, würde bis zum Ende des Winters hier festhängen, bis das Frühjahrshochwasser alles fortspülte. Elizabeth rutscht und krabbelt die Böschung hinunter zum Wehr. Ihr schießt der Gedanke durch den Kopf, dass Stewart vielleicht auch auf die Idee gekommen ist, hier nachzusehen, doch der Schnee ist unberührt. Das Eis unter ihren Füßen ist dick. Sie kniet sich hin und schabt den Schnee mit ihren Fäustlingen beiseite, schiebt ihn fort, sodass das Eis darunter zum Vorschein kommt. Spiegelglattes Eis, klar wie Glas. Die Dunkelheit des Flusses starrt ihr entgegen, braunschwarz und voller vermodernder Dinge unter dem Eispanzer. Mit bloßen Händen kratzt sie am Eis, zerbricht es an den Kanten, an denen die Äste es durchstoßen und aufgebrochen haben, schlägt mit den Fäusten darauf ein und zerrt daran, bis … Dort … tief dort unten, umschlossen von Morast, sieht sie etwas, das sowohl hell als auch dunkel ist, etwas Großes, das fehl am Platze und in den Untiefen des Wassers gefangen zu sein scheint. Schreie gellen über den Fluss, und ein paar der Männer kommen hinter ihr die Böschung heruntergerannt, doch sie bemerkt sie nicht einmal und merkt auch nicht, wie heftig sie atmet und nach Luft schnappt, und auch nicht, dass ihre Hände, mit denen sie an den zerborstenen Eiskanten reißt, blutig sind und blau vor 395
Kälte. Dann sind die Männer mit Stöcken und Äxten neben ihr, brechen das Eis auf und zerhacken es in große, schäumende Brocken. Hände versuchen, sie von dem Loch wegzuzerren, aber sie überrumpelt sie alle, indem sie einen Satz nach vorne macht und kopfüber hineinspringt, die Hände nach vorne gestreckt, um die Leiche ihres Mannes zu fassen und zu befreien. Im ersten Augenblick ist die tödliche Kälte ein derartiger Schock, dass sie selbst mit weit geöffneten Augen in der Tiefe nichts sieht als Schwärze und über ihr das grüngraue Licht. Bis das Etwas unter ihr sich aus seinen Fesseln löst und in ihre ausgestreckten Arme schwebt wie ein albtraumhafter Liebhaber. Ein Hirschkadaver kommt auf sie zugeschwommen, die verfaulenden Augen weit aufgerissen und leer, die schwarzen Lippen über grinsenden Zähnen gekräuselt, während unter dem durchnässten Fell ein weißer Schädel aufblitzt. Haut umflattert das Skelett wie ein zerrissener Schleier. Als sie sie wieder herausziehen, glauben sie im ersten Augenblick, sie sei tot. Ihre Augen sind geschlossen, und ihr läuft Wasser aus dem Mund. Peter Eagles schlägt ihr auf die Brust, und sie hustet und spuckt Flusswasser. Sie macht die Augen auf. Sie tragen sie bereits die Böschung hinauf, zerren ihr die nassen Kleider vom Leib, scheuern sie wund. Irgendwer hat ein Feuer gemacht. Ein anderer bringt eine Decke. Alec weint. Er will nicht auch noch seine Mutter verlieren. Elizabeth schmeckt noch das Flusswasser im Mund, der Geschmack klebt ihr am Gaumen, kalt und tot. »Er ist nicht da«, sagt sie, als ihre Zähne aufhören zu klappern. George Cummings reibt ihr mit dem Zipfel einer Decke die Hände. »Wir müssen einen langen Flussabschnitt absuchen. Wir hauen alles Eis weg, bis wir ihn gefunden haben.« Sie schüttelt den Kopf und sieht immer noch den bleichen, toten Hirschschädel, der sie höhnisch angrinst. »Er ist nicht da.«
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Später sitzen sie um das Feuer herum und essen Pemmikan und trinken Tee. Normalerweise würden sie jetzt angeln, doch in diesem Fluss will niemand fischen. Auf den Gedanken kommt keiner. Alec sitzt gegen Elizabeth gelehnt, damit sie die Wärme seines Körpers spürt. Sie haben ihr Lager an einem anderen Teil des Ufers aufgeschlagen, außer Sichtweite der Verwüstung, die sie angerichtet haben, von einer hohen Uferböschung vor Wind geschützt. Es ist erstaunlich ruhig, und der Rauch ihres Feuers steigt kerzengerade in den Himmel, bevor er verschwindet. William Blackfeather spricht sehr leise, an niemand Bestimmten gewandt. »Morgen früh, gleich in der Morgendämmerung, wollen wir sowohl flussaufwärts als auch flussabwärts suchen. Wenn wir uns aufteilen, können wir einen beachtlichen Flussabschnitt abdecken.« Nicken. Dann Peter: »Seltsam, wie seicht das Wasser ist. Man würde annehmen, es müsse beinahe unmöglich sein, davon weggerissen zu werden. So stark ist die Strömung nicht.« George nickt mahnend in Elizabeths Richtung. Sie scheint jedoch überhaupt nicht zuzuhören. Kenowas senkt die Stimme, als er redet. »Da war frisches Eis über der Stelle, an der er angeblich eingebrochen ist. Was vorher da war, war aber auch nicht dick, höchstens halb so dick wie das frische Eis.« Schweigen, während alle ihren eigenen Gedanken nachhängen. Kenowas spricht seine laut aus. »Ich wäre nicht auf dieses Eis gegangen, unter gar keinen Umständen.« »Was willst du damit sagen?« Arnaud ist schroff und angriffslustig, selbst wenn er beinahe nüchtern ist. Kenowas dreht sich zu ihm um. Die beiden konnten sich noch nie leiden. »Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Nepapanees da raufgegangen wäre. Selbst ein Idiot wie du würde sich das zweimal überlegen.« 397
Keiner lacht, obwohl das ein Witz sein sollte. Er hat Recht mit dem, was er sagt, und Nepapanees war der beste Fährtensucher, der erfahrenste unter ihnen. Was niemand sagt, obwohl die meisten daran denken, ist, dass Nepapanees’ Totemtier ein Hirsch war. Er war nicht getauft, statt sich also von einem Säugling beschützen zu lassen, wachte über ihn der Geist des Hirschs. Ein starker, schneller, mutiger Geist, der die Wälder und Ebenen kennt. Das war viel besser für ihn als ein Säugling, hatte er immer gesagt. Wie sollte ein Menschenkind, das vor so langer Zeit in einem heißen Wüstenland geboren worden war, ihm helfen können, in der kalten Wildnis zu überleben? Immer, wenn er das gesagt hatte, hatte Elizabeth, die getauft war und einen Schutzheiligen hatte und weißes Blut in den Adern, immer den Kopf geschüttelt und mit der Zunge geschnalzt; wenn sie sich ärgerte, neckte sie ihn, und wenn nicht, zog sie ihn an den Haaren. Als sie als Erwachsene konvertiert war, hatte ihr die Vorstellung vom heiligen Franziskus gefallen, der so gütig war und mit den Vögeln und anderen Tiere sprechen konnte. Darin war er beinahe wie ein Chippewa, weshalb er unter ihnen sehr beliebt war – vier Kinder und zwei Erwachsene in ihrem Dorf hatten sich bei ihrer Taufe für ihn als Schutzheiligen entschieden. Doch nun schien der heilige Franziskus weit weg und unbedeutend, ein Fremder, der unmöglich diesen Tod verstehen konnte und ihren eisigen Kummer. Elizabeth kann das Bild des Hirschkopfs einfach nicht aus ihrem Kopf vertreiben. Im Fluss hatte sie das überwältigende Gefühl, dass ihr Mann nicht da ist, nicht einmal irgendwo in der Nähe, aber vielleicht hatte sie sich auch geirrt. Vielleicht hatte ihr Mann ja doch den rechten Glauben gehabt, und sie hatte seinen Geist gesehen, der zurückgekehrt war, um sie für ihren Unglauben zu verspotten. Sie fühlt sich einsam, friert bis ins Mark, und das nicht nur vor Kälte, und vollkommen abgeschieden von den Männern und dem Essen und dem Feuer. Selbst vom Schnee und der Stille 398
und dem unergründlichen leeren Himmel. Das Einzige, was sie noch mit dieser Welt verbindet, ist der sanfte Druck des Körpers ihres Sohnes, ein dünner, leicht zu zerreißender Faden menschlicher Wärme.
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ie Temperatur sinkt immer weiter. In dieser Kälte fühlt es sich an, als würde die Luft in einer Schraubzwinge zusammengepresst. Sie nimmt einem den Atem, saugt einem die Feuchtigkeit aus der Haut, brennt wie Feuer. Eine tiefe, beinahe lebendige Stille liegt über dem Hof, auf dem die Schritte im Schnee erschreckend laut knirschen. Davon wird Donald wach: dem Quietschen und Knirschen von Schritten auf frisch gefallenem Schnee. Er ist den ganzen Tag im Bett geblieben, hat ein leichtes Fieber vorgeschoben und bis in den späten Nachmittag geschlafen; er hatte einen Stuhl unter den Türgriff geklemmt und sanft geschlummert, während der Tag langsam zur Neige ging. An Schrittgeräuschen an sich wäre nichts Ungewöhnliches gewesen – es sind immer noch genug Leute da, die dort draußen herumlaufen könnten –, aber diese Schritte hier klingen nach einem eigenartigen, unregelmäßigen Gang, der Donald aus seinem behaglichen Schlummer reißt. Gegen seinen Willen lauscht er, wie jemand geht, stehen bleibt, dann wieder ein paar Schritte weitergeht. Dann wieder stehen bleibt. Er wartet – verdammt! – auf den nächsten Schritt. Schließlich kann er nicht anders als sich aufrichten und auf die Ellbogen gestützt nach draußen auf den langsam dunkler werdenden Hof spähen. Aus einigen weiter entfernten Zimmern ergießt sich in großen Rechtecken Licht nach draußen. Vielleicht sind es Büros. Zuerst sieht er die Person im Hof nicht, aber das liegt daran, dass sie sich im Schatten hält. Wahrscheinlich vermutet sie, Donalds Zimmer sei leer, weil er kein Licht gemacht hat. Dann sieht er ihn: einen in Felle gekleideten Mann mit langem schwarzem Haar. Donald fragt sich, ob der Suchtrupp wieder zurückgekehrt ist. Aber er erkennt den Mann nicht, und wenig später wird ihm klar, dass er 400
nicht zur Suchmannschaft gehört hat. Er macht verstohlene Gesten, sieht sich übertrieben vorsichtig um und bewegt sich wie ein Pantomime beim Versuch, Heimlichkeit darzustellen. Er ist kolossal betrunken. Donald sieht mit zunehmender Belustigung zu, wie der Mann in der Dunkelheit über irgendetwas stolpert und flucht. Dann, als niemand auf den Krach reagiert, verschwindet er in Richtung Lagerhäuser. Der Mann war offenbar zu betrunken gewesen, um bei der Suche zu helfen. Donald lässt sich wieder in seinen wohlig warmen Kokon gleiten und zieht die Bettdecke bis zum Kinn hoch. In Fort Edgar gibt es Männer, die Monate im Vollrausch zubringen und den ganzen Winter über zu nichts zu gebrauchen sind. Es ist traurig, wenn sie dieses Stadium erreichen, auch ihr Arbeitsleben verkürzt sich dadurch. Trunkenheit ist eine ansteckende Krankheit, und Donald war anfangs schockiert darüber, dass die Vorgesetzten der Company nichts gegen sie unternahmen und den Pelzhändlern ungehinderten Zugang zu schlechtem Schnaps gewährten. Als er einmal Jacob vorsichtig zu diesem Thema befragte, ließ der den Kopf hängen. Der Alkohol hatte ihn dazu getrieben, das Messer in Donalds Bauch zu rammen. Soweit Donald wusste, hatte Jacob seither keinen Tropfen mehr angerührt. Nur einmal hatte Donald das Gespräch bei Mackinley auf dieses Thema gebracht, der ihn daraufhin amüsiert, wenn nicht gar mit unverhohlenem Hohn angesehen hatte. »So dreht sich nun mal die Welt«, war im Grunde genommen Mackinleys einziges Argument gewesen. Alle Händler lockten Trapper und Bedienstete mit Alkohol. Würde die Company ihn nicht zur Verfügung stellen, würden sie zu Konkurrenzunternehmen überlaufen, die weniger Skrupel hatten und denen das Wohlergeben ihrer Angestellten weniger am Herzen lag. Jede andere Vorstellung sei naiv. Donald hatte das Gefühl, dass an dieser Argumentationsweise irgendetwas faul war, wagte aber nicht, das laut zu sagen. Nach einer Weile fällt ihm wieder ein, was Mrs Ross ihm am 401
Abend zuvor erzählt hat. Nesbit ist ein junger Mann genau wie er und erst kürzlich aus Schottland hierhergekommen. Ein gebildeter Mann aus gutem Hause. Ein untergeordneter Büroangestellter, aber mit genug Verstand, um es in der Company zu etwas zu bringen. Die Ähnlichkeiten erschrecken Donald. Oder sagen wir so: Jetzt, wo er die Ähnlichkeiten erst einmal erkannt hat, fallen ihm umso mehr die Unterschiede auf. Nesbits nervöse Ticks, sein verbittertes Lachen, sein schamloser Hass auf das Leben. Er ist gerade mal doppelt so lange im Land wie Donald, und obwohl er offensichtlich kreuzunglücklich ist, scheint er sich damit abgefunden zu haben, auf ewig hier festzusitzen. Donald läuft ein leichter Schauer über den Rücken, als er an Norah denkt mit ihrem breiten, misstrauischen Gesicht und der anmaßenden Art zu reden, in deren stämmigen Armen Nesbit anscheinend ein wenig Trost gefunden hat. Es ist nicht das erste Mal, dass er von gemischten Liaisons gehört hat – selbst in Fort Edgar kam das öfter vor –, doch Donald hat sich bisher über die Idee erhaben gefühlt, so etwas könne ihm je passieren. Er hat immer geglaubt, es sei sein Schicksal, ein nettes weißes englischsprachiges Mädchen zu heiraten (was die Details anging, hatte er weniger konkrete Vorstellungen) – ein Mädchen wie Susannah, nur dass er es nie gewagt hätte, von einer solchen Schönheit zu träumen. Während der ersten achtzehn Monate in Fort Edgar schien diese Option jedoch zunehmend unwahrscheinlich zu werden. Aber auch wenn er sich die einheimischen Frauen im Fort ansah, war er immer zurückgeschreckt, selbst als die Männer ihn damit aufzogen, das eine oder andere Mädchen habe in seiner Gegenwart gekichert. Allerdings hatte er bis dahin auch noch nie eine so schöne einheimische Frau gesehen wie Nancy Eagles. Er spürt noch immer ihre warme, weiche Haut, ihre prickelnd freche Hand – das heißt, würde er sich jetzt gestatten, daran zu denken. Was er nicht tut. Es fällt ihm schwer, sich vorzustellen, Norah könnte auf Nesbit den gleichen aufregenden Effekt haben. Trotzdem. 402
Der Brief an Maria liegt auf dem Schreibtisch. Gestern Abend nach seinem Wutausbruch hat er das zusammengeknüllte Blatt aus dem Papierkorb gefischt, glattgestrichen und so gut es ging unter einem kleinen Stapel Papier, den er mit seinen Stiefeln beschwerte, zu pressen versucht. Aber er fürchtet, das wird nicht reichen. Vielleicht war es ja doch ein Segen, dass er den Brief zerknüllt hat. Er sollte lieber an Susannah denken, und das tut er dann auch, versucht ihr flüchtiges Bild zu greifen, sich ihre helle, glockenklare Stimme vorzustellen. Als das letzte bisschen Tageslicht am Horizont versinkt, zieht Donald sich an. Er hat Hunger, was er als Zeichen wieder erwachender Lebensgeister deutet, und spaziert über den menschenleeren Flur. Nesbit trifft er in dessen Büro an – der Lichtstrahl, den er von seinem Fenster aus gesehen hat. Keine Spur von Stewart, Mrs Ross oder sonst irgendwem. Nesbit lehnt sich im Stuhl zurück und zieht eine Grimasse, als er seinen krummen Rücken streckt. Er gähnt gewaltig und zeigt dabei seine schwarzen Backenzähne. »Verdammte Abrechnung. Der Fluch meines Lebens. Zumindest einer davon. Früher hatten wir einen Buchhalter hier – Archie Murray. War ein komischer kleiner Kauz – ein farbloser, unscheinbarer Wicht. Aber seit er fort ist, muss ich alles selber machen, und das gehört nicht gerade zu meinen Stärken, wie ich freimütig gestehe. Gehört ganz und gar nicht zu meinen Stärken.« Donald spielt mit dem Gedanken, ihm Hilfe anzubieten, entscheidet sich dann aber dagegen, weil er sich dem noch nicht gewachsen fühlt. »Obwohl wir ja nicht gerade gewaltige Warenströme zu verwalten haben. Es geht mehr raus als reinkommt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wie läuft der Laden bei Ihnen?« »Ganz gut, glaube ich. Aber wir sind auch eher ein Umschlagplatz als ein beziehender Posten. Soweit ich weiß, war hier vor vielen Jahren, als es noch nicht so viele Menschen in der Gegend gab, das ganze Land voller Pelztiere.« 403
»Ich bezweifle, ob es hier in der Gegend überhaupt mal irgendwas gegeben hat.« Nesbit starrt finster vor sich hin. »Wissen Sie, wie die Indianer diesen Teil des Waldes nennen? Hungerland. Nicht mal die verdammten Füchse finden hier was zu fressen – und die sind auch noch allesamt rot. Zeit, etwas zu trinken.« Nesbit fährt abrupt aus seiner zusammengesunkenen Sitzposition auf und taumelt an Donald vorbei. Hinter ein paar Registern holt er eine Flasche Malt Whisky hervor. »Kommen Sie mit.« Donald folgt Nesbit in dessen Salon – einen kleinen, nackten Raum gleich neben seinem Arbeitszimmer, in dem einige prall gepolsterte Sessel stehen und einige Bilder eher fraglicher Natur hängen. »Wo ist denn Mr Stewart heute Abend?«, erkundigt sich Donald und nimmt ein großes Glas Whisky entgegen. Glücklicherweise ist der von besserer Qualität als der Rum in Fort Edgar. Donald fragt sich kurz, wie es wohl sein kann, dass die Bewohner von Hanover House – mitten im Nirgendwo, wo anständiges Essen und ordentliche Hauswirtschaft unmöglich erscheinen – trinken wie die Könige. »Och, hier und da«, erwiderte Nesbit unbestimmt. »Überall und nirgends. Sie wissen schon …« Er beugt sich nach vorne und starrt Donald mit beunruhigend durchdringendem Blick an. »Dieser Mann … dieser Mann ist ein Heiliger. Ein echter Heiliger.« »Mh-hm«, murmelt Donald zurückhaltend. »Diesen Posten zu leiten ist eine undankbare Aufgabe, lassen Sie sich das gesagt sein, aber er beklagt sich nie. Nie hört man ihn darüber stöhnen, ganz im Gegensatz zu meiner Wenigkeit. Und dabei ist er ein Mann, dem alle Türen offenstanden, ein Mann von ganz großem Format. Dem allergrößten.« »Ja, er wirkt sehr fähig«, bemerkt Donald etwas steif. Nesbit sieht ihn abwägend an. »Ich wage zu behaupten, Sie müssen annehmen, jeder, den man in ein Höllenloch wie dieses 404
abkommandiert, müsse zweitklassig sein, und in meinem Fall mag das auch zutreffen, aber in seinem nicht.« Donald senkt und schüttelt dann höflich den Kopf in der Hoffnung, Zustimmung und Widerspruch mögen den richtigen Aussagen zugeordnet werden. »Die Einheimischen lieben ihn. Von meiner Wenigkeit halten sie nicht viel, was auf Gegenseitigkeit beruht, also ist das wohl nur gerecht, aber er … sie behandeln ihn fast wie einen Gott. Er ist gerade da draußen und redet mit ihnen. Als er mit den schlechten Nachrichten über Nepapanees zurückkam, dachte ich im ersten Augenblick, es könnte brenzlig werden, aber er ist einfach da rausgegangen, und jetzt fressen sie ihm schon wieder aus der Hand.« »Ach. Hm. Bewundernswert«, murmelt Donald und fragt sich, ob Jacob jemals irgendwem aus der Hand fressen würde. Das ist wohl eher unwahrscheinlich. Außerdem hat er noch – lebhaft – das Bild der Witwe vor Augen, die allein im Schnee kauerte, während Stewart und Nesbit nach drinnen gingen. Aber seltsamerweise und obwohl Donald stolz darauf ist, dass er klug genug ist, eine solche Lobhudelei nicht für bare Münze zu nehmen, kann er sich doch sehr gut vorstellen, dass ein Mann wie Stewart ergebene Gefolgsleute hat. Er fühlt sich zu Stewart beinahe im gleichen Maße hingezogen wie von Nesbit abgestoßen. »Ich weiß, dass ich zweitklassig bin. Ich mag vielleicht nicht viel wissen, aber so viel weiß ich.« Nesbit starrt in die bernsteinfarben funkelnde Flüssigkeit in seinem Glas. Donald fragt sich, ob er ein wenig überdreht ist. Einen Moment lang hat er den schrecklichen Verdacht, Nesbit könne anfangen zu weinen. Doch stattdessen lächelt er mit jenem verbitterten, zynischen Gesichtsausdruck, den man schon von ihm kennt. »Wie steht’s mit Ihnen, Moody, wie passen Sie in das große Bild?« »Ich weiß nicht, ob ich die Frage verstehe.« »Ich meine, sind Sie zweitklassig? Oder sind Sie erstklassig?« 405
Donald lacht unbehaglich. »Oder wissen Sie es noch nicht?« »Ich, äh … ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen darin zustimme, dass das eine hilfreiche Unterscheidung ist.« »Ich sagte nicht, sie sei hilfreich. Aber es liegt doch auf der Hand. Natürlich nur, wenn man den Mut hat, den Tatsachen ins Auge zu sehen.« »Da bin ich anderer Meinung. Sie mögen vielleicht behaupten, es brauche Mut, die eigene Selbsteinschätzung anzunehmen, doch darauf könnte ich Ihnen entgegnen, dass dies auch eine Art ist, sich der uns vom Leben auferlegten Verantwortung zu entziehen. Ein solcher Zynismus gibt einem den Freibrief, einfach aufzugeben und sich nicht mehr zu bemühen. Jedes Versagen ist so von vorneherein entschuldigt.« Nesbit zeigt ein fieses Lächeln. Donald könnte diese halb ernste Unterhaltung genießen, ein Gesprächsthema, das nicht zum ersten Mal aufkommt – sonst meist gegen Ende eines langen Winterabends –, wenn seine Wunde nicht anfinge zu pochen. »Sie halten mich also für einen Versager?« Donald geht plötzlich das verstörende Bild durch den Kopf, wie Nesbit in Norahs mahagonibraunen Armen liegt, und er fühlt sich schuldig, dass er so viel über den anderen weiß. Fast zur gleichen Zeit manifestiert sich Susannahs Gesicht kristallklar in seinem Kopf. Nach all der Zeit, die er im Nebel herumgetappt ist, fügt sich alles zusammen, und da ist sie: ganz, deutlich, liebreizend. Und im gleichen Augenblick erkennt er mit Entsetzen, dass er sich distanziert hat, dass seine Gefühle für sie endlich sind und hauptsächlich aus Bewunderung und Ehrfurcht bestehen. Ihn überkommt das Verlangen, in sein Zimmer zurückzulaufen und den Brief an Maria zu Ende zu schreiben. Die tiefgründige, unberechenbare Maria. Wie seltsam. Wie seltsam und doch befreiend, diese Erkenntnis. Wie wunderbar! Bei dem Gedanken muss er ein Lächeln unterdrücken. 406
»Ich sagte, tun Sie das?« Donald kostet es immense Mühe, sich an die Frage zu erinnern. »Nein, ganz und gar nicht. Aber ich kann mir vorstellen, wie enttäuschend es sein muss, hier festzusitzen. Ich bin mir sicher, mir ginge es genauso. Der Mensch braucht Gesellschaft und Abwechslung. Ich weiß, wie lang die Winter hier sein können, und ich habe bisher erst einen erlebt. Ein Gefährte ist nicht genug, ganz gleich, wie erstklassig er auch sein mag.« »Bravo. Sagen Sie, haben Sie was gehört?« Nesbit hat sein Glas ausgetrunken, hält beim Nachschenken plötzlich inne und legt den Kopf schief. Donald lauscht und erwartet, Schritte auf dem Flur zu hören, aber wie gewöhnlich ist nichts zu vernehmen. Nesbit schüttelt den Kopf und schüttet Donald noch etwas Whisky ins Glas, obwohl er noch nicht ausgetrunken hat. »Sie sind ein großartiger Bursche, Moody. Ich wünschte, wir hätten Sie hier bei uns. Vielleicht könnten Sie sogar die Abrechnungen entwirren, die ich in den vergangenen zwei Jahren zu einem gordischen Knoten verschlungen habe.« Nesbit strahlt übers ganze Gesicht, und alle Bitternis ist plötzlich auf geheimnisvolle Weise verschwunden. »Ich habe vorhin draußen einen Ihrer Männer gesehen«, bemerkt Donald vollkommen zusammenhanglos. »Er hatte sich offensichtlich nicht dem Suchtrupp angeschlossen, doch er schien derart betrunken zu sein, dass er ihnen wohl eher eine Last als eine Hilfe gewesen wäre.« »Aha.« Nesbits Blick wandert in die Ferne. »Ja. Mit diesem Problem haben wir im Winter oft zu kämpfen, wie Sie sicherlich aus eigener Erfahrung wissen.« »Ist der Mann ein Fallensteller?« Donald möchte am liebsten geradeheraus fragen, wer das war, aber das wäre doch zu plump. »Ich habe keinen Schimmer, wen Sie meinen, altes Haus. Soweit ich weiß, sind alle Männer bis auf Olivier zum Fluss gegangen. Vielleicht haben Sie ihn gesehen.« 407
»Nein, nein, der Mann war ganz eindeutig älter. Kräftiger, wissen Sie. Und er hatte lange Haare.« »Dieses Dämmerlicht kann einem manchmal Streiche spielen. Ich sage Ihnen, einmal habe ich aus dem Fenster gesehen – das war letzten Winter, und ich saß nebenan in meinem Büro – und hätte fast einen Herzanfall bekommen. Da stand ein Elch – sieben Fuß groß und nur ein paar Handbreit entfernt – und hat mich angestarrt. Ich habe furchtbar gebrüllt und bin zur Tür hinausgelaufen, aber als ich auf den Hof kam, war er spurlos verschwunden. Nicht einmal ein Hufabdruck war zu sehen. Natürlich ist es völlig unmöglich, dass er die Palisade hätte überspringen können, aber ich hätte auf einen ganzen Stapel Bibeln geschworen, dass er da war. Stellen Sie sich das vor!« Vermutlich warst du betrunken, denkt Donald säuerlich. Donald weiß ganz genau, dass der Mann auf dem Hof nicht Olivier war, und ihm wird immer klarer – es ist irgendwie, als hätte sein Gehirn die letzten Tage verschlafen –, dass der unbekannte Mann für sie von einigem Interesse sein könnte. So sehr, dass er sich eine Entschuldigung ausdenkt und kurz darauf hinausgeht, um den Schnee unterhalb seines Fensters in Augenschein zu nehmen. Und das ist der Moment, in dem er feststellen muss, dass plötzlich strengere Anforderungen an die Haushaltsführung gelten und man den Schnee auf dem Hof weggefegt hat.
