W. W. Shols Science-Fiction-Roman
Als Jubiläumsband bringt UTOPIA seinen Lesern eine ganz besondere Überraschung. Wie ...
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W. W. Shols Science-Fiction-Roman
Als Jubiläumsband bringt UTOPIA seinen Lesern eine ganz besondere Überraschung. Wie die Welt sich verändern würde, wenn Dr. Fallbergs Erfindung jedem Weltbürger zugänglich wäre, das wird Ihnen der Autor W. W. Shols in den folgenden Kapiteln schildern. Es beginnt mit einem Mord. Und was dann geschieht, ist das oft zitierte „Ei des Kolumbus“ der Zeitreise
Personen: DR. WERNER FALLBERG, Konstrukteur Dr. ROLF HERTEN, dessen Freund ELLEN HERTEN, Rolfs Schwester BREITENBACH, 1. Offizier der Diana VII MIHAIL DORNESCU, Agent STEVE ROC, amerikanischer Wissenschaftler AL PATTON, sein Assistent
Werner Fallbergs Turbowagen lag wie ein Brett auf der kurvenlosen Betonbahn. Aus der Vogelschau hatte man den Eindruck, als sei das Superauto ein Teil der Straße und die Straße eine Gleitschiene. Das Fahrzeug war gestaltete Ärodynamik, die vorbeifliegende Landschaft schemenhafte Kulisse im Rausch, der Geschwindigkeit. Der rechte Zeigefinger drückte rhythmisch die Nummerntasten des Visiophons. Sekunden später meldete sich eine klingende Baßstimme, und das Bild des Vaters leuchtete auf. „Hallo, Junge!“ „Guten Abend, Pa! Hast du dir auch genau die Startzeit gemerkt?“ „Ich werde mich hüten, so etwas zu vergessen.“ „Um so besser. Stell also die Flasche kalt. Ich habe den Rekord in der Tasche und werde in fünfundvierzig Minuten bei dir sein. Vielleicht bestellst du Direktor Diering gleich einen Gruß. Ich könnte mir vorstellen, daß er sich für das letzte Wunder von meinem Reißbrett jetzt um so mehr interessiert.“ „… fahr bloß vorsichtig, Junge!“ 4
„Schon gut. Bis nachher, Pa.“ Professor Constantin Fallberg schien etwas in Sorge. Aber dafür war er schließlich der Vater. Eltern müssen sich sorgen, wenn ihre Söhne die Welt auf den Kopf stellen. Werner schwelgte noch in seinem Triumph, als ein Anruf kam. Er ging auf Empfang und vernahm eine andere vertraute Stimme. „Hallo, Werner! Du scheinst wieder mal auf der Achse zu sein.“ „Erraten, Rolf. Was gibt’s?“ „Eine kleine Überraschung. Vielleicht sogar eine große. Mehr verrate ich nicht. Aber die Sache ist wichtig genug, daß du sofort mein Labor ansteuerst. Komm bloß nicht auf die Idee, erst nach Hause zu fahren. Verstanden?“ „Mensch, Rolf, was willst du? Ich habe heute keine Zeit!“ „Für diese Sache hast du Zeit. Also abgemacht! Ich warte nicht länger als zehn Minuten.“ „Unmöglich! Ich bin noch hinter München.“ „Du Herumtreiber. Dann in einer Stunde. Ich warte auf dich.“ Ehe Fallberg etwas erwidern konnte, hatte sein Freund Rolf Herten abgebrochen. – Und die Jagd ging weiter. Der Wagen lag ganz links am Grünstreifen auf der sechsten Fahrbahn. Es wäre Irrsinn gewesen, sich rechts einreihen zu wollen. Denn es gab kein Fahrzeug, das Fallberg auf dieser Straße hätte überholen können. Die Diana-Werke hatten vor drei Tagen ihr neuestes Automodell ausgespuckt. Zwar nicht reif für die Serienfertigung, aber ein Modell. Und es hatte seine Feuerprobe bestanden. Das konnte man schon jetzt zwischen München und Nürnberg sagen. Die Abfahrtszeit in Neapel war amtlich gestoppt worden. Flugzeuge überwachten die Fahrt aus der Luft. Werner Fallberg 5
sah sich in Hamburg schon als Sieger einziehen. Wohl ohne Spalier der Massen und ohne Reporter, doch immerhin als gefeierter Mann, der die persönliche Gratulation von Direktor Diering entgegennehmen durfte. Und morgen würde es in der Zeitung stehen. Der Uhrzeiger war kaum etwas über die 10 hinweggerutscht, als in der Ferne die ersten vertrauten Lichter von Hamburg winkten. Noch fünf Minuten. Werner Fallberg wollte noch einmal den Vater anrufen. Doch sein ausgestreckter Finger zuckte zurück. Ausgerechnet jetzt kam ein neues Gespräch. Der Visioschirm zeigte ein völlig fremdes Mädchengesicht. „Nanu“, stotterte Fallberg, als er Angst in den Augen sah. „Hören Sie, Doktor Fallberg! Kommen Sie unverzüglich in die Staatlichen Laboratorien! Es ist etwas Furchtbares …“ „Lassen Sie den Unsinn, meine Dame!“ schnarrte in diesem Moment ein herrischer Baß dazwischen. Und ehe Fallberg eine Gegenfrage stellen konnte, fiel ein Schatten über das Bild. Das Mädchen und seine Angst waren wie weggewischt. Der Mann am Steuer knirschte mit den Zähnen. Was war das für ein verdammter Nonsens! Unbekannte Kulleraugen träufelten ihre Tränen geradezu bis in den Rekordwagen an der Peripherie der Großstadt, und ihre Besitzerin verlangte von Fallberg, genau dorthin zu fahren, von wo auch der Freund vor einer guten halben Stunde angerufen hatte. Nun ja, auch Herten hatte seine Sache als dringend bezeichnet. Aber wer war der Mann, der dem Mädchen ins Wort gefallen war? Er mußte an der Seite gestanden haben, denn er hatte nicht einmal seinen Manschettenknopf bis in die Nähe der Linse gebracht. Trotzdem, irgendwo war Fallberg dieser Stimme schon einmal begegnet. 6
Genau über dem Zentrum der City gabelte sich die Hochstraße in zwei Richtungen. Links ging es nach Hause und in die Diana-Werke, rechts mußte man nach den Staatlichen Laboratorien abbiegen. Ehe Fallberg sich in seiner Ratlosigkeit entscheiden konnte, hatte er instinktiv die rechte Abzweigung gewählt. Mit der Zeitungsnotiz morgen früh war es Essig. Und auch mit der kaltgestellten Flasche. – Die Staatlichen Laboratorien lagen in ländlicher Abgeschiedenheit. Aber vor den breiten Einfahrtstoren herrschte in dieser Nacht Unruhe. Wendende Autos, kreuz und quer fingernde Scheinwerfer und kurze, halblaute Rufe machten aus Fallbergs Neugier eine brennende Ungeduld. Als er nach dem Grundstück einbiegen wollte, winkte ihm ein weißer Handschuh „Stop“ zu. Fallberg wies sich aus. „Und nun lassen Sie mach gefälligst durch! Ich werde dringend von Doktor Herten erwartet!“ Der Polizist schluckte auffällig. „Ach, zu dem wollen Sie! Dann machen Sie man gleich kehrt und fahren Sie dem Inspektor nach. – Schönen Dank! Ihren Namen habe ich bereits notiert; wenn wir Sie noch brauchen, hören Sie …“ Doktor Fallberg ließ ihn nicht aussprechen. Sein Zorn über die abgebrochene Rekordfahrt wurde durch diesen mysteriösen Empfang nur noch geschürt. „Zum Donnerwetter! Was ist hier los? Reden Sie doch nicht in Rätseln, Mann! Was hat Herten mit der Polizei zu tun?“ Der Beamte hob bedauernd die Schultern. „Inspektor Becker hat ihn eben verhaftet. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen.“ Wütend jagte Fallberg den Wagen durchs Tor und bremste mit einer meterlangen Schleifspur vor dem Aufgang zum Zen7
tralgebäude. Als er ausstieg, bewegten sich an mehreren Fenstern verdächtig die Gardinen, doch er bekam niemanden zu Gesicht, der ihm eine brauchbare Auskunft hätte geben können. Doktor Hertens Labor- und Wohnräume lagen am Ende des Parterreflures. Und dort stand das Mädchen mit dem fremden Gesicht und den verweinten Augen. Mein Gott, dachte der Mann, in welcher Tragödie bin ich hier bloß gelandet? Der Korridor wirkte in seiner schmucklosen Nüchternheit wie eine kalte Kompresse. Das Mädchen stützte den Kopf gegen eine Tür, die die Polizei mit ihrem Siegel verziert hatte. „Ich bin Doktor Fallberg, meine Dame. Haben Sie mich vorhin angerufen?“ Das Mädchen hob den Kopf. Sein verschleierter Blick verriet, daß es überhaupt nicht merkte, was ringsum vorging. Und ehe der Mann abwehrend reagieren konnte, fühlte er den zitternden Frauenkörper in seinen Armen. Was blieb ihm anderes übrig, als die Hände stützend hochzunehmen? Schließlich konnte er das schluchzende Nervenbündel nicht fallen lassen. Aber seine brennende Neugier nach einer Erklärung für diese rätselhaften Vorgänge mußte er erneut zügeln. Die Wohnung des Freundes kannte er wie seine eigene Tasche, er besaß sogar einen eigenen Schlüssel dafür. Doch dieses Siegel aus Papier war wie eine unüberwindliche Barriere. Während er nach einem gescheiten Einfall suchte, löste sich das Mädchen plötzlich aus seinen Armen. „Wer sind Sie?“ Fallberg meisterte seine Nervosität. „Wenn ich die Garantie habe, daß ich in den nächsten fünf Minuten endlich erfahre, was hier gespielt wird, will ich mich gern noch ein dutzendmal vorstellen. – Verzeihen Sie! Aber lassen Sie jetzt das Weinen und hören Sie gut zu! Ich bin Fallberg, Doktor Hertens Freund. Sie haben mich doch vor einer 8
Viertelstunde in meinem Wagen angerufen. Rolf selbst hatte heute abend noch eine Verbindung mit mir. Ist das hier vielleicht die … kleine Überraschung, die er mir versprach? Was hat er denn nur ausgefressen, daß die Polizei einen Grund hat, ihn abzuführen?“ „Professor Stachwitz wurde ermordet …“ Das Mädchen wollte noch mehr sagen. Aber die Aufregung schnürte ihm den Hals zu. Fallberg nahm seine Hand und führte es ins Freie. „Wollen Sie in meinem Wagen Platz nehmen? Ich glaube, dort werden Sie sich wohler fühlen.“ Sie nickte und gehorchte. Hinter den geschlossenen Türen des Autos nahm sie sogar eine Zigarette. „Ich weiß bis jetzt noch nicht, wer Sie sind. Aber wenn Sie Doktor Herten nahestehen, wird Ihnen bekannt sein, daß ich sein bester Freund bin.“ „Verzeihen Sie, Doktor. Ich bin Rolfs Schwester.“ „Ellen Herten“, murmelte Fallberg. „Sonderbar, Rolf hat mir viel von Ihnen erzählt. Und dabei habe ich Sie mir immer ganz anders vorgestellt. – Hm, und die Polizei denkt, Rolf hätte Professor Stachwitz ermordet …?“ „Ja. Der Inspektor sagte, daß die Beweise ihn zwängen, Rolf sofort zu verhaften. Sie fuhren weg, ohne mir etwas Erklärendes zu sagen. Und die Türen haben sie versiegelt. Wer sie ohne Erlaubnis öffnet, macht sich strafbar, sagte ein Beamter. Dann fuhren sie weg.“ „Wer unterbrach Sie, als Sie mit mir telefonierten?“ „Inspektor Becker.“ „Natürlich! Becker war das. Und diese Behandlung haben Sie sich einfach gefallen lassen? Na ja, schon gut. Ich kann mir Ihre Aufregung vorstellen. Wenn mein Bruder einen Mord auf dem Gewissen hätte …“ 9
Im Schein der aufleuchtenden Zigarettenglut sah Fallberg, wie Ellen Herten zusammenzuckte. „… oder ist Rolf unschuldig?“ „Ich denke, Sie sind sein Freund? Kennen Sie ihn so wenig, um das nicht selbst zu wissen? O, mein Gott! Warum müssen Sie mich denn auch noch quälen?“ „Ich will Sie nicht quälen. Aber ich möchte endlich einen vernünftigen Bericht hören, damit ich mir ein Bild von der Sache machen kann. Gibt es Augenzeugen für den Mord?“ „Nein.“ „Sehr gut. Das ist schon viel wert. Ohne Augenzeugen kann Inspektor Becker diese übereilte Verhaftung niemals rechtfertigen. – Was geschah nun wirklich?“ „Ich bin erst seit drei Tagen wieder in Deutschland und kenne die Verhältnisse hier nicht so genau. Aber Stachwitz muß wohl mit im Institut gewohnt haben. Rolf hat mir heute gerade von ihm erzählt …, daß er ihn für einen Spion hielte.“ „Ich weiß! Die alte Platte seit einem Vierteljahr. Stachwitz verfolgt mich, Stachwitz ist in mein Labor eingebrochen, Stachwitz ist auf meine Pläne scharf. Rolf hat nie etwas dagegen unternommen, so daß ich alles für Hirngespinste halten mußte. Aber jetzt …? Sagen Sie, hat der Professor tatsächlich eingebrochen?“ „Ich glaube, ja.“ „Sie glauben?“ „Ich war in der Küche, als es passierte. Ich wollte ein paar Brote fertigmachen, weil Sie ja bald da sein mußten. Plötzlich hörte ich Lärm im Labor. Eine Fensterscheibe wurde zerschlagen, und dann war Rolf verschwunden. Er hat dem Inspektor alles genau geschildert. Aber der glaubte ihm kein Wort.“ „Was glaubte er nicht? Bitte, wiederholen Sie mir Rolfs Aussage.“ 10
„Rolf war draußen an der Schirmantenne gewesen, um dort einige Änderungen vorzunehmen. Das ist etwa 200 Meter vom Zentralgebäude entfernt …“ „Ich kenne die Verhältnisse. Wie lange war er weg?“ „Vielleicht zehn Minuten. Als er zurückkam, stand er Stachwitz gegenüber. Stachwitz, mit einem Teil seiner Notizen und Pläne. Stachwitz floh durchs Fenster, Rolf sprang ihm nach und verfolgte ihn quer über das Transformatorenfeld. Aber ehe er ihn einholen konnte, war der Professor tot.“ „Also Herzschlag.“ „Nein, Mord oder Totschlag, oder … Ach, Doktor Fallberg, ich weiß es doch nicht! Das ist alles so unwirklich, als hätte ich es nur geträumt.“ Der Mann antwortete nicht sofort. Diese Schilderung war so unglücklich und verzerrt, daß sie kaum stimmen konnte. Aber wer hatte sie entstellt? Herten oder das Mädchen? „Hören Sie zu, Fräulein Herten. Rolf war dem Professor bestimmt unmittelbar auf den Fersen. Wer sollte da die Möglichkeit gehabt haben, unbemerkt den Mord auszuführen? Rolf hätte wenigstens einen Schuß hören müssen.“ „Stachwitz wurde erschlagen. Mit einer Eisenstange. Ja, es muß so gewesen sein. Als mein Bruder diesen Toten fand, lag die Stange neben ihm. Sein einziger Fehler war, daß er sie aufhob und Fingerabdrücke hinterließ.“ „Wenn Rolf nicht der Täter ist, muß er Stachwitz eine gewisse Zeit aus den Augen verloren haben. Zwischen den vielen Transformatoren halte ich das durchaus für möglich.“ „Sie reden wie ein Polizist. Aber Rolf ist unschuldig. Dazu brauchen Sie nicht solche Überlegungen anzustellen.“ „Woher wissen Sie das?“ Mit dieser Frage jagte Fallberg dem Mädchen erneut die Angst ins Herz. 11
„Glauben Sie, daß Rolf gelogen hat?“ „Wenn es um Kopf und Kragen geht, wird er auch lügen.“ Ellen Herten begann wieder zu weinen. „Ich verstehe Sie nicht. Rolf sagte, Sie wären sein bester Freund.“ „Das bin ich auch. Sein einziger Freund sogar. Ich weiß so gut wie Sie, daß er ein anständiger Kerl ist. Aber man kann Menschen im Affekt umbringen.“ Ihr Weinen machte den Mann hilflos. Seine Erfahrung mit Frauen war gering. Doch jetzt war er um eine Erfahrung reicher, denn er wußte genau, daß er dieses Gespräch weniger sachlich und mit einer Menge tröstender Worte hätte führen müssen. Um etwas gutzumachen, sagte er: „Ich möchte Ihnen ein Versprechen geben, Ellen.“ Die Antwort war ein stummes Nicken. „Meine Haltung Rolf gegenüber wird niemals davon abhängig sein, ob er schuldig ist oder nicht. Ich werde ihm in jedem Falle helfen. Morgen fahre ich sofort zu seinem Anwalt. Darf ich Sie jetzt nach Hause bringen?“ Wieder nickte sie. Der Wagen rollte auf die Fahrbahn und tauchte wenige Minuten später im Verkehr der City unter. Unterwegs erfuhr Fallberg, daß Ellen Herten im „Berliner Hof“ wohnte. Als er ihr zum Abschied die Hand reichte, fiel ihm wieder die rätselhafte Andeutung des Freundes ein. „Wissen Sie, was Rolf mir zeigen wollte?“ Sie nickte zerstreut. „Ich glaube, er meinte das Radioteleskop. Es hing mit Jupiter zusammen oder mit einem der Monde. Er muß irgend etwas Aufregendes entdeckt haben … Aber das ist ja jetzt nicht mehr wichtig.“ Werner Fallberg wagte keinen Widerspruch. Nein, die Jupitermonde konnten jetzt wahrhaftig nicht mehr wichtig sein. 12
Als er im Bummeltempo nach Hause fuhr, fiel ihm der Rekordversuch ein. Auch der war nicht mehr wichtig. * Hertens Anwalt Dr. Gallatin hatte noch den letzten Frühstücksbrocken im Mund, als er Fallberg empfing. Anfangs ergab die Unterhaltung nichts Neues, denn offenbar hatte die Schwester des Verhafteten dessen Aussagen richtig wiedergegeben. Dr. Gallatin machte ein ernstes Gesicht, als er rekapitulierte. „Ich glaube, Dr. Fallberg, ich darf Ihnen gegenüber offen sein. Herten sagte: ich bin unschuldig. Sie müssen die Tatsache als völlig unzweifelhaft hinnehmen, sonst hat alles keinen Zweck. Und selbst dann wird es schwer sein, auf dem üblichen Weg den wirklichen Täter zu finden. Wenn mein Freund wüßte, was ich ihm habe zeigen wollen, dann wäre alles klar … Hertens Räume sind versiegelt und bleiben es. Verstehen Sie jetzt, daß ich Ihnen keinen Rat geben kann?“ Fallberg zögerte mit der Antwort. Dann nickte er. „Langsam begreife ich. Ich kann es tun oder auch lassen. Und wenn ich’s tue, mache ich mich strafbar. Bei Gott! Dieser Fall ist typisch für unsere heutige Rechtslage. Der sicherste Weg, die Unschuld eines Menschen zu beweisen, ist illegal.“ „Nicht jeder Fall liegt klar wie dieser.“ „Sie meinen, nicht in jedem Falle läßt sich wie hier durch lückenlose Indizien das Falsche beweisen. – Glauben Sie an seine Unschuld?“ „Ja, so ziemlich. Immerhin werde ich unter dieser Voraussetzung arbeiten, sonst könnte ich sofort kapitulieren.“ Es war bereits dunkel, als Fallbergs Turbowagen auf das Grundstück der Staatlichen Laboratorien rollte. Er gab sich keine Mühe, sich dem Gebäude unbemerkt zu nähern. Denn das 13
wäre wahrscheinlich schiefgegangen. Die gestrigen Vorfälle genügten vollständig, einen Besuch bei Dr. Nordhoff, dem Leiter des Instituts, zu rechtfertigen. Zehn Minuten lang wechselten die beiden Männer nichtssagende Worte des Bedauerns über Stachwitz’ Tod und Hertens Verhaftung. Dann verabschiedete sich der Besucher mit dem Bemerken, noch einige andere Kollegen im Hause besuchen zu wollen. Nordhoff konnte also nicht mißtrauisch werden, wenn der Wagen noch einige Zeit vor dem Hause stehenblieb. Zum Öffnen der Wohnungstür genügten der passende Schlüssel und die Überwindung gewisser Vorurteile gegenüber dem Polizeisiegel. Fallberg arbeitete dabei teils wie ein passionierter Einbrecher – was die Gummihandschuhe anbetraf. Andererseits benahm er sich wie ein blutiger Laie, denn er gab sich nicht die Mühe, das Siegel sorgfältig zu lösen, sondern zerriß es einfach. Beim Betreten der Wohnung ging automatisch das Licht an. Die polarisierten Fensterscheiben verhinderten jedoch, daß der Schein verräterisch nach draußen fiel. Kritisch musterte Fallberg das zertrümmerte Kunstglas. Aber auch dieses Fenster war schon vom Hausmeister mit einer Hartplastiktafel abgedichtet worden. Angesichts der Armaturen überwand Fallberg jede Nervosität. Die Geräte des Freundes hatten kaum etwas Rätselhaftes für ihn an sich, denn oft hatten hier beide tage- und nächtelang gemeinsam experimentiert. Um so größer war die Neugier des Eindringlings nach der neuen Entdeckung, die er absolut mit dem gestrigen Kriminalfall in Verbindung bringen konnte. Er überprüfte die Einstellungen und erkannte, daß die letzte Beobachtung, wenn sie vor genau 24 Stunden stattgefunden hatte – sich auf Jupiter bezogen haben mußte. Die Angaben der transparenten Diagrammscheibe deckten sich exakt mit den 14
Koordinaten des augenblicklichen Himmelsortes, die hier nach dem Azimutsystem ihre Werte aus Meridian und Höhe erhielten. Das Vorheizen der Röhren dauerte keine zehn Sekunden, und ein leises, kaum hörbares Summen erfüllte den Raum. Plötzlich stutzte Fallberg. Der Schalter für die Entfernungseinstellung war ausgewechselt worden, und Herten hatte sich offenbar nicht die Mühe gemacht, die neue Schaltung sauber einzubauen. Etwa zwei Dutzend Verbindungsdrähte hingen scheinbar wirr durcheinander. Ihre Enden waren jedoch alle an irgendwelchen Kontaktschrauben befestigt. Entfernung – dachte Fallberg. War das die Neuigkeit? In den nächsten Augenblicken rollte ein Wunderfilm vor seinen Augen ab. Solange der Entfernungsschalter auf „Null“ stand, war auf dem Bildschirm lediglich ein Ausschnitt des Sternbildes „Stier“ mit dem Planeten Jupiter sichtbar, wie man es auch draußen gleichzeitig mit dem freien Auge hätte beobachten können. Ein Händedruck ließ die Nadel ohne die geringste Schwankung an den Gradstrichen emporklettern. Heute erfolgte die damit gekoppelte Vergrößerung des Bildes jedoch in einer nie gesehenen Geschwindigkeit. Jupiter vergrößerte sich im Nu zu einer quergestreiften Scheibe und dehnte sich aus wie ein Luftballon. Schnell rutschte er mit seiner wachsenden Oberfläche aus dem Blickfeld und gab die Sicht für einen seiner Satelliten frei. Fallberg erkannte an dem grünlichen Schein sofort Kallisto, den Jupitermond mit der dichtesten Atmosphäre. Auch dieser wuchs sekundenschnell ins Gigantische, füllte plötzlich den ganzen Bildschirm aus und stürzte mit seiner zerklüfteten Oberfläche und verkrüppelten Vegetation heran. Fallberg hatte seine Umgebung vergessen. Dieses Bild faszi15
nierte ihn. Er hatte das Gefühl, am Zielgerät seines Raumschiffes zu sitzen und in den Mond hineinzustürzen. Eine Halbinsel in einem tiefschwarzen Meer tauchte auf, wurde größer. Das Meer verschwand über den Rand des Bildes. Jetzt nur noch Land, braunes Gestein, huschende Felsen und Verzerrung. Dann nichts. Schwarzes Weltall ohne sichtbare Materie. In Schweiß gebadet drehte Fallberg den Knopf zurück, bis die Nadel auf „10“ stillstand. Der Bildschirm zeigte die Kallistooberfläche, wie man sie etwa aus einer Höhe von tausend Metern sehen mußte. Und dabei wurde ihm klar, daß er ohne Bewegung der großen Schirmantenne niemals weiterkam. Die Landschaft raste auf Grund der Rotation des Mondes vor seinen Blicken dahin und ließ keine Einzelheiten erkennen. Sekundenlang zögerte der Mann, dann entschied er sich für den Leichtsinn. Er mußte herausbekommen, was Rolf Herten gemeint hatte. Ein Handgriff brachte die Antenne in Bewegung. Langsam glich sie ihren Lauf der Umdrehung von Kallisto an, so daß auf dem Empfangsgerät ein ruhendes Bild entstand. Und dann kam die zweite Überraschung. Mitten in der zerklüfteten Halbinsel mit den zum Meer steil abfallenden, dicht bewachsenen Hängen tauchten Gebäude auf. Flache, langgestreckte, feste Häuser. Und zwischen ihnen bewegten sich Menschen. – Einen davon kannte Fallberg. Es war Steve Roy, der seit zwei Jahren für tot gehaltene amerikanische Physiker. * Wie betäubt stellte Fallberg alles auf „Null“. Mit Gewalt zwang er sich zur Besonnenheit. Was er hier ge16
sehen hatte, mußte er zu Hause durchdenken, wo er in Sicherheit war. Im Geheimfach, das für ihn bis auf den Inhalt nichts Geheimnisvolles an sich hatte, fand er einen Stoß Aufzeichnungen und Pläne. Er steckte sie unbesehen in die Mappe. Mit einem letzten prüfenden Blick wandte er sich dem Ausgang zu. Dann aber erwartete ihn die dritte Überraschung. Im Türrahmen stand Dr. Felten, ein etwa dreißigjähriger Akademiker, der ebenso wie Rolf Herten seine Labors in diesem Institut vom Staat kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Dr. Felten, von dem man auf Grund seines Geburtsdatums annehmen mußte, daß er eine noch fast jugendliche Erscheinung war, stand da in der Manier eines pensionsreifen Professors. Sein Kopf ruhte wenig überzeugend auf einem runden Rücken, zwischen zwei stark abfallenden Schultern. Fallbergs erstem Schrecken folgte ein mißtrauisches Aufatmen. Er kannte Felten und hatte ihn noch nie ganz für voll genommen. Hier allerdings ließ ihn das schlechte Gewissen auf der Hut sein. „Guten Abend, Doktor! Kommen Sie herein!“ Felten murmelte eine schüchterne Entschuldigung. „Nein, nein, lassen Sie es gut sein. Ich ging draußen spazieren und hatte plötzlich den Eindruck, als ob sich Hertens Antenne bewegte. Da wollte ich ihm nur Guten Abend sagen, nachdem er doch gestern noch diese Scherereien mit der Polizei gehabt hat.“ „Leider hat er sie noch.“ Fallberg hoffte, durch gespielte Leutseligkeit am schnellsten mit dem greisenhaften Jüngling fertig zu werden. „Ja, ja, so kann’s den unschuldigsten Mann erwischen. Ich hoffe, Sie drücken den Daumen, daß wir ihn bald wieder frei haben.“ 17
