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DER GROSSE FANTASY-ZYKLUS VON KATHERINE KURTZ DER SPÄTE DERYNI-ZYKLUS Das Geschlecht der Magier · (06/3576) Die Zauberfürsten · (06/3598) Ein Deryni-König · (06/3620) DER FRÜHE DERYNI-ZYKLUS Camber von Culdi· (06/3666) Sankt Camber · (06/3720) Camber der Ketzer · (06/4018) Derynis unterscheiden sich von normalen Menschen durch übernatürliche Fähigkeiten; deshalb waren sie stets als Zauberer und Hexen verschrien. Einst waren sie ein mächtiges Geschlecht, und nicht wenige von ihnen waren fürstlichen Geblüts, doch die Kirche verfolgte sie jahrhundertelang gnadenlos. Man erschlug sie, wo man ihrer habhaft werden konnte. Nur wenige entrannen dem Blutbad und tauchten unter. Als der junge Kelson seinem ermordeten Vater Brion auf dem Thron von Gwynedd folgt und sich mit Gefolgsleuten umgibt, denen man Deryniblut nachsagt, treten die religiösen Eiferer und Fanatiker auf den Plan, um eine neue Hexenjagd zu veranstalten und Gwynedd in Bürgerkriegswirren zu stürzen. Sie wissen die Kirche hinter sich; diese droht mit Exkommunikation und Kirchenbann für alle, die sich auf die Seite der Verfolgten stellen. Die Hexenjäger versammeln ihre Meute um sich. Scheiterhaufen werden aufgeschichtet. Bald sollen sie lodern. Des Königs Mannen sind in Bedrängnis, aber so einfach, wie sich das ihre Gegner vorgestellt haben, ist es nicht, sich mit Alaric Morgan und Duncan Howard McLain anzulegen, denn beide wissen mit ihren Deryni-Fähigkeiten ebensogut umzugehen wie mit der Klinge. Doch die Übermacht ist erdrückend, und dem König sind die Hände gebunden, denn er will seinem Reich den Frieden erhalten.
KATHERINE KURTZ
DIE ZAUBERFÜRSTEN Band 2 der Deryni-Chronik Fantasy-Roman
Ebook by »Menolly«
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN ISBN 3-453-30505-1
INHALT 1 Drei Dinge widersetzen sich der Voraussage: eines Weibes Launen, des Satans Versuchung und das Märzwetter in Gwynedd. (St. Veneric, Triaden) ...............
6
2 »Von Weisen stamme ich ab, von Königen der Vorzeit!« (Jesaja 19,11) ........................................................
19
3 Ich bin ein Mensch; ich behaupte, daß nichts Menschliches mir fremd ist. (Terenz) ................................
47
4 Der Engel, der mit mir redete, sagte zu mir... (Zacharias 1,9) ......................................................................
82
5 Wer ist diese, die da herabschaut wie Morgenrot, schön wie der Mond, rein wie die Sonne, majestätisch gleich den Bannerscharen? (Hoheslied 6,10) ...................... 103 6 Die mir nach dem Leben trachten, legen Schlingen. (Psalm 38,13) ........................................................................ 129 7 Einen solchen treffe unvermerkt das Verderben! (Psalm 35,8) .......................................................................... 146 8 Denn vom Norden her naht sich Rauch; an seinem Sammelplatz bleibt niemand allein zurück. (Jesaja 14,31) ......................................................................... 173 9 Schreien sie ob ihrer Bedränger zum Herrn, so sendet er ihnen einen Retter, der führt ihren Streit und befreit sie. (Jesaja 19,20) .................................................................. 192
INHALT 10 Trachtend nach finsterer Mächte Beistand... .................... 213 11 »Ich aber erwecke einen von Mitternacht, und er kommt vom Aufgang der Sonne. Er... geht über die Gewaltigen wie über Lehm, wie ein Töpfer, der Tonerde tritt.« (Jesaja 41,25) ............................................... 245 12 Wenn wie ein Ungewitter euch der Schrecken naht... (Sprüche 1,27) ....................................................................... 260 13 ... hinab zu den Kammern des Todes. (Sprüche 7,27) ....... 275 14 Was ist des Menschen höchste Weisheit? Dem anderen, liegt es auch in seiner Macht, kein Übel anzutun. (St. Teilo) .............................................................................. 299 15 Die Menschen töten, was sie nicht verstehen. (Unbekannter derynischer Mönch) ........................................ 318 16 Denn stark wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft hart wie die Unterwelt. Ihre Gluten sind Feuergluten, lodernde Blitze. (Hoheslied 8,6) .......................................... 331 17 Es muß ja Parteiungen unter euch geben, damit die Bewährten unter euch offenbar werden. (1 Korinther 11,19) ................................................................ 360 18 So tritt nun auf mit deinen Beschwörern und der Menge deiner Zauberer, unter welchen du dich von deiner Jugend bemüht hast, ob du dir könntest raten, ob du dich könntest stärken. (Jesaja 47,12) ................................. 377
1 Drei Dinge widersetzen sich der Voraussage: eines Weibes Launen, des Satans Versuchung und das Märzwetter in Gwynedd. St. Veneric, Triaden Der März ist in den Elf Königreichen* schon seit jeher ein Mond der Stürme gewesen. Er bläst den Schnee über das große Nordmeer und breitet letztmals den Mantel des Winters auf die Silberberge, fegt und wirbelt ihn um die Hochebenen im Osten und weht ihn schließlich über die weite Ebene Gwynedds, wo er sich in Regen verwandelt. Im günstigsten Falle ist der März unbeständig. Er ist des Winters letztes Aufbegehren wider das Herannahen des Frühlings, aber ebenso der Vorbote des Grünens, der Überschwemmungen, die alljährlich das Mitteltiefland unter Wasser setzen. Er ist auch als mild bekannt; aber in jüngster Zeit war er's nie. Doch er bringt den Frühling – wenigstens so nahe, daß die Menschen zu hoffen wagen, der Winter könnte in diesem Jahr früh enden; und bisweilen kam es auch so. Jene aber, die Gwynedds Eigenheiten kennen, bauen ihre Träume nicht auf die bloße Möglichkeit eines vorzeitigen Frühlings. Im ersten Jahr der Herrschaft König Kelsons von Gwynedd machte der März keine Ausnahme. In Kel* Siehe Karte auf Seite 411.
sons Hauptstadt Rhemuth war die Nacht früh hereingebrochen. Das geschah im März oft, wenn von Norden und Osten über die Finsternmark die nördlichen Sturmwinde herantosten. Das Unwetter schlug zur Mittagsstunde zu, überschüttete die farbenfrohen Baldachine der Buden und Stände auf dem Marktplatz mit Hagelkörnern von der Größe eines Daumennagels und jagte Händler und Krämer in Dekkung. Binnen derselben Stunde war alle Hoffnung verflogen, den unterbrochenen Markt fortsetzen zu können. Und so hatten die Händler inmitten von Donner und Regen sowie des schwefligen Geruchs der Blitze, den der Wind herbeitrug, widerwillig ihre durchnäßten Waren eingepackt, ihre Buden geschlossen und waren abgezogen. Bei Anbruch der Dämmerung sah man auf den Straßen nur noch solche Menschen, deren Gewerbe sie zwang, an einem derartig verregneten Abend draußen zu bleiben – Stadtwachen auf ihren Rundgängen, Waffenknechte und Boten bei der Erledigung ihnen erteilter Aufträge, durch Wind und Kälte mit Hast auf dem Heimweg zu den warmen Ofenbänken befindliche Bürger. Und nun, während die Dunkelheit herabsank und die Glocken des großen Domes im Norden der Stadt zum Abendgottesdienst läuteten, heulten nur noch Regen und Graupel durch Rhemuths enge, verlassene Straßen, peitschten die roten Schindeldächer der Häuser und Türme, füllten die Kopfsteinplastergossen bis zum Überlaufen. Hinter vom Regen verschleierten Fenstergläsern flackerten und tanzten die Flämmchen zahlloser, zur Abendstunde entzündeter Kerzen, sobald sich ein Windstoß durch Risse im Holz von Türen und Fensterläden zu zwängen vermochte. Und in
Häusern und Tavernen, Gasthöfen und Herbergen drängten sich die Menschen der Stadt um die Feuerstellen, verzehrten ihre Abendmahlzeiten, tranken gutes Bier und erzählten abenteuerliche Geschichten, während sie auf des Unwetters Nachlassen harrten. Auch des Erzbischofs Palast in der Nordstadt war vom Sturm belagert. Im Schatten der Palastmauern erhob sich düster das wuchtige Kirchenschiff des dem Heiligen Georg geweihten Domes an den Himmel, der sich mit Schwärze bezog; der gedrungene Glockenturm ragte gleichsam ehern himmelwärts, und Bronzepforten hielten dem Ansturm mit unerschütterlicher Festigkeit stand. Palastwachen in Lederumhängen, unter Kragen und Kapuzen die Häupter vor der Kälte und Nässe geduckt, schritten die Wälle des Palastes ab. Fackeln zischten und waberten entlang den Zinnen unter abgeschirmten Dachvorsprüngen, während der Sturm tobte und fauchte, seine Kälte den Menschen bis in die Knochen drang. Der Erzbischof von Rhemuth, Seine Hochwürdigste Geistlichkeit Patrick Corrigan, hatte es drinnen behaglich und warm. Er stand vorm Kamin, worin ein lebhaftes Feuer knatterte, und hielt seine dicklichen Hände an die Flammen, rieb sie mit Munterkeit, um sie zusätzlich zu erwärmen, und hüllte sich dann enger in seine mit Pelz besetzte Robe, bevor er auf seinen Pantoffeln zum Schreibtisch am jenseitigen Ende des Gemachs latschte. Dort saß ein anderer Mann, ebenfalls in bischöfliches Violett gekleidet, und brütete über einem reich gezierten Pergamentschriftstück, die Augen im Schein der beiden Kerzen auf dem Tisch zusammengekniffen. Ein halbes Dut-
zend anderer Kerzen in Wandleuchtern, im Gemach verteilt, taten das ihrige, um die Düsternis, welche das Dunkel draußen einsickern ließ, ein wenig aufzuhellen. Und ein jüngerer Kirchenschreiber stand mit einem weiteren Licht in eilfertiger Haltung über des Mannes linke Schulter gebeugt, um das Pergament mit rotem Siegelwachs zu versehen, sobald er dazu die Anweisung erhielt. Corrigan schaute dem Mann über die Schulter, dann sah er zu, wie der Mann nickte, eine Feder nahm und am unteren Ende des Dokumentes eine fette Unterschrift hinkratzte. Der Schreiber träufelte geschmolzenes Wachs neben die Unterschrift, und der Mann drückte geruhsam sein Amtssiegel aus Amethyst hinein. Er hauchte den Stein an und rieb ihn an seinem samtenen Ärmel, dann hob er den Blick zu Corrigan und steckte sich den Siegelring wieder an den Finger. »Das dürfte«, sagte er, »zu Morgans Verderben gereichen.« Edmund Loris, Erzbischof von Valoret und Primas von Gwynedd, war eine eindrucksvolle Erscheinung. Der Körper unter der prächtigen, violetten Soutane, die er trug, war sehnig und kraftvoll, und sein dünnes silbriges Haar glich rings um die magentarote Priesterkappe seiner Tonsur einem flauschigen Heiligenschein. Doch seine hellblauen Augen waren hart und kalt. Und sein hageres Falkengesicht drückte gegenwärtig alles andere als Wohlwollen aus. Denn soeben hatte Loris sein Siegel unter ein Dokument gesetzt, das in Kürze einem beträchtlichen Teil des Königreichs Gwynedd einen Kirchenbann auferlegen sollte. Einen Bann, der das ganze reiche Herzogtum Corwyn, das im Osten lag, von allen Sakramenten und Tröstungen der Kirche der Elf Königreiche aus-
schloß. Die Entscheidung wog schwer, und sowohl Loris wie auch Corrigan hatten sich im Laufe der vergangenen vier Monde eingehend damit befaßt. Denn bei gerechter Betrachtungsweise mußte man zugeben, daß die Bewohner Corwyns nichts getan hatten, wodurch sich eine so außergewöhnliche Maßnahme wie ein Kirchenbann begründen ließe. Aber andererseits konnte man den wahren Anlaß dieses Schrittes nicht mißachten und ihn schon gar nicht länger dulden. Innerhalb der Lande, welche der Kirchenrechtsprechung der Erzbischöfe unterstanden, hatte sich eine verabscheuungswürdige, unerträgliche Lage ergeben und herrschte noch immer, und daher mußte man sie bereinigen. Und so hatten die Prälaten das Gewissen mit der Versachlichung beruhigt, daß der Bann nicht gegen das Volk in Corwyn gerichtet war, sondern gegen einen bestimmten Mann, den auf irgendeine andere Weise unschädlich zu machen sich als unmöglich erwies. Selbiger Mann war Corwyns Herr, der derynische Herzog Alaric Morgan; ihm galt an diesem Abend die priesterliche Rachgier. Ihm, Morgan, der es wiederholt wagte, seine gotteslästerlichen und ketzerischen Kräfte zu verwenden, um sich in Angelegenheiten von Menschen dreinzumengen und Unschuldige in die Irre zu leiten, der sich wider Kirche und Königtum mit Hohn und Trotz verging. Morgan, der den jungen König Kelson zur Ausübung uralter Zaubereien verführt und bei Kelsons Krönung im letzten Herbst gar im Dom selbst einen Zweikampf der Schwarzen Kunst ausgelöst hatte. Morgan, dessen halb derynische Abstammung ihn ewiger Pein und Verdammnis im jenseitigen Dasein auslieferte, falls er sich nicht dazu überreden ließ, sich davon los-
zusagen, seinen Kräften abzuschwören und sich von seinem bösen Erbteil abzukehren. Morgan, um den sich anscheinend nun die gesamte Derynifrage drehte. Erzbischof Corrigan schnitt eine düstere Miene und nahm das Pergament, seine buschigen Zottelbrauen zu einem langen dicken Strich vereint, und las noch einmal den Wortlaut des Dokumentes. Er spitzte die Lippen und runzelte die Stirn, als er mit dem Lesen fertig war, aber dann faltete er das Dokument mit Entschlossenheit, so daß es knisterte, und preßte es auf dem Tisch zusammen, worauf sein Schreiber Wachs auf die Verschlußlasche goß. Corrigan prägte dem Wachs einen Abdruck seines Siegelrings ein; doch als er sich neben Loris in einen Polsterstuhl sinken ließ, spielte seine Hand aus Mißbehagen mit dem von Edelsteinen schweren Umhängekreuz auf seiner Brust. »Edmund, seid Ihr Euch dessen sicher, daß wir...« Auf einen scharfen Blick Loris' verstummte er und besann sich darauf, daß sein Schreiber noch im Gemach stand und auf weitere Anordnungen wartete. »Das ist im Moment alles, Pater Hugh. Bittet Monsignor Gorony herein.« Der Priester verneigte sich und verließ den Raum, und Corrigan lehnte sich mit einem Seufzer zurück. »Ihr wißt, daß Morgan es niemals dulden wird«, sagte er mit matter Stimme, »daß Tolliver ihn exkommuniziert. Glaubt Ihr wirklich, daß die Androhung des Banns ihn in die Schranken verweist?« Eigentlich stand Herzog Alaric Morgan weder unter des einen noch des anderen Erzbischofs Rechtsgewalt, aber beide hofften, daß der Brief, der auf dem Tisch lag, dies Hindernis innerhalb kurzer Frist beseitigte.