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ault St. Marie ist so ganz anders als Caulfield. Es ist ein Ort vieler Begegnungen – dort fließen zwei Seen zusammen, von denen einer zwischen störrischen Felsen hindurch in den anderen strömt, Wege aus dem Nordwesten und dem Osten kreuzen sich hier, und zwei Ländergrenzen treffen aufeinander. Schiffsrouten enden hier, aus Norden, Osten und dem tiefen Süden der Staaten kommend, aus Chicago und Milwaukee, Orte, die fremder und lasterhafter noch sind als der entlegenste Handelsposten. Doch der augenscheinlichste Grund hierherzukommen, ist das Grand Western Opera House, wo die Knox’ sich am Abend zuvor eine vielbesprochene Inszenierung von Die Hochzeit des Figaro angesehen haben. Die Hauptattraktion war die Tatsache, dass die Rolle des Cherubino von Delilah Hammer gesungen wurde, und die Vorstellung, das eine Mohikanerin Mozart singt, hatte gewisse Zeitungskolumnisten schon monatelang im Voraus in helle Aufregung versetzt. Man musste sie einfach gesehen haben. Also hatte Mrs Knox Karten für ein Dampfschiff besorgt, und sie hatten sich auf die winterliche See gewagt, um ebendies zu tun. Maria, die kein Ohr für Musik hatte, fand die Sängerin bezaubernd und fast entrückt, ganz besonders in ihrem Jungenskostüm, für das sie die Haare hochgebunden und unter einem Schlapphut versteckt hatte. Sie hatte ein knabenhaftes Gesicht mit riesigen dunklen Augen, die durch Schminke noch betont wurden, und einen großen Mund mit strahlend weißen Zähnen. Sie war sehr viel aparter als die anderen Sängerinnen, die eher zu beträchtlicher Leibesfülle neigten, und Maria fragte sich, ob Miss Hammer nicht vielleicht lieber eine der weiblichen Rollen gesungen hätte. Das Publikum – eine Mischung aus Opernliebhabern, die sich für diese besondere Gelegenheit 409
herausgeputzt hatten, und Einzelgängern, die nur ein wenig Ablenkung suchten – toste vor Begeisterung, die an einem Ort wie diesem sicher leicht verdient war. Ihr Vater brummte etwas darüber, dass die Sängerin für diese Rolle ungeeignet sei (womit er ihre Stimme meinte, nicht ihre Rasse), und er und ihre Mutter stritten sich ein wenig über die musikalische Leitung. Eine Weile war er wieder ganz der Alte. Mrs Knox hatte sich Sorgen gemacht um ihren Mann. Schlimm genug, dass er in Ungnade gefallen war – oder zwangspensioniert, da ist sich niemand so ganz sicher –, aber schlimmer noch ist, dass er Stunde um Stunde in seinem Arbeitszimmer sitzt und augenscheinlich überhaupt nichts tut. Sein scharfer Verstand ist müßig und, da ist sie sich sicher, versandet und verkümmert. Als sie sich streiten, merkt sie, wie die Spannung ein klein wenig nachlässt. Alles in allem scheint der Besuch der Mühe wert gewesen zu sein. Am nächsten Morgen zeigt er sich allerdings schon wieder verschlossen und wortkarg. Und Maria ertappt sich dabei, dass ihre Gedanken erneut um den Kode kreisen. Nach ihrem Besuch bei Sturrock hatte sich Maria mit einer Abschrift der Zeichen in ihrem Zimmer eingeschlossen, und während sie über deren Bedeutung grübelte, hatte sie es tatsächlich geschafft, den desolaten Zustand ihrer Familie eine Zeit lang ganz zu vergessen. Zuerst hatte sie versucht, die Zeilen entsprechend ihrer Anordnung in Gruppen aufzuteilen – immer vorausgesetzt, dass Sturrock sie sorgfältig abgemalt hatte. Aufgrund eines Artikels in der Edinburgh Review und dessen, was ihr der gesunde Menschenverstand sagt, ist sie sich im Klaren darüber, dass die einzelnen Zeichen oder Zeichengruppen vielleicht nicht für einen Buchstaben im lateinischen Alphabet stehen, sondern für ein Wort oder einen Laut. Nachdem sie die Zeichenbündel zusammengefasst und dann wieder aufgelöst und neu arrangiert und zahllose Laute und Buchstaben 410
dafür eingesetzt hat, die alle nur sinnlose, wirre Lautfolgen ergaben (da-ya-no-ji-te! Ba-lo-re-ya-no?), legte sie das Ganze beiseite und war noch mutloser als zuvor. Es gab keinerlei Anlass zu der Vermutung, Maria Knox könne dieses Rätsel lösen. Ein ungebildetes Landei, das ein paar Zeitschriften abonniert und einen Artikel über die Dechiffrierung des Steins von Rosetta gelesen hatte. Doch die kleinen eckigen Zeichen schwirrten ihr durch den Kopf, drangen bis in ihre Träume vor und neckten sie mit einer Bedeutung, die sie nie ganz fassen konnte. Sie hatte das ungute Verlangen, sich das Originalplättchen anzusehen, und ihre Gedanken wanderten gen Norden, wo vermutlich Francis und auch Mr Moody waren, die den Schlüssel zu diesem Geheimnis besaßen. Sie schiebt die Reste des Frühstücks auf dem Teller hin und her. Gestocktes Eiweiß und Fleischsaft malen ein ekelhaftes, abstraktes Bild auf das chinesische Muster. »Wenn ihr nichts dagegen habt …« Beim Aufstehen kratzen die Stuhlbeine über den Boden. Es ist schon ziemlich komisch, dass ihre Mutter glaubt, jede Stadt mit Ausnahme von Caulfield sei ein Sündenpfuhl, und es wimmle nur so vor Zuhältern und Menschenhändlern. An diese Vorstellung wird sie sich gewöhnen müssen, wenn Maria nach Toronto zieht, was sie auch ganz bestimmt tun wird, und zwar nächsten Sommer. Vor dem Hotel biegt Maria nach rechts ab und geht zum Hafen. Am Ufer entlang verstreut wuchern Werften und Lagerhäuser, Sammelstellen für Güter aus dem ganzen Norden. Es ist aufregend, dieses geschäftige Gewimmel, der rege Handel: schmutzig und laut und irgendwie so sehr Teil der Wirklichkeit, ganz im Gegensatz zu Caulfield und John Scotts Laden. Man hat sie ermahnt, diesen Teil der Stadt zu meiden, doch das macht ihn nur noch anziehender. Männer laufen an ihr vorbei, um die Ankunft von Dampfschiffen, die neuen Börsenkurse und wichtige Besprechungen nicht zu verpassen. Auch in diesem Viertel gibt es einige Hotels und Pensionen. 411
Natürlich sind sie nicht so komfortabel wie das Victoria and Albert und weiter weg vom Opernhaus. Aus einem dieser Etablissements sieht sie einen Mann und eine Frau herauskommen und sieht ihnen einen Augenblick zu, bis sie mit Schrecken feststellen muss, dass der Mann Angus Ross ist, der Farmer aus Dove River. Francis’ Vater. Als er sich umdreht, kann sie sein Gesicht ganz genau sehen: das stumpfe Profil, das rotblonde Haar. Der Schrecken kommt daher, dass die Frau, die bei ihm ist, nicht Mrs Ross ist. Mrs Ross ist seit Wochen nicht mehr gesehen worden. Maria errötet vor Scham, auch wenn es fremde Scham ist. Irgendetwas stimmt da nicht, selbst wenn Mr Ross und diese Frau bloß gemeinsam die Straße überqueren. Er hat sie nicht gesehen, und instinktiv macht sie einen Schritt zurück und dreht sich um, als betrachte sie das Schaufenster des nächstgelegenen Ladens. Darin sind verschiedene Dinge ausgestellt, die in ihrer Verwirrung keinerlei Sinn ergeben. Sie wartet, bis die beiden gut außer Sichtweite sind. Noch nie hat sie eine Ungehörigkeit gesehen, doch sie ist davon überzeugt, dass es sich dabei um eine gehandelt hat. Und wo ist eigentlich Mrs Ross? Sie haben nichts in der Hand als Mr Ross’ Aussage, dass sie sich auf die Suche nach ihrem Sohn gemacht habe. Plötzlich kommt Maria, die neben den erbaulichen Romanen auch einige Gruselgeschichten gelesen hat, der Gedanke, Mr Ross könne sich seiner Frau entledigt haben. Und was war mit Francis? Mr Moody und sein Freund haben sich an seine Verfolgung gemacht, ihn aber möglicherweise nicht gefunden. Vielleicht sind sie deshalb noch nicht zurückgekehrt. Vielleicht hat Mr Ross auch Mr Jammet umgebracht … An diesem Punkt ruft Maria sich zur Vernunft und sagt sich, dass sie sich nicht wilden Fantasien hingeben sollte. Dennoch ist sie aufgewühlt. Vielleicht hätte sie doch zu Ende frühstücken sollen. Vielleicht – sie sieht sich um, ob jemand sie beobachtet – , vielleicht sollte sie angesichts der außergewöhnlichen Umstände ausnahmsweise ein Schlückchen trinken. 412
Beflügelt von ihrem Wagemut entscheidet sich Maria für eine ruhig wirkende Schenke, die etwas vom Ufer zurückgesetzt liegt, und geht hinein. Sie holt tief Luft, doch drinnen ist niemand außer dem Wirt und einem Mann, der mit dem Rücken zur Tür an einem der Tische sitzt und isst. Sie bestellt ein Glas Sherry und ein Stück Lachskuchen und setzt sich an einen Tisch recht weit hinten, nur für den Fall, dass jemand, den sie kennt, hier vorbeikommen sollte. Wie zum Beispiel Mr Ross. Bei dem Gedanken schlägt ihr Herz schneller. Bisher hatte sie keinen Grund, Mrs Ross besonders zu mögen oder nicht zu mögen – die Frau ist eher zurückhaltend –, doch jetzt tut sie ihr leid. Ihr kommt der Gedanke, dass sie und Mrs Ross sich vielleicht gar nicht so unähnlich sind. Ihre Bestellung wird an den Tisch gebracht, und um sich zu beschäftigen, nimmt sie die Unterlagen heraus mit ihren Versuchen, den Kode zu knacken. Sie ist sich dessen gewahr, dass der andere Gast sie bemerkt hat, und befürchtet, er könne vielleicht herkommen und sich zu ihr setzen. Sie sieht, was ihr vorher nicht aufgefallen ist: Dass er ein Indianer ist und ziemlich heruntergekommen aussieht, und daher beschließt sie, nicht noch einmal zu ihm hinüberzuschauen. Bald hat sie einen Bleistift hervorgeholt und angefangen, ihre Bemühungen niederzuschreiben, die aus einer langen Reihe unsinniger Worte und Silben bestehen. Sie ist so darin versunken, dass sie den Wirt, der neben ihr steht, nicht bemerkt, bis er sich räuspert. »Entschuldigen Sie, Ma’am. Möchten Sie noch einen?« Er hat eine Flasche Sherry in der Hand. »Oh. Danke sehr, ja. Der Kuchen war sehr gut.« Zu ihrem Erstaunen war er das tatsächlich. »Danke. Lösen Sie Rätsel?« »Sozusagen.« Er hat schöne Augen, der Wirt, und einen langen, herunterhängenden Schnauzbart. Er wirkt unerwartet klug. »Ich versuche, einen Kode zu knacken. Aber ich glaube, es ist hoffnungslos, da ich nicht weiß, in welcher Sprache er 413
geschrieben ist.« »Sie meinen Französisch oder Italienisch?« »Ja … obwohl ich glaube, dass es sich um eine indianische Sprache handelt, und davon gibt es so viele.« »Aha. Dann brauchen Sie Hilfe.« »Ja. Am besten wäre jemand, der sie alle spricht.« Sie zuckt die Achseln und lächelt, da dies ein frommer Wunsch ist. »Ma’am, dürfte ich einen Vorschlag machen? Sehen Sie den Herren dort drüben? Er spricht viele indianische Sprachen. Wenn Sie möchten, könnte ich Sie mit ihm bekannt machen.« Ihm entgeht nicht, wie zweifelnd sie zu dem Gast mit den krummen Schultern und dem fettigen Haar, das sich über dem Kragen ringelt, hinübersieht. »Er ist wirklich sehr … freundlich.« Er lächelt, als sei ihm das richtige Wort nicht eingefallen, sei aber dennoch damit zufrieden. Maria merkt, dass sie zu erröten droht. Das hat man nun davon, wenn man in zwielichtige Etablissements geht: Sie wird auf dem Schwert ihres eigenen Wagemuts aufgespießt. Sie blickt hinunter auf ihre Unterlagen und kommt sich vor wie ein dummes Schulmädchen. »Natürlich möchten Sie das lieber nicht. Vergessen Sie einfach, was ich gesagt habe. Ich war impertinent.« Maria richtet sich kerzengerade auf. Sie ist eine Gelehrte, eine Denkerin, sie kann nicht vom Pfad des Wissens abweichen, nur wegen eines speckigen Hemdkragens. »Nein, das wäre sehr … nett. Danke. Natürlich nur, wenn es ihm keine Umstände macht.« Der Wirt geht hinüber zum anderen Tisch und spricht mit dem Mann. Maria erhascht einen Blick auf blutunterlaufene Augen, und ihr kommen erste und zweite Zweifel an ihrer Entscheidung. Doch der Mann steht auf und kommt mit seinem Glas zu ihr an den Tisch. Sie lächelt ihn kurz an, sehr professionell, wie sie hofft. »Guten Tag, Ich bin Miss Knox. Und Sie sind Mr …?« Er setzt sich. »Joe.« 414
»Aha. Ja. Danke, dass Sie …« »Fredo sagt, Sie möchten etwas über indianische Sprachen wissen.« »Ja, ich habe Teile eines Kodes, und, ähm, ein Freund von mir glaubt, er könne in einer indianischen Sprache geschrieben sein. Ich habe versucht, ihn zu entziffern, aber da ich nicht weiß, für welche Sprache er stehen soll …« Sie lächelt zu viel, zuckt leicht mit den Achseln, und jetzt, wo sie ihm Auge in Auge gegenübersitzt, macht er ihr noch mehr Angst. Der Mann ist älter, als sie zunächst angenommen hatte. Er hat schon graue Strähnen im Haar und Tränensäcke unter den Augen, seine Wangen sind erschlafft. Durch das Weiß seiner Augen ziehen sich rote Äderchen. Er riecht nach Rum. Aber er hat ein kluges Gesicht, zumindest war es das einmal. »Es gibt keine indianische Schriftsprache, warum also sollte Ihr Freund so etwas annehmen?« »Ich weiß, aber, na ja … er hat Nachforschungen angestellt. Und diese kleinen Figuren – sehen Sie, dies ist nur eine Kopie, aber sie erinnern an die indianischen Gemälde, die ich gesehen habe.« Aus irgendeinem Grund schiebt sie ihm das Blatt zu, so abstoßend sie ihn auch findet. Sie will zumindest ernst genommen werden. Lange betrachtet er das Blatt, ohne ein Wort zu sagen. Maria wünschte, sie wäre wieder im Hotel. »Wovon wurde das abgezeichnet?« »Einem Elfenbeinplättchen.« Er nimmt ihre anderen Unterlagen, die mit ihren vorsichtigen Entschlüsselungsversuchen. »Was sind das für Namen?« »Oh, das sind keine Namen. Darauf bin ich nur gekommen, indem ich gewisse Buchstaben und Laute ausprobiert habe, wissen Sie, indem ich die Zeichen durch sie ersetzt habe …« Er betrachtet den Zettel und hält ihn ins Licht, um besser sehen zu können. Dann tippt er mit dem Finger auf das Blatt. »Dega415
nawida. Ochinaway. Glauben Sie, das steht da?« Er wird immer aggressiver. Maria reckt trotzig das Kinn. An ihrer Methode gibt es nichts auszusetzen. Die hat sie aus der Edinburgh Review. »Na ja, ich habe wild herumgeraten. Man muss doch von bestimmten Annahmen ausgehen, welche Laute die Zeichen darstellen könnten, und sie dann ausprobieren. Ich habe viele, viele Dinge ausprobiert. Das kam heraus bei einer … einer Kombination bestimmter …« Der Mann lehnt sich zurück und grinst sie mit einer höhnischen, feindseligen Grimasse an. »Lady, soll das ein Witz sein? Wer hat Ihnen gesagt, dass ich hier bin?« »Nein, natürlich nicht. Ich hatte keine Ahnung … Ich weiß nicht mal, wer Sie sind!« Nervös sieht sie sich nach Fredo um, doch der bedient gerade ein paar neu angekommene Gäste. »Wer war das? War es dieser fette Mistkerl McGee? Hä? Oder Andy Jensen? War es Andy?« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich weiß nicht, was Sie mir da unterstellen wollen, aber Ihre Anschuldigungen sind vollkommen fehl am Platze.« Jetzt hat Fredo sie gehört, er wirft ihr einen Blick zu … und kommt endlich zu ihnen herüber. »Wie heißt Ihr Freund mit Nachnamen, Lady?«, hakt Joe noch einmal nach. »Ma’am, es tut mir leid. Joe, du musst jetzt gehen.« »Ich will bloß seinen Namen wissen.« »Mr … Joe scheint zu glauben, ich wolle ihm einen Streich spielen.« »Joe, entschuldige dich bei der Dame. Komm schon.« Joe macht die Augen zu und neigt den Kopf. Eine seltsam unwirkliche Geste, die seinem verlebten Gesicht eine Zartheit zurückgibt, die Zeit und Alkohol ihm geraubt haben. »Es tut mir leid. Ich wollte nur den Namen Ihres Freundes wissen, der dieses … wie auch immer Sie es nannten, hat.« 416
Maria fühlt sich mit Fredo im Rücken mutiger. Und irgendetwas war im Gesicht dieses Mannes, als er die Augen geschlossen hat, irgendein uralter Schmerz, eine Traurigkeit, die sie dazu treibt, ihm eine Antwort geben zu wollen. »Nun, er heißt Thomas Sturrock, wenn Sie schon danach fragen. Und es war kein Streich. Ich spiele keine Streiche.« »Sturrock?« Joe wirkt auf einmal ganz ernst. Er richtet sich gerade auf und sieht plötzlich hellwach aus, als hätte man die Fäden einer Marionette straffgezogen, er ist ganz verwandelt. »Tom Sturrock? Der Fahnder?« »Ja … das war er einmal. Kennen Sie ihn?« »Ich kannte ihn. Ich wünsche Ihnen viel Glück, Lady, und sagen Sie Ihrem Freund einen Gruß von Kahon’wes.« Maria runzelt die Stirn in dem Bemühen, sich den Namen zu merken. »Ga-hoo’ways?« Der Mann, wie auch immer er heißen mag, steht auf und geht hinaus. Maria sieht Fredo fragend an. Doch der ist ebenso erstaunt wie sie. »Es tut mir leid, Ma’am, ich konnte nicht ahnen, dass er sich so aufführen würde. Normalerweise ist er ganz ruhig, kommt bloß herein und trinkt und ist immer sehr freundlich. Darf ich Ihnen noch einen Sherry bringen oder noch ein Stückchen Kuchen …« »Nein, vielen Dank. Ich muss jetzt wirklich los. Mein Vater wartet sicher schon. Wie viel bekommen Sie …« »Nein, nein, ich kann Sie unmöglich zahlen lassen.« Nach einigem Hin und Her siegt Maria schließlich, weil sie davon überzeugt ist, dass es nicht gut wäre, einem Fremden etwas schuldig zu bleiben. Mit einem Wust Papier unter dem Arm und einigen hastig gesprochenen Dankeschöns geht sie hinaus und sieht nur noch stur geradeaus, während sie den Hafen hinter sich lässt. Dieser Morgen war noch abenteuerlicher, als sie gehofft hatte. Der Pfad des Wissens ist steinig und beängstigend. Aber 417
zumindest wird sie Mr Sturrock etwas zu erzählen haben, und vielleicht reißt das ja sogar ihren Vater aus seiner Teilnahmslosigkeit. Erleichtert, endlich aus dem Hafengebiet heraus zu sein, geht Maria etwas langsamer und legt sich eine Geschichte zurecht, und während sie ihr Abenteuer in eine spannungsgeladene Erzählung verwandelt, gelingt es ihr beinahe, sich selbst einzureden, sie hätte überhaupt keine Angst gehabt.
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nter den Bäumen ist es dämmrig, und es wird früh dunkel, also halten sie an, weil die Kinder so furchtbar jammern. Espen versucht, seine Furcht nicht zu zeigen, aber er hat eigentlich keine Ahnung, wie man einen Unterschlupf zum Schutz gegen den Schnee baut oder wie man im tiefen Schnee ein Feuer macht. Er schaufelt ein Stück Waldboden frei, und nach einer Weile gelingt es ihm, mit dem feuchten Holz ein Feuer zu machen, doch noch ehe das Wasser kocht, sind die Schneewälle ringsum geschmolzen und haben die Flammen erstickt. Als die Kinder das sehen, fangen sie vor Enttäuschung und Kälte an zu weinen. Line redet immer weiter und macht ihnen Mut. Ihr Hals ist ganz trocken vor Durst, ihre Lippen aufgesprungen vor Kälte. Noch nie im Leben hat sie so viel geredet. Sie ist fest entschlossen, nicht aufzugeben, nicht verängstigt zu wirken, nicht zu weinen. Als Torbin und Anna schließlich erschöpft einschlafen, sagt sie: »Morgen müssten wir auf den Fluss stoßen. Durch den Schnee kommen wir nicht so schnell voran, aber wir schaffen das schon.« Espen sagt eine Zeitlang gar nichts. So unglücklich hat sie ihn noch nie erlebt. »Du hast es nicht gesehen, oder?« »Was habe ich nicht gesehen? Wovon redest du?« Ihre Fantasie bevölkert den Wald mit Bären, Äxte schwingenden Indianern und Wölfen mit glühenden Augen. Espen sieht sie säuerlich an. »Unsere Spur. Heute Morgen sind wir auf unsere eigene Spur gestoßen. Ich habe sie gesehen und eine andere Richtung eingeschlagen. Wir sind im Kreis gelaufen.« Line starrt ihn nur an und fragt sich, was das zu bedeuten hat. »Line, wir laufen im Kreis herum. Ich habe keine Ahnung, in welche Richtung wir gehen. Ohne den Kompass oder zumindest 419
die Sonne habe ich keine Orientierung.« »Warte mal. Wir sind in die falsche Richtung gegangen.« Sie muss seine Hand nehmen, ihn beruhigen, ihm zeigen, dass sie das Heft in der Hand hat. »Dann sind wir eben einmal in die falsche Richtung gelaufen. Wahrscheinlich war es kein sehr großer Kreis. Wir laufen nicht im Kreis herum. Der Wald verändert sich. Die Bäume verändern sich, werden größer, wir müssen also inzwischen weiter südlich sein. Das ist mir aufgefallen, ganz eindeutig. Wir müssen nur weitergehen. Ich bin mir sicher, morgen finden wir bestimmt den Fluss.« Er sieht nicht aus, als glaube er ihr. Er blickt zu Boden wie ein rebellisches Kind, das nicht nachgeben will, aber was soll er machen. Sie nimmt sein Gesicht in die behandschuhten Hände – für andere Intimitäten ist es zu kalt. »Espen … mein Liebster. Gib jetzt nicht auf. Wir sind so nahe dran. Wenn wir erst in Caulfield sind und ein Zimmer haben und vor dem Feuer sitzen, werden wir darüber lachen. Mit was für einem Abenteuer wir unser neues Leben beginnen!« »Und wenn wir es nicht bis Caulfield schaffen? Mein Pferd ist krank. Die beiden bekommen nicht genug zu fressen – und auch nicht zu trinken. Er frisst Rinde, und das ist ganz sicher nicht gut.« »Wir schaffen das schon. Wir werden schon irgendwo ankommen. Es sind nur drei Tage bis zum anderen Ende des Waldes. Morgen könnten wir schon den See erreichen! Dann wirst du dir töricht vorkommen.« Sie küsst ihn. Da muss er lachen. »Du bist eine Vargamor. Unglaublich. Kein Wunder, dass du immer bekommst, was du willst.« »Ha.« Line lächelt, aber sie findet das ebenso ungerecht wie falsch. Hatte sie gewollt, dass Janni in der Wildnis verlorengeht? Hatte sie nach Himmelvanger gehen und dort leben wollen? Aber wenigstens hat ihn das ein klein wenig aufgeheitert, und das ist die Hauptsache. Wenn sie ihn bei Laune hält, sie alle bei 420
Laune hält, dann wird alles gut. Als sie zusammen in ihrem erbärmlichen Unterschlupf liegen, die Kinder in ihren Armen, hört Line in ihrer Müdigkeit seltsame Dinge: das Knallen gefrierenden Harzes, das klingt wie ein Pistolenschuss, das Pfeifen des Schnees, der von den Ästen rutscht. Und einmal glaubt sie, ganz weit entfernt, Wölfe zu hören, die die leere Nacht anheulen, und trotz der Kälte prickelt Schweiß auf ihrer Haut. Am nächsten Morgen tut Espens Pferd keinen Schritt mehr. Es hat Rinde gefressen, und ein dünner Durchfall läuft an seinen Hinterbeinen herunter und besudelt den Schnee. Es steht da wie ein Bild des Jammers. Espen versucht, ihm einen Brei aus warmem Wasser und Haferflocken einzuflößen, doch es dreht den Kopf weg. Als sie schließlich aufbrechen, führt Espen es am Zügel, während die beiden Kinder vor Line im Sattel sitzen. Es ist wesentlich schwerer, ein Pferd zu führen – oder vielmehr hinter sich herzuschleifen – als nur zu gehen, und nach einer Stunde ruft Espen Line zu sich. »Das ist doch verrückt. Wir wären schneller, wenn wir es zurückließen. Aber das wäre furchtbar. Was, wenn wir schon fast am Fluss sind?« »Lass uns noch ein bisschen weitergehen. Vielleicht geht es ihm bald wieder besser. Es hat aufgehört zu schneien und ist ein bisschen wärmer geworden.« Das stimmt. Es schneit fast überhaupt nicht mehr, und man könnte meinen, dass der Schnee – zumindest teilweise – nicht mehr ganz so tief aussieht. »Es wird immer schwerer. Er will einfach nur stehen bleiben. Ich fürchte, bald will er sich hinlegen. Es ist so mühsam.« »Soll ich ihn mal ein Weilchen führen? Dann kannst du mit Torbin und Anna im Sattel sitzen, bis du dich ein bisschen erholt hast.« »Sei nicht albern. Das schaffst du nicht. Nein … Das schaffst 421
du nicht.« Das Pferd – Bengi, obwohl Line sich zwingt, nicht mit diesem Namen an ihn zu denken – legt die Ohren an. Sein Rücken wirkt noch eingesunkener als gestern, seine Augen sind trüb. »Und wenn wir ihn zurückließen? Wir könnten ihn später holen kommen.« »Lieber nicht.« Line seufzt. Mit vielem hat sie gerechnet, aber dass ein krankes Pferd ihr Steine in den Weg legen würde, damit nicht. Ein paar Schritte weiter sind die Kinder abgestiegen und spielen, wie ihnen gesagt wurde, damit ihnen nicht kalt wird, eher lustlos irgendein Spiel. »Armer alter Bengi.« Line klopft ihm den Hals. Das Pferd sieht sie warnend an. Sie fasst einen Entschluss. »Wir lassen ihn hier. Wenn er nicht mithalten kann, müssen wir ihn eben hierlassen. Wir sagen den Kindern, dass wir zurückkommen und ihn holen oder so was.« Espen nickt bedrückt. Unter anderen Umständen hätte Line geweint, würde man ein Pferd einfach so seinem Schicksal überlassen. Aber unter diesen Umständen nicht. Sie gehen zu den Kindern. Gerade, als Line den Mund aufmacht, hallt ein lauter Knall durch den Wald. Er ist so laut, dass Anna zusammenzuckt und beinahe hinfällt. Sie starren sich an. »Ein Jäger!«, ruft Espen aufgeregt. »Bist du dir sicher, dass es nicht bloß gefrierendes Harz war?«, fragt Line, weil jemand das fragen muss. »Es war zu laut dafür, und es klang auch anders. Das war ein Gewehr. Irgendwer jagt hier in der Gegend.« Er klingt so überzeugt. Die Kinder johlen so sehr vor Freude und Erleichterung, dass Line schließlich einstimmt. Hier sind Menschen. Die Zivilisation ist plötzlich in greifbare Nähe gerückt. »Mal sehen, ob ich ihn finde … nur, um ganz sicherzugehen, dass wir auf dem richtigen Weg sind«, fügt Espen hastig hinzu. 422
»Wie willst du wieder zurückfinden?«, fragt Line streng. »Macht ein Feuer. Ich bin nicht lange weg. Er muss ganz in der Nähe sein.« Espen ruft auf Englisch: »Hallo! Hey. Ist da wer? Hallo!« Ohne auf eine Antwort zu warten, dreht er sich wieder zu ihnen um. »Ich glaube, es kam von dort. Ich bin gleich wieder zurück. Wenn ich ihn nicht finde, komme ich auf schnellstem Wege zurück, versprochen.« Espen sieht sie mit einem breiten, zuversichtlichen Grinsen an und verschwindet zwischen den Bäumen. Das Geräusch seiner Schritte verschwindet in der Stille. Das andere Pferd, Jutta, seufzt tief auf.
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s ist sehr interessant, das Kommen und Gehen der Menschen in Hanover House zu betrachten. Wie die Leute auseinandergehen oder sich treffen. Ich beobachte die Szenerie, und was ich da sehe, zeigt mir, dass Olivier bei den anderen Angestellten nicht sehr beliebt ist. Er hält sich immer in Stewarts Nähe auf, erledigt Dinge für ihn und ahmt sogar einige seiner Verhaltensweisen nach. Es scheint eine gewisse Distanz zu geben zwischen Weißen und Nicht-Weißen, und es scheint, als sei Olivier ein Abtrünniger, der zur anderen Seite übergelaufen ist. Zuerst dachte ich, sie respektierten Stewart und mögen ihn sogar. Inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Respekt ist durchaus vorhanden, aber der von der wachsamen Sorte, wie man ihn einem möglicherweise gefährlichen Tier entgegenbringen würde. Norah hasst ihn, und obwohl sie Nesbit vermutlich liebt, behandelt sie beide gleich unhöflich. Stewart gegenüber ist sie derart anmaßend, dass ich mich frage, ob sie ihn irgendwie in der Hand hat – ich kann mir nicht vorstellen, wie sie sich das sonst erlauben kann. Und ein paarmal habe ich sie mit der Hübschen – Nancy – hier auf dem Flur gesehen. Da sie allem Anschein nach weder putzt noch bedient, frage ich mich, was sie hier macht. Kochen vielleicht. Ich warte darauf, dass etwas passiert. Zwei Stunden ist es her, dass der Suchtrupp zurückgekehrt ist. Ich wandere zwischen meinem Zimmer, der Küche und dem Esszimmer hin und her – dauernd fällt mir etwas ein, das noch zu erledigen wäre: Es fehlt an Kleinholz (weil ich es aus dem Fenster geworfen habe), oder ich habe Kaffee verschüttet. Damit mache ich mich bei Norah sehr unbeliebt, aber kurz nach sechs Uhr zahlt es sich endlich aus, denn ich höre eine lautstarke Auseinandersetzung aus Stewarts Büro. Wer da so laut schreit, ist niemand anders als 424
Nesbit. Er klingt hysterisch. »Herrgott noch mal, ich sagte Ihnen doch schon, ich weiß es nicht! Aber es ist weg, kein Zweifel.« Leises Gemurmel von Stewart. »Himmel, das ist mir egal! Sie haben es versprochen! Sie müssen mir helfen!« Wieder ein Brummen – irgendwas über »Nachlässigkeit«. Ich stehe auf dem Flur, schleiche mich auf Zehenspitzen näher heran und bete zum Gott der knarrenden Bodendielen. »Es muss einer von ihnen sein. Wer sonst sollte so etwas tun? Und da ist noch etwas … Half Man – Sie müssen ihn besser unter Kontrolle halten.« Das Murmeln wird noch leiser. Aus irgendeinem Grund beunruhigt mich das ganz besonders. Ich wage nicht, noch näher an die Tür heranzutreten. Was meint Nesbit mit »half man« – halber Mann? Will er Stewart beleidigen? Oder jemand anderen? Schwere Schritte nähern sich der Tür. Ich tripple davon und schaffe es bis ins Esszimmer, ehe jemand herauskommt. Moody, der in einem Sessel am Kamin sitzt, schaut auf, als ich eintrete. »Mrs Ross. Es gibt da etwas, über das ich mit Ihnen sprechen möchte …« »Augenblick …« Ich stelle die Kaffeekanne ab. Draußen scheint alles ruhig zu sein. »Tut mir leid, Mr Moody, ich glaube, ich habe etwas vergessen. Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.« Ich sehe noch, wie er, als ich die Tür schließe, in dem schmaler werdenden Rechteck ein langes Gesicht macht. Ich gehe den leeren Flur entlang. Stewarts Tür ist geschlossen. Ich klopfe. »Was ist?« Nesbits Stimme. Sehr übellaunig. »Ach, ich bin es nur, Mrs Ross. Darf ich hereinkommen?« »Ich bin im Augenblick sehr beschäftigt.« Trotzdem öffne ich die Tür. Nesbit sieht von seinem Schreib425
tisch auf – ich habe den Eindruck, er muss gerade halb darauf gelegen haben. Sein Gesicht ist blass und verschwitzt, und seine Haare sind noch wirrer als sonst. Mitgefühl regt sich. Ich weiß genau, wie er sich fühlt. »Ich sagte …« »Ich weiß, entschuldigen Sie bitte. Aber ich fühle mich schrecklich. Ich habe den Milchkrug zerbrochen. Es tut mir so leid.« Nesbit sieht mich mit gerunzelter Stirn und einer Mischung aus Unverständnis und Verärgerung an. »Du lieber Himmel, das ist doch nicht weiter tragisch. Wenn Sie nichts dagegen haben …« Ich mache einen weiteren Schritt in den Raum und schließe die Tür hinter mir. Nesbit windet sich. Er hat einen mörderischen Blick in den Augen, wie ein in die Enge getriebenes Tier. »Haben Sie etwas verloren? Ich weiß, wie ärgerlich so etwas ist. Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?« »Sie? Wovon reden Sie überhaupt?« Aber schon als ich die Tür zugemacht habe, hat er verstanden. Ich habe seine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Warum sollten Sie annehmen, ich hätte etwas verloren?« »Er bewahrt es für Sie auf, nicht wahr? Er lässt Sie darum betteln.« Es ist, als hätte ich eine Maske weggerissen. Sein Gesicht ist so bleich, dass es schon fast bläulich schimmert. Die Hände hat er zu Fäusten geballt, und am liebsten würde er mich schlagen, doch das wagt er nicht. »Wo ist es? Was haben Sie damit gemacht? Geben Sie es mir.« »Ich gebe es Ihnen wieder, wenn Sie mir etwas verraten.« Er runzelt die Stirn, aber es gibt ihm ein wenig Hoffnung. Er steht auf und macht einen Schritt auf mich zu, wagt aber nicht, mir zu nahe zu kommen. »Sagen Sie mir, wen man unter Kontrolle halten muss. Von 426
wem darf nicht geredet werden?« »Was?« »In der ersten Nacht habe ich gehört, wie Sie einer Frau sagten, sie solle kein Wort über ihn verlieren. Von wem war da die Rede? Und gerade eben sagten Sie zu Stewart, er müsse ihn besser unter Kontrolle halten. Sie sagten, er sei ein halber Mann. Wer? Sagen Sie mir, um wen es geht, und dann gebe ich es Ihnen zurück.« Er sinkt in sich zusammen. Er dreht den Kopf hierhin und dorthin. Er lächelt dünn. Irgendwie scheint er fast erleichtert. »Ach. Wir wollten nicht, dass Moody es erfährt. Wenn das der Company zu Ohren kommt … Einer unserer Männer hat den Verstand verloren. Es ist Nepapanees. Stewart versucht, ihn zu schützen, wegen seiner Familie …« »Nepapanees? Sie meinen, er ist gar nicht tot?« Nesbit schüttelt den Kopf. »Er lebt allein, wie ein Wilder. Bis vor ein paar Wochen ging es noch, aber jetzt ist er vollkommen verrückt geworden. Vielleicht sogar gefährlich. Das wäre eine entsetzliche Schande für seine Familie. Stewart war der Ansicht, es wäre besser, wenn seine Familie annähme, er sei tot.« Er schüttelt den Kopf. »Das ist alles. Ha …! Ich meine, das ist furchtbar.« »Und er war weg … nicht wahr, erst vor Kurzem?« »Er kommt und geht.« »Vor drei Wochen …« »Ich weiß nicht, wo er sich herumtreibt. Er ist vor etwa zehn Tagen zurückgekommen.« Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Oder fragen. Er sieht mich hinterhältig an. »Kriege ich es jetzt?« Kurz spiele ich mit dem Gedanken, die Flasche auf den Boden zu werfen, weil hier irgendetwas nicht stimmt, aber ich nicht weiß, was. »Bitte.« Er kommt noch einen Schritt näher. Ich ziehe sie aus der Tasche und halte sie ihm hin: die Flasche, 427
die ich gestern unter seiner Matratze hervorgeholt habe, während er bei Moody war. Er greift sie sich, sieht nach, ob ich etwas davon genommen habe – ein Reflex, eine Kurzschlussreaktion –, dann dreht er sich um und trinkt daraus. Ein Restchen Würde, das seine Privatsphäre schützen soll. Auf diese Weise dauert es eine Weile, bis es wirkt, aber vielleicht hat er keine andere Wahl. Er verharrt so und starrt die Gardinen an. »Und wo ist er jetzt?« »Ich weiß es nicht. Weit weg, hoffe ich.« »Stimmt das auch?« »Ja.« Ich kann die Flasche sehen, die er in der Hand hat. Was würde ich nicht dafür geben, sie zu nehmen und daraus zu trinken? Er sieht mich nicht mehr an. Seine Stimme ist leise und klingt schon wieder ganz gefasst. Woraufhin auch ich mich wieder fasse. Ich lasse ihn einfach stehen, dort am Schreibtisch, mit dem Rücken zu mir, die Schultern trotzig nach hinten gezogen. Ich gehe zurück zum Esszimmer. Nepapanees ein Verrückter? Jammets irrer Mörder? Das hatte ich doch eigentlich herausfinden wollen. Aber ich spüre keinen Triumph. Keine Befriedigung. Ich weiß nicht, was ich denken soll, aber ich kann das Bild einfach nicht aus meinem Kopf vertreiben, wie Elizabeth Bird da draußen im Schnee kauert und sich vor Kummer absichtlich verbrüht.