„Aber selbstverständlich, lieber Fallberg. Ihr Freund war mir immer einer der angenehmsten Kollegen. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, daß er Stachwitz nicht auf dem Gewissen hat. Kann ich Ihnen vielleicht etwas helfen? Sicherlich gibt es hier doch einiges aufzuräumen, nachdem der Inspektor ihm gestern keine Sekunde Zeit mehr dafür ließ. Übrigens, hieß er nicht Becker, dieser Polizeimensch? Auf den ersten Blick widerwärtig, dieser Bursche. Ein Wächter des Gesetzes sollte vertrauenerweckender aussehen. Finden Sie nicht?“ Fallberg setzte ein so auffälliges Lächeln auf, daß es selbst der unaufmerksamste Mensch nicht übersehen konnte. „Leider haben wir beide keinen Einfluß darauf, wer bei der Polizei befördert wird. Aber ich tröste mich schon, wenn man Hertens Unschuld schnell erkennt. – Allerdings mußte ich seine Geräte noch einmal überprüfen. Ihre Hilfe ist aber wirklich nicht mehr notwendig. Ich wollte gerade gehen.“ „Oh, nichts für ungut, lieber Fallberg. Ich habe die Freundschaft zwischen Herten und Ihnen stets mit ein wenig Neid bewundert. Er kann sich auf Sie verlassen, davon bin ich überzeugt.“ Als Werner Fallberg abschloß, hatte er das Gefühl, daß Felten mit Absicht an dem erbrochenen Polizeisiegel vorbeisah. Er wurde nicht klug aus diesem Mann. Bei der Verabschiedung vermied er es, dem anderen die Hand zu geben, denn die glasklaren Fingerhandschuhe gingen diesen nichts an. * Eine halbe Stunde später fand in den Diana-Werken eine Besprechung zwischen Direktor Diering und Werner Fallberg statt, bei der die Mappe mit den Plänen den Besitzer wechselte. Werner Fallberg schlief in dieser Nacht schlecht. Aber das Nachdenken half ihm auch nicht weiter. 18
Am nächsten Morgen meldete das Hausmädchen einen Besucher. Auf der Visitenkarte stand: Mihail Dornescu, Agent. Eine Adressenangabe fehlte. „Ich habe gesagt, daß Sie so früh bestimmt nicht zu sprechen seien“, erklärte das Mädchen, als es Fallbergs unwillige Reaktion in dessen Augen las. „Aber der Mann läßt sich nicht abweisen. Wenn es nicht so ungeheuer wichtig wäre, wäre er bestimmt zu einer passenderen. Tageszeit gekommen.“ „Schon gut. Lassen Sie ihn herein!“ Mihail Dornescus Erscheinen bestätigte, was sein Name vermuten ließ. Er war Rumäne, und zwar ein äußerst eleganter. Mit sprudelnden Worten – fast frei von Akzent – versuchte er sein Erscheinen zu rechtfertigen und nahm ohne Aufforderung in einem der bequemen Sessel Platz. „Ich will Ihre Zeit nicht allzusehr in Anspruch nehmen, Herr Doktor Fallberg. Lassen Sie mich ohne Umschweife reden.“ „Bitte!“ sagte Fallberg trocken. Instinktiv war er von vornherein auf Abwehr eingestellt und hatte nur den Wunsch, Dornescu schnellstens wieder loszuwerden. „Sie besitzen die nahezu vollständigen Konstruktionspläne für ein Radioteleskop“, fuhr der Rumäne mit einer Pokermiene fort. „Ich möchte sie Ihnen abkaufen.“ Der Deutsche spürte Gefahr. „Es tut mir leid, aber man muß Sie falsch unterrichtet haben. Ich bin Angestellter der Diana-Werke, und zwar reiner Techniker. Verkäufe von Erfindungen nimmt die kaufmännische Abteilung vor. Außerdem … Radioteleskope werden bei uns weder gebaut noch entwickelt. Wir stellen Fahrzeuge her. Autos und Raumschiffe.“ „Ich bin ermächtigt, 5 Millionen Servas zu bieten“, unterbrach Dornescu, als habe er gar nicht zugehört. 19
„Schade“, antwortete Fallberg. „Das Geld könnte mir helfen. Vielleicht erwerben Sie für Ihren Auftraggeber einen PhotonenHalbautomaten vom Typ VII. Die ersten Schiffe werden wahrscheinlich schon in achtzehn Monaten lieferbar sein. Sie können damit in dreißig Stunden den Mars erreichen.“ „Anscheinend kennen Sie den Wert der Pläne“, sagte Dornescu mit glattem Lächeln. „Entschuldigen Sie, daß ich gefeilscht habe. Ich gebe Ihnen zehn Millionen.“ „Wir reden aneinander vorbei. Was ich nicht habe, kann ich nicht verkaufen. So sehr ich das Geld liebe, ich kann Ihnen nur Raumschiffe empfehlen. Direktor Diering würde mit einem Probeflug sofort einverstanden sein.“ Der Rumäne nahm eine Zigarette. „20 Millionen“, murmelte er mit einer Rauchwolke zwischen den Zähnen. Fallberg markierte Heiterkeit. „Offenbar macht Ihnen das Spiel mit Zahlen Spaß.“ „Es ist mein Beruf. Aber höher als 20 Millionen kann ich nicht gehen. Die Provision zahlt der Käufer.“ „Es tut mir leid, einen zahlungskräftigen Interessenten ohne Vertrag scheiden zu sehen. Vielleicht überlegen Sie es sich doch noch mit dem Probeflug. Die Diana wird voraussichtlich nur 18 Millionen kosten.“ „20 Millionen. Inklusive Schweigegeld“, wiederholte der Agent hartnäckig. „Die Polizei wird nichts erfahren.“ „Wovon?“ „Sie waren gestern abend von 19 Uhr 35 bis 19 Uhr 45 beim Leiter der Staatlichen Laboratorien Doktor Nordhoff. Um 19 Uhr 50 erbrachen Sie das polizeiliche Siegel von Doktor Hertens Appartement und drangen in das Labor ein. Um 21 Uhr 05 entfernten Sie aus dem Geheimsafe sämtliche vorhandenen Pläne. Um 21 Uhr 12 verließen Sie die Wohnung, an deren Ausgang 20
Sie ein Bewohner des Instituts überraschte. Dieser Mann heißt Felten und hat den Grad eines Doktors der Quantenbiologie. Ihre unproduktive Unterhaltung dauerte vier Minuten. Sie begaben sich daraufhin auf kürzestem Wege in die Diana-Werke, wo sich die meinen Auftraggeber interessierenden Pläne zur Zeit befinden …“ Dornescu machte eine Kunstpause, um die Exaktheit seiner Angaben wirken zu lassen. Seine Hand vollführte dabei mit der glühenden Zigarette eine theatralische Bewegung, die die Sicherheit seiner Position noch unterstreichen sollte. Werner Fallberg sah das alles nur undeutlich durch einen Schleier. Vielleicht war es sogar ein Schleier. Denn der Rumäne paffte während der ganzen Zeit wie ein vorsintflutlicher Fabrikschlot und hatte sich inzwischen mit den schwebenden Verbrennungsresten seines Glimmstengels nahezu eingehüllt. Offenbar erwarteten beide, daß der andere zuerst sprechen würde. Jedenfalls regierte noch eine Weile das Schweigen in diesem seltsamen Duell. Dornescu raffte sich schließlich zur Fortführung des Gesprächs auf und murmelte noch einmal vor sich hin: „20 Millionen. Inklusive Schweigegeld.“ Fallberg hatte die Schrecksekunde jedoch inzwischen restlos überwunden. „Sie erwähnten eingangs, Herr Dornescu, meine Zeit nicht sehr in Anspruch nehmen zu wollen. Darf ich Sie an das Versprechen erinnern?“ Der Rumäne schien im Augenblick seine bisherige Taktik vergessen zu haben. Gereizt sprang er auf und machte drei Schritte auf seinen Gastgeber zu. „Sie wollen mich entlassen?“ „Allerdings! Seit Ihrer Drohung mit der Polizei interessiert mich Ihr Angebot nicht mehr. In dieser Beziehung habe ich meinen Stolz und meine Prinzipien. Bestellen Sie Ihrem Auftraggeber, daß er mir einen Mann mit Takt schicken soll – so21
fern er überhaupt bereit ist, das Mehrfache der von Ihnen genannten Summe zu zahlen.“ Durch ein Klingelzeichen war das Hausmädchen gerufen worden. „Herr Dornescu möchte gehen. Bringen Sie ihn bitte zur Tür!“ Der Besucher war klug genug, dieser Aufforderung zu folgen. Fallberg suchte sogar vergeblich nach irgendwelchen Spuren von Haß und Zorn in dem Pokergesicht, und erwiderte reserviert das gespielte Lächeln des anderen. Als Dornescu das Zimmer verlassen hatte, griff der Deutsche nach seinem Mantel und ging ebenfalls hinaus. Aus dem Vestibül vernahm er noch einmal den Gruß des Agenten. Ehe jedoch die Tür ins Schloß glitt, erklangen die Schritte eines neuen Besuchers. Zwischen den Blättern der Topfpalme am Fuße der Treppe war das blasse Gesicht Ellen Hertens zu erkennen. Drei Sekunden später stand Fallberg neben ihr. „Einen ungünstigeren Zeitpunkt konnten Sie sich wahrhaftig nicht aussuchen. Los! Kommen Sie mit!“ Draußen heulten die Turbinen des Rumänen auf, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Auf der Höhe des Gartentores stand Fallbergs Fahrzeug. „Hier einsteigen! Beeilen Sie sich!“ Die Türen schlugen zu. Dornescu fuhr bereits mit Höchstgeschwindigkeit, während der Anlasser des Verfolgers nur einmal leicht krachte und sofort wieder schwieg. Beim zehnten Versuch war der andere nur noch ein Punkt. Fünf Sekunden später hatten alle Anstrengungen keinen Sinn mehr. Fluchend sank Fallberg in den Sitz zurück. „Da hat man nun den schnellsten Turbowagen der Erde, und ausgerechnet, wenn es darauf ankommt, versagt er. Wenn Diering das erfährt, wirft er mir sämtliche Konstruktionspläne an den Kopf.“ 22
Während er nach Zigaretten suchte, fiel sein Blick auf Ellen. Er schien sie erst jetzt richtig zu bemerken. Das Mädchen hatte Tränen in den Augen. Aber auch Zorn – über diese Tränen. Das Weinen kam ihr so ungelegen wie dem Mann der Defekt seines Autos. „Wer war das?“ fragte sie schließlich. „Mihail Dornescu, Banditenagent. Er wollte mir Werners Pläne abkaufen und fuhr ziemlich unzufrieden wieder davon. Wenn diese verdammte Karre nicht gerade jetzt ihre ersten Mucken gehabt hätte, wäre mir der Bursche nicht entkommen, und ich wüßte heute noch, wo dieses Räubernest liegt.“ Fallberg hantierte mit dem Zigarettenetui. Es sah nicht sehr geschickt aus, als es ihm aus den Fingern rutschte und zwischen die Fußhebel fiel. Mühsam beugte er sich in dem engen Raum nach vorn, um nach dem Ding zu angeln. Dann kam ein Pfiff, als habe er eine Entdeckung gemacht. „Was ist los?“ fragte Ellen. „Sehen Sie sich das an!“ Er hielt das Etui senkrecht an die Wand – und es blieb hängen. „Wollen Sie mir Taschenspielertricks vormachen?“ „Ich nicht. Aber Dornescu scheint mit Tricks Bescheid zu wissen. Der Wagen ist magnetisch. Verstehen Sie etwas von Autos?“ „Ich habe sämtliche Führerscheine für Landfahrzeuge und die 1. Klasse für Kombi-Flugwagen. Ihr Fahrzeug muß generalüberholt werden.“ „Allerdings! Und dabei kam es erst vor fünf Tagen aus der Montage. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir jetzt ins Haus gehen und telefonieren?“ *
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Zehn Minuten später schickte Direktor Diering einen Ersatzwagen und ließ den anderen abschleppen. Ellen Herten hatte inzwischen Gelegenheit gehabt, den Grund ihres Besuches zu erklären. Doch sie hätte es gar nicht zu sagen brauchen, denn Fallberg konnte ihr das ganze Elend von den Augen ablesen. „Ich habe gestern keinen Schritt aus dem Haus getan“, verriet das Mädchen. „Ich hatte Angst vor allem, was um mich war. Ich hatte Angst, zu Ihnen zu gehen. Es wäre wohl auch vermessen, zu hoffen, daß Rolfs Unschuld in so kurzer Zeit bewiesen werden könnte.“ Werner Fallberg nickte. „Ich fürchte, Sie müssen viel Geduld haben. Die Voruntersuchung läuft bestimmt noch einige Tage. Und wenn es zum Prozeß kommen sollte, kann es noch Monate dauern. – Darf ich Sie vielleicht in das Hotel bringen? Ich habe noch einige Besorgungen in der Stadt zu machen, und wir könnten dann gemeinsam irgendwo das Mittagessen einnehmen.“ „Vielen Dank! Sie sind sehr freundlich zu mir.“ „Meine Begrüßung vorhin war es nicht. Ich habe etwas wettzumachen.“ * Mihail Dornescu saß, flankiert von zwei bedrohlich aussehenden Werksicherheitsleuten, im Sekretariat des Direktors, das die Damen fluchtartig geräumt hatten. Es war ein Rätsel, wie der Rumäne überhaupt so weit vordringen konnte. Doch Fallberg fühlte sich nur noch halb so feindselig eingestellt, als er hörte, daß nichts zerstört und nichts gestohlen worden war. Bevor die voreilig alarmierte Polizei im Werk eintraf, verschaffte er Dornescu sogar ungehinderte Passage bis zum Werksausgang und begleitete ihn persönlich bis an dessen bereitstehendes Auto. 24
„Aus Ihnen werde einer klug“, murmelte der Agent, ehe er einstieg. „Weshalb lassen Sie mich laufen?“ Fallberg zwang sich zu einem überlegenen Lächeln. „Ich weiß, daß Sie Kapital hinter sich haben, und spiele immer noch mit dem Gedanken, daß Sie uns in Kürze eine Diana VII abnehmen werden. Fassen Sie es also als Werbegeschenk auf, wenn ich Sie jetzt laufen lasse. – Und nun geben Sie Gas, bevor die Polizei auftaucht!“ Als Werner Fallberg ins Sekretariat zurückkehrte, empfing Diering ihn mit massiven Vorwürfen. Aber sie kamen nicht so an, wie der Gewaltige von den Diana-Werken sich das gedacht hatte. Dem jungen Techniker und Raumschiffpiloten machte seit achtundvierzig Stunden das Schicksal seines besten Freundes zu schaffen. Seit gestern plagte ihn obendrein das schlechte Gewissen wegen des Einbruchs im Laboratorium. Und in diesem Dilemma reagierte er durchaus respektlos. „Das überlassen Sie getrost mir, Herr Direktor. Schließlich ist es mein Hals, um den es hier geht. Ich kann es mir einfach nicht leisten, daß Dornescu von der Polizei verhört wird und vielleicht seine Ansicht über den Aufenthaltsort der gestohlenen Pläne preisgibt. Außerdem hat Breitenbach den Auftrag, den Burschen zu verfolgen. Dornescu ist für uns der einzige Anknüpfungspunkt, um mit Hertens Gegnern Kontakt zu bekommen. Und ich bleibe bei der Behauptung, daß bei dieser Bande auch der Mörder von Professor Stachwitz zu suchen ist.“ „Sie wollen also doch Kriminalinspektor spielen.“ „Nennen Sie es, wie Sie wollen. Wenn Rolfs Unschuld nicht durch ein Alibi zu beweisen ist, so muß ich den wirklichen Täter finden. Die Polizei macht es sich leider sehr bequem. Der Zufall hat ihr ein paar Indizien in die Hände gespielt, und schon steht der scheinbar so lückenlose und logische Beweis gegen Herten.“ 25
Direktor Diering nahm die gereizte Haltung seines Angestellten mit bewunderungswürdiger Objektivität auf. Aus dem Fenster blickend, sagte er: „Dann kann ich Breitenbach bei seiner Verfolgung nur Glück wünschen. – Übrigens, da kommt Inspektor Becker mit Geleitschutz. Haben Sie sich schon eine glaubwürdige Ausrede überlegt? Nach Ihrem eigenmächtigen Handeln möchte ich das Sprechen nämlich Ihnen überlassen.“ „Keine Sorge. Mir wird schon etwas einfallen.“ Becker kam mit zwei Assistenten, denen das Sprechen offenbar Schwierigkeiten machte. Bis auf einen undeutlich gemurmelten Gruß hielten sie sich schweigend im Hintergrund. Der Inspektor setzte ein unverschämtes Grinsen auf, als er etwas von einem blinden Alarm hörte. Er vergaß dabei jede Diplomatie, wie sie einem Kriminalisten sonst ansteht. Fallberg spürte hinter dieser ungezügelten Offenheit eine Falle, aber er war nicht bereit, hineinzutapsen. „Ich muß Sie tatsächlich enttäuschen, lieber Inspektor. Die Tatsache, daß Sie persönlich zu uns gekommen sind, verrät mir, welchen Leckerbissen Sie hier vorzufinden hofften. Ich denke da vor allem an die Mosaiksteinchen im Falle Herten. Aber es ist alles wirklich harmlos. Ein persönlicher Freund aus der Türkei wollte mich besuchen. Da er niemandem im Werk bekannt war, hielt man ihn natürlich für einen Spion, der sich für irgendwelche Pläne interessierte …“ „Dieser türkische Herr ist inzwischen natürlich wieder abgereist“, warf Bekker trocken ein. „Sie sind gut orientiert. Er hatte es in der Tat sehr eilig. Ich gab ihm einige Informationen, die ich ihm schon vor einer Woche in Italien zugesagt habe – und weg war er.“ Diering hatte inzwischen Kognakschwenker auf den Tisch gestellt und diese aus einer ständig kühl stehenden Flasche gefüllt. 26
„Damit Ihr Besuch nicht ganz vergeblich war, Herr Inspektor, trinken Sie dieses Glas mit uns!“ Der Polizeimann ließ sich nicht lange animieren und winkte seinen schweigenden Begleitern, es ihm nachzutun. „So vergeblich war mein Besuch nicht“, erklärte er geheimnisvoll. „Immerhin erspart er mir einen Anruf.“ „Einem Verhör steht nichts im Weg“, entgegnete Fallberg mit Galgenhumor. „Sie sollten Ihr Mißtrauen gegen die Polizei endlich begraben! Ich wollte Sie um Ihre Unterstützung bitten.“ „Wie stellen Sie sich so etwas vor?“ „Nun, außer Herten sind Sie der einzige, der das Radioteleskop bedienen kann. Der Untersuchungsrichter legt Wert darauf, dieses Gerät einmal in Aktion zu sehen.“ „Mischen Sie sich da nicht zu sehr in die Kompetenzen der Geheimpolizei?“ „Absolut nicht.“ „Trotzdem, Herten selbst kennt seine Erfindung noch besser als ich. Weshalb nehmen Sie nicht ihn dafür?“ „Bei Ihrem Freund besteht Verdunklungsgefahr. Wir machen uns unsere eigenen Gedanken über den Fall. Ich möchte aber noch nicht darüber reden. Nehmen Sie es einfach als gegeben hin, daß Herten das Gefängnis nicht verlassen darf.“ Das Visifon unterbrach den Inspektor. Die Zentrale meldete Breitenbach, der unbedingt sofort vorgelassen werden wollte. „Er soll warten!“ ordnete Diering an. Als der Bildschirm erlosch, reagierte Becker sofort als höflicher Mensch. „Ich sehe, daß auch Sie über wenig Zeit verfügen, meine Herren. Und unsere Sache ist ja abgemacht, lieber Fallberg. Heute abend 2 Uhr in Hertens Labor.“ „Ich werde kommen. Auf Wiedersehen, Herr Inspektor.“ 27
Dem kurz darauf eintretenden Breitenbach stand der Mißerfolg auf dem Gesicht geschrieben. Fluchend und ein wenig respektlos warf er sich in einen Sessel und griff nach der Flasche, die Diering unvorsichtigerweise hatte stehen lassen. „Dornescu hat mich genauso angeführt wie Sie.“ „Sagen Sie bloß nicht, daß Ihr Wagen auch magnetisch war. Schließlich standen Sie versteckt in der Ausfahrt E, und keiner konnte wissen, was Sie vorhatten.“ „Der Mann liebt die Abwechslung. Diesmal fuhr er einen Flugwagen. Mitten im tollsten Verkehr der Innenstadt ging er auf Höhe und nahm Kurs: südlicher Horizont. Mit Radar habe ich ihn gar nicht erst zu fassen versucht.“ „Das nimmt Ihnen keiner übel bei dem Betrieb“, lenkte Fallberg ein und hängte zu seiner seelischen Erleichterung einen saftigen Fluch dahinter. Dann nahm auch er einen Schluck, und Diering gab die Hoffnung auf, noch einen Rest von der Flasche für sich retten zu können. Nach kurzem Überlegen erklärte Fallberg: „Es wird Zeit, daß wir unsere Handlungen und Überlegungen konsequent ausrichten. Solange wir die Dinge unvorbereitet auf uns zukommen lassen, sind wir der Situation nicht gewachsen. Sie, Breitenbach, fahren ab heute nur noch Mehrzweckautos. Ich selbstverständlich auch. Heute abend habe ich ein Rendezvous mit der Polizei in Hertens Wohnung. Ganz gleich, was bei solchen Sachen jetzt oder in Zukunft herauskommen wird, ich möchte Sie bitten, meine neue Diana VII Tag und Nacht startbereit zu halten. Zwei von unseren Leuten haben sich stets im Schiff aufzuhalten. Ist das klar?“ „Jawohl, Kapitän!“ erklärte Breitenbach beinahe militärisch und fühlte sich schon wieder in seiner Rolle des Ersten Offiziers. „Sie, Herr Direktor, möchte ich bitten, mir die Pläne wieder 28
auszuhändigen. Ich will Sie in Zukunft nur noch bei mir tragen. Das scheint mir noch am sichersten zu sein.“ Diering äußerte Bedenken, gab sich aber schließlich durch Werners Hartnäckigkeit geschlagen. „Mir soll es letzten Endes gleichgültig sein“, resignierte er achselzuckend. „Da diese Papiere die Diana-Werke nichts angehen, kann ich Ihnen keine Vorschriften machen. Sollten Sie aber im Laufe des Tages auf die Idee kommen, daß mein Tresor der sicherste Ort auf Erden ist, dann stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.“ Diering ging ins Nebenzimmer und kehrte kurz darauf mit einer gelben Mappe zurück. Fallberg wollte sie einstecken; ein flüchtiger Blick jedoch machte ihn stutzig. Als er die Mappe aufschlug, wurde er unruhig. „Das sind nicht Hertens Pläne, Herr Direktor. Sie haben sie verwechselt.“ „Unsinn! Diese Mappe haben Sie mir gegeben.“ „Die Mappe ist in Ordnung, aber der Inhalt nicht.“ Sie gingen zu dritt in den Nebenraum. Doch das Suchen nach Hertens Originalen blieb ergebnislos. Das folgende Schweigen war unheimlicher als ein Dutzend tödlicher Drohungen. Dierings Gesicht glich einer Totenmaske. Fallberg bohrte die rechte Faust in die linke Handfläche, und das verkrampfte Mahlen seines Unterkiefers war ein deutliches Zeichen dafür, daß er sich zu beherrschen suchte. „Dornescu hat die Pläne. Wie, um alles in der Welt, konnten Sie aussagen, er sei nicht bis in Ihr Zimmer vorgedrungen?“ Diering fühlte sich schwach und hilflos. „Es hat keinen Zweck, das erklären zu wollen. Dornescu war nicht in meinem Zimmer. Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist. Dornescu kann die Plane nicht besitzen. Ich hatte ihn stets im Auge, bis Sie kamen.“ 29
* Hätte Breitenbach im Laufe des Gesprächs nichts von seinem Hunger erwähnt, so würde Fallberg seine Verabredung mit Ellen Herten total vergessen haben. Wie im Trancezustand fuhr er zum Hotel und gab sich auch zu Beginn des Mittagessens sehr einsilbig. Er war nicht der Mann, der so leicht sein Herz ausschüttete. Schon gar nicht einem Mädchen, das kaum mit der Last seiner eigenen Sorge fertig wurde. Während er in Bruchstücken von seinem Besuch bei Dr. Gallatin erzählte und dabei die aufregenden Erlebnisse im Werk unterschlug, war er bemüht, Ellen Geduld einzureden. Er verwies auf die anberaumte Voruntersuchung, die wahrscheinlich schon die Wahrheit ans Licht bringen würde. Gallatin sei auf jeden Fall sehr optimistisch gestimmt. Den Erfolg seiner Worte glaubte er daran zu erkennen, daß Ellen beim Dessert wesentlich mehr Appetit zeigte. Dann brachte er das Gespräch absichtlich auf andere Dinge und erfuhr dabei, daß sie die letzten fünf Jahre in Italien verbracht, wo sie Sekretärin in einem Talkumwerk gewesen war. Schließlich versuchte er sich im Komplimentemachen. „Wenn Rolf wieder bei uns ist, werde ich ihm gehörig den Kopf waschen, daß er mir so wenig von Ihnen erzählt hat. Ich wußte zwar von Ihrer Existenz, aber daß Sie eine bemerkenswerte Frau sind, hat er mir hartnäckig verschwiegen.“ * 19.55 Uhr. Novembernebel lag über den Staatlichen Laboratorien. Die Sicht reichte kaum zehn Meter weit, und die Standlichter der
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parkenden Autos glommen wie die Gespensteraugen von Masken in der Dunkelheit. Werner Fallberg stellte seinen Wagen in der Nähe des Haupttores ab. Am Eingang des Zentralgebäudes traf er eine Gruppe diskutierender Herren. Inspektor Becker übernahm die Vorstellung, und Fallberg mußte sich mit den Tatsache abfinden, daß außer dem Untersuchungsrichter auch zwei Beamte vom Geheimdienst dabei waren. Die Siegel von Hertens Wohnung waren inzwischen erneuert worden. Aber niemand schien sie heute zu beachten. Dr. Nordhoff führte die Männer hinein und gab einige kurze Erklärungen zur Lage der einzelnen Zimmer. Im Labor wurde Fallberg zur Hauptperson. Während er die Röhren des Teleskops vorheizte, deutete der Inspektor beiläufig zur Wand, wo der Safe untergebracht war. „Soviel ich weiß, hätte mein Kollege Cramer vom Sicherheitsdienst gern noch einige Fragen an Sie gestellt. Laufen Sie also bitte nicht gleich weg, wenn wir hier fertig sind.“ „Selbstverständlich stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung“, sagte Fallberg steif mit einem Nicken in der Richtung des erwähnten Herrn. Dann wandte er sich hastig den Geräten zu, um seine Nervosität zu verbergen. Der Bildschirm zeigte den Stier. Hastig drehte Fallberg die Richtungsknöpfe und fand schnell die Venus als strahlende Sichel. Jupiter wollte er bei dieser Vorstellung unter allen Umständen meiden. Nun, die Venus als Abendstern war ein lohnendes Beobachtungsobjekt. Der Nebel draußen bedeutete kein Hindernis, und in wenigen Sekunden hatte man eine haarscharfe Wiedergabe einer großen Venussiedlung. Die Atmosphäre beider Planeten blieb ohne störenden Einfluß auf das Bild, denn das Gerät Dr. Hertens arbeitete auf sämtlichen Wellenlängen zwischen einem halben Meter und einem Billionstel Millimeter. 31