Loris faltete seine Hände zu einem Giebel und sah Corrigan gelassen an. »Wahrscheinlich nicht«, gab er zu. »Aber vielleicht tun's seine Untertanen. Ein Gerücht besagt, daß im Norden Corwyns bereits ein Bund von Rebellen für den Sturz des derynischen Herzogs wirkt.« »Haaach!« Corrigan schnob geringschätzig, ergriff einen Federkiel und tauchte ihn in ein kristallenes Tintenfaß. »Was vermag ein Haufen Aufständischer gegen derynische Magie auszurichten? Außerdem wird Morgan, wie Ihr wißt, von seinen Untertanen geliebt.« »Ja, durchaus – noch.« Loris beobachtete, wie Corrigan sorgfältig einen Namen auf die Außenseite des gefalteten Schriftstücks zu schreiben begann, und er lächelte verstohlen, als er sah, wie seines Amtsbruders Zungenspitze jede Krümmung der abgerundeten Buchstaben mitvollzog. »Aber werden sie ihn noch lieben, wenn der Bann über sie verhängt ist?« Corrigan hob mit einem Ruck den Blick von seinem beendeten Kunstwerk, dann trocknete er die feuchte Tinte nachdrücklich mit einem Sandsäckchen, das er einer silbernen Schatulle entnahm, und blies die verstreuten Körnchen vom Blatt. »Und hat dieser Haufe von Rebellen dann nicht eine größere Bedeutung?« sprach Loris hartnäckig weiter, indem er den anderen Erzbischof aus schmalen Lidern musterte. »Es heißt, daß Warin, der Anführer, sich selbst als einen neuen Messias ansieht, von Gott dazu ausersehen, das Land von der derynischen Geißel zu befreien. Begreift Ihr nicht, daß wir solches Zelotentum zu unserem Vorteil nutzen können?« Corrigan zupfte in tiefer Nachdenklichkeit an sei-
ner Unterlippe; dann runzelte er von neuem die Stirn. »Sollen wir selbsternannte Erlöser durchs Land ziehen und Unruhe stiften lassen, ohne sie in ausreichendem Maße im Zaume zu haben, Edmund? Für meine Begriffe sind diese Rebellen nichts als Ketzer.« »Bis jetzt habe ich ihnen noch keinen Freibrief erteilt«, sagte Loris. »Ich habe mich noch nicht einmal mit diesem Kerl namens Warin getroffen. Doch Ihr müßt zugeben, daß eine solche Bewegung äußerst wirksam sein könnte, wenn man ihr nur die richtige Wegweisung angedeihen läßt.« Loris lächelte. »Und vielleicht ist dieser Warin tatsächlich von Gott auserkoren.« »Das bezweifle ich.« Corrigans Miene verfinsterte sich. »Wie weit gedenkt Ihr diese Sache zu verfolgen?« Loris lehnte sich zurück und faltete die Hände in Hüfthöhe. »Der Hauptstützpunkt der Rebellen soll in den Bergen nahe Dhassa liegen, wo am Ende dieser Woche die Kurie zusammentritt. Gorony, den wir zum Bischof von Corwyn schicken, hat bereits mit den Rebellen in Verbindung gestanden, und wenn er seinen gegenwärtigen Auftrag erledigt hat, wird er sich nach Dhassa begeben. Ich hoffe darauf, daß er eine Begegnung mit dem Rebellenführer vermitteln kann.« »Und bis dahin sollen wir gar nichts unternehmen?« Loris nickte. »Nichts. Ich möchte vermeiden, daß unsere Pläne des Königs Aufmerksamkeit erregen, und...« Von der Tür ertönte ein gedämpftes Klopfen, worauf Corrigans Schreiber und ein älterer Mann von
unauffälligem Aussehen und im Reisekleid eines einfachen Priesters eintraten. Pater Hugh senkte den Blick und verneigte sich leicht, als er seinen Begleiter vorstellte. »Monsignor Gorony, Eure Exzellenz.« Gorony näherte sich Corrigans Lehnstuhl, ließ sich auf ein Knie nieder, um des Erzbischofs Ring zu küssen, und erhob sich auf Corrigans Wink, um erwartungsvoll zu verharren. »Meinen Dank, Pater Hugh«, sprach Corrigan. »Ich glaube, heute bedürfen wir Eurer nicht mehr.« Er wollte dem Pater schon ein Zeichen geben, daß er sich entfernen könne, da räusperte sich Loris; Corrigan sah zu ihm hinüber. »Die Amtsenthebung, wovon wir vor einem Weilchen sprachen, Patrick? Wir waren uns darin einig, daß der Mann zurechtgewiesen werden muß, oder?« »O ja, natürlich«, murmelte Corrigan. Er kramte kurz zwischen den Schriftstücken, die an einer Seite des Schreibtischs aufgestapelt waren, und zog schließlich einen Bogen hervor, den er über die Tischplatte Hugh hinschob. »Das ist der Entwurf einer Vorladung, die ich baldmöglichst benötige, Pater. Sobald das Dokument verfaßt ist, legt es mir zur Unterzeichnung vor.« »Jawohl, Exzellenz.« Während Hugh das Blatt nahm und zur Tür ging, wandte sich Corrigan an Gorony. »Das hier ist der Brief, welchen Ihr Bischof Tolliver überbringen sollt. Ein Flußboot liegt bereit, um Euch zum Freihafen Concaradine zu befördern, wo Ihr Euch bei einem Händler einschiffen könnt. Ihr dürftet innerhalb von drei Tagen in Corwyn sein.« Pater Hugh de Berry machte ein düsteres Gesicht, als
er die Tür von des Erzbischofs Arbeitszimmer schloß und durch den langen, von Fackeln erleuchteten Korridor den Weg zur Kanzlei einschlug. Der Korridor war kalt, feucht und zugig. Hugh schauderte und verschränkte im Gehen die Arme über der Brust, dieweil er insgeheim beratschlagte, was er tun sollte. Hugh war Patrick Corrigans persönlicher Vertrauter und hatte dank dieser Stellung Zugang zu Kenntnissen, die jemandem in so verhältnismäßig jugendlichem Alter gewöhnlich vorenthalten blieben; er war ein kluger Mann, wenn nicht gar ein hervorragender Kopf, und immer war er aufrichtig, verschwiegen und der Kirche vorbehaltlos treu gewesen, welcher er in der Person des Erzbischofs diente. Jüngst jedoch war sein Vertrauen ernstlich erschüttert worden – zumindest sein Vertrauen in den Mann, in dessen Dienst er stand. Sehr stark hatte dazu die Briefsache beigetragen, welche er am Nachmittag für Corrigan schreiben mußte. Beim Gedanken daran erschauderte Hugh erneut – aber diesmal nicht infolge der Kälte. Gwynedd war in Gefahr. Das war seit König Brions Tod bei Candor Rhea im vergangenen Herbst klar ersichtlich. Als Brions Erbe, der Jüngling Kelson, sich nur wenige Wochen später zum Kampf um den Thron gegen die abgrundtief schlechte Charissa gezwungen sah, war es für jedermann offenkundig. Und es fand auf schmerzliche Weise eine Verdeutlichung, wann immer Morgan, des Jünglings derynischer Beschützer, seine furchtbaren Kräfte aufbieten mußte, um das unvermeidliche Unheil aufzuschieben, das solchen Ereignissen, wie jedem bekannt war, auf den Fersen zu folgen pflegte. Und es würde folgen. Zum Beispiel war's kein Geheimnis, daß der de-
rynische Tyrann Wencit von Torenth das Königreich spätestens im Hochsommer in einen Krieg zu verwikkeln gedachte. Und der junge König mußte sich gewißlich der Unruhe bewußt sein, welche in seinem Königreich durch das Anwachsen derynifeindlicher Stimmungen entstand. Kelson hatte die volle Wucht dieser Abneigung unablässig zu spüren bekommen, seitdem sich aus Anlaß seiner im Herbst stattgefundenen Krönung seine halbderynische Herkunft enthüllte. Doch nun, da ganz Corwyn ein Kirchenbann drohte... Hugh preßte eine Hand an seine Brust, wo der ursprüngliche Entwurf von Corrigans Schriftstück auf seiner bloßen Haut ruhte. Er wußte, der Erzbischof könnte nicht billigen, was er zu tun beabsichtigte – er wäre in der Tat außer sich vor Wut, erführe er davon –, aber diese Sache war viel zu wichtig für den König, um ihn in Unkenntnis zu belassen. Kelson mußte gewarnt werden. Denn unterlag Corwyn wirklich einem Kirchenbann, geriet Morgan in einen Widerstreit seiner Pflichten, und zwar zu einem Zeitpunkt, da die Lage seinen ungeteilten Einsatz an des Königs Seite erforderte. Dadurch entstünde ein verhängnisvoller Einfluß auf des Königs und auch Morgans Pläne für die Kriegführung. Und obgleich Hugh in seiner Eigenschaft als Priester Morgans fürchterliche Kräfte schwerlich mit Nachsicht betrachten konnte, waren sie nichtsdestotrotz nun einmal eine Tatsache und wahrlich vonnöten, sollte Gwynedd den Ansturm überstehen. Hugh verhielt unter der Fackel neben der Tür zur Kanzlei und begann flüchtig den Briefentwurf in seiner Hand zu lesen, in der Hoffnung, ihn irgendeinem
seiner Untergebenen anvertrauen zu können. Während er des Erzbischofs für solche Briefe übliche Grußanrede überflog, schnappte er plötzlich nach Luft, als er den Namen des Empfängers las; dann zwang er sich dazu, ihn nochmals zu lesen: Monsignor Duncan Howard McLain. Duncan! dachte Hugh. Mein Gott, was hat er denn getan? Duncan McLain war des Königs junger Beichtvater und zudem Hughs Jugendfreund. Sie waren zusammen aufgewachsen, gemeinsam hatten sie die Schule besucht. Was konnte Duncan nur begangen haben, daß ein solches Strafgericht auf ihn niederfuhr? Aus Bestürzung die Stirn in Falten gelegt, las Hugh den Briefentwurf, und indem er ihn las, vertiefte sich seine Besorgnis. ›... mit sofortiger Wirkung enthoben... erteilen Euch den Befehl, vor unserem Kirchengericht zu erscheinen... Gründe zu nennen, die einen Tadel abwenden möchten... Euren Anteil an jenen Ärgernissen während der Königskrönung im vergangenen November... fragwürdige Machenschaften... Umgang mit Ketzern...‹ Mein Gott, dachte Hugh, außerstande zum Weiterlesen, auch er ist durch Morgan verderbt. Ob er darum weiß? Hugh ließ das Blatt sinken und traf seine Entscheidung. Offensichtlich mußte er sich zuerst an den König wenden. Das war bereits seine ursprüngliche Überlegung gewesen, und diese Angelegenheit war unzweifelhaft von allerhöchster Bedeutung für das gesamte Königreich. Danach jedoch mußte er sich zu Duncan begeben und ihn warnen. Stellte sich Duncan unter den gegenwärtigen Umständen dem Gericht des Erzbischofs zur Verfügung, konnte niemand ab-
sehen, was ihm widerfahren mochte. Vielleicht drohte ihm sogar die Exkommunikation. Bei dieser Vorstellung überlief Hugh ein Schauder, und er schlug das Kreuzzeichen. Denn die Möglichkeit der Exkommunikation war auf persönlicher Ebene ebenso schrecklich wie ein Kirchenbann für einen ganzen Landstrich. In beiden Fällen waren die Übeltäter von allen Sakramenten der Kirche und der Gemeinschaft der gottesfürchtigen Menschen ausgeschlossen. So weit durfte es mit Duncan nicht kommen. Hugh faßte sich innerlich, öffnete die Tür zur Kanzlei und ging ruhigen Schritts hinüber zu einem Pult, wo ein Mönch gerade einen Federkiel anspitzte. »Seine Exzellenz benötigt die Reinschrift dieses Schreibens so bald wie möglich, Bruder James«, erklärte er und legte den Entwurf behutsam aufs Pult. »Würdet Ihr Euch wohl dessen annehmen? Ich habe einige Erledigungen zu machen.« »Selbstverständlich, Pater«, antwortete der Mönch.
2 »Von Weisen stamme ich ab, von Königen der Vorzeit!« Jesaja 19,11 »Noch Wildbret, Sire?« Der Knappe in roter Tracht, welcher an Kelsons Seite kniete, hob ihm eine Platte mit Wildbret in Bratensoße entgegen, aber Kelson schüttelte sein Haupt und schob mit einem Lächeln den silbernen Teller beiseite. Sein karmesinrotes Gewand war am Hals offen, sein rabenschwarzer Schopf entbehrte jeglicher königlichen Zierde. Und seine nassen Stiefel hatte er schon vor Stunden gegen weiche, scharlachrote Pantoffeln getauscht. Er seufzte und streckte die Beine näher ans Feuer; zufrieden wackelte er mit den Füßen, während der Knappe das Wildbret wegstellte und die Tafel abzuräumen begann. Der junge König hatte an diesem Abend das Mahl in unhöfischem Rahmen eingenommen, ausschließlich in Gesellschaft von Duncan McLain und Prinz Nigel, seinem Onkel, welche nun mit ihm die Tafel in den königlichen Gemächern teilten. Soeben leerte auf der anderen Seite der Tafel Duncan die letzten Tropfen aus seinem ziselierten Silberbecher und setzte ihn bedächtig ab. Im blitzblanken Metall spiegelten sich Feuerschein und Kerzenflammen, warfen helle Flekken auf die Tafel und auf das mit Violett umsäumte Schwarz von Duncans Soutane. Der Priester sah seinen jungen Lehnsherrn an und lächelte; dann blickte
er hinter sich, wo Nigel sich abmühte, um das Siegel einer neuen Flasche Wein zu brechen. »Brauchst du Hilfe, Nigel?« »Nein, es sei denn, du kannst diesen Korken mit einem Gebet ziehen«, knurrte Nigel. »Freilich«, entgegnete Duncan und vollführte die Gebärde des Segnens. »Benedictus.« Genau in diesem Moment brach das Siegel, und der Korken schoß in einem Regen roten Weines aus dem Flaschenhals. Nigel fuhr rechtzeitig genug zurück, um der vollständigen Besudelung zu entgehen, und auch Kelson sprang aus seinem Sessel, ehe sich Wein über ihn verspritzen konnte, aber Nigels Behendigkeit vermochte nicht zu verhindern, daß die Tafel und der Wollteppich unter seinen Stiefeln in Mitleidenschaft gezogen wurden. »Heiliger Michael, du hättest mich nicht so beim Worte zu nehmen brauchen, Duncan«, rief der Prinz und lachte gutmütig, während er die Flasche, an der Wein herabtroff, über die Tafel hielt. Unterdessen tupfte der Knappe hastig den Teppich ab. »Aber ich hab's schon immer gesagt – trau keinem Pfaffen!« »Ich wollte gerade das gleiche von Prinzen sagen«, bemerkte Duncan, zwinkerte Kelson zu und sah den Jüngling ein Lächeln unterdrücken. Der Knappe Richard säuberte Kelsons Sessel und die Flasche, dann wrang er das Tuch überm Feuer aus und kam zurück, um die Tafel abzuwischen. Die Flammen flackerten und zischten, als der Wein verdampfte. Kelson nahm wieder Platz und hob Becher und Kerzenhalter, so daß Richard die Tafel rascher reinigen konnte. Als der im Jünglingsalter befindliche Knappe fertig war, füllte Nigel die drei Becher und stellte die Flasche
wieder ins Gestell nahe am Kamin. Nigel Cluim Gwydion Rhys Haldane war ein Mann von überaus ansehnlicher Gestalt. Mit seinen vierunddreißig Jahren war er ein ausgereiftes Abbild der Erscheinung, die sein königlicher Neffe in zwanzig Jahren bieten mußte; er besaß das gleiche breite Lächeln, die gleichen grauen Haldaneaugen, den scharfen Verstand, welcher jeden Haldane männlichen Geschlechts auszeichnete. Wie sein toter Bruder Brion war Nigel ein Haldane bis ins Mark, und seine Tapferkeit als Kriegsmann und seine Gelehrsamkeit waren in allen Elf Königreichen bekannt und fanden höchste Bewunderung. Als er sich wieder an die Tafel setzte und seinen Becher hob, strich seine Rechte in unbewußter Bewegung eine Strähne pechschwarzen Haars aus seiner Stirn, und Duncan verspürte angesichts dieser so vertrauten Geste eine Aufwallung von Wehmut. Vor nur wenigen Monden noch hatte man diese Handbewegung auch bei Brion beobachten können. Brion, dem Duncan für einen Großteil seiner neunundzwanzig Jahre in dieser und jener Weise gedient hatte. Brion, Opfer desselben Ringens von Weltanschauungen, die nun das Land zu spalten und die Elf Königreiche in einen Krieg zu stürzen drohten. Brion war dahingeschieden. Und sein vierzehnjähriger Sohn, im Besitz der Macht, die er von seinem ruhmvollen Vater geerbt hatte, übte die Herrschaft in merklicher Beunruhigung aus. Und die Spannung wuchs. Duncans düsteren Überlegungen widerfuhr eine Unterbrechung, als jemand die Tür zum äußeren Korridor öffnete. Als er aufblickte, sah er einen blutjungen Pagen in Kelsons karmesinroter Gesindetracht mit einer silbernen Schüssel eintreten, die fast so groß
wie der Knabe selbst war und dampfte. Über des Knaben Schulter lag ein schneeweißes Leinenhandtuch, und ein schwacher Duft nach Zitronen erreichte Duncans Nase, als der Page neben Kelson niederkniete und ihm die Schüssel darbot. Kelson nickte würdevoll dankend und tauchte die Finger ins warme Wasser, dann trocknete er seine Hände am Tuch. Der Knabe neigte schüchtern sein Haupt und trat dann zu Nigel, aber er wagte nicht den Blick zu der hochgewachsenen Gestalt in Königsblau zu erheben. Auch den Priester, als er sich an Duncans Seite begab, schaute er nicht an. Duncan suchte sein Lächeln zu verbergen, als er das Handtuch zurück auf des Knaben Schulter legte. Aber nachdem der Knabe das Gemach verlassen hatte, blickte er mit belustigtem Lächeln hinüber zu Nigel. »Ist das einer deiner Schützlinge, Nigel?« erkundigte er sich, obwohl er wußte, daß es sich in der Tat so verhielt. Nigel leitete die Ausbildung aller Pagen des königlichen Haushaltes, jedoch wußte Duncan, daß es sich bei diesem Knaben um einen besonderen Fall handelte. Nigel nickte voller Stolz. »Payne ist unser jüngster Page«, gab er zur Antwort. »Er hat noch viel zu lernen, aber das gilt eigentlich für jeden Pagen. Dies war seine erste Diensthandlung.« Kelson lächelte und griff nach seinem Kelchbecher; spielerisch drehte er den Stiel zwischen seinen langen Fingern, so daß die Facetten des geschliffenen Kristalls die Farben der Gewänder, des Feuers und der Wandteppiche widerspiegelten. »Ich erinnere mich daran, als ich ein Page war, Onkel. Und es ist ja noch gar nicht lange her. Das erste Mal, als du mir erlaubtest, meinen Vater an der Tafel zu bedienen, fürchtete
ich mich fast zu Tode.« Er stützte sein Haupt an die hohe Lehne, ehe er verträumt weitersprach. »Natürlich bestand überhaupt kein Grund zur Furcht. Er war derselbe Mensch und ich auch, und die Tatsache allein, daß ich in höfischer Tracht stak, hätte keinen Unterschied bewirken dürfen. Und doch tat sie's. Denn ich war kein Knabe, der seinem Vater ein paar Handreichungen machte – ich war ein königlicher Page, der den König bediente. Das ist ein großer Unterschied.« Er blickte Nigel an. »So hat auch Payne es heute abend empfunden. Obschon ich ihn von frühester Kindheit an kenne, mit ihm und anderen Knaben gespielt habe, begriff er den Unterschied. Heute abend war ich sein König – kein seit langem bekannter Spielgefährte. Ob's wohl immer so ist?« Der Knappe Richard, der auf der anderen Seite des Gemachs die Decken des Prunkbettes zurückgeschlagen hatte, näherte sich Kelson und verbeugte sich knapp. »Habt Ihr noch Befehle, Sire? Kann ich Euch irgend etwas bringen?« »Ich glaube, nein. Onkel? Pater Duncan?« Die beiden Männer schüttelten ihre Häupter, und Kelson nickte. »Das war alles für heute, Richard. Melde dich bei der Wache, ehe du gehst. Man soll ein Gespann bereitstellen, worin Pater Duncan später zur Basilika heimkehren kann.« »Das ist nicht erforderlich«, äußerte der Priester seinen Widerspruch. »Ich komme ohne weiteres zu Fuß heim.« »Und holt Euch den Tod durch eine Erkältung? O nein! In diese Nacht kann man weder Mensch noch Tier hinausschicken. Richard, für Pater Duncan wird eine Kutsche bereitgestellt. Verstanden?«