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ach ihrer Rückkehr geht Stewart zu ihr nach Hause. Er sieht besorgt aus wie der Vater eines ungezogenen Kindes. Bereit, nachsichtig zu sein, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. »Elizabeth, es tut mir so leid.« Sie nickt. Das ist leichter als Reden. »Ich habe mir schon den Kopf zermartert, wie das passiert sein kann. Habt ihr die Stelle gefunden?« Sie nickt wieder. »Ich bin mir sicher, dass seine Seele ihren Frieden gefunden hat, wo immer er auch sein mag.« Jetzt nickt sie nicht. Ermordete ruhen normalerweise nicht in Frieden. »Für den Fall, dass du dir Sorgen machst … Du kannst natürlich hierbleiben. Kein Grund, dich um deine Zukunft zu sorgen. Du hast hier immer ein Zuhause, solange du möchtest.« Sie spürt, auch ohne ihn direkt anzusehen, seine schrecklichen blauen Augen, die wie zwei glitzernde Fliegen, die sich an Aas gütlich tun, funkeln. Er sieht sie durchdringend an, versucht ihr die Kraft zu rauben, versucht ihren Willen dem seinen zu unterwerfen. Aber sie wird ihn nicht ansehen, so leicht wird sie es ihm nicht machen. Sie dreht den Kopf zur Seite in der Hoffnung, er werde weggehen. »Ich lasse dich jetzt allein. Wenn du irgendetwas brauchst, zögere bitte nicht, mich darum zu bitten.« Sie nickt zum dritten Mal. Sie denkt: nur über meine Leiche. Sie hört, wie Stewart Moody erklärt: »An Ihrer Stelle würde ich sie in Ruhe lassen. Sie steht immer noch unter Schock.« Die Stimmen entfernen sich. Aus purem Trotz springt Eliza429
beth auf und geht nach draußen. »Mr Moody … Kommen Sie doch herein, wenn Sie möchten.« Erstaunt drehen sich die beiden Männer um. Moodys Gesicht ist ein großes Fragezeichen. Elizabeth, die gar nicht mehr weiß, warum sie so schnell hinausgelaufen ist, kommt sich dumm vor. Moody besteht darauf, auf dem Boden zu sitzen, genau wie sie, obwohl er ein bisschen steif wirkt. »Geht es Ihnen gut? Ist es besser?« Ihr Blick wandert zu seinem Bauch, zu der Wunde, die sie am Abend vor vier Tagen verbunden hat. In einem anderen Leben, als sie noch die Frau ihres Mannes war. »Das war eine üble Wunde. Hat jemand versucht, Sie umzubringen?« »Nein.« Er lacht. »Oder, na ja, es geschah in einem Augenblick besinnungsloser Raserei und wurde zutiefst bedauert. Eine lange Geschichte. Aber ich bin hergekommen, um nach Ihnen zu sehen. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann …« »Danke. Sie waren sehr freundlich vorgestern.« »Nein …« Elizabeth gießt Tee in Emailbecher. Wieder schmeckt sie das Flusswasser, bitter vom Verrat. Vielleicht war der Hirsch ein Zeichen: Man hat mich umgebracht. Und du musst mich finden. Könnte sie doch nur um Rat beten, aber in die Holzkirche kann sie nicht gehen. Das ist Stewarts Kirche, sie hat eine Abneigung gegen sie. Bisher hat sie nicht oft über ihren Glauben nachgedacht. Sie ist immer davon ausgegangen, er sei irgendwo unter der Oberfläche vorhanden, er existiere einfach, ohne dass sie etwas dafür tun müsse, genau wie ihre Lungen eigenständig und ohne ihr Zutun atmeten. Vielleicht hat sie ihn zu sehr vernachlässigt. Jetzt, wo sie ihn braucht, scheint er verkümmert und beinahe verschwunden. »Beten Sie?« Moody sieht sie verblüfft an. Er überlegt, was er darauf antworten soll. Er sagt nicht einfach das, was er sagen zu sollen 430
meint, sondern denkt ernsthaft darüber nach. Das gefällt ihr, und auch, dass er nicht immer jedes kleinste Schweigen zu füllen versucht. »Ja, ich bete. Aber nicht so oft, wie ich eigentlich sollte. Nicht annähernd so oft.« Just in diesem Augenblick stolpert ihre kleine Tochter zur Tür herein. Sie hat gerade Laufen gelernt. »Amy, geh wieder zu Mary. Ich unterhalte mich gerade.« Das Mädchen sieht Donald an, dann dreht es sich um und wackelt wieder nach draußen. »Wir beten wohl nur …« Er bricht ab. »Ich wollte sagen, wir wenden uns nur in schweren Zeiten an Gott, wenn wir in Not sind, und ich war noch nie in großer Not. Noch nicht, Gott sei Dank.« Er lächelt. Er wirkt plötzlich bedrückt, verwirrt. Er spricht langsam, als falle es ihm schwer, die Worte richtig zu ordnen. Irgendetwas ist geschehen. »Ich kann es nicht.« Er sieht sie fragend an. »Beten.« »Sind Sie von Geburt an Christin?« Sie lächelt. »Die Missionare haben mich getauft, als ich zwanzig war.« »Sie kannten also auch … andere Götter. Beten Sie denn zu denen?« »Ich weiß es nicht. Ich habe noch nie inbrünstig gebetet. Sie haben Recht. Ich hatte auch nie einen Anlass.« Moody stellt seinen Tee ab und schlingt die Arme um die Knie. »Als kleiner Junge habe ich mich mal schrecklich verlaufen, in den Hügeln in der Nähe meines Elternhauses. Einen Tag und eine Nacht fand ich nicht nach Hause. Ich hatte Angst, für immer in den Hügeln herumzuirren und zu verhungern. Da habe ich gebetet. Ich habe gebetet, Gott möge mir den Weg nach Hause weisen.« 431
»Und?« »Mein Vater hat mich gefunden.« »Ihre Gebete wurden also erhört.« »Ja. Vermutlich gibt es Gebete, die nicht erhört werden können.« »Ich würde nicht darum bitten, dass mein Mann wieder lebendig wird. Ich würde nur um Gerechtigkeit bitten.« »Gerechtigkeit?« Er macht große Augen und sieht sie an, als habe sie Dreck im Gesicht. Er scheint ganz gefesselt, als habe sie plötzlich etwas unglaublich Aufregendes gesagt. Elizabeth stellt ihre Tasse ab. Eine lange Minute sagt keiner von ihnen ein Wort, sie starren nur in das Feuer, das knallt und zischt. »Amy. Ein schöner Name.« »Sie versteht nicht, warum ihr Vater nicht da ist.« Moody seufzt tief, dann lächelt er. »Entschuldigen Sie. Sie müssen mich wirklich für sehr unverschämt halten. Mir ist da gerade ein unglaublicher Gedanke gekommen. Bitte sagen Sie mir, wenn ich mich irre, aber ich kann es einfach nicht für mich behalten.« Er lacht unbehaglich, ohne den Blick von ihr zu wenden. »Ich weiß, jetzt ist schwerlich die richtige Zeit dafür. Aber ich kann nicht umhin, mich zu fragen … Der Name ihrer Tochter. Und Ihr eigener … Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll … Waren Sie je … waren Sie früher eine Seton?« Elizabeth starrt in die Flammen, und ein lautes Pfeifen in ihren Ohren verschluckt, was er als Nächstes sagt. Ein überwältigendes Verlangen, zu lachen oder etwas ähnlich Dummes zu tun, droht sie zu ersticken. Sein Mund bewegt sich. Er entschuldigt sich, denkt sie wie aus weiter Ferne. Längst vergessene Dinge erscheinen plötzlich glasklar. Ein Vater. Eine Schwester. Eine Mutter. Nein, ihre Schwester nicht. Ihre Schwester hatte sie nicht vergessen. Langsam dringt seine Stimme wieder zu ihr durch. »Sind Sie Amy Seton?« Moody beugt sich vor, hochrot vor Erregung, weil 432
er im Begriff ist, eine bedeutsame Entdeckung zu machen. »Ich sage es niemandem, wenn Sie das nicht möchten. Ich schwöre bei meiner Ehre, dieses Geheimnis für mich zu behalten. Sie haben hier ein eigenes Leben, Ihre Kinder … Ich würde es nur gern wissen.« Dieses Vergnügen will sie ihm nicht gönnen. Das steht ihm nicht zu. Sie ist kein Schatz, den man finden und für sich beanspruchen kann. »Mr Moody, ich weiß nicht, was Sie damit meinen. Ich heiße Elizabeth Bird. Mein Ehemann ist vorsätzlich getötet worden. Was soll ich tun? Was werden Sie tun?« »Vorsätzlich? Wie kommen Sie denn darauf?« Sie sieht, wie er mit einiger Mühe von einer Aufregung zur nächsten springt. Es bekommt ihm nicht, er kommt damit nicht gut zurecht. Es scheint ihr, als beobachte sie aus der Ferne, wie er nach Luft schnappt und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Magen hält. Er ist hochrot. Er hätte ihr nicht eine derart persönliche Frage stellen dürfen. Schließlich erholt er sich wieder etwas. Er hechelt wie ein Hund. »Was wollen Sie damit sagen? Dass … Stewart Ihren Mann umgebracht hat?« »Ja.« »Warum sollte er?« »Das weiß ich nicht.« Sie sieht ihn unverwandt an. Er muss irgendetwas wissen. Sie kann sehen, wie sein Gehirn arbeitet. Dann macht er den Mund auf. »Entschuldigen Sie die Frage … War Ihr Mann verrückt?« Elizabeth starrt ihn an und fühlt sich ganz klein und schwach. Sie fällt in sich zusammen, löst sich in Tränen auf. »Hat er das gesagt?« Tränen laufen ihr über das Gesicht, ob vor Wut oder Trauer, weiß sie nicht, aber plötzlich ist ihr ganzes Gesicht nass. »Er war nicht verrückt. Das ist eine Lüge. Da können Sie jeden hier fragen. Half Man ist der einzige Verrückte.« 433
»Half Man? Wer ist denn Half Man?« »Der, über den wir nicht reden sollen!« Elizabeth steht auf. Das ist zu viel auf einmal. Sie läuft im Kreis um das Feuer herum, immer wieder. »Wenn Sie so klug sind, wenn Sie so viel sehen, warum machen Sie dann nicht die Augen auf?«
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enn das Wetter es zulässt, breche ich morgen auf.« Ich starre Parker mit offenem Mund an. Mir schnürt sich augenblicklich die Brust zu, als hätte ich Keuchhusten. Ein unangenehmer Druck, der es mir unmöglich macht zu atmen. Schon seit er an meine Tür geklopft hat und ich ihn hereingelassen habe, atme ich schnell und stoßweise, weil ich mich ständig frage, was er will. »Das können Sie nicht! Es ist noch nicht zu Ende.« Kurz erwidert er meinen Blick, trotzig, aber nicht erstaunt. Inzwischen kennt er mich wohl gut genug. »Ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit, es zu Ende zu bringen.« Ich weiß nicht, was ich sagen wollte, als ich den Mund aufgemacht habe, doch nun weiß ich es. Wir alle haben uns darauf verlassen, dass Parker uns den Weg weist, von unserer ersten Begegnung in Dove River an bis jetzt. Auch Moody, ganz gleich, wie sehr er den Gedanken auch verabscheuen mag. »Wie können Sie es denn zu Ende bringen?« Parker stockt. Sein Gesicht wirkt ganz anders: weicher, weniger gefasst, aber vielleicht liegt das auch nur am Schein der Lampe. »Morgen früh halte ich Stewart irgendwie den Packzettel, den Sie mir gegeben haben, unter die Nase. Dann weiß er Bescheid, wenn er es nicht ohnehin schon weiß, dass ich mit Jammet unter einer Decke gesteckt habe. Ich sage ihm, dass ich aufbreche, und wenn ich Recht habe …« Hier unterbricht er sich. »Und wenn er der Mann ist, für den ich ihn halte, wird er nicht widerstehen können, mir zu folgen, für den Fall, dass ich ihn zu den Fellen führe.« 435
»Aber wenn er Jammet hat umbringen lassen … dann könnte er auch Sie töten.« »Ich bin darauf vorbereitet.« »Das ist zu gefährlich. Sie können das nicht allein machen. Er wird auch nicht allein sein – er hat bestimmt diesen … Half Man dabei.« Parker zuckt die Achseln. »Soll ich vielleicht Moody mitnehmen?« Er lächelt, weil das schier unvorstellbar ist. »Außerdem muss er hierbleiben. Er muss beobachten, ob Stewart mir folgt. Dann weiß er Bescheid.« »Aber, aber Sie sind …« Ich versuche, die Fakten in meinem Kopf wieder zu ordnen. Beweise … welche anderen Beweise könnte es geben, außer Stewarts Geständnis? »Sie können nicht allein gehen. Ich komme mit. Vier Augen sehen mehr als zwei. Ich könnte … Sie brauchen einen Zeugen. Einen Zeugen, der bestätigen kann, was Sie aussagen. Sie sollten nicht allein gehen!« Meine Wangen glühen. Parker lächelt wieder, aber sehr sanft. Er streckt die Hand aus, berührt fast mein Gesicht, hält aber kurz davor inne. Ich spüre Tränen in den Augen, die drohen, meine Fassung fortzuspülen, meine Würde, einfach alles. »Sie sollten hierbleiben. Moody braucht Sie. Er ist sonst aufgeschmissen.« Und was ist mit mir?, denke ich. Diese Worte höre ich so deutlich, dass ich mir nicht sicher bin, sie nicht laut ausgesprochen zu haben, doch Parker zeigt keinerlei Anzeichen, etwas gehört zu haben. Ich versuche, meiner Stimme nichts anmerken zu lassen. »Ich weiß ja nicht, welchen Beweis Stewart Ihrer Meinung nach liefern soll, außer dass er Sie umbringt. Das wäre vermutlich ein schlüssiger Beweis. Und … und was, wenn er stattdessen jemand anderen hinterherschickt? Wenn Sie allein aufbrechen und nicht zurückkommen, würde das Mr Moody 436
vermutlich nicht genügen. Das würde überhaupt nichts beweisen.« »Nun«, Parker schaut zu Boden, einen Anflug von Ungeduld in der Stimme, »das sehen wir dann ja morgen früh. Vielleicht erzählt Stewart uns ja auch alles. Gute Nacht, Mrs Ross.« Ich beiße mir auf die Zunge, gekränkt und wütend. Parker mag das vielleicht nicht bewusst sein, aber in diesem Raum gibt es zwei Menschen, die nicht aufgeben, bis sie eine Sache zu Ende gebracht haben. »Gute Nacht, Mr Parker.« Er geht hinaus, und hinter ihm schließt sich lautlos die Tür. Ich bleibe eine ganze Weile wie angewurzelt stehen und frage mich, als hätte ich sonst nichts, worüber ich mir den Kopf zerbrechen könnte, ob er weiß, wie ich mit Vornamen heiße. In dieser Nacht habe ich einen Traum. Ich träume auf eine vage und doch verstörende Art von Angus. Ich drehe den Kopf hin und her, weil ich mich von meinem Mann abwenden will. Er schimpft nicht mit mir. Das kann er nicht. Mitten in der Nacht wache ich auf, in einer Stille, die so tief ist, dass ich glaube, nicht aufstehen zu können, selbst wenn ich es wollte. Tränen trocknen auf meinem Gesicht, sie sind kalt und jucken auf der Haut. So lange habe ich mich gefragt, warum er immer so distanziert war. Stets hatte ich angenommen, es müsse an etwas liegen, das ich getan hatte. Und dann, als Parker mir das mit Jammet erzählt hat, dachte ich, es müsse an Francis liegen, weil er es wusste und ihn dafür verabscheute. Tatsächlich aber hat es schon lange vorher angefangen. Ich vergrabe das Gesicht ins Kissen, das nach Moder und Feuchtigkeit riecht. Der Baumwollüberzug ist so kalt wie Marmor. Erst hier, allein und im Dunkeln, kann ich diesen Gedanken freien Lauf lassen. Gedanken, die von nirgendwoher kommen, aus Träumen, die mich irremachen und mich nicht 437
mehr loslassen. Ich sehne mich wieder nach Schlaf, denn im Schlaf kann ich die Fesseln dessen sprengen, was möglich und richtig ist. Aber wie schon so oft in meinem Leben sehe ich wieder einmal ein, dass das, wonach wir uns am meisten sehnen, sich uns entzieht.
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onald drückt eine Hand gegen die Fensterscheibe. Sie schmilzt den Reif, der sich über Nacht auf der Innenseite der Scheibe gebildet hat, und hinterlässt einen klaren Abdruck: Die Kälte wird immer zwingender. Der Winter schreitet fort. Bald müssen sie aufbrechen, sonst werden sie in Hanover House eingeschneit. Gestern hat er den Brief an Maria zu Ende geschrieben. Heute Morgen hat er ihn noch einmal durchgelesen. Er glaubt, den richtigen Ton getroffen zu haben – nicht übermäßig herzlich, aber am Ende des Briefes verleiht er seinem tief empfundenen Wunsch Ausdruck, sie wiederzusehen und die anregenden Gespräche mit ihr fortzusetzen. Welch eine Erleichterung, endlich sagen zu können, was er denkt! Er faltet den Brief und steckt ihn in einen Umschlag, adressiert ihn aber nicht. Ihm graut bei der Vorstellung, andere könnten seine Briefe lesen. Er ist sich sicher, dass Mrs Ross in ihrer neugierigen, aufdringlichen Art bei einem ihrer Besuche auf seinem Zimmer einen der Briefe an Susannah gesehen haben muss. Susannah. Nun … da er noch nie in einer solchen Situation war, weiß Donald nicht so recht, wie er weiter vorgehen soll. Er glaubt, todunglücklich wird sie nicht sein – schließlich, so sagt er sich, wurde eigentlich nichts gesagt. Nichts versprochen. Ihm ist sehr unbehaglich zumute, weil sein Benehmen nicht gerade vorbildlich ist, und Donald möchte sich gern vorbildlich verhalten. Aber er erkennt, sehr viel klarer als noch in Caulfield, dass Susannah ein robustes Wesen hat. Und obwohl er das weiß, schilt er sich dafür, sich damit zu trösten. Vielleicht sollte er die Briefe an sie nicht zustellen lassen. Vielleicht sollte er sie alle noch einmal neu schreiben, um jede überflüssige Sentimentalität daraus zu tilgen. In diesem kritischen Augenblick, als Donald 439
noch am Tisch sitzt, umgeben von seinen Schreiben an die Knox-Schwestern, klopft es an der Tür. Es ist Parker. Stewart ist in seinem Büro, eine Tasse Kaffee auf dem Schreibtisch, ein Feuer im Kamin, das jedoch den Kampf gegen die metallische Kälte verliert, die durch Fenster, Tür und sogar die Wände hereinkriecht. Donald, der wieder einmal glaubt, die Führung übernehmen zu müssen, was er Parker und Mrs Ross auch gesagt hat, räuspert sich angriffslustig. »Mr Stewart, verzeihen Sie bitte die Störung zu früher Stunde. Wir müssen mit Ihnen reden.« Stewart bemerkt den Ernst in seiner Stimme, lächelt aber trotzdem, als er sie hereinbittet. Er bestellt noch ein paar Tassen – diesmal kommt Nancy auf sein Klingeln herein und geht sie holen. Donald blickt angestrengt zu Boden, solange sie im Zimmer ist, und hofft, die Hitze auf seinen Wangen möge unsichtbar sein. Aber es sieht ihn ohnehin niemand an. Donald setzt an. »Ich glaube, Sie sollten den wahren Grund für unsere Anwesenheit erfahren.« Er ignoriert den Blick, den Mrs Ross ihm zuwirft. Parkers Gesicht kann er nicht sehen, da er neben Stewart vor dem Fenster und dadurch im Schatten sitzt. »Wir sind einer Spur gefolgt. Sie führte von Dove River Richtung Norden, und wir haben gute Gründe zu der Annahme, dass sie hierherführt.« »Sie meinen, das war nicht Mrs Ross’ Sohn?« »Nein. Zumindest nicht bis hierher. Und es gibt hier Männer, die man vor uns geheim gehalten hat.« Stewart nickt mit ernstem Gesicht und gesenktem Blick. »Ich glaube, einiges von dem, was gesagt wurde, muss Sie in die Irre geführt haben. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Ich sage Ihnen, was ich weiß, vielleicht kann ich damit einige Lücken füllen. Was ich gesagt habe, entspricht der Wahrheit – Nepapanees war einer meiner besten Leute. Ein fleißiger Arbeiter, ein 440
erfahrener Steuermann, ein hervorragender Fährtensucher. Aber vor über einem Jahr ist etwas mit ihm geschehen. Normalerweise liegt so etwas am Alkohol, wie Sie vermutlich wissen …« Dabei wirft er Donald einen Blick zu, spricht sie aber gleichzeitig alle an. »Doch nicht in diesem Fall. Zumindest anfangs nicht. Ich weiß nicht, woran es lag, aber er wurde zunehmend geistig umnachtet. Er erkannte seine Frau nicht mehr. Er erkannte seine eigenen Kinder nicht mehr. Letztes Frühjahr hat er das Fort verlassen, und allem Anschein nach lebte er wie ein Wilder. Gelegentlich kam er hierher, aber es war besser für alle, wenn er sich fernhielt. Vor einigen Wochen ist er dann für längere Zeit verschwunden. Mich beschlich der Verdacht, er könne etwas Schlimmes getan haben. Als Sie dann kamen, verstärkte sich dieses Gefühl noch. Aber da …« Er zuckt die Achseln und lässt die Schultern hängen. »Ich wollte nicht noch mehr Schande über seine Frau und seine Familie bringen. Das wollte ich ihnen ersparen. Nesbit und ich waren uns einig, es sei besser, das Ganze zu … vertuschen. So zu tun, als sei er tot. Das war dumm, ich weiß.« Er schaut auf, und er scheint Tränen in den Augen zu haben. »In gewisser Weise wünschte ich, er wäre es. Ein armer Kerl, der denen, die ihn lieben, viel Kummer bereitet hat.« »Aber wie konnten Sie seiner Frau sagen, er sei tot? Wie konnten Sie ihr solches Leid antun?« Mrs Ross beugt sich nach vorn, sie durchbohrt Stewart mit Blicken, ihr Gesicht ist blass und angespannt, und sie knistert nur so vor einer kaum zu verbergenden Gefühlswallung, die vermutlich Wut ist. »Glauben Sie mir, Mrs Ross, ich habe viel darüber nachgedacht. Ich bin zu dem Schluss gekommen, tot wäre er für sie und ihre Kinder auf lange Sicht besser zu ertragen als lebendig.« »Aber wie glaubten Sie denn, ihn vor ihr verstecken zu können? Er wurde erst vor zwei Tagen hier gesehen!« Stewart wird einen Moment lang ganz still, ehe er aufblickt, und man sieht, wie unangenehm ihm das ist. »Ich war töricht. 441
Ich habe mich dazu hinreißen lassen … Manchmal hatte ich in den vergangenen Jahren, im Winter ganz besonders, das Gefühl, meiner Urteilsfähigkeit verlustig zu gehen. Aber wenn Sie ihn mit seinen Kindern gesehen hätten … wie er sie anstarrte, als sie auf ihn zuliefen, sie aufs Übelste beschimpfte, hass- und angsterfüllt … Nur Gott weiß, für welche Dämonen er sie gehalten haben muss. Es war entsetzlich, ihre Gesichter zu sehen.« Stewart sieht aus, als hätte er einen Geist gesehen. Als hätte er die Szene immer noch vor Augen. Donald tut er plötzlich leid. Er kann sich nur zu gut vorstellen, wie ein endloser Winter nach dem anderen an den Nerven zehren muss. Mrs Ross sieht Parker an und dann wieder Stewart. Fast, als sei Donald gar nicht da. »Wer ist Half Man?« Stewart lächelt gequält. »Ach. Da haben Sie’s …« Er schaut auf, und diesmal sieht er Mrs Ross direkt an. »Half Man ist auch einer dieser Unglücksseligen. Ein Gewohnheitstrinker. Er ist Norahs Mann, also geben wir ihm hin und wieder zu essen. Er ist Fallensteller, aber kein besonders guter.« Er wirkt so entblößt, dass es Donald schon fast peinlich ist. Welches Recht haben sie, diesen Mann dazu zu zwingen, seine Nöte vor ihnen auszubreiten? »Ich muss mich dafür entschuldigen, Sie in die Irre geführt zu haben. In einer Handelsgesellschaft, besonders einer wie der Unsrigen …« – wieder wirft er Donald einen Blick zu, woraufhin Donald erneut beschämt zu Boden sieht – »… möchte man gern als guter Führer dastehen, in gewisser Weise als Vater derer, die einem anvertraut wurden. Ich bin diesen Leuten kein guter Vater gewesen. Es ist schwierig gewesen, doch das ist keine Entschuldigung.« Mrs Ross lehnt sich zurück, mit einem verwirrten, geistesabwesenden Blick. Parkers Gesicht wirkt undurchdringlich, als sei er sein eigener Schatten. Donald fällt ihm ins Wort. 442
»So was kommt überall vor. Es gibt Trunkenheit, und es gibt Irrsinn. Es fällt nicht auf Ihre Führungsqualitäten zurück, wenn einige Ihrer Männer auf Abwege geraten.« Stewart neigt den Kopf. »Sehr freundlich von Ihnen, das zu sagen, aber dem ist nicht so. Wie auch immer, Ihr Interesse gilt dem Mann, den Sie verfolgt haben … Wie ich vermute wegen etwas, das er getan hat. Ein … Verbrechen?« Donald nickt. »Wir müssen ihn finden und ihn befragen, ganz gleich, in welcher Verfassung er auch sein mag.« »Ich weiß nicht so genau, wo er ist, aber wir können ihn wohl ausfindig machen. Aber wenn Sie auf der Suche sind nach einem Verbrecher, so werden Sie ihn nicht finden. Er weiß nicht mehr, was er tut.« Noch während Stewart redet, kramt Parker Pfeife und Tabak aus der Tasche. Dabei fällt ein Stückchen Papier auf den Boden zwischen seinen Stuhl und den von Stewart. Parker merkt es nicht, er zieht Tabak aus dem Beutel und stopft ihn in den Pfeifenkopf. Stewart sieht den Zettel und bückt sich, um ihn aufzuheben. Für den Bruchteil einer Sekunde zögert er, die Hand am Boden, dann reicht er Parker den Fetzen Papier zurück, ohne ihn dabei anzusehen. »Ich sorge dafür, dass ein paar Männer sich auf die Suche nach ihm machen. Sie sollten seine Spur verfolgen können.« Parker stopft das Zettelchen wieder in die Tasche, ohne dabei sein Ritual des Pfeifestopfens zu unterbrechen. Das Ganze hat nicht länger gedauert als vielleicht drei Sekunden. Die beiden Männer haben während des gesamten Gesprächs Seite an Seite gesessen, ohne sich auch nur einmal anzusehen.
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K
urz vor dem Ende des Flurs dreht Parker sich zu mir um. »Ich mache mich bereit aufzubrechen.« »Sie wollen wirklich gehen?« Ich dachte, er hätte die Antworten auf seine Fragen bekommen. Wie dumm von mir. Natürlich glaubte er kein Wort von dem, was Stewart uns erzählt hat. »Er hat nicht gesagt, er hätte Nepapanees nicht nach Dove River geschickt.« Dass er sich so sicher ist, ärgert mich, also sage ich nichts darauf. Er sieht mich mit seinem eigenartig durchdringenden Blick an, der höchste Aufmerksamkeit verrät, ohne auch nur den geringsten Hinweis auf den Gegenstand oder die Art des Interesses zu geben. Nur die tiefen Falten in seinem Gesicht lassen Wut oder Gewaltbereitschaft vermuten. Ich weiß, dass dem nicht so ist. Oder ich wiege mich in falscher Sicherheit. »Haben Sie das Hemd aus Elbow Ridge noch?« »Natürlich habe ich das noch. Es liegt zusammengerollt ganz unten in meinem Beutel, unter meinem pelzgefütterten Mantel.« »Holen Sie es.« Auf halbem Weg über das freie Gelände hinter den Lagerhallen bricht die Sonne durch eine Wolkenlücke. Ein Sonnenstrahl, so massiv wie eine Freitreppe, fällt auf die Ebene jenseits der Palisade und beleuchtet eine mit Schnee bestäubte und mit glitzernden Eiszapfen behängte Krüppelweide. Das Licht ist so blendend weiß, dass es in den Augen schmerzt. So plötzlich wie ein Lächeln lässt die Sonne auf dieser öden Ebene Schönheit aufleuchten. Aus der Ferne besehen sieht alles makellos aus. Jenseits des Palisadenzauns liegt eine vollkommene Landschaft wie eine in Salz geschnitzte Skulptur, kristallin und unberührt. Wir aber stiefeln durch wider444
wärtigen Schneematsch, der völlig zertrampelt ist und verschmutzt von den Ausscheidungen der Hunde. Die Witwe ist mit einem ihrer Söhne, einem ernst wirkenden, ungefähr achtjährigen Jungen, in ihrer Hütte. Sie kocht Fleisch in einem Kessel über dem offenen Feuer und hockt daneben. In meinen Augen sieht sie dünner und noch mitgenommener aus als beim letzten Mal, als ich sie gesehen habe, und irgendwie auch indianischer, obwohl sie mit ihren feinen Gesichtszügen unter all den anderen am eindeutigsten ein Halbblut ist. Mit reglosem Gesicht schaut sie auf, als Parker ohne zu klopfen eintritt und etwas sagt, das ich nicht verstehe. Sie antwortet ihm in derselben fremden Sprache. Meine Reaktion daraufunvermittelt und heftig eifersüchtig – verschlägt mir den Atem. »Setzen Sie sich«, sagt sie teilnahmslos. Das tun wir und setzen uns auf Decken um das Feuer herum. Der Junge sieht mich unverwandt an – mit winterlichen Unterröcken ist es nicht ganz einfach, sich elegant auf den Boden zu setzen, aber ich gebe mir Mühe. Parker redet ein wenig um den heißen Brei herum, erkundigt sich nach den Kindern und spricht ihr sein Beileid aus, woraufhin ich zustimmend murmle. Schließlich kommt er aber doch zur Sache. »Hat Ihr Mann je die Norweger-Pelze erwähnt?« Elizabeth sieht erst ihn an und dann mich. Bei ihr scheint es nicht zu klingeln. »Nein. Er hat mir nicht alles erzählt.« »Und die letzte Reise, die er unternommen hat – welchen Zweck hatte die?« »Stewart wollte jagen. Er nahm fast immer meinen Mann mit, weil er der beste Fährtenleser war.« Leiser Stolz schwingt in ihrer Stimme mit. »Mrs Bird, ich frage Sie das nur ungern, aber war Ihr Mann krank?« »Krank?« Sie blickt unvermittelt auf. »Mein Mann war nie krank. Er war stark wie ein Ochse. Warum sagen Sie das? Hat 445
Stewart das behauptet, hm? Ist er darum auf das Eis hinausgegangen, das er sonst nie betreten hätte?« »Er sagt, er sei krank gewesen und hätte seine eigenen Kinder nicht mehr erkannt.« Parker redet leise, damit der Junge es nicht versteht. Elizabeths Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse – ob vor Abscheu oder Verachtung oder Wut oder allen dreien –, und als sie sich nach vorn beugt, leuchtet ihr Gesicht grell orange im Schein des Feuers. »Das ist eine gemeine Lüge! Er war immer der beste Vater, den man sich nur vorstellen kann.« Sie hat etwas Erschreckendes an sich, etwas Hartes, Unerbittliches, aber, so scheint es mir, doch sehr Wahrhaftiges. »Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?« »Vor neun Tagen, als er mit Stewart aufgebrochen ist.« »Und wann war er davor das letzte Mal unterwegs?« »Im Sommer. Die letzte Reise, die sie unternommen haben, ging zum Cedar Lake, und das war im Spätsommer.« »Im Oktober war er hier, und Anfang November?« »Ja. Die ganze Zeit. Warum wollen Sie das alles wissen?« Ich sehe Parker an. Jetzt bleibt uns nur noch eins zu tun. »Mrs Bird, verzeihen Sie die Frage, aber hätten Sie ein Hemd Ihres Mannes, das Sie uns zeigen könnten? Wir würden gerne mal einen Blick darauf werfen.« Sie funkelt Parker an, als sei das der Gipfel der Unverfrorenheit. Trotzdem steht sie ruckartig auf und geht in den hinteren Teil der Hütte, hinter einen Vorhang. Als sie zurückkommt, hat sie ein gefaltetes blaues Hemd dabei. Parker nimmt es und breitet es auf dem Boden aus. Ich nehme die schmutzige, in Kattun gewickelte Rolle heraus. Dann wickle ich sie auf. Das Hemd ist steif und schmutzig, und die dunklen Flecken verbreiten einen widerwärtigen Gestank. Der Junge beobachtet uns mit ernster Miene. Elizabeth steht mit verschränkten Armen da und sieht uns mit hartem, wütendem Blick zu. 446
Sofort sehe ich, dass das saubere Hemd kleiner ist als das andere. Es scheint unbestreitbar, dass sie nicht ein und demselben Mann gehört haben können. »Danke, Mrs Bird.« Parker gibt ihr das Hemd ihres Mannes zurück. »Das nützt mir jetzt auch nichts mehr. Wer soll das jetzt noch anziehen?« Sie hat die Arme immer noch verschränkt. »Sie haben es gewollt, dann können Sie es jetzt auch behalten.« Sie hat die Lippen unwirsch verzogen. Parker ist ganz verwirrt. Das ist eine neue und erfrischende Erfahrung für mich – zu sehen, dass er ausnahmsweise einmal nicht weiß, was er tun soll. Zum ersten Mal mache ich den Mund auf. »Danke, Mrs Bird. Es tut mir leid, dass wir danach fragen mussten, aber Sie haben uns sehr geholfen. Sie haben bewiesen, dass Stewart gelogen hat.« »Was kümmert mich das? Es ist mir schnurz, ob ich Ihnen geholfen habe! Als ob mir das meinen Mann zurückbrächte!« Ich stehe auf und nehme das besudelte Hemd an mich. Parker hat das andere immer noch in der Hand. »Es tut mir so leid.« Auf einer Höhe mit ihr, nur zwei Fuß von mir entfernt, sehe ich ihr direkt in die Augen, die von einem klaren Graubraun sind und augenblicklich in einer Maske aus Zorn und Verzweiflung funkeln. Das macht mich ganz klein. »Wirklich. Wir wollen …« Ich warte darauf, dass Parker mir ins Wort fällt und erklärt, was wir nun zu tun gedenken. Von mir aus jetzt gleich. Er ist inzwischen auch aufgestanden, scheint aber erleichtert, dass ich das Reden übernommen habe. »Wir wollen Gerechtigkeit.« »Gerechtigkeit!« Sie lacht, aber es klingt mehr wie ein wütendes Knurren. »Und mein Mann? Stewart hat meinen Mann umgebracht. Was ist mit dem?« »Auch für ihn.« Ich gehe rückwärts in Richtung Tür und 447
möchte lieber gehen als hierbleiben und erfahren, warum sie sich ihrer Sache so sicher ist. Elizabeth Bird verzieht das Gesicht – es sieht aus wie ein Lächeln, ist es aber nicht. Die Schädelknochen unter der Haut treten dadurch deutlicher hervor, und ihr Kopf sieht aus wie ein Totenschädel, der sich zwar bewegt, aber nicht lebendig ist. Fahl und bleich, blutleer und voller Hass. Auf dem Weg zurück zum Hauptgebäude reicht Parker mir das saubere Hemd, als könne er die Schande nicht mehr ertragen, es in Händen zu halten. Er fühlt sich schuldig, weil er sie verärgert hat. »Das zeigen wir Moody«, sage ich. »Dann muss er es einsehen.« Parker schüttelt ganz leicht den Kopf. »Das reicht nicht. Dieses Hemd könnte schon monatelang da gelegen haben.« »Das glauben Sie doch nicht im Ernst! Und Sie glauben ihr doch auch – was den Tod ihres Mannes angeht, nicht wahr?« Parker wirft mir einen kurzen Blick zu. »Ich weiß es nicht.« »Dann wollen Sie also doch gehen?« Wortlos bejaht er das. Ich habe wieder diesen altbekannten Druck auf der Brust und bekomme keine Luft mehr, obwohl wir bloß ein paar dutzend Schritte gegangen sind. »Wenn er seinen Fährtensucher umgebracht hat, wäre es Irrsinn, alleine loszuziehen. Ich leihe mir ein Gewehr aus. Wenn Sie mich nicht mitnehmen, folge ich einfach Ihrer Spur, und damit basta.« Parker sagt erst mal gar nichts, dann sieht er mich wieder an, und sein Blick ist ein wenig ironisch, wie mir scheint. »Meinen Sie nicht, die Leute werden reden, wenn Sie uns gemeinsam aufbrechen sehen?« Mein Herz macht einen gewaltigen Satz, als das Gewicht mir wie ein Stein vom Herzen fällt. Plötzlich sieht selbst dieser heruntergekommene Posten in meinen Augen strahlend schön 448
aus, als die Sonne die schmuddeligen Schneewehen am Zaun in einem leuchtenden, bläulichen Weiß bescheint. In diesem Augenblick bin ich mir ganz sicher, dass wir, ganz gleich, wie groß die Gefahr auch sein mag, wir, mit dem Recht auf unserer Seite, gar nicht anders können als siegen. Dieses Gefühl hält sich beinahe, bis ich an meiner Zimmertüre ankomme.