Die Gespräche verstummten nach und nach. Und als man die ersten Menschen der Venusstadt erkennen konnte, schienen selbst die ehrgeizigsten Beamten vergessen zu haben, daß sie hier eine Aufgabe zu erfüllen hatten. Fallberg beschrieb die Einzelheiten wie ein Reiseführer. Er pries die Erfindung seines Freundes mit der Beredsamkeit eines Propagandamannes und dachte dabei ununterbrochen an die Hintergründe dieser Vorführung, die ohne Zweifel eng mit dem Fall Herten zusammenhingen und wahrscheinlich auch für ihn selbst von Bedeutung waren. Was die Polizei und der Geheimdienst dabei im Schilde führten, konnte er nicht klar erkennen. Er wußte jedoch, daß die anderen die Jäger waren. Er dagegen spielte den Gejagten. Während die Augen auf das Bild starrten, das wie ein Kulturfilm ablief, signalisierte sein Gehirn Gefahr. Dann war plötzlich alles wie weggewischt, wie eine Zäsur durch sein Erinnerungsvermögen. Es mußte die Detonation einer kleinen Bombe gewesen sein. Das Labor sah aus wie ein Schlachtfeld. Der größte Teil des Teleskops war zerstört. Trümmer und zu Boden geschleuderte Menschen bildeten ein undefinierbares Chaos. Fallberg fühlte feuchte Wärme an der rechten Gesichtshälfte. Er tastete mit der Hand danach und sah, daß sie voll Blut war. Das Aufstehen fiel ihm schwer, aber er stand als einer der ersten. Für zwei oder drei Sekunden wenigstens. Dann traf ihn ein Faustschlag. Er hatte diese Faust wie einen undeutlichen Schatten auftauchen sehen, wäre jedoch nie auf den Gedanken gekommen, daß sie Gefahr für ihn bedeuten konnte. Während er am Boden lag, versuchte er zu denken. Er zermarterte sein Gehirn, gehetzt von dem Bewußtsein, daß Sekunden über Sein oder Nichtsein entscheiden konnten. Der Sinn dieser Verwirrung durfte ihm gleichgültig bleiben. Er brauchte 32
nur seine ganze Geistesgegenwart, um mit der Situation fertig zu werden. Am Boden liegend schielte er nach oben, schielte er durch Augen, vor denen noch bunte Kreise tanzten, die einen stechenden Schmerz bis ins Gehirn schickten. Plötzlich kristallisierte sich dieser undeutliche Schatten zu einer klaren Gestalt heraus. Es war einer von den Geheimdienstlern, die ihm vorhin bei der Vorstellung so konventionell zugelächelt hatten. Fallberg markierte groggy. Dann schnellte er noch und rammte seinen Kopf dem Gegner in die Magengrube, daß diesem auch der beste Judogriff nichts mehr half. Er holte tief Luft, ohne sich darum zu kümmern, daß viel aufgewirbelter Staub dabei war. Nachdem er sie wieder aus den Lungen hinausgepreßt hatte, war er für eine Sekunde wehrlos. Und in diesem Augenblick spürte er einen festen Würgegriff von hinten. Erst ein Befehl veranlaßte diesen Arm, sich etwas zu lösen. Aus den tanzenden Partikelchen des von den Wänden gerissenen Mörtels tauchte Inspektor Becker auf und stellte sich dicht vor Werner Fallberg hin. „Ich halte Sie schon seit zwei Tagen für einen gefährlichen Mann, Doktor. Daß Sie aber gleichzeitig die Ausgeburt der Dummheit sind, hätte ich nie erwartet. Oder nennt man das bei Ihnen vielleicht Temperament?“ Fallberg war verwirrt. Er hatte die Kenntnis der Zusammenhänge völlig verloren. „Was reden Sie für einen Unsinn, Inspektor? Hier fliegt das halbe Labor ln die Luft, und in mir suchen Sie den Schuldigen? Das erinnert an die Methode, die Sie bei Herten anwandten.“ Inspektor Becker schien im Interesse der Verletzten wenig Zeit auf diese Episode verwenden zu wollen. Während im Hintergrund irgendwer etwas von idiotischen und staatsgefährdenden Wissenschaftlern schrie, sagte er sachlich: 33
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„Angesichts der vielen Augenzeugen für Ihr Bombenattentat liegt dieser Fall wohl wesentlich klarer als der des Doktor Herten. Im Namen des Gesetzes ich verhafte Sie, Doktor Fallberg.“ Schweigen für die Dauer von zwei Atemzügen. Schüsse! Dann klirrende Fensterscheiben. Fallberg stand draußen im Nebel, rannte in die undurchsichtige Wand hinein und fand seinen Wagen, als hätte er diese Flucht wiederholt geübt. Die Tür schlug zu. Der Motor heulte auf und hetzte das Fahrzeug gegen die Ausfahrt. Aber der Gegner reagierte blitzschnell. Die Verfolger waren hinter ihm. Befehle an die längst alarmierten Posten brauchten weniger Zeit als der Start eines Wagens, selbst wenn die Batterien unter Aufsicht von Ellen Herten ständig unter Strom gestanden hatten. Die Stoßstange prallte gegen Widerstand. Senkrechtstart war die letzte Rettung. Erneut durchzuckten Energiestrahlen aus den Handwaffen der Polizei die Nacht. Aber ein Befehl unterband die Fortsetzung des Feuers. In dem Gewühl der ineinander gefahrenen Wagen waren die eigenen Leute genauso gefährdet wie der Flüchtling. Ein Berserker von einem Beamten stürzte auf Fallbergs Wagen zu und versuchte, die Tür aufzureißen. Doch sie war gesichert. Der Griff gab auch einem Athleten nicht nach. Fallberg verzichtete auf jede Rücksicht und dachte nicht daran, nach Polizeivorschrift mit weniger als drei Meter pro Sekunde vom Erdboden abzuheben. Er drückte den Starthebel durch bis an den Anschlag. Ellen Herten sackte mit vier Zentnern Gewicht in die Polster, die unter der plötzlichen Belastung hart wie ein Brett wurden. Sie spürte nichts mehr von dem Schmerz, denn die Ohnmacht hüllte sie ein. 35
Weniger nachsichtig ging das Schicksal mit dem Mann um, dessen Hand verkrampft den Türgriff umklammert hielt. Die Abwärtsbewegung hätte mit Lichtgeschwindigkeit nicht überraschender kommen können. Der Arm wurde hochgerissen, kugelte unter dem Gewicht des schweren Körpers aus der Schulter, und der Kommissar vom Geheimdienst fand einen seiner besten Männer lazarettfähig vor sich liegen. Fallbergs Wagen verschwand so schnell im Nebel der Nacht, daß die lahme Reaktion menschlicher Nerven nicht aus reichte, um hier noch etwas auszurichten. – – Sein Ziel war der Raumflughafen der Diana-Werke. Leutnant Breitenbach war in der Zentrale des Schiffes vor dem Leuchtband eines Kriminalromans eingenickt. Als Fallbergs Rufzeichen erklang, wurde er sofort hellwach. „In vier Minuten lande ich neben dem Raumschiff. Machen Sie alles soweit klar, daß wir sofort starten können. Und vergessen Sie nicht, die Kabine des Fahrstuhls nach unten zu schicken!“ „Jawohl, Kapitän! Ich verstehe nur nicht …“ „Mensch, Breitenbach, ich bleibe Ihnen das Gehalt schuldig, wenn Sie jetzt blöde Fragen stellen. Wieviel Leute haben Sie noch bei sich?“ „Preske ist noch da. Sonst keiner. Schließlich hatten Sie ja bestimmt, daß nur zwei Mann im Schiff …“ Fallberg interessierte sich herzlich wenig für die Kommentare seines Ersten Offiziers. Er unterbrach die Verbindung und konzentrierte sich auf das Blindfluggerät. Es würden keine fünf Minuten vergehen, und die Polizei hatte ebenfalls ihre Flugwaffen in der Luft. Bis dahin mußte er an Bord der Diana VII sein. Und es klappte! Mit gekonnter Navigation setzte er den Wagen drei Meter neben dem Fahrstuhl an der Startrampe auf. Der Eingang stand offen. Er brauchte nur hineinzuspringen. 36
Aber dann fiel sein Blick auf das bewußtlose Mädchen. Zum Überlegen war wenig Zeit. Unmöglich konnte er Ellen in diesem Zustand im Startgebiet des Raumers allein lassen. Es blieb nur eine Wahl, er mußte sie mitnehmen. Kurz entschlossen trug er sie in die Kabine. * Nach genau einer Woche Flugdauer ging die Reise zu Ende. Die dominierende Erscheinung am Himmel war die Scheibe des Jupiter. Seine vier galileischen Monde konnte man bereits ohne Vergrößerung erkennen. In wenigen Stunden würde die Diana VII zur Landung ansetzen. Bis zu diesem Punkt konnte man Prophet spielen. Dahinter lag die Ungewißheit. Wer war Steve Roy? Vor zwei Jahren galt er als einer der erfolgreichsten Astrophysiker. Dann verschwand er. Offiziell wurde er totgesagt. War er der Herr dieser Station? Handelte er im Aufträge der amerikanischen Regierung? Würde sein Terrain als tabu für einen Fremden gelten? Auch dümmere Leute als Fallberg hatten sich sagen können, daß jemand, der die Einsamkeit sucht, nicht unbedingt auf Besuch erpicht ist. Preske saß seit Stunden am Funkgerät und beobachtete alle verfügbaren Frequenzen. Er hörte Fellachenmusik aus Assuan, ein Lustspiel aus Santiago, ein kulturelles Interview von Spitzbergen, Verständigungsverkehr zwischen drei künstlichen Erdsatelliten, einen Expeditionsbericht von Venus IV und Nachrichten der Marsstation Deimos. Was die vier Menschen im Raumschiff interessiert hätte, war jedoch, daß man sie von Kallisto aus ansprach. Kallisto war inzwischen zu einer großen Scheibe angewachsen, deren milchiger Rand deutlich die Atmosphäre erkennen 37
ließ. Als die Diana VII zum Spiralflug ansetzte, hatte sich noch immer kein Sender bemerkbar gemacht. „Rufen Sie selbst, Leutnant“, entschied Fallberg schließlich. „Gehen Sie auf 15fache Kurzwelle! Irgendeine Frequenz müssen die Burschen ja schließlich besetzt halten.“ „Was soll ich sagen?“ „Gar nichts. Schalten Sie auf mein Mikrophon durch.“ „Erledigt. Bitte sprechen!“ „Achtung! Hier Fallberg mit Privatmaschine Diana VII. Ich rufe Kallistostation auf Halbinsel Niceu. Achtung! Hier Diana VII im Anflug auf völkerrechtlich besitzerlosen Jupitermond Kallisto. Halbinsel Nicea bitte melden!“ Keine Antwort. Fallberg wiederholte die Sätze eine halbe Stunde lang. Es war, als ob er ins Nichts spräche. Resigniert stand er auf. Zweimal wurde der Jupitermond umrundet. Dann war die Geschwindigkeit so stark gedrosselt, daß man in die dünne Atmosphäre eindringen konnte. „Beachten Sie das ebene Plateau auf der Halbinsel“, erklärte Fallberg, „dort werden wir landen. Achtung, Preske! Bugsätze fünf und sechs auf zehn verstärken, zwei Strich Steuerbord!“ „Zwei Strich Steuerbord – liegt an.“ „Gut. Breitenbach, öffnen Sie die Drossel mehr! Merken Sie denn nicht, daß wir zuviel Fahrt haben? Wir sind hier nicht auf Terra oder Venus. – Mensch, Preske! Was rutschen Sie denn schon wieder nach Backbord? Fünf und sechs haben doch gezündet.“ „Jawohl, Kapitän! Aber die Ladung muß zu schwach sein. Soll ich Rohr sieben einschalten?“ „Tun Sie das! Achten Sie darauf, daß die Halbinsel im Fadenkreuz bleibt. Und bis zur Landung überlegen Sie sich, wo der Fehler liegt! Ich habe nämlich nicht die Absicht, mir den Hals zu brechen.“ 38
„Da gibt es nichts zu überlegen. Die Steuerung war immer in Ordnung. Hier, sehen Sie! Wir gehen wieder nach Backbord. Rohr sieben schafft es auch nicht. Ich weiß nicht, woran das liegt.“ Fallberg sprang nach vorn und schob den Steuermann beiseite. Er versuchte die unmöglichsten Schaltungen, aber das Schiff entglitt immer mehr seiner Kontrolle. Breitenbach begann in diesem Augenblick unverschämt zu fluchen, denn auch die Geschwindigkeit des Schiffes entzog sich plötzlich dem Einfluß des Piloten. „Himmel! Wir stürzen ab!“ stöhnte Preske. „Reden Sie keinen Unsinn!“ fauchte Breitenbach. „Wir sind nicht schneller, sondern langsamer geworden. Das dürfte Ihnen schon der stärkere Andruck verraten.“ „Demnach sind wir in einem künstlichen Kraftfeld. Schon mal gehört, daß es so etwas gibt?“ „Nie gehört“, sagte Fallberg beeindruckt. „Aber wir erleben es im Augenblick. Meinen Vorwurf nehme ich hiermit zurück, Steuermann Preske.“ „Freut mich ungemein, Kapitän. Aber beruhigen werde ich mich erst, wenn ich unten mit heilen Knochen angekommen bin. Ich wollte, es nähme sich eine süße Ohnmacht meiner an. Fräulein Herten scheint bessere Beziehungen zu Morpheus zu haben.“ Nur für wenige Sekunden schweiften die Gedanken der Männer ab. Das Mädchen lag besinnungslos und angeschnallt in dem Sessel, den Fallberg ihm vor dem Landemanöver zugewiesen hatte. Bremswirkungen von über 3 g mußten die Menschen im Schiff über sich ergehen lassen, und das war zuviel für Ellen. Im letzten Augenblick sah alles nach Bruch aus. Aber dann lag da plötzlich eine glatte Metallfläche, auf der das Raumschiff waagerecht aufsetzte. 39
„Beobachten Sie die Umgebung!“ befahl der Kapitän. Er selbst bemühte sich um Ellen, die nach Anwendung eines Reizmittels schnell aufwachte. Erklärungen gab er soviel, wie gerade nötig war. „Wir sind da, Ellen. Herr Breitenbach wird vorläufig zu Ihrem Schutz hier bleiben. Preske und ich machen zunächst einen kleinen Erkundungsgang. Also klar, Leutnant. Sie bleiben in Funkverbindung mit uns.“ „Wie verabredet. Hals- und Beinbruch, Kapitän! Fräulein Herten und ich drücken die Daumen für Sie.“ Draußen herrschte an irdischen Verhältnissen gemessen Dämmerung. Die Riesenscheibe Jupiters stand dicht über dem Horizont und spendete mühsam reflektiertes Sonnenlicht. Wenn die Temperatur gut zu ertragen war, so lag das vor allem an den zahllosen Thermalquellen, die ein Wunder der Natur auf dem größten aller Jupitermonde hatte entstehen lassen. Große Vulkane am Meeresboden verliehen den flachen Gewässern Temperaturen bis zu 18 Grad Celsius. Trotzdem überlief die Männer ein Frösteln, als sie die fremde Welt betraten. Obgleich die Menschheit in den letzten Jahrzehnten durch mehrere Expeditionen eine gewisse Kenntnis von Kallisto erlangt hatte, war dieser Satellit ein Reich der Rätsel geblieben. Preske, der als Nachwuchsmann noch nie über den Planetoidenring hinausgekommen war, hielt sich stets einen Schritt hinter seinem Vorgesetzten. Und die Schußwaffe hatte er im Gegensatz zu diesem vorsichtshalber in der Hand. Ihr erstes Ziel lag noch vierhundert Meter entfernt. Doch bei der geringen Kallistogravitation konnten sie ein geradezu olympisches Rekordtempo vorlegen. Ein dunkler Fleck in der Wand entpuppte sich als künstlich 40
geschaffener Eingang. Es war nur ein Loch im Felsen. Aber die in einem Spitzbogen gipfelnde Symmetrie konnte unmöglich ein Zufall der Natur sein und verriet menschliches Stilempfinden. Hinter diesem Loch gähnte schwarze Leere. Sie mußten ganz nahe herangehen und ihre Stableuchten benutzen, um etwas erkennen zu können. Das Ergebnis war wenig aufregend. Sie standen vor einer schlichten Felsenkammer, die man wahrscheinlich als Schutzraum gedacht hatte. Es war vielleicht Platz für zehn oder zwölf Personen. Grob behauener Stein schloß das Verlies nach allen Seiten ab. Nur dieser eine Eingang existierte. Die scheinbare Harmlosigkeit des Raumes nahm den Männern das Mißtrauen. Sie wollten gleichzeitig eintreten, um die Wände näher zu betrachten. Doch der gemeinsame Schritt nach vorn brachte das Entsetzen. Fallberg hatte im Laufe seiner jahrelangen Praxis als Raumschiffer zwischen Merkur und Pluto oft genug Situationen vorgefunden, die ihm im Antischreck-Unterricht auf der Weltraumakademie keiner vorgekaut hatte. Hier dauerte es jedoch länger als jemals zuvor, bis er sich wieder in die Gewalt bekam. Preske stand buchstäblich kopf. Fallberg konnte ihm aber nicht helfen, weil er selbst keine Massenanziehung mehr unter sich spürte, die ihm eine sichere Basis gegeben hätte. Für ihn war das erste Gebot, den Körper völlig stillzuhalten. Nachdem der Schock sich etwas gelegt hatte, versuchte er, mit seinem Steuermann Sprechverbindung zu bekommen. Es klappte. Ein Anruf des Schiffes draußen aber blieb ohne Echo. Die Verbindung mußte abgeschirmt sein. Fallberg nahm es nicht sehr tragisch, denn im Augenblick hatte er tatsächlich andere Sorgen. „Verhalten Sie sich ruhig, Preske. Das Blut wird Ihnen nicht zu Kopf steigen.“ 41
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Preskes respektloses Lachen klang längst nicht mehr nach Furcht. „Weshalb soll mir das Blut zu Kopf steigen, wenn Sie mit den Beinen nach oben hängen? Ich würde an Ihrer Stelle zunächst mal an mich selbst denken und Positionswechsel vornehmen.“ Fallberg machte eine vorsichtige Bewegung nach hinten, wo er in nächster Nähe den Eingang zu diesem Felsverlies vermutete. So sehr er aber die Augen zur Seite rollte, das Loch in der Wand war verschwunden. Im Licht der Stableuchte schimmerte an vier Seiten nur gewachsener Stein, oben und unten dagegen nur schwarze, unendliche Leere. Preskes selbstsichere Behauptung verwirrte ihn etwas. Aber es bedurfte jetzt keiner komplizierten Überlegungen mehr, um die Situation zu erfassen. „Wer von uns beiden auf dem Kopf und wer auf den Füßen steht, ist jetzt gleichgültig. Inzwischen werden Sie wohl bemerkt haben, daß wir keiner Massenanziehung mehr unterliegen.“ Es war, als wolle ihn ein unsichtbarer Lauscher widerlegen, denn in der rätselhaften Felsenhöhle herrschte für den Bruchteil einer Sekunde plötzlich wieder Schwerkraft. Sie war nur ein Impuls gewesen und körperlich kaum spürbar. Aber die Wände glitten, wie von Geisterhand bewegt, in die Höhe. Es war eine sanfte Bewegung, ein Wunder oder eine Sache, hinter der menschliche Vernunft steckte. Preske hatte eine zu starke Bewegung gemacht und war in die Wand gestoßen. Dadurch wurde seine Geschwindigkeit gebremst. Fallberg, der an ihm vorbei glitt, griff jedoch noch rechtzeitig nach seinem Kopf und zog ihn mit sich. „Machen Sie jetzt keine Zicken, Preske! Vermeiden Sie jede Körperbewegung. Ich werde Sie halten, damit wir auf jeden Fall zusammenbleiben.“ 43
„Schon gut, Kapitän. Ich verstehe gar nicht, wie das passieren konnte. Wenn Schwerkraft herrscht, müssen wir doch senkrecht gleiten.“ „Wenn Schwerkraft herrschte, müßten wir stürzen, Sie Intelligenzbestie. Und zwar mit Beschleunigung. Was uns nach unten holt, ist lediglich ein Gravitationsimpuls gewesen. Auf diese Weise hat man uns in Bewegung gesetzt. Das andere macht nämlich das Beharrungsvermögen. Klar?“ „Natürlich. – Kann man schon das Ende sehen?“ Preske fragte in erster Linie, weil ihn sein Schicksal verständlicherweise interessierte. Gleichzeitig wollte er aber seinen Vorgesetzten am Dozieren hindern, denn der Zeitpunkt dazu war wirklich nicht günstig gewählt. Mehrere Minuten verstrichen. Die zurückgelegte Strecke ließ sich kaum schätzen. Da tauchte das Ende der Höhle auf. Es kam schneller, als man in der ungewissen Schwärze des Schachtes hätte vermuten können. In dem Augenblick, als die Männer festen Boden unter den Füßen spürten, drang von allen Seiten helles Licht auf sie ein. Die engen Felswände waren zurückgewichen und hatten sich zu einer geräumigen Grotte erweitert, in der es von technischen Geräten wimmelte. Irgendwo zwischen diesem Durcheinander tauchte eine Gestalt auf, und Preske brachte instinktiv seine Waffe in Anschlag. „Runter mit dem Ding!“ zischte Fallberg ihn an. „Sie wollen wohl Ihr eigenes Todesurteil unterschreiben?“ Der Steuermann war verwirrt. „Wenn die mir komisch kommen, werde ich mich doch wohl noch wehren dürfen.“ Hier mußten sie die Debatte abbrechen, denn der Fremde stand jetzt dicht vor ihnen und musterte sie neugierig mit einem unverschämten Grinsen. Der Bursche war zweifellos ein Mensch, aber für einen Erwachsenen von unwahrscheinlich 44
kleiner Gestalt. Die Blässe seines Gesichtes überdeckte ein Meer von Sommersprossen. „Nette Überraschung, was?“ krächzte er mit einer unnatürlichen Fistelstimme, so daß Fallberg sich unwillkürlich fragte, ob dieser Mann ein altersschwacher Greis oder ein heiterer Jüngling kurz vor dem Stimmbruch sei. Die Figur ließ eher einen Knaben vermuten. „Nehmen Sie das Atemgerät ab, Preske! Wenn der Kleine da keins nötig hat, brauchen wir es auch nicht.“ Während die beiden Deutschen ihre Masken absetzten, pfiff der Fremde gelangweilt einen Schlager vor sich hin. Sobald er jedoch Fallbergs Gesicht erkannte, brach er mit einem falschen Ton ab und zog die Augenbrauen in die Höhe. „Teufel, Teufel! Er ist es! Na, das ist ein Fang!“ „Sie kennen mich?“ „Und ob! Gehen Sie doch bitte voraus. In der Richtung dort.“ „Heißt das, daß wir Gefangene sind?“ Der Kleine meckerte belustigt. „Fassen Sie es als Gastfreundschaft auf, was Sie hier erleben. Im übrigen hat der Boß darüber zu entscheiden.“ „Sie meinen Mister Roy?“ Bei der Nennung dieses Namens schien der Sommersprossenjüngling zum ersten Male beeindruckt zu sein. Er stieß einen langgezogenen Pfiff der Verwunderung aus und nahm sogar die Hände aus den Hosentaschen. Dabei trat er ganz dicht an den Deutschen heran und musterte ihn mit einem prüfenden Augenaufschlag. „Jetzt verraten Sie mir doch bitte einmal, wer Ihnen diesen Floh ins Ohr gesetzt hat!“ „Keine Sorge, es gibt auf der Erde nur wenige Leute, die wissen, wo Roy steckt. Und die sind alle einwandfrei und verschwiegen.“ 45
„Antworten Sie auf meine Frage!“ wurde der Kleine plötzlich grob. „Von wem haben Sie die Ente, daß Steve Roy auf Kallisto ist?“ „Erzählt hat es mir niemand. Ich sah ihn zufällig auf dem Bildschirm.“ „Ach nee. Haben Sie sich da nicht im Sender geirrt?“ „Der Sender war Kallisto, ganz einwandfrei.“ „Sie widerspenstiger Schnüffler!“ „Hallo, Al Patton!“ schrillte in diesem Augenblick eine herrische Stimme durch den Raum. Sie mußte aus einem versteckten Lautsprecher kommen. Der Kleine nahm unwillkürlich Haltung an. „Okay, Chef! Ich komme!“ Al Patton winkte mit der Hand. „Also, los jetzt, Gentlemen! Gehen Sie geradeaus auf die rote Tür zu. Ich decke inzwischen Ihren Rücken, damit Sie gesund bleiben.“ * Werner Fallberg war nicht überrascht, als er tatsächlich Steve Roy erkannte. „Nehmen Sie bitte Platz, meine Herren!“ sagte der Amerikaner mit konventioneller Höflichkeit. „Ich freue mich, daß Sie so unversehrt landen konnten.“ „Das ist wohl in erster Linie Ihr Verdienst, Mister Roy. Obwohl die Diana gewiß mit eigener Kraft schadlos aufgesetzt hätte, muß ich Ihnen danken. Mir war bisher kein Verfahren bekannt, mit dem man vom Boden aus Flugzeuge zur Landung zwingen kann.“ Steve Roy lächelte geschmeichelt, ohne seine Reserviertheit aufzugeben. „An den Fortschritt werden Sie sich bei uns gewöhnen müssen. Doch bevor Sie mich über meine Geheimnisse aus46
fragen, hätte ich gern gewußt, wer Ihnen meine Anwesenheit auf Kallisto verraten hat. Ich hörte bereits, was Sie mit Patton sprachen.“ „Nun, dann wissen Sie, daß man auch bei uns Fortschritte macht. Ich habe Sie durch Radioteleskop beobachtet. Wenn ich mich nicht irre, befaßten Sie sich seinerzeit auf Terra ebenfalls mit diesem Problem.“ „Ganz recht. Mir sind auch die Arbeiten Ihres Freundes Herten ziemlich bekannt. Der Rundfunk hat ja anläßlich des Mordes an Stachwitz ausführlich über die Dinge berichtet. Demnach wäre aber Herten mit seiner Entwicklung nicht viel weiter als ich. Und ich darf Ihnen – ohne Geheimnisse zu verraten – sagen, daß ich mit meinem Gerät kaum die zehnfache Leistung der großen optischen Apparate erreicht habe.“ „Die Öffentlichkeit ist über Hertens letzten Erfolg noch nicht orientiert; außer ihm und mir hat niemand das verbesserte Teleskop in voller Tätigkeit gesehen. Auch der Geheimdienst nicht, dem ich eine Sondervorstellung geben durfte. Und wenn Sie die Radiomeldungen der Erde so aufmerksam verfolgt haben, werden Sie auch wissen, daß ich Hertens Laboratorium mit einer Bombe zerstörte.“ Steve Roy nickte. „Ja, ich weiß das alles. Und deshalb wundert es mich, daß Sie von mir Hilfe erwarten. Sie sind praktisch ein von der Polizei gesuchter Verbrecher. Glauben Sie, ich hätte ein Asyl für Kriminelle?“ „Ich komme zu Ihnen als Kollege“, erklärte der Deutsche mit Selbstbeherrschung. „Den Titel eines Verbrechers trägt man bei uns zulande erst nach der rechtskräftigen Verurteilung. Wenn ich beweisen kann, daß mich für das Bombenattentat keine Schuld trifft, wird man mich freisprechen müssen. Und um diesen Beweis führen zu können, floh ich von der Erde.“ 47