»Sehr wohl, Herr.« Nigel leerte seinen Becher und wies auf die Tür, als selbige sich hinter Richard schloß. »Das ist ein prachtvoller Jüngling, Kelson«, versicherte er und streckte den Arm aus, um die Flasche aus dem Gestell zu nehmen und sich erneut einzuschenken. »Bald ist er bereit für den Ritterschlag. Einer der prächtigsten Burschen, die jemals auszubilden ich das Vergnügen hatte. Dieser Meinung ist übrigens auch Alaric. Noch jemand?« Er hielt die Weinflasche in die Höhe, doch Kelson schüttelte sein Haupt. Duncan senkte den Blick in seinen Becher und sah ihn zur Hälfte leer; er hielt ihn Nigel zum Auffüllen entgegen. Als Nigel die Flasche wieder beiseite stellte, lehnte sich Duncan zurück und sprach laut seine Gedanken aus. »Richard FitzWilliam. Er ist jetzt ungefähr siebzehn, nicht wahr, Prinz?« »Fast achtzehn«, berichtigte Kelson. »Er ist der einzige Sohn von Baron Fulk Fritz William von der Kheldischen Pfalz. Ich beabsichtige, ihn und ein Dutzend weiterer Knappen zu Rittern zu schlagen, bevor wir in der Ostmark den Sommerfeldzug beginnen. Sein Vater wird hocherfreut sein.« Nigel nickte. »Einwandfrei ist er einer der tüchtigsten Knappen. Übrigens, was hört man Neues über Wencit von Torenth? Irgendwelche Nachrichten aus Cardosa?« »Seit drei Monden keine«, antwortete Kelson. »Du weißt, die Stadt verfügt über eine starke Besatzung, aber der Schnee wird die Verbindung wenigstens noch für ein paar Wochen unterbrochen halten. Sobald der Schnee fort ist, wird Wencit erneut vor den Toren stehen. Wir können keine Verstärkungen
schicken, ehe die Frühlingsüberschwemmungen sich verlaufen haben, und danach dürfte es zu spät sein.« »Also müssen wir Cardosa verloren geben.« Nigel seufzte und starrte in die Tiefe seines Kelchbechers. »Und der Vertrag wird nichtig«, fügte Duncan hinzu, »und der Krieg bricht aus.« Nigel zuckte die Achseln und begann mit einem Finger den Rand seines Bechers nachzuziehen. »War das nicht von Anfang an klar? Ohne Zweifel wußte Brion, warum er im vergangenen Sommer Alaric nach Cardosa sandte. Und als Brion starb, mußten wir Alaric zurückrufen oder dich dem Verhängnis überlassen, Kelson... nun, ich glaube noch immer, das war ein guter Tausch, eine Stadt gegen einen König. Außerdem haben wir Cardosa ja noch nicht verloren.« »Aber wir werden's verlieren, Onkel«, murmelte Kelson und senkte den Blick. »Und wieviel Menschenleben wird dieser Tausch kosten?« Er verklammerte seine Finger ineinander und betrachtete sie für einen Moment, bevor er weitersprach. »Bisweilen frage ich mich, Onkel, wie ich diese Menschenleben gegen mein Leben aufwiegen soll. Manchmal überlege ich, ob ich ihren Preis wert bin.« Duncan beugte sich zu ihm und berührte in einer Geste der Bestärkung seinen Arm. »Könige machen sich stets über solche Dinge Gedanken, Kelson. An dem Tag, da Ihr aufhört, Euch derartige Fragen zu stellen, aufs Abwägen der Menschenleben zu verzichten anfangt – an diesem Tag werde ich mich in Sack und Asche hüllen.« Der junge König hob seinen Blick mit verzerrtem Grinsen. »Ihr wißt immer, was Ihr zu sagen habt,
nicht wahr, Pater Duncan? Es mag keine Städte und keine Menschenleben retten, aber wenigstens das Gewissen des Königs besänftigen, der darüber entscheiden muß.« Erneut senkte er den Blick. »Verzeiht. Das klang sehr bitter, stimmt's?« Ein Pochen an die Tür unterbrach eine Erwiderung Duncans, und unmittelbar darauf kam der junge Richard FitzWilliam herein. Richards ebenmäßiges Antlitz bezeugte Anspannung, nahezu Beunruhigung, und seine dunklen Augen funkelten, als er eine zur Entschuldigung besonders tiefe Verneigung vollführte. »Eure Vergebung Sire, aber draußen wartet ein Priester, der hartnäckig darauf besteht, daß man ihn zu Euch vorläßt. Ich habe ihm gesagt, daß Ihr bereits zur Nacht zurückgezogen seid, aber er bleibt in höchstem Maße halsstarrig.« Bevor Kelson eine Antwort erteilen konnte, drängte sich ein Geistlicher in dunklem Umhang an Richard vorüber und eilte durch das Gemach, um sich zu Kelsons Füßen auf die Knie zu werfen. In Kelsons Faust lag plötzlich unauffällig ein Stilett, noch während der Mann sich näherte, und Nigel erhob sich halb aus seinem Sessel, indem er ebenfalls zur Waffe griff. Doch als des Eindringlings Knie den Boden berührten, stand bereits Richard über ihm, einen Arm im Würgegriff um des Mannes Kehle geschlungen, während die andere Hand einen Dolch an die Halsschlagader hielt und er ein Knie in des Mannes schmächtigen Rücken drückte. Der Fremdling schnitt aufgrund dieser rohen Behandlung eine Grimasse, unternahm jedoch keinerlei Anstalten zur Gegenwehr oder zur Feindseligkeit wider Kelson. Statt dessen breitete er
nach beiden Seiten seine Arme aus und bemühte sich, den Druck von Richards Arm auf seine Luftröhre nicht zu beachten. »Ich flehe Euch an, Sire, ich habe kein Übel im Sinn«, röchelte er und stöhnte gepreßt auf, als Richards kalte Klinge an seinen Hals rührte. »Ich bin Pater Hugh de Berry, Erzbischof Corrigans Vertrauter.« »Hugh!« rief Duncan und beugte sich erregt vor, als er den Mann erkannte; er winkte Richard, er möge ihn freigeben. »Alle Teufel, warum hast du das nicht sofort gesagt?« Beim Klang von Duncans Stimme riß Hugh die Augen weit auf, und nun starrte er seinen geistlichen Bruder flehentlich an; sein Blick verriet sowohl seine Furcht wie auch seine Entschlossenheit. Als Duncan sein Zeichen wiederholte, entließ Richard den Priester aus seinem Griff und trat einen Schritt zurück, aber seine Haltung blieb wachsam, und er schob den Dolch nicht in die Scheide. Nigel ließ sich achtsam zurück auf seinen Platz sinken, aber Kelson drehte noch das schmale Stilett zwischen den Fingern, das er beim Erscheinen des Priesters gepackt hatte. »Ihr kennt diesen Mann, Pater?« fragte Kelson. »Er ist jener, der zu sein er behauptet«, antwortete vorsichtig Duncan, »doch vermag ich nach einem solchen Eindringen schwerlich etwas über seine Absichten auszusagen. Welche Erklärung hast du vorzutragen, Hugh?« Mühsam schluckte Hugh, dann richtete er seinen Blick auf Kelson und neigte sein Haupt. »Ich bitte Euch um Vergebung, Sire, aber ich mußte zu Euch, da ich mich im Besitz gewisser Kenntnisse befinde, die ich keinem andern anzuvertrauen wagte, und...« Er
wagte nochmals zu Kelson aufzuschauen, dann zog er aus seinem feuchten Priesterrock ein gefaltetes Pergament. An den Schultern war sein schwerer, schwarzer Umhang dunkel vom Regen, und im Kerzenschein glitzerte sein gelichtetes braunes Haar von einem Schleier winziger Tröpfchen. Seine Finger zitterten, als er das Pergament Kelson überreichte. Er wandte seinen Blick erneut ab und faltete, um ihr Zittern zu verhehlen, seine Hände in den Ärmeln. Kelson runzelte die Stirn und steckte das Stilett zurück in die verborgene Unterarmscheide, ehe er das Pergament ausbreitete. Nigel schob einen Kerzenständer näher, und Duncan kam um die Tafel und schaute über des Jünglings Schulter. Des Priesters Antlitz verfinsterte sich, als er die Zeilen las, denn die Wendungen waren ihm vertraut, und dies Schriftstück erfüllte eine seiner häufigsten Befürchtungen. Indem er seinen Zorn bändigte, der heftig in seinem Innern aufloderte, richtete er sich auf und sah Richard an; seine blauen Augen leuchteten von innerem Aufruhr und Grimm. »Richard, warte draußen«, murmelte er, dann ließ er seinen Blick über Hughs geneigtes Haupt schweifen. »Ich stehe für diesen Mann ein.« »Sehr wohl, Pater.« Als sich hinter Richard die Tür schloß, kehrte Duncan zu seinem Sessel zurück und nahm ermattet wieder Platz. Über den Becher zwischen seinen Händen musterte er Hugh und merkte erst auf, als Kelson das Pergament gelesen hatte und es auf die Tafel legte. »Ich spreche Euch meinen Dank dafür aus, daß Ihr mir dies Schriftstück zur Kenntnis gegeben habt, Pater«, sprach Kelson und winkte Hugh, damit er sich
erhebe. »Und ich hoffe, Ihr hegt unter den gegenwärtigen Umständen dafür Verständnis.« »Selbstverständlich, Sire«, murmelte Hugh ermutigt. »Ihr konntet nicht wissen, wer und was ich bin. Ich danke Gott für Duncans Anwesenheit, welche die Folgen meiner Kühnheit mindert.« Duncan nickte; sein Blick war düster und verschleiert, aber es war offensichtlich, daß seine Gedanken nicht bei Hugh weilten. Seine Hände waren fest um den silbernen Becher vor ihm auf der Tafel gekrampft, so daß die Knöchel sich weiß abzeichneten. Kelson bemerkte anscheinend nichts davon, als er nochmals einen Blick auf das Pergament warf. »Ich vermute, dieser Brief ist mittlerweile unterwegs?« erkundigte er sich, und Hugh nickte zur Bestätigung. »Pater Duncan, bedeutet dies tatsächlich, was es nach meiner Auffassung bedeutet?« »Der Satan verdamme sie beide zu neun ewigen Qualen«, knirschte Duncan im Flüstertone. Dann blickte er mit einem Ruck auf, sich plötzlich dessen bewußt, daß er seinen Gedanken ausgesprochen hatte, und schüttelte sein Haupt, indem er zugleich seine Hände vom Becher löste; selbiger war nun nicht länger rund, sondern länglichrund wie ein Ei. »Um Vergebung, Sire«, murmelte er. »Es bedeutet, daß Loris und Corrigan sich nunmehr dazu entschlossen haben, gegen Alaric vorzugehen. Seit Monden habe ich damit gerechnet, daß sie zur Tat schreiten, aber nicht einmal im Traum hätte ich mir vorzustellen gewagt, sie könnten sich erfrechen, um der Handlungen eines Mannes willen ganz Corwyn mit einem Kirchenbann zu bedrohen.« »Nun, doch offenbar haben sie sich dazu erkühnt«,
stellte Kelson voller Mißbehagen fest. »Können wir ihnen in den Arm fallen?« Duncan nahm einen tiefen Atemzug und rang seinen Ingrimm nieder. »Nicht auf unmittelbare Weise. Wir müssen beachten, daß Loris und Corrigan in Alaric den Schlüssel zur Lösung der gesamten Derynifrage sehen. Er ist der hochstehendste Deryni, den man im Königreich jemals gekannt hat, und nie versuchte er zu verheimlichen, was er ist. Er hat mit der Anwendung seiner Fähigkeiten niemals geprahlt. Aber als Brion starb, zwang die Lage ihn dazu, sich unter aller Augen zu bekennen, und er mußte seine Kräfte aufbieten oder Euch ins Verderben gehen lassen.« »Für die Erzbischöfe ist Magie nun einmal schlecht und böse«, mischte sich Nigel drein, »und damit ist die Sache für sie erledigt. Auch dürfen wir nicht vergessen, daß Alaric sie zur Zeit der Krönung im letzten Herbst in mehrfacher Hinsicht zu Narren gemacht hat. Ich kann mir vorstellen, daß diese Tatsache für ihre jetzige Maßnahme nicht weniger den Ausschlag gegeben hat als alle möglichen hochtrabenden Beweggründe, welche sie anführen mögen.« Kelson erschlaffte auf seinem Platz und betrachtete den Rubinring an seinem rechten Zeigefinger. »Also ist's eine Fehde gegen die Deryni, oder? Pater Duncan, am Vorabend eines Krieges können wir uns keine Glaubensstreitigkeiten leisten. Was läßt sich tun, um ihr Treiben zu vereiteln?« Duncan schüttelte sein Haupt. »Ich weiß es nicht. Darüber muß ich erst mit Alaric sprechen. Hugh, was vermagst du uns ansonsten zu berichten? Wer überbringt den Brief? Auf welchem Wege?«
»Monsignor Gorony aus Loris' Gefolge«, gab Hugh prompt Auskunft. Seine Augen waren rund aus Staunen über die Dinge, welche er gerade gesehen und vernommen hatte. »Er fährt mit einer Eskorte Bewaffneter auf einem Kahn flußabwärts bis zum Freihafen Concaradine, und dort soll er sich auf einem Händler einschiffen.« »Gorony ist mir bekannt.« Duncan nickte. »Ist der Reinschrift des Briefes irgend etwas hinzugefügt worden? Irgendeine Mitteilung, die dieser Entwurf nicht enthält?« Er tippte mit einem gepflegten Zeigefinger auf das Pergament. »Nein, nichts«, antwortete Hugh. »Die endgültige Ausfertigung habe ich persönlich nach diesem Entwurf verfaßt.« Er wies auf das Pergament. »Und ich habe selber gesehen, wie sie beide das Schriftstück besiegelt und unterzeichneten. Freilich weiß ich nicht, was sie mit Gorony besprachen, nachdem ich gegangen war, und natürlich habe ich keine Ahnung, was sie ihm möglicherweise schon zuvor anvertraut haben.« »Das ist begreiflich.« Duncan ließ es bei dieser Aussage bewenden und nickte. »Sind dir noch andere Vorgänge zur Kenntnis gelangt, die wir ebenfalls wissen sollten?« Hugh blickte hinab auf seine Füße und rang die Hände. Denn in der Tat hatte er noch eine Mitteilung zu machen. Doch hatte er vorhin Duncans unerwarteten Zorn bemerkt, und nun wußte er nicht recht, wie er sich ausdrücken sollte. Welche Worte er auch wählte, es war keine Kunde, die sich leichthin aussprechen ließ. »Da... da ist noch etwas, daß du wissen solltest, Duncan.« Er schwieg für einen Moment, den
anderen Priester anzuschauen außerstande. »Ich hatte nicht gedacht, dich heute hier anzutreffen, aber... es ist eine andere Sache durch meine Hände gewandert. Sie... sie geht dich persönlich an, Duncan.« »Mich?« Duncan blickte hinüber zu Kelson und Nigel. »Sprich getrost. Hier kannst du völlig unbefangen reden.« »Es... es ist folgendes.« Hugh schluckte mit Mühe. »Duncan, Corrigan enthebt dich deines Priesteramtes. Er befiehlt dich zur Befragung vors Kirchengericht, da du deine Pflichten gröblich verletzt hättest. Wahrscheinlich soll das Verhör bereits in der morgigen Frühe stattfinden.« »Was?« Duncan erhob sich, ohne es selbst zu bemerken, und über der schwarzen Soutane war sein Antlitz plötzlich aschgrau. Hugh wagte nicht aufzublicken. »So ist's, wie sehr ich's bedaure, Duncan«, flüsterte er. »Offenbar glaubt der Erzbischof, du trügest die Verantwortung für einige der Zwischenfälle bei Seiner Majestät Krönung im vorigen Herbst.« Er sah Kelson an. »Um Vergebung, Sire.« Seine nächsten Worte richtete er wieder an Duncan. »Noch keine Stunde ist's her, da gab er mir seinen Entwurf der Vorladung und verlangte die Reinschrift so schnell wie möglich. Ich überließ die Anfertigung einem Untergebenen und begab mich unverzüglich auf den Weg zu Seiner Majestät, zugleich in der Absicht, danach dich aufzusuchen und zu warnen.« Endlich brachte er es über sich, seinen Blick zu Duncan zu heben. »Duncan, hast du wahrhaftig mit Magie zu schaffen?« fragte er mit Flüsterstimme. Duncan wandelte wie in Trance zum Kamin, die
blauen Augen geweitet, fast ausschließlich Augäpfel sichtbar. »Enthoben«, murmelte er ungläubig und mißachtete Hughs Frage. »Mein Gebieter, ich darf nicht hier sein, wenn man mir morgen die Vorladung aushändigen will. Nicht etwa, daß ich mich fürchtete – das wißt Ihr wohl. Aber wenn ich in dieser Zeit in Corrigans Gewahrsam gerate...« Voller Ernst nickte Kelson. »Ich verstehe Euch durchaus. Was empfehlt Ihr mir zu tun?« Duncan überlegte ein Weilchen, während er aufmerksam erst Nigel, dann wieder Kelson ansah. »Schickt mich zu Alaric, Sire. Er muß ohnehin vor der Gefahr des Kirchenbanns gewarnt werden, und an seinem Hof bin ich sicher vor Corrigan. Möglicherweise gelingt es mir sogar, Bischof Tolliver dergestalt zu beeinflussen, daß er für einen Aufschub der tatsächlichen Auferlegung des Kirchenbanns sorgt.« »Ich gebe Euch ein Dutzend meiner besten Mannen zum Geleit«, erteilte Kelson seine Zustimmung. »Und weiter?« Duncan schüttelte das Haupt, während er über ein mögliches Vorgehen nachsann. »Hugh, du sagtest, Gorony werde auf dem Seeweg reisen. Mit einem Schiff sind drei Tage erforderlich, vielleicht weniger, wenn stürmisches Wetter herrscht und man alle Segel setzt. Nigel, wie sind die Straßen zwischen Rhemuth und Alarics Residenz in dieser Jahreszeit?« »Scheußlich. Aber du müßtest früher als Gorony ankommen können, wenn du die Pferde wechselst. Außerdem ist das Wetter in südlicher Richtung ein wenig besser.« Duncan strich mit einer Hand müde durch sein kurzes, braunes Haar. »Nun denn, ich muß es wohl
oder übel versuchen. Zumindest bin ich außerhalb von Corrigans Gewalt, sobald ich die Grenze nach Corwyn überschritten habe. Bischof Tolliver war mir in der Vergangenheit stets freundschaftlich gesonnen. Ich bezweifle, daß er mich allein auf Goronys Wort hin einsperren läßt. Überdies besteht die Hoffnung, daß Gorony, sollte er auch vor mir eintreffen, um Corrigans Maßnahmen gegen mich gar nicht weiß.« »Dann sind wir uns also einig«, sprach Kelson, stand auf und nickte Hugh zu. »Pater, ich sage Euch meinen Dank für Eure Treue. Ihr sollt nicht ohne Lohn ausgehen. Aber ist's für Euch ungefährlich, nachdem Ihr uns solche Mitteilungen gegeben habt, in des Erzbischofs Palast zurückzukehren? Wenn Ihr's wünscht, stelle ich Euch unter meinen Schutz. Oder Ihr könntet Pater Duncan begleiten.« Hugh lächelte. »Ich danke Euch für Eure Besorgnis, Sire, aber ich glaube, ich diene Euch am besten, wenn ich weiterhin meinen Pflichten nachgehe. Man dürfte mich noch nicht vermißt haben, und womöglich vermag ich Euch zu einem späteren Zeitpunkt mehr zu berichten.« »Nun gut.« Kelson nickte. »Ich wünsche Euch das erforderliche Glück, Pater.« »Meinen Dank, Sire.« Hugh vollführte eine Verbeugung. »Duncan...« Er verharrte vor Duncan, ergriff dessen Hand und schaute ihm in die Augen. »Sei auf der Hut, mein Freund. Ich weiß nicht, was du getan hast, ich möchte es gar nicht wissen, aber meine Gebete werden mit dir ziehen.« Duncan schüttelte zur Ermutigung Hughs Schulter, und dann huschte Hugh hinaus. Sobald sich die Tür geschlossen hatte, nahm Duncan das Pergament zur Hand und faltete es
wieder zusammen; das trockene Knistern, welches dabei entstand, war das einzige Geräusch im Gemach. Nun, da er wußte, was er zu tun hatte, waren sein anfänglicher Zorn und Schrecken verflogen; aber er beobachtete sehr aufmerksam Kelson, als er das Schriftstück in seine violette Schärpe schob. Der Jüngling stand neben seinem Sessel und starrte die Tür an, ohne sie wirklich zu sehen, sich offenbar der Tatsache nicht länger bewußt, daß sich außer ihm andere Menschen im Raum aufhielten. Nigel saß noch Duncan gegenüber an der Tafel, doch anscheinend hatte auch er sich in die ureigene Welt seiner Gedanken verkrochen. Duncan nahm seinen Becher und leerte ihn; dabei bemerkte er die Verformung des Randes und begriff, daß er selbst das angerichtet haben mußte. Leise setzte er den Becher ab und heftete seinen Blick von neuem auf Kelson. »Wenn Ihr keine Einwände erhebt, mein Gebieter, so nehme ich Hughs Schriftstück mit. Alaric dürfte es sehen wollen.« »Ja, natürlich«, entgegnete Kelson, indem er sich seiner Benommenheit entriß. »Onkel, willst du so gut sein und die Männer für die Eskorte auswählen? Und teile auch Richard dazu ein. Pater Duncan mag eines so zuverlässigen Begleiters bedürfen.« »Gewiß, Kelson.« Nigel erhob sich mit katzenhafter Geschmeidigkeit und schritt zur Tür; im Vorbeigehen klopfte er Duncan auf die Schulter. Er schloß die Tür von draußen, und Duncan und Kelson waren allein im Gemach. Während Nigel sich entfernte, war Kelson an den Kamin getreten; er starrte eindringlichen Blicks in die Flammen, seine Stirn auf die am Kaminsims verschränkten Arme gestützt.