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aurent war oft geschäftlich unterwegs. So viel wusste Francis und wusste damit genauso viel oder genauso wenig wie alle anderen über seine geheimnisvollen Abwesenheiten. Im Sommer verschwanden die Wölfe aus den umliegenden Wäldern, also war das die Zeit, in der Laurent Handel trieb. In diesem Sommer schien er besonders beschäftigt – aber vielleicht war es auch bloß das erste Mal, dass es Francis kümmerte, ob er da war oder nicht – und fuhr nach Toronto und nach Sault. Als Francis ihn nach seinen Reisen fragte, gab Laurent unverbindliche oder gar ausweichende Antworten. Er scherzte darüber, betrunken in Bars gelegen oder Prostituierte besucht zu haben. Vielleicht waren es aber auch keine Scherze. Als er das erste Mal von einem Bordell erzählte, sah Francis ihn sprachlos vor Entsetzen an und spürte einen heftigen, furchtbaren Schmerz in der Brust. Laurent fasste ihn an den Schultern, lachte und schüttelte ihn grob, und Francis verlor die Beherrschung und schrie ihn an. Er brüllte ihm verletzende Dinge ins Gesicht, an die er sich hinterher nicht mehr erinnern konnte. Laurent lachte ihn aus und verlor dann plötzlich selbst die Beherrschung. Sie schleuderten sich Beleidigungen entgegen, bis plötzlich Stille einkehrte und sie sich nur noch anstarrten, taumelnd und wie hypnotisiert. Francis war verletzt und verletzend. Laurent hatte eine schneidende, grausame Art, ihn herabzusetzen, doch danach entschuldigte er sich und war so ernst und süß und flehend – beim ersten Mal fiel er sogar auf die Knie, bis Francis lachen musste und ihm aus ganzem Herzen verzieh. Dabei kam Francis sich furchtbar alt vor – älter noch als Laurent. Und dann gab es da die Männer, die Laurent zu Hause besuchten. Manchmal, wenn Francis hinging und vor der Hütte pfiff, bekam er keine Antwort. Das hieß dann, dass Laurent Besuch hatte, der oft über Nacht blieb, ehe er wieder seine Sachen packte und 450
davontrottete, die Hunde auf den Fersen. Francis entdeckte in sich einen ausgeprägten, erschreckenden Hang zur Eifersucht. Mehr als einmal kam er früh am Morgen zurück und versteckte sich in der Hecke hinter der Hütte und wartete darauf, dass die Männer gingen, und dann suchte er in ihren Gesichtern nach Hinweisen, fand aber nie etwas. Die meisten Männer waren Franzosen oder Indianer. Verrucht aussehende Männer, die von weither kamen und mehr daran gewohnt waren, unter freiem Himmel als unter einem festen Dach zu schlafen. Sie brachten Laurent Pelze, Tabak und Munition, und sie gingen, wie sie gekommen waren. Manchmal schienen sie aber auch gar nichts mitzubringen oder mitzunehmen. Einmal, nach einem besonders heftigen Streit, erzählte Laurent ihm, die Männer kämen, weil sie etwas zusammen aufbauen wollten, eine Handelsgesellschaft, und das sei ein Geheimnis, weil sie den Zorn der Hudson Bay Company auf sich ziehen würden, wenn es herauskäme, und das wolle man um jeden Preis vermeiden. Francis war außer sich vor Erleichterung und machte es mit besonders guter Laune wieder wett, woraufhin Laurent zu seiner Geige griff und spielte und ihn durch die ganze Hütte jagte, bis Francis zur Tür hinausstolperte und vor Lachen nach Luft schnappte. Auf dem Pfad stand jemand, und er stürmte wieder hinein. Er hatte die Gestalt nur für einen kurzen Augenblick gesehen, doch er war sich ziemlich sicher, dass es seine Mutter war. Danach lebte er tagelang mit dem Schrecken der Ungewissheit, doch zu Hause änderte sich nichts. Sollte sie etwas gesehen haben, hatte sie sich wohl nichts dabei gedacht. Es wurde Herbst, und die Schule fing wieder an, und dann kam der Winter. Er konnte nicht mehr so häufig zu Laurent gehen, doch gelegentlich schlich er sich den Pfad hinunter, wenn seine Eltern schon zu Bett gegangen waren, und pfiff. Manchmal bekam er ein Pfeifen als Antwort und manchmal nicht. Je mehr Zeit verging, desto seltener schien sein Pfeifen beantwortet zu werden. Irgendwann im Frühling, nachdem Laurent wieder einmal fort 451
gewesen war, fing er an, Anspielungen zu machen, dass etwas Großes im Gange sei. Er würde bald ein Vermögen machen. Francis war verwirrt und beunruhigt von diesen vagen Andeutungen, die er meist nur dann fallenließ, wenn er betrunken war. Wollte Laurent Dove River etwa verlassen? Was würde dann aus Francis? Wenn er ihn (sehr geschickt, wie er fand) dazu zu bringen versuchte, seine Pläne zu konkretisieren, neckte Laurent ihn bloß, und sein Necken konnte unverblümt und gemein sein. Oft machte er Anspielungen auf Francis’ zukünftige Frau und Kinder oder auf Huren oder ein Leben südlich der Grenze. Bei einer Gelegenheit, der ersten von vielen, hatten sie beide getrunken. Es war im Frühsommer, und abends war es gerade eben warm genug, dass man draußen sitzen konnte. Die ersten Bienen erschienen von wo auch immer sie die kalten Monate verbracht hatten und summten um den Apfelbaum. Das war erst sieben Monate her. »Natürlich wirst du bis dahin«, Laurent spielte mal wieder auf seine nicht näher bezeichneten künftigen Reichtümer an, »längst verheiratet sein und irgendwo eine kleine Farm haben, mit einer Handvoll Kinder, und dann wirst du mich vergessen haben.« »Vermutlich.« Francis hatte inzwischen gelernt, bei diesen düsteren Zukunftsfantasien mitzuspielen. Wenn er protestierte, stachelte das Laurent umso mehr an. »Ich nehme an, wenn du mit der Schule fertig bist, wirst du nicht hierbleiben, hm? Gibt ja auch eigentlich keinen Grund zu bleiben, oder?« »Nö … Werd wohl nach Toronto gehen. Vielleicht komme ich ja dann hin und wieder vorbei und besuche dich, wenn du dann im Rollstuhl sitzt.« Laurent brummte und trank sein Glas leer. Francis fiel auf, dass er mehr trank als früher. Dann seufzte er. »Ich meine es ernst, p’tit ami. Du solltest nicht hierbleiben. Das ist ein Kaff hier. Du solltest zusehen, dass du so schnell wie möglich hier rauskommst. Ich bin bloß ein alter Bauerntölpel.« 452
»Du? Du wirst doch bald reich, schon vergessen? Du kannst gehen, wohin du willst. Du könntest nach Toronto gehen …« »Ach, halt doch die Klappe! Du solltest nicht hier sein! Und auf keinen Fall solltest du bei mir sein. Das taugt nichts. Ich tauge nichts.« »Wie meinst du das?« Francis versuchte, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. »Sei nicht albern. Du bist betrunken, weiter nichts.« Laurent drehte sich zu ihm und sprach die Worte beunruhigend klar und deutlich. »Ich bin ein verdammter Idiot. Du bist ein verdammter Idiot. Und du solltest dich wieder zu deiner Mama und deinem Papa verpissen.« Er machte ein fieses Gesicht, und seine Augen waren zusammengekniffen vom vielen Alkohol. »Geh schon! Worauf wartest du noch? Verpiss dich!« Todunglücklich stand Francis auf. Er wollte nicht, dass Laurent ihn weinen sah. Aber er konnte auch nicht so einfach gehen. So nicht. »Das meinst du doch nicht ernst«, sagte er, so ruhig er konnte. »Das weiß ich ganz genau. Und du meinst es auch nicht ernst, wenn du davon redest, dass ich in ein Bordell gehen soll und irgendwann mal einen Stall voll Kinder habe und … all das. Ich sehe doch, wie du mich ansiehst …« »Ach, mon dieu! Wer würde dich nicht so ansehen? Du bist das Schönste, was ich je gesehen habe. Aber du bist ein dummes Kind, verdammt noch mal. Und du langweilst mich. Und ich bin verheiratet.« Francis stand da und starrte ihn sprachlos und ungläubig an. »Du lügst«, flüsterte er schließlich. Laurent schaute auf und sah ihn müde an, als sei dadurch, dass er ihm das gesagt hatte, eine Last von ihm abgefallen. »Nein, es stimmt, mon ami.« Francis fühlte sich, als reiße man ihm das Herz aus dem Leib. Er wunderte sich, dass er nicht umfiel oder ohnmächtig wurde, 453
so heftig war der Schmerz. Er drehte sich um und ging aus der Hütte und lief immer weiter über eins der Felder seines Vaters hinein in den Wald. Er fing an zu rennen und keuchte so schwer, dass es das Schluchzen übertönte, das aus ihm herausbrach. Nach einer Weile hörte er auf zu laufen, fiel vor einer großen Kiefer auf die Knie und schlug den Kopf gegen ihre Rinde. Er wusste nicht, wie lange er so dort kauerte. Vielleicht hatte er sich betäubt, froh über den Schmerz, der die andere, viel schrecklichere Pein überdeckte. Laurent fand ihn, kurz bevor es dunkel wurde. Er spürte ihn auf wie einen seiner armen Wölfe und folgte seinem wirren Weg durchs Unterholz. Er bückte sich und nahm ihn in die Arme, mit den Fingern betastete er die Wunde an seiner Stirn, Tränen glitzerten auf seinen Wangen, und er wisperte ihm ins Ohr, wie leid es ihm täte. Nach dieser Nacht dachte Francis kurz, er habe gewonnen. Was machte es schon, das Laurent verheiratet war, was machte es, dass er einen Sohn hatte. Das alles war Vergangenheit. Das spielte heute keine Rolle mehr für sie. Trotzdem widersetzte sich Laurent seinen Versuchen, ihn festzunageln, etwas aus ihm herauszubekommen. Er wollte einfach nicht, dass Francis ihn zu einem Teil seines Lebens machte, wollte Francis zu nichts als der gelegentlichen Ablenkung. Francis beschuldigte Laurent mit zitternder, erstickter Stimme, sich nichts aus ihm zu machen. Und Laurent war so gemein, ihm zuzustimmen. Und so weiter und so fort. Dasselbe Gespräch wiederholte sich mit geringfügigen, nebensächlichen Änderungen den ganzen Sommer lang immer und immer wieder. Francis fragte sich, wie lange er diese köstliche Folter noch aushalten würde, der er sich doch immer wieder unterwarf. Er versuchte, in Laurents Gegenwart lässig und unbeschwert zu tun, hatte darin jedoch nicht viel Übung. Im tiefsten Inneren wusste er, dass Laurent ihn eines Tages endgültig fallenlassen würde. Doch wie eine Motte, die unwiderstehlich von der Kerzenflamme angezogen wird, 454
brachte er es nicht über sich, der Hütte fernzubleiben, obwohl Laurent immer häufiger fort war. Er verstand nicht, wie Laurents Gefühle sich so verändert haben konnten, wo seine doch immer tiefer geworden waren. Und dann fand sein Vater es irgendwie heraus. Es gab keinen großen Knall. Es war eher, als hätte sein Vater die Puzzlesteinchen zusammengesetzt, geduldig gewartet und die Einzelteile gesammelt, bis am Ende ein Bild daraus entstanden war. Da gab es die Tage, an denen Francis erst nach Hause kam, nachdem seine Eltern aufgestanden waren, und er wenig überzeugend etwas von morgendlichen Spaziergängen murmelte. Dann war da das eine Mal, als sein Vater zu Laurents Hütte gekommen war, und Francis war dort und tat so, als ließe er sich das Schnitzen beibringen. Vielleicht hatte er es da gewusst, obwohl er sich nach außen hin nichts hatte anmerken lassen. Oder das andere Mal, als er dummerweise behauptet hatte, die Nacht bei Ida verbracht zu haben. Sein Vater hatte ihn etwas erstaunt angesehen, aber keinen Ton gesagt. Dann war Francis in Panik geraten und hatte sich eine Ausrede einfallen lassen, um schnell zu den Prettys zu laufen und Ida zu suchen. Er wusste nicht so recht, was er ihr sagen sollte, tischte ihr aber dann die Geschichte auf, er hätte sich in Caulfield betrunken und müsse das vor seinen Eltern verheimlichen. Sie machte ein versteinertes, grimmiges Gesicht, und obwohl sie zustimmend nickte, sah sie ihn mit waidwundem Blick an, und er schämte sich. Wie auch immer er es herausgefunden hatte, sein Vater, dem es seit einiger Zeit schwerfiel, vernünftig mit Francis zu reden – nahegestanden hatten sie sich nie –, wurde schließlich schier unerträglich. Zwar sagte er nie etwas Konkretes, aber er sah ihm nicht in die Augen, wenn er mit ihm redete, und er redete nur mit ihm, um ihn anzuweisen, seine Pflichten auf der Farm zu erfüllen, oder um ihn für sein schlechtes Betragen zu tadeln. Er schien seinen Sohn mit kalter, vernichtender Verachtung 455
anzusehen. Fast war es, als könne er es kaum ertragen, mit ihm unter einem Dach zu leben. Manchmal, wenn Francis mit seinen Eltern am Tisch saß, in der Zone des ewigen Eises zwischen ihnen, drohte ihn eine Welle der Übelkeit zu überwältigen, die er kaum unterdrücken konnte. Einmal, als er sich mit seiner Mutter unterhielt, bemerkte er den Blick, den sein Vater ihm zuwarf, und sah darin nichts als kalte, unerbittliche Wut. Was ihn erstaunte, war, dass er es anscheinend vor seiner Mutter geheim gehalten hatte. Sie konnte die Kälte zwischen Vater und Sohn spüren, und das stimmte sie traurig, aber sie behandelte ihn nicht anders als früher. Das heißt, sie war noch immer die gleiche ungeduldige, unglückliche Frau, die sie, solange er sich zurückerinnern konnte, schon immer gewesen war. Es war Ende Oktober. Francis hatte sich oft geschworen, nicht wieder zu Laurent zu gehen, ein Schwur, an den er sich, wie er feststellen musste, einfach nicht halten konnte. An diesem Abend traf er Laurent zu Hause an, und nach einer Weile fingen sie einen langen, erbitterten Streit an und sagten dieselben Dinge, die sie sich schon viele Male zuvor an den Kopf geworfen hatten. Francis hasste sich in solchen Augenblicken, aber er konnte sich einfach nicht bremsen. Manchmal, wenn er allein war, stellte er sich vor, wie er würdevoll und hoch erhobenen Hauptes fortging, aber wenn er dann in Laurents Küche war und er ihm gegenüberstand – chaotisch, unrasiert, ungehobelt –, packte ihn das irre Verlangen, sich vor seinen Füßen auf den Boden zu werfen, ihn unter Tränen anzuflehen; oder sich umzubringen; alles, nur damit diese Höllenqualen aufhörten; Laurent umzubringen. »Ich bin nicht zu dir gekommen, schon vergessen?«, schrie Francis ganz heiser wie schon viele Male zuvor. »Ich habe dich nicht darum gebeten! Du hast mich zu dem gemacht, was ich bin … du!« 456
»Und ich wünschte, ich hätte dich nie zu Gesicht bekommen. Herrgott, du machst mich krank!« Und dann sagte Laurent: »Wie dem auch sei, es ist ohnehin alles gleich. Ich gehe fort. Für eine lange Zeit. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt wieder zurückkomme.« Francis starte ihn an und glaubte ihm keinen Augenblick. »Gut. Sag doch, was du willst.« »Nächste Woche gehe ich.« Alle Wut war aus Laurents Gesicht gewichen, und Francis überkam das eiskalte, schreckliche Gefühl, dass es stimmte, was er sagte. Laurent wendete sich ab und beschäftigte sich mit irgendetwas anderem. »Vielleicht kommst du dann drüber weg, hm? Suchst dir ein nettes Mädel.« Francis stiegen Tränen in die Augen. Sein ganzer Körper war matt, als bekäme er Fieber. Laurent ging fort. Es war vorbei. Er verstand nicht, dass man einen solchen Schmerz empfinden und doch weiterleben konnte. »He, so schlimm ist das nicht. Du bist doch eigentlich ein guter Junge.« Laurent hatte sein Gesicht gesehen und versuchte, nett zu ihm zu sein. Das war noch schlimmer als sämtliche Beschimpfungen oder gemeinen Bemerkungen. »Bitte …« Francis wusste nicht, was er jetzt sagen würde. »Bitte, sag mir das nicht. Geh einfach irgendwann, aber sag es nicht. Lass uns einfach weitermachen, bis …« Vielleicht war Laurent des Streitens müde und zuckte deshalb die Achseln und lächelte. Francis ging zu ihm und schlang die Arme um ihn. Laurent klopfte ihm auf den Rücken, eine eher väterliche Geste. Francis klammerte sich an ihn und wünschte doch, er könne weggehen. Wünschte sich noch mehr, es sei damit wie mit dem vergangenen Sommer, endgültig vorbei. Mein Geliebter, der meiner überdrüssig geworden ist. Er blieb in der Nacht da, konnte aber kein Auge zutun und lauschte auf Laurents Atem. Es gelang ihm, aufzustehen und 457
sich anzuziehen, ohne ihn zu wecken, doch ehe er ging, beugte er sich hinunter und küsste ihn sanft auf die Wange. Laurent wachte nicht auf oder wollte nicht aufwachen. Und dann, zwei Wochen später, stand er in der dunklen Hütte und starrte auf die warme, leere Hülle, die dort auf dem Bett lag. Und Gott möge ihm beistehen, wenn sein zweiter Gedanke nicht war: Oh, o mein Geliebter, nun kannst du mich nicht mehr verlassen.
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DAS ÜBEL LANGEN NACHDENKENS
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or vielen Jahren, als er noch nach Amy und Eve Seton suchte, saß Sturrock einmal in einem Schankraum ganz ähnlich diesem und trank Whisky-Bowle mit einem jungen Mann, den man ihm gerade vorgestellt hatte. Er hatte schon von Kahon’wes gehört, und der Wunsch des Jüngeren, ihn kennenzulernen, schmeichelte ihm. Kahon’wes entpuppte sich als großer, markanter Mohikaner, der sich als Journalist zu etablieren versuchte. Obschon wortgewandt und intelligent, saß er zwischen allen Stühlen und wusste nicht so recht, wohin er sich wenden sollte. Das sah man schon an seiner Kleidung, die zu diesem Anlass ganz die eines jungen, modebewussten Mannes war – Cutaway, Zylinder, geknöpfte Stiefel und so weiter. Er wirkte fast wie ein Dandy. Doch bei nachfolgenden Treffen trug er meist Hemd und Hose aus Hirschleder oder eine seltsame Mischung aus beiden Kleidungsstilen. Auch seine Art zu reden schwankte zwischen fließendem, gebildetem Englisch – wie bei ihrem ersten Kennenlernen – und einer gestelzteren Sprache, die er wohl für »indianischer« hielt. Es kam ganz darauf an, mit wem er es gerade zu tun hatte. Gerne unterhielt Sturrock sich mit ihm über Journalismus, hoffte aber auch, der andere könne ihm bei seiner Suche behilflich sein. Kahon’wes kannte Gott und die Welt, da er immer viel unterwegs war, mit den Leuten redete und weil er das war, was die Herren in Toronto als Unruhestifter bezeichneten. Und da Sturrock ebenfalls ein Unruhestifter war, verstanden sich die beiden blendend. Sturrock erzählte ihm von der Suche nach den Mädchen. Schon seit beinahe einem Jahr arbeitete er an dem Fall, und inzwischen bestand nicht mehr viel Hoffnung auf einen guten Ausgang. Kahon’wes hatte, wie die meisten anderen Menschen im nördlichen Kanada, schon davon gehört. 460
»Ach ja … die beiden Mädchen, die von bösen Indianern weggezaubert wurden.« »Oder von Wölfen aufgefressen, wie ich allmählich anfange zu glauben. Trotzdem will der Vater nichts unversucht lassen, sie aufzuspüren, und am liebsten jeden Stein in ganz Nordamerika einzeln umdrehen.« Er erzählte Kahon’wes, dass er Indianergruppen diesseits und jenseits der Grenze besucht, dass er seine Kontakte spielen gelassen und einflussreiche Männer gesprochen hatte, die ihm auch bei anderen Fällen schon geholfen hatten. Doch er hatte nichts Brauchbares in Erfahrung bringen können. Kahon’wes hatte kurz überlegt und dann gesagt, er werde jeden fragen, den er sehe: Wie Sturrock sicher wisse, gebe es Zeiten, in denen die Antwort (wie auch das Benehmen und die Art, sich zu kleiden) von dem abhing, mit dem man gerade am Tisch saß. Etliche Monate später bekam Sturrock Nachricht von dem Mann. Er war gerade in der Nähe von Forest Lake und hörte, Kahon’wes sei nur ein paar Meilen entfernt. Diesmal war er wie ein Indianer gekleidet und sprach ganz anders. Er war frustriert angesichts seiner vergeblichen Versuche, seine Artikel von der weißen Presse veröffentlichen zu lassen. Sturrock drängte sich der Eindruck eines unsteten Charakters auf, der ohne Ermunterung und Führung vom rechten Weg abkommen könnte. Er bot an, seine Artikel zu lesen und ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, doch Kahon’wes schien seine Hilfe nicht mehr zu wollen. Bei dieser Gelegenheit sprachen die beiden Männer auch über die Möglichkeit einer uralten indianischen Kultur, die größer und höher entwickelt war als die, die danach entstanden war. Kahon’wes redete mit leidenschaftlicher Begeisterung darüber, und obwohl Sturrock ihm kein Wort glaubte, konnte er sich doch der Faszination dieser Vorstellung nicht entziehen. Danach sah er Kahon’wes bloß noch ein einziges Mal, und zwar einige 461
Monate später außerhalb von Kingston. Sie unterhielten sich nur kurz, und Sturrock beschlich der Verdacht, dass Kahon’wes viel und häufig trank. Wie dem auch sei, bei ihrem letzten Zusammentreffen konnte er mit Neuigkeiten aufwarten. Er hatte mit dem Häuptling eines Chippewa-Stammes gesprochen, der in der Nähe von Burke’s Fall ansässig war, und der hatte von einer weißen Frau gehört, die bei Indianern lebte. Mehr nicht, aber dieser Hinweis war auch nicht schlechter als viele andere, denen Sturrock im Laufe seiner Karriere schon nachgegangen war. Ein paar Wochen später reisten Seton und er in einen kleinen Ort, von wo aus man sie nach zähen Verhandlungen in ein Indianercamp brachte, wo sie das Mädchen kennenlernen sollten. Es war über sechs Jahre her, seit die Mädchen verschwunden waren, und drei, seit Mrs Seton an einem geheimnisvollen Leiden gestorben war, von dem man im Allgemeinen behauptete, es sei ein gebrochenes Herz gewesen. Charles Seton hatte Sturrock immer leidgetan, weil er sich vorstellte, sein Kummer müsse wie eine furchtbare Wunde unter einem hauchdünnen Narbengewebe pochen. Aber die jetzige gespannte Erwartung war noch schlimmer, wenn es überhaupt noch etwas Schlimmeres geben konnte. Seton hatte kaum ein Wort gesprochen, seit sie das Dorf verlassen hatten, und er war so weiß wie die Wand. Er sah aus, als sei er todkrank. Vorher schienen seine Gedanken hauptsächlich darum zu kreisen, welche seiner beiden Töchter es sein mochte: Eve wäre inzwischen siebzehn, Amy neunzehn, doch niemand schien zu wissen, wie alt genau dieses Mädchen war. Auch schien niemand zu wissen, wie sie hieß. Oder vielmehr hatte sie nun einen indianischen Namen. Sturrock versuchte, Seton ein Gespräch aufzuzwingen, wies ihn darauf hin, dass das Mädchen, sollte sie tatsächlich seine Tochter sein, sich inzwischen sicher sehr verändert hätte. Seton wiederholte beharrlich, er werde sie schon wiedererkennen, komme, was wolle. 462
»Nie, solange ich lebe, werde ich auch nur das kleinste Detail ihrer Gesichter vergessen«, brummte er und starrte stur geradeaus. Sturrock ließ nicht locker und erklärte sanft: »Aber es ist schon erstaunlich, wie sehr sich manche von ihnen verändern. Ich habe gesehen, wie Eltern ihre Kinder schon nach ganz kurzer Zeit bei den Indianern nicht wiedererkannten. Nicht nur das Gesicht … alles ist anders. Wie sie reden, wie sie sich bewegen, wie sie sich geben.« »Ganz gleich, ich würde sie erkennen«, behauptete Seton. Vor den Tipis stiegen sie ab und ließen die Pferde grasen. Ihr Führer ging zu dem größten Tipi und rief etwas, und ein grauhaariger alter Mann kam heraus und hörte sich an, was der Führer ihm in der Sprache der Chippewa erzählte. Dann übersetzte ihr Führer die Antwort des Alten: »Er sagt, das Mädchen sei aus freien Stücken mitgekommen. Sie ist nun eine von ihnen. Er möchte wissen, ob Sie gekommen sind, um sie mitzunehmen?« Sturrock ging dazwischen, ehe Seton etwas sagen konnte: »Wir werden sie zu nichts zwingen, das sie nicht will, aber wenn sie die Tochter dieses Mannes ist, dann möchte er mit ihr sprechen. Er sucht sie seit vielen Jahren.« Der alte Mann nickte und führte sie zu einem anderen Tipi. Nach kurzem Zögern winkte er Sturrock und Seton, ihm zu folgen. Als sie sich setzten, konnten sie im ersten Moment nichts erkennen. Drinnen war es eng, dunkel und verraucht, und erst nach und nach sahen sie, dass ihnen gegenüber zwei Menschen saßen, ein Chippewa-Mann und eine Frau. Charles Seton schnappte vernehmlich nach Luft, fast klang es wie das Miau einer Katze, und starrte die Frau an, die fast noch ein Mädchen war. Sie hatte dunkle Haut, dunkle Augen und langes schwarzes Haar, das glänzte vor Fett. Sie trug eine Ledertunika, hatte sich 463
eine gestreifte Decke umgewickelt, obwohl es warm war, und blickte stur zu Boden. Auf den ersten Blick hätte Sturrock sie für nichts anderes als ein Chippewa-Mädchen gehalten. Er nahm an, bei dem jungen Mann an ihrer Seite müsse es sich um ihren Ehemann handeln, obwohl er ihnen nicht vorgestellt wurde. Nach diesem ersten Keuchen gab Seton keinen Laut mehr von sich. Es war fast, als ersticke er an seinen Worten, er hatte den Mund aufgerissen, aber es kam kein Ton heraus. »Danke, dass Sie uns empfangen«, setzte Sturrock an. Er hatte das Gefühl, noch nie im Leben etwas so Grausames gesehen zu haben wie den Schmerz, der Charles Seton in diesem Augenblick ins Gesicht geschrieben stand. »Könnten Sie uns bitte kurz ansehen, damit Mr Seton Ihr Gesicht sehen kann?« Er lächelte dem jungen Pärchen gegenüber aufmunternd zu. Der Mann erwiderte ungerührt seinen Blick, dann tippte er ihr auf die Hand. Sie hob den Kopf, nicht aber den Blick. Setons Atem klang in dem beengten Raum sehr laut. Sturrock sah von einem zum anderen und wartete darauf, dass sie einander erkannten. Es war quälend. Dann schließlich holte Seton Luft. »Ich weiß nicht, welche von beiden sie ist. Sie ist meine Tochter … könnte ich nur ihre Augen sehen …« Sturrock war erschrocken. Er sah das Mädchen an, das still dasaß wie eine geschnitzte Statue, und sprach sie mit ihrem indianischen Namen an. »Wah’tanakee, welche Farbe haben deine Augen?« Endlich blickte sie auf und sah Seton an. Der sah ihr in die Augen, die, soweit Sturrock das in dem trüben Licht erkennen konnte, braun waren. Seton holte noch einmal mühsam Luft. »Eve.« Er hatte ein Kieksen in der Stimme, und eine Träne lief ihm über die Wange. Doch das war eine eindeutige Aussage. Nach sechs Jahren der Suche hatte er eine seiner verschollenen Töchter wiedergefunden. Das Mädchen sah ihn einen Moment lang durchdringend an 464
und schlug dann wieder die Augen nieder. Dies könnte ein Nicken gewesen sein. »Eve …« Seton wollte sich zu ihr vorbeugen, sie in die Arme nehmen, das spürte Sturrock, aber das Mädchen saß so starr und abweisend da, dass er nicht wagte, sich zu rühren. Er sagte nur noch ein- oder zweimal ihren Namen und rang dann um Fassung. »Was … ich weiß nicht, wie … Geht es dir gut?« Wieder machte sie mit dem Kopf diese kurze Auf-und-abBewegung. Jetzt mischte sich der alte Mann wieder ein, und der Dolmetscher, der sich auch noch hinter ihnen ins Zelt gequetscht hatte, übersetzte. »Dies ist ihr Ehemann. Der alte Mann ist sein Onkel. Er hat sie großgezogen, weil er sie gefunden hat.« »Er hat sie gefunden? Wann denn? Mit Amy? Wo ist Amy? Ist sie hier? Wissen Sie das?« Der alte Mann machte eine Bemerkung, die Sturrock als Fluchen erkannte. Dann redete Eve, und dabei sah sie die ganze Zeit an ihnen vorbei auf einen Punkt am Boden. »Es ist fünf, sechs, sieben Jahre her. Ich kann mich nicht genau erinnern. Es scheint sehr lange her. Wie in einem anderen Leben. Wir sind spazieren gegangen und haben uns verlaufen. Das andere Mädchen ist vorgegangen. Sie hat uns zurückgelassen. Wir sind immer weitergelaufen. Dann wurden wir so müde, dass wir uns zum Schlafen hingelegt haben. Als ich aufwachte, war ich allein. Ich wusste nicht, wo ich war und wo die anderen waren. Ich hatte Angst und dachte, ich müsse sterben. Und dann war Onkel da und hat mich mitgenommen und mir zu Essen und Unterkunft gegeben.« »Und Amy? Was ist aus ihr geworden?« Eve sah ihn nicht an. »Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Damals dachte ich, sie hätte mich zurückgelassen. Ich dachte, sie sei böse auf mich und sei allein nach Hause gegangen.« 465
Seton schüttelte den Kopf. »Nein. Nein. Wir wussten nicht, was euch zugestoßen war. Cathy Sloan ist zurückgekommen, aber von dir und Amy fehlte jede Spur. Wir haben gesucht und gesucht. Ich habe seither nicht aufgehört, euch zu suchen, das musst du mir glauben.« »Das stimmt«, sagte Sturrock in die Stille hinein. »Ihr Vater hat jede wache Minute und jeden Dollar auf die Suche nach Ihnen und Ihrer Schwester verwandt.« Seton schluckte – in dem kleinen Zelt klang das sehr laut. »So leid es mir tut, muss ich dir sagen, dass deine Mutter im April vor drei Jahren gestorben ist. Sie hat euer Verschwinden nie verwunden. Sie konnte die Ungewissheit nicht ertragen.« Das Mädchen blickte hoch, und Sturrock glaubte, den ersten – und letzten – Anflug eines Gefühls in ihrem Gesicht zu sehen. »Mama ist tot.« Sie schluckte und warf ihrem Mann einen Blick zu, den Sturrock nicht zu deuten wusste. Auch wenn es kaltschnäuzig klingen mag, war das bedauerlich – wenn Mrs Seton noch gelebt hätte, so hätte dies, auch wenn sie jetzt nicht dabei gewesen wäre, einen Einfluss darauf nehmen können, was als Nächstes geschah. Seton wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Einen Augenblick lang dachte Sturrock, er würde einfach drauflosplaudern, merken, was für eine schreckliche Spannung er aufgebaut hatte, und dann würde sich ein Weg auftun. Er fragte sich, wie lange er das mit ansehen sollte, ehe er das Treffen beendete, bevor sie noch jemanden verärgerten. Und dann war alles zu spät. Setons Stimme klang barsch und viel zu laut in dem kleinen Zelt: »Egal was geschehen ist, ich will wissen, was aus Amy geworden ist. Ich muss! Bitte sag es mir!« »Ich habe es dir doch gesagt, ich weiß es nicht. Ich habe sie nicht mehr lebend gesehen.« Diese Ausdrucksweise klang seltsam, auch in Sturrocks Ohren. 466
»Soll das heißen … du hast sie tot gesehen?« Setons Stimme klang angespannt, aber noch beherrscht. »Nein! Ich habe sie überhaupt nicht mehr gesehen. Das soll das heißen.« Jetzt wirkte das Mädchen mürrisch und abweisend. Sturrock wünschte, Seton würde die Frage nach Amy ruhen lassen. Ständig auf dem Verbleib seiner anderen Tochter herumzureiten, dürfte sie in der Situation wohl kaum weiterbringen. »Du kommst mit mir zurück. Du musst. Wir müssen weitersuchen.« Setons Blick ging in die Ferne und wirkte glasig. Sturrock beugte sich zu ihm vor und legte ihm eine Hand auf den Arm, um ihn zu beruhigen. Er hatte nicht den Eindruck, dass Seton das überhaupt bemerkte. »Bitte, ich finde, wir sollten … entschuldigen Sie …« Er sprach nun zu allen Anwesenden. »Das ist die Anspannung. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer die letzten Jahre für ihn gewesen sind. Er weiß nicht, was er sagt« Guter Gott, natürlich weiß ich, was ich sage! »Seton schlug seine Hand brutal fort.« Sie muss mit zurückkommen. Sie ist meine Tochter. Es gibt keine andere Möglichkeit Dann streckte er die Hand nach dem Mädchen aus, das auf der anderen Seite des Feuers saß, und Eve wich zurück. Bei dieser Bewegung enthüllte sie, was sie bisher unter der gestreiften Decke verborgen hatte – dass sie hochschwanger war. Der junge Mann war aufgesprungen und versperrte Seton den Weg. »Sie sollten jetzt gehen.« Sein Englisch war makellos, doch dann sprach er wieder in seiner Sprache mit dem Übersetzer. Seton keuchte und weinte gleichzeitig, erschüttert, aber wild entschlossen. »Eve! Das macht doch nichts. Ich verzeihe dir! Du musst mitkommen. Komm zurück nach Hause! Meine Liebste! Du musst …« Sturrock und der Übersetzer packten Seton und schleppten ihn aus dem Tipi hinüber zu den Pferden. Irgendwie gelang es ihnen, ihn in den Sattel zu hieven. Und irgendwie konnten sie 467
ihn, obwohl Sturrock sich nicht mehr recht erinnern kann, wie, davon überzeugen zu gehen. Die ganze Zeit über rief Seton ununterbrochen nach seiner Tochter. Ein Jahr später starb Seton im Alter von zweiundfünfzig Jahren an einem Schlaganfall. Eve hatte er nie wiedergesehen, und trotz weiterer Suche hatte er nicht die geringste Spur von Amy gefunden. Manchmal zweifelte Sturrock gar daran, dass es sie überhaupt gegeben hatte. Er schämte sich für die Rolle, die er bei der ganzen Tragödie gespielt hatte. Er hatte die Suche abbrechen wollten, weil es aus Setons Besessenheit keinen Ausweg gab. Das hatte er bei dem Zusammentreffen mit Eve einsehen müssen. Und doch brachte er es nicht über sich, einfach wieder zu gehen – der Mann hatte schon so sehr gelitten. Also hatte Sturrock weitergemacht, widerwillig und ohne von großem Nutzen zu sein oder trösten zu können. Er hätte, das wurde ihm nachher klar, jemand anderen engagieren sollen, der für ihn einsprang. Aber dieser Nachmittag an den Burke’s Falls verband die beiden Männer zu einem Bündnis des Schweigens, denn das Seltsamste daran war dies: Seton weigerte sich zuzugeben, dass sie Eve gefunden hatten. Er verbreitete, es sei falscher Alarm gewesen, ein fremdes Mädchen. Er überredete Sturrock, Stillschweigen zu bewahren, und Sturrock fügte sich widerstrebend. Einzig Andrew Knox wurde in das Geheimnis eingeweiht, und das auch nur versehentlich. Ein- oder zweimal redete Seton darüber, zu Burke’s Falls zurückzukehren und Eve zu überreden, wieder nach Hause zu kommen, doch es klang halbherzig. Sturrock nahm an, dass er es letztlich nicht fertiggebracht hätte. Ohne Seton etwas davon zu erzählen, war Sturrock eine Woche später noch einmal dorthin zurückgekehrt, um allein mit ihr zu sprechen, konnte sie aber nirgendwo finden. Er bezweifelte, dass es etwas genützt hätte, wenn er sie gefunden hätte.