„Das klingt so, als hätte ich das in der Tasche, was Sie brauchen“, warf Roy ungerührt ein. „Leider nicht“, schüttelte Fallberg den Kopf. „Was wollen Sie hier?“ herrschte Roy ihn an. „Kallisto wählte ich nur deshalb als Ziel, weil es weit abseits des interplanetarischen Verkehrs liegt. Für mich kommt es zunächst darauf an, verborgen zu bleiben. Denn der Beweis meiner Unschuld ist nur möglich, wenn ich die wirklichen Täter herausfinde. In einem deutschen Untersuchungsgefängnis wird mir das aber nicht möglich sein. Dafür ist der Fall Herten das beste Beispiel.“ „Das klingt so, als sei auch Herten unschuldig.“ „Auf die Gefahr hin, daß Sie es nicht glauben, ja. Der Mord an Stachwitz war der Anfang einer Reihe unerklärlicher Vorfälle. Herten fühlte sich seit langem schon von Spionen beobachtet und hat mir das wiederholt erklärt. Auch ich hielt das alles für Hirngespinste – bis mich die Ereignisse überzeugten. Ich weiß jetzt, daß es in unseren Staatlichen Laboratorien von Agenten einer fremden Macht wimmelt.“ „Vielleicht stecken Amerikaner dahinter?“ sagte Roy mit einem Pokergesicht. „Woher wissen Sie, daß ich nicht der Chef dieser Organisation bin, der Sie den Garaus machen wollen?“ „Wenn Sie es sind, dann habe ich Pech gehabt. Dann liquidieren Sie uns. Aber die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen. Ich hoffe immer noch, bei Ihnen das Verständnis eines Wissenschaftlers und Kollegen zu finden. Und wenn Sie mir einen Dienst erweisen, werde ich bemüht sein, ihn gleichwertig zu vergelten.“ „Sieh an! Sie denken bereits ans Geschäftemachen. Was können Sie bieten?“ „Die Geheimnisse des modernsten und schnellsten Raumschiffes der Welt.“ „Sie meinen Ihre Diana?“ 48
„Allerdings.“ „Hm, das ist nicht viel. Ihr Schiff steht sowieso zu unserer Verfügung.“ „Wenn Sie stehlen wollen, ist unsere Verhandlung von vornherein überflüssig. Diebe sind für mich keine Partner.“ Steve Roy legte sich weit über den Tisch und kam seinen Gästen dabei so nahe, daß sie seinen unruhigen Atem spüren konnten und das nervöse Zucken seiner Halsmuskeln sahen. Fallberg wurde sich in diesem Augenblick bewußt, daß der Amerikaner nur noch ein Nervenbündel war, das die Fassade des beherrschten Mannes lediglich als Maske trug. Während er sprach, schlug er mit der Faust in regelmäßigen Abständen auf die Schreibtischplatte. „Sie scheinen die Situation völlig zu verkennen, Doktor Fallberg. Kallisto ist mein Versteck. Verstehen Sie? Und ich bin der amerikanischen Regierung dafür verantwortlich, daß es geheim bleibt. Ich habe jahrelang unter der ständigen Anwesenheit von Agenten und Spionen arbeiten müssen. Jetzt endlich will ich meine Ruhe haben. Und wenn nun plötzlich ein Fremder seinen Weg in mein Revier nimmt, dann bin ich mir selbst der Nächste. Mögen bei Ihnen die Verhältnisse so tragisch und verzweifelt liegen, wie sie wollen, ich habe nicht die Möglichkeit, Ihnen zu helfen. Ich habe nicht einmal den Wunsch dazu.“ „Sie müssen viele Enttäuschungen erlebt haben“, rekapitulierte Fallberg zwischen Sorge und Verstehen. „Von Natur aus kann ein Mensch kein solcher Weltverächter sein wie Sie.“ „Spielen Sie nicht den Seelsorger für mich“, wehrte der Amerikaner ab. „Es gibt zwei Möglichkeiten für Sie. Die erste würde ich Ihnen nicht empfehlen. Sie kommt einer Gefängnisstrafe gleich. Wenn Sie Lust haben, dürfen Sie für mich arbeiten. Ich weiß Ihre Qualitäten als Raketenspezialist zu schätzen. Also bitte, treten Sie in mein Team ein. Bauen Sie Raum49
schiffantriebe nach Herzenslust. Die Mittel einer Weltmacht stehen Ihnen zur Verfügung. – Nicht nur die lumpigen Millionen Ihrer Privatfirma in Deutschland.“ Fallberg zögerte. „Sie sprechen nur von mir. Was geschieht mit der übrigen Besatzung?“ „Ihre Leute werden behandelt wie Sie selbst, mit derselben Strenge, mit demselben Luxus. Es liegt an Ihnen, Doktor Fallberg.“ Der Deutsche erhob sich. „Gut. Wir werden das besprechen. Eine sofortige Entscheidung ist ja wohl nicht notwendig.“ „Durchaus nicht. Im Gegenteil, wir haben sehr viel Zeit. Lassen Sie es mich wissen, sobald Sie sich entschieden haben. – Al, zeige den Herrschaften ihre Zimmer!“ Der Sommersprossige tauchte aus dem Hintergrund auf und ließ die beiden Deutschem mit einer respektlosen Kopfbewegung wissen, wohin sie zu gehen hatten. An der Tür blieb Fallberg noch einmal stehen und wandte sich nach dem einsam im Raum stehenden Schreibtisch um. „Noch eins, Mister Roy. Wie lange wollen Sie uns hier halten?“ „Das ist leider unbestimmt. Denn niemand weiß, welche Maßnahmen die Zukunft verlangt. Damit Sie keine Enttäuschung erleben, möchte ich Ihnen jedoch raten, sich für länger bei uns einzurichten. Solange diese Station von uns besetzt bleibt, ist Ihre Anwesenheit auf jeden Fall erforderlich.“ „Das bedeutete also – lebenslänglich.“ „Möglich!“ * Al Patton führte sie in ein Appartement, das einem erstklassigen Hotel Ehre gemacht hätte. 50
„Alle Räume hinter dieser Tür stehen Ihnen zur Verfügung, meine Herren. Machen Sie es sich bequem. Wenn Sie Wünsche haben, rufen Sie mich durch diese Anlage hier.“ „Wir haben jetzt schon Wünsche“, knurrte Preske gereizt. „Ich will mir wenigstens meine wichtigsten Privatsachen aus dem Schiff holen.“ „Machen Sie sich keine Mühe! Die werden gebracht.“ „Und die übrige Besatzung?“ wollte Fallberg wissen. „Ist schon hier. Bitte sehr!“ Patton stieß eine zweite Tür auf und zog sich unauffällig zurück. Der Aufenthaltsraum verriet Geschmack. Aber Fallberg hatte kein Auge dafür. Er sah nur die beiden Menschen, Ellen Herten und den Ersten Offizier. Breitenbach stand abwartend im Hintergrund. „Wir haben alles mitgehört“, sagte Breitenbach schließlich. „Lebenslänglich Luxushotel auf Kallisto!“ Preske ballte die Fäuste. „Unseren Stolz werden wir begraben müssen. In den Kerker möchte ich mich auf keinen Fall stecken lassen. Dort hätten wir auch die geringsten Fluchtmöglichkeiten.“ „Ich höre Flucht“, sagte Preske. „Haben Sie schon einen Plan?“ „Das wäre wohl ein bißchen verfrüht. Ich möchte jetzt nur feststellen, daß ich diese Idee niemals aufgeben werde.“ Breitenbach sah grimmig aus. „Sie sollten vorsichtiger mit Ihren Äußerungen sein“, warnte Fallberg. „Ich wette, daß Roy alles mit anhört, was hier gesprochen wird.“ „Der Mann soll sich zum Teufel scheren. Wenn er einigermaßen intelligent ist, kann er sich an den fünf Fingern abzählen, daß wir uns mit seiner privaten Gerichtsbarkeit nicht so ohne weiteres abfinden werden. Oder sind Sie anderer Ansicht, Kapitän?“ 51
Fallberg schüttelte den Kopf. Er hatte sich wieder vollkommen in der Gewalt. „Die Polizei würde sich um uns kümmern, wenn sie wüßte, wo wir stecken.“ „Aber sie weiß es nicht.“ „Sie kann es erfahren. Es gibt immerhin zwei Menschen in Deutschland, die eine Vermutung über unseren jetzigen Aufenthaltsort haben.“ „Und die wären?“ „Kommen Sie näher heran! Ich sag’s Ihnen ins Ohr. Diering und Gallatin.“ * Wenige Stunden später fand eine zweite Unterredung zwischen Roy und Fallberg statt. Sie war nur kurz und bedeutete die Kapitulation der Diana-Besatzung. Man hatte sich für Mitarbeit unter Voraussetzung menschenwürdiger Behandlung entschieden. Roy schien sogar etwas verlegen, als Werner Fallberg ihm die Nachricht überbrachte. „So …“, murmelte er sinnend. „Sie haben also nicht befohlen, sondern Ihre Leute entscheiden lassen? Wie hat es Fräulein Herten aufgenommen?“ „Fragen Sie das aus Höflichkeit?“ „Es interessiert mich. – Aber das war keine Antwort.“ „Fräulein Herten findet Ihr Verhalten nicht weniger empörend als wir Männer. Es scheint mir aber überflüssig, Ihnen hier völker- und menschenrechtliche Vorträge zu halten. Sie wissen selbst, wie Freiheitsberaubung auf Ihrem Kontinent bestraft wird. Sie haben mich bei unserem ersten Gespräch als Verbrecher bezeichnet. Nach dem jetzigen Stand der Dinge verdienen Sie diesen Titel mit demselben Recht.“ 52
Roys zuckendes Gesicht überzog sich mit Ironie und einem nervösen Lächeln. „Um so besser werden wir beiden uns verstehen, Doktor Fallberg.“ * Achtundvierzig Stunden lang waren die Deutschen in ihre Wohnung eingeschlossen. Niemand kümmerte sich um sie. Lediglich das Essen kam regelmäßig mit dem Lift aus der Kombüse. Das Leben wurde von Stunde zu Stunde unerträglicher. Bücher lagen in Massen herum, aber keiner war fähig, sich mit diesen Geschichten zu zerstreuen. Die Monotonie dieser ersten Tage auf Kallisto machte allen klar, daß sie als Gefangene in wenigen Wochen wahnsinnig werden würden. Fallberg sah und hörte nichts von diesen Dingen. Er saß am anderen Ende des Zimmers und studierte ehrfurchtsvoll Steve Roys Manuskript über den Antigravitator. Maßstabsgerechte Zeichnungen dieses Apparates machten ihm klar, daß er ohne Schwierigkeiten in einem größeren Raumschiff unterzubringen war. – Er hatte das Tragische seiner Situation völlig vergessen. Er brauchte keinen Trost und empfand kaum noch, daß die anderen ihn brauchten. Mitten in diese Stimmung platzte Al Patton. „Hallo, Doc! Jetzt schieben Sie den Kram mal für einen Augenblick beiseite. So, und jetzt sagen Sie mir, ob es stimmt, daß Sie die Diana VII in Serien bauen wollen.“ „Wir sind bereits dabei. Die ersten zehn Maschinen werden in etwa einem Jahr fertig sein.“ „Ja, so ungefähr. Die Käufer sind in erster Linde große Industriekonzerne, private Fluglinien und die Regierungen von Europa. Weshalb fragen Sie das?“ 53
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„Weil ich mit Ihrem Wunderschlitten beinahe Bruch gemacht hätte.“ „Okay. Und wer soll die fliegen? Liefern Sie den Piloten vielleicht gleich dazu?“ „Soll das heißen, daß Sie mit der Diana gestartet sind?“ Patton grinste. „Natürlich! Kleinen Jupiterrundflug gemacht, wissen Sie. Der Apparat ist ein Gedicht, Doc. Nur komme ich mit manchen Sachen nicht ganz klar. Sie müssen mir das zeigen.“ „Ich muß gar nichts, Mister Patton. Es reicht, wenn Sie uns hier gegen jedes Recht festhalten. Die Diana betrachte ich jedoch nach wie vor als mein Eigentum.“ „Du meine Güte! Sie ist es auch jetzt noch. Glauben Sie, wir wollten Ihnen das Ding klauen? Gegen ’ne kleine Probefahrt werden Sie doch wohl nichts einzuwenden haben.“ „Sie hätten mich wenigstens vorher fragen können.“ „Die paar Kratzer am Bugleitwerk sind in diesem Augenblick schon wieder behoben. Wir können in wenigen Minuten starten.“ „Wohin?“ „Sind Sie schwerfällig! Zum Probeflug. Ich will endlich wissen, wie der Photonenantrieb funktioniert. Um ein Werksgeheimnis kann es sich ja kaum handeln, wenn Ihre Leute schon bei der Serienproduktion sind.“ „Ich denke, Sie flogen bereits?“ „Natürlich! Aber nur mit Atomantrieb und nicht mit Licht. Also, stehen Sie auf und kommen Sie mit! Ich habe auch noch eine kleine Überraschung für Sie.“ „Gut, wir fahren mit. Warten Sie …“ Der Amerikaner unterbrach ihn. „Ich glaube, Sie haben mich falsch verstanden, Doc. Sie allein kommen mit. Wir brauchen nur Ihre Erklärungen. Eine Besatzung ist bereits an Bord.“ 55
Beim Betreten seiner Kommandozentrale stand Fallberg vor neuen Problemen. Außer den vertrauten Geräten fand er Apparate vor, die er bisher niemals gesehen hatte. Er konnte nur ahnen, welche Bedeutung ihnen zukam, denn zwischen den Konstruktionszeichnungen des Antigravitators und dem fertigen Modell war auf den ersten Blick keine Identität festzustellen. Patton hatte seinen Spaß an Fallbergs verwundertem Gesicht. „Da staunen Sie, was? Ich versprach Ihnen ja eine Überraschung. – Die beiden Herrn hier sind übrigens unsere neue Besatzung. Das ist Navigator Kingsley. Der Lange da heißt Norton. Er kümmert sich um die Maschinen.“ Fallberg hatte sich vorgenommen, sehr reserviert zu sein. Doch in der vertrauten Umgebung seiner Kugelzentrale fiel ihm das schwer. Er wußte, daß die Amerikaner über Erkenntnisse der Technik und Wissenschaft verfügten, die in der Öffentlichkeit noch als Wunschträume galten. Dieser Umstand half dem Deutschen, seine Feindschaft zu vergessen. Hier stand er unmittelbar vor den Geheimnissen Steve Roys und seiner Mitarbeiter. Wenn er die entschlüsseln konnte, war kein Preis dafür zu hoch. Beim Händedruck merkte Fallberg, daß Kingsley die Faust eines Boxers hatte. „Hallo, Mister Fallberg!“ lallte der Navigator freundlich. „Ihre Maschine ist ein Gedicht.“ „Laß das Komplimentemachen“, sagte Al Patton eifersüchtig. „Dafür habe ich schon gesorgt. Und übrigens ist unser Gast nicht Mister, sondern Doktor.“ Nortons Hand war viel weicher. Sie paßte viel eher zu einem Klavierspieler als zu einem Maschinisten. Seine Art zu sprechen war aber fast so respektlos wie Pattons Ausdrucksweise. Es lag nur noch mehr Zynismus darin. „Mahlzeit, Doc. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei uns – als Gast.“ 56
* Der Start erfolgte in einer Art, wie Fallberg es noch nicht erlebt hatte. Er wartete vergeblich auf den Andruck und mußte schließlich das Wunder als Tatsache hinnehmen, als er im Heckbildschirm die ständig kleiner werdende Scheibe des Jupitermondes Kallisto erkannte. „Überraschung, was?“ flötete Patton. „Das war die erste.“ Der Deutsche nickte beeindruckt. „Sind Sie sich im klaren darüber, Mister Patton, daß die Diana mit Ihrem Antigravitator die Welt auf den Kopf stellen kann?“ „Sie denken an Zeitdilatation?“ „Ganz recht.“ „Die hätten Sie eigentlich schon ohne Schwerkraftmaschine ausprobieren können. Schließlich ist das hier ein PhotonenHalbautomat. Wenn Sie mit gleichbleibender Beschleunigung von 1 g fliegen …“ Fallberg unterbrach Patton mit einer Handbewegung. „Ich weiß, was Sie sagen wollen. Im Prinzip ist die Zedtdilatation längst bewiesen. Unterschiede von Sekundenbruchteilen genügen da. Wir haben auch mit der Diana schon einen Probeflug über Pluto hinaus unternommen. Dabei mußten wir allerdings einem größeren Bolidenschwarm ausweichen und konnten daher später den Zeitablauf nicht mehr mit der Formel vergleichen. Nach unserer Landung auf Terra mußten wir immerhin feststellen, daß sämtliche Uhren an Bord 72 Sekunden vorgingen.“ „Weitere Reisen haben Sie also noch nicht unternommen?“ Fallberg schüttelte den Kopf. *
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Drei Stunden später waren Patton, Norton und Kingsley in der Lage, das Schiff ohne Fallbergs Hilfestellung zu führen. Das heißt, ihre Kenntnisse reichten aus, um die Bedienung zu übernehmen. Bis zur völligen Beherrschung der Maschinen würden noch Monate intensiven Unterrichts notwendig sein. Und Fallberg fand es beruhigend, daß er dadurch noch lange Zeit unentbehrlich sein würde. Die Entfernung von Kallisto betrug ungefähr 1 Million 300000 Kilometer, als Steve Roy neue Anweisungen funkte. Patton hörte geduldig zu und gab dann Befehl zur Kursänderung. Auf dem Bugbildschirm tauchte kurz darauf ein fremdes Schiff auf. Nach wenigen Handgriffen des Navigators hing das unbekannte Fahrzeug scheinbar bewegungslos im Fadenkreuz. „Ganz hübscher Brocken“, meinte Patton. „Kennen Sie die Bauart?“ „Typ Komet III. Vor vier Jahren in Frankreich gebaut. Aber das erlaubt keine Rückschlüsse auf den Besitzer. Diese Maschine wurde bekanntlich an jeden geliefert, der sie bezahlen konnte.“ „Auch an die Polizei?“ fragte Al Patton. „Nein, das ist mir nicht bekannt. Ich nehme an, daß es sich um eine Privatmaschine handelt.“ „Hm, das wäre sehr merkwürdig, Doc. Seit einem Jahr hat sich in der Jupiterregion kein fremdes Schiff mehr sehen lassen. Ich wette, das hat etwas mit Ihnen zu tun.“ Fallberg nickte. „Das befürchte ich, seit das Schiff gemeldet wurde. Wenn es nicht die Polizei ist, dann steckt die unbekannte Interessengruppe dahinter, die Herten verfolgt. Aber es ist unmöglich, daß die Brüder wissen, wohin ich geflüchtet bin.“ „Unmöglich ist nichts. Man kann Sie verraten haben. Oder gibt es niemanden auf Terra, der weiß, wo Sie sind?“ 58
Patton bemerkte das Zögern des anderen und grinste. „Ach ja, ich vergaß ganz, daß wir Gegner sind, Doc. Ich bin nicht böse, wenn Sie die Antwort schuldig bleiben.“ Der Deutsche machte eine wegwerfende Handbewegung. „Lassen wir das! Mit Vermutungen kommen wir sowieso nicht weiter. Also ran an die ‚Komet III’.“ Patton schien skeptisch. „Unser Bordapparat steckt noch in den Kinderschuhen. Wir brauchen mindestens zehn Minuten zum Anpeilen und müssen auf Dezimeter genau arbeiten, um Gewalt über das andere Schiff zu bekommen. Trotzdem wollen wir einen Versuch machen.“ – – Beim Festlegen der Entfernung assistierte Fallberg, was sich die Amerikaner diesmal dankbar gefallen ließen. Während Kingsley im Selbstgespräch über die fehlende Automatik fluchte, nannte Patton schließlich die Zahlen. „16.117.412 km. Kurs genau null Grad.“ Die Komet hing mit ihrem Heck genau im Fadenkreuz des Bugbildschirms. „16.117.412 km“, sagte Patton. „Wir sind schneller und holen etwas auf. Verflixt, wird das eine Rechnerei!“ „Ist denn Ihr Antigravitator nicht automatisch?“ fragte Fallberg mißtrauisch. „Wenn Sie sich bei den Schaltungen auf menschliches Reaktionsvermögen verlassen, sehe ich uns schon zerquetscht an den Wänden kleben.“ „Da kann ich Sie trösten, Doc. Automatic ist da. Ich brauche lediglich die Grundeinstellung, und die kriege ich fehlerlos, wenn wir von der Geschwindigkeitsdifferenz ‚null’ ausgehen.“ „Dann also runter mit der Kraft! Ich hoffe nur, daß die da drüben jetzt einen Augenblick stillhalten, damit wir angleichen können.“ „Komet III fliegt mit Beschleunigung 1 g“, meldete Kingsley lakonisch. 59
„Dann bitte schnell arbeiten“, riet Fallberg. „Lange hält unser Modell diese Belastung nämlich nicht aus.“ Er schielte auf den Bildschirm und stellte beruhigt fest, daß das fliehende Schiff noch auf Kurs lag. „Geschwindigkeit bei 1 g, Abstand bleibt konstant 16 117 409 km“, meldete Kingsley mit seiner automatenhaften Stimme. Fallberg und Patton sahen sich einen Augenblick schweigend an. Das Grinsen des Kleinen wirkte etwas verkrampft. Aber seine Stimme war ruhig. „Jetzt wäre also Ihr sagenhafter Photonenantrieb an der Reihe, Doc. Welche Zeitspanne raten Sie mir?“ „Gehen Sie auf zwanzig Sekunden. Aber denken Sie ans Bremsen! Das ist genau so wichtig.“ „Schön! – Also zwanzig Sekunden Vorsprung auf 16 117 380 Kilometer. Halten Sie sich fest, Gentlemen! Kleine Erschütterungen werde ich nicht vermeiden können.“ Die „kleinen Erschütterungen“ erreichten die Grenze des Erträglichen. Es war unmöglich gewesen, Beschleunigung und Antischwerkraft restlos gleichzuschalten. Und deshalb gab es einige Prellungen. Aber die Männer wußten, daß die Zeit jetzt kostbar war. Sie befanden sich fünf Sekunden nach der Schaltung wieder klar auf Manöverstation. Eine Änderung der Geschwindigkeit war am eigenen Körper nicht mehr zu spüren. Nur das Raumschiff vom Typ Komet III zeichnete diese Tatsache ganz deutlich auf den Bildschirm. Es wurde größer wie ein Kinderballon, den man mit Druckluft aufpumpt. Er raste heran, als habe es eine Zyklonenfaust zurückgeschleudert. Nach zehn Minuten schaltete die automatische Kupplung auf Bremsfeuer um. Nach zwanzig Sekunden war die Fahrt wieder auf das Niveau des Ausgangspunktes gedrosselt, und die Ma60
schinen machten ihren mitleiderregenden Zuckeltrab mit 1 g Beschleunigung. Die Meßinstrumente bewiesen jedoch, daß sich inzwischen das erwartete Wunder tatsächlich ereignet hatte. Der raumfressende Sprung über mehr als 16 Millionen Kilometer war geglückt. „… zum ersten Male seit Bestehen der Menschheit“, murmelte Al Patton fassungslos. Er stand da mit soviel Ehrfurcht, wie sie Fallberg diesem stupsnasigen, sommersprossenübersäten Frechdachs niemals zugetraut hätte. Er vergaß vor lauter Aufregung sogar, daß ganz dicht vor ihnen das unbekannte Schiff im Raum hing und vielleicht Gefahr bedeutete. „Kommen Sie zu sich!“ rief der Deutsche. „Mir ist zwar auch verdammt feierlich zumute, wenn ich bedenke, was wir soeben geleistet haben. Im Grunde wußten wir aber, daß es so kommen mußte. Wir haben es ja schließlich berechnet. – Ich schlage vor, Sie übernehmen jetzt die Fernsteuerung der Komet und lassen sie schön auf Kallisto niedergehen.“ Patton schüttelte sich, um den Druck der Erregung loszuwerden. Dann war er wieder der Alte. „Neue Entfernung berechnen, Kingsley. Ich schalte am Leitstrahl mit.“ „164 Kilometer. Ich glaube, da stimmt etwas nicht“, staunte Kingsley. „Das glaube ich auch“, meckerte der Kommandant wütend. Patton sprang hinüber, um selbst nachzusehen. Sein Kopfschütteln verriet Verzweiflung. Und dabei schielte er ratlos zu Werner Fallberg hinüber. Auch der Deutsche und Norton überzeugten sich am Quarzglas, obgleich der Maschinist an den Zentralarmaturen absolut nichts zu suchen hatte. Al Patton jagte Norton in seine Ecke. Aber das vertrieb nicht seine Ratlosigkeit. 61
„Die Instrumente stimmen. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Der Fehler muß beim Raumsprung liegen. Er war zu kurz.“ „Er war 17 117 380 Kilometer weit“, sagte Fallberg betont. „Am Sprung kann der Fehler nicht liegen. Denn dann wären wir vom Andruck zerquetscht worden. Oder glauben Sie, daß sich zufällig dieselbe Fehlerdifferenz bei Ihrem Antigravitator eingeschlichen hat?“ „Sie haben recht“, gab Patton zu. „Da die Apparate nicht synchronisiert sind, hätte ein Fehler beim Sprung uns zerreißen müssen. Wenn der Sprung aber in Ordnung war, dann müßte unser Abstand zur Komet III jetzt 29 Kilometer betragen.“ Fallberg schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich weiß, woran es liegt.“ Pattons Kopf fuhr ruckartig hoch. „Sie wissen es?“ „Wir haben die Zeit vergessen. Wir haben von Dilatation phantasiert und sie nicht einkalkuliert. Wenn Sie das Ihrem Chef sagen, gibt er Ihnen sein Entlassungszeugnis.“ „Verdammt! Sie waren kaum gescheiter. Warum konnten Sie das nicht vorher sagen?“ „Weil ich auch nur ein Mensch bin.“ „Schon gut. Befassen wir uns mit den Tatsachen! Aus der gemessenen Entfernung zur Komet III ergibt sich, daß wir 135 Kilometer verloren haben. Als Erklärung hierfür dient die Zeitdilatation, die den Ablauf der Geschehnisse außerhalb unseres Schiffes verzögert hat. Die Herren X da vorn fliegen noch immer 1 g Beschleunigung. Es ist anzunehmen, daß sich das während unseres Sprunges kaum geändert hat.“ „Das darf man voraussetzen“, nickte Fallberg. „Ein Schiff, das auf diese Weise 135 Kilometer Vorsprung herausholt, muß bei 1 g etwas mehr als 164 Sekunden zusätzlich in Anspruch 62
nehmen. Man kann also sagen, daß während unseres ZwanzigSekunden-Sprunges die Weltgeschichte um zirka drei Minuten älter geworden ist.“ „Und wir wären damit in die Zukunft geflogen“, sinnierte Patton. „Drei Minuten in die Zukunft!“ „Wenn man euch so zuhört, könnte man beinahe glauben, was ihr sagt“, knurrte Norton, als hätte jemand seinen Spaß mit ihm getrieben. „Du brauchst nach der Landung nur deine Uhr mit der Weltzeit zu vergleichen“, tröstete ihn Patton, „dann wirst du schon sehen, wie recht Doktor Fallberg hatte.“ „Wir müssen einen zweiten Sprung machen und versuchen, den Gegner zu überholen. Können Sie den Magnetstrahl auch nach achtern anwenden?“ „Selbstverständlich“, versicherte Patton. „Die Richtung spielt überhaupt keine Rolle. Aber ist es ratsam, die anderen zu überholen?“ „Weshalb?“ „Nun, soweit ich den Komet-Typ kenne, hat er die stärkste Bewaffnung vorn. Wir liefern uns damit seinen Strahlgeschützen aus.“ Fallberg überlegte und sagte schließlich zögernd: „Die Komet ist eine Mehrzweckrakete. In der Regel sind diese Schiffe überhaupt nicht bewaffnet. Doch es gibt genügend Vorrichtungen zum Einbau von Waffen. In diesem Fall müssen wir natürlich mit dem Schlimmsten rechnen. Schützen können wir uns nicht, es sei denn, wir lassen uns auf ein Gefecht ein.“ „Eine Schießerei möchte ich unter keinen Umständen veranstalten“, lehnte Patton ab und spreizte dabei die Finger. „Ich schätze, wir sollten uns etwas Gescheiteres einfallen lassen.“ „… und schon jetzt auf unsere Sicherheit bedacht sein“, fiel 63