Duncan faltete die Hände auf dem Rücken und betrachtete mißbehaglich den Fußboden. Es gab Dinge, worüber nur er und Alaric jemals miteinander gesprochen hatten, und er spürte, daß es sich um etwas von dieser Art handelte, was den Jüngling nun bedrückte. Sofort war ihm aufgefallen, daß Kelson das abendliche Ereignis viel zu ruhig aufnahm, doch er wollte nicht das Wagnis eingehen, seinen Aufbruch zu lange hinauszuschieben. Unter Umständen gefiel es Corrigan, noch im Laufe der Nacht einen Boten mit der Vorladung auf den Weg zu schicken. Und je länger Duncan säumte, um so weiter eilte Gorony ihm mit dem verhängnisvollen Schreiben voraus. Gedämpft räusperte sich Duncan und sah, wie sich bei dem Laut Kelsons Schultern strafften. »Kelson«, sprach er den Jüngling leise an, »ich muß nun aufbrechen.« »Ich weiß.« »Soll ich... Alaric irgend etwas ausrichten?« »Nein.« Des Jünglings Stimme klang rauh und gepreßt. »Sagt ihm nur... sagt ihm...« Er wandte sich Duncan zu; sein Antlitz war bleich und gezeichnet von Verzweiflung. Bestürzt eilte Duncan an seine Seite, packte ihn an den Schultern und schaute tief in die weiten, von Furcht erfüllten Augen. Der Jüngling stand steif und kerzengerade, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt, nicht in trotziger Geste, sondern in einer Verkrampfung aus Furcht. Und die grauen Augen, die sich von unerbetenen Tränen verschleierten, waren nicht länger die Augen eines tapferen jungen Königs, der das Böse zertreten hatte, als es seinen Thron erklimmen wollte, sondern jene eines Kindes, das man zu früh und schon viel zu lange da-
zu zwang, in einer schwierigen Welt als Erwachsener zu handeln. All das erahnte Duncan innerhalb der Dauer kaum eines Herzschlages, und er sah voller Mitgefühl auf den Jüngling nieder. Trotz aller Reife des jungen Königs war er noch ein Jüngling von vierzehn Jahren – und überdies einer, der noch nicht das Fürchten verlernt hatte. »Ja, Kelson?« »Gebt acht, Pater«, flüsterte der Jüngling; seine Stimme bebte, da er in Tränen auszubrechen drohte. In stürmischer Aufwallung drückte Duncan den Jüngling an seine Brust und spürte, wie die stolzen jungen Schultern zuckten, als er sich der seltenen Erleichterung des Weinen ergab. Duncan streichelte das rabenschwarze Haar; der Jüngling entkrampfte sich, und sein ersticktes Schluchzen verstummte. In kurzer, doch trostreicher Umarmung drückte Duncan den Jüngling noch fester an sich, dann begann er leise zu ihm zu sprechen. »Ist's Euch angenehmer, wenn wir darüber reden, Kelson? Sieht man den Tatsachen ins Angesicht, sind sie meistens nicht länger so schlimm.« »Doch sind sie's«, schniefte Kelson; Duncans Schulter dämpfte seine Stimme. »Nun, nun, fürwahr, ich widerspreche ungern Königen, aber ich befürchte, diesmal irrt Ihr Euch, Kelson. Unterstellen wir einmal, es geschieht das Schlimmste, das überhaupt geschehen kann, und erwägen, was sich daraus ergibt.« »Gu-gut.« »Recht so. Also – was schwebt Euch vor?« Kelson wich ein wenig zurück und schaute zu Duncan auf, dann wischte er sich die Augen und
kehrte sich wieder zum Kamin, noch immer im Schutz von Duncans Arm, der auf seinen Schultern ruhte. »Was...« Er flüsterte; seine Stimme bebte. »Was wird sich ereignen, falls man Euch und Alaric ergreift, Pater?« »Hmmm, das hängt davon ab, wann und von wem wir ergriffen werden«, entgegnete Duncan leichten Mutes, darum bemüht, dem Jüngling Zuversicht einzuflößen. »Angenommen, durch Loris?« Duncan dachte über die Frage nach. »Na, zweifellos müßte ich erst einmal vorm Kirchengericht Rede und Antwort stehen. Kann selbiges mir etwas nachweisen, was noch fraglich ist, liegt es in dessen Befugnis, mich der Priesterwürde zu entledigen und aus dem geistlichen Stande zu verstoßen. Es wäre sogar möglich, daß man mich exkommuniziert.« »Und sollte man herausfinden, daß Ihr ein Halbderyni seid?« bedrängte der Jüngling den Priester. »Würde man Euch zu töten versuchen?« Nachdenklich hob Duncan eine Braue. »Das gefiele dem Kirchengericht, käme es dahinter, mit Gewißheit ganz und gar nicht«, versicherte er und verweilte bei diesen Erwägungen. »Sollte das eintreten, werde ich, so nehme ich an, ganz bestimmt exkommuniziert. Aber das ist auf jeden Fall ein guter Grund für mich, daß ich mich nicht erwischen lasse. Es wäre, gelinde gesagt, höchst peinlich.« Kelson lächelte trotz seiner Niedergeschlagenheit. »Peinlich. Ja, ich glaube, das wäre es wirklich. Seid Ihr zu töten imstande, falls man Euch aufhält?« »Ich zöge es vor, davon absehen zu können«, versetzte Duncan zur Antwort. »Ein weiterer Grund,
mich schleunigst aus dem Staub zu machen.« »Und was ist mit Alaric?« »Alaric?« Duncan hob die Schultern. »Darauf läßt sich schwer antworten, Kelson. Bis jetzt ist Loris anscheinend Ruhe zu geben bereit, wenn Alaric sich reuig zeigt. Alaric müßte seinen Kräften abschwören und einen Eid leisten, daß er sie niemals wieder benutzt, dann dürfte Loris von dem Kirchenbann Abstand nehmen.« »Alaric wird sich niemals unterwerfen«, behauptete Kelson hitzig. »Davon bin ich auch überzeugt«, pflichtete Duncan ihm bei. »In diesem Fall wird Corwyn der Kirchenbann auferlegt, und es kommt nicht allein zu religiösen Verwicklungen, sondern ebenso zu inneren Schwierigkeiten weltlicher Natur.« Verblüfft blickte Kelson auf. »Was für Schwierigkeiten?« »Nun, da Alaric, für alle Welt sichtbar, die Ursache des Kirchbanns ist, werden sich Corwyns Männer wahrscheinlich weigern, wenn der Sommerfeldzug beginnt, unter seinem Banner ins Feld zu ziehen, und dadurch verliert Ihr schätzungsweise ein Fünftel Eures gesamten Aufgebotes. Man wird Alaric exkommunizieren und mich dazu, dessen bin ich sicher. Und das rückt Euch weiter in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung.« »Mich? Wie das?« »Ganz einfach. Sobald Alaric und meine Wenigkeit in Acht und Bann stehen, begleitet uns die Exkommunikation wie eine Pest. Jedermann, der sich mit uns verbindet, fällt selber unter den Bannfluch. So verbleiben Euch zwei Möglichkeiten. Ihr könnt Euch
dem Willen der Erzbischöfe beugen und Alaric und mich verstoßen – und müßt dann, wenn der Krieg ausbricht, auf Euren besten Heerführer verzichten. Oder Ihr stellt Euch gegen die Erzbischöfe und erhaltet Euch Alaric – in welchem Falle Ihr damit rechnen dürft, daß alsbald ganz Gwynedd unterm Kirchenbann schmachtet.« »Das wagten sie nicht!« »Ach, mit Verlaub, sie täten's wagen. Bis heute hat Eure hohe Stellung Euch gleichsam unantastbar gemacht, Kelson. Doch ich fürchte, auch damit wird's binnen kurzer Frist vorbei sein. Dafür hat Eure Mutter gesorgt.« Kelson neigte sein Haupt, als er sich des Streitgesprächs entsann, das vor einer Woche stattgefunden hatte – als seine Mutter, wiewohl vielleicht unwissentlich, den Geschehnissen, welche sich nun entwikkelten, den Weg bereitete. »Aber ich verstehe nicht, warum du so weit fort willst«, erklärte Kelson. »Warum nach St. Giles? Du weißt, daß es von dort aus nur ein Ritt von wenigen Stunden bis zur Ostmarkgrenze ist. In einigen Monden dürfte es dort zu schweren Kämpfen kommen.« Gelassen setzte Jehana das Packen fort, wählte aus ihrem Kleiderschrank Gewänder und reichte sie einer Hofdame, welche sie in eine mit Lederriemen verstärkte Truhe stapelte. Sie befand sich noch in Trauer um ihren toten Gemahl, denn seit Brions Tod waren erst vier Monde verstrichen. Doch ihr herrliches Haupt war unbedeckt, das lange nußbraune Haar fiel glatt und dicht wie ein rotgoldener Wasserfall auf ihren Rücken, nur von einer schlichten goldenen Span-
ge im Nacken gehalten. Sie drehte sich um und sah Kelson an, hinter dem mit finsterer Miene Nigel stand, dann wandte sie sich wieder ihrer Tätigkeit zu, äußerlich gänzlich ruhig und leidenschaftslos. »Warum St. Giles?« meinte sie. »Ich glaube, ich möchte deshalb dahin, weil ich dort schon einmal für ein paar Monde verweilte, Kelson – vor deiner Geburt. Es... es ist notwendig, daß ich mich dorthin zurückziehe, wenn ich dazu in der Lage sein soll, künftig allein zu leben.« »Ein Dutzend anderer Orte gibt's, wo du sicherer wärst, wenn du schon das Gefühl hast, unbedingt in die Abgeschiedenheit gehen zu müssen«, sprach Nigel, während er in ständig wiederholter Bewegung, wohl ein Ausdruck seiner Bestürzung, eine Falte seines dunkelblauen Umhangs spannte und lockerte. »Wir werden bald genug Sorgen haben, auch wenn wir uns nicht unaufhörlich zu fragen gezwungen sind, ob eine Schar Häscher dich inzwischen verschleppt hat – oder dir Schlimmeres angetan.« Jehana lächelte und schüttelte sanft das Haupt; sie schaute dem Königlichen Herzog in die Augen. »Lieber Nigel, mein Freund und Bruder, wie kann ich's dir nur begreiflich machen? Ich muß fort. Und ich muß nach Shannis Meer. Bliebe ich hier, mit dem Wissen darum, was bevorsteht, daß Kelson seine Kräfte einsetzt, wann und wo er's muß, ich könnte in Versuchung geraten, meine eigenen Fähigkeiten anzuwenden, um ihn daran zu hindern. Ich bin mir dessen bewußt, daß ich das unmögliche wagen kann – nicht, wenn er am Leben bleiben soll. Und doch, mein Herz, meine Seele, alle Lehren, die man mir beigebracht hat – all das sagte mir, daß es ihm nicht erlaubt
sein darf, diese Kräfte zu benutzen, gleichwohl unter welchen Umständen, da sie verderbt sind und von böser Natur.« Sie wandte sich an Kelson. »Bliebe ich, Kelson, womöglich würde ich dich vernichten.« »Könntest du das wirklich und wahrhaftig, Mutter?« flüsterte Kelson. »Könntest du, eine reinblütige Deryni, magst du auch zur Mißachtung dieser Tatsache geneigt sein, wahrhaftig deinen eigenen Sohn vernichten, weil die Umstände ihn zur Anwendung der Kräfte zwingen, die du selbst ihm geschenkt hast?« Jehana fuhr zusammen wie unter einem heftigen Hieb; sie kehrte Kelson den Rücken zu und stützte sich schwer auf einen Lehnstuhl, das Haupt gesenkt, während sie darum rang, das Beben ihres Körpers zu unterbinden. »Kelson«, begann sie von neuem, und ihre Stimme klang schwach und kindlich, »kannst du mich nicht begreifen? Ich mag eine Deryni sein, aber ich fühle mich nicht wie eine Deryni. Ich fühle mich wie ein Mensch. Ich denke wie ein Mensch. Und als Mensch hat man mich mein Leben lang gelehrt, daß es böse und schlecht sein heißt, ein Deryni zu sein.« Sie wandte sich wieder Kelson zu; ihre Augen waren geweitet und erfüllt von Furcht. »Und wenn jene Menschen, die ich am meisten liebe, Deryni sind, Derynikräfte verwenden – Kelson, siehst du denn nicht ein, daß das mich zerreißen muß? Mich peinigt die verzweifelte Furcht, Kelson, daß erneut Menschen gegen Deryni antreten werden, so wie es vor zweihundert Jahren geschah. Ich glaube, ich kann's nicht ertragen, dazwischen zu stehen.« »Du stehst bereits inmitten des Gegensatzes«, warf Nigel schroff ein, »ob's dir beliebt oder nicht. Und
kommt's dann tatsächlich zum neuerlichen Streit zwischen Menschen und Deryni, weißt du nicht einmal, auf welche Seite du gehörst.« »Darüber besitze ich Klarheit«, flüsterte Jehana. »Warum also willst du St. Giles aufsuchen?« sprach Nigel zornig weiter. »Die Abtei liegt in Erzbischof Loris' Amtsbereich. Glaubst du, er vermöchte dir bei der Lösung deines inneren Widerspruchs zu helfen – ein Erzbischof, der für seine Deryniverfolgungen im Norden berüchtigt ist? Er wird binnen kurzem zur Tat schreiten, Jehana. Er kann keinesfalls noch länger so tun, als sei anläßlich der Krönung überhaupt nichts geschehen. Und wenn er zu handeln beginnt, dürfte nicht einmal Kelsons Stellung, wie ich überzeugt bin, ihn noch lange schützen können.« »Du vermagst meinen Sinn nicht zu ändern«, entgegnete Jehana mit mühsam beherrschter Stimme. »Ich reise noch heute nach Shannis Meer ab. Ich beabsichtige, bei den Schwestern von St. Giles zu fasten und zu beten, in der Hoffnung, daß ich auf diese Weise Erleuchtung erhalte. Gegenwärtig, Nigel, bin ich gar nichts, weder Mensch noch Deryni kann ich sein. Und bevor ich erkenne, was ich bin, hat von mir niemand einen Nutzen.« »Für mich bist du von Nutzen, Mutter«, sprach Kelson ruhig und sah sie aus seinen grauen Augen an, die seinen Schmerz bezeugten. »Ich bitte dich, bleib.« »Ich kann's nicht«, flüsterte Jehana und unterdrückte ein Schluchzen. »Wenn... wenn ich's dir als dein König befehle«, erkundigte sich Kelson mit zittriger Stimme, und die Muskeln seines Halses zuckten, als er seine Tränen
niederrang, »würdest du dann bleiben?« Jehana versteifte sich für einen Moment, Schmerz bewölkte ihre Augen, und sie wandte sich ab; ihre Schultern bebten. »Beharre nicht auf einer Antwort, Kelson«, vermochte sie schließlich zu wispern. »Bitte zwinge mich nicht zu antworten.« Kelson wollte sich ihr nähern, um sie weiter zu bedrängen, aber Nigel legte einen Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf. Er winkte Kelson, daß er ihm folgen solle, ging zur Tür, öffnete sie leise und wartete, bis Kelson sich widerwillig zu ihm gesellte. Doch beider Männer Schritte fielen langsam und schwerfällig, als sie die Kammer verlassen hatten; und das hohle Schluchzen, das dann hinter der wieder geschlossenen Tür erscholl, hallte noch immer in Kelsons Bewußtsein wider. Kelson schluckte schwer und starrte in die Flammen des Kamins. »Glaubt Ihr, die Erzbischöfe gedenken sich gegen mich zu wenden?« »Für eine Weile vielleicht nicht«, lautete Duncans Antwort. »Bisher haben Sie's vorgezogen, die Tatsache zu übersehen, daß Ihr selbst gar auch Deryni seid. Aber sie werden gewiß nicht länger darüber hinwegsehen, wenn Ihr Euch gegen den Kirchenbann stellt.« »Ich könnte sie auslöschen«, murmelte Kelson, die Lider schmal, seine Hände zu Fäusten geballt, als er sich auf seine Fähigkeiten besann. »Aber Ihr werdet's nicht tun«, stelle Duncan mit Nachdruck fest. »Denn würdet Ihr Eure ganze Gewalt wider die Erzbischöfe kehren – mögen sie's nun verdient haben oder nicht –, gälte das in den Elf Königreichen als letztendlicher Beweis dafür, daß die De-
ryni tatsächlich Kirche und Königtum zu stürzen gedenken und eine neue Derynityrannei einzurichten beabsichtigen. Diese Verdächtigung müßt Ihr als Lüge entlarven, indem Ihr um jeden Preis einen Zusammenprall vermeidet.« »Dann geht's um ein Gleichgewicht zwischen mir und der Kirche, Pater?« »Nicht der Kirche, mein Gebieter.« »Nun gut, dann den Männern, welche die Kirche leiten. Das ist das gleiche, oder?« »Keineswegs.« Duncan schüttelte das Haupt. »Nicht die Kirche ist's, die wir bekämpfen, obwohl es auf den ersten Blick so wirken mag. Wir bekämpfen einen Wahn, Kelson. Den Wahn, daß Anderssein böse ist. Daß Menschen schlecht seien, weil sie mit außergewöhnlichen Kräften und Begabungen zur Welt kamen, ganz gleichgültig, für welche Zwecke sie ihre Fähigkeiten verwenden. Wir kämpfen gegen die törichte Vorstellung, ein Mensch wäre verantwortlich für den Zufall seiner Geburt. Gegen die Einstellung, daß ein ganzer Stamm, weil einige wenige Menschen vor mehr als dreihundert Jahren im Namen selbigen Stammes schwere Verfehlungen begingen, verdammt sein soll und für immer unter den Folgen leiden, Geschlecht um Geschlecht. Das ist's, wogegen wir streiten, Kelson. Corrigan, Loris, selbst Wencit von Torenth – sie sind nur Bauern in einem höheren Ringen um den Beweis, daß ein Mensch einen Wert um seiner selbst willen besitzt, aufgrund dessen, was er mit seinem Leben beginnt, ob er sich für Gut oder Böse entscheidet, wofür er seine Befähigungen, welcher Art sie auch sein mögen, nutzbar macht. Leuchtet Euch das ein?«
Kelson lächelte schuldbewußt und senkte seinen Blick. »Ihr habt soeben wie Alaric gesprochen. Oder wie mein Vater. Er pflegte ebenfalls so zu reden.« »Er wäre sehr stolz auf Euch, Kelson. Ihm widerfuhr ein großes Glück, einen solchen Sohn wie Euch zu haben. Hätte ich einen Sohn...« Er sah auf Kelson herab, und sie wechselten einen Blick. Dann drückte Duncan zur letztmaligen Ermutigung des Jünglings Schultern und kehrte zurück zur Tafel. »Ich breche nun auf, Gebieter. Alaric und ich werden keine Mühe scheuen, um Euch über unsere Fortschritte oder deren Ausbleiben zu unterrichten. Stützt Euch unterdessen auf Nigel. Vertraut ihm. Und was Ihr auch unternehmt, verstört nicht die Erzbischöfe, bis Alaric und ich dazu die Zeit haben, ihnen mit List zu begegnen.« »Sorgt Euch nicht, Pater.« Kelson lächelte. »Ich werde nichts überstürzen. Ich fürchte mich nicht länger.« »Solange Ihr Euch nicht von Eurem Haldanegrimm überwältigen laßt, ist's gut«, mahnte Duncan und lächelte seinerseits. »Wir sehen einander in etwa einer Woche in Culdi wieder. Der Herr behüte Euch, Gebieter.« »Auch Euch, Pater«, flüsterte Kelson, als der Priester durch die Tür entschwand.