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er Weg, der am Fluss entlang nach Norden führt, zieht sie alle magisch an. Man munkelt, es machten sich noch mehr Männer bereit aufzubrechen. Suchtrupp um Suchtrupp. Natürlich wird man sie nicht mitnehmen. Doch sie spürt diese merkwürdige Anziehungskraft trotzdem – darum ist sie hier. Ein schneidender Wind bläst Maria ins Gesicht, als sie dem Pfad am Fluss folgt. Die Bäume sind inzwischen kahl, das heruntergefallene Laub ist schlammverschmiert, der Schnee schmutzig. Sie sieht die glatte Kante der Klippen von Horsehead Bluff vor sich aufragen, unter denen das Wasser in einem von ihm ausgehöhlten Becken herumwirbelt. Im Sommer sind sie und Susannah früher oft zum Schwimmen hergekommen, doch das ist schon Jahre her. Maria ist seit jenem Tag nicht mehr geschwommen, als sie das Ding im Wasser gesehen hat. Sie gehörte nicht zu denen, die es gefunden haben – ein Grüppchen jüngerer Burschen war zum Angeln hergekommen, aber ihre Schreie lockten Maria und David Bell, der damals ihr bester Freund war, herbei. David war der Einzige in der Schule, der ihre Nähe suchte. Sie waren kein Pärchen, sondern Außenseiter, vereint in ihrer Gegnerschaft zum Rest der Welt. Sie streiften durch die Wälder, rauchten und diskutierten über Politik, Bücher und die Unzulänglichkeiten ihrer Altersgenossen. Am Rauchen fand Maria keinen rechten Gefallen, wohl aber daran, etwas Verbotenes zu tun, also zwang sie sich dazu. Als sie die aufgeregten Schreie hörten, rannten sie zum Flussufer und sahen, wie die Jungs ins Wasser starrten. Sie lachten, was im krassen Gegensatz zu ihrem anfänglichen Geschrei stand. Einer der Jungs drehte sich um und sagte zu David: »Sieh dir das an! So was hast du im Leben noch nicht gesehen!« Also traten sie ans Ufer, auf ihren Gesichtern breitete sich 469
bereits ein erwartungsvolles Lächeln aus, und dann sahen sie, was da im Wasser schwamm. Maria schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. Der Fluss spielte ihnen einen Streich. Die Hände drehten sich langsam und ragten aus den braunen Tiefen empor. Sie waren ausgebleicht und etwas aufgedunsen. Dann sah sie den Kopf weiter unten, der sich ihnen mal zudrehte und mal abwendete. Das Gesicht hat sie heute noch genauso deutlich vor Augen wie damals, und doch könnte sie es beim besten Willen nicht beschreiben – ob die Augen offen waren oder geschlossen, ob er den Mund auf hatte oder zu. Ein eigenartiger Schrecken lag in der trägen Bewegung der Leiche, die in einem Strudel gefangen war. Dadurch wirbelte sie aufrecht um die eigene Achse, die Hände über dem Kopf, als tanze sie einen lustigen Volkstanz, und ebenso wenig wie die anderen hatte sie den Blick davon losreißen können. Sie wusste, dass der Mann tot war, erkannte ihn aber nicht. Auch später, als man ihr erzählte, es sei Doc Wade gewesen, hatte sie das Gesicht im Wasser nicht mit ihrer Erinnerung an den älteren schottischen Herrn in Einklang bringen können. Selbst heute noch, viele Jahre später, musste sie sich dazu zwingen, in die Tiefe des dunklen Kessels zu schauen. Nur um sich zu vergewissern, dass er leer war. Als sie dem Fluss den Rücken kehrten, hatte David den ganzen Weg nach Hause ihre Hand gehalten. Er war ganz still gewesen, sehr untypisch für ihn, und ehe sie aus dem Wald gekommen waren, hatte er sie hinter einen Baumstamm gezogen und geküsst. Ein Anflug von Verzweiflung lag in seinen Augen, der sie ängstigte. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Erstarrt, unfähig, den Kuss zu erwidern, und irgendwie abgestoßen, entzog sie sich ihm und marschierte los, vorneweg nach Hause. Danach war ihre Freundschaft nicht mehr so unbeschwert wie vorher, und im darauf folgenden Sommer war seine Familie wieder in den Osten gezogen. Er war der einzige Junge 470
gewesen, der sie je hatte küssen wollen, bis Robert Fisher kam. Nach fast einer Stunde kommt sie zu Jammets Hütte und steigt vom Pferd. Sie geht über eine Kruste brüchigen Schnees bis zur Vordertür. Auf dem Dach der unbeheizten Hütte liegt noch Schnee, und das Häuschen wirkt klein und niedergedrückt. Ein Mord wird mögliche Käufer vielleicht abschrecken, auch wenn ein Ertrinken dazu nicht ausgereicht hatte. Um die Hütte herum sind vielerlei Fußspuren, die meisten von Kindern, die sich als Mutprobe hier herumgedrückt haben. Doch vor der Tür ist der Boden unberührt – in letzter Zeit ist niemand hier hineingegangen. Maria marschiert entschlossen zur Tür. Ein Draht hält sie verschlossen. Sie macht ihn ab, wobei sie sich am Daumen die Haut aufreißt. Noch nie vorher ist sie in dem Häuschen gewesen. Jammet galt nicht als passender Umgang für ein Mädchen aus gutem Hause. Sie ertappt sich dabei, wie sie sich murmelnd bei seinem Geist oder was auch immer für ihr Eindringen entschuldigt. Was sie da tut, versichert sie sich, ist bloß nachzusehen, ob das Elfenbeinplättchen nicht in irgendeiner Ecke liegt und schlicht übersehen wurde. Etwas so Kleines wie ein Elfenbeinplättchen wäre leicht zu übersehen. Außerdem will sie sich dazu zwingen, etwas zu tun, wovor sie Angst hat, obwohl sie nicht so recht weiß, wovor sie sich eigentlich genau fürchtet. Durch die mit Hirschleder bespannten Fenster fällt nur wenig Licht, und Maria drängt sich das seltsame Gefühl auf, das ganze Häuschen läge wie unter einem Leichentuch. Es ist totenstill. Drinnen gibt es nichts als ein paar Teekisten und einen Ofen, der nur darauf wartet, wieder zum Leben erweckt zu werden. Und Staub, der wie eine dünne Schneeschicht den Boden bedeckt. Sie hinterlässt Fußspuren darin. Selbst in einem leeren Haus, so stellt sich heraus, gibt es viel zu sehen, wenn man erst einmal anfängt zu suchen. Küchengeräte, Zeitungsseiten, eine Handvoll Nägel, ein 471
zusammengeknülltes Büschel schwarzer Haare (sie schaudert), ein Schnürsenkel … Alles Sachen, die man sich nicht fortzuwerfen die Mühe macht, weil sie nichts wert sind. Weil niemand so etwas haben will, nicht einmal der Mensch, der hier lebte. Wir hinterlassen so wenig. Jetzt noch sagen zu wollen, was für ein Mensch Laurent Jammet war, ist unmöglich, jedenfalls für sie. Oben findet sie, als sie sich schließlich hinaufwagt, ein paar halbvolle Holzkisten. In keiner davon ist ein Knochenplättchen, aber etwas anderes fördert sie zutage, etwas, das in eine Lücke zwischen Türrahmen und Wand gestopft war (warum nur hat sie ausgerechnet dort nachgeschaut?). Es war ein Stückchen braunes Packpapier, wie Scott es benutzt, um die Einkäufe seiner Kunden darin einzuwickeln. In Ermangelung von Zeichenpapier hatte es jemand benutzt und eine Bleistiftzeichnung von Laurent Jammet darauf gemalt. Marias Wangen glühen: Auf der Zeichnung liegt Jammet auf dem Bett, schlafend, wie es scheint, und nackt. Es muss Sommer gewesen sein, denn seine Füße stecken unter dem zerknüllten Laken, als hätte er es beim Schlafen weggeschoben. Der Künstler war nicht sehr geübt, aber die Zeichnung vermittelt eine gewisse Anmut und den greifbaren Eindruck von Intimität. Maria schämt sich nicht nur, weil sie die Darstellung eines nackten Mannes betrachtet, sondern auch, weil es ihr vorkommt, als sei sie unversehens in den intimsten, geheimsten Winkel der Seele eines anderen Menschen gedrungen. Denn die Zeichnerin, wer immer sie gewesen sein mochte, muss ihn geliebt haben. Da ist sie sich ganz sicher. Dann sieht sie eine Art Signatur, die in das Gekritzel des zerknüllten Lakens gekrakelt ist. Es sieht aus wie François. Ohne »e«, da ist sie sich sicher. Nicht Françoise. Und sofort fällt ihr Francis Ross ein. Sie steht da mit dem Blatt in der Hand und merkt kaum, dass es schon dämmert. Zu ihrem Entsetzen muss sie feststellen, dass sie die Zeichnung mit ihrem eigenen Blut verschmiert hat. Ihr 472
erster zusammenhängender Gedanke ist, dass sie sie verbrennen muss, für den Fall, dass jemand anderer das Blatt finden und zu denselben Schlüssen kommen könnte wie sie. Dann geht ihr mit einem schuldbewussten Ziehen im Herzen auf, dass sie Francis das Bild geben muss, denn wäre es seines (würden doch ihre Wangen nur aufhören zu glühen), würde er es zurückhaben wollen. Sie fühlt sich eigenartig und zutiefst berührt davon, faltet das Papier mit der Zeichnung nach innen sorgsam zusammen und steckt es dann in die Tasche. Dann zieht sie es wieder heraus, weil sie sich plötzlich vorstellt, wie ihre Schwester hineingreift und die Zeichnung findet. Also steckt sie sie in ihr Mieder, wo niemand außer ihr hingreift. Dort, ganz nah an ihrem Herzen, glüht es wie ein Stück Kohle und lässt ihr eine heiße Röte in den Kopf steigen. Am Ende stopft sie sich das Papier ungeduldig in den Stiefel, doch selbst von dort sendet es glühend heiße Strahlen ihr Bein entlang nach oben, während sie in der hereinbrechenden Dunkelheit nach Caulfield zurückreitet.
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ine ist damit beschäftigt, Feuer zu machen. Nach diesem einen Schuss kam nichts mehr. Sie warten, zuerst plappernd, aufgeregt, fröhlich, dann still und immer noch ein wenig näher ans Feuer heranrückend. Bald wird es finster: Die Dunkelheit kommt aus den Wurzellöchern und modrigen Stümpfen gekrochen, in denen sie sich tagsüber versteckt. Line kocht Wasser und gibt Zucker hinein und drängt sie dann dazu, das Gebräu zu trinken, solange es noch heiß ist, sodass sie sich den Mund verbrennen. Sie kocht Haferbrei mit Beeren und getrocknetem Schweinefleisch, den sie in tiefem Schweigen essen, während sie auf Schritte lauschen und das Geräusch eines Menschen, der sich durch die Zweige kämpft. Espens Anteil brennt im Topf an und wird hart. Er ist noch immer nicht zurückgekommen. Line wehrt die Fragen der Kinder ab und schickt sie noch mehr Feuerholz sammeln, um das Feuer zu schüren, damit es hell brennt und er sie schon von weitem sehen kann. Dann baut sie einen Unterschlupf zum Schlafen. Danach stellen sie keine Fragen mehr. Aber als Anna sich dann zu einem warmen Kringel um Lines rechtes Knie zusammengerollt hat, flüstert Torbin, der auf der anderen Seite liegt, ihr etwas ins Ohr. Er ist in den vergangenen Tagen sehr still gewesen, seit sie den Kompass verloren haben. Er fragt ihr nicht mehr ständig Löcher in den Bauch. »Mama, es tut mir leid«, flüstert er mit zitternder Stimme. Sie streicht ihm mit behandschuhter Hand über den Kopf. »Pst. Schlaf jetzt.« »Es tut mir leid, dass ich weglaufen wollte. Hätte ich das nicht gemacht, hätten wir uns nicht verlaufen, oder? Und dann wäre Espen nicht einfach weggegangen. Und jetzt hat er sich auch 474
verlaufen …« Er weint leise. »Das ist alles meine Schuld.« »Red keinen Unsinn.« Line sieht ihn nicht an, während sie zu ihm spricht. »So was passiert. Schlaf jetzt.« Doch sie verzieht die Lippen zu einem unkleidsamen Strich: Denn es stimmt. Es ist seine Schuld, dass sie den Kompass verloren haben. Es ist seine Schuld, dass sie sich im eisigkalten Wald verlaufen haben. Und es ist auch seine Schuld, dass sie ihren Mann verloren hat. Sie streichelt ihn mechanisch und merkt nicht, dass Torbin stocksteif geworden ist. Merkt nicht, dass sie ihm wehtut, er es aber nicht wagt, sie zu bitten, damit aufzuhören. Sie kann nicht schlafen, also sitzt sie am Eingang ihres Unterschlupfs, die Kinder haben sich um sie herum zusammengeringelt, und starrt ins Feuer. Sie bemüht sich nach Kräften, nicht in Grübeleien zu verfallen. Das ist ganz leicht, solange Torbin und Anna wach sind und sie die beiden trösten muss, aber wenn sie so allein dasitzt, mit niemandem als ihrer Angst zum Gefährten, fällt es schwer, sich nicht von ihnen überwältigen zu lassen. Obwohl sie allein sind und frieren und sich in einem großen Wald verirrt haben, umgeben von Schneewehen und Gott weiß was noch, ist ihre größte Angst, Espen könne sie im Stich gelassen haben. Als sie in Himmelvanger im Stall auf ihn gewartet hat, da wusste sie, dass sie ihn dazu zwingen könnte, sich ihrem Willen zu fügen, ganz gleich, wie sehr es ihm auch widerstrebte. Jetzt aber geht ihr der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf, Espen könne der Schuss sehr gelegen gekommen sein. Wahrscheinlich ist er über alle Berge und hat nicht vor, noch einmal wiederzukommen. Und diesmal weiß sie nicht, wo sie ihn suchen soll. Ganz in der Nähe stehen die Pferde mit gesenkten Köpfen Nase an Schwanz nebeneinander. Irgendwann, als ihr schon eiskalt geworden ist, schreckt eins auf und scheut vor etwas, das es zwischen den Bäumen entdeckt hat. Es legt die Ohren an und 475
schlägt drohend mit dem Kopf, als wolle es eine Gefahr abwehren, wisse aber nicht genau, von wo sie droht. Das andere Pferd – das kranke – bewegt sich kaum. Nach dem ersten Schreck, von dem ihr fast das Herz stehenbleibt, blickt sie angestrengt in die Dunkelheit, in der Hoffnung, Espen zu hören, aber sie weiß genau, dass Jutta auf ihn nicht so reagiert hätte. Sie hört nichts. Als sie schließlich nicht mehr warten oder sich noch länger gegen das Einschlafen stemmen kann, kuschelt sie sich neben ihre Kinder und wickelt sich das Tuch um den Kopf. Sie träumt fast augenblicklich von Janni. Janni ist in Gefahr und scheint sie zu rufen. Er ist irgendwo weit weg, wo es sehr dunkel ist und kalt. Er sagt, es täte ihm leid, dass er so dumm war zu glauben, er könne so zu Geld kommen, durch Diebstahl und Meuterei. Jetzt bezahlt er dafür mit seinem Leben. Sie sieht ihn wie aus weiter Ferne, und es sieht aus, als liege er im Schnee, ein winzig kleiner, dunkler Fleck in einer unendlichen weißen Fläche, und er kann sich nicht bewegen. Mit jeder Faser ihres Körpers sehnt sie sich danach, zu ihm zu gehen, doch das kann sie nicht. Dann ist auf einmal alles anders, und er ist bei ihr, so nahe, dass sie seinen warmen, feuchten Atem im Gesicht spürt. Im Traum schließt sie die Augen und lächelt. Sein Atem riecht streng, doch er ist warm, und es ist seiner. Von Espen träumt sie überhaupt nicht. Als sie erwacht, ist es noch nicht richtig hell. Das Feuer ist erloschen und nur noch ein durchweichtes, verkohltes Häufchen. Die Luft ist feucht und riecht nach Tauwetter. Sie sieht sich um. Die Pferde sind nicht zu sehen. Sie müssen auf der Suche nach Futter auf die andere Seite des Unterschlupfs gewandert sein. Von Espen keine Spur – aber es hätte sie auch gewundert, wäre das anders. Sie stützt sich auf die Ellbogen, und ihre Augen gewöhnen sich langsam an das graue Licht. Und dann sieht sie den zertrampelten, besudelten Schnee gut zwanzig Schritte entfernt. 476
Zuerst weigert sie sich zu glauben, dass die dunkelroten Flecken tatsächlich Blut sind, doch dann entdeckt sie ein grausiges Detail: tiefrote Spritzer auf dem Schnee dort, rote Schlieren da, tief in den Schnee gegrabene Hufspuren eines fliehenden Tieres. Sie ist mucksmäuschenstill. Die Kinder dürfen das nicht sehen, sie würden in Panik geraten … Dann sieht sie nach unten. Zwischen ihren Ellbogen, tief eingedrückt in einen unberührten Flecken Schnee vor ihrem Unterschlupf, ist ein Pfotenabdruck. Nur ein einziger. Er ist mindestens vier Zoll breit, und vorne sind deutlich die nadelspitzen Abdrücke der Krallen zu sehen. Dunkelrote Flecken färben zwei der Krallenlöcher. Mit einem plötzlichen Gefühl der Übelkeit fällt ihr wieder ein, wie Espen sie genannt hat: eine Vargamor – eine Frau, die mit Wölfen verkehrt. Sie schmeckt Galle und erinnert sich an den warmen, stinkenden Atem aus ihrem Traum und wie sie darin schwelgte. Der Wolf muss direkt über ihr gestanden, den Kopf in ihren Unterschlupf gesteckt und ihr im Schlaf ins Gesicht gehechelt haben. Line steht auf, so schnell sie kann. Mit den Füßen scharrt sie Schnee über die schlimmsten Stellen und verstreut Schneewolken über der Blutspur. Sie sieht, wie Bengi ihnen zu entkommen versucht hat, als die Wölfe ihn verfolgten – es müssen mehrere gewesen sein. Glücklicherweise führt die Spur in die Richtung, aus der sie gekommen sind. So werden sie nicht sehen müssen, wo oder wie sie endet. Dann entdeckt sie noch eine Spur und sieht sie ungläubig an. Ein Stiefelabdruck, klar zu sehen unter dem Stamm einer Zeder. Es dauert einen langen Augenblick, bis sie begreift, dass dies der Abdruck von Espens Stiefel ist, von gestern noch. Er ist westlich gegangen, wohingegen ihr Weg nach Süden führt. Seit er fort ist, hat es nicht mehr geschneit, deshalb sind seine Spuren noch so deutlich zu sehen. Er hätte einfach den gleichen Weg zurücknehmen können, doch aus unerfindlichen Gründen hat er das nicht. 477
Line zuckt mit schmerzhaft pochendem Herzen zusammen, als sie Jutta durch die Bäume auf sich zutrotten sieht, und dann seufzt sie zitternd vor Erleichterung auf, als das Pferd das Maul in ihrer Achselhöhle vergräbt. Die Erleichterung scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen. »Alles gut«, erklärt Line dem Pferd grimmig. »Alles gut. Alles gut.« Sie krallt sich an der Mähne fest, bis das Zittern nachlässt, dann geht sie die Kinder wecken und erklärt ihnen, dass sie weitermüssen.