Kingsley ein. Dabei zeigte er aufgeregt nach dem Bildschirm, der plötzlich einen grellen Blitz wiedergab. „Das war ein Abschuß!“ schrie Fallberg. „Ändern Sie die Richtung, Patton! In dreißig Sekunden ist es zu spät!“ Die Warnanlage für interplanetarische Materie setzte automatisch mit einem Summton ein, der nach dem Dopplerprinzip arbeitete und ständig heller wurde. Der kleine Amerikaner brüllte Kingsley Anweisungen ins Gesicht und starrte fasziniert auf die Bugbildscheibe. Das klar erkennbare Geschoß änderte scheinbar seine Richtung. Es glitt nach links weg. Tatsächlich war natürlich die Diana ausgewichen. „Torpedo mit ferngelenkter Zündung“, erklärte Fallberg. „Aber steuern können sie es anscheinend nicht. Da, sehen Sie auf den Heckschirm, Patton! Das Ding behält stur seine Richtung. Dabei müssen die da drüben doch längst gemerkt haben, daß sie uns nicht mehr treffen.“ „Die Burschen sind uns jedenfalls nicht grün“, stellte der Kleine fest. „Der Torpedo ist verloren. Was aber, wenn sie ferngelenkte an Bord haben? Ich fühle mich nicht mehr wohl ln ihrer Nähe.“ Fallberg antwortete nicht sofort, was Patton prompt zum Stöhnen veranlaßte. „Mensch, Doc! Sagen Sie doch etwas! Ich möchte diese Spazierfahrt überleben, wenn’s geht!“ „Ich schlage vor, noch einen Sprung zu machen. Wir liegen jetzt 12 Grad vom alten Kurs. Ein Sprung nach vorn wird uns einen brauchbaren Abstand verschaffen. Steve Roys Teleskop ist immerhin für grobe Beobachtungen bis zu 20 Millionen Kilometer brauchbar. Auf diese Welse würden wir die Komet trotz der sicheren Entfernung nicht aus den Augen verlieren.“ Der Rat des Deutschen wurde befolgt, und zwei Minuten später durfte man sicher sein, daß der Gegner kein Mittel mehr 64
besaß, um den Standort der Diana festzustellen. Das Schiff vom Typ Komet III dagegen blieb nach wie vor auf dem Bildschirm erkennbar. Nach einer letzten Kurskorrektur atmete Patton hörbar auf. „So, jetzt können wir weitere Pläne schmieden“, grunzte er zufrieden in der neu gewonnenen Geborgenheit und reichte den Gefährten gönnerhaft sein Zigaretten-Etui. Nach den ersten Zügen rutschte er an das Funkgerät und rief die Bodenstation auf Kallisto. Seinen Bericht nahm Steve Roy ohne jede Begeisterung auf. Er mußte sich sogar einige Vorwürfe gefallen lassen und schaltete schließlich beleidigt ab. Die Fratze, die er seinem Boß machte, wurde allerdings nicht mehr übertragen. Und das war gut so. „Ich schätze, Roys Befehl bedeutet, daß wir weiter am Feind bleiben müssen.“ Diese Bemerkung hatte den Sinn einer Frage. Patton nickte. „Roys Befehl bedeutet, daß wir uns auf eine tagelange Reise gefaßt machen müssen. Wir sollen die Komet verfolgen. Wie weit – weiß er selbst nicht. Wichtig ist ihm nur, daß wir mit einem brauchbaren Ergebnis nach Hause kommen.“ „Hm“, machte Fallberg vorsichtig. „Roys Station auf Kallisto hat ihren Sinn und Zweck verloren, sobald sie allgemein oder einer feindlichen Macht bekannt wird. Ein Zeitsprung von einigen Stunden oder Tagen könnte da helfen. Wie, wann und wohin, kann ich jetzt auch noch nicht sagen. Wir müssen die Komet zunächst genau beobachten. Aus Ihrem Kurs das geplante Ziel errechnen. Erst dann springen wir. Und wenn die Brüder landen, nehmen wir sie in Empfang.“ Al Patton blieb skeptisch. „Was Sie da Vorhaben, erscheint mir gefährlich. Nehmen wir an, die Komet landet auf Mars oder Terra. Würden sich die Behörden nicht schon beim Anflug um Ihr Schiff kümmern? 65
Ich lege wenig Wert darauf, bei Ihrer Polizei vorgeführt zu werden.“ Werner Fallberg gelang ein Grinsen, das ihn fast sorglos erscheinen ließ. „Unsere Polizei ist mir ebenso unangenehm wie Ihnen. Ich habe daher keineswegs die Absicht, einen der zivilisierten Planeten anzusteuern.“ Al Patton sprang aus seinem Sessel auf und ging aufgeregt zwischen Fallberg und dem Steuermann hin und her. „Und wer sagt Ihnen, daß Terra und Mars nicht in Frage kommen?“ „Als alter Raumschiffer hat man das Schätzen gelernt. Wer zwölf Jahre lang zwischen den Planeten unterwegs war, macht sich schnell ein Bild von ihren Konstellationen. Und nach dem, wie die Komet III jetzt auf Kurs liegt, hat ihr Kapitän nicht die Absicht, einen der inneren Planeten anzusteuern.“ Der Deutsche stand auf und winkte dem Amerikaner, ihm zu folgen. Sie traten an eine mattierte Plastikscheibe, die man auf den modernen Schiffen als Fahrtdiagramm benutzte. Leuchtende Punkte gaben den Stand der Planeten wieder. „Hier sehen Sie die augenblickliche Situation im Sonnensystem“, erklärte Fallberg. Er drückte auf einen Knopf, der das Gerät mit der laufenden Ortung koppelte. „Die beiden dunklen Körnchen dort sind unsere Schiffe. Hier die Diana, dort die Komet. Fällt Ihnen jetzt etwas auf?“ Pattons Antwort kam nur zögernd. „Mir fällt auf, daß tatsächlich kein Planet in der Zielverlängerung liegt.“ Dann kam ihm plötzlich eine Idee. „Denken Sie etwa, daß die Burschen was zwischen den Asteroiden suchen?“ Fallberg nickte. „Allerdings. Ich habe den ganz bestimmten Verdacht, Mister Patton. Eine Station auf einem der größeren Kleinplaneten ist genauso gut versteckt wie Roy auf Kallisto. Es soll mich durch66
aus nicht wundern, wenn wir dort irgendwo auf einen Spionagestützpunkt oder ein Räubernest treffen. Haben Sie noch ein paar Stunden Geduld. Vielleicht wissen wir dann mehr …“ * Werner Fallberg sollte recht behalten. Pattons Ehrfurcht – die er ganz offen zeigte – stieg von Stunde zu Stunde. „Dort, sehen Sie auf den Bugbildschirm. Ich glaube, es ist bald soweit, daß wir die Komet III überholen.“ Die Männer blickten in die von Fallberg angedeutete Richtung. Das fremde Raumschiff war zusehends größer geworden. Es hing wieder genau im Zentrum des Fadenkreuzes, und sein Heck leuchtete durch die ununterbrochenen atomaren Entladungen des Antriebs wie eine blau-rot gleißende Sonne. Der Blick auf die Vorgänge im Bildschirm kostete Nerven. Aber die Erscheinung war von solch magischer Kraft, daß es keinem der vier Männer möglich war, den Blick abzuwenden. Das Licht der Fixsterne verzerrte sich zu immer länger werdenden Strichen. Die Komet im Zentrum des Zielfeldes raste heran, als flöge sie rückwärts. Das Feuer ihrer Heckdüsen wurde mit zunehmender Geschwindigkeit größer, platzte plötzlich auseinander wie eine Nova und tauchte den ganzen Bildschirm in eine Gluthölle. Dann war alles wie weggewischt. Kein Atomfeuer, keine Sterne, nichts, was nach Raum aussah. Und doch war die Existenz nicht ausgelöscht. Die Kommandozentrale der Diana bestand in all ihren Einzelheiten wie vordem. Wenn sich etwas geändert hatte, so war es das Benehmen der Männer. Sie waren schweigsam geworden und mochten wohl 67
für Augenblicke Gedanken haben, die nach der Offenbarung der letzten Weltgeheimnisse suchten. Werner Fallberg stand am Pilotenplatz und lenkte die Diana aus der fremden Dimension zurück. Doch das Schweigen dauerte an. Das kostbarste schienen die Uhren zu sein, denn sie wurden angestarrt, als könnten sie Antwort geben auf die unausgesprochenen Fragen. Die Zeiger hatten achtzig Minuten seit Beginn des RaumZeit-Fluges gemessen, als Al Patton den Deutschen fragte, ob er ihm helfen könne. Erst jetzt wurden sich die Männer bewußt, daß Fallberg in der entscheidenden Zeit allein navigiert hatte. Der nickte nur und sagte, daß Kingsley jetzt wieder seinen Platz einnehmen solle. Dann endlich wich der Alpdruck. Auf dem Visioschirm begann es zu flimmern. Zuerst sah es aus wie Funkstörungen. Dann beruhigte sich das Bild, und langgezogene Striche zogen sich zu Lichtpunkten zusammen. Die Fixsterne waren wieder da. Und genau vor dem Bug hing eine Miniaturweit, der Planetoid Juno. „Nein, also das war schlimmer als eine lebenslängliche Verbannung“, ächzte Al Patton. „Aber jetzt sind wir die Pioniere des Zeitfluges. Oder meinen Sie, daß schon mal jemand so etwas fertigbrachte?“ Fallberg lächelte väterlich. „Wir waren die ersten. Das wird wohl in die Geschichte eingehen. Vorausgesetzt, wir überstehen unsere Begegnung mit den Herrschaften auf Juno.“ „Nun, zunächst müssen wir einmal feststellen, ob unsere Vermutung über diesen Trümmerplaneten stimmt.“ Damit nahm Patton eine neue Einstellung am Royschen Radioteleskop vor. Juno wurde größer und deutlicher. Ihre Form 68
wich stark von der Kugelgestalt ab. Die Oberfläche war wild zerklüftet. Der ganze Planetoid schien aus Gebirgsmassiven zusammengesetzt zu sein. Kurz darauf lenkte Kingsley die Diana auf Fallbergs Anweisung in eine Kreisbahn. Bei stark gedrosselter Fahrt wurde Juno in einer knappen halben Stunde fünfmal umrundet. „Essig“, sagte Al Patton jedesmal. „Ich habe mir die Augen aus dem Kopf geguckt. Aber da unten ist nichts los. Das heißt – Moment mal! – Ich werde verrückt! Fallberg, kommen Sie her! Was bedeutet das hier?“ Neben Pattons Finger war ein gleichmäßiges Gebilde zu erkennen, das unbedingt künstlichen Ursprungs sein mußte. „Das ist, was wir suchen“, stellte Fallberg triumphierend fest, „und kein Essig.“ „Können wir es wagen, im Direktflug heranzugehen?“ „Ich denke, ja. Auch wenn die Station besetzt ist, wird man uns nicht gleich abzuschießen versuchen. Wahrscheinlich ist man dort sehr neugierig auf uns.“ „Oder ängstlich. Und Angst kann Kurzschluß auslösen.“ „Ohne Risiko kein Gewinn“, erklärte Fallberg. „Doch Sie haben zu bestimmen.“ „Also gut“, entschied Patton. „Rein ins Vergnügen.“ * Die Diana VII war ohne Zwischenfall gelandet. Wegen der geringen Schwerkraft des Planetoiden konnte man sie allerdings nicht einfach „stehenlassen“. Ein Dutzend starker Trossen stellte mit dem kleinen Weltkörper eine feste Verbindung her. Das Raumschiff lag an der Leine. Norton und Kingsley waren zurückgeblieben. Patton hatte ihnen Zurückhaltung eingeimpft, aber gleichzeitig empfohlen, 69
die Schußwaffen griffbereit zu halten. Außerdem wollte man in ständiger Funkverbindung miteinander bleiben. Die Entfernung bis zu dem Gebäude betrug knapp zweihundert Meter. Es lag an eine Felswand gelehnt und ließ vermuten, daß sein Inneres tief in den Berg hinein reichte. Trotz des unbequemen Geländes hatten Fallberg und Patton keine Schwierigkeiten mit der kurzen Strecke. Die kaum spürbare Gravitation ließ es zu, daß sich die Männer mit Hilfe ihrer Pistolen in die gewünschte Richtung schossen. Sie schwebten, ohne den Boden zu berühren. Und glücklicherweise hatten beide einige Übung in dieser Fortbewegungsmethode. Die erste Schwierigkeit trat ein, als sie vor dem Gebäude standen, das offenbar aus Stahlblech hergestellt war. Fallberg polterte gegen die Wand. Wenn im Innern des Hauses Atmosphäre war, mußte sich auch der Schall fortsetzen. Sie warteten fünf Minuten ergebnislos. Doch plötzlich öffnete sich die Tür – wie von Geisterhand bewegt. „Uff!“ machte Patton. Aber dann ging er als erster hinein. Hinter ihnen schloß sich die Tür. Vor ihnen lag eine zweite. „Luftschleuse“, kommentierte der Kleine geduldig. „Wenn wir es außerhalb des Raumanzuges zischen hören, legen wir ihn ab. Was meinen Sie?“ „Ich merke schon am Druck, daß Atmosphäre kommt. Sofort auspellen, Patton! Dann sind wir beweglicher.“ Im Kopflautsprecher knackte es. Ein Druck am rechten Hosenbein in Höhe des Knies löste einen Mechanismus aus. Es dauerte keine fünf Sekunden, und die Männer waren frei von den plumpen Schutzanzügen. Sie griffen sofort wieder nach den Waffen und warteten auf das Öffnen des Innenschotts. Die Luft war vollkommen in Ordnung. Etwas anderes war jedoch nicht in Ordnung, denn irgendwo 70
aus der Wand kam eine Stimme, die die Männer zum Ablegen der Pistolen aufforderte. Fallberg wurde sofort an Mihail Dornescu erinnert. Der schwache Akzent war typisch für ihn. Doch konnte die Übertragung durch den Lautsprecher die Stimme auch verzerren. In dem engen Raum zwischen den Schotten herrschte trübes künstliches Licht. Pattons Gesicht war selten so voller Ratlosigkeit gewesen. Als der Deutsche die Waffe fallen ließ, tat Patton es ihm nach. Allerdings mit einem Fluch, mit dem man in besserer Gesellschaft keinen Staat machen konnte. „Es bleibt uns nichts anderes übrig“, versicherte Fallberg. „Man braucht nur die Außentür au öffnen, und wir vergessen das Atmen.“ „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen“, meinte Patton, „Wie kann man auch als harmloser Staatsbürger damit rechnen, daß man plötzlich Banditen ln die Hände fällt!“ „Sobald der Staatsbürger Waffen trägt, hat er seine Harmlosigkeit verloren“, dozierte die Stimme aus der Wand. „Bitte, beachten Sie jetzt genau meine Anweisungen! Nach dem Öffnen des Innenschotts halten Sie sich scharf rechts. Gehen Sie ohne Zögern weiter. Ich werde Sie an passender Stelle in Empfang nehmen.“ Das Unternehmen verlief planmäßig. Fallberg und Patton taten alles, was man ihnen befahl. Sie wollten kein Risiko eingehen. Der Raum, in dem der Fremde saß, war höchstens zwanzig Quadratmeter groß. Der Ausstattung nach diente er als Wohnung und Funkstelle zugleich. „Welch eine Überraschung, Herr Doktor Fallberg!“ flötete Mihail Dornescu liebenswürdig, denn es war wirklich der Balkanese, auf dessen Besuchskarten die Berufsbezeichnung „Agent“ zu stehen pflegte. 71
„Wenn Sie überrascht sind, scheinen Sie mich nicht erwartet zu haben“, sagte der Deutsche ohne jede Freundlichkeit. Dornescu wurde ernst. „Ich muß Ihnen gestehen, daß mir Ihr Auftauchen etwas überraschend kam, denn ich glaubte immer nur an eine Diana in diesem Abschnitt. Dabei waren es zwei. Oder sogar drei? Wieviele waren es nun wirklich, Doktor?“ „Eins.“ Mihail Dornescus Blick wurde lauernd. „Sie werden mir die Wahrheit sagen, Doktor. Das steht unzweifelhaft fest. Ihr Wille ist dabei gar nicht maßgebend, verstehen Sie!“ Fallberg wußte in diesem Augenblick vieles mit Sicherheit, was bisher nur Vermutung gewesen war. Dornescu war der Mann, der anderen seinen Willen aufzwingen konnte. Er hatte Herten zum Mörder, und Fallberg zum Bombenattentäter werden lassen. „Ob Sie Wahrheitsdrogen oder den Lügendetektor anwenden, das Ergebnis wird immer ‚eins’ sein. Wenn Sie etwas anderes vermuten, hat man Sie falsch unterrichtet.“ Dornescu drückte auf einen Knopf. Eine Tonbandspule lief im Schnellgang rückwärts. „Hören Sie sich bitte diesen Bericht an.“ Aus dem Lautsprecher kamen folgende Worte: „… 14 Uhr 35 Weltzeit tauchte Schiff Typ Diana VII erneut auf. Lag genau im Zentrum Fadenkreuz Heck. Annäherung erfolgte in nicht meßbarer Geschwindigkeit, da schneller als jedes bisher bekannte Fahrzeug. Peilgeräte werden überprüft. Abwehrtorpedo konnte nicht mehr klargemacht werden, da Anflugzeit des Gegners zu kurz. Diana VII einhundertdreißig Sekunden nach erster Ortung verschwunden. Vernichtung ist mit Sicherheit anzunehmen. Zwei Gründe sind möglich. Erstens 72
Überschreitung der Lichtmauer, zweitens Kollision mit unserem Antriebsfeld.“ Dornescu schaltete ab. „Sagt Ihnen das genug? Diese Meldung stammt vom 3. November, ist also zwei Tage alt.“ „Himmel“, stotterte Patton plötzlich, ohne sich um den Rumänen zu kümmern. „Es ist wirklich wahr, Fallberg! Wir haben heute den 5. November.“ „Was ist daran so überraschend“, wollte der Agent wissen. Patton lachte so frech wie möglich. „Nun, es handelt sich um eine Wette zwischen Doktor Fallberg und mir. In der Luftschleuse verglichen wir die Uhren und stellten eine Differenz von zwei Tagen fest. Meine stand auf dem 5., die des Doktors auf dem 3. November. Irgendeines der Präzisionswerke muß also einen Knacks haben. Wir wußten nur noch nicht, wer von uns die Reklamation einreichen sollte.“ Scheinbar völlig unmotiviert hielt Dornescu plötzlich eine Schußwaffe in der Hand. „Ich schieße bei der geringsten Bewegung, die mir nicht gefällt, meine Herren. Zeigen Sie mir Ihre Uhren!“ Die Gefangenen gehorchten. Zweifellos fragten sie sich im stillen, was der Balkanese mit dieser dramatischen Einlage bezweckte. Sie wußten aber auch, daß er bei beiden Uhren eine merkwürdige Übereinstimmung feststellen mußte, die sich mit dem gültigen Kalender nicht vertrug. * Das Bewußtsein kehrte zurück. Die Dunkelheit war vollkommener als im Weltraum. „Ich möchte wissen, welcher Tag heute ist“, sagte Fallberg. „Interessiert Sie das noch?“ fragte Patton. „Nach Ihrer zwei73
ten Verurteilung sollten Sie fatalistischer geworden sein. Für mich ist das alles noch zu neu. Ich möchte wohl ganz gern raus aus dieser zeitlosen Umgebung. Steve Roy war ja ein bißchen verrückt. Aber der Rumäne ist ganz einfach ein Verbrecher.“ Im Schott stand ein Mann in der Kombination eines Raumschiffers. Sie konnten ihn nicht erkennen, denn sein Körper war nur eine schwarze Silhouette vor dem Licht. Die Stimme kannten sie nicht. „Kommen Sie mit! Gehen Sie voraus!“ Die Maschinenpistole im Rücken klärte jeden Zweifel über die Situation. Trotzdem riskierte Patton ein Wort. „Wir sind auf einem Raumschiff, Doc. Das ist nicht Juno. Wollen wir wetten?“ „Es gibt nichts zu wetten, daß ich derselben Meinung bin.“ „Maul halten!“ kam die Stimme von hinten. Auch das war wieder sehr klar ausgedrückt. Fallberg erkannte schnell, daß man sie auf ein Schiff vom Typ Komet III gebracht hatte. Auf den Gängen begegneten sie wiederholt Männern, die man beim besten Willen nicht einer bestimmten Rasse zuordnen konnte. Die Mannschaft war offenbar aus allen Zonen des Erdballs zusammengewürfelt. In der Kommandozentrale bot sich dasselbe Bild. Weiße, Braune, Gelbe, Schwarze. Etwa zwanzig Männer schienen zum Befehlsempfang angetreten zu sein. Sie standen in ungezwungener Reihe links und rechts an den Seitenwänden. In der Mitte der Kommandant, der Pilot und der Maschinist auf Fahrwache. Fallberg überflog mit einem Blick die vielen Gesichter. Er fand kein bekanntes darunter. Das Wunder von Juno, das ihm den Agenten Mihail Dornescu serviert hatte, wollte sich hier offenbar nicht wiederholen. Ja, nicht einmal der Balkanese war da. Der Mann, der Fallberg und Patton hereingeführt hatte, 74
schob sie mit dem Kolben an einen Platz, den der Kommandant schweigend mit einer mürrischen Armbewegung andeutete. „Sie können gehen, meine Herren“, erklärte der Boß. Bis auf den Posten, die Fahrwache und einen Mann, der seiner Uniform nach als Erster Offizier fungierte, verließen die Männer den Raum. Das alles ging in gespenstischem Schweigen vor sich, und es blieb eine gespannte Atmosphäre zurück. Dieser Befehl galt dem Mann an den Funkgeräten. Einer der Visioschirme begann zu flimmern. Fallberg fühlte im selben Moment Pattons Hand an seinem Arm. „Die Diana!“ An dieser Feststellung bestand absolut kein Zweifel, denn kurz darauf war Kingsleys Gesicht zu sehen. Der Navigator schien um Jahre gealtert. Trotzdem blieb es sein Gesicht. „Einen dieser Leute können Sie haben“, erklärte der Kommandant. „Sie dürfen ihn sich sogar aussuchen.“ Al Patton merkte sofort, daß der Gegner keine sichere Position innehatte, und war gewillt, das auszunutzen. „Halte du dich vorläufig mal raus, Kingsley! Ich denke, bevor hier weiter verhandelt wird, hat man die Güte, uns über die Situation aufzuklären.“ Kingsley sprach trotz des Verbotes. „Eine verdammt kitzlige Situation, Patton. Man will euch ausschalten. Aber damit haben die Herren keinen Vorteil errungen. Wir kreuzen mit der Diana nämlich längsseits und haben die Komet fest und sicher im Leitstrahl. Mit Kanonen können sie aber bei dieser kurzen Entfernung nichts ausrichten. Jetzt bist du der Kapitän und mußt entscheiden. Ich sage aber vorweg, daß ich nicht die Absicht hatte, nur einen von euch in Empfang zu nehmen.“ Patton brachte jetzt sogar ein Grinsen zustande.
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„Dieser Piratenboß hier scheint eine andere Vorstellung von unserem Tauschgeschäft zu haben.“ „Für Sie bin ich Kapitän Landros!“ kam sofort die Reaktion. „Klipp und klar, Mister Patton. Ihre Mannschaft drüben wird uns aus dem Leitstrahl entlassen. Dafür kann einer von Ihnen gehen. Von vornherein: nur einer! Ich gehe unter keinen Umständen das Risiko ein, Sie beide herzugeben. Und auf Ihr Ehrenwort gebe ich nichts.“ „Das verlangt auch niemand von Ihnen. Was aber, wenn ich die Freigabe von Doktor Fallberg und mir fordere?“ „Ich werde nicht darauf eingehen.“ „… und dort landen, wo Ihr eigenes Leben keinen Pfifferling mehr wert ist.“ „Wir werden kämpfen.“ „Oh, das klingt sehr heroisch!“ „Mensch, Patton“, mischte sich Kingsley über den Bildschirm wieder ein. „Komm zu uns rüber und laß die Komet mit Fallberg sausen.“ Der Kleine tippte mit dem Finger an die Stirn. „Bei dir ist wohl ein Niet geplatzt. Nee, nee, Fallberg ist mein Gefangener. Und den hüte ich wie meine kleine Schwester. Was meinst du wohl, was der Chef mit mir aufstellt, wenn ich ohne den Doktor zurückkomme? Also, abgemacht, meine Herren. Ich bleibe, und Sie, Fallberg, besteigen die Diana. Bestellen Sie unserem lieben Chef, daß ich nachkomme, sobald es mir möglich ist.“ Werner Fallberg war durchaus nicht einverstanden mit dieser Lösung. Er riet von einer überstürzten Entscheidung ab. Al Patton aber blieb unnachgiebig. „Lassen Sie mal, Doc! Die Rechnung wird am Ende schon auf gehen. Mister Landros dürfte so gescheit sein und unsere technische Überlegenheit einkalkulieren. Nicht wahr, Kapitän?“ 77
Landros’ Antwort war ein gemütsarmes Brummen. „Schon gut, ich nehme Ihr Angebot an. Wo darf ich Sie später absetzen?“ „Sie dürfen nicht nur, Sie müssen, Mister Landros. Das mache ich nämlich zur Bedingung. Sobald Sie von der Diana frei sind, nehmen Sie Kurs auf Terra. Ich möchte auf dem internationalen Freischiffhafen auf den Azoren abgesetzt werden. Bis dahin werde ich mich an die Spielregeln halten.“ * Steve Roys Gesicht zeigte Ungnade in höchster Potenz, als Kingsley, Norton und Fallberg wieder vor ihm standen. „Und ihr Idioten habt die Komet entwischen lassen. Ihr seid die reinsten Anfänger. Patton ist mein bester Mann! Habt ihr das noch nicht begriffen? Wenn ihm ein Haar gekrümmt wird, seid ihr reif!“ „Patton fällt immer auf die Füße“, knurrte Kingsley beleidigt. „Schließlich war er Captain und hatte zu bestimmen, wie es gemacht wird.“ Das schrille Rufen des Visifons unterbrach das Gespräch. Roy drückte die Empfangstaste und sah Karstensen, den diensttuenden Funker, vor sich. Karstensen lief der Schweiß von der Stirn, obgleich in seiner Kabine nur Zimmertemperatur herrschte. Schlimmer noch sahen seine zitternden Hände aus, die ein weißes Formular stillzuhalten versuchten. „Hallo, Steve! Ich schieße dir jetzt diese Meldung runter. Sie ist wohl sehr wichtig und – etwas sonderbar. Doktor Fallberg war doch gar nicht auf Terra.“ Fünfundzwanzig Sekunden später hielt Roy einen weißen Zettel in der Hand. Schweigend gab er dann das Blatt an Fallberg weiter. Es enthielt die letzte Radiomeldung von Terra-Europa: 78
… Der wegen Mordes an Professor Stachwitz angeklagte Dr.