3 Ich bin ein Mensch; ich behaupte, daß nichts Menschliches mir fremd ist. Terenz »Und dank guten Wetters liegt der Gesamtertrag zweimal höher als die Ernte des vergangenen Jahres. Damit schließt seine Abrechnung Euer William, Vogt der Herzoglichen Besitzungen in Donneral, gegeben im März des fünfzehnten Jahres Seiner Herzöglichen Gnaden, Herrn Alaric von Corwyn.« Herr Robert von Tendal blickte vom Dokument auf, das er verlesen hatte, und runzelte die Stirn, als er seinen Brotherrn ansah. Der Herzog starrte durchs Fenster der Sonnenhalle hinab in den dürren Garten, und seine Gedanken weilten meilenweit entfernt. Seine Füße ruhten in ihren Stiefeln auf einer grünen Lederfußbank, und sein blondes Haupt lag an die hohen Rückenlehne des mit Schnitzereien verzierten Sessels gestützt. Aus der Miene des jüngeren Mannes war eindeutig ersichtlich, daß er nicht zugehört hatte. Herr Robert versuchte es mit einem Räuspern, konnte jedoch keinen Erfolg verzeichnen. Er spitzte die Lippen und musterte den Herzog gedankenvoll einen weiteren Moment lang, dann nahm er die Rolle mit dem Schreiben, das er soeben vorgelesen hatte, und ließ sie aus ungefähr zwei Fuß Höhe einfach fallen. Ihr Aufprall hallte in der kahlen Räumlichkeit wider, die Dokumente und Abrechnungsrollen auf dem Tisch raschelten, und der Herzog schrak aus seiner
Andacht. Ruckartig blickte Herzog Alaric Anthony Morgan auf und suchte vergeblich sein einfältiges Grinsen zu verdrängen, als er erkannte, daß man ihn beim Tagträumen ertappt hatte. »Euer Gnaden, Ihr habt nicht ein Wort davon vernommen«, murmelte Robert vorwurfsvoll, »das ich Euch dargelegt habe.« Morgan schüttelte sein Haupt und lächelte, während er sich mit träger Hand übers Antlitz strich. »Habt Nachsicht, Robert. Ich dachte an etwas anderes.« »Offensichtlich.« Dieweil Robert die Dokumente wieder zurechtschob, welche sein einschneidendes Aufbegehren in Unordnung gebracht hatte, stand Morgan auf und reckte sich. Unbewußt pflügte er eine Hand durch sein kurzes, da erst jüngst gestutztes Blondhaar, schaute sich in der Sonnenhalle um, die nur eine kärgliche Einrichtung aufwies, und setzte sich von neuem in seinen Sessel. »Also...« Er seufzte, beugte sich vor und tippte mit einem beringten Zeigefinger in halbherzigem Interesse auf das Pergament. »Wir waren beschäftigt mit den Aufstellungen aus Donneral, nicht wahr? Machen sie einen ordnungsgemäßen Eindruck?« Robert rückte seinen Stuhl um ein Stückchen zurück und legte seine Feder hin. »Natürlich sind sie in Ordnung, Alaric. Aber wir müssen, wie Ihr wißt, ihre Richtigkeit in aller Form feststellen. Diese Abrechnungen betreffen einen beträchtlichen Teil Eures Landbesitzes – einen Teil, den Ihr in Kürze als Bestandteil von Lady Bronwyns Mitgift verlieren werdet. Und wenn Ihr und Herr Kelvin daran gewöhnt seid, in solchen Angelegenheiten auf das gegenseitige Wort zu vertrauen, so gilt das doch nicht für Kevins
Vater, den Herzog.« »Kevins Vater, der Herzog, vermählt sich auch nicht mit meiner Schwester«, erwiderte Morgan. Er musterte Robert von der Seite; ein langer Moment verstrich, ehe er seinen breiten Mund zu einem Lächeln lockerte. »Kommt, Robert, seid ein Freund und entlaßt mich für den Rest des Tages aus dieser Pflicht. Ihr und ich, wir wissen beide, daß die Abrechnungen stimmen. Wenn Ihr's mir nicht ersparen wollt, sie persönlich alle anzusehen, dann laßt uns das Vorhaben wenigstens auf morgen verschieben.« Robert gab sich alle Mühe, um sehr ernst und voller Mißbilligung dreinzuschauen, aber schließlich gab er nach und breitete resigniert die Arme aus. »Nun gut, Euer Gnaden«, sprach er und raffte seine Abrechnungsrollen und Zählbogen zusammen. »Aber als Euer Kanzler bin ich gezwungen, mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß es bis zur Vermählung nur noch zwei Wochen sind. Und morgen haltet Ihr Hof, der Gesandte aus dem Hort des Orsal findet sich ein, Herr Henry de Vere möchte wissen, was Ihr wider Warin de Grey zu unternehmen gedenkt, und...« »Ja, gewiß, Robert; morgen, Robert«, unterbrach ihn Morgan mit der unschuldigsten Miene, zugleich kaum ein Grinsen des Triumphes zu unterdrücken imstande. »Doch nun entschuldigt Ihr mich, ja?« In stummem Stoßgebet, womit er Geduld erflehte, hob Robert die Augen himmelwärts, dann winkte er mit ergebener Geste ab. Morgan sprang auf und verneigte sich in einer Anwandlung von spöttischer Geziertheit, dann machte er auf dem Absatz kehrt und strebte aus der Sonnenhalle in den benachbarten Hauptsaal. Robert sah ihm nach und entsann sich des
schlanken, struwwelköpfigen Knaben, aus dem dieser Mann geworden war – der Herzog von Corwyn, Königlicher Feldmarschall, Königlicher Kämpe... und ein halbderynischer Magier. Beim letzteren Gedanken bekreuzigte Robert sich verstohlen, denn Morgans derynisches Erbteil war eine Eigenheit der Familie Corwyn, welcher er sein Leben lang gedient hatte, woran er am liebsten gar nicht dachte. Die Corwyns, so mußte er zugeben, waren jedoch immer gut zu ihm gewesen. Seine Familie, die Herren von Tendal, besaß die Erbkanzlerschaft von Corwyn schon seit nunmehr zweihundert Jahren, seit der Zeit vor der Restauration. Und während all dieser vielen Jahre waren die Herzöge von Corwyn stets gerechte und ehrenwerte Herren gewesen, wiewohl sie Deryni waren; Robert urteilte streng sachlich und sah daher keinen Anlaß zur Klage. Natürlich mußte er sich bisweilen mit Morgans sonderlichen Launen herumschlagen, so wie heute. Doch das gehörte zu ihrem stillschweigend vereinbarten Spiel. Wahrscheinlich hatte der Herzog, wenn ihm daran lag, die Prüfung der Abrechnungen aufzuschieben, einen guten Grund. Und doch, es wäre fein, gelegentlich selbst die Oberhand zu haben... Robert sammelte die Dokumente ein und lagerte sie ordentlich in einem Schränkchen am Fenster. Tatsächlich war es nur gut, daß der Herzog die Abrechnungsprüfung vertagt hatte. Morgan hatte es nach aller Wahrscheinlichkeit bereits vergessen, aber am Abend sollte im Hauptsaal ein großes Bankett stattfinden. Und wenn er, Robert, sich nicht um die Vorbereitungen kümmerte, mußte daraus ein schmählicher Reinfall werden. Morgan war geradezu verrufen, förmliche Feierlichkeiten zu vermeiden, wenn sie
sich nicht als unbedingt notwendig erwiesen. Und die Tatsache, daß eine Anzahl von Damen in heiratsfähigem Alter anwesend sein würde, wovon jede überaus heftiges Verlangen verspürte, die nächste Herzogin von Corwyn zu werden, eignete sich nicht eben zur Überwindung von des Herzogs Widerwillen. Robert rieb sich die Hände und pfiff wohlgemut leise vor sich hin, während er auf dem gleichen Wege wie Morgan den Hauptsaal betrat. Nach der langweiligen Tätigkeit des Nachmittags sollte es ihm ein besonderes Vergnügen sein, zu beobachten, wie sich Morgan an diesem Abend unterm Andrang der Damen wand. Robert konnte es kaum erwarten. Morgan hielt gewohnheitsmäßig über den Hof Ausschau, als er den Hauptsaal verließ. Auf der anderen Seite befanden sich die Ställe, und er sah einen Stallbuben neben einem mächtigen nußbraunen Streitroß einherlaufen, einem der R'Kassan-Hengste, welche Händler des Hortes in der vorangegangenen Woche brachten. Das riesige Pferd schritt kaum eiliger als im Trott aus, aber jeder Schritt maß drei oder vier Schritte des Knaben. Und an der linken Seite unterhielten sich vor der Schmiede Morgans junger Leutinger, Herr Sean Derry, und der Hufschmied James, anscheinend darum bemüht, sich darüber zu einigen, wie man das Tier am besten beschlug. Derry sah Morgan und hob zum Gruß die Hand, doch er unterbrach nicht seine Auseinandersetzung mit dem Schmied. Für den jungen Derry waren Pferde eine wichtige und ernste Sache. Er hielt sich, was Pferde anging, für einen Kenner; und er war es in der Tat. Folglich ließ er sich von einem gewöhnlichen Huf-
schmied nicht überreden. Morgan war froh darum, daß Derry sich nicht zu ihm gesellte. Wie scharfsinnig der junge Markgraf auch war, er verstand nicht immer die Launen seines Kriegsherrn. Und wie sehr Morgan auch Derrys Gesellschaft zu genießen pflegte, gegenwärtig war ihm nicht nach Unterhaltung zumute. Aus eben diesem Grund hatte er sich auch Herrn Roberts Abrechnungsprüfung entzogen, bei erster Gelegenheit die frische Luft gesucht. Am Abend sollte noch genug Druck und Verantwortung auf ihm lasten. Er kam an eine Seitenpforte zur Linken des Hauptsaals und trat hindurch. Die Gärten waren noch leblos vom langen Winter, doch das bedeutete lediglich, daß er voraussichtlich einmal für ein Weilchen allein sein durfte. Er sah im äußersten Winkel der linken Seite, in der Nachbarschaft der Ställe, einen Mann die Falkenkäfige reinigen, aber er wußte, daß ihm von diesem Mann keine Störung drohte. Der Falkner Miles war stumm – wiewohl seine Augen und Ohren, als ob zum Ausgleich seines Gebrechens, doppelt scharf waren –, und der Alte zog der menschlichen Sprache das Schnalzen und Flöten seiner Falken vor, welches er nämlich nachzuahmen vermochte Er scherte sich nicht um einen einsamen Herzog, der sich in die Abgeschiedenheit der verlassenen Gärten flüchtete. Langsam begann Morgan einen Pfad hinabzuwandeln, der fort von den Käfigen führte, seine Hände auf dem Rücken verklammert. Der Ursprung seiner heutigen Rastlosigkeit war ihm durchaus bewußt. Teilweise war sie bedingt durch des Reiches Notlage, die Kelsons im vergangenen Herbst errungener Sieg über die Schattenwalküre nur hinausgezögert, aber nicht behoben hatte. Charissa
war tot, und ebenso ihr Mitverschworener, der Verräter Ian; aber indessen bereitete sich ein noch schrecklicherer Widersacher darauf vor, an ihre Stelle zu treten – Wencit von Torenth, dessen Spähtrupps man bereits in den nordöstlichen Bergen gesehen hatte. Und Cardosa – das war für sich allein ein schwieriger Fall. Sobald Wencit den Schnee durchqueren konnte – was alsbald eintreten mußte –, würde er erneut vor den Toren der Bergstadt stehen. Nach der ersten Woche der Frühjahrsüberschwemmungen ließ der Hochpaß östlich von Cardosa sich verhältnismäßig leicht überqueren. Im Westen dagegen, woher allein Verstärkung heranzuziehen vermochte, war der Cardosa-Paß vom März bis zum Mai ein wilder Sturzbach. Cardosa konnte keine Unterstützung bekommen, bis das Tauwetter fast vorüber war – und das war's erst in zwei Monden. Doch dann würde es zu spät sein. Morgan verharrte an einem der spiegelblanken Teiche des gleichsam ausgestorbenen Gartens und starrte versonnen in des Wassers Tiefe. Die Gärtner hatten des Winters trostlose Überbleibsel weggeräumt und den Teich rundum gepflegt und mit neuem Getier aufgefüllt, so daß bereits wieder schleierschwänzige Goldfische und winzige Kaulquappen durch das stille Wasser schwammen, durch sein Blickfeld glitten, als wären sie dem Einfluß von Raum und Zeit enthoben. Er lächelte, als ihm einfiel, daß er sie rufen konnte, wenn ihm daran lag; und sie kämen. Aber heute versetzte diese Vorstellung ihn nicht in Wohlgelauntheit. Nach einem Weilchen richtete er seinen Blick auf die Wasserfläche und begutachtete das Spiegelbild des hochgewachsenen, blonden Mannes, das seinen aufmerksamen Blick er-
widerte. Große graue Augen in länglichem Antlitz, von der winterlichen Trübnis bleich; das Haar glitzerte golden in der schwachen Frühlingssonne, gestutzt bis auf wenige Zoll Länge, damit es auf dem Schlachtfeld nicht lästig falle; ein voller, breiter Mund über einem kantigen Kinn; lange Koteletten betonten die hageren Wangenknochen. Mißmutig zupfte er am Saum seines kurzen grünen Wamses und starrte die Spiegelung des goldenen Greifen an, der schmuck, aber nichtsdestotrotz würdelos auf seiner Brust leuchtete. Das Wams mißfiel ihm. Der corwynische Greif mußte grün sein, vorzugsweise auf Schwarz, nicht jedoch Gold auf Grün. Und der zierliche, mit Edelsteinen besetzte Streithammer an seinem Gürtel war der blanke Hohn auf eine echte Waffe – ein vornehmes, aber nutzloses Anhängsel. Doch sein Kämmerer, Herr Rathold, hatte darauf bestanden, daß er ihn trug; das sei wesentlich für das Ansehen eines Herzogs. Morgan schnitt angesichts der prunkvollen Erscheinung auf der Wasserfläche eine finstere Miene. Wenn die Wahl ihm verblieb – und sie war, wie er einräumen mußte, meistens bei ihm –, trug er lieber ein Kettenhemd mit dunklem Samt darüber, zog er die weiche Geschmeidigkeit ledernen Reitzeugs den farbenprächtigen Satinstoffen und juwelenschweren Zahnstochern vor, deren Zier, wie die Menschen anscheinend meinten, am Hof eines Herzogs die angemessene Ausstattung sei. Aber er mußte, was die Bekleidung anging, ein paar Zugeständnisse machen. Das Volk von Corwyn hatte seinen Herzog für die wenigste Zeit des Jahres in der Residenz, weil seine Dienste in Rhemuth und ähnliche Aufgaben ihn fernhielten. Doch wenn er schon im Herzogtum weilte,
hatte das Volk auch ein Recht darauf, daß er sich auf eine seiner Stellung entsprechende Weise kleidete. Aber niemand brauchte zu wissen, daß er selbst seine Zugeständnisse nicht uneingeschränkt gewährte. Denn wiewohl es kaum jemanden überraschte, müßte er feststellen, daß das Spielzeug an seiner Hüfte, welches von Edelsteinen funkelte, nicht seine einzige Waffe war – das Stilett in der verschlissenen Lederscheide am linken Unterarm war nur eines seiner zweckdienlicheren Hilfsmittel –, so entstünde doch Ärger, sollte jemand bemerken, daß er, was er nämlich beabsichtigte, während des Festmahls am heutigen Abend ein leichtes Kettenhemd unter seiner Prunkgewandung trug. Erheblicher Ärger. Mißtrauen gegenüber den Gästen – ein entsetzlicher Verstoß wider die höfischen Sitten. Wenigstens sollte dies das letzte Bankett in absehbarer Zeit sein, sann Morgan, während er weiterwanderte und sich vom Teich entfernte. Mit dem Herannahen des Tauwetters rückte auch der Zeitpunkt näher, da er von neuem nach Rhemuth zurückkehren mußte, um einen Sommer lang dem König zu dienen. Natürlich war es diesmal ein anderer König; denn Brion war tot. Aber die letzte Nachricht von Kelson deutete an, daß... Sein Gedankengang erfuhr eine Unterbrechung durch Schritte, die sich von rechts über den Kies näherten; er drehte sich um und sah Herrn Hillary, den Befehlshaber der Feste, mit lebhaftem Schritt heraneilen, wobei sein blaugrüner Umhang hinter ihm im Wind flatterte. Sein rundes Antlitz verriet Verwirrung. »Was gibt's, Hillary?« erkundigte sich Morgan, als der Mann vor ihm verhielt und mit nachlässiger Gebärde den Gruß entbot.