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onald sieht zu, wie Parker und Mrs Ross das Fort verlassen. Sie gehen zum Tor hinaus und marschieren ohne einen Blick zurück in nordwestlicher Richtung. Nesbit und Stewart wünschen ihnen gute Reise und gehen wieder ins Büro. Nesbit gelingt es irgendwie, Donald einen unerfreulichen, bedeutungsvollen Blick zuzuwerfen, der Mrs Ross und Parker diffamieren soll, und ihn, Donald, gleich mit. Donald erträgt ihn stoisch, ärgert sich dann aber doch. Er hat Parker für einen Narren gehalten, als der ihm seine Gründe darlegte, und für einen Idioten, als er ihm erklärte, Mrs Ross werde mitkommen, obwohl das auch Mrs Ross’ Wunsch zu sein schien. Er hat sie beiseitegenommen und ihr die Meinung gesagt. Bildete er sich das ein, oder machte sie sich über ihn lustig? Sie und Parker hatten ihm eindringlich erklärt, wie wichtig es sei, Stewart nicht aus den Augen zu lassen, und obwohl er zu dem Schluss gekommen ist, dass dies wohl eher vergebene Liebesmüh ist, wird er ihrem Wunsch Folge leisten. Er beobachtet, wie Stewart zum Dorf hinübergeht, um sich nach Elizabeth zu erkundigen. Trotz ihrer mürrisch feindseligen Art lässt Stewarts Sorge um sie nicht nach. Und auch er kann dem Drang, sie noch einmal zu besuchen, nicht widerstehen. Eine überwältigende Neugier hat ihn gepackt, seit er zu der Überzeugung gelangt ist, sie könne eins der Seton-Mädchen sein, auch wenn er sich dabei auf einen recht dürftigen Beweis stützt, nämlich den Namen ihrer Tochter. Nein, nicht nur das: Auch ihr Aussehen, denn sie ist zweifellos weiß, und seiner Meinung nach hat sie eine entfernte und doch unverkennbare Ähnlichkeit mit Mrs Knox. Kurz nachdem Stewart wieder in sein Büro gegangen ist, steht Donald vor ihrer Haustür und wartet auf ein Zeichen einzutreten. 479
Der Qualm beißt in den Augen, und er atmet durch den Mund, weil der Rauch und der Geruch ungewaschener Menschen ihm zu schaffen machen. Elizabeth hockt neben der Feuerstelle und wischt einem kleinen Mädchen, das wohl geweint hat, das Gesicht ab. Sie wirft Donald einen kurzen, geringschätzigen Blick zu, nimmt dann das schreiende Kind und drückt es ihm in den Arm. »Nehmen Sie sie. Sie macht es mir gerade sehr schwer.« Elizabeth verschwindet hinter dem Vorhang, der den Schlafbereich vom Wohnraum abtrennt, und lässt Donald mit dem Kind stehen, das in seinen Armen strampelt. Nervös schaukelt er sie hin und her, und sie guckt ihn brüskiert an. »Nicht weinen, Amy. Na, na.« Hätte er nicht Jacobs Kinder kennengelernt, wäre dies das erste Mal, dass er ein Krabbelkind auf dem Arm hat. Er hält sie, als sei sie ein unberechenbares kleines Tier mit scharfen Zähnen. Doch wie durch ein Wunder hört sie auf zu weinen. Als Elizabeth zurückkommt, hat Amy gerade Donalds Krawatte entdeckt und spielt, bezaubert von diesem fremdartigen Ding, damit. Elizabeth sieht ihr einen Moment lang zu. »Was hat Sie denn auf die Setons gebracht?«, fragte sie unvermittelt. »Lag es nur am Namen?« Donald schaut auf, ganz verdutzt. Er hatte sie gerade nach Stewart fragen wollen. »Ich denke ja. Aber die Geschichte war mir noch sehr präsent, müssen Sie wissen, weil sie mir erst kürzlich jemand erzählt hat, dessen Familie davon betroffen ist.« »Oh.« Sollte sie mehr als nur flüchtiges Interesse an der Geschichte haben, so verbirgt sie es gut. »Ich habe kürzlich die Familie von Andrew Knox kennengelernt. Seine Frau war, oder ist vielmehr …« Er beobachtet sie genau, während das Kind fest an der Krawatte zieht und ihn beinahe erwürgt, »… die Schwester von Mrs Seton, der Mutter der Mädchen.« 480
»Oh«, sagt sie abermals. »Ein ganz reizender, herzensguter Mensch. Man merkt, dass sie auch nach all diesen Jahren die Erinnerung an das Verschwinden der beiden sehr mitnimmt.« Tiefes Schweigen legt sich über die Hütte, das nur vom Knacken des Feuers unterbrochen wird. »Was hat sie denn darüber erzählt?« »Nun ja, dass es … den Eltern das Herz gebrochen hat. Sie haben es nie verwunden.« Donald versucht, in ihrem Gesicht zu lesen, doch sie sieht eher wütend aus als betroffen. »Sie – die Setons – sind inzwischen beide tot.« Sie nickt kurz. Donald merkt, dass er die Luft angehalten hat, und atmet aus. »Erzählen Sie mir von Tante Alice.« Sie sagt das ganz leise, es klingt fast wie ein Seufzen. Donalds Herz macht einen Satz. Er bemüht sich, seine Aufregung zu verbergen und sie nicht zu unverhohlen anzustarren. Sie beobachtet ihre Tochter und vermeidet es, ihn direkt anzusehen. »Nun, sie wohnen in Caulfield, an der Georgian Bay. Mr Knox ist der örtliche Friedensrichter, ein hochanständiger Mann, und sie haben zwei Töchter, Susannah und Maria.« Mutig, wie er unversehens ist, fügt er hinzu: »Erinnern Sie sich noch an die beiden?« »Natürlich. Ich war dreizehn, kein kleines Kind mehr.« Donald bemüht sich nach Kräften, sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen, aber dafür drückt er das Kind etwas zu fest an sich. Aus Rache haut es ihm mit der Faust auf die Brille. »Susannah … ich weiß nicht mehr, welche von beiden das ist. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war die eine noch ganz klein. Und die andere war nicht älter als zwei oder drei.« »Maria muss ungefähr zwei gewesen sein«, sagt er mit einem warmen Gefühl, als er ihren Namen ausspricht. Sie blickt in die Schatten, und er hat keine Ahnung, was sie 481
gerade denkt. Er nimmt die erstaunlich starken Kinderhände von seinem Mund. »Es geht ihnen gut, und … sie sind eine bezaubernde Familie. Allesamt. Sie sind sehr gut zu mir gewesen. Ich wünschte, Sie könnten mitkommen und sie kennenlernen. Sie würden sich so freuen, Sie zu sehen … das können Sie sich gar nicht vorstellen!« Sie lächelt schief. »Sie werden ihnen sicher von mir erzählen wollen.« »Nur, wenn es Ihnen recht ist.« Sie wendet den Kopf ab, doch als sie dann antwortet, klingt ihre Stimme unverändert. »Ich muss an meine Kinder denken.« »Natürlich. Überlegen Sie es sich. Ich weiß, sie würden Sie zu nichts zwingen, das Sie nicht auch möchten.« »Ich muss an meine Kinder denken«, sagt sie abermals. »Jetzt, ohne Vater …« Mit einigen Schwierigkeiten gelingt es Donald, ein Taschentuch unter dem Kind hervorzuziehen. Doch als Elizabeth ihn wieder ansieht, sind keine Tränen zu sehen. »Haben Sie Ihnen erzählt, dass mein Vater mich gefunden hat?« »Was? Man sagte mir, man hätte Sie nicht gefunden!« Über ihr Gesicht huscht ein Schatten von – Schmerz? Zweifel? »Das hat er behauptet?« Donald weiß nicht, was er sagen soll. »Ich habe mich geweigert, mit ihm zurückzugehen. Ich war noch nicht lange verheiratet. Er hat ständig nach Amy gefragt. Er schien mir die Schuld dafür zu geben, dass sie nicht bei mir war.« Donald kann sein Entsetzen nicht verbergen. »Können Sie das nicht verstehen? Sie hatten ihre Töchter verloren, aber ich hatte alles verloren! Meine Familie, mein Zuhause, meine Vergangenheit … ich musste wieder lernen zu sprechen! Ich konnte nicht noch einmal ganz von vorn anfangen.« 482
»Aber …« Er weiß nicht, was er darauf erwidern soll. »Er war entsetzt, als er mich gesehen hat. Nach diesem ersten Mal ist er nicht wiedergekommen. Obwohl er es gekonnt hätte. Er hat gehofft, Amy zu finden. Sie war immer sein Liebling.« Donald sieht das unbekümmerte Kind an, um zu verhindern, dass ihn sein Mitgefühl überwältigt. »Er stand unter Schock … Sie können ihm doch keinen Vorwurf daraus machen, dass er nach ihr gefragt hat. Bis zu seinem Tod hat er nichts anderes getan als zu suchen.« Sie schüttelt den Kopf, ihre Augen wirken hart. Sehen Siel »Sie waren das …« Er müht sich weiter und versucht, dem Ganzen einen etwas versöhnlicheren Ton zu geben, »… das größte Rätsel der damaligen Zeit! Sie waren berühmt, jeder kannte Sie. Aus ganz Nordamerika meldeten sich Leute und behaupteten, Sie zu sein – oder Sie gesehen zu haben. Selbst aus Neuseeland kam ein Brief.« »Ach.« »Sie können sich wohl nicht mehr daran erinnern, was passiert ist?« »Ist das denn noch von Bedeutung?« »Ist es nicht immer von Bedeutung, die Wahrheit zu erfahren?« Er denkt an Laurent Jammet, ihre vermeintliche Suche nach der Wahrheit – all diese Ereignisse, die sich überstürzten wie aufgereihte Dominosteine –, die sie alle über die verschneite Ebene zu dieser kleinen Hütte geführt hatte. Elizabeth schaudert, als spüre sie einen Zug. »Ich erinnere mich noch … ich weiß ja nicht, was Sie gehört haben, aber wir wollten einen kleinen Ausflug machen. Beeren pflücken, glaube ich. Wie haben gezankt, wo wir am besten Halt machen sollten. Dieses andere Mädchen, wie hieß sie noch, Cathy? – wollte nicht so weit gehen, sie hatte Angst, sich einen Sonnenbrand zu holen, weil es so heiß war. Aber tatsächlich hatte sie Angst vor dem Wald.« Sie fixiert einen Punkt etwas oberhalb von Donalds Schulter. 483
Er wagt kaum, sich zu bewegen, um ihren Gedankengang nicht zu unterbrechen. »Ich hatte auch Angst. Angst vor Indianern.« Sie lächelt kaum merklich. »Dann habe ich mich mit Amy gestritten. Sie wollte noch weitergehen, aber ich wollte nicht, weil unsere Eltern es verboten hatten. Dann bin ich aber doch mitgegangen, weil ich nicht allein sein wollte. Es wurde dunkel, und wir konnten den Weg zurück nicht mehr finden. Amy hat mir immer wieder gesagt, ich solle mich nicht so anstellen. Dann haben wir aufgegeben und sind eingeschlafen. Zumindest glaube ich das … Und dann …« Ein langes Schweigen entsteht und beschwört Geister in der Hütte herauf. Elizabeth scheint an ihm vorbei einen davon anzusehen. Donald merkt, dass er wieder den Atem anhält. »… war sie nicht mehr da.« Sie sieht ihn an. »Ich dachte, sie hätte nach Hause gefunden und mich im Wald zurückgelassen, weil sie böse auf mich war. Und keiner ist gekommen, um mich zu suchen … bis mein Onkel – mein indianischer Onkel – kam. Ich dachte, sie hätten mich zum Sterben zurückgelassen.« »Es waren Ihre Eltern. Sie haben Sie geliebt. Sie haben nie aufgehört, Sie zu suchen.« Sie zuckt die Achseln. »Das wusste ich nicht. Ich habe so lange gewartet. Niemand kam. Dann, als ich meinen Vater wiedergesehen habe, dachte ich, jetzt kommst du, jetzt, wo ich glücklich bin. Jetzt, wo es zu spät ist. Und er hat immer nur nach Amy gefragt.« Ihre Stimme klingt dünn und heiser, als würde sie gleich brechen. »Amy ist also … im Wald verschwunden?« »Ich dachte, sie sei nach Hause gegangen. Ich dachte, sie hätte mich allein gelassen.« Elizabeth – er kann sie trotz allem einfach nicht Eve nennen – sieht ihn an, und eine Träne läuft ihr übers Gesicht. »Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Ich war 484
erschöpft. Ich bin eingeschlafen. Ich dachte, ich hätte Wölfe gehört, aber vielleicht habe ich bloß geträumt. Ich hatte zu viel Angst, um die Augen zu öffnen. Ich könnte mich daran erinnern, hätte ich Schreie oder Weinen gehört, aber da war nichts. Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.« Ihre Stimme verliert sich. »Danke, dass Sie es mir gesagt haben.« »Ich habe sie auch verloren.« Sie lässt den Kopf hängen, und ihr Gesicht verschwindet im Schatten. Donald schämt sich. Ihren Eltern hatte man so viel Mitgefühl entgegengebracht. Jedermann war sprachlos angesichts ihres Verlusts. Doch auch die, die man verloren hat, trauern. »Vielleicht lebt sie ja noch. Bloß, weil wir es nicht wissen, heißt das ja nicht, dass sie tot ist.« Elizabeth sagt kein Wort und schaut auch nicht auf. Donald hat nur einen Bruder, einen älteren, den er noch nie besonders mochte. Die Vorstellung, er könne für immer in den Wäldern verschwinden, ist ziemlich verlockend. Er merkt, dass sein rechtes Bein eingeschlafen ist, und streckt es unter Schmerzen. Er bemüht sich um einen munteren Tonfall. »Und die kleine Amy …« Das Kind auf seinem Schoß zieht sich vollkommen unbeteiligt die Strümpfe aus. »Es tut mir leid. Verzeihen Sie mir, dass ich Sie gezwungen habe, darüber zu reden.« Elizabeth nimmt ihre Tochter und schüttelt den Kopf. Kurz läuft sie auf und ab. »Ich möchte, dass Sie ihnen von mir erzählen.« Sie gibt Amy einen Kuss und drückt ihr Gesicht an den Hals des Mädchens. Vor der Hütte stehen zwei Frauen, die in ein hitziges Wortgefecht verstrickt sind. Eine davon ist Norah. Donald wendet sich an Elizabeth. »Bitte, dürfte ich Sie um einen weiteren Gefallen bitten? 485
Könnten Sie mir sagen, worüber die beiden reden?« Elizabeth bedenkt ihn mit einem sardonischen Lächeln. »Norah macht sich Sorgen wegen Half Man. Er soll Stewart irgendwohin begleiten. Norah hat ihm gesagt, er soll hierbleiben, aber das will er nicht.« Donald sieht hinüber zum Haupthaus, und das Herz schlägt ihm plötzlich bis zum Hals. Geht es jetzt los? »Hat sie gesagt, wohin oder warum? Es ist wichtig.« Elizabeth schüttelt den Kopf. »Eine Reise. Vielleicht zum Jagen … obwohl er normalerweise zu betrunken ist, um geradeaus zu schießen.« »Stewart sagte, er wolle Ihren Mann suchen.« Sie erspart sich die Antwort darauf. Er überlegt rasch. »Ich werde ihnen folgen. Ich muss herausfinden, wo sie hinwollen. Wenn ich nicht zurückkomme, wissen Sie, dass es stimmt, was Sie gesagt haben.« Elizabeth wirkt erstaunt – diese Regung sieht er bei ihr zum ersten Mal. »Das ist gefährlich. Sie dürfen nicht gehen.« Donald versucht, ihren spöttisch belustigten Unterton zu überhören. »Ich muss. Ich brauche Beweise. Die Company braucht Beweise.« Just in diesem Augenblick kommt Alec, ihr ältester Sohn, mit einem anderen Jungen aus der Hütte einer Nachbarin, und die beiden Frauen gehen weiter, Norah wieder zurück zum Hauptgebäude. Elizabeth ruft den Jungen, und er dreht ab und kommt herüber. Sie spricht kurz in ihrer Sprache mit ihm. »Alec begleitet sie. Sonst gehen Sie verloren.« Donald klappt die Kinnlade herunter. Der Junge reicht ihm kaum bis zur Schulter. »Nein, dass könnte ich nicht … Ich komme sicher zurecht. Es ist bestimmt ganz leicht, ihrer Spur zu folgen …« »Er geht mit«, erklärt sie streng und endgültig. »Er möchte es auch so.« 486
»Aber ich kann doch nicht …« Er weiß nicht, wie er das sagen soll – er sieht sich nicht in der Lage, sich in diesen Witterungsbedingungen um irgendwen zu kümmern, ganz zu schweigen um ein Kind. Er senkt die Stimme. »Ich kann nicht auch noch die Verantwortung für ihn übernehmen. Was, wenn ihm etwas zustößt? Ich kann nicht zulassen, dass er mitkommt.« Ihm ist heiß, weil er sich schämt und so nutzlos fühlt. Elizabeth sagt bloß: »Er ist jetzt ein Mann.« Donald sieht den Jungen an, der zu ihm aufschaut und nickt. Donald kann in seinem Gesicht keine Ähnlichkeit mit Elizabeth entdecken. Er hat dunkle Haut, ein flaches Gesicht und mandelförmige Augen unter schweren Lidern. Er muss seinem Vater gleichen. Später, als er zum Packen auf sein Zimmer geht, dreht Donald sich noch einmal um und sieht Elizabeth, die im Türrahmen steht und ihm nachschaut. »Ihr Vater wollte nur eine Antwort. Das wissen Sie, oder? Es lag nicht daran, dass er Sie nicht geliebt hat. Es ist doch nur menschlich, dass man eine Antwort will.« Sie starrt ihn an – zum Schutz vor der untergehenden Sonne hat sie die Augen zusammengekniffen, und der Himmel sieht aus wie polierter Stahl –, starrt ihn an, ohne ein Wort zu sagen.
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twas Seltsames ist mit dem Wetter geschehen. Schon bald ist Weihnachten, und obwohl wir durch gefrorenen Schnee marschieren, ist der Himmel strahlend blau wie an einem sonnigen Julitag. Trotz des Tuchs, das ich mir vors Gesicht gebunden habe, brennen mir die Augen von der Helligkeit. Die Hunde freuen sich, endlich wieder rauszukommen, und irgendwie kann ich sie verstehen. Außerhalb des Palisadenzauns gibt es weder Verrat noch Verwirrspiele. Hier sind nur Raum und Licht, zählen nur die Meilen hinter uns und die Meilen vor uns. Alles scheint so einfach. Und doch ist es das nicht. Es ist nur die Benommenheit, die mich das glauben lässt. Als die Sonne untergeht, merke ich, wo meine Dummheit hingeführt hat. Zuerst stolpere ich über einen der Hunde und schaffe es, mir dabei den Rock zu zerreißen und eine Kakophonie aus Hundegebell auszulösen. Dann, als ich das Kännchen mit Schneewasser abstelle, finde ich es nicht wieder. Ich unterdrücke die aufsteigende Angst und rufe Parker, der meine Augen untersucht. Er braucht mir gar nicht erst zu sagen, dass sie rot sind und tränen. Rote und lila Blitze durchzucken meinen getrübten Blick. Hinter den Augen pocht heftiger Schmerz. Ich weiß, ich hätte sie gestern, als wir losgegangen sind, schützen müssen, aber ich habe nicht daran gedacht. Ich war so glücklich, dass ich mit ihm gehen durfte, und die weite weiße Ebene war ein so willkommener Anblick nach der schmuddeligen Umgebung von Hanover House. Parker macht einen Breiumschlag aus in Kattun gewickelten und im Schnee gekühlten Teeblättern, den ich mir auf die Augen legen soll. Es tut gut, ist aber nicht so wirksam wie ein paar Tropfen von Perry Davis’ patentiertem Schmerzmittel. Aber 488
vielleicht ist es auch besser, dass wir nichts davon dahaben. Ich muss an Nesbit denken, wie er in seinem Büro stand, in die Ecke getrieben wie ein Tier. Und dass ich auch mal so war. »Wie weit noch, bis wir … da sind?« Aus purer Gewohnheit nehme ich die Kompresse ab. Es ist unhöflich, sein Gegenüber nicht anzusehen, wenn man mit ihm redet. »Lassen Sie die drauf«, sagt er. Und als ich den Umschlag wieder auf die Augen gelegt habe, erklärt er: »Wir müssten übermorgen da sein.« »Und was erwartet uns dort?« »Ein See mit einer Hütte.« »Wie heißt der Ort?« »Soweit ich weiß, hat er keinen Namen.« »Und warum gerade dort?« Parker zögert eine endlose Minute, sodass ich hinter dem Umschlag hervorluge und ihn ansehe. Er starrt in die Ferne und scheint es nicht zu merken. »Weil die Pelze dort sind.« »Die Pelze? Sie meinen die Pelze der Norweger?« »Ja.« Hastig nehme ich die Kompresse ab und sehe ihn durchdringend an. »Warum wollen Sie ihn dort hinführen? Das ist doch genau, was er will!« »Darum tun wir es ja auch. Lassen Sie den Umschlag drauf.« »Könnten wir nicht … tun, als seien sie woanders?« »Ich glaube, er weiß bereits, wo sie sind. Gingen wir in eine andere Richtung, würde er uns vermutlich nicht folgen. Er ist schon einmal hier gewesen – mit Nepapanees.« Ich überlege, was das bedeutet: Nepapanees, der nicht zurückkam, muss also noch hier sein. Und die Angst beschleicht mich, kriecht mir bis ins Mark und nistet sich tief in meinen Knochen ein. Es ist leicht, meine Gefühlsregungen hinter der durchweichten Kompresse zu verbergen. Aber nicht leicht, so zu tun, als sei ich mutig genug für dieses Unternehmen. 489
»Wenn er also herkommt, können wir uns sicher sein.« Und dann?, denke ich, wage aber nicht, es laut zu sagen. Eine andere Stimme in meinem Kopf – die lästige – sagt: Tja, du hättest ja nicht mitkommen müssen. Die Suppe hast du dir selbst eingebrockt. Jetzt sieh zu, wie du sie wieder auslöffelst. Dann, nach kurzem Schweigen, sagt Parker: »Machen Sie den Mund auf.« »Wie bitte?« Kann er Gedanken lesen? Ein heftiges Schamgefühl überkommt mich und löscht die Angst fast vollständig aus. »Machen Sie den Mund auf.« Seine Stimme klingt heiter, als amüsiere er sich über etwas. Ich mache den Mund ein klein wenig auf und komme mir sehr kindisch vor. Etwas Eckiges, Hartes streift meine Lippen und zwingt sie weiter auf, und dann gleitet etwas Kantiges in meinen Mund, das sich anfühlt wie Eis – glatt und zerfließend. Sein Daumen oder Zeigefinger streicht an meiner Lippe vorbei, rau wie Schmirgelpapier. Vielleicht ist es auch sein Handschuh. Ich schließe den Mund um das Ding, und als es warm wird und schmilzt, scheint sein Geschmack mit einer erdigen, rauchigen Süße zu explodieren, bei der mir fast schwindlig wird und mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Ich lächle. Ahornsirup. Wo er den herhat, weiß ich nicht. »Gut?«, fragt er, und an seinem Tonfall merke ich, dass er ebenfalls lächelt. Ich lege den Kopf zur Seite und überlege mir, was ich darauf sagen soll. »Mm«, murmle ich leichthin, noch immer wohl verborgen hinter meiner Kompresse. Die macht mich wagemutig. »Soll das meinen Augen helfen?« »Nein. Das soll gut schmecken.« Ich hole tief Luft – und vermischt mit herbstlichem Dunst und Süße rieche ich einen Hauch bitterer Holzkohle. »Ich habe Angst.« »Ich weiß.« Ich warte hinter meiner Maske auf Parkers tröstende, beruhi490
gende Worte. Er überlegt lange, wählt sie mit Bedacht, wie es scheint. Und spricht sie nicht aus.
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er Suchtrupp besteht aus fünf Freiwilligen: Mackinley, Sam, einem einheimischen Führer, einem Jungen aus dem Dorf namens Matthew Fox, der beweisen will, dass er sich in der Wildnis behaupten kann, Ross, der Mann, dessen Frau und Sohn vermisst werden, und Thomas Sturrock, der ehemalige Fahnder. Sturrock weiß sehr wohl, dass er hier nur geduldet ist. Den anderen muss er wie ein alter Mann erscheinen, und keiner weiß so recht, was er überhaupt in Caulfield zu suchen hat. Es ist allein seinem erheblichen Charme zu verdanken, dass er überhaupt mitkommen darf. Das, und ein langer Abend, an dem er dem verschlagenen Mackinley Honig ums Maul schmieren und ihm seine vergangenen Triumphe unter die Nase reiben musste. Er hat sogar mit seinen Fertigkeiten als Spurensucher geprahlt, doch glücklicherweise hat Sammy bisher keine Hilfe gebraucht. In dem unberührten, blendend weißen Neuschnee weiß Sturrock nicht einmal, ob sie alten Spuren folgen oder nicht. Doch er ist dabei, und jeder Schritt bringt ihn näher zu Francis Ross und dem eigentlichen Ziel seiner Reise. Seit Maria Knox aus Sault zurückgekehrt ist und ihm die aufsehenerregende Geschichte ihres Zusammentreffens mit Kahon’wes erzählt hat, brennt in ihm eine Erregung, die er für alle Zeiten verloren geglaubt hatte. In Gedanken ist er alles viele Male durchgegangen – konnte Kahon’wes gewusst haben, dass er dahintersteckte? Konnten die Namen, die er genannt hatte, reiner Zufall sein? Unmöglich. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass auf dem Plättchen eine Irokesenschrift zu lesen ist und dass es das Bündnis ihrer fünf Stämme dokumentiert. Wer weiß, vielleicht stammte es gar aus dieser Zeit. Ob das nun stimmte oder nicht, der langfristigen Folgen war er sich durchaus bewusst: Die Auswirkungen, die diese Entdeckung auf die 492
Indianerpolitik haben würde, die Schande, die es über die Regierungen diesseits und jenseits der Grenze bringen würde, das Gewicht, dass es den Rufen der Ureinwohner nach Autonomie verleihen würde. Welcher Mensch strebt nicht danach, Gutes zu tun und gleichzeitig Gewinn daraus zu schlagen? Dieser Art waren seine Gedanken in den ersten Stunden. Dann fing er an, darüber nachzudenken – denn er ist zu allererst Pragmatiker –, dass Maria Recht haben und das Ding eine gut gemachte Fälschung sein könnte. Im tiefsten Inneren weiß er, dass das eigentlich ganz gleich ist. Er wird Kahon’wes dazu bringen, ihn zu unterstützen. Das dürfte nicht allzu schwer sein. Wenn er das Ding überzeugend und geschickt genug präsentiert (auch das ist kein Problem), wird er sich mit dem ersten Wirbel darum einen Namen machen, und jede darauf folgende Debatte wäre nur gute Werbung. Von der Tatsache, dass er keine Ahnung hat, wo das Täfelchen ist, lässt er sich nicht beunruhigen. Er ist zuversichtlich, dass Francis Ross es mitgenommen hat, und sobald sie ihn eingeholt haben, wird er den Jungen überreden, es ihm auszuhändigen. Er hat sich die Worte, die er benutzen will, sorgfältig zurechtgelegt … Er stolpert über eine Unebenheit, seine Hose verfängt sich in einer Schneekruste, und er fällt auf die Knie. Er ist der letzte in der Reihe und bleibt einfach liegen, eine behandschuhte Hand auf dem Schnee, und schnappt nach Luft. Seine Gelenke schmerzen vor Kälte. Es ist Jahre her, seit er zuletzt zu Fuß unterwegs war. Er hat ganz vergessen, wie kräftezehrend das ist. Hoffentlich ist es auch das letzte Mal. Der Mann vor ihm, Ross, merkt, dass er gestürzt ist, dreht sich um und wartet auf ihn. Gott sei Dank kommt er nicht und hilft ihm beim Aufstehen. Das wäre doch zu peinlich. Maria hat berichtet, Ross in Sault mit einer anderen Frau gesehen zu haben, und hat darüber spekuliert, ob er am Verschwinden seiner Frau wirklich völlig unschuldig sei. Sturrock musste darüber schmunzeln, weil er gerade von Maria derart sensations493
lüsterne Gedanken nicht erwartet hätte. Doch, so hatte Maria bemerkt, war das auch nicht sensationslüsterner als die allgemein verbreitete These, Mrs Ross sei mit dem entflohenen Häftling durchgebrannt (und ihr Mann hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt!). Sturrock findet den Mann sehr interessant. In seinem Gesicht kann man nichts lesen. Sollte das Schicksal seiner Frau oder seines Sohnes ihn sorgen, so zeigt er es nicht. Was ihn bei den übrigen Männern des Suchtrupps nicht gerade beliebt macht. Ross hat sich bisher Sturrocks sämtlichen Versuchen, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, entzogen, doch Sturrock setzt unerschrocken zu einem Spurt an, um ihn wieder einzuholen. »Sie scheinen sich in der Gegend auszukennen, Mr Ross«, keucht er, bemüht, seinen angestrengten Atem wieder zu beruhigen. »Ich nehme an, Sie sind schon oft zu Fuß gereist.« »Eigentlich nicht«, murmelt Ross, und dann, vielleicht weil er Mitleid mit dem hechelnden alten Mann hat, erklärt er: »Nur kleine Jagdausflüge und so was. Keine weiten Reisen wie Sie.« »Ach …« Sturrock fühlt sich ein klein wenig geschmeichelt. »Sie machen sich sicher Sorgen um Ihre Familie.« Ross stapft eine Weile schweigend weiter, den Blick stur zu Boden gerichtet. »Manche meinen, ich mache mir nicht genug Sorgen.« »Man muss kein öffentliches Spektakel aus seinem Kummer machen.« »Nein.« Er klingt sarkastisch, doch Sturrock ist zu beschäftigt, mit seinen Schneeschuhen in die Stapfen des jungen Mannes vor sich zu treten, um seinem Gefährten ins Gesicht zu sehen. Und einen Augenblick später sagt Ross: »Neulich war ich in Sault. Ich habe eine Freundin meiner Frau besucht, weil ich wissen wollte, ob sie etwas von ihr gehört hat. Als ich da war, habe ich das ältere der Knox-Mädchen gesehen. Sie hat mich auch gesehen und sich furchtbar erschreckt – ich nehme an, inzwischen hat es sich im ganzen Ort herumgesprochen, dass ich eine Geliebte habe.« 494
Sturrock lächelt, schuldbewusst, aber erleichtert. Er ist froh, dass Mrs Ross jemanden hat, dem sie am Herzen liegt. Ross sieht ihn kühl an. »Hab ich mir doch gedacht.« Zwei Tage nachdem sie Dove River verlassen haben, hält Sammy plötzlich inne und bittet mit erhobener Hand um Ruhe. Alles bleibt wie angewurzelt stehen. Der Führer berät sich mit Mackinley, der ganz vorne geht, dann wendet er sich an die anderen. Gerade will er etwas sagen, als man ganz in der Nähe aus dem Wald einen Schrei hört und dann das Knacken von Zweigen. Alle Männer drehen sich entsetzt um. Mackinley und Sammy legen die Gewehre an, für den Fall, dass es ein Bär ist. Sturrock hört einen schrillen Schrei und erkennt, dass er von einem Menschen stammt – einer Frau. Er und Angus Ross, die am nächsten stehen, stürmen los, fallen in hohe Schneewehen und werden von Gestrüpp und verschneiten Hindernissen aufgehalten. Es ist so schwer voranzukommen, dass es einige Augenblicke dauert, ehe sie sehen, wer da nach ihnen ruft. Flüchtige Blicke durch die Bäume: Sturrock glaubt, dass es mehr als eine Gestalt ist – aber eine Frau? Mehrere Frauen … mitten im Winter hier draußen? Und dann sieht er sie deutlich: eine dünne, dunkelhaarige Frau müht sich zu ihnen, ihr Schultertuch schleift hinter ihr auf dem Boden, mit weit aufgerissenem Mund stößt sie einen Schrei der Erschöpfung aus und der Erleichterung, die noch mit der Angst kämpft, sie alle, all diese Männer, könnten nur ihrer Fantasie entsprungen sein. Sie taumelt durch das Gestrüpp auf Sturrock zu und bricht ein paar Schritte vor ihm zusammen, und Ross fängt ein Kind in seinen Armen auf. Sturrock läuft zu der Frau und geht auf die Knie, die Parodie einer romantischen Szene, weil seine Schneeschuhe ihm dabei in die Quere kommen. Das Gesicht der Frau ist spitz vor Erschöpfung und Angst, ihre Augen verstört, als fürchte sie sich vor ihm. »Na, na, es ist alles gut. Sie sind jetzt in Sicherheit. Pscht …« 495
Er ist sich nicht sicher, ob sie ihn versteht. Ein kleiner Junge ist hinter ihr aufgetaucht und steht da, eine Hand schützend auf ihre Schulter gelegt, und stiert Sturrock aus dunklen, misstrauischen Augen an. Sturrock weiß ohnehin nie, was er zu Kindern sagen soll, und dieses wirkt nicht gerade nett. »Hallo. Wo kommt ihr denn her?« Der Junge murmelt ein paar Worte, die er nicht versteht, und die Frau antwortet in derselben eigenartigen Sprache – es ist kein Französisch, das kann er, und Deutsch ist es auch nicht. »Sprechen Sie Englisch? Verstehen Sie mich?« Die anderen sind dazu gekommen und scharen sich ungläubig staunend um sie. Es sind eine Frau, ein kleiner Junge, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, und ein kleines Mädchen, das noch jünger sein muss. Sie alle zeigen die gleichen Anzeichen, lange Kälte und Hunger ausgesetzt gewesen zu sein. Keiner von ihnen sagt ein Wort, das sie verstehen. Man beschließt, ein Lager aufzuschlagen, obwohl es nicht einmal zwei Uhr ist. Sammy und Matthew bauen einen Unterschlupf unter einem entwurzelten Baumstamm und sammeln Holz für ein großes Feuer, während Angus Ross heißen Tee und etwas zu Essen kocht. Mackinley geht zu der Stelle im Wald, auf die die Frau zeigt, und als er zurückkommt, führt er eine halb verhungerte Stute am Zügel, die nun in Decken gewickelt dasteht und Haferflocken frisst. Die Frau und die Kinder kauern ums Feuer. Nachdem sie leise miteinander getuschelt haben, steht die Frau auf und geht zu Sturrock. Sie bedeutet ihm, unter vier Augen mit ihm reden zu wollen, also gehen sie ein paar Schritte vom Lager fort. »Wo sind wir?«, fragt sie ohne jede Vorrede. Ihm fällt auf, dass sie beinahe akzentfrei Englisch spricht. »Wir sind eineinhalb Tagesreisen von Dove River im Süden entfernt. Wo kommen Sie her?« Sie starrt ihn an, und ihr Blick irrt zu den anderen. »Wer sind Sie?« 496
»Ich heiße Thomas Sturrock, ich komme aus Toronto. Die anderen sind aus Dove River, bis auf den Mann mit dem kurzen braunen Haar – das ist Mackinley, ein Bediensteter der Hudson Bay Company, und ein Führer.« »Was machen Sie hier? Wo wollen Sie hin?« Sollten ihre Fragen undankbar erscheinen, so ist sie sich dessen wohl nicht bewusst. »Wir folgen einer nach Norden führenden Spur. Einige Menschen werden vermisst.« ’ Er kann die ganze verzwickte Lage niemals bis in alle Einzelheiten erklären, also versucht er es erst gar nicht. »Und wo führt diese Spur hin?« Sturrock lächelt. »Das werden wir wohl erst erfahren, wenn wir an ihrem Ende angekommen sind.« Die Frau atmet aus, und ein wenig ihrer angestauten Angst und Anspannung scheinen von ihr abzufallen. »Wir sind auf dem Weg nach Dove River. Wir haben unseren Kompass und unser zweites Pferd verloren. Es war noch jemand bei uns. Er ist losgegangen, um …« In ihrem Gesicht leuchtet ein wenig Hoffnung auf. »Hat einer von Ihnen in den letzten Tagen einen Schuss abgegeben?« »Nein.« Sie sinkt wieder in sich zusammen. »Wir sind getrennt worden, wir wissen nicht, wo er jetzt ist.« Ihr Gesicht nimmt einen sorgenvollen Ausdruck an. »Vielleicht waren es Wölfe. Sie haben eins der Pferde getötet. Uns hätten sie auch beinahe getötet. Vielleicht …« Sie fängt an zu schluchzen, aber sehr leise und ohne eine einzige Träne. Sturrock tätschelt ihr die Schulter. »Pscht. Jetzt wird alles gut. Es muss schrecklich gewesen sein, aber jetzt ist es vorbei. Jetzt brauchen Sie keine Angst mehr zu haben.« Die Frau hebt den Kopf und sieht ihn an, und er bemerkt, wie hübsch ihre Augen sind: klare, hellbraune Augen in einem 497