Herten wurde in den Morgenstunden aus der Untersuchungshaft im Hamburger Staatsgefängnis entlassen und auf freien Fuß gesetzt. Die Staatsanwaltschaft mußte heute früh um 10 Uhr 30 der Öffentlichkeit bekanntgeben, daß die Anklage nicht länger aufrechterhalten werden kann, da der mit Herten eng befreundete Dr. Werner Fallberg am 4. November umfangreiches und lückenloses Beweismaterial dafür vorlegte, daß für den Mord an Professor Stachwitz Angehörige einer unbekannten Interessengruppe verantwortlich zu machen sind. Nähere Einzelheiten konnten bisher nicht in Erfahrung gebracht werden. Wir hoffen jedoch, Ihnen in unserem Nachrichtendienst um 24 Uhr mehr berichten zu können … Fallberg hatte vorgelesen. Beeindruckt war eigentlich nur Roy von dieser Meldung. Für die anderen bedeutete sie nichts als Unsinn. Steve Roy musterte die drei Männer mit heruntergezogenen Augenbrauen. „Doktor Fallberg! Was ist Ihre Meinung zu dieser Meldung?“ „Sie ist eine Ente. Oder Karstensen hat sich einen Streich erlaubt.“ „Das ist technisch gar nicht möglich. Die Geräte in der Funkstation sind plombiert. Und dieses Telegramm kommt ohne jeden Zweifel aus dem automatisch gekoppelten Empfangsschreiber. Er übersetzt jede aufgefangene Wortmeldung sofort ins Schriftbild. Karstensen ist also nicht verantwortlich für diesen Text.“ „Nun, dann ist es eben eine Ente.“ „Das nehme ich Ihnen nicht ab, Doktor“, erklärte Roy. „Haben Sie sich das Datum gemerkt, an dem Sie Ihre Beweise für Hertens Unschuld den Behörden vorgelegt haben sollen?“ 79
„Man sprach vom 4. November.“ „Well, wo waren Sie am 4. November?“ „Hier sind meine Zeugen. Es besteht wohl kein Zweifel daran, daß ich mich an diesem Tage mit Al Patton, Norton und Kingsley an Bord der Diana zwischen Kallisto und Juno aufhielt.“ „Überlegen Sie, was Sie sagen. Vor einer Viertelstunde berichteten Sie Ihr Erlebnis etwas anders. Sie starteten am 3. November zum Zeitsprung und landeten hundert Minuten später, jedoch am 5. November, auf Juno. Ihr Alibi für den 4. ist also durchaus nicht lückenlos.“ Fallberg zuckte mit der Schulter und sah den Amerikaner mit dem Bedauern an, wie man es gewöhnlich für Geisteskranke übrig hat. „Soll ich Ihnen vielleicht erst ein Kolleg über die Zeitdilatation halten? Es ist doch wohl völlig klar, daß sich für uns auf dem Schiff der 4. November in etwa einer Stunde abgespielt hat. Wir hatten durchaus keine Zeit, einen Abstecher nach Terra zu machen.“ In den Schluß des Satzes fiel das metallische Klicken des Abzugsbügels einer Strahlpistole. Der Lauf war auf Werner Fallbergs Brust gerichtet. * Aber der Schuß löste sich nicht. Und Steve Roy machte keine Anstalten zu einem zweiten Versuch. Die Pistole entfiel polternd seiner Hand. „Verstehen Sie das, Doktor? Ladehemmung bei einer Strahlwaffe? Ich glaube, ich begreife jetzt einiges.“ Roy hob die Pistole auf, betrachtete sie scheinbar ohne jede Leidenschaft und legte sie behutsam wie etwas Zerbrechliches in den Schreibtisch, Dann ging er zur Tür, die in seine Woh80
nung führte. Bevor er sie hinter sich schloß, drehte er sich noch einmal um und sagte: „Mir scheint, es kann Sie niemand daran hindern, in die Vergangenheit zu reisen. – Auch ich nicht. Entschuldigen Sie das Experiment.“ Die Tür schlug etwas lauter zu, als es unter höflichen Leuten gebräuchlich ist. Norton und Kingsley betrachteten den Deutschen wie ein Weltwunder. Als erster fand der Steuermann die Sprache wieder. „Roy ist verrückt geworden. Er hätte Sie zweifellos erschossen …“ Fallberg glaubte noch nicht an Roys Wahnsinn. „Vielleicht ist Ihr Chef auch nur ein guter Schauspieler, ein kalter Intrigant.“ In Fallbergs Gehirn rumorten die Müdigkeit und das Wissen um ein unsicheres Schicksal, das durch die letzten Ereignisse noch rätselhafter geworden war. Aber als er das Appartement betrat, waren diese Probleme plötzlich wie weggewischt. Die Tür zu Ellens Zimmer war halb offen. Sein Lärm lockte das Mädchen heraus. „Werner“, flüsterte sie kaum hörbar. Dann riß sie sich gewaltsam zusammen und ging auf ihn zu. „Ich hatte solche Angst allein. Werden Sie jetzt immer bei uns bleiben?“ „Ich muß es ja, Ellen. Es besteht absolut keine Gefahr, daß Roy mich für immer wegschickt.“ Preske und Breitenbach saßen im Wohnraum bei einer Partie Schach. Sie registrierten Fallbergs Rückkehr erst, als er im Zimmer stand. Die nächste Stunde verging damit, daß Werner einen ausführlichen Bericht seiner Reise gab. Sie unterbrachen ihn wiederholt bei so extremen Dingen wie dem Zeltsprung oder dem Abenteuer auf Juno, wo Mihail Dornescu residierte. Obgleich 81
Al Patton zu den Amerikanern gehörte, wurde seine Entführung mit Abscheu quittiert, und die letzte Radionachricht von Terra über Hertens Entlassung bewirkte eine rege Diskussion. Aber plötzlich wurden sie unterbrochen. Aus dem Lautsprecher kam eine Meldung von der Zentrale. „Achtung! An alle auf Kallisto! Seit einer Stunde beobachten wir fremdes Raumschiff vom Typ Komet III im Anflug auf Kallisto. Wahrscheinlich handelt es sich um das Fahrzeug, auf dem sich Mister Patton befindet. Demnach wurden die Vereinbarungen vom Gegner nicht angehalten. Zwangslandung durch Leitstrahl noch nicht möglich, da die Komet noch außerhalb des Wirkungsbereiches. – Für alle gilt Alarmstufe II. Einsatzstation ist sofort aufzusuchen und vor Entwarnung nicht zu verlassen. Weitere Anweisungen durch Zentrale erfolgen nach Bedarf. Achtung! Ich wiederhole …“ Dreimal hämmerte die Stimme den Aufruf durch die Station. Die neue Meldung folgte unmittelbar danach. „Achtung! An alle auf Kallisto! Fremdes Raumschiff bleibt auf Kreisbahn außerhalb unseres Leitstrahlbereiches. Vor dreißig Sekunden löste sich Beiboot. Es muß damit gerechnet werden, daß es sich um einen Raumtorpedo handelt. Ich wiederhole …“ „Mein Gott! Kann man den Kasten denn nicht leiser stellen?“ schimpfte Preske. Fallberg hatte andere Sorgen. „Wenn das ein Raumtorpedo ist und Roy ihn mit dem Leitstrahl runterholen läßt, sind wir geliefert. Ich gehe zu ihm. Warten Sie hier auf mich.“ – Steve Roy saß in der Zentrale und leitete selbst die Fahrt der Miniaturrakete, die bereits in die oberen Luftschichten der Kallisto eingedrungen war. „Lassen Sie das Ding sonstwo landen, aber nicht hier!“ verlangte Fallberg. „Ich wette, die Burschen haben eine Atombombe eingebaut.“ 82
„Sind Sie deswegen aus Ihrem gemütlichen Heim herüber gekommen?“ fragte Roy ironisch. „Das Kommando überlassen Sie getrost mir. An die Atombombe habe ich selbst schon gedacht. Halt! Sie brauchen nicht unbedingt gleich wieder zu verschwinden. Vielleicht kommt doch noch der Moment, wo ich nicht weiter weiß. Nehmen Sie Platz. Dort drüben steht noch etwas zu trinken.“ Zehn Minuten lang hörte man nur monotone Befehle in dem kleinen Raum. Dann zeigte ein Bildschirm die antipodische Landschaft, die aus einer einzigen Wasserfläche bis zum Horizont bestand. Der Torpedo schoß heran, tauchte in die schwarzen Fluten des Kallisto-Meeres und riß plötzlich einen kilometergroßen Trichter in den Himmel. Ja, es war eine Atombombe gewesen. Die Männer atmeten auf, als sie diese Gefahr hatten bannen können. Doch schon zeigte die automatische Ortung die Annäherung eines zweiten Körpers. Bildschirm 7 wurde eingepeilt. Zwei Männer am Leitstrahl-Führerstand verfolgten das Geschoß und tasteten seine Bahn ab. „In einer Minute müßt ihr ihn haben“, zischte Steve Roy. „Jetzt genau aufpassen!“ Doch diesmal wurde das Geschoß früher ausgelöst. Sobald der Gegner merkte, daß er es nicht mehr in der Gewalt hatte, betätigte er die Fernzündung. Der zweite Atompilz stand senkrecht über der Station. Er war zu hoch, um die geringste Wirkung erzielen zu können. Trotzdem waren die Männer wenig begeistert über diese Entwicklung. „Wenn die noch mehr solcher Schweinereien an Bord haben, ziehen wir den kürzeren“, prophezeite Kingsley. „Verdammt! Das ist ja der reinste Krieg!“ „Schweinerei!“ folgte unmittelbar darauf ein zweiter Fluch vom Leitstrahl-Führerstand. 83
„Was ist los?“ fauchte Roy nervös. „Der Kapazitätsmesser, schlägt nicht mehr aus. Er steht auf ‚null’, obgleich ich halb aufgedreht habe.“ Roy machte einen Panthersprung auf den unglücklichen Techniker zu und stieß ihn beinahe von seinem Sessel. „Menschenskind, steh auf, Kelly! Wenn du mit der Kiste nicht umgehen kannst …“ Der Satz blieb unvollendet. Was Kelly nicht schaffte, gelang Roy genauso wenig. Das Gerät reagierte nicht mehr. Und mit dem Versagen des Leitstrahls bestand unmittelbare Gefahr für den Jupitertrabanten. Fallberg dachte sofort an Flucht. „Solange die Station nicht verteidigt werden kann, ist jeder Aufenthalt hier sinnlos. Geben Sie sofort Meldung an alle, daß sich jeder unverzüglich auf das Flugfeld zu begeben hat. Wir flüchten mit der Diana in den Raum und gehen dann im geeigneten Augenblick gegen die Komet vor. Aber es muß schnell gehen. Unser Schicksal kann jetzt von Sekunden abhängen.“ Kingsley stand schon am Mikrophon und gab die Meldung durch. Die anderen eilten hinaus. Nur Roy hatte kein Verständnis für diese Maßnahmen und stürzte sich mit geballten Fäusten auf Fallberg. Doch der Deutsche war vorbereitet. Und weil er einen klareren Kopf behalten hatte, ging er aus diesem Duell als Sieger hervor. Kingsley schaltete ab. „So, ich glaube, jetzt wissen alle, was gespielt wird.“ Fallberg zeigte auf den besinnungslosen Chef. „Sehen Sie zu, daß Sie ihn mit aufs Schiff bringen. Ich kümmere mich inzwischen um meine Leute.“ *
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Es war keine Phrase gewesen, was Fallberg von den kostbaren Sekunden geredet hatte. Die Ereignisse der nächsten zehn Minuten gaben ihm recht. Als die Diana VII vom Boden abhob, löste die Komet einen dritten Torpedo aus. Es war das Schicksalsgeschoß für Steve Roys Kallistostation, die nach Ausfall des Leitstrahls trotz vieler wunderbarer Erfindungen nicht mehr in der Lage war, den Angriff zu überstehen. Der Atomsprengsatz verwandelte die Halbinsel Nicea in einen Trümmerhaufen. Die Druckwelle griff noch in 30 km Höhe nach dem fliehenden Raumschiff und schüttelte die zusammengepferchten Insassen durcheinander. Nur wenige blieben bei Bewußtsein. Unter denen, die mit dem Schiff einigermaßen umgehen konnten, war es nur Norton. Auch Fallberg erwachte sehr schnell wieder. Doch sein Gehirn schmerzte wie unter anhaltenden Hammerschlägen. Norton kniete sofort neben ihm und schüttelte ihn verzweifelt. „Lassen Sie mich los! Das reißt mir ja den Schädel auseinander!“ Der Maschinist gehorchte und stammelte eine wirre Entschuldigung. Aber die Sorge um das Schiff und das eigene Leben machte ihn hartnäckig. „Sagen Sie, was ich tun soll, Doc! Wir machen nur geringe Fahrt, und die Komet sitzt uns auf den Fersen. Wenn die noch einmal schießen, erwischt es uns doch noch.“ Brown hieß der Mann, der am Visioschirm saß und die Komet beobachtete. Sein Schrei klang verzweifelt und hoffnungslos, als er den Abschuß des vierten Torpedo meldete. „Stehen Sie auf, Doktor!“ drängte Norton. „Wir müssen beschleunigen.“ „Ich kann nicht!“ 85
Norton stand auf und ging an die Geräte. „Los! Reden Sie! Bestimmen Sie jeden Handgriff. Ich führe alles so aus, wie Sie es sagen.“ „Machen Sie erst mal Kurswechsel“, stöhnte Fallberg. „Das nützt nichts!“ schrie Brown dazwischen. „Der Torpedo wird ferngelenkt. Wir haben höchstens noch zwei Minuten Zeit!“ Fallberg erkannte die Gefahr für alle, vor der es in wenigen Sekunden kein Ausweichen mehr geben würde. „Passen Sie auf, Norton! Stellen Sie Gravitationskupplung auf grün!“ Der Maschinist gehorchte. Es kam jetzt nur darauf an, daß er sich durch das Gewirr der vielen Bedienungshebel nicht beirren ließ. „Kupplung ist grün“, keuchte er. „Eine Reihe höher – zwei Kippschalter weiter rechts. Nr. 14 – auf Kreuzmarkierung stellen.“ „Liegt an, Doc! Weiter, weiter! Reden Sie!“ „Drehknopf ‚gelb 7’ am linken Brett ganz nach links drehen, bis Nadel auf 300 steht.“ „Nadel auf 300.“ „Was zeigt Sprungvorbereitung?“ „945 + 33,5. Ist das nicht zuviel?“ „Finger weg! Wir haben keine Zeit mehr. Nehmen Sie alle eingestellten. Atomtriebhebel auf ‚null’ zurück. Aber nacheinander! Und links anfangen.“ Brown stand hilflos dabei und wunderte sich darüber, wie Norton die befohlenen Handgriffe fehlerfrei und ohne langes Zögern ausführte. Er vergaß beinahe den Heckbildschirm. Als er sich wieder nach ihm umwandte, sah er den Tod greifbar vor sich. Sein Schrei mischte sich in Fallbergs letzte Anweisung. Norton schaltete die sechs Photonentriebhebel nacheinander, ohne den Visioschirm zu beachten. 86
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Der Torpedo detonierte, aber eine millionster Sekunde vorher machte die Diana VII den Zeitsprung. Sie wurde durchgeschüttelt wie ein hilfloses Blatt im Orkan der Naturgewalten. Doch die Vernichtung erreichte sie nicht mehr. Der Bildschirm verdunkelte sich. Die Kommandozentrale blieb. Die Menschen lebten. Wo und wann, das wußten sie nicht – aber sie lebten. Norton warf sich in einen Sessel. Fallberg spürte Mißtrauen, weil er Norton nicht genau hatte beobachten können. Vielleicht trug der Schmerz in seinem Gehirn dafür die Verantwortung. Denn sein Schiff mußte ja den Zeitsprung gemacht haben. Sonst wäre es vernichtet worden. Vier Stunden später erst, als die beiden Ärzte sich um die Besinnungslosen und Verunglückten gekümmert hatten, fand er Gelegenheit, mit Norton zu sprechen. „Es läßt mir keine Ruhe, Bill. Sie müssen mir noch einmal die letzten Schaltungen zeigen. Ich glaube, Sie haben da etwas falsch gemacht.“ Norton hatte sich gerade darüber freuen wollen, daß Fallberg ihn mit dem Vornamen anredete, doch der Vorwurf machte ihn unsicher. „Was soll ich falsch gemacht haben? Das Schiff existiert noch. Ist das nicht Beweis genug …“ Der Deutsche unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Lassen Sie uns noch einmal alles durchgehen. Vielleicht sehe ich nur Gespenster, weil ich vorhin bunte Ringe vor den Augen hatte. Aber ich muß es wissen, Bill. Denn ich habe absolut keine Ahnung, wo wir im Augenblick sind.“ „Natürlich“, nickte Norton und gehorchte. Sie gingen das ganze Manöver noch einmal durch! Und der Fehler wurde gefunden. Er lag bei der letzten Schaltung der sechs Photonentriebhebel. Anstatt von links nach rechts durch88
zudrücken, hatte der Maschinist mit dem rechten Hebel begonnen. Die Stellung war richtig, nur nicht die Reihenfolge. „Die Strichzeichnung der Fixsterne beweist, daß wir einen Raum-Zeit-Sprung machen. Doch bisher war ich immer der Meinung, daß so etwas nur durch Photonenantrieb ermöglicht werden könnte.“ „So war es doch auch.“ „Eben nicht. Die Erzeugung von Photonen ist nur möglich, wenn Sie den Zertrümmerungsprozeß mit Hebel 1 einleiten. Ich bin nie im Leben auf die Idee gekommen, daß jemand eines Tages mit der Nr. 6 anfangen würde.“ „Aber Sie sehen doch, daß es geht!“ „Trotzdem will ich wissen, was mit dem Treibstoff geschieht. Das Schiff ist nicht explodiert. Die Maschinen arbeiten normal. Und doch stimmt etwas nicht.“ „Und Sie können es nicht erklären?“ „Noch nicht. Ich werde mich hinsetzen und ein paar Stunden arbeiten müssen. Vielleicht auch Tage. Aber ich kriege es heraus. – Sie sollten jetzt etwas ausruhen, Bill. Ich schicke Ihnen Preske und Breitenbach. Die sollen Sie ablösen.“ * Werner Fallberg hatte sich in seine Kabine zurückgezogen. Breitenbach sollte die Position bestimmen und ihm so schnell wie möglich durchgeben. Inzwischen hockte er über den Zeichnungen und Formeln seines Photonentriebwerkes. Irgendwo mußte hier der Anknüpfungspunkt zu etwas Neuem liegen, das er noch nicht kannte, das durch Nortons Fehler aber in der Praxis schon verwirklicht worden war. Das Problem hatte erst einige vage Anhaltspunkte gegeben, als der Leutnant durchrief. Allein sein Gesicht verriet, daß die Überraschungen noch nicht erschöpft waren. 89
„Hallo, Kapitän! Ich habe die Position. Ich weiß nur nicht, ob sie stimmt.“ „Reden Sie schon!“ „Nun gut! Länge 310 Grad, Breite 24 Grad. Entfernung vom Zentralgestirn 94,643 astronomische Einheiten.“ Fallberg sprang auf und ging ganz nahe an den Bildschirm heran, als wolle er den Leutnant ohrfeigen. „Menschenskind! Damit wären wir ja weit außerhalb des Sonnensystems!“ „Ich sagte ja, daß ich nicht weiß, ob es stimmt. Doch ich habe dreimal abgesteckt und immer dasselbe Ergebnis erhalten.“ „Dann ist es auch in Ordnung. Sehen Sie also zu, daß wir schnellstens wieder in vertrautere Gefilde gelangen.“ „Wollen Sie nicht einen Augenblick in die Zentrale kommen. Ich …“ „Unsinn! Wenn Ihnen der Gravitator Schwierigkeiten macht, dann ziehen Sie Kingsley heran. Der hat das Ding mit eingebaut und wird besser damit fertig als ich. – Moment! Noch eins! Besetzen Sie auf jeden Fall das Funkgerät. Es interessiert mich, ob in dieser Entfernung der Empfang noch möglich ist. Ende.“ Werner Fallberg vertiefte sich wieder in seine Probleme. Als nach einer Stunde der nächste Anruf kam, glaubte er, es seien höchstens einige Minuten verstrichen. Breitenbachs Gesicht gefiel ihm immer weniger. „Was ist denn nun schon wieder? Könnt ihr mich nicht mal fünf Minuten arbeiten lassen?“ „Sie müssen sofort kommen, Kapitän! Wir konnten TerraEuropa soeben klar empfangen. Die Nachrichten haben wir auf Band genommen.“ „Was für Nachrichten? Sind sie neu? Sind sie so wichtig?“ „Wichtig schon, denke ich. Nur nicht neu. Sie stammen vom 90
13. Oktober und berichten, Dr. Herten sei soeben verhaftet worden.“ Für die Strecke von seiner Kabine bis zur Zentrale stellte Fallberg einen neuen Schnelligkeitsrekord auf. Er ließ sich das Band vorspielen und erkannte tatsächlich die alte Meldung, die er am 13. Oktober schon in Hamburg gehört hatte. Die Männer wunderten sich, daß der Kommandant plötzlich ausgesprochen heiter wurde. „Es ist alles sonnenklar, meine Herren. Es besteht nicht der geringste Anlaß zur Aufregung. Wir wissen jetzt, wie wir in die Vergangenheit gelangen können. Hertens Freispruch ist sicher. Und auch die anderen rätselhaften Ereignisse werden ihre Erklärung finden.“ * Die Diana VII raste im Raum-Zeit-Sprung in Richtung Sol, um aus dem verlassenen Weltall in den Schoß der vertrauten Planetenfamilie zurückzukehren. Fallberg hatte diesmal besonders argwöhnisch darauf geachtet, daß die Photonenschaltung in der richtigen Reihenfolge durchgeführt wurde. Er hoffte, auf diese Weise die verlorene Vergangenheit wieder wettzumachen, und nach mehreren Manipulationen gelang es ihm, das Schiff am 10. November auf Terra zu landen. Er hatte sich für seine kommenden Aufgaben einen genauen Plan zurechtgelegt, nach dem er konsequent handeln wollte. Zunächst mußten die Amerikaner abgesetzt werden, denn sie waren unnötiger Ballast. Der Abschied von ihnen war kurz und schmerzlos. Alle Leute hatten sich wieder blendend erholt, bis auf die drei, die noch ihre gebrochenen Arme und Beine in Gipsverbänden trugen. Schauplatz dieser Ereignisse war der Raketenflughafen von 91
Leopoldville in Zentralafrika. Auf Grund einer aus den Fingern gesogenen Havariemeldung hatte man Fallberg innerhalb von fünf Minuten die Landung gestattet, ohne zu wissen, um was für ein Fahrzeug es sich handelte. Roy schien ein wenig erstaunt, als ihm der Deutsche – trotz allem, was er ihm angetan hatte – die Hand reichte. „Wir wären also in Afrika.“ „Ja, allerdings. Ich hätte Sie zu gern bis vor die Haustür geflogen. Doch ich fürchte, das Risiko wäre zu groß. Im stillen betrachten Sie mich ja doch immer noch als Ihren Lebenslänglichen. Nicht wahr, Mister Roy?“ Der Amerikaner war in wenigen Tagen ein alter Mann geworden, in dem die Energie zu erlöschen drohte. „Ich bin sowieso am Ende, Doktor. Machen Sie sich um mich keine Gedanken. Kallisto ist hin, und ich habe keine Zukunft mehr. Wenn Sie mit Ihrer Angelegenheit im reinen sind, darf ich gewiß auf Ihre Anzeige wegen Freiheitsberaubung rechnen. Ich nehme Ihnen das nicht einmal übel.“ „Sind das Ihre ganzen Sorgen?“ „Es reicht mir, Doktor, es reicht mir. Höchstens Al Patton möchte ich Ihnen noch ans Herz legen. Ich hoffe, daß Sie ihn finden werden.“ Von den Amerikanern blieben nur Norton und Kingsley zurück. Sie hatten es durchgesetzt, daß Fallberg sie an Bord behielt, bis Patton gefunden war. „Ich möchte ja verdammt gern mal heim nach diesen Jahren“, war Kingsleys Argument gewesen. „Aber solange Patton in den Händen dieser Banditen ist, hätte ich keine ruhige Minute in Seattle.“ Und damit begann das Unternehmen, das Fallberg als alter Mann in seinen Memoiren einmal die „Zeitpatrouille“ nennen wollte. 92
* Das Raumschiff Diana VII schoß zur Überraschung der bereitstehenden Monteure zwölf Minuten später wieder in den Himmel. Es war also im Gegensatz zur Meldung des Kapitäns völlig in Ordnung. Über den wahren Grund der Landung mußte Steve Roy mit seinen 92 Landsleuten die Flughafenbehörden aufklären. Fallberg steuerte einen großen Raumbogen, der die Diana weit hinter die Plutobahn führte. Er wandte jetzt das erste Mal mit Absicht die von Norton entdeckte negative Photonenschaltung an, und jeder an Bord war gespannt, ob dieses Experiment noch einmal glücken würde. Nach zwei Stunden Subjektiv-Flugzeit stand das Schiff 87 astronomische Einheiten von der Sonne entfernt. Während Breitenbach sich an das Funkgerät setzte, hielten sich alle in der Zentrale auf. Ellen Herten, Preske, Norton, Kingsley und Fallberg. Der Empfang klappte sofort. Dennoch mußten sie Geduld haben, denn wie zum Trotz brachten die Terra-Sender ununterbrochen Tanzmusik und Fernsehspiele. Dann endlich kam eine Nachrichtensendung. „Aufgepaßt!“ rief Fallberg. „Wenn wir richtig gelandet sind, dann haben wir jetzt den 26. Oktober abends. Uhrzeit etwa 23 Uhr 30.“ Der Sprecher beim Sender Terra-Europa erklärte in diesem Augenblick, daß nach kurzer Pause aktuelle Neuigkeiten für die Frau folgen würden. Die Zeit gab er mit 26. Oktober, 11 Uhr, an. Breitenbach und Kingsley nickten sofort beifällig und klopften dem Kapitän anerkennend auf die Schulter. Preske, Norton und Ellen dagegen machten den Einwand, daß die Rechnung immerhin noch einen Fehler von zwölfeinhalb Stunden hatte. 93
Fallberg grinste nur zu diesem Protest. „Sie, Ellen, haben vollkommen recht. Aber diese beiden Kerle da sollten vorher überlegen, ehe sie mir eine Reklamation geben. Denn schließlich ist ja die Sendung von der Erde bis zu uns zwölfeinhalb Stunden unterwegs gewesen. Die Rechnung stimmt also genau.“ Dann kam der Rückflug mit dem Zeitziel 10. Oktober, also zwei Tage vor dem Mord an Professor Stachwitz. Als die Maschinen eingestellt waren, lud Fallberg die anderen ein, Platz zu nehmen. Die Arbeit erledigte die Automatik. * Leutnant Breitenbach saß am Funkgerät und versuchte, Verbindung mit den Diana-Werken zu bekommen. Er machte das mit einer Engelsgeduld, bis Fallberg ihm fünfzig Kilometer über Hamburg die Navigation übergab. „Sie melden sich nicht“, sagte Breitenbach wie zu seiner Entschuldigung, als er seinen neuen Platz einnahm. „Das wäre auch schlimm“, antwortete der Kapitän zufrieden. „Ich habe tatsächlich das Gefühl, daß wir für die nächsten Stunden als Geister fungieren müssen, die für unsere Zeitgenossen vom 10. Oktober gar nicht wahrnehmbar sind. – So, und jetzt Achtung für Landemanöver!“ Mit dem Heck voraus sank das Raumschiff langsam tiefer. Als es durch die Wolkendecke stieß, zeigte der Visioschirm das vertraute Werksgelände mit dem weiten Flugfeld. Preske stieß einen Ruf des Entsetzens aus und zeigte mit zitternder Hand auf das Bild. „Was soll das? Dort unten steht ja die Diana!“ „Passen Sie auf!“ grollte der Kommandant. „Für diese Späße haben wir jetzt keine Zeit! Ich habe Sie vor diesen Dingen ja 94