»Eben dessen bin ich mir nicht sicher, Euer Gnaden. Die Hafenwache meldet, daß die Flotte von Prähmen die Landzunge umschifft hat und bei Anbruch der Dunkelheit im Hafen liegen dürfte, in den sie einlaufen kann, sobald der Gezeitenwechsel eingetreten ist. Allen voraus segelt Euer Flaggschiff, die Rhafallia, und sie hat den Königlichen Kurierwimpel gehißt. Ich fürchte, Herr, das bedeutet den Kriegszustand.« »Daran zweifle ich.« Morgan schüttelte das Haupt. »Kelson würde eine so wichtige Kunde niemals durch ein Schiff überbringen lassen, sondern einen Boten schicken.« Er runzelte die Stirn. »Ich dachte, die Prähme sollten nur bis nach Concaradine.« »So lautet der Befehl, Gebieter. Und überdies kehren sie um einen Tag zu früh zurück.« »Seltsam«, murmelte Morgan und vergaß beinahe Hillarys Gegenwart. »Dennoch – sendet eine Eskorte zur Rhafallia, wenn sie anlegt, und laßt die Botschaft bringen.« »Zu Befehl, Gebieter.« Als der Mann sich entfernte, strich sich Morgan verwundert mit der Hand durchs Haar und begann seine Wanderung von neuem. Es wäre tatsächlich sonderbar, hätte Kelson eine Nachricht auf dem Seewege geschickt. Das tat er so gut wie niemals. Um so weniger sollte es der Fall in dieser Jahreszeit sein, da sich das Wetter im Norden so unbeständig gebärdete. Dies Ereignis besaß einen Anflug von Unheimlichkeit, so wie... wie jener Traum! Plötzlich entsann er sich seines Traumes der vergangenen Nacht. Und nun, da er sich damit befaßte, begriff er, daß der Traum ebenfalls zu jenen Dingen zählte, die ihn schon den ganzen Tag lang peinigten.
Er hatte schlecht geschlafen, was allein schon ungewöhnlich war, denn ansonsten konnte er nach seinem Belieben einschlafen und aufwachen. Doch in der letzten Nacht hatten ihn Alpträume heimgesucht – lebhafte, furchtbare Gesichte, aus denen er in kaltem Schweiß auffuhr. Er hatte Kelson gesehen, wie er aufmerksam jemandem lauschte, von dem er nur den Rücken erblickte – und Duncan, das gewöhnlich heitergelassene Antlitz verzerrt, es drückte Sorge und Zorn aus, in einem Maße, wie er es nicht von seinem priesterlichen Vetter kannte. Und dann das geisterhafte, von einer Kapuze überschattete Antlitz, welches er seit dem Herbst mit den Legenden in Zusammenhang brachte – jenes Camber von Culdis, des verstoßenen Schutzheiligen der Derynimagie. Morgan schaute auf und stellte fest, daß er an der Grotte der Zeiten angelangt war, jenes düsteren, höhlenartigen Gewölbes, das seit mehr als dreihundert Jahren den Herzögen von Corwyn als persönlicher Zufluchtsort und Stätte der Meditation diente. Auch hier waren die Gärtner bereits am Werk gewesen; sie hatten das alte, faulige Laub von der Schwelle gefegt. Aber es lag noch Unflat im Eingang selber, und kurzentschlossen öffnete Morgan das eiserne Gittertor, das kreischte, und trat hinein. Er nahm die Fackel, welche am Tor in einem Wandhalter brannte, schob mit dem Stiefel des Winters Abfall hinaus und schritt sodann ins kühle Innere. Die Grotte der Zeiten war nicht groß. Draußen ragte ihr buckliger Hügel zwanzig Fuß hoch über die Fläche der Gärten auf, und der äußere Umkreis war als felsiger Auswuchs inmitten der Gartenpfade getarnt. Im Frühling und
Sommer blühten auf der Erhebung kleine Bäume und Sträucher und Blumen aller Arten. An einer Seite sikkerte unaufhörlich ein schmales Rinnsal herab. Im Innern dagegen hatte man dem Bau das Aussehen einer natürlichen Höhle verliehen; die Wände waren unregelmäßig, schroff und feucht. Als Morgan die innere Kammer betrat, spürte er die greifbare Nähe der gewölbten Decke über seinem Haupt. Ein Streifen schwachen Sonnenlichts fiel durch ein hohes, vergittertes Fenster am jenseitigen Ende der Kammer auf den tiefschwarzen Marmorsarkophag, der jene Seite des Raumes beherrschte – die Ruhestätte Dominics, des ersten Herzogs von Corwyn. In der Mitte der Kammer stand, dem Sarkophag zugewandt, ein aus Stein gehauener Sitz. Auf dem Sarkophag befand sich ein Leuchter mit einem Kerzenstummel darin; das Metall war stumpf von der Unberührtheit des langen Winters, der Kerzenstummel niedergebrannt bis zur Unbrauchbarkeit und angenagt von Mäusen. Doch Morgan hatte die Grotte heute nicht aufgesucht, um seinem frühen Ahnen eine Huldigung zu erweisen. Das Übrige der Kammer war's, was ihn angezogen hatte – die Seitenwände der Höhle, die geplättet, verputzt und dann mit Mosaikbildnissen jener eingelegt worden waren, deren besondere Gunst, wie man annahm, auf dem Hause Corwyn ruhte. Morgans kurze Umschau erfaßte die Dreifaltigkeit, den Erzengel Michael beim Erschlagen des Drachens der Finsternis, den Patron der Heilkundigen, St. Raphael, und den Heiligen Georg mit seinem Drachen. Noch andere waren dabei, aber Morgans Interesse galt nur einem; er wandte sich zur linken Seite, durchquerte die Kammer mit drei Schritten und hielt seine Fackel in
die Höhe, um das gesuchte Bildnis zu erhellen – jenes Cambers von Culdi, des derynischen Herrn von Culdi, des Defensor Hominum. Morgan hatte niemals recht begriffen, woher die seltsame Anziehungskraft rührte, welche die Person Cambers von Culdi auf ihn ausübte. Erst im vergangenen Herbst hatte er Cambers volle Bedeutung erkannt, als er und Duncan darum rangen, den Thron für Kelson zu bewahren. Während jener Zeit hatte er ›Visionen‹. Zuerst war es nur das flüchtige Gefühl der Gegenwart eines Fremden gewesen, der absonderliche Eindruck, daß andere Hände und Kräfte die seinigen unterstützten. Doch dann sah er das Antlitz – oder glaubte es zu sehen. Und es war stets in Verbindung mit etwas erschienen, das im Zusammenhang mit dem sagenumwobenen derynischen Heiligen stand. Sankt Camber. Camber von Culdi. Ein Name, der niemals aus der derynischen Geschichte verschwinden konnte. Camber, der während der finsteren Zeitspanne des Interregnums entdeckt hatte, daß die furchterregenden derynischen Fähigkeiten sich bisweilen an Menschen weitergeben ließen; Camber, der den Weg für die Restauration bereitete und die rechtmäßigen menschlichen Herrscher wieder zur Macht erhob. Dafür hatte man ihn heiliggesprochen. Das dankbare Volk konnte den Mann nicht hoch genug preisen, der die verhaßte Derynityrannei stürzte. Aber das menschliche Gedächtnis war mangelhaft. Und alsbald vergaßen die Menschenkinder, daß sie von den Händen der Deryni nicht nur Leid, sondern auch Erlösung erfahren hatten. Die grausame Verfolgung, welche dann in den Elf Königreichen wütete, war ein Ereignis, das die meisten Menschen heute
lieber vergessen hätten. Tausende unschuldiger Deryni starben durch das Schwert oder gar auf ausgeklügelt abartige Weise, um die Taten ihrer Väter zu büßen. Als die Welle der Verfolgung vorüber war, gab es nur noch eine Handvoll – die einen lebten im Verborgenen, einige wenige jedoch unter dem notdürftigen Schutz einer Minderheit menschlicher Herren, die sich noch daran erinnerten, was sich wirklich zugetragen hatte. Selbstverständlich war Cambers Heiligkeit eines der ersten Opfer gewesen. Camber von Culdi, Defensor Hominum. Camber von Culdi, Schutzheiliger der Derynimagie. Camber von Culdi, dessen Mosaikbildnis nun ein Abkömmling selbigen Geschlechts von Magiern voller ruheloser Neugier anstarrte, der die Bande zu ergründen versuchte, welche zwischen ihm und dem seit langem toten derynischen Edlen bestehen mußten. Morgan hielt die Fackel näher ans Mosaik und musterte das Antlitz, darauf bedacht, aus der groben Beschaffenheit der Einlegearbeit mehr Einzelheiten zu erschließen. Die Augen erwiderten seinen Blick – helle Augen über einem derben Kinn, das von Entschlossenheit zeugte; alles andere war verborgen von der mönchischen Kapuze, welche das Haupt bedeckte, aber Morgan empfand die feste Überzeugung, daß der Mann blond wäre, fehlte die Kapuze. Warum, das vermochte er nicht zu bestimmen. Vielleicht aufgrund eines Erinnerungsfetzens aus den ›Visionen‹, die er hatte. Er hing dem müßigen Gedanken nach, ob sie jemals wiederkehren würden, und dabei rann an seiner Wirbelsäule ein Schauder der Furcht entlang. Es konnte doch nicht wahrhaftig St. Camber sein? Oder? Indem er die Fackel senkte, wich Morgan um einen Schritt zurück,
den Blick unverwandt auf das Mosaikbildnis gerichtet. Er pflegte durchaus die Frömmigkeit, aber die Vorstellung eines göttlichen oder halbgöttlichen Eingreifens auf seiner Seite flößte ihm Schrecken ein. Die Vorstellung, vom Himmel beobachtet zu werden, war ihm nicht angenehm. Aber wenn nicht St. Camber, wer dann? Ein anderer Deryni? Kein Mensch vermochte zu bewirken, was jenes Wesen getan hatte. Und handelte es sich um einen anderen Deryni, warum gab er sich nicht zu erkennen? Zweifellos mußte ihm klar sein, was für Gedanken Morgan über derartige Bekundungen der Anteilnahme anstellte. Offenbar besaß er eine Neigung, unaufgefordert seinen Beistand zu gewähren; aber warum die Heimlichkeit? Vielleicht war's wirklich St. Camber. Ihn schauderte erneut, und er bekreuzigte sich; endlich brachte er sich mit einem gleichsam gewaltsamen Ruck zur Vernunft. Solche Grübeleien führten zu nichts. Er durfte seinen Verstand nicht ablenken. Plötzlich hörte er draußen im Hof einen Aufruhr anschwellen, und dann vernahm er das Geräusch von Füßen, die im Laufschritt durch den Garten in seine Richtung eilten. »Morgan! Morgan?« Das war Derrys Stimme. Am Eingang rammte er die Fackel zurück in die Halterung und trat hinaus ins Sonnenlicht. Derry sah ihn, machte kehrt und kam durch das Grau des Gartens herüber zum Herzog gelaufen. »Gebieter«, rief Derry, dessen Antlitz aus Erregung aufgelöst war, »kommt in den Hof! Seht, wer gekommen ist!« »Die Rhafallia ist doch noch nicht im Hafen, oder?« meinte Morgan, während er seinem Leutinger entgegenschritt. »Nein, das nicht, Herr.« Derry lachte und schüttelte
das Haupt. »Ihr werdet schon sehen! Kommt!« Verwundert kehrte Morgan durch den Garten zurück; als er Derry einholte, hob er in stummer Frage eine Braue und strebte an seiner Seite zur Pforte. Derry grinste vom einen bis zum anderen Ohr – das ließ auf das Erscheinen eines prächtigen Rosses, einer wunderschönen Frau oder... »Duncan!« entfuhr es Morgan laut, als er die Pforte durchquerte und im Hof seinen Vetter erblickte. Duncan schwang sich soeben von einem großen, mit Schlamm bespritzten, grauen Streitroß; sein schwarzer Umhang war feucht und vom Wind zerknittert, der Saum seines Reitkleides zerfranst und schmutzig. Zehn oder zwölf Bewaffnete in der karmesinroten Gewandung der Königlichen Leibwache stiegen ebenfalls gerade von ihren Pferden, und darunter erkannte Morgan den jungen Richard FitzWilliam, Kelsons eigenen Knappen, der des Grauen Zügel hielt, während Duncan abstieg. »Duncan! Du alter Schuft!« Er eilte über des Hofes nasses Kopfsteinpflaster. »Zum Teufel, was treibst denn du in Coroth?« »Ich statte dir einen Besuch ab«, antwortete Duncan, dessen blaue Augen vor Freude blitzten, als er und Morgan sich überstürzt umarmten. »In Rhemuth war's mir nicht aufregend genug, und da dachte ich mir, ich gehe hin und belästige meinen Lieblingsvetter. Um ehrlich zu sein, mein Erzbischof war überaus erfreut, mich loszuwerden.« »Nun, immerhin ist's gut, daß er dich im Augenblick nicht sehen kann«, rief Morgan und lächelte herzlich, während Duncan von des Grauen Rücken zwei Satteltaschen zog und sie sich über den Arm legte. »Sieh dich nur an – vollständig verdreckt, und
du riechst nach Pferden. Komm mit und säubere dich! Derry, kümmert Euch um Duncans Begleitung, ja? Und dann ruft meine Knappen, damit sie ihm ein Bad einfüllen.« »Sofort, Gebieter.« Derry lächelte und verneigte sich kurz, während er ein paar Schritte rückwärts tat, bereits hin zu den Reitern. »Willkommen auf Coroth, Pater Duncan.« »Meinen Dank, Derry.« Indem Derry sich unter die Bewaffneten mischte und Anweisungen zu erteilen begann, erklommen Morgan und Duncan die Treppe zum Hauptsaal. Im Saal war emsige Geschäftigkeit zur Vorbereitung des bevorstehenden Festmahles im Gange; mehrere Dutzend Diener und Handwerker stellten schwere Bocktische und Bänke zurecht und hängten die kostbaren Wandteppiche wieder auf, welche man aus diesem Anlaß abgenommen und gereinigt hatte. Küchenhilfen schwärmten durch den Saal, fegten die Herde aus und machten die Bratspieße fürs Fleisch fertig. Und eine Gruppe von Pagen polierte eifrig die aus Holz geschnitzten Lehnstühle an der herrschaftlichen Tafel. Herr Robert stand inmitten des Durcheinanders und überwachte es mit Kennermiene. Als die Handwerker die Tische an ihre Plätze gerückt hatten, veranlaßte Robert etliche Küchenmägde zum Putzen der großen Zinnleuchter und des Geschirrs aus dem herzoglichen Schatz mit Öl, um des Gerätes kräftigen Edelgrünspan des Alters besser sichtbar zu machen, und wies den Stücken ihre Standorte zu, bestimmte ihre Anordnung. Zur Rechten im Saal hatte sich Herr Hamilton, Burg Coroths Seneschall, der mittlerweile zur Kahlheit neigte, bereits um die Aufstellung der Musikanten einiger
Überlegungen befleißigt; doch gegenwärtig war er in ein hitziges Streitgespräch mit Morgans größtem Künstler des Abends verwickelt, dem viel gerühmten und gefeierten Fahrenden Sänger Gwydion. Als Morgan und Duncan in die Reichweite der beiden Männer kamen, vollführte der kleingewachsene Künstler aus Verärgerung schon fast einen Tanz; in seinem langärmeligen Hemd und der Hose, beides prächtig und von der Farbe einer Orange, wirkte er auffällig und gespreizt wie ein Pfau. Seine schwarzen Augen funkelten, als er erbost mit dem Fuß aufstampfte und sich voller Abscheu halb von Hamilton abwandte. Morgan sah ihn an und winkte ihm, er möge sich herbeigesellen; Gwydion widmete Hamilton einen letzten bösartigen Blick der Verachtung, kam an Morgans Seite gestelzt und verbeugte sich barsch. »Euer Gnaden, ich kann unmöglich länger mit dem Mann dort zusammenwirken! Er ist überheblich, bäurisch und besitzt nicht den geringsten künstlerischen Geschmack.« Morgan suchte sein Lächeln zu verhehlen. »Duncan, ich habe die leicht zweifelhafte Ehre, dich mit Meister Gwydion ap Plenneth bekannt machen zu dürfen, der neuerlichsten und erlauchtesten Bereicherung meines Hofes. Du solltest wissen, daß er die herrlichsten Balladen singt und in den Elf Königreichen unübertroffen ist – es sei denn, er streitet sich gerade mit meinem Gefolge. Gwydion, dies ist mein priesterlicher Vetter, Monsignor Duncan McLain.« »Willkommen auf Coroth, Monsignor«, murmelte Gwydion höflich, indem er Morgans umwundenen Verweis überhörte. »Seine Gnaden hat von Euch häufig und nur voll des Lobpreises gesprochen. Ich bin
davon überzeugt, daß Ihr einen angenehmen Aufenthalt haben werdet.« »Ich danke Euch«, entgegnete Duncan und erwiderte die Verneigung. »Ihr besitzt in Rhemuth den Ruf des besten Sängers seit Herrn Llewelyn. Ich hoffe, daß ich, bevor ich wieder abreise, Eure Kunstfertigkeit genießen darf.« »Gwydion wird am heutigen Abend singen und spielen, wenn man ihm erlaubt, die Musikanten nach seinen Wünschen einzuteilen, Monsignor«, erklärte der Troubadour und verneigte sich nochmals. Dann sah er Morgan an. »Sollte Herr Hamilton jedoch in seiner boshaften Zudringlichkeit beharren, werde ich, wie ich befürchte, entsetzliche Kopfschmerzen bekommen, die meinen Auftritt selbstverständlich verhinderten.« Hochmütig straffte er sich zu stolzer Haltung und verschränkte die Arme auf der Brust, eine bühnenreife Bekundung der Endgültigkeit; dann starrte er in eingeübtem Gleichmut zur Decke des Saales empor. Morgan hatte seine liebe Mühe, um ein Gelächter zu unterdrücken. »Nun gut«, gab der Herzog nach und räusperte sich, um sein Lächeln zu tarnen. »Sagt Hamilton, Ihr könnt alles nach Eurem Wunsch vorbereiten. Aber ich möchte keinen weiteren Zank. Versteht Ihr mich?« »Natürlich, Euer Gnaden.« Mit knappem Nicken kehrte er sich auf dem Absatz um und strebte durch den Saal zurück dorthin, wo er sich zuvor betätigt hatte, noch immer die Arme auf der Brust gekreuzt. Als er sich Herrn Hamilton näherte und derselbe ihn bemerkte, schaute der Seneschall herüber zu Morgan, als ersuche er um Beistand, aber Morgan schüttelte