ebenmäßigen, ovalen Gesicht. »Danke. Ich weiß nicht, was wir ohne Sie gemacht hätten. Sie haben uns das Leben gerettet.« Sturrock höchstpersönlich versorgt die erfrorenen Hände der Frau. Mackinley beruft eine kleine Zusammenkunft ein, und man beschließt, dass Sammy und er weitergehen und den vermissten Mann suchen werden – es sind deutliche Spuren zu sehen –, während die anderen im Lager bleiben. Wenn sie ihn bis zum folgenden Abend nicht gefunden haben, dann sollen Matthew und Sturrock die Frau und ihre Kinder nach Dove River bringen. Sturrock ist nicht besonders glücklich über diese Vereinbarung, aber er versteht, dass es sinnvoller ist, wenn die drei ausdauerndsten Männer weitermarschieren, um zügig voranzukommen. Außerdem schmeichelt es ihm auch ein wenig, dass die Frau sich ausgerechnet ihm anvertraut hat. Sonst hat sie noch mit niemandem gesprochen, und sie hält sich in seiner Nähe auf und schenkt ihm sogar hin und wieder ein außergewöhnlich reizendes Lächeln. ( »Sie sind also aus Toronto …?« ) Er erklärt sich das dadurch, dass er inzwischen in einem Alter ist, in dem er auf Frauen nicht mehr so bedrohlich wirkt, weiß aber, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Mackinley und Sammy brechen noch im Hellen auf, weil sie aus der wirren Geschichte der Frau folgern, ihr Mann könne möglicherweise verletzt sein. Das Dämmerlicht unter den Bäumen verschluckt sie, und Ross schenkt jedem ein kleines Schlückchen Brandy ein. Die Frau wird daraufhin zusehends munterer. »Wer sind denn die Leute, die Sie verfolgen?«, fragt sie, als die Kinder tief und fest eingeschlafen sind. Ross seufzt und sagt gar nichts. Matthew schaut von Ross zu Sturrock, der dies als Fingerzeig auffasst. »Das ist eine merkwürdige Geschichte und nicht leicht zu erklären. Mr Ross, möchten Sie vielleicht … Nein? Also, vor ein paar Wochen hat sich ein bedauerlicher Unglücksfall ereignet, 498
bei dem ein Mann zu Tode gekommen ist. Ungefähr zur gleichen Zeit ist Mr Ross’ Sohn aus Dove River verschwunden – möglicherweise ist er jemandem gefolgt. Dann haben sich zwei Männer der Hudson Bay Company auf die Suche nach ihm gemacht, um ihn zu dem Zwischenfall zu befragen. Auch sie sind bereits seit geraumer Zeit fort, und man hat noch nichts von ihnen gehört.« »Und …« Matthew beugt sich eifrig nach vorne, beflügelt vom offensichtlichen Interesse der Frau, »das ist noch längst nicht alles! Da war noch ein Mann, den man verhaftet hat, weil man ihn des Mordes verdächtigte – ein Halbblut, ein fies aussehender Geselle –, und der ist ausgebrochen, also, ja, nein, tatsächlich hat ihn jemand freigelassen, und ist mit Francis’ Mutter verschwunden … und seither wurden sie nicht mehr gesehen!« Matthew hält inne und wird hochrot. Zu spät merkt er, was er da sagt, und wirft Ross einen verschreckten Blick zu. »Wir wissen gar nicht, ob sie zusammen aufgebrochen sind oder ob überhaupt einer von ihnen diesen Weg genommen hat«, ermahnt Sturrock ihn mit einem vorsichtigen Seitenblick auf Ross, der völlig ungerührt wirkt. »Doch das ist, kurz gesagt, der Grund, dass wir hier sind – alle, die wir finden können, zu finden und uns zu vergewissern, dass es … ihnen gut geht.« Die Frau beugt sich zum Feuer vor, ihre Augen sind groß und funkeln. Sie ist wie verwandelt und gleicht gar nicht mehr dem verängstigten Wesen, das sie nur ein paar Stunden zuvor im Wald gefunden haben. Sie holt tief Luft und legt den Kopf schief. »Sie sind so gut zu uns gewesen. Wir verdanken Ihnen unser Leben. Also glaube ich, Ihnen, Mr Ross, sagen zu müssen, dass ich Ihren Sohn gesehen habe, und Ihre Frau auch, und dass es ihnen beiden gut geht. Es geht ihnen allen gut!« Zum ersten Mal wendet sich Ross ihr zu, und er starrt sie an. Hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, Sturrock hätte nie geglaubt, dass ein Gesicht aus Granit schmelzen kann. 499
A
ls Francis aufwacht, scheint zum ersten Mal seit Wochen die Sonne. Eine unheimliche Stille herrscht um ihn herum – von den üblichen Geräuschen auf dem Flur oder im Hof ist nichts zu hören. Er zieht sich an und geht zur Tür. Sie ist unverschlossen. Seit Moody fort ist, nimmt man es mit dem Abschließen nicht mehr so genau. Er fragt sich, was wohl passieren würde, ginge er auf eigene Faust hinaus. Womöglich würde jemand in Panik geraten und auf ihn schießen. Doch das ist eher unwahrscheinlich, da die Auserwählten Gotteskinder grundsätzlich unbewaffnet sind. Er könnte ohnehin nirgendwo hingehen, ohne mit seinem Hinkebein gut sichtbare Spuren im Schnee zu hinterlassen. Auf die Krücke gestützt humpelt er in den Flur. Es kommt keiner angelaufen, und es ist auch kaum ein Lebenszeichen von den anderen zu hören. Francis überlegt rasch – ist Sonntag? Nein, der ist erst ein paar Tage her (hier fällt es schwer, die Wochentage auseinanderzuhalten). Er malt sich aus, alle seien urplötzlich verschwunden. Kritisch beäugt er den langen Flur. Er hat keine Ahnung, wohin die einzelnen Türen führen, da er sein Zimmer noch nie verlassen hat. Keine Spur von seinem Kerkermeister Jacob. Endlich entdeckt er die Tür, die nach draußen führt, und geht hinaus. Die frische Luft trifft ihn wie ein Schlag und ist ebenso kalt wie angenehm. Die Sonne blendet ihn, sein Gesicht brennt von der Kälte, und doch saugt er tiefe Atemzüge in seine Lungen und genießt den Schmerz. Wie hatte er es bloß ertragen können, so lange in diesem Zimmer zu liegen? Er ist entsetzt über sich selbst. Er versucht, ein wenig schneller zu gehen, hopst vor der Tür auf und ab und gewöhnt sich langsam an die Krücke. Und dann hört er einen Schrei. Er folgt dem Geräusch um die Ecke des Stalls und sieht ein paar hundert Schritte entfernt einen 500
Menschenauflauf. Sein erster Impuls ist, sich schnell zu verstecken, doch sie scheinen sich nicht sonderlich für ihn zu interessieren, also hinkt er näher heran. Jacob ist auch unter ihnen. Er sieht Francis und kommt auf ihn zu. »Was ist los? Warum sind alle hier draußen?« Jacob blickt über die Schulter zurück. »Ich habe dir doch erzählt, dass Line und der Zimmermann durchgebrannt sind? Nun … er ist wieder zurückgekommen.« Langsam humpelt Francis auf die Norwegerschar zu. Etliche Frauen weinen. Per murmelt etwas, das wie ein Gebet klingt. Mittendrin steht der Mann, den Jacob gemeint haben muss – ein hohläugiger, unrasierter Kerl, seine Nase und Wangen sind rot und wund vor Kälte, sein Bart weiß von Reif. Das ist also der Zimmermann, den er noch nie gesehen hat, der sich mit Line davongeschlichen hat. Jemand stellt ihm Fragen, doch er wirkt wie benommen. Francis schilt sich, dass er eine so lange Leitung hat, und stolpert dann immer wütender werdend auf ihn zu. »Was haben Sie mit ihr gemacht?«, brüllt er, obwohl er gar nicht weiß, ob der Mann Englisch spricht. »Wo ist Line? Haben Sie sie etwa da draußen allein gelassen? Und ihre Kinder?« Der Zimmermann dreht sich erstaunt zu ihm um – verständlich, da er Francis noch nie gesehen hat. »Wo ist sie?«, dringt Francis grimmig und besorgt in ihn. »Sie … ich weiß es nicht.« Der Mann gerät ins Stocken. »Eines Nachts … wir sind in ein Dorf gekommen, und ich konnte es einfach nicht mehr ertragen. Ich wusste, dass ich etwas Falsches tat. Ich wollte zurückkommen. Also habe ich sie dagelassen … in dem Dorf.« Eine Frau mit spitzem Gesicht steht neben ihm und klammert sich unter Tränen an ihn. Francis nimmt an, dass es seine verlassene Ehefrau ist. »Was für ein Dorf war das? Wie weit von hier?« Die Augen des Mannes flackern. »Ich weiß nicht, wie es heißt. Es war an einem Fluss … einem kleinen Fluss.« 501
»Wie viele Tagesreisen von hier?« »Ähm … drei Tage.« »Du lügst. Es gibt kein Dorf drei Tagesreisen von hier entfernt, nicht, wenn ihr Richtung Süden gegangen seid.« Der Mann wird noch blasser als zuvor. »Wir haben den Kompass verloren …« »Wo haben Sie sie gelassen?« Der Zimmermann fängt an zu weinen. Dann irgendwann beginnt er, halb auf Norwegisch, halb auf Englisch, stockend zu erzählen. »Es war schrecklich … Wir hatten uns verirrt. Ich habe einen Schuss gehört, und ich dachte, ich könnte den Jäger ausfindig machen und der könnte uns den richtigen Weg weisen. Aber ich konnte ihn nicht finden … Dann waren da Wölfe. Als ich zurückkam, war überall Blut, und sie waren … verschwunden.« Er schluchzt herzzerreißend. Die Frau mit dem schmalen Gesicht weicht vor ihm zurück, als ekelte sie sich vor ihm. Die anderen starren Francis mit offenem Mund und unverhohlener Neugier an – die meisten von ihnen haben ihn nicht mehr gesehen, seit er halbtot hergebracht wurde. Francis spürt, wie ihm die Tränen in die Augen steigen und ihm den Hals zuschnüren, als wollten sie ihn ersticken. Per hebt die Hand und bittet um Aufmerksamkeit. »Ich glaube, wir sollten lieber alle wieder nach drinnen gehen. Espen muss versorgt werden und braucht etwas zu essen. Dann finden wir heraus, was genau passiert ist, und senden Männer aus, sie zu suchen.« Er spricht in seiner eigenen Sprache, und ganz allmählich drehen sich alle um und gehen zu den Häusern zurück. Jacob tritt neben Francis. Er sagt nichts, bis sie schon fast drinnen sind. »Hör zu. Ich weiß nicht, aber … Es kommt mir seltsam vor, dass Wölfe drei Menschen angegriffen und umgebracht haben sollen. Vielleicht stimmt es gar nicht, was er gesagt hat.« 502
Francis sieht ihn an. Er wischt sich die Nase am Ärmel ab. Vor seiner Zimmertür ruft Per die beiden zu sich. »Jacob … Francis … ihr müsst nicht wieder dort reingehen. Kommt in den Gemeinschaftsraum, und esst mit uns.« Erstaunt und gerührt folgt Francis Jacob, der vor ihm geht, in den Speiseraum. Sie essen Brot und Käse und trinken Kaffee. Ein gedämpftes Raunen liegt über dem Saal, das kaum lauter ist als ein Flüstern, denn alle sind ganz eingeschüchtert von den Ereignissen des Tages. Francis denkt daran, wie gut Line zu ihm war, wie sehr sie sich danach gesehnt hat fortzugehen. Aber sie ist auch zäh. Vielleicht ist es gar nicht so gewesen. Ans Schlimmste will er vorläufig noch nicht denken. Keiner der Anwesenden scheint ihn misstrauisch zu beäugen. Er würde ja mitgehen, um nach Line zu suchen, wenn er könnte, doch sein Knie pocht von der ungewohnten Anstrengung, und er fühlt sich schwach wie ein kleines Kind. Wochenlang hat er in dem weißen Zimmer gelegen, seine Muskeln sind weich geworden und seine Haut blass wie Rhabarber, der unter einem Topf wächst. Wochen ist es her, seit … Mit Entsetzen muss er feststellen, dass er seit mindestens einer Stunde nicht mehr an Laurent gedacht hat, und zwar seit er die Menschenmenge dort draußen auf dem verschneiten Feld gesehen hat. Nein, um ehrlich zu sein, nicht mehr, seit er die Tür nach draußen aufgemacht und die herrliche, kalte Luft geschmeckt hat. So lange hat er nicht mehr an Laurent gedacht, und es kommt ihm vor, als sei er ihm untreu geworden. Von der Anhöhe hinter der Hütte hat Francis an jenem Abend vor langer, langer Zeit Licht durch die Pergamentfensterscheiben gesehen. Leise ist er den Abhang hinabgelaufen, für den Fall, dass Laurent Besuch haben sollte. Das ist – war – oft der Fall, und wenn dem so war, hielt Francis sich für gewöhnlich 503
fern. Er wollte nicht noch eine Standpauke von seinem scharfzüngigen Freund riskieren. Er hörte, wie die Tür aufging, und sah einen Mann mit langen schwarzen Haaren in den Garten treten. Er hatte etwas in der Hand – was, konnte Francis nicht erkennen –, das er vorsichtig in seinem Beutel verstaute. Dann sah er sich um oder lauschte vielmehr, mit der wachsamen Reglosigkeit eines erfahrenen Fährtensuchers. Francis rührte sich nicht. Es war Mitternacht und recht dunkel, aber er wusste, dass es niemand aus Dove River war – er kannte sie alle, wusste, wie sie gehen, sich bewegen, wie sie atmen. Dieser Mann war anders. Der Mann spuckte aus, drehte sich zur geöffneten Tür um, und Francis erhaschte einen kurzen Blick auf dunkle, glänzende Haut, fettiges Haar, das sich um die Schultern lockte, ein versteinertes, verschlossenes Gesicht. Nicht mehr der Jüngste. Er ging zurück in die Hütte und verschwand aus Francis’ Blickfeld. Dann ging das Licht in der Hütte aus. Der Mann kam heraus und murmelte etwas vor sich hin, dann verzog er sich nach Norden in Richtung Fluss. Sein Gang war völlig lautlos. Francis atmete erleichtert auf – wenn ein Händler in der Nähe war, musste er sich fernhalten. Aber dieser Mann würde nicht dableiben. Francis schlich den Hügel hinunter und tappte zur Vordertür. Von drinnen war kein Laut zu hören. An der Tür hielt er einen Augenblick inne, ehe er öffnete. »Laurent?«, wisperte er und schämte sich für sein Flüstern. »Laurent?« Es war höchst wahrscheinlich, dass Laurent böse auf ihn war – ihr letzter Streit lag erst eineinhalb Tage zurück. Oder aber – und bei diesem Gedanken wird ihm eiskalt ums Herz – war er bereits zu seiner geheimnisvollen letzten Reise aufgebrochen und hatte ihn abserviert? Vielleicht war er früher abgereist als angekündigt, um ihm aus dem Weg zu gehen, um eine Szene zu vermeiden. Das sähe ihm ähnlich. Francis drückte die Tür auf. Drinnen war es still und dunkel, 504
aber auch warm vom Ofen. Francis tastete sich zu der Stelle vor, an der normalerweise eine Lampe stand, und fand sie auch. Er machte die Ofentür auf und zündete eine Binse an, hielt sie an den Docht der Lampe und blinzelte, als es plötzlich hell wurde. Keine Reaktion auf sein Eintreten. Laurent war fort, aber wie lange schon? Möglicherweise war er unterwegs und verfolgte einen Wolf. Vielleicht war er nicht für immer fort, denn sonst hätte er doch sicher nicht den Ofen brennen lassen. Vielleicht war er … Es waren nur noch ein paar Sekunden seines alten Lebens übrig, und Francis vertrödelte sie gedankenlos, indem er am Lampendocht herumfingerte. Sobald er sich umdrehte, würde er Laurent auf dem Bett liegen sehen. Sofort würde ihm der seltsame rote Fleck auf seinem Kopf auffallen, dann würde er schnell hingehen und sein Gesicht sehen, den Hals, die tödliche Wunde. Würde sehen, dass seine Augen noch feucht waren. Würde fühlen, dass er noch warm war. Francis blinzelt, um die Tränen zurückzudrängen. Jacob sagt etwas zu ihm: Er sagt, er will nach draußen gehen – er mag es nicht, lange herumzusitzen. Jacob legt ihm eine Hand auf die Schulter – heute sind alle so nett zu ihm, dass er es kaum ertragen kann – und fragt, ob Francis eine Weile allein zurechtkommt. Er muss ihm nicht mehr drohen, er solle nicht fortlaufen … ha! Francis gibt sein Einverständnis zu verstehen, und sein trauriges Gesicht wird als Kummer über das Schicksal, das Line möglicherweise ereilt hat, gedeutet. Nachdem er Laurents Leiche gesehen, nachdem er entsetzt weiß Gott wie lange dagestanden hatte, kam Francis zu dem Schluss, dass er den Mörder verfolgen müsse. Mit dem, was er gesehen hatte, konnte er nicht nach Hause gehen. Wollte keinen Augen505
blick länger in Dove River bleiben, da Laurent, der allein ihm die Enge dieses Nests erträglich gemacht hatte, fort war. Er nahm Laurents Tasche und packte eine Decke hinein, etwas zu essen, ein Jagdmesser – größer und schärfer als seins. Er sah sich in der Hütte um, suchte ein Zeichen, eine letzte Botschaft von Laurent an ihn. Keine Spur von Laurents Gewehr – hatte der Mann eins dabeigehabt? Er versuchte, sich ihn vorzustellen, und plötzlich wusste er, was der Mann da so sorgsam in seinen Beutel gesteckt hatte, und ihm wurde übel. Den Blick vom Bett abgewandt, stemmte er eine Bodendiele hoch und tastete nach Laurents Geldtasche. Es war nicht viel drin, bloß eine kleine Rolle Banknoten und ein seltsames, geschnitztes Knochenplättchen, das Laurent für wertvoll gehalten hatte, also nahm er auch das mit. Laurent hatte es ihm schließlich einmal schenken wollen, damals vor vielen Monaten, als er ausnehmend guter Laune gewesen war. Und als Letztes nahm er Laurents Wolfsfellmantel, den mit dem Pelzfutter. Den würde er nachts brauchen. Still verabschiedete er sich. Und ging in dieselbe Richtung davon, die der Fremde eingeschlagen hatte; und er hatte keine Ahnung, was er tun würde, sollte er ihn tatsächlich in die Finger bekommen.
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I
ch erinnere mich, wie ich einmal vor langer Zeit zu einer Reise aufgebrochen bin, und ich nehme an, sie ist mir deshalb noch so lebhaft vor Augen, weil sie den Abschluss eines Kapitels meines Lebens bedeutete und den Anfang eines anderen. Sicher gilt das für viele Menschen in der Neuen Welt, aber ich meine nicht meine Reise über den Atlantik, so unsäglich sie auch gewesen ist. Die Reise, die ich meine, führte von den Toren der Irrenanstalt zu einem großen, halb verfallenen Haus in den westlichen Highlands. Begleitet wurde ich dabei von einem Mann, der später mein Ehemann werden sollte, doch davon ahnte ich damals natürlich noch nichts. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wie wichtig diese Reise für mich werden sollte, aber als ich sie erst einmal angetreten hatte, veränderte sich mein Leben schlagartig für alle Zeiten. Nie hätte ich das gedacht, aber ich bin nie wieder nach Edinburgh zurückgekehrt, und als die Kutsche die Anstalt über ihre lange, gebogene Auffahrt hinter sich ließ, zerrissen gewisse Bande – die zu meiner Vergangenheit, meinen Eltern, meinen recht behaglichen Verhältnissen, selbst zu meinem gesellschaftlichen Stand –, die sich nie wieder zusammenfügen sollten. Rückblickend habe ich immer gern an diese Reise gedacht. Ich stellte mir vor, wie das Schicksal die Hand im Spiel hatte, wie es die Fäden hinter mir durchschnitt, während ich in sprachloser Unwissenheit in dieser ruckelnden Kiste saß und mich fragte, ob ich wahnsinnig war (sozusagen), die Anstalt und damit jegliche Bequemlichkeit zurückzulassen. Und ich frage mich, inwieweit wir uns dessen bewusst werden, wenn unumkehrbare Mächte am Werk sind. Damals war ich mir dessen natürlich nicht bewusst. Und umgekehrt: Wie häufig sind wir überzeugt, etwas sei von größter Bedeutung, und schon am nächsten Morgen hat es sich sang- und klanglos in Luft aufgelöst? 507
Was auch immer mir durch den Kopf ging, nun sind wir am Ziel. Am Ende dieser Reise, die mir so wichtig erscheint. Aber vielleicht ist es auch bloß die Angst vor dem, was passieren wird, die sie mir so bedeutsam erscheinen lässt. Die Gegend hier ist weniger eintönig. Sie ist gewellt wie ein faltenschlagender Teppich. Und vor uns kann ich durch die feurigen Blitze, die vor meinen Augen tanzen, einen See ausmachen. Er ist lang und krumm wie ein Finger, der uns heranlockt, und schlingt sich um einen gigantischen Felsbrocken herum, der in seiner Mitte hundert Fuß oder höher in den Himmel ragt. Am anderen Ufer stehen Bäume, aber es ist eher Gebüsch als Wald. Der See ist zum größten Teil gefroren, glatt und weiß wie eine Schlittschuhbahn. Aber an einem seiner Enden, dort, wo sich der Fluss einen kleinen felsigen Wasserfall hinunter ergießt, steigt Dampf aus dem schwarzen Wasser auf, weil die Turbulenzen den See an dieser Stelle eisfrei halten. Wir überqueren den zugefrorenen See. Die Sonne steht kalt im Westen, der Himmel ist strahlend blau, die Bäume heben sich schwarz wie auf einer Kohlezeichnung gegen den Schnee ab. Ich versuche mir vorzustellen, aus einem anderen Grund hier zu sein, einem guten Grund, doch die Wahrheit ist, dass es gar keinen anderen Grund gäbe, mit Parker hier zu sein. Wir haben nichts gemeinsam als den Tod, der uns zusammenhält. Den Tod und den Wunsch nach irgendeiner Art von Gerechtigkeit. Und wenn alles getan ist – was immer getan sein wird –, wird es nichts mehr geben, das uns zusammenhält. Der Gedanke daran ist mir unerträglich. Unter den Bäumen ist der Schnee nicht ganz so hoch. Die Hütte ist so verwahrlost und verwittert, dass man sie nicht wahrnimmt, bis man direkt davor steht. Die Tür steht halb offen, hängt schief in den verrotteten Angeln, und Schnee ist hineingeweht und hat eine niedrige Barriere errichtet. Parker steigt darüber, und ich folge ihm und ziehe mir das Tuch aus dem Gesicht. Es gibt nur ein Fenster mit verschlossenem Laden, es 508
ist herrlich dunkel. Im Inneren findet sich nichts, was darauf hindeutet, dass die Hütte einmal als Unterkunft gedient hat, nur ein paar aufgestapelte Bündel, die vom hereingewehten Schnee weiß bestäubt sind. »Was ist das für ein Häuschen?« »Eine Trapperhütte. Könnte gut und gern hundert Jahre alt sein.« Die Hütte mit ihren verwitterten, silbergrauen Bohlen ist derart eingesackt und baufällig, dass sie wirklich schon so alt sein könnte. Der Gedanke fasziniert mich. Das älteste Gebäude von Dove River steht erst seit genau dreizehn Jahren auf Gottes Erde. Ich stolpere über etwas, das auf dem Boden liegt. »Sind das die Felle?« Ich weise auf die Bündel. Parker nickt, geht hin und schlitzt eins davon mit dem Messer auf. Dann zieht er einen dunklen, gräulichen Pelz hervor. »Haben Sie so einen schon mal gesehen?« Ich nehme das Fell, das sich geschmeidig anfühlt in meinen Händen, kalt ist und gleichzeitig unglaublich weich. So einen habe ich schon einmal gesehen, in Toronto, glaube ich, um den faltigen Hals einer reichen alten Frau geschlungen. Ein Silberfuchspelz. Sie wurde ständig darauf angesprochen, er sei gewiss hundert Guineas wert oder so etwas in der Art. Er ist silbrig und schwer und glatt und weich wie Seide. Alles das ist er. Aber so wertvoll? Ich bin enttäuscht von Parker. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber irgendwie hasse ich es, nach allem, was passiert ist, zugeben zu müssen, dass er den ganzen weiten Weg aus demselben Grund hierhergekommen ist wie Stewart. Ohne ein Wort zu sagen, richten wir uns in der Hütte ein. Parker arbeitet schweigend, aber dieses Schweigen ist anders, es zeugt nicht wie sonst davon, dass er völlig in das versunken ist, was er gerade tut. Ich merke, dass ihn irgendetwas beschäftigt. »Wie lange, glauben Sie, wird es dauern?« 509
»Nicht lange.« Keiner von uns geht näher darauf ein, worüber wir eigentlich reden, aber wir wissen beide, dass nicht das gemeint ist, was wir gerade tun. Immer wieder spähe ich zum Fenster hinaus, das nach Süden zeigt, aber man kann den Weg, den wir gekommen sind, von hier aus nicht sehen. Die Helligkeit draußen ist blendend. Jeder Blick jagt einen stechenden Schmerz durch mein Hirn. Aber ich kann einfach nicht in der Hütte bleiben. Ich muss allein sein. Ich halte mich zwischen den Bäumen, die das Westufer säumen, und gehe zu dem schwarzen, eisfreien Teil des Sees. Der Wasserfall zieht mich magisch an, er wirbelt und schäumt, ist aber unheimlich still. Ob wir überhaupt Feuer machen werden, wo wir doch auf Stewart warten? Ich habe einen sauren, metallischen Geschmack im Mund, den ich inzwischen gut kenne. Es ist der Geschmack meiner Feigheit. Es sind nur knapp zweihundert Schritte bis zum Kopfende des Sees, man müsste also annehmen, es sei unmöglich, sich auf dieser Strecke zu verlaufen. Doch genau das gelingt mir. Ich halte mich dicht am See, aber obwohl ich am Ufer entlang zurücklaufe, kann ich die Hütte nirgendwo entdecken. Zuerst bin ich noch ganz ruhig. Ich folge meinen Fußspuren zurück zum Wasserfall, der dunkel, sprühend und von immer blasserem Eis umsäumt ist. Ich spüre wieder diesen Drang – wie der Spaziergänger auf einem Kliff sich unwiderstehlich angezogen fühlt, immer näher an die Kante zu treten –, auf das Eis hinauszugehen, vom Weißen ins Graue, um herauszufinden, wie stabil es ist. So weit es geht zu laufen, und dann noch ein bisschen weiter. Ich drehe mich wieder um, sodass die untergehende Sonne und ihre feurigen Strahlen rechts von mir sind, und gehe wieder in den Wald hinein. Die Baumstämme brechen das Sonnenlicht in pulsierende Wellen, die meine Sicht trüben und alles verschwimmen lassen, bis mir schwindlig wird. Ich mache die 510
Augen zu, doch als ich sie wieder öffne, sehe ich überhaupt nichts mehr – eine brennende Leere löscht alles andere aus, und ich schreie auf vor Schmerzen. Trotz allem, was ich weiß, habe ich plötzlich Angst, mein Augenlicht für immer verloren zu haben. Äußerst selten nur ist Schneeblindheit von Dauer, aber es ist schon vorgekommen. Und dann denke ich: Wäre das denn so schlimm? Das würde bedeuten, Parkers Gesicht wäre das Letzte, was ich je gesehen habe. Ich falle auf alle viere, weil ich über etwas gestolpert bin; es fühlt sich an wie ein Buckel aus gefrorenem Schnee. Mit den Händen klopfe ich den Boden ab: vielleicht der Bau irgendeines Tieres. Die Erde ist dunkel und locker unter dem Schnee. Eine neue Angst kommt in mir auf. Es muss ein sehr großes Tier gewesen sein, das so viel Erde weggescharrt hat, und das erst vor Kurzem – sie scheint bröckelig und frisch und gibt unter meinen Händen nach. Ich drücke mich wieder hoch, und da streift meine Hand etwas unter der Erde, das mich mit einem Aufschrei, den ich nicht unterdrücken kann, zurücktaumeln lässt. Es ist weich und kalt und gibt nach wie Stoff oder … oder … »Mrs Ross?« Er ist neben mir, ohne dass ich ihn kommen gehört habe. Das Nichts verflüchtigt sich ein wenig, und ich kann seinen dunklen Umriss erkennen, aber meine Augen spielen mir Streiche. Rote und violette Schatten verschmelzen mit Ästen und weißen Schneeflecken. Er nimmt mich am Arm und sagt: »Pst, es ist niemand hier.« »Da drüben … da ist etwas auf dem Boden. Ich habe es berührt.« Übelkeit steigt in mir auf und legt sich dann wieder. Ich kann den Erdhügel nicht mehr sehen, aber Parker blickt sich um und findet ihn. Ich bleibe stehen und wische mir die Tränen aus den Augen, die unablässig fließen (grundlos, denn ich weine nicht). Wenn ich sie nicht sofort wegwische, gefrieren sie auf meinen 511
Wangen zu kleinen Perlen. »Das ist einer von ihnen, oder? Einer von den Norwegern.« Ich habe immer noch dieses Gefühl an meiner Hand, die unerklärlicherweise nackt ist. Parker bückt sich und scharrt Erde und Schnee beiseite. »Das ist keiner von den Norwegern.« Ich seufze erleichtert auf. Also doch ein Tier. Ich nehme eine Handvoll Schnee und schrubbe mir damit die Hände ab, um dieses grässliche Gefühl wegzubekommen. »Es ist Nepapanees.« Ich mache ein paar Schritte auf ihn zu, sehr unsicher, denn ich kann mich nicht darauf verlassen, dass meine Augen mir die Wahrheit sagen. Parker flackert und flirrt wie eine brennende Strohpuppe auf dem Schneeboden. »Bleiben Sie zurück.« Ich sehe ohnehin nicht viel, und meine Füße laufen einfach von selbst weiter. Dann steht Parker auf und hält mich fest, damit ich nicht weiterlaufe. »Was ist mit ihm passiert?« »Man hat ihn erschossen.« »Lassen Sie mich mal sehen.« Nach kurzem Zögern tritt er beiseite, hält mich aber am Arm, als ich mich neben das flache Grab knie. Wenn ich die Augen ganz fest zusammenkneife, kann ich gerade so ausmachen, was da auf dem Boden liegt. Parker hat genug Schnee und Erde beiseitegeräumt, dass man den Kopf und die Brust eines Mannes sehen kann. Die Leiche liegt mit dem Gesicht nach unten, das geflochtene Haar ist schmutzig, aber die roten und gelben Fäden, mit denen die Zöpfe zusammengebunden sind, leuchten noch. Ich muss ihn nicht erst umdrehen. Er ist nicht im Eis eingebrochen und ertrunken. Er hat eine Wunde am Rücken, so groß wie meine Faust.
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Erst als wir wieder in der Hütte sind, bemerke ich meine neueste Blödheit. Ich muss meine Handschuhe irgendwo unter den Bäumen verloren haben, und meine Finger sind weiß und taub. Zwei Todsünden an einem Tag. Man sollte mich erschießen. »Es tut mir leid, wie dumm von mir …« Schon wieder entschuldige ich mich. Nutzlose, dämliche, hilflose Last. »So schlimm ist es nicht.« Die Sonne ist untergegangen, der Himmel leuchtet zart blaugrün. In der Hütte brennt ein Feuer, und Parker hat die unschätzbar kostbaren Pelze zu einem Bett aufgetürmt. Es ist erst das zweite Mal, dass mir so etwas passiert. Das erste Mal war im ersten Winter, den ich hier verbracht habe, und damals habe ich meine Lektion gelernt. Das meiste davon habe ich im Laufe der letzten Woche wohl wieder vergessen. Wie zum Beispiel, mich zu schützen. In jeglicher Hinsicht. Parker reibt mir die Hände mit Schnee ein. Langsam kehrt Leben in meine Finger zurück, sie fangen an zu brennen. »Stewart war also hier – er weiß über die Pelze Bescheid.« Parker nickt. »Ich habe Angst, dass ich das Gewehr jetzt nicht mehr halten kann.« Parker knurrt. »Das wird vielleicht gar nicht nötig sein.« »Wahrscheinlich wäre es das Beste, Sie nähmen beide. Ich kann ja einfach nur …« Ich wollte ihm ein zusätzliches Augenpaar sein. Auf ihn aufpassen. Ihn beschützen. Nun kann ich nicht einmal mehr das. »Es tut mir leid.« Ich unterdrücke ein bitteres Lachen. Es scheint mir unangebracht. »Ich bin froh, dass Sie hier sind.« Ich kann sein Gesicht nicht sehen – wenn ich ihn direkt anschaue, flimmert grelles Licht mitten in meinem Sehfeld. Ich kann immer nur flüchtige Blicke aus dem Augenwinkel auf ihn erhaschen. Er ist froh, dass ich hier bin. 513
»Sie haben Nepapanees gefunden.« Ich ziehe meine Hand weg. »Danke. Ich kann selbst weitermachen.« »Nein, warten Sie.« Parker knöpft sein blaues Hemd auf. Er nimmt meine linke Hand und führt sie hinein, in seine rechte Achselhöhle, und hält sie dort fest. Ich stecke die rechte Hand unter seinen anderen Arm, und so bleiben wir, eine Armeslänge voneinander entfernt, Auge in Auge. Ich lehne den Kopf an seine Brust, weil ich nicht will, dass er mein Gesicht so sieht, mit den roten, tränenden Augen. Und den rot glühenden Wangen. Und dem Lächeln. Das Ohr an Parkers nackter Brust kann ich seinen Herzschlag hören. Ist er schnell? Ich weiß nicht, ob das normal ist. Mein Herz schlägt schnell, das weiß ich. Meine Hände glühen, tauen auf und werden so warm von seiner Haut, wie sie noch nie waren. Parker schiebt mir den zusammengeknüllten Silberfuchs unter den Kopf. Ein Hundert-Guinea-Kissen, das sehr weich und kühl ist. Seine Arme liegen auf meinem Rücken. Als ich mich etwas später ein wenig bewege, merke ich, dass er mein Haar festhält, das sich gelöst hat, zusammengedreht hält er es in der Hand. Er streichelt es gedankenverloren, als streichle er einen seiner Hunde. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir sagen kein Wort. Es gibt nichts zu sagen. Kein Laut, nur unser Atem und das Knistern des Feuers. Und das unregelmäßige Klopfen seines Herzens. Hätte ich einen Wunsch frei, dann würde ich mir ehrlich gesagt wünschen, dass diese Nacht nie zu Ende geht. Ich bin selbstsüchtig, ich weiß. Ich würde nie etwas anderes behaupten. Und wahrscheinlich auch böse. Ich verschwende keinen Gedanken an die Männer, die ihr Leben verloren haben, nicht wenn ich dadurch so hier liegen darf, meine Lippen ganz nah an seiner warmen Haut, sodass er spürt, wie ich ein- und ausatme. Ich habe es nicht verdient, dass man mir einen Wunsch erfüllt, aber andererseits spielt es auch keine Rolle, ob ich es verdiene oder nicht. 514
Denn irgendwo da draußen ist Stewart und kommt immer näher.