eingehend genug gewarnt! Im Grunde bleibt es eine Selbstverständlichkeit, an die man sich gewöhnen kann. Wir sind jetzt Wesen der 5. Dimension. Die anderen draußen können uns nicht wahrnehmen. – Mit keinem ihrer Sinne. Sie können auch unser Schiff nicht sehen, denn die Materie, die wir mitbrachten, ist ebenfalls fünfdimensional.“ Norton bewegte nervös die Lippen, bekam aber erst nach mehrmaligem Ansatz ein Wort heraus. „Aber wir – wir sehen sie doch.“ „Gott sei Dank“, murmelte Fallberg. „Denn sonst hätte unsere Expedition wenig Sinn gehabt. Aber jetzt raus, meine Herrschaften! Ich möchte hier nicht Wurzeln schlagen.“ An dem ersten Probespaziergang beteiligten sich alle. Die nächste Überraschung erlebten sie, als sie den Erdboden erreichten. Sie erreichten ihn nämlich nicht. Gegen den vierdimensionalen Hintergrund der Diana-Werke leuchtete ein jeder im Kranz einer milchigen Aura, die den Körper von allen Seiten umgab. Wenn man glaubte, auf der Erde zu stehen, so bewies der Blick auf die Nachbarn, daß zwischen den Füßen und dem Boden noch ein leerer Raum lag. Das Schiff schwebte sogar zwanzig Zentimeter über dem Niveau des Flugplatzes. „Spaßig, nicht wahr?“ sagte Fallberg mit erzwungener Heiterkeit, denn er war sich im klaren darüber, daß er der Lage auf diese Weise am besten ihre unheimliche Wirkung nehmen konnte. Auch Kingsley suchte Erleichterung im Spott. „Sie sehen aus wie ein Heiliger, Doc.“ Der Deutsche nickte. „So haben Sie wenigstens ein Unterscheidungsmerkmal für den Fall, daß Ihnen plötzlich zwei Fallbergs, Preskes oder Breitenbachs begegnen.“ Sie schlugen einen Bogen um das Schiff. Die vierdimensionale Diana stand etwa zweihundertfünfzig Meter entfernt. An ihr arbeiteten zehn Mechaniker. 95
„Am 10. Oktober hatten Sie drüben die Aufsicht, Breitenbach. Wollen wir mal hingehen und spionieren?“ Der Leutnant wurde kreidebleich und zitterte am ganzen Körper. „Nanu, schlechtes Gewissen?“ „Nein, nein, das ist es nicht. Ich bin nur nicht dazu aufgelegt, mir selbst zu begegnen.“ „Eines Tages werden Sie sich daran gewöhnen müssen. Aber wir wollen unsere Nerven nicht zu sehr strapazieren. Lassen Sie uns also etwas nach links gehen. Dort kommen die Zubringer vorbei. Ich will auf jeden Fall ausprobieren, wie sich ein Vierdimensionaler verhält, wenn ich mich ihm in den Weg stelle.“ Sie legten einen Weg von dreihundert Metern zurück. Nach zehn Minuten rollte ein Schlepper heran, und Fallberg stellte sich so auf, daß er theoretisch überfahren werden mußte. Ellen Herten stieß einen Schrei aus. Sie schloß die Augen. Doch das dramatische Geräusch, das sie erwartete, blieb aus. „Verdammt!“ stöhnte Preske, „er lebt. Und dabei ist der Wagen buchstäblich durch seinen Körper gerannt.“ „Irrtum, mein Lieber!“ rief der herankommende Fallberg. „Von der Seite sah es vielleicht so aus. Tatsächlich machte das Fahrzeug aber einen Bogen. Es ist mir ausgewichen.“ „Dann stimmt Ihre ganze Theorie nicht“, protestierte Kingley. „Wenn er ausgewichen ist, muß er Sie erkannt haben.“ „Keineswegs. Wir Hamburger können uns nämlich sehr genau an den 10. Oktober der vierten Dimension erinnern. Und an diesem Tag ist hier absolut nichts Aufregendes passiert. Verlassen Sie sich darauf, der Mann ist aus seiner Perspektive genau geradeaus gefahren. Sein Bogen beruht auf einer für ihn nicht feststellbaren Raumkrümmung, die durch meine Energieform in unmittelbarer Nähe meines Körpers auftritt.“ 96
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„Wie Sie das sagen, Werner“, flüsterte Ellen Herten kaum hörbar. „Wie Sie das sagen, klingt das alles sehr einleuchtend.“ Fallberg lächelte. „Es freut mich, daß wir alle so langsam das richtige Verhältnis zu unserer jetzigen Lage gewinnen. Ich denke, wir werden es schaffen.“ Er fuhr mit der Hand über die Augen und sah sich nach der fünfdimensionalen Diana um. „Laßt uns zurückgehen, Freunde! Ich muß mich heute noch um Professor Stachwitz kümmern.“ * Breitenbach ging mit, während die anderen im Schiff zurückblieben. Mit Verpflegung für zwei Tage machten sich die beiden Männer auf den Weg. „Geister zu Fuß“, kommentierte Fallberg die Lage, und Breitenbach stellte fest, daß eine solche Reise in die Vergangenheit gar nicht verlockend sei. Es war schon ein Handikap, daß die unmittelbare Berührung mit vierdimensionaler Materie nicht erfolgen konnte. Und die war nun einmal nötig, wenn man ein Fahrzeug stehlen und damit verschwinden wollte. Als sie die drei Kilometer marschiert waren, zeigte Fallberg auf den Eingang zur U-Bahn. „Kommen Sie, Breitenbach. Ein öffentliches Verkehrsmittel wird uns schon mitnehmen. Da brauchen wir nicht selbst zu steuern.“ Sie gingen durch die Sperre, ohne daß der Beamte auf die Idee kam, sie nach den Fahrkarten zu fragen. Es war 12 Uhr mittags, wie die Normaluhr verriet. Und auf dem Bahnsteig drängten sich die wartenden Fahrgäste. Neben zwei großen Koffern stand ein Pärchen dicht beieinander. Breitenbach machte sich einen Spaß daraus, genau zwi98
schen ihnen hindurch zu gehen, als er ihr einen anhaltenden Kuß gab. Im Abteil hielt er einem Zeitungsleser den Kopf vors Gesicht, um selbst einen Blick in die neuesten Nachrichten zu werfen. „Wissen Sie was, Kapitän? Sie sind im Augenblick nach Italien unterwegs, um von Neapel aus zu einem neuen Rekordversuch für Landkraftwagen zu starten. Leider wird nichts daraus werden, wie ich das als Prophet sehe.“ „Endlich tragen Sie die Sache mit Humor“, erwiderte Fallberg. Breitenbach lachte laut. „Und ich flüstere auch nicht mehr, aus Angst, die Leute würden mich hören.“ Von der Endstation hatten sie noch fünf Minuten zu gehen. Dann standen sie auf dem Gelände der Staatlichen Laboratorien. „Wie ist das eigentlich? Können wir durch geschlossene Türen gehen?“ „Hm“, überlegte Fallberg, „woher soll ich das wissen? Man müßte es probieren.“ „Und sich unter Umständen den Schädel einrennen.“ „Bei Ihrem Tempo vielleicht. Aber überlegen Sie mal: Sie sind doch auf der U-Bahn dem Liebespärchen mitten durch den Kuß gerannt. Und der Kuß war doch echt, nicht wahr?“ „Als Fachmann möchte ich sagen, ja.“ „Das bedeutet also völlige Mißachtung der benachbarten Materie. Aber es kann nicht stimmen.“ „Sie haben recht. Denn wir sind auf der Erde, wir unterliegen ihrer Schwerkraft und sind sogar mit der alten U-Bahn gefahren. Die vierdimensionale Materie muß also in einem Verhältnis zu unserem Energiefeld stehen.“ Fallberg nickte. „Natürlich. Und irgendwo zwischen den Größenordnungen 99
‚Häuserblock’ und ‚Atomteil’ muß die Grenze dieser Wirkung liegen.“ „Ich meine, mindestens noch oberhalb vom Molekül.“ „Jetzt bin ich tatsächlich fürs Probieren.“ Der erste Versuch gelang bereits. Zwar kamen sie nicht ausgerechnet mitten durch die Metalltür, aber der Ritz zwischen Tür und Füllung genügte, obgleich er mit Kunststoff abgedichtet war. Breitenbach dachte bei diesem Experiment zwangsweise an die Raumkrümmung während dos Versuches mit dem Lastwagen. Sie gingen zuerst in Dr. Hertens Appartement. Die Tür machte auch hier keine Schwierigkeiten. Fallberg hielt unwillkürlich den Schritt an, als er seinen Freund am Radioteleskop hantieren sah. Er hatte mehrere Verkleidungen abgenommen und beschäftigte sich mit einem Gewirr von Drähten. „Wir können getrost weitergehen“, erklärte Breitenbach mit übertriebener Pädagogik. „Er sieht und hört uns nicht.“ Fallberg entschuldigte sich: „Treffen Sie mal Ihren besten Freund kurz vor seiner unvermeidlichen Verhaftung als ahnungslosen Engel. Ich möchte ihm jetzt die Tatsachen ins Gesicht schreien und weiß genau, daß er kein Organ für meine Warnung hat.“ „Das steht ja auch nicht in der Spielregel. Sie wissen doch, daß Sie die Vergangenheit nicht mehr ändern können.“ „Eben.“ Sie sahen sich nach einer Sitzgelegenheit um und entschieden sich für zwei Sessel, die Hertens Arbeitsplatz am nächsten standen. „Jetzt müssen wir Geduld haben. Aber ich warte solange, bis etwas passiert.“ Sie saßen zwei Stunden lang mit übereinandergeschlagenen 100
Beinen und fünfdimensionalen Zigaretten, deren Asche der Putzfrau niemals auffallen würde, obwohl sie deutlich auf dem Fußboden verteilt war. Nach diesen zwei Stunden wurde Leutnant Breitenbach unruhig. „Ich glaube nicht, Kapitän, daß Sie mit dieser Passivität weiterkommen. Sie verwechseln offenbar die fünfte Dimension mit dem Schlaraffenland.“ Fallberg schnippte die Asche von seiner sechsten Zigarette und machte ein Gesicht, als ob er es besser wüßte. „Keine Sorge, Leutnant. Die Ereignisse werden schon an uns herantreten. Dann müssen wir allerdings handeln. Bedenken Sie, daß wir die Situation anders sehen als Herten. Mißtrauischer.“ „Wie ich mich erinnere, haben Sie mir erzählt, daß Doktor Herten bereits seit Wochen von Spionen phantasiert hat. Er müßte infolgedessen mißtrauisch genug sein, um auf seine Gegner aufmerksam zu werden, falls sie jemals ungeniert hier eintreten sollten.“ Der andere schüttelte den Kopf. „Menschenskind! Sie können doch seine Ahnungen, die ihm inzwischen schon zur abgestumpften Gewohnheit geworden sind, nicht mit unserer Perspektive vergleichen. Wir wissen, daß Stachwitz in drei Tagen ermordet wird, wir wissen, daß Herben hinter Schloß und Riegel landet. Und zwar auf die Sekunde genau. Es ist also schon ein kleiner Unterschied mit dem Mißtrauen. Achtung! Es kommt jemand. Sperren Sie jetzt Ihre Augen auf! Und, wenn möglich, auch die Ohren!“ Es hatte geklingelt. Dr. Herten ging zur Tür, von der kurz darauf eine helle Mädchenstimme erklang. „Komm rein, Ellen! Es wird Zeit, daß du mir assistierst. Mit meinen zwei Händen komme ich offenbar nicht vorwärts.“ 101
„Zum Teufel!“ schimpfte Breitenbach. „Was will Fräulein Herten hier?“ Dann erkannte er seinen Irrtum und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Es ist die vierdimensionale Ellen. Ich lerne sie übrigens erst am 13. kennen. Allerdings fürchte ich, daß wir mit der jetzt folgenden Unterhaltung nicht viel anfangen können.“ „Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt. Aber Sie warten offenbar auf den Mörder persönlich.“ „Der Mörder ist schon hier. Ich zweifle nicht mehr daran, daß Herten es getan hat. Wir müssen jetzt nur herausfinden, wer ihn dazu brachte.“ Etwas später klingelte das Visifon. Herten nahm ab und war mit Dr. Nordhof verbunden. „Hallo, mein Lieber! Ich habe Sie bei der heutigen Konferenz vermißt. Ich wollte Ihnen etwas Interessantes zeigen, und Sie waren nicht da. Haben Sie vielleicht jetzt fünf Minuten Zeit?“ „Natürlich, ich komme sofort zu Ihnen, Herr Direktor!“ „Dein Chef scheint dir ja sehr viel Respekt einzuflößen“, lästerte Ellen. „Springst du immer so schnell, wenn er pfeift?“ „Unsinn! Ich will ihn nur loswerden, damit wir gleich ungestört arbeiten können. Wahrscheinlich handelt es sich nur wieder um eine langweilige Verfügung aus dem Verbandsblatt. Ich bin gleich zurück.“ Fallberg stand auf und folgte seinem Freund als unsichtbarer Geist. Aber er kam nicht weit. Breitenbachs Alarmruf gellte durch das ganze Haus, und er rannte sofort zurück. Er kam gerade noch früh genug, um Professor Stachwitz aus der Wohnung kommen zu sehen. Sich an ihm unbemerkt vorbeizudrücken, war keine Kunst. „Hallo, Leutnant! Meinten Sie den Mann, der mir gerade entgegenkam?“ „Allerdings! Er schlich heran wie einer, der ein ausgespro102
chen schlechtes Gewissen hat. Er stand schon im Korridor, als er Fräulein Herten entdeckte und sich schleunigst wieder zurückzog.“ „Das war Stachwitz.“ „Der Ermordete? Nicht möglich! Dann steckt also Nordhoff dahinter.“ „Nicht unbedingt. Aber Sie können durchaus recht haben, daß der Anruf vorhin ein Ablenkungsmanöver war. Das Mädchen stand drüben in der rechten Ecke und konnte während des Gesprächs nicht gesehen werden. Kommen Sie mit!“ Den ahnungslosen Stachwitz hatten sie schnell eingeholt. Sie marschierten ungeniert an seiner Seite und gaben sich keine Mühe, ihre Unterhaltung leise zu führen. Der Professor ging in seine Wohnung und schloß die Tür ängstlich hinter sich ab. Den fünfdimensionalen Verfolgern konnte diese Maßnahme jedoch durchaus nicht imponieren. Sie waren bereits durchgeschlüpft, als der Schlüssel gedreht wurde. Stachwitz hantierte am Visifon. Auf dem Bild erschien Nordhoffs Gesicht. „Was machen Sie denn in Ihrer Wohnung?“ „Sie brauchen Herten nicht lange aufzuhalten, Herr Direktor. Seine – seine Schwester ist da. Es – es geht heute nicht.“ Dem Professor gelang in der Aufregung nur ein Stottern, und Fallberg wunderte sich, daß man ein solches Nervenbündel mit Aufgaben betraute, die immerhin eine gewisse Portion Kaltblütigkeit verlangten. Über Direktor Nordhoffs Stellung in diesem Komplott wunderte er sich allerdings noch mehr, und stieß einen frohlockenden Pfiff aus. Breitenbach machte das Spiel jetzt Spaß. „Unsere Methode ist einfach, Kapitän. Mit diesen Möglichkeiten können wir die berühmtesten Detektive der Welt werden. Ist Ihnen das klar?“ „Meinetwegen satteln Sie um. Aber ich glaube, allzu viele 103
Fälle werden Sie nicht mehr übernehmen können. Denn im Jahrhundert der Zeitreise dürften sich Verbrechen kaum noch lohnen. – Passen Sie auf!“ Der Leutnant erkannte die Chance. Sie näherten sich beide dem Professor, der einige Akten aus dem Schreibtisch hervorgeholt hatte und hastig darin blätterte. „Ich werde verrückt!“ stöhnte Breitenbach. „Sehen Sie sich das an!“ Was Fallberg sich ansehen sollte, war ein Brief – mit der Maschine geschrieben und ohne Unterschrift. Der Text lautete klar und kurz: Sie wissen, was eine Weigerung für Sie bedeutet! Ich gebe Ihnen eine letzte Frist bis zum 13. Oktober. Spätestens an diesem Tage haben Sie die Pläne des Radioteleskops an Dr. Nordhoff abzuliefern. Er wird Sie decken. Mehr können Sie nicht verlangen. Denken Sie daran, was wir von Ihnen wissen. Dieser Brief ist nach Kenntnisnahme chemisch zu vernichten. Trotz des letzten Satzes legte Stachwitz das Schreiben wieder zu den Unterlagen und versteckte die Mappe unter einer gelockerten Bohle des Fußbodens. „Dieser Brief bleibt“, flüsterte er im Selbstgespräch. „Wenn es mir an den Kragen geht, seid ihr alle mit an der Reihe.“ Trotz seiner wahnsinnigen Angst brachte er ein verkrampftes Grinsen fertig, daß der Haß prägte. „Dieser Mann ist eine von den armseligen Kreaturen, die nicht mehr zurück können“, meinte Fallberg. „Wenn ich nur wüßte, wer den Brief geschrieben hat.“ Das Klingeln des Visifons schreckte den Professor aus seinem Sessel auf. Wie er zitternd auf den Apparat zuging, machte er den Eindruck eines Verurteilten auf dem Wege zum Schaffott. Es war wieder Nordhoff. „Herten bin ich los. Kommen Sie sofort zu mir!“ 104
* Der Direktor machte ein ungnädiges Gesicht, als Stachwitz eintrat. Der Ausdruck wäre gewiß weniger hoheitsvoll ausgefallen, wenn er gewußt hätte, wer noch ins Zimmer kam. „Setzen Sie sich! Der Chef hat vor ein paar Minuten angerufen. Wir haben uns noch einmal ausführlich über Sie unterhalten. Sie werden sich denken können, daß dabei wenig schmeichelhafte Worte gefallen sind.“ „Jawohl, Herr Direktor, ich kann es mir denken. Aber ich bin am Ende. Meine Nerven machen nicht mehr mit.“ „Das wäre Ihr Todesurteil.“ Stachwitz erstarrte. Seine Stimme klang bereits wie aus dem Jenseits. „Nein, nein, das dürfen Sie nicht sagen! Um Gottes willen, Herr Direktor, ich flehe Sie an! Lassen Sie mich nicht im Stich! Ich werde ja alles für Sie tun. Denken Sie daran, was ich früher für Sie geleistet habe. Sie können nicht so undankbar sein und …“ „Werden Sie nicht sentimental, Stachwitz. Wenn man Ihnen zuhört, könnte man glauben, Sie hätten keine Ahnung von unseren Gesetzen. Passen Sie auf! Der Plan hat sich etwas geändert. Teil A bleibt. Wir werden uns also gegenseitig verständigen, sobald einer eine günstige Gelegenheit festgestellt hat. Der Diebstahl der Pläne ist nach wie vor Ihre Sache. Sobald Sie aber die Papiere in Händen haben, kehren Sie nicht mehr in Ihre Wohnung zurück. Das ist zu gefährlich. Sie springen durchs Fenster und laufen hinüber zum Transformatorenhaus 12. Dort erwartet Sie jemand, dem Sie die Beute zu übergeben haben. Ist niemand da, so warten Sie. Der Rest ist dann nicht mehr Ihre Sache. Vergessen Sie aber nicht, mir Bescheid zu geben, falls Sie von sich aus eine günstige Gelegenheit entdecken, bei 105
Herten einzudringen. Die Übergabe der Pläne am Trafohaus muß unbedingt klappen. – Und noch eins! Das Unternehmen muß bei Dunkelheit ausgeführt werden. Ihre Versuche am Tage müssen Sie einstellen.“ Professor Stachwitz nickte wie eine Marionette. „Sie können sich auf mich verlassen, Herr Direktor. Heute abend ist es geschehen.“ „Das würde mich freuen – für Sie, Stachwitz. Doch erinnere ich Sie noch einmal daran: Sicherheit geht vor.“ „Morgen ist der 11. Oktober. Das sind noch zwei Tage bis zum letzten Termin, wie der Chef mir schrieb. Bis zum 13. werde ich es schaffen – oder tot sein.“ „Nicht so dramatisch, mein Lieber. Gehen Sie jetzt! Und schlafen Sie, bis es dunkel wird. Ihre Nerven haben es nötig.“ Stachwitz verschwand wie ein geprügelter Hund, und Nordhoff sorgte für die nächste Überraschung, indem er Rechtsanwalt Gallatin anrief. „Hallo, Doktor!“ „Hallo, Doktor! Haben Sie noch einmal mit ihm gesprochen?“ Nordhoff nickte. „Ja, er ist soeben auf sein Zimmer gegangen. Die Sache ist klar. Er wird verschwinden. Ich schätze, daß ich wieder ruhiger schlafen kann, sobald ich ihn unschädlich weiß. Herten ist schon mißtrauisch genug.“ In Dr. Gallatins Gesicht war nichts mehr von der gewohnten Verbindlichkeit zu erkennen. „Ich habe seit Wochen gepredigt, daß ein Mann in dieser Verfassung das Ende unserer Organisation sein kann. Es freut mich, daß Sie das endlich einsehen. Ich darf Ihnen also meinen Mann schicken?“ „Selbstverständlich. Aber frühestens bei Einbruch der Dunkelheit …“ 106
* Werner Fallberg und Leutnant Breitenbach verließen die Staatlichen Laboratorien im Vorgefühl des Sieges. Allerdings hatte Fallberg noch etwas Gedankengymnastik durchzuführen, ehe er die Tatsache verdaute, daß auch Gallatin zu der feindlichen Organisation gehörte. „Ich habe Rolfs sogenannte Ahnungen nie so recht für bare Münze genommen. Heute müssen wir feststellen, daß die Tatsachen viel phantastischer sind. Sein eigener Anwalt ist sein Gegner. Überlegen Sie sich nur diese Ironie! Gallatin arbeitet seit etwa zwei Jahren für Herten. Wahrscheinlich bestand schon damals der Plan, sich auf diese Weise bei Ihrem Freund ins Vertrauen zu schleichen. Man ließ ihn gewähren, bis seine Erfindung fertig war.“ Der Rest lief nach einem unkomplizierten Schema ab. Die Fünfdimensionalen tauchten in Doktor Gallatins Büro auf und hatten im Laufe des 11. und 12. Oktober reichlich Gelegenheit, sich dort umzusehen. Sie gewannen Einblick in den Schriftwechsel mit internationalen Verbindungen und entdeckten als Krönung ihrer Recherchen eine komplette Mitgliederliste der Organisation für den Bereich Hamburg. Am 13. Oktober postierten sie sich am Transformatorenhaus 12 und erlebten den Mord, von dem sie in ihrer vierdimensionalen Vergangenheit bereits gehört hatten. Noch bevor Stachwitz herankeuchte, lag Mihail Dornescu auf der Lauer. Dann nahm er planmäßig die Papiere – die nicht vollständig waren – in Empfang und wartete, bis Herten auftauchte. Breitenbach zuckte es in den Fäusten, als er den Lauf der Dinge mit der Passivität eines toten Gegenstandes verfolgen mußte. Aber da war nichts zu machen. Professor Stachwitz 107
mußte noch einmal sterben. Eine Eisenstange zertrümmerte seinen Schädel. Der Mörder war Doktor Rolf Herten. Für diese Tat gab es jetzt zwei weitere Zeugen. Aber sie waren auch Zeuge für die Anwesenheit Mihail Dornescus, der den Katalysator für Hertens Tat in der Tasche trug. – * Im Raumschiff wurde Kriegsrat gehalten. Die Zeitreisenden ergriff ein Taumel der Aktivität. Fallberg und Breitenbach gingen und kamen. Sie hatten sich inzwischen daran gewöhnen müssen, sich selbst gegenüberzustehen, denn sie wurden Zeuge des gerissenen Diebstahls der Pläne aus Direktor Dierings Safe. Sie waren dabei, als die Bombe unter den Augen der Wissenschaftler, Kriminalisten und Geheimdienstler Dr. Hertens Laboratorium zerstörte. Die Beweise häuften sich und wurden erdrückend für die wahren Schuldigen. Am 20. Oktober erklärte Fallberg die Untersuchungen für abgeschlossen. „In vierzehn Tagen ist der 4. November. Wir könnten die Zeit hier abwarten und dann zu Inspektor Becker gehen. Doch ich schätze, daß uns allen diese zwei Wochen recht langweilig werden würden. Ich persönlich gebe jedenfalls zu, daß ich nur noch darauf brenne, alles zum Abschluß zu bringen. Was meinen Sie, Ellen?“ „Ich würde gern einmal zu Rolf gehen und mit ihm sprechen. Das müßte doch möglich sein für uns.“ „Das Sehen ja, nicht das Sprechen. Denn er bemerkt Sie nicht.“ Das Mädchen wandte sich enttäuscht ab. „Natürlich, das vergaß ich.“ 108
In dem folgenden Schweigen wurde erkennbar, daß am vollständigen Glück auch den Fünfdimensionalen etwas fehlte, nämlich die Verbindung zu der Welt, die ihnen seit der Geburt bestimmt war. „Warum fliegen wir denn nicht?“ fragte Ellen schließlich. „Wir tun’s ja. Also los, meine Herren! Alles auf Fahrwache!“ Fallberg lächelte seinen Leuten aufmunternd zu. „Sie haben wohl nichts dagegen, wenn wir jetzt den 4. November ansteuern?“ „Nicht im geringsten, wenn Sie meinen, daß wir diesen Tag vierdimensional erreichen“, meinte Preske. „Das meine ich. Denn die auf Kallisto empfangene Radiomeldung ist ja der Beweis dafür. Allerdings ist die Sache etwas komplizierter. Und wenn wir nicht aufpassen, kann dieser Flug einigen von uns das Leben kosten.“
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„Malen Sie nicht den Teufel an die Wand! Schließlich verstehen wir alle etwas von Navigation.“ „Daran liegt es nicht. Es sind die Dimensionen, die uns trennen. Ihr solltet eigentlich von selbst darauf kommen.“ Breitenbach feixte. „Hört, hört! Wir werden examiniert. Darf ich Ihnen die Lage schildern, Kapitän?“ „Schießen Sie los!“ „Also gut, die Gefahr, von der Sie sprechen, besteht in erster Linie für Fräulein Herten, Preske und mich.“ Preske hatte sich soeben angeschickt, sich angesichts einer längeren Rede des Leutnants einen bequemen Sitzplatz zu verschaffen. Als er jedoch seinen Namen im Zusammenhang mit den Gefährdeten hörte, richtete er sich sofort steif auf und sah den Sprecher mißtrauisch an.