nur das Haupt und wies mit dem Kinn auf Gwydion. Mit einem Seufzer, der sich nahezu im gesamten Saal vernehmen ließ, nickte Hamilton zum Einverständnis und entfernte sich durch eine Seitentür. Gwydion begann den Leuten Anweisungen zu erteilen, die Hamilton herrenlos zurückgelassen hatte; er ordnete sämtliche Instrumente um und stolzierte einher wie der Haushahn auf dem Mist. »Ist er immer so heftig?« erkundigte sich Duncan in gelinder Bestürzung, als er und Morgan den Weg durch den Saal und über eine schmale Treppenflucht fortsetzten. »Beileibe nicht. Gewöhnlich beträgt er sich erheblich ärger.« Sie erreichten den obersten Treppenabsatz, und Morgan öffnete eine wuchtige Tür. Nur wenige Schritt weit dahinter befand sich eine zweite Tür aus Walnußholz, versehen mit einer Einlegearbeit, einem emaillierten corwynischen Greifen. Morgan berührte des Tieres Auge mit seinem Siegelring, und lautlos tat die Tür sich auf. Jenseits lag Morgans persönliches Arbeitszimmer, seine Kammer der Magie, sein sanctum sanctorum. Die Räumlichkeit war rund und hatte einen Durchmesser von ungefähr dreißig Fuß; sie befand sich im obersten Geschoß des höchsten Turmes der herzoglichen Burg. Die Wände waren dick aus Stein gemauert und nur von sieben schmalen Fenstern von grünem Glas durchbrochen, die aus Augenhöhe bis unter die Decke reichten. Bei Nacht, wenn noch spät im Turmzimmer die Kerzen brannten, konnte man den Turm ringsum meilenweit sehen, da seine sieben grünen Fenster am Nachthimmel wie Leuchtfeuer glommen. Im Winkel von neunzig Grad zur Rechten der Tür befand sich ein breiter
Kamin mit einer erhöhten Kaminplatte, die zu beiden Seiten um jeweils sechs bis acht Fuß überragte. Über dem Kamimnantel hing ein Seidenbanner mit dem gleichen Greifen, der das Äußere der Tür schmückte, mehrere andere Gegenstände waren auf dem Kamin verteilt. Unmittelbar gegenüber der Tür hing ein Wandteppich mit einer Karte der Elf Königreiche darauf, und darunter stand ein breiter, schwer belasteter Bücherschrank. Links davon stand ein gewaltiger Tisch mit einem aus Holz geschnitzten Lehnstuhl, und an dessen linker Seite wiederum ein Ruhebett mit einem Überwurf aus schwarzem Pelz. Gleich zur Linken der Tür war der winzige Feldaltar aufgestellt. Duncan hatte geahnt, er werde ihn hier vorfinden. Davor befand sich ein schlichter Betstuhl aus dunklem Holz. Es dauerte ein Weilchen, bis Duncan alle diese Dinge wahrgenommen hatte; denn am stärksten erregte unverzüglich des Raumes Mitte seine Aufmerksamkeit, wo ein nebelhaftes, smaragdgrünes Licht herab durch ein Dachfenster fiel; unter dem Dachfenster, in das Licht getaucht, stand ein kleiner Tisch, dessen Kantenlänge ungefähr einer Armlänge entsprach, mit zwei Stühlen, die recht bequem wirkten und versehen waren mit grünen Sitzkissen. In der Mitte des Tisches ruhte in den erhobenen Klauen eines goldenen corwynischen Greifen eine kleine, durchsichtig bernsteinerne Kugel von etwa vier Zoll Durchmesser. Duncan stieß einen leisen Pfiff aus und trat, ohne den Blick von der Kugel zu wenden, an den Tisch. Er wollte sie berühren, überlegte es sich jedoch anders und verharrte lediglich voller Bewunderung. Morgan lächelte, als er an seines Vetters Seite kam und sich an einen Stuhl lehnte. »Wie gefällt er dir?«
fragte er Duncan. Die Frage war eindeutig nur gesprächsweiser Art, denn es war offenkundig, daß die Kugel Duncan entzückte. »Er ist prachtvoll«, flüsterte Duncan, und seine Stimme klang nach jener Ehrfurcht, die jeden Handwerker angesichts eines besonders vortrefflichen Werkzeugs seines Gewerbes ergreift. »Woher hast du einen so großen... das ist doch ein Shiralkristall, oder?« Morgan nickte. »Ganz recht. Vor ein paar Monaten hat man ihn mir aus dem Hort des Orsal geliefert – zu einem empörungswürdigen Preis, wie ich erwähnen möchte. Nur zu, berühre ihn, wenn du's magst.« Als Duncan sich in den näheren Stuhl setzte, stießen die vergessenen Satteltaschen, die über seinem Arm lagen, gegen den Tisch. Überrascht blickte er abwärts, als er sich ihrer entsann, und sein ebenmäßiges Antlitz bekam einen angespannten, wachsamen Ausdruck. Er hob die Taschen auf den Tisch und öffnete den Mund zum Sprechen, aber Morgan schüttelte den Kopf. »Widme dich getrost dem Kristall«, drängte er, als er Duncans Unbehagen sah. »Ich weiß nicht, was du Wichtiges darin hast, aber was es auch ist, es kann warten.« Duncan biß sich auf die Lippe und schaute Morgan für einen langen Moment an, dann nickte er zur Einwilligung und legte die Satteltaschen auf den Boden. Er atmete tief ein, preßte für einen Augenblick die Handflächen zusammen und atmete aus; dann streckte er seine Hände nach dem Kristall und umschirmte ihn damit. Während er sich entspannte, begann der Kristall zu glühen. »Wunderschön«, flüsterte Duncan; er lockerte sich im gleichen Maße, wie
er seine Hände dem Kristall weiter näherte, um seinen Glanz zu verstärken, zu bündeln. »Mit einem Kristall von dieser Größe müßte ich Abbilder zu formen imstande sein, wenn ich's auch bloß mit halber Anstrengung versuche.« Er richtete seine gesamte Geisteskraft auf den Kristall und starrte tief in dessen Inneres, dieweil die Kugel immer heller leuchtete. Sie verlor ihre innere Schleierhaftigkeit zur Gänze und verwandelte sich in eine klar durchsichtige Sphäre von bernsteinerner Tönung. Für einen flüchtigen Moment trübte sie sich, als habe jemand sie von drinnen angehaucht. Dann begann sich eine verwaschene Erscheinung herauszuschälen, verfestigte sich langsam zu einer menschlichen Gestalt. Selbige war ein hochgewachsener Mann mit silbrigem Haar in der Gewandung eines Erzbischofs, ausgestattet mit der Mitra und dem Krummstab, welch letzterer von Edelsteinen strotzte. Er war außerordentlich wütend. Loris! durchzuckte Morgan die Erkenntnis, als er sich vorbeugte, um das Abbild zu betrachten. Zum Teufel, was bedeutet das? Ohne Zweifel hat er Duncan verärgert, auf welche Weise auch immer... Duncans Hände zuckten vom Kristall zurück, als wäre derselbe plötzlich zu heiß geworden, und für einen Moment verzerrte ein Ausdruck des Ekels sein Antlitz. Indem seine Hände sich von der Kugel lösten, erlosch das Abbild, und der Kristall nahm wieder seine vorherige Färbung an Duncan rieb sich die Hände am Priesterrock, als wische er irgendeinen Unflat ab, dann zwang er sich zur Ruhe und faltete die Hände bedächtig auf dem Tisch. Er betrachtete sie, als er von neuem den Mund auftat. »Ich vermute, es ist reichlich offenkundig, daß ich dir nicht nur einen Freundschaftsbesuch abstatte«, mur-
melte er in bitterem Tone. »Ich konnte es nicht einmal dem Shiralkristall verbergen.« Morgan nickte verständnisvoll. »Das war mir allerdings schon klar, als du vom Pferd gestiegen bist.« Sein Blick haftete auf dem Greifensiegelring an seinem rechten Zeigefinger, und gedankenverloren rieb er das Siegel blank. »Möchtest du mir sofort mitteilen, was sich ereignet hat?« Duncan zuckte die Achseln und seufzte. »Leider gibt's ohnehin keinen leichten Weg, um's dir beizubringen, Alaric. Ich... ich bin des Amtes enthoben.« »Enthoben?« Vor Staunen sank Morgans Unterkiefer herab. »Warum denn das?« Duncan rang sich ein Lächeln ab, doch es geriet schief. »Kannst du dir das nicht denken? Offenbar hat Erzbischof Loris seinen Amtsbruder Corrigan davon überzeugt, daß ich im Ringen um die Krone eine weitaus wichtigere Rolle gespielt habe als nur die von Kelsons Beichtvater. Was zu allem Unglück auch wahr ist. Womöglich hegen sie gar bereits den Verdacht, daß ich Halbderyni bin. Sie wollten mich vor ihr Kirchengericht stellen, aber ein Freund konnte mich noch zur rechten Zeit warnen. Was wir immer befürchtet haben, ist nun geschehen.« Morgan entließ vernehmlich seinen Atem und senkte den Blick. »Vergib mir, Duncan. Ich weiß, wieviel die Priesterschaft dir bedeutet, doch weiß ich nicht, was ich nun sagen soll.« Duncan lächelte matt. »Viel schlimmer ist's, mein Freund, als du vermeinst. Wahrlich, wäre es nur meine Amtsenthebung, ich wäre keineswegs so erschüttert. Mich dünkt, je mehr ich mich als Deryni betätige, um so weniger Wert besitzen meine Schwüre.« Er
griff in eine der Satteltaschen neben seinem Stuhl und brachte ein gefaltetes Stück Pergament zum Vorschein, das er auf den Tisch legte. »Dies ist der Entwurf eines Briefes, der sich gegenwärtig unterwegs zu deinem Bischof befindet, zu Ralf Tolliver. Ein Freund, der in Corrigans Kanzlei tätig ist, ging ein großes Wagnis ein, um mir dies Schriftstück zu übermitteln. Im wesentlichen besagt das Schreiben, daß Loris und Corrigan an Tolliver die Aufforderung richten, er möge dich exkommunizieren, falls du deine Fähigkeiten nicht verleugnest und ›ein reuevolles Leben‹ beginnst. Das ist, wie ich glaube, die Wendung Erzbischof Corrigans.« »Ich und leugnen?« Morgan schnob, auf seinem Antlitz ein gleichermaßen halbherziges wie ungläubiges Grinsen. »Das muß ein Scherz sein.« Er nahm den Brief und begann ihn über die Tischplatte zu sich herüberzuziehen, doch Duncan packte sein Handgelenk. »Ich bin mit meinem Bericht noch nicht fertig, Alaric«, erklärte er mit ruhiger Stimme, indem er seinen Blick mit Morgans Blick verschmolz. »Wenn du dich nicht fügst und dich nicht ihrem Willen beugst, werden sie nicht allein dich exkommunizieren – sie wollen ganz Corwyn einen Kirchenbann auferlegen.« »Einen Kirchenbann!?« Duncan nickte und gab Morgans Handgelenk frei. »Was heißt, es gäbe in Corwyn nicht länger eine Kirche. Man wird keine Messen lesen, keine Vermählungen vornehmen, keine Taufen, den Sterbenden nicht die Sterbesakramente erteilen... nichts von alldem. Ich weiß nicht recht, was deine Untertanen davon halten werden.«
Morgans Kinn verhärtete sich, und er nahm den Brief. Er entfaltete ihn und fing zu lesen an, und beim Lesen wurden seine Augen kalt und ehern. »An Seine Allerehrwürdigste Exzellenz Ralf Tolliver, Bischof von Coroth... Verehrter Bruder... zu unserer Aufmerksamkeit gelangt... Herzog Alaric Morgan... verruchte Schandtaten von Magie und Zauberei wider Gottes Gesetz... sollte besagter Herzog nicht seinen Derynikräften abschwören... Exkommunikation... Corwyn einem Kirchenbann unterwerfen... hoffen auf Eure Mitwirkung... Zeichen guten Willens... Verdammt!« Mit einem wüsten Fluch zerknüllte Morgan das Pergament wenigstens zur Hälfte und warf es auf den Tisch. »Mögen unbeschreibliche Scheußlichkeiten sie bis in der Hölle Pfühle verfolgen! Mögen Hyänen ihre Sippen verschlingen, dreizehn Teufel sollen ihnen auf ewig den Schlaf versauern! Verflucht sollen sie sein, Duncan! Was gedenken sie mir anzutun?!« Er lehnte sich zurück und atmete beschwerlich aus; Duncan grinste. »Fühlst du dich jetzt wohler?« »Nein. Dir dürfte klar sein, daß Loris und Corrigan mich nunmehr genau da haben, wohin sie mich haben wollten. Sie wissen, daß mein Ansehen in Corwyn nicht auf Derynifreundlichkeit beruht, sondern auf des Volkes Zuneigung zu einem Herzog namens Morgan. Gwynedds Kurie weiß sehr wohl, daß meine Untertanen, erlegt sie mir, weil ich ein Deryni bin, einen Bann auf, sich eher fügen werden als dulden, daß sie über ganz Corwyn den Kirchenbann verhängt. Ich kann meinen Untertanen nicht abverlangen, daß sie um meinetwillen ihren Glauben ablegen, Duncan.« Duncan lehnte sich ebenfalls zurück und musterte seinen Vetter voller Erwartung. »Was werden wir al-
so dagegen unternehmen?« Morgan glättete das zerknitterte Pergament und las nochmals den Text, dann schob er das Schriftstück mit einer Entschiedenheit über den Tisch von sich, als habe er ein für allemal genug davon. »Hat Tolliver das Schreiben bereits erhalten?« »Ich weiß es nicht, kann mir aber auch nicht vorstellen, wie das sein könnte. Vor zwei Tagen ist Monsignor Gorony an Bord der Rhafallia gegangen. Wenn ich richtig geschätzt habe, dürfte er im Laufe des morgigen Tages eintreffen.« »Ich hege die Überzeugung, daß er ungefähr in drei Stunden hier ist, wenn die Flut kommt«, entgegnete Morgan. »Gorony muß meine Kapitäne bestochen haben, damit sie mehr Segel setzen. Ich hoffe bloß, sie haben ihm dafür genug Geld abgenommen.« »Besteht die Möglichkeit, den Brief abzufangen?« Morgan schnitt eine Grimasse und schüttelte das Haupt. »So etwas kann ich nicht wagen, Duncan. Täte ich's, ich verletzte die Unantastbarkeit derselben Kirche, welche ich doch in Corwyn zu beschützen versuche. Ich muß Gorony zu Tolliver lassen.« »Dann nehmen wir einmal an, ich träfe vor ihm dort ein. Zeigte ich ihm unsere Ausfertigung des Sendschreibens, möchte er sich womöglich dazu bereit erklären, etliche Wochen herumgehen zu lassen, bevor er irgendwelche Maßnahmen einleitet. Außerdem glaube ich, daß er abgeneigt ist, von Loris und Corrigan Weisungen zu empfangen. Es ist kein Geheimnis, daß sie ihn für eine Art von weltfremdem Landpfarrer halten, für einen Bauernpfaffen. Darauf ließe sich vielleicht bauen – schließlich müssen wir alles versuchen, um den Kirchenbann von Corwyn
abzuwenden. Was ist deine Meinung?« Morgan nickte. »Das könnte gelingen. Geh und kleide dich um, laß dir von Derry ein frisches Pferd geben. Unterdessen schreibe ich meinerseits einen Brief an Tolliver und ersuche ihn um seinen Beistand.« Er erhob sich und ging hinüber zu seinem Arbeitstisch, wo er unverzüglich zu Pergament, Feder und Tinte griff. »Irgendwie muß ich den Ton finden, der genau die richtige Mischung aus herzoglicher Hoheit, bußfertigem Sohn der Kirche und langjährigem Freund zur Geltung bringt – und das, ohne mein Derynitum so deutlich zu betonen, daß er sich zum Einlenken außerstande sieht.« Eine Viertelstunde später kritzelte Morgan seine Unterschrift an den unteren Rand des entscheidungsträchtigen Briefes und fügte seinen Schnörkel hinzu, den ganz und gar eigentümlichen Krakelfuß am Ende seiner Unterschrift, der jede Fälschung ausschloß. Dann träufelte er grünes Siegelwachs unter seinen Namenszug und drückte sein Greifensiegel hinein. Er hätte seinen Siegelabdruck auch ohne Wachs anbringen können. Mit ein wenig Nachhilfe vermochte sich das derynische Siegel dem Pergament ohne Wachsgrundlage einzuprägen. Aber man mußte bezweifeln, daß ein Brief mit einem solchen Siegel dem Bischof viel Freude bereitete. Persönlich hegte der Allerehrwürdigste Bischof Ralf Tolliver keine Vorurteile gegen Deryni, aber es gab im Umgang mit ihm bestimmte Schranken, die auch Morgan nicht zu verletzen wagte. Eine unliebsame, wiewohl vielleicht geringfügige magische Verrichtung konnte zunichte machen, was des Briefes Inhalt an Gutem bewirken
mochte, den er so überaus wohlbedacht abgefaßt hatte. Morgan faltete das Pergament, um es auch außerhalb zu versiegeln, als Duncan zurückkehrte, über einem Arm einen schweren wollenen Reitumhang; mit ihm kam Derry. »Fertig?« fragte Duncan, trat zum Tisch und spähte über Morgans Schulter. »Fast.« Er träufelte Wachs auf die Verschlußlasche und prägte auch dieser Wachspfütze sein Siegel ein. Er blies auf das heiße Wachs, um es abzukühlen, wobei er den Blick hob, dann reichte er das Schreiben Duncan. »Hast du das andere Schriftstück dabei?« »Ah-ahem.« Duncan schnippte mit den Fingern. »Ach, Derry, bringt mir das herüber, ja?« Er deutete auf das Pergament, welches noch auf dem kleinen Tisch in der Mitte des Turmzimmers lag. Derry brachte ihm das Schriftstück, und Duncan schob es in die Schärpe seiner sauberen Soutane, die er mittlerweile angelegt hatte. »Wünscht Ihr eine Eskorte, Pater Duncan?« fragte Derry. »Nein, es sei denn, daß Alaric darauf besteht. Ich selbst meine jedoch, daß es um so besser ist, je weniger Menschen um meinen Ritt wissen. Bist du einverstanden, Alaric?« Morgan nickte. »Viel Glück, teurer Vetter.« Duncan grinste flüchtig, dann nickte er und entschwand durch die Tür. Derry starrte ihm einen Moment lang hinterdrein, ehe er sich wieder Morgan zuwandte. Doch der Herzog hatte sich an seinem Platz nicht gerührt, er schien in eine innere Welt versunken zu sein. Derry wagte ihn nur nach einigem Zaudern daraus aufzuschrecken. »Und nun, Gebieter?«