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ch werde wach, weil mir jemand vorsichtig an die Schulter tippt. Parker kauert neben mir, das Gewehr in der Hand. Sofort ist mir klar, dass wir nicht mehr allein sind. Er drückt mir sein Jagdmesser in die Hand. »Nehmen Sie das. Ich nehme beide Gewehre. Bleiben Sie hier drin, und hören Sie genau hin.« »Sind sie da?« Von draußen ist kein Laut zu hören. Kein Wind. Das klare, eisige Wetter hat sich gehalten, die Sterne und der abnehmende Mond beleuchten den Schnee mit sanftem Licht. Kein Vogelgezwitscher. Kein Laut von Tier oder Mensch. Doch sie sind da. Parker bezieht Stellung neben der provisorischen Tür und späht durch die Ritzen hinaus. Ich schleppe mich zu der Wand hinter der Tür und umklammere das Messer. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was ich damit anstellen soll. »Es wird bald hell. Sie wissen, dass wir hier sind.« Ich konnte es noch nie ausstehen zu warten. Ich habe nicht das Talent des Jägers, der einfach die Zeit verstreichen lässt, ohne sich über jeden Augenblick Gedanken zu machen. Ich lausche angestrengt auf Geräusche und fange schon an, mich zu fragen, ob Parker sich vielleicht geirrt hat, als ich von draußen ein leises Scharren höre, und zwar an der Außenwand der Hütte, wie es scheint. Das Blut gefriert mir in den Adern, ich zucke unwillkürlich zusammen – ich schwöre, ich kann nichts dafür –, und die Messerklinge schlägt gegen die Wand. Wer auch immer dort draußen ist, muss das gehört haben. Die Stille wird noch tiefer, dann kaum hörbare Schritte im Schnee, die sich entfernen. Ich will mich nicht schon wieder entschuldigen, also sage ich gar nichts. Dann wieder Schritte draußen, als sei derjenige zu 516
dem Schluss gekommen, dass es die Mühe nicht lohnt, leise sein zu wollen. »Was sehen Sie?« Ich flüstere so leise, dass es kaum mehr ist als ein Atemhauch. Parker schüttelt den Kopf: Nichts. Oder ich soll den Mund halten. Im Großen und Ganzen muss ich ihm zustimmen. Nach einem weiteren, scheinbar endlosen Moment – einer Minute? Zwanzig? – eine Stimme: »William? Ich weiß, dass du da drin bist.« Es ist natürlich Stewarts Stimme. Vor der Hütte. Es dauert einen Moment, ehe mir klar wird, dass er mit Parker redet. »Ich weiß, dass du diese Pelze willst, William. Aber die gehören der Company, und ich muss sie ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgeben. Das weißt du.« Parker wirft mir einen Blick zu. »Ich habe meine Leute hier draußen.« Er klingt zuversichtlich, gänzlich unbesorgt. Gelangweilt. »Was ist mit Nepapanees passiert? Hat er von der Sache mit Laurent Wind bekommen?« Schweigen. Ich wünschte, Parker hätte das nicht gesagt. Wenn Stewart weiß, dass wir das Grab gefunden haben, wird er uns niemals lebend hier rauslassen. Dann hört man wieder seine Stimme. »Er hat den Hals nicht vollgekriegt. Er wollte die Pelze ganz für sich allein. Er wollte mich umbringen.« »Du hast ihn hinterrücks erschossen.« Ich schwöre, ich kann ihn seufzen hören, als reiße ihm langsam der Geduldsfaden. »Manchmal passieren Unfälle. Das weißt du doch, William – gerade du. Das war … keine Absicht. Ich muss leider darauf bestehen, dass ihr herauskommt.« Jetzt entsteht eine lange Pause. Ich sehe, wie Parker das Gewehr fester packt. Meine Augen brennen, aber ich kann sehen. Ich muss sehen. Das andere Gewehr hat er sich umgehängt, es baumelt auf seinem Rücken. Der Himmel wird heller. Es dämmert schon. William Parker, du bist meine große Liebe. 517
Es trifft mich wie ein Schlag. Tränen steigen mir in die Augen beim Gedanken daran, wie er durch diese Tür geht. »Wir können ins Geschäft kommen. Ihr nehmt ein paar Felle und verschwindet.« Parker entgegnet: »Warum kommst du nicht rein, wenn du mit uns reden willst?« »Komm du doch raus. Da drin ist es dunkel.« »Gehen Sie nicht raus! Sie wissen nicht, wie viele Leute er dabeihat.« Ich habe die Zähne fest zusammengebissen und bekomme die Worte kaum heraus. Mit jeder Faser meines Herzens und sämtlichem Glauben, den ich aufzubieten vermag, bete ich, er möge verschont bleiben. »Bitte …!« »Schon in Ordnung.« Er sagt das ganz leise. Er sieht mich an. Und inzwischen ist es hell genug, dass ich sein Gesicht gestochen scharf sehen kann. Und ich erkenne jedes Detail, jede geschwungene Linie, die ich einst wild fand und grausam, jede Falte, alles ist mir unsagbar lieb. »Komm erst nach draußen. Zeig mir, dass du nicht bewaffnet bist.« »Nein!« Das habe ich gesagt, aber ganz leise. Draußen hört man ein Geräusch, und dann zieht Parker die provisorische Tür auf und tritt hinaus ins graue Zwielicht. Dann zieht er die Tür hinter sich zu. Ich kneife die Augen zusammen und warte auf die Kugel. Die nicht kommt. Ich stelle mich hinter die Tür, sodass ich durch die Ritzen spähen kann. Ich sehe eine Gestalt, die Stewart sein muss, aber Parker ist nirgends zu entdecken. Vielleicht steht er zu dicht vor der Hütte. »Ich will keinen Kampf. Ich will nur die Felle dorthin zurückbringen, wo sie hingehören.« »Du hättest Jammet nicht umzubringen brauchen. Er wusste nicht einmal, wo sie sind.« Die Stimme kommt irgendwo von meiner Rechten. 518
»Das war ein Versehen. Ich habe das nicht gewollt.« »Zwei Versehen?« Wieder Parkers Stimme, die sich entfernt. Von meinem Platz aus kann ich Stewarts Gesicht nicht erkennen, aber ich höre den Zorn aus seiner Stimme heraus, sie klingt hart und starr, bis zum Zerreißen gespannt. »Was willst du, William?« Indem er das sagt, macht Stewart eine plötzliche Bewegung und verschwindet aus meinem Blickfeld. Ein Schuss fällt, er kommt irgendwo aus dem Gebüsch hinter ihm, und am anderen Ende der Hütte, zu meiner Rechten, prallt etwas gegen die Wand. Danach nichts mehr. Ich weiß nicht, wo Parker ist. Der Lichtblitz des Schwarzpulvers hat sich in meine Augäpfel gebrannt wie eine rot glühende Nadel, die sich in mein Hirn bohrt. Ich atme in lauten, abgehackten Zügen, die sich nicht beherrschen lassen. Ich möchte nach Parker schreien. Ich kriege keine Luft mehr. Jetzt ist niemand mehr zu sehen. Zu meiner Linken ein Geräusch, dann lautes Fluchen. Stewart. Flucht er, weil Parker ihm entwischt ist? Schritte draußen, ganz nahe. Ich packe den Griff des Messers, so fest es meine tauben Finger zulassen. Ich kauere hinter der Tür, zum Sprung bereit … Als er die Tür mit einem Tritt aufstößt, ist es ganz einfach. Sie knallt mir gegen die Stirn, wirft mich um, und ich lasse das Messer fallen. Im ersten Augenblick passiert nichts, vielleicht, weil seine Augen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen müssen. Dann sieht er mich auf dem Boden zu seinen Füßen herumkriechen. Ich taste nach dem Messer. Wundersamerweise liege ich darauf, ich ergreife die Klinge und schaffe es, das Messer in meine Tasche zu stopfen, ehe er mich am anderen Arm packt und mich grob auf die Füße zerrt. Dann schubst er mich vor sich her zur Tür hinaus.
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ls Donald den Schuss hört, läuft er los. Er weiß, dass das vermutlich nicht besonders klug ist, aber aus irgendeinem Grund, vielleicht weil er so groß ist, kommt die Botschaft nicht rechtzeitig in seinen Füßen an. Er hört, dass Alec hinter ihm etwas zischt, aber er hört nicht, was. Er ist ganz dicht am Rande des Sees: Der Krach kam irgendwo aus den Bäumen am anderen Ufer. Immer wieder denkt er, sie hatten Recht. Sie hatten Recht – und jetzt bringt Half Man sie um. Er weiß, dass er furchtbar dumm und gut sichtbar ist, eine rennende Gestalt auf weißem Eis, aber er weiß auch, dass Stewart nicht auf ihn schießen würde. Sie können zu einer einfachen Einigung kommen, sie können miteinander reden wie zwei vernünftige Menschen, die beide für die große Company arbeiten. Stewart ist ein vernünftiger Mann. »Stewart!«, ruft er im Laufen. »Stewart! Warten Sie!« Er weiß nicht, was er sonst noch sagen soll. Er denkt an Mrs Ross – die vielleicht gerade irgendwo verblutet. Und dass er sie nicht retten kann. Er hat die Bäume am Fuße eines gewaltigen Hügels beinahe erreicht, als sich vor ihm etwas regt. Das erste Lebenszeichen, das er bisher gesehen hat. »Nicht schießen, bitte. Ich bin es, Moody … Nicht schießen …« Er hält sein Gewehr am Lauf fest und winkt damit, um seine friedlichen Absichten zu zeigen. Zwischen den Bäumen zuckt ein Licht auf, und irgendetwas trifft ihn mit enormer Wucht am Bauch und wirft ihn auf den Rücken. Der Ast oder was auch immer es war, wogegen er gerade gelaufen ist, hat ihn anscheinend genau an der Narbe getroffen, was die Sache nicht besser macht. 520
Kurzatmig versucht er aufzustehen, schafft es aber nicht, also bleibt er einen Moment lang liegen, um wieder zu Atem zu kommen. Er hat seine Brille verloren. Brillen sind wirklich nicht das Richtige für Kanada, immer sind sie im falschen Moment vereist oder beschlagen, und jetzt … er wühlt im Schnee herum, findet aber nichts als Kälte. Es müsste doch jemand etwas Praktischeres erfinden können. Schließlich findet er das Gewehr und hebt es auf. In diesem Augenblick bemerkt er, dass der Schaft glitschig und warm ist. Blut. Mit großer Mühe hebt er den Kopf und sieht das Blut auf seinem Mantel. Er ist verärgert, ja zornig sogar. Was für ein verdammter Idiot er doch ist, sich so kopflos in Gefahr zu begeben. Jetzt droht auch Alec Gefahr, und das ist alles seine Schuld. Er überlegt, den Jungen zu rufen, aber irgendetwas, eine höhere Macht, hält ihn davon ab. Er konzentriert sich ganz darauf, das Gewehr in Stellung zu bringen. Wenigstens kann er noch einen Schuss abgeben und nicht bloß umkippen und sangund klanglos sterben. Dann ist er wenigstens nicht völlig nutzlos gewesen. Was würde sein Vater nur dazu sagen? Doch es ist still geworden, als sei er wieder der einzige Mensch im ganzen Umkreis. Er wird warten müssen, bis er etwas sieht. Nun, derjenige, der auf ihn geschossen hat, glaubt zumindest nicht, nach ihm sehen und ihm den Gnadenschuss geben zu müssen. Der Narr. Dann, irgendwann später, schaut er auf und sieht ein Gesicht über sich. Es ist ein Gesicht, an das er sich vage aus Hanover House erinnert. Das Gesicht eines Trunkenbolds, teilnahmslos und leer, irgendwie verschlossen, wie ein Stein, der einen Bau verschließt. Er ist nicht betrunken, aber man sieht weder Neugier noch Angst, nicht einmal Triumph. Es ist das Gesicht, geht ihm nun auf, von Laurent Jammets Mörder. Der Mann, dessen Spuren im Schnee sie alle hierhergelockt haben. Deswegen ist er hergekommen – herauszufinden, wer er ist, und ihn aufzuspüren. Das hat er nun getan. Doch jetzt ist es zu spät. 521
Typisch, denkt Donald, dass er wieder einmal so schwer von Begriff ist, genau, wie sein Vater immer behauptet hat. Und mit einem schmerzlichen Brennen in den Augen denkt er: Ach, noch einmal die tadelnde Stimme meines Vaters hören. Donald überlegt noch, dass es eine gute Idee wäre, mit dem Gewehr auf das Gesicht zu zielen, aber als er diesen Gedanken endlich zu Ende gebracht hat, ist das Gesicht verschwunden, und sein Gewehr ebenfalls. Er ist so müde. Er ist müde, und ihm ist kalt. Vielleicht sollte er einfach den Kopf ein Weilchen in den Schnee legen und sich ein wenig ausruhen.
***
Vor der Hütte sehe ich niemanden, nicht einmal Stewart, der mir den linken Arm auf dem Rücken umgedreht hat, sodass ich nur ganz flach atmen kann, aus Angst, mir die Schulter auszukugeln. Wenigstens keine Spur von Parker, wie er verwundet oder schlimmer im Schnee liegt. Auch keine Spur von Half Man, wenn er der andere ist. Stewart fuchtelt mit dem Gewehr vor mir herum. Ich bin sein Schutzschild. Irgendwo regt sich etwas, allerdings hinter der Hütte. Ein Laut – unbestimmbar. Er schiebt mich in Richtung der Kopfseite der Hütte, dorthin, wo die Sonne gerade den Horizont in Flammen setzt. Ich habe natürlich kein Tuch, um meine Augen zu schützen. Und meine Hände sind bloß. »Leichtsinnig«, sagt er, als könne er meine Gedanken lesen. »Und Ihre Augen. Er hätte Sie nicht mitnehmen dürfen.« Er klingt ein wenig enttäuscht. »Er hat mich nicht mitgenommen«, zische ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Sie haben Jammet umbringen lassen, und damit haben Sie mich auf den Plan gerufen.« »Tatsächlich? Na, na, wer hätte das gedacht. Ich dachte, Sie und Parker …« 522
Es tut weh zu reden, aber es sprudelt aus mir heraus. Ich koche vor Wut. »Sie haben ja keine Ahnung, wie vielen Menschen Sie wehgetan haben. Nicht nur denen, die Sie umgebracht haben, sondern …« »Schnauze«, sagt er ganz ruhig. Er lauscht. Ein Knacken zwischen den Bäumen. Weit zu unserer Linken gibt es einen ohrenbetäubenden Knall – ein Schuss. Er klingt anders als der vorhin. »Parker!« Ich kann nicht anders. Einen Sekundenbruchteil später schon könnte ich mir dafür die Zunge abbeißen. Ich will nicht, dass er denkt, ich rufe um Hilfe, und angelaufen kommt. »Es geht mir gut!«, brülle ich mit dem nächsten Atemzug. »Bitte, nicht schießen. Er lässt sich auf einen Handel ein. Wir verschwinden. Lassen Sie uns nur bitte gehen …« »Schnauze!« Stewart hält mir den Mund zu und drückt so fest, dass ich fürchte, er wird mir den Kiefer brechen. Wie ein unbeholfener Vierfüßler stolpern wir zum anderen Ende der Hütte, doch auch dort ist niemand zu sehen. Ein weiterer Schuss zerreißt die Stille – wieder zu unserer Linken, diesmal auf der anderen Seite der Hütte. Und gleich darauf noch ein Geräusch. Ein menschliches Stöhnen. Ich schnappe nach Luft, die mir im Hals steckenbleibt wie Teer. Stewart ruft etwas in einer fremden Sprache. Einen Befehl? Eine Frage? Sollte Half Man ihn hören, so antwortet er jedenfalls nicht. Wieder brüllt Stewart, und seine Stimme klingt angespannt. Unruhig dreht er den Kopf von einer Seite zur anderen. Er weiß nicht, was er machen soll. Jetzt ist es an mir, etwas zu tun, sage ich mir. Jetzt, wo er zögert. Er lockert den Griff um meinen Mund, um einhändig mit dem Gewehr zielen zu können. Ich taste nach dem Messer, das in meiner Tasche steckt, und fingere so lange daran herum, bis ich den Griff sicher 523
zu packen bekomme. Langsam, Zoll um Zoll, ziehe ich es heraus. Und dann ertönt eine Stimme von irgendwo zwischen den Bäumen, aber es ist ganz sicher nicht die Stimme von Half Man. Eine junge Stimme antwortet in derselben Sprache. Stewart ist verwirrt, er kennt die Stimme nicht. So war das nicht geplant. Ich hole aus und ramme ihm das Messer mit aller Kraft in die Seite. Obwohl er im letzten Augenblick zu merken scheint, was da gerade passiert, und zurückweicht, trifft die Klinge auf Widerstand, und er jault vor Schmerz auf. Kurz sehe ich sein Gesicht, und er blickt mir in die Augen – sie sind vorwurfsvoll und blauer als der Himmel, doch wie es scheint, lächelt er fast, selbst, als er mit der Waffe auf mich zielt. Ich laufe los. Wieder ein Schuss, ohrenbetäubend laut, irgendwo ganz in der Nähe, doch ich spüre nichts.
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lec sieht zu, wie Donald trotz seiner Rufe einfach über den zugefrorenen See läuft, und flucht. Er schreit ihm hinterher, er solle stehen bleiben, doch er bleibt nicht stehen. Eine grässliche Angst krallt sich in Alecs Eingeweide, er fürchtet, sich gleich übergeben zu müssen, also wendet er sich ab. Dann ermahnt er sich, sich nicht wie ein Kleinkind aufzuführen. Er muss tun, was sein Vater getan hätte, und so folgt er ihm. Alec ist gut hundert Schritte hinter ihm, als der Blitz aufzuckt – später würde er schwören, nichts gehört zu haben –, und Donald stürzt. Alec wirft sich hinter ein paar Büschel Schilfgras, die aus dem Eis ragen. Er hält Georges Gewehr im Anschlag und knirscht vor Angst und Wut mit den Zähnen. Sie hätten nicht auf Donald schießen dürfen. Donald war gut zu seiner Mutter. Donald hat ihm von seinen wunderhübschen, klugen Tanten erzählt, die an einem riesigen See, so groß wie das Meer wohnen. Donald hat niemandem etwas getan. Sein Atem zischt viel zu laut durch seine Zähne. Er sucht die Bäume ab – die haben den Vorteil einer guten Deckung –, dann springt er auf und rennt los, gebückt und den Tränen nahe. Er wirft sich platt in den Schnee und kriecht auf eine kleine Anhöhe, um sich umzusehen. Die ersten Bäume hat er schon erreicht, vielleicht haben sie ihn gar nicht gesehen. Weiter vorne ist wieder ein Schuss zu hören, danach Stille. Den Blitz hat er nicht gesehen. Ihm galt der Schuss nicht. Er flitzt von einem Baum zum nächsten, schaut nach links und rechts. Sein Atem klingt wie Schluchzen, so laut, dass es ihn verraten muss. Er denkt an die anderen – die weiße Dame und den großen Mann –, um sich Mut zu machen. Das Gewehr ist schwerer als das, an das er gewöhnt ist, und der Lauf ist länger. Ein gutes Gewehr, aber er hat nicht viel 525
Übung. Er weiß, nur aus der Nähe hat er eine Chance. Langsam arbeitet er sich zu der Stelle vor, von der aus der Schuss abgegeben wurde. Zu seiner Rechten ist ein Felsbrocken, der den sanften Fluss des Sees unterbricht, und vor ihm, zwischen den Bäumen, kann er irgendein Gebäude ausmachen. Als er ein wenig näher herankommt, sieht er davor zwei Gestalten – der Mann, der seinen Vater umgebracht hat, versteckt sich hinter der weißen Dame. »Sie wissen nicht, dass ich hier bin«, sagt er sich, um sich Mut zu machen. Stewarts Stimme, der auf Cree schreit: »Half Man? Was war das?« Stille. »Half Man? Antworte mir – wenn du kannst.« Keine Antwort. Alec huscht von Baum zu Baum, bis er auf ungefähr fünfzig Fuß herangekommen ist, und geht hinter einem Baumstamm in Deckung. Er legt das Gewehr an und zielt. Er wünschte, er wäre noch näher dran, doch er wagt es nicht weiterzugehen. Stewart ruft ungeduldig nach Half Man, doch der antwortet ihm nicht. Also antwortet Alec aus seinem Versteck in der Sprache seines Vaters. »Dein Handlanger ist tot, Mörder.« Stewart wirbelt herum, sucht ihn, und dann geschieht etwas: Die Frau stürzt sich auf ihn und reißt sich los. Stewart jault auf wie ein Hund und zielt auf das einzige Ziel, das er vor Augen hat – sie. Alec hält die Luft an: Er hat nur eine Gelegenheit, sie zu retten, so dicht, wie sie vor ihm sind. Er drückt den Abzug. Es gibt einen mordsmäßigen Knall, und eine Rauchwolke umhüllt den Gewehrlauf. Ein Schuss. Nur ein Schuss. Er macht einen Schritt nach vorne, sehr vorsichtig, für den Fall, dass Half Man sich irgendwo versteckt hat und wartet. Als der Rauch sich verzieht, ist allem Anschein nach niemand mehr auf der Lichtung vor der Hütte. Er lädt nach und wartet, dann 526
saust er zu einer neuen Deckung. Stewart liegt auf der Lichtung, alle viere von sich gestreckt, einen Arm nach vorne gereckt, als wolle er nach etwas greifen. Eine Seite seines Gesichts fehlt. Alec fällt auf die Knie und übergibt sich. Und in dem Augenblick finden Parker und die Frau ihn. Ich bin so erleichtert, Parker hinter der Hütte hervorkommen zu sehen, dass ich mich vergesse und mich ihm an den Hals werfe. Ganz kurz drückt er mich an sich, und obwohl er mich nicht ansieht, klingt er ein wenig heiser. »Alles in Ordnung?« Ich nicke. »Stewart …« Ich werfe einen Blick in seine Richtung, und Parker geht hin und späht um die Ecke. Dann tritt er hinaus. Von dort droht keine Gefahr mehr. Ich folge ihm und sehe eine Leiche mitten auf der Lichtung liegen. Es ist Stewart – ich erkenne seinen braunen Mantel, sonst ist da nicht mehr viel zu erkennen. Ein paar Schritte weiter kniet ein Junge wie eine Statue im Schnee. Ich glaube zu halluzinieren, und dann erkenne ich Elizabeth Birds ältesten Sohn. Er sieht uns an und sagt nur ein Wort: »Donald.« Wir finden Moody, er lebt noch, ist aber sehr schwach. Er hat einen Bauchschuss abbekommen und viel zu viel Blut verloren. Ich reiße Stoffstreifen von meinem Rock ab, um die Blutung zu stillen, und stopfe ihm etwas als Kissen in den Nacken. Doch wir können nicht viel für ihn tun, solange die Kugel noch im Bauch steckt. Ich knie mich neben ihn und reibe seine Hände, die eiskalt sind. »Sie schaffen das schon, Mr Moody. Wir haben sie erwischt. Wir wissen, dass es stimmt. Stewart hat Nepapanees rücklings erschossen und ihn im Wald vergraben.« »Mrs Ross …« 527
»Pscht. Keine Sorge. Wir kümmern uns um Sie.« »Bin so froh, dass es Ihnen … gut geht.« Er lächelt schwach und versucht selbst jetzt noch, höflich zu sein. »Donald … Sie schaffen das schon.« Ich versuche zu lächeln, habe aber die ganze Zeit nur den einen Gedanken: Er ist kaum älter als Francis, und ich war nicht mal nett zu ihm. »Parker kocht Ihnen einen Tee, und … dann bringen wir Sie zurück zum Posten. Wir kümmern uns um Sie. Ich kümmere mich um Sie …« »Sie haben sich verändert«, wirft er mir vor, was wohl kaum verwunderlich ist. Mein Haar ist offen und wirr, meine Augen tränen unablässig, und ich habe eine große Beule auf der Stirn. Plötzlich packt er mit erstaunlicher Kraft meine Hand. »Ich möchte, dass Sie etwas tun für mich …« »Ja?« »Ich habe etwas entdeckt … etwas Außergewöhnliches.« Er atmet furchtbar flach. Seine Augen sehen ohne die Brille grau aus, und sein Blick schweift unstet in die Ferne. Ich entdecke die Brille auf dem Boden gleich neben meinen Füßen und hebe sie auf. »Hier …« Ich will sie ihm aufsetzen, doch er dreht den Kopf ein wenig zur Seite und schiebt sie fort. »Besser … ohne.« »Na gut. Was haben Sie denn … entdeckt?« »Etwas Außergewöhnliches.« Er lächelt schwach und recht fröhlich. »Was denn? Sie meinen das mit Stewart und den Pelzen?« Erstaunt runzelt er die Stirn. Seine Stimme wird immer leiser, als verließe sie ihn. »Nein, das meinte ich nicht. Ich … liebe.« Ich beuge mich immer weiter zu ihm herunter, bis mein Ohr beinahe seinen Mund berührt.
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ie Worte verklingen. Mrs Ross, die sich über ihn beugt, schwankt wie ein Schilfhalm im Winde. Donald kann einfach nicht fassen, wie sehr sie sich verändert hat – ihr Gesicht, das halb hinter ihren Haaren verdeckt ist, ist weicher, gütiger, und ihre Augen leuchten, glitzern wie sonnenhelles Wasser, als hätten sich die Pupillen so zusammengezogen, dass sie verschwunden sind. Er verkneift es sich, den Namen »Maria« auszusprechen. Vielleicht, denkt er sich, ist es besser, wenn sie es nie erfährt. Dann nagt nicht der Gedanke an einen schmerzlichen Verlust, an Reue, an eine verpasste Gelegenheit an ihr. Doch nun tut sich der Tunnel vor Donald auf, ein unendlich langer Tunnel, und es ist, als blicke man verkehrt herum in ein Teleskop, durch das man alles ganz klein, aber gestochen scharf sieht. Der Tunnel der Zeit. Erstaunt sieht er sich um: Durch den Tunnel sieht er sein Leben, wie es mit Maria gewesen wäre: ihre Hochzeit, ihre Kinder, ihre Auseinandersetzungen, ihre kleinen Zankereien. Die Auseinandersetzungen wegen seines Berufs. Der Umzug in die Stadt. Wie sich ihre Haut anfühlt. Wie er die kleine Falte auf ihrer Stirn mit dem Daumen glättet. Wie sie ihn ins Gebet nimmt. Ihr Lächeln. Er erwidert ihr Lächeln, denkt daran zurück, wie sie an dem Tag, an dem sie sich bei dem Rugby-Spiel kennengelernt haben, ihr Tuch abgenommen hat, um die Blutung seiner Wunde zu stillen, damals, vor all den Jahren. Sein Blut an ihrem Tuch, das sie miteinander verbindet. Dieses Leben flackert vor seinen Augen auf wie Spielkarten, die man mischt, und jedes einzelne Bild ist klar und vollkom529
men bis ins kleinste Detail. Er sieht sich im Alter, und auch Maria ist alt und doch noch voller Energie. Streitlustig schreibt und liest sie zwischen den Zeilen und hat immer das letzte Wort. Nichts zu bereuen. Kein schlechtes Leben, wie es aussieht. Maria Knox wird nie erfahren, welches Leben sie hätte führen können, doch Donald weiß es. Er weiß es, und er ist froh. Mrs Ross sieht auf ihn herab, ihr Gesicht wie im Nebel, blendend und wunderschön. Sie ist ganz nahe und ganz weit fort. Sie scheint ihn etwas zu fragen, doch aus irgendeinem Grund kann er sie nicht mehr hören. Und doch ist alles ganz klar. Und so sagt Donald Marias Namen nicht mehr, und auch sonst nichts.
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as Schlimmste war, Alec zur Leiche seines Vaters zu führen. Er bestand darauf, ihn mit nach Hanover House zu nehmen, genau wie Donald, und sie dort zu begraben. Stewart beschlossen wir in dem flachen Grab zu verbuddeln, das er sich selbst gegraben hatte. Das schien uns recht und billig. Half Man war von Parkers Kugel schwer verwundet worden, doch als wir zur Hütte zurückkamen, war er verschwunden. Seine Spur führte nach Norden, und Parker folgte ihr eine Weile, kehrte aber dann zurück. Der Schuss hatte ihn am Hals getroffen, und vermutlich würde er nicht weit kommen. Nördlich des Sees gibt es nichts als Eis und Schnee. »Die Wölfe werden sich um ihn kümmern«, sagte er. Wir wickelten Donald und Nepapanees in Felle – für seinen Vater suchte Alec ein Hirschfell aus, das schien ihm wichtig zu sein. Donald wickelten wir in weiche, warme Fuchs- und Marderpelze. Parker packte die wertvollsten Pelze zu einem Bündel zusammen und verstaute sie auf dem Schlitten. Jammet hatte einen Sohn. Die Felle sind für ihn und für Elizabeth und ihre Familie bestimmt. Den Rest wird Parker wohl eines Tages holen. Ich frage ihn nicht. Er sagt nichts. Das alles war bis zum Mittag dieses Tages erledigt. Und jetzt sind wir auf dem Weg zurück nach Hanover House. Die Hunde ziehen den Schlitten mit den Leichen. Alec geht nebenher. Parker lenkt die Hunde, und ich gehe hinter ihm. Wir folgen unseren eigenen Spuren und denen unserer Verfolger, die tief in den Schnee eingegraben sind. Ich stelle fest, dass ich, ohne es zu merken, gelernt habe, Spuren zu lesen. Hin und wieder erkenne ich meine eigenen Fußstapfen und trete hinein, um sie auszulöschen. Das ganze Land ist voller solcher Fährten, 531
winzige Spuren menschlichen Begehrens. Doch diese Fährten, wie dieser bittere Weg, sind kaum zu erkennen, vom Winter fast verwischt, und wenn wieder Schnee fällt oder wenn es im Frühjahr taut, werden alle Hinweise auf unser Dasein ausgelöscht sein. Und trotzdem haben drei dieser Fährten die Männer überdauert, die sie hinterlassen haben. Als mir irgendwann in den Sinn kommt, danach zu sehen, merke ich, dass ich das Knochenplättchen verloren habe. Ich hatte es noch in der Tasche, als wir von Hanover House aufgebrochen sind, doch nun ist es verschwunden. Ich erzähle es Parker, doch der zuckt nur die Achseln. Wenn es wichtig ist, wird es wiederauftauchen. Und so bin ich – auch wenn mir der arme Mr Sturrock leidtut, der so versessen darauf scheint – froh, nichts zu besitzen, was andere Menschen so sehr begehren. Aus solchen Dingen scheint nichts Gutes zu erwachsen. Natürlich denke ich an Parker und träume nachts von ihm. Und ich weiß so viel: Er denkt an mich. Doch wir stecken in einer Zwickmühle, aus der es keinen Ausweg gibt. Nach all diesem Schrecken können wir nicht einfach weitermachen – und um ehrlich zu sein, das hätten wir auch unter anderen Umständen nicht gekonnt. Und doch kann ich, wann immer wir Halt machen, den Blick nicht von seinem Gesicht wenden. Der Gedanke daran, dass er fortgeht, ist wie der Gedanke, mein Augenlicht zu verlieren. Ich denke an alles, was er für mich gewesen ist: Fremder, Flüchtiger, Führer. Meine Liebe. Mein Magnet. Mein wahrer Norden. Stets wende ich mich ihm zu. Er wird mich nach Himmelvanger zurückbegleiten und dann weiterziehen – dorthin zurück, wo er hergekommen ist. Ich weiß 532
nicht, ob er verheiratet ist, vermutlich ist er es. Ich habe nie danach gefragt und werde es auch jetzt nicht mehr tun. Ich weiß fast nichts über ihn. Und er – er scheint nicht mal meinen Vornamen zu wissen. Über manches könnte man lachen, wenn einem zum Lachen zumute wäre. Kurz nachdem ich das gedacht habe, dreht Parker sich zu mir um. Alec geht einige Schritte vor uns. »Mrs Ross?« Ich lächle ihn an. Wie schon gesagt, ich kann nicht anders. Er lächelt zurück, wie er immer zurücklächelt: Wie ein Messer in meinem Herzen, das ich um alles in der Welt nicht herausziehen wollte. »Sie haben mir nie gesagt, wie Sie heißen.« Ein Glück, dass der Wind so kalt ist, so gefrieren meine Tränen, ehe sie herunterlaufen können. Ich schüttle den Kopf und lächle. »Sie haben meinen Namen oft genug gesagt.« Er sieht mich an, so eindringlich, dass ausnahmsweise ich den Blick zuerst abwende. In seinen Augen schimmert doch ein Licht. Ich zwinge mich, an Francis zu denken, und an Dove River. Angus. Die Bruchstücke, die ich wieder zusammenfügen muss. Ich zwinge mich, das Übel langen Nachdenkens zu spüren. Und dann wendet sich Parker wieder den Hunden und dem Schlitten zu und geht weiter, und das tue ich dann auch. Denn was sollte ich sonst tun?
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