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„Warum zähle gerade ich zu den Auserwählten?“ „Laß jetzt die Zwischenbemerkungen!“ fuhr Breitenbach ihn an. „Und sperr deine Ohren auf, sonst kommst du mit den scheinbaren Widersprüchen nie zurecht. – Also, die Lage ist folgende: Unser Zeitsprung hat bewiesen, daß man bei einem Flug in die Vergangenheit in eine übergeordnete Dimension gerät. Bei der Rückkehr unserer Körper in eine Zeit, in der wir bereits existierten, wurden wir automatisch in die fünfte Dimension gedrückt. Dabei durften wir ganz nebenbei die Bestätigung für ein altes Axiom entgegennehmen, das da sagt: ein Wesen geringerer Dimension ist nicht in der Lage, ein solches der höheren Dimension zu erkennen. Ist das richtig, Kapitän?“ Fallberg nickte. „Reden Sie weiter. Aber machen Sie’s kurz!“ „Ich will’s versuchen. – Jetzt kommt also der Sprung in den 4. November. Vom 3. und 5. machte die Diana aus der 4. Dimension gesehen eine Zeitreise. Während dieser Periode befand sie sich außerhalb der 4. Dimension. Die natürliche Trägheit verlangt nun, daß das Raumschiff bei einem späteren Sprung am 4. November vierdimensional bleibt, weil ja jetzt auf dieser Ebene Platz ist.“ „Moment mal!“ rief Preske aufgeregt dazwischen. „Das trifft aber nicht für mich zu. Auch nicht für dich und Fräulein Herten.“ „Eben. Das ist ja meine Rede. Für uns drei ist am 4. November kein Platz mehr in der vierten Dimension, weil wir bei der erwähnten Fahrt nicht an Bord waren. Wir werden also fünfdimensional bleiben – und zwar in einem vierdimensionalen Schiff. – Das ist das Risiko.“ „Ich sehe absolut kein Risiko“, schaltete Kingsley sich ein. „Ihre Fahrt auf der U-Bahn hat doch bewiesen, daß der Transport möglich ist. Es wird also auch kein Fünfdimensionaler aus dem Raumschiff stürzen können. Erst wenn die Diana einer 111
höheren Existenzebene angehört, wird es gefährlich. Aber so doch nicht. Ich weiß also gar nicht, weshalb Sie sich aufregen.“ „Wirklich! Das ist ein brauchbarer Trost, Kapitän. Nicht wahr?“ Fallberg nickte Preske aufmunternd zu. „So müßte es sein. Denn es ist ja bewiesen, daß der Fünfdimensionale mit den Ebenen unter sich stets Kontakt hat. Diese merken es nur nicht. Auf alle Fälle werden wir vorsichtig sein und den Dimensionswechsel auf der Erde abwarten. Zeitziel also: der 3. November, 9 Uhr Weltzeit!“ Wieder genügten Stunden, um die Frist von zwei Wochen zu überspringen. Das Raumschiff Diana VII ging an derselben Stelle nieder, von der es gestartet war. Radiomeldungen bestätigten das neue Datum. Man schrieb den 3. November. Und mit diesem Tag begann für die vierdimensionale Welt eine Reihe von Ereignissen, die tausendmal sensationeller war als die Entdeckung Amerikas durch Columbus oder der Start des ersten Erdsatelliten durch die Russen. Im Zustand der fünften Dimension verließen fünf unsichtbare Menschen ein unsichtbares Schiff. Sie hockten sich auf die Erde und warteten. Niemand konnte sich von einer gewissen Nervosität freisprechen, denn die Erkenntnis der eigenen Unvollkommenheit war stärker als die schönsten und phantasievollsten Hypothesen, die man sich über das Phänomen der Zeitreise zurechtlegte. Als die Sonne im Zenit stand, meinte Breitenbach: „Ich glaube, mir müssen uns jetzt langsam verabschieden. Wenn wir uns eineinhalb Tage nicht sehen …“ Fallberg unterbrach ihn. „Das hat mindestens noch eine Stunde Zeit. Lassen Sie uns lieber noch einmal alles zusammenfassen, was Sie während der Dimensionstrennung zu beachten haben.“ 112
Preske rümpfte die Nase. „O weh, ich kann es inzwischen auswendig.“ „Dann sagen Sie es schnell einmal her!“ meckerte Norton. „Schließlich sind Sie und der Leutnant die einzigen Kavaliere, die bei Fräulein Herten in der fünften Dimension zurückbleiben. Sie tragen währenddessen immerhin eine gewisse Verantwortung.“ „In Anbetracht dessen, daß auch Ihnen keine Wiederholung des Stoffes schaden kann, Mister Norton, will ich es sagen. – Also, in der Zeit zwischen und 14 Uhr ist der Punkt erreicht, an dem das Raumschiff Diana VII mit der Besatzung Patton, Fallberg, Kingsley und Norton zum Zeitsprung auf den Asteroiden Juno ansetzt … Ich wünschte jetzt, daß wir Doktor Hertens demoliertes Radioteleskop schon wieder flott hätten. Wir könnten dann zweifellos das Raumschiff, das hier fünfdimensional neben uns steht, irgendwo zwischen Jupiter und den Planetoiden feststellen …“ „Bleiben Sie bei der Sache!“ „Sobald das Schiff aus der 4. in die 5. Dimension springt, weicht unsere Ausgabe hier in die 4. aus. Mit ihr alles, was zur Zeit an Bord ist. Sie, Mister Norton, Mister Kingsley und Kapitän Fallberg werden also in Kürze nichts mehr von uns sehen. Wir aber können Sie sehen. Hüten Sie sich also, hinterhältig über mich zu reden. Vielleicht mache ich mir einen Spaß daraus und verfolge Sie bis ins Polizeipräsidium.“ „Zerbrechen Sie sich lieber den Kopf darüber, was Sie während Ihrer Einsamkeit essen wollen. Das Schiff und alle Vorräte rutschen in die vierte Dimension zurück.“ „Nicht alle, mein Lieber. Immerhin sind auf Kallisto noch einige Lebensmittel geladen worden, die Ihre Juno-Expedition nicht mitgemacht haben. An Delikatessen wird es uns also nicht fehlen.“ 113
„Okay. Und wo werden Sie übernachten?“ „Auch daran ist gedacht. Wir schlafen in Doktor Fallbergs Arbeitszimmer. Dienstmädchen Anneliese wird nicht einmal etwas davon merken.“ Je weiter die Zeit vorrückte, um so ernster und schleppender wurde das Gespräch. Kurz nach 13 Uhr war die Stimmung ausgesprochen feierlich. Man gab sich die Hand, und Fallberg sagte: „Gehen Sie jetzt in meine Wohnung. Übermorgen ist alles wieder im alten Zustand, und wir können unsere gemeinsame Reise in die vierdimensionale Gegenwart antreten.“ Ellen Hertens Lippen zitterten, während Werner Fallberg ihre Hand ein wenig länger hielt als nötig. „Angst?“ fragte er. Das Mädchen nickte. „Ja, etwas. Aber ich glaube an Sie, ich meine, Sie machen immer alles richtig, Werner. Wenn ich mich zur Sachlichkeit zwinge, wird es auch mit der Angst nicht so schlimm werden. Kommen Sie gesund wieder.“ Um 13 Uhr 25 kam der Beweis für Fallbergs Hypothese. Ellen, Breitenbach und Preske verschwanden im Nichts. Die anderen und das Schiff verloren die Aura der fünften Dimension und waren in ihre ureigene Daseinsform zurückgekehrt. Der Vorgang verlief eigentlich ohne jede Dramatik. Lediglich ein peitschender Knall begleitete das Wunder, als sie über dem Flugplatz lagernde Luft durch die vierdimensional gewordene Materie im Bruchteil einer Sekunde auseinandergerissen wurde. Es war wie der Donner bei einem nahen Gewitter. Etwas benommen sahen sich die drei Männer an, betasteten sich gegenseitig und fielen dem Deutschen schließlich begeistert in die Arme. „Sie sind eine Kanone, Doc. Und im Kaliber immer noch eine Portion stärker als Roy.“ „Langsam, Norton, langsam! Vergessen Sie nicht, daß das al114
les nicht ohne Ihren Antigravitator möglich gewesen wäre. Aber jetzt kommen Sie zum Verwaltungsgebäude mit. Ich denke, wir sprechen zunächst einmal mit Direktor Diering. Mensch, wird der Augen machen!“ Sie gingen los. Vom Zentralgebäude her ertönte eine Alarmsirene. Mehrere Monteure, die sich mit einem Schiff der Klasse VI beschäftigt hatten, tobten in panischer Flucht davon. Die drei Männer hatten bereits einen Weg von fast vierhundert Metern zurückgelegt, als man drüben endlich den Mut hatte, ihnen entgegenzufahren. Es war ein viersitziger Sportwagen mit Fahrer und Chef. Direktor Dierings Augen schienen aus dem Kopf fallen zu wollen, als er seinen Lieblingskapitän erkannte. Fallberg versuchte es mit Humor, obgleich er praktisch wie ein Deserteur hier stand. Das ist in solchen Fällen immer ein geeignetes Mittel für die Regulierung heftiger Gemütsbewegung. „Machen Sie den Mund zu, Herr Direktor. Haben Sie mich nicht so schnell zurückerwartet?“ „Ich werde verrückt, Werner. Das kann doch nicht möglich sein!“ „Was kann nicht möglich sein?“ „Ich habe am Fenster gestanden. Jawohl, ausgerechnet in diesem Augenblick. Sie sind nicht gelandet. Sie waren einfach da, als kämen Sie aus dem Nichts.“ „Mit einem Knall? Haben wir Sie erschreckt, Herr Direktor?“ Dierings Hand zitterte so stark, daß sie nicht einmal die Stirn fand, wo es ganze Schweißbäche zu entfernen gab. „Mein Gott“, flüsterte Fallberg jetzt auch beinahe hilflos. „Was sollen wir bloß machen? Wenn Sie schon so heftig reagieren, Herr Direktor, dann sind die anderen Durchschnittsbürger sofort reif fürs Irrenhaus. Es ist alles in bester Ordnung.“ 115
Dierings Kampf um die Selbstbeherrschung war mitleiderregend. Es dauerte eine ganze Minute, bis er wieder reden konnte. „Kommen Sie, Werner. Wir wollen in mein Büro gehen. Entschuldigen Sie, daß ich mich so habe gehen lassen. Aber ich denke, Sie haben mir viel zu erklären.“ Als Diering, Fallberg, Norton und Kingsley kurze Zeit darauf im Büro Inspektor Beckers saßen, gab es ein zähes Ringen von Argument zu Argument. Bis das Wunder plötzlich erneut geschah, durch das Erscheinen von Al Patton, der mit seinem häßlichen Sommersprossengesicht und seiner lächerlichen Figur zum ersten Male in seinem Leben Furcht durch sein bloßes Erscheinen verbreitete. Er stand mitten im Zimmer. Im Zentrum des symmetrisch gemusterten Teppichs. „Es tut mir leid, meine Herren, daß ich so völlig unangemeldet hier eindringe. Aber glauben Sie mir, daß es für einen wissenden Menschen unerträglich ist, einer Debatte zu lauschen, in der von intelligenten Menschen stundenlang leeres Stroh gedroschen wird. Verzeihung! Ich glaube, ich vergaß, guten Abend zu sagen. Hallo, Norton, Kingsley! Ihr habt es bald überstanden.“ „Ein Verrückter“, ächzte Inspektor Becker. Aber sein Vorgesetzter war anderer Meinung. „Ich denke, mit dieser Ansicht sollten Sie endlich aufräumen. Dieser Mann kam tatsächlich aus dem Nichts. Entweder ist alles Hypnosegaukelei, oder wir müssen den Herren Glauben schenken.“ „Schenken Sie Glauben“, mahnte Patton mit der Stimme eines Patriarchen. „Es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben. Mein Freund Doktor Fallberg hat Ihnen Tatsachen genannt, wie Sie sie sich als Kriminalisten nicht schöner wünschen können. Schreiben Sie endlich Ihre Haussuchungs- und Haftbefehle für 116
Rechtsanwalt Gallatin und Doktor Nordhoff aus. Und vergessen Sie nicht, auch bei dem armen Stachwitz unter dem Fußboden nachzusehen! Ihre Debatte könnte längst zu Ende sein, wenn Sie sich an die Tatsachen gehalten hätten. Ihre Überlegungen in Bezug auf das Problem der Zeitreise sollten Sie den Fachleuten überlassen. Wahrscheinlich werden die besser damit fertig.“ „Mein Herr!“ rief der Inspektor aufspringend. „Ihr Benehmen ist eine einzige Beleidigung. Ich dulde nicht, daß Sie weiter in diesem Ton …“ „Sie schreien, weil Sie im Unrecht sind“, unterbrach Patton. „Dabei sollten Sie sich endlich klar darüber sein, Inspektor, daß Sie mit Ihrer bisherigen Marschrichtung schnurstracks in Ihr persönliches Verderben geraten. Es gibt hier nur zwei Möglichkeiten. Entweder Sie handeln nach den Vorschlägen dieser Männer und lassen sich den Erfolg des Falles Herten in den Schoß fallen, oder Sie blamieren sich vor der Öffentlichkeit bis auf die Knochen und quittieren in Kürze Ihren Dienst.“ Becker brachte es fertig, ironisch zu lächeln. „Sie reden wie ein Prophet, mein Herr.“ „In diesem Fall bin ich es. Ob das Ihre vierdimensionalen Gehirnwindungen erfassen können oder nicht. Dies hier ist meine letzte Gelegenheit für den Monat November, vierdimensional zu sein. Aus ganz bestimmten Gründen hatte ich mir diese halbe Stunde nämlich noch aufgehoben, um hier nach dem Rechten sehen zu können. Wie Sie selbst feststellen werden, war das absolut nötig.“ „Mein Gott, Mister Patton! Aus welcher Zeit kommen Sie denn?“ stotterte Fallberg. „Meine weiteste Zukunft liegt im Jahre 2604. Da staunen Sie, nicht wahr? Aber vor allem war ich so gescheit, mir noch einige Möglichkeiten für Ihr Zeitalter zu reservieren. Wir werden also dann und wann noch Gelegenheit haben, uns zu sehen. 117
Das ist zwar ein verzwickter Fahrplan, aber er macht mir Vergnügen.“ Al Patton verbeugte sich wie zum Abschied. „Zum Teufel!“ wurde der Inspektor energisch. „Jetzt bleiben Sie wenigstens hier, bis alles erledigt ist. Nehmen Sie Platz und trinken Sie ein Glas mit uns!“ „Okay! Für ein Glas wird es noch reichen. Aber in zwölf Minuten bin ich trotz Ihrer reizenden Gastfreundschaft verschwunden. Das hat nichts mit Unhöflichkeit zu tun, sondern nur mit dem Naturgesetz, das mich automatisch in die fünfte Dimension verfrachten wird …“
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Während der Inspektor das Zimmer verließ, um seine Anweisungen für die Verhaftung von Gallatin und Nordhoff zu geben, klopfte Patton Fallberg freundschaftlich auf die Schulter. „Alter Junge, wie geht es?“ Der Angeredete grinste ein wenig hilflos. „Wissen Sie, Al, wir haben uns inzwischen an das Zeitreisen gewöhnt. Und es steht fest, daß man auch damit fertig werden kann. Aber die Weltregierung hat die Zeitreise schließlich verboten. Ab heute gerechnet wird es noch drei Jahre dauern. Ihr müßt euch damit abfinden, daß eine Art Interregnum sein wird, daß die Anarchie Triumphe feiert. Die Menschen werden ihren privaten Haßgefühlen und der Neugierde nachgeben, der Mißgunst und der Geschäftigkeit, der Gewinnsucht und dem Laster. Sie werden den lieben Nächsten in seiner geheimsten Vergangenheit belauschen und Dinge an die Öffentlichkeit zerren, die niemanden etwas angehen. Doch – wie gesagt – die Vernunft wird siegen. Und die Zeitreise bleibt nur noch ein Privileg des Staates und seiner Sicherheitsorgane. Also für Sie, Herr Kommissar. Und für mich, seit ich zu diesem Zweck einen guten Posten bei der Weltregierung habe. Zum Wohl!“ Man trank aus den nachgefüllten Gläsern. Werner Fallberg gestand danach, daß er eigentlich ein schlechtes Gewissen habe. Al Patton wollte wissen, warum. „Ja, wissen Sie, Al, als wir damals auf der Komet III getrennt wurden …“ „Damals?“ „Nun ja, es wird die Zukunft sein. Aber da ich die Ereignisse kenne, rede ich, als wären sie bereits geschehen. Sie wissen, was ich meine. Nach der Gefangenschaft auf Juno schwor ich, alles daran zu setzen, Sie wieder zu befreien. Und jetzt ist das alles plötzlich überflüssig.“ Al Patton schien zu erschrecken. 119
„Überflüssig? Was reden Sie für einen Unsinn, Werner? Sind Sie sich im klaren darüber, daß Sie mich unter allen Umständen noch befreien müssen?“ Der Kommissar spielte nervös mit den Fingern. „Ich fürchte mich beinahe, an diesem Gespräch als Laie noch teilzunehmen. Ich finde mich kaum noch zurecht.“ „Denken Sie nach, Herr Kommissar. Was gedacht werden kann, ist auch realisierbar. Wenn Sie ein Schatten wären, hielten Sie dann die Erschaffung des Menschen für möglich?“ Nach einer Pause kam Grömingers zaghafte Antwort. „Sie sprechen, als seien wir selbst nichts anderes als Gedanken.“ Patton nickte zustimmend. „Stellen Sie sich Gott vor. Gott hat einen Gedanken. Und dieser Gedanke sind Sie – und das Weltall.“ Die folgende Pause wurde sehr lang. Die Zungen waren schwer. Ob vom Wein, von der Philosophie oder von den Tatsachen. Keiner wußte es so recht. Daß Patton fehlte, merkten sie erst lange nach seinem Wechsel in die fünfte Dimension. * Drei Wochen danach. Dr. Rolf Herten war frei. Die fremde Machtgruppe, eine internationale Verschwörung von Wissenschaftlern, denen jedes Mittel recht war, um die Weltregierung in die Hand zu bekommen, war zerschlagen. Mihail Dornescu, der Agent, hatte sein Ende bei der Zerstörung des Planetoiden Juno gefunden. – Al Patton machte einen Besuch auf Terra. Er wollte eigentlich nur danke schön sagen für die abenteuerliche Befreiung durch seinen neuen Duzfreund Werner Fallberg. Da es aber in 120
seinen Fahrplan paßte, blieb er noch einen Tag und wurde Zeuge einer kleinen Familienfeier. In vorgerückter Stunde erklärte er, sich noch nie – weder in der Zukunft, noch in der Vergangenheit – so wohl gefühlt zu haben wie an diesem Abend. Und bei der allgemein guten Stimmung kam niemand auf die Idee, das für eine Phrase zu halten. Mittelpunkt der Gesellschaft wurde er schließlich durch eine wohlerwogene Überraschung. Er legte ein unscheinbares Etui auf den Tisch und fragte: „Was ist das?“ Jeder riet, doch keiner erriet es. „Zum Teufel, Patton“, rief Diering schließlich, „jetzt spannen Sie uns nicht länger auf die Folter! Lüften Sie das Geheimnis!“ „Okay, das ist ein Andenken an Mihail Dornescu. Wenn er damit die Leute besuchte, waren sie geliefert.“ „Der Hypnoseapparat?“ „Das ist nicht der richtige Ausdruck. Denn Sie vergessen, daß man mit diesem Gerät niemandem einen fremden Willen aufzwingen kann. Es lähmt lediglich Teile des Gehirns. Es lähmt die Moral oder schaltet sie ganz aus. Man könnte seine Wirkung mit der des Schlafes vergleichen.“ „Na, hören Sie, Mister Patton! Wollen Sie etwa behaupten, daß ich unmoralisch schlafe?“ „O nein. Ihr Schlaf ist durchaus moralisch. Aber Sie selbst sind es nicht, wenn Sie schlafen. Bitte, warten Sie mit dem Protest! Denn Sie müßten lügen, wollten Sie jetzt behaupten, daß Sie im Traum noch niemals etwas getan hätten, was das Tageslicht zu scheuen hat.“ „Hm“, machte der Direktor. „Jetzt haben Sie mich. Im Traum sind mir schon Sachen passiert, die mich normalerweise mit einigen Paragraphen in Konflikt gebracht hätten.“ 121
„Sehen Sie, und genauso wirkt dieses Etuigerät, wenn ich seine Strahlen auf das Gehirn der betreffenden Person konzentriere. Doktor Herten hätte Stachwitz niemals ermordet, Sie hätten Dornescu niemals die Pläne gegeben, und der gute Fallberg hätte niemals die präparierte Bombe gezündet, wenn Sie alle eben nicht im kritischen Augenblick völlig ausgeschaltet gewesen wären. Ihr unbewußter Wunsch war vorhanden. Denken Sie an den ersten Besuch des Agenten bei Werner. Dornescu wollte die Pläne zunächst kaufen. Werner aber hatte absolut keine Meinung zu diesem Geschäft. Nicht einmal im Unterbewußtsein. Und deshalb blieb in diesem Fall das kleine Zaubergerät unwirksam …“ – Frau Fallberg, Werners Mutter, hatte bisher ruhig und bescheiden in ihrem Sessel verweilt und sich aufs Zuhören beschränkt. Plötzlich wurde die Situation jedoch peinlich für sie, denn ihr Sohn und Ellen Herten hielten sich auf einmal eng umschlungen in den Armen und küßten sich mit ungehemmter Leidenschaft. „Werner!“ rief sie empört. „Werner, ich bitte dich!“ Doch der Sohn empfand nichts als seine Liebe und Glück, geliebt zu werden. Als Al Patton den Strahl auflöste, wußten die beiden Menschen absolut nichts von ihrem Schauspiel. Sie weigerten sich, es zu glauben, als man es ihnen berichtete. Bis Al Patton der Geduldsfaden riß. „Mensch, Werner, seit wann bist du ein Pharisäer? Ihr liebt euch, und damit basta. Ihr wißt es selbst ganz genau, wollt es anscheinend nur nicht zugeben, um mich zu ärgern.“ „Was hast du denn damit zu tun?“ „Nun, immerhin weiß ich, daß ihr in fünf Jahren drei prächtige Kinder habt.“ Werner Fallbergs Lachen klang wie Befreiung, und aus Ellens Gesicht war endlich die Melancholie gewichen. 122
Al Patton sah diskret zur Seite, als beide ihren Kuß bei vollem Bewußtsein wiederholten. Der Mutter legte er begütigend die Hand auf den Arm. „Pst! Jetzt dürfen Sie keineswegs etwas dagegen einwenden. Denn dieser Kuß wird bei vollem Bewußtsein gegeben.“
UTOPIA-Zukunftsroman erscheint wöchentlich im Erich Pabel Verlag, Rastatt (Baden), Pabel-Haus. Mitglied des Remagener Kreises e. V. Einzelpreis 0,60 DM. Anzeigenpreis laut Preisliste Nr. 7. Gesamtherstellung und Auslieferung: Druck- und Verlagshaus Erich Pabel, Rastatt (Baden). Alleinauslieferung für Österreich: Verbik & Pabel KG., Salzburg, Gaswerkgasse 7. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany. Scan by Brrazo 01/2012 L/Be: Gew
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Anleitung zum Gebrauch des UTOPIA-STERNENATLAS Als zweiter Bestandteil des Koordinatennetzes sind die Parallel- oder Deklinationskreise zu erwähnen. Wie der zuerst erwähnte Name schon besagt, laufen die^c Kreise alle in gleichem Abstand und parallel zum Äquator. Auch sie vereinigen sich allerdings bei 90° plus in einem einzigen Punkt – dem Pol. Im Gegensatz zu den Stundenkreisen läuft die Zählung der Deklinationskreise in Graden und Bogenminuten. Diese Deklination ist an den seitlichen Markierungen der Karten abzulesen und erreicht eine Genauigkeit von 1°. Beträge von einem halben Grad oder 30 Bogenminuten sind noch gut zu schätzen. Unsere Karten enthalten die Deklination – 30° bis + 90°. Die Parallel- oder Deklinationskreise des Himmels entsprechen den Breitenkreisen unserer Erde. Die Abkürzung für den Deklinationswert in den Listen lautet D. Anhand dieses Koordinatensystems läßt sich der Standort eines jeden Sternes am Himmel genau angeben. Bei den kreisförmigen Karten bediene man sich eines Zirkels und eines Lineals. Der Zirkel wird in den Pol bzw. in jenen Punkt gestcckt, wo die Kanten der Karten ineinandertreffen. Dann führe man den zweiten Schenkel des Zirkels auf den positionsmäßig zu bestimmenden Stern. Jetzt legen wir das Lineal gleichmäßig an beide Zirkelschenkel, und zwar so, daß es über den unteren Kartenrand hinausragt. Nun können wir mühelos die Rektazension des Sternes ablesen. Ist dies geschehen, so gehen wir daran, die Deklination zu bestimmen. Das ist noch viel einfacher, denn wir brauchen den eingestellten Zirkel nur zu einem der seitlichen Ränder der Karte zu führen, und sogleich kann auch hier die Deklination abgelesen werden. Arbeitet man nach der Liste, so verfahren wir umgekehrt. Die Deklination wird am Kartenrande mit dem Zirkel eingestellt. Alsdann legt man das Lineal über den Pol und die aus der Liste entnommene Rektazension. Nun wird der Zirkel bis an das Lineal herangeführt, und wir haben den gesuchten Stern gefunden. Viele der in den Karten enthaltenen Objekte sind in der Liste erfaßt und näher beschrieben. Diese Objekte sind auch in den Karten gekennzeichnet, und zwar mit einem griechischen Buchstaben oder einer Zahl, in manchen Fällen mit beiden Kennzeichen. Die Sterne selbst sind als kleine schwarze Scheibchen gezeichnet. Findet man einen Stern mit einem Strich darunter, so handelt, es sich um einen Doppelstern. Geht der Strich genau durch die Scheibchenmitte, so haben wir einen veränderlichen Stern vor uns, Sternhaufen und Nebel sind als dicht nebeneinander liegende, kurze und feine Striche gezeichnet. Nun aber zur Objektliste. Es ist verständlich, wenn nicht alle in den Karten aufgeführten Sterne in der Liste wiedergefunden werden. Mit Rücksicht auf den zur Verfügung stehenden Raum mußte sich die Liste auf die hellsten und interessantesten Objekte beschränken. Aber sehen wir uns die Liste einmal genau an.