»Hmmm?« Verblüfft blickte Morgan auf, ganz so, als hätte er den jungen Mann inzwischen völlig vergessen – doch Derry hegte die feste Überzeugung, daß es sich keineswegs so verhielt. »Darf ich eine Frage stellen, Herr?« Morgan schüttelte sein Haupt und lächelte schlichtmütig. »Natürlich. Ich vermute, Ihr wißt nicht recht, was gegenwärtig geschieht.« Derry lächelte. »Ganz so arg steht's nicht um mich, Gebieter. Kann ich noch irgend etwas für Euch tun?« Morgan musterte den jungen Adeligen, das Kinn in eine Hand gestützt; dann nickte er bedächtig. »Vielleicht könnt Ihr's«, erwiderte er und straffte sich in seinem Lehnstuhl. »Ihr steht mir nun schon lange zur Seite, Derry. Seid Ihr auch dazu bereit, Euch für mich in einen Zauber zu verwickeln?« Derry erlaubte sich ein breites Grinsen. »Ihr wißt, daß ich diese Bereitschaft hege, mein Gebieter.« »Nun denn – dann kommt herüber zur Karte.« Morgan trat vor den Wandteppich mit der Karte, welcher in größtmöglicher Nähe seines Arbeitstisches hing; er führte seine Finger an einem breiten blauen Strich entlang, bis er die Stelle fand, die er suchte. Derry beobachtete sein Tun, und als der Herzog zu sprechen begann, lauschte er in höchster Aufmerksamkeit. »Seht, hier liegt Coroth. Hier ist die Gezeitenmündung der beiden Flüsse. Aufwärts des Westflusses, der unsere nordöstliche Grenze mit Torenth bildet, liegt Fathane, die torenthische Handelsstadt. Sie ist zugleich der Ausgangspunkt für alle in diesem Grenzabschnitt eingeteilten Spähtrupps Wencits. Mein Begehr lautet, daß Ihr flußaufwärts bis nach Fathane reitet, das heißt, bis auf die torenthische Sei-
te, Euch dann im Bogen nach Westen wendet, an unserer Nordgrenze entlang, und auf diesem Wege zurückkehrt. Euer Auftrag ist's, soviel Erkenntnisse wie nur möglich zu sammeln, und zwar hauptsächlich in dreifacher Hinsicht – nämlich bezüglich der Absichten, welche Wencit von Torenth für den Kriegsfall in diesem Gebiet hegt, ferner über diesen Schelm namens Warin alles, was sich im Norden über ihn erfahren läßt, und letztlich liegt mir an Hinweisen darüber, ob irgendwelche Nachrichten hinsichtlich des angedrohten Kirchenbannes ins Volk durchgesickert sind. Duncan hat Euch davon in Kenntnis gesetzt, nicht wahr?« »Ja, Herr.« »Um so besser. Entscheidet Euch selbst für eine Verkleidung, aber nach meiner Ansicht wäre eine Tarnung als Pelzhändler oder Fallensteller am günstigsten. Es ist besser, man erkennt Euch nicht als Kriegsmann.« »Das verstehe ich, Herr.« »Gut. Und nun zur Magie.« Er betastete seine Kehle, bis er eine dünne silberne Kette fand, die er aus seinem grünen Gewand zog. Als er die Kette über das Haupt streifte, sah Derry, daß daran eine Art von silbernem Medaillon hing. Er neigte ein wenig sein Haupt, so daß Morgan ihm die Kette um den Hals legen konnte; neugierig betrachtete er das Medaillon, das nun mitten auf seiner Brust baumelte. Anscheinend handelte es sich um irgendein Heiligenbildnis, aber weder kannte Derry die abgebildete Gestalt noch vermochte er die rundum am Rand eingeprägte Schrift zu entziffern. Morgan drehte das Medaillon um, dann lehnte er sich neben der Wandkarte an den
Bücherschrank. »Und nun helft mir bei der Herstellung einer besonderen Art derynischer Geistesverbindung. Sie ähnelt dem Gedankensehen, wobei Ihr mich bereits einige Male beobachten konntet, aber ermüdet davon beileibe nicht in solchem Maße, weil Ihr Euer eigener Herr bleibt. Entspannt Euch lediglich und versucht an gar nichts zu denken.« Er bemerkte Derrys zeitweiliges Unbehagen. »Es ist nicht unangenehm«, fügte er hinzu, »das versichere ich Euch.« Derry nickte und schluckte. »Gut. Nun schaut meinen Finger an und entspannt Euch.« Morgan hob seinen rechten Zeigefinger und bewegte ihn langsam auf Derrys Antlitz zu. Des jungen Mannes Augen folgten der Annäherung des Fingers, bis dieser fast seinen Nasenrücken berührte, dann blinzelte er, und seine Lider schlossen sich; er atmete leise aus und lockerte seine Haltung, als Morgan eine Hand auf seine Stirn senkte. Morgan verharrte so für ein kurzes Weilchen, währenddessen – zumindest rein äußerlich – nichts geschah; dann hob er die andere Hand, legte sie um das Medaillon und schloß die Augen. Einen weiteren Moment später löste er die Hand vom Medaillon, blickte auf und nahm die andere Hand von Derrys Stirn. Verblüfft riß Derry die Augen auf. »Ihr... Ihr habt auf geistigem Wege zu mir gesprochen«, flüsterte er ungläubig und mit ehrfürchtiger Stimme. »Ihr...« Voller Staunen sah er hinab auf das Medaillon. »Kann ich hiermit wirklich von Fathane aus mit Euch in Verbindung treten?« »Sogar aus noch größerer Entfernung, wenn vonnöten«, erklärte Morgan. »Doch bedenkt stets die damit verbundenen Schwierigkeiten. Als Deryni könnte ich Euch jederzeit rufen – wiewohl mich das
sehr viel Kraft kostete. Dagegen müßt Ihr mich zu den Zeiten rufen, die wir vereinbaren, denn ich muß Eurem Ruf gleichsam auf geistiger Ebene entgegeneilen, weil Ihr allein zu schwach seid, um mich zu erreichen. Daher ist es von höchster Wichtigkeit, daß Ihr ständig Kenntnis der Tageszeit habt. Ich erwarte die erstmalige Aufnahme der Verbindung am morgigen Abend, drei Stunden nach Anbruch der Dunkelheit. Bis dahin dürftet Ihr in Fathane sein.« »Gewiß, Herr. Und ich brauche nur diesen Zauberspruch anzuwenden, den Ihr mir soeben übermittelt habt, um mit Euch die Verbindung zu erhalten?« Seine blauen Augen waren geweitet, aber voller Vertrauen. »Richtig.« Derry nickte und schickte sich an, den Talisman unter sein Gewand zu stecken, doch dann hielt er inne und betrachtete ihn aufmerksam. »Aber was für eine Medaille ist das, Gebieter? Ich kenne weder diese Schrift noch die Gestalt.« »Ich habe befürchtet, daß Ihr diese Frage stellt.« Morgan lächelte. »Es ist ein sehr altes Medaillon Sankt Cambers aus der Zeit kurz nach der Restauration. Meine Mutter hat's mir vererbt.« »Ein Medaillon Cambers?« flüsterte Derry. »Und wenn jemand es erkennt?« »Solange Ihr bekleidet seid, wird niemand das Medaillon sehen und erst recht nicht erkennen, mein unehrerbietiger Freund«, entgegnete Morgan, klopfte Derry auf die Schulter und lachte. »Ich fürchte, während dieses Ausflugs müßt Ihr Euch von den Mägdelein fernhalten. Der Auftrag ist sehr ernster Natur.« »Ihr müßt immerzu aus allem die letzten Annehm-
lichkeiten verbannen, was?« murmelte Derry, ließ das Medaillon unter seine Kleidung gleiten und wandte sich mit einem Grinsen zum Gehen. Die Abenddämmerung zog herauf, als Duncan sein müdes Reittier zurück nach Coroth lenkte, und die Nachtkälte der Berglande senkte sich bereits zwischen die engen Schluchten. Die Zusammenkunft mit Tolliver war zumindest von teilweisem Erfolg gekrönt gewesen. Der Bischof hatte sich dazu bereit gefunden, seine Antwort an die Boten aus Rhemuth hinauszuschieben, bis er die Gesamtlage richtig beurteilen könne, und überdies versprochen, Morgan von allen künftigen Ereignissen im Zusammenhang mit seiner endgültigen Entscheidung zu unterrichten. Doch natürlich hatte die derynische Seite der Angelegenheit ihn, was völlig Duncans vorherigen Erwartungen entsprach, stark beunruhigt. Und der Bischof hatte Duncan davor gewarnt, sich weiter in magisches Treiben zu verstricken, wenn er länger Wert auf seine Priesterwürde lege und außerdem nicht seine unsterbliche Seele gefährden wolle. Duncan raffte den Umhang fester um seine Schultern und drängte das Pferd zu schnellerer Gangart, als er sich darauf besann, daß Alaric zweifelsohne mit Ungeduld auf das Ergebnis harrte. Außerdem fand heute abend ein Festmahl statt. Und im Gegensatz zu seinem herzoglichen Vetter war Duncan von Feierlichkeiten sehr angetan. Wenn er sich sputete, konnte er wahrscheinlich noch vorm Hauptgang eintreffen. Noch war es nicht dunkel. Als er durch die nächste Biegung ritt, bemerkte er plötzlich, während er seine Gedanken ziellos umherschweifen ließ, eine dunkle,
hochgewachsene Gestalt auf der Straße, keine zwanzig Schritt weit voraus. Im Zwielicht der Dämmerung ließen sich Einzelheiten schwerlich erkennen, aber als Duncan sein Pferd zügelte, um den Wanderer nicht niederzureiten, sah er, daß der Mann ein Mönchsgewand trug; eine zipfelige Kapuze bedeckte des Fremden Haupt, und seine Hand hielt einen Stab. Irgend etwas an ihm machte jedoch einen außergewöhnlich, sonderbaren Eindruck. Fast unbewußt erwachte in Duncan die Wachsamkeit des Kriegers, und seine Rechte tastete nach dem Griff des Schwertes, das er vor seinem linken Knie ans Sattelzeug geschnallt hatte. Die Gestalt drehte sich Duncan zu – nur zehn Schritte trennten sie noch voneinander –, und Duncan brachte das Pferd zum Stehen. Das Herz schlug ihm im Halse. Denn das Antlitz, welches unter der grauen Kapuze mit ernster Miene zu ihm aufsah, war eines, das er im Lauf der letzten Monde recht gut kennengelernt hatte, wiewohl niemals in Fleisch und Blut. Er und Alaric hatten es hundertmal gesehen, während sie in alten, verstaubten Büchern nach Wissen über einen sagenumwobenen derynischen Heiligen forschten. Es war das Antlitz Cambers von Culdi. Bevor Duncan ein Wort zu äußern oder etwas anderes zu tun vermochte als die Gestalt in schreckhafter Benommenheit anzustarren, nickte der Mann ihm höflich zu und streckte ihm zum Zeichen der Friedfertigkeit die rechte Hand offen entgegen. »Heil, Duncan von Corwyn«, murmelte der Fremde.
4 Der Engel, der mit mir redete, sagte zu mir... Zacharias 1,9 Duncans Kehle schien zu verdorren, und er konnte nur mühsam schlucken. Denn der Mann hatte ihn bei einem Namen angesprochen, von dem er bislang glaubte, er sei nur drei lebenden Menschen bekannt: ihm selbst, Alaric und dem jungen König Kelson. Es gab keine Erklärung dafür, wieso dieser Mann wußte, daß er ein Halbderyni war, daß seine Mutter und Alarics Mutter Zwillingsschwestern gewesen waren, zwei Frauen von hoher derynischer Herkunft. Das war ein Geheimnis, welches Duncan sein Leben lang mit größter Umsicht gehütet hatte. Und doch hatte dieser Mann vor ihm ihn mit seinem geheimen Namen angeredet. Woher konnte er ihn nur wissen? »Wie meint Ihr das?« brachte er schließlich im Flüstertone heraus; seine Stimme klang um eine Vierteloktave höher als gewöhnlich. Er räusperte sich. »Ich bin ein McLain, ein Abkömmling der Herren von Kierney und Cassan.« »Und von Eurer seligen Mutter her seid Ihr auch ein Corwyn«, widersprach der Fremde mit Nachsicht. »Es ist keine Schande, ein Halbderyni zu sein, Duncan.« Duncan schloß den Mund und vermochte endlich seine Fassung weitgehend zurückzugewinnen. Unruhig befeuchtete er seine Lippen. »Wer seid Ihr?«
fragte er, ohne auf des Fremden Äußerungen einzugehen; doch unbewußt löste seine Faust sich vom Schwertgriff, den er bis jetzt umklammert hatte. »Was ist Euer Begehr?« Der Mann lachte leise und schüttelte gutmütig das Haupt. »Ja, Ihr könnt diese Überraschung nicht verstehen, nicht wahr?« Er murmelte wie eher zu sich selber und lächelte noch immer freundlich. »Ihr braucht Euch nicht zu fürchten. Euer Geheimnis ist in meinem Innern sicher eingeschreint. Doch kommt, steigt vom Pferd und lauft ein Stück weit mit mir, denn ich möchte Euch etwas anvertrauen.« Duncan zögerte für einen Moment, unter dem ruhigen Blick des Mannes ein wenig von Mißbehagen geplagt, aber dann folgte er der Aufforderung. Der Mann nickte würdevoll. »Ihr mögt dies als eine Warnung betrachten, Duncan – nicht als Drohung meinerseits, denn das ist's nicht, sondern als Warnung zu Eurem Guten. In den folgenden Wochen werden Eure Kräfte in ernstlichem Maße auf die Probe gestellt, Duncan. Immer mehr werdet Ihr gezwungen sein, Euch unverhohlen der Magie zu bedienen, entweder zu Eurem Erbteil zu stehen und das Ringen aufzunehmen, wie's die Pflicht von Euch verlangt, oder es ein für allemal zu leugnen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« »Keineswegs«, flüsterte Duncan, dessen Lider sich verengten. »Um Euch nur in einer Hinsicht zu widersprechen – ich bin Priester, und es ist mir verboten, mich in den okkulten Künsten zu üben.« »Wahrhaftig?« fragte der Mann in aller Ruhe. »Natürlich ist die Anwendung von Magie mir untersagt.«
»Nein, ich meinte, seid Ihr wirklich Priester?« Duncan spürte, wie sich seine Wangen erhitzten, und er fühlte sich dazu veranlaßt, seinen Blick zu senken. »Dem Weiheritual zufolge, dem man mich unterzogen hat, bin ich auf alle Zeit Priester, und zwar nach...« »Nach den Geboten des Melchisedech«, vollendete an seiner Stelle der Fremde. »Ich kenne die Schriften. Aber seid Ihr wahrhaftig ein Priester? Was geschah denn vor zwei Tagen?« Trotzig hob Duncan den Blick. »Ich bin lediglich aus meinem Amt entlassen. Weder bin ich der Priesterwürde entkleidet noch exkommuniziert worden.« »Und doch, Ihr selbst habt gesagt, Ihr wäret gar nicht so erschüttert, daß Euer Gelübde, je mehr Ihr Euch als Deryni betätigt, immer weniger wert sei.« Duncan entfuhr ein Keuchen. Unwillkürlich trat er dem Mann näher, und sein Pferd hob erschrocken den Kopf. »Woher wißt Ihr das?« Der Mann lächelte sanftmütig und ergriff mit einer Hand des Pferdes Zaumzeug, um zu verhindern, daß das Tier ihm auf die Füße trat, an denen er nur Sandalen trug. »Ich weiß vieles.« »Wir waren allein«, murmelte Duncan, mehr zu sich selbst als an den Fremden gewandt. »Ich hätte mein Leben darum gewettet, daß niemand uns belauschen könnte. Wer seid Ihr?« »Die Begabung der Deryni ist beileibe nicht von böser Natur, mein Sohn«, sprach der Mann in gleichsam gesprächsweisem Tonfall. Er ließ seine Hand sinken und begann langsam die Straße hinabzuwandern. Duncan schüttelte in höchster Verwunderung sein Haupt und schloß sich ihm an, indem er sein
Pferd mit sich führte. Er lauschte angestrengt, um die gedämpften Worte des Fremden verstehen zu können. »... auch nicht zwangsläufig gut. Das Gute und das Böse haben ihren Ursprung in der Seele und dem Geist desjenigen, der sich dieser Fähigkeiten bedient. Allein ein schlechter Sinn kann Macht zum Bösen mißbrauchen.« Im Gehen wandte er sich Duncan zu, sprach jedoch ohne Säumen weiter. »Ich habe Euren bisherigen Gebrauch Eurer Begabung beobachtet, Duncan, und ihn als höchst umsichtig und klug befunden. Ihr könnt darauf verzichten, Euch mit Zweifeln an der Rechtschaffenheit Eurer Beweggründe zu quälen. Ich hege Verständnis für den inneren Kampf, den Ihr ausstehen mußtet, um Euch überhaupt zu ihrer Nutzung durchzuringen.« »Aber...« »Genug«, unterbrach ihn der Mann und erhob eine Hand, um Schweigen zu gebieten. »Ich muß Euch nun verlassen. Aber ich ersuche Euch, Eure Beweggründe bezüglich jenes anderen Zwiespalts zu prüfen, den ich erwähnt habe. Es mag wohl dazu kommen, daß Euch andere Herausforderungen erwarten, als Ihr glaubt. Bedenkt meine Worte. Mit Euch sei das Licht.« Das gesprochen, war der Mann urplötzlich verschwunden; und Duncan blieb bestürzt wie versteinert stehen. Fort! Spurlos entschwunden! Er betrachtete den Erdboden an seiner Seite, wo der Mann neben ihm gegangen war, aber er fand keine Fußabdrücke. Trotz des trüben Zwielichts konnte er die Spuren seiner eigenen Füße erkennen, ebenso die fest ins feuchte Erdreich der Straße gestampften Hufspuren des Pferdes. Doch die Füße des Fremden hat-
ten keinen Abdruck hinterlassen. War er einer Wahnvorstellung erlegen? Nein! Die Gestalt war zu greifbar wirklich, zu schauderhaft bedrohlich gewesen, um bloß in seinem Geist vorhanden gewesen sein zu können. Nun war er nachzuvollziehen imstande, wie Alaric sich gefühlt haben mußte, als ihm seine Visionen widerfuhren. Dieser Eindruck der Unwirklichkeit und zugleich das Bewußtsein der Gewißheit, von jemandem oder von einem Etwas heimgesucht worden zu sein! Wahrlich, diese Gestalt war so wirklich gewesen wie – wie jene glanzvolle Erscheinung, welche er und andere derynischen Blutes bei Kelsons Krönung geschaut hatten, jene Erscheinung, die ebenfalls Hand an Gwynedds Krone legte, um sie auf Kelsons Haupt zu setzen. Und nun, da er sich daran erinnerte, fiel ihm auf, daß es sich sehr wohl um dasselbe Wesen gehandelt haben konnte! Und war es so... Es schauderte Duncan, und erneut hüllte er sich enger in seinen Umhang, dann stieg er wieder aufs Pferd und gab dem Tier die Sporen. Auf dieser verlassenen Straße ließen sich keine Antworten finden. Und er mußte Alaric erzählen, was sich ereignet hatte. Seines Vetters Visionen waren in Zeiten höchster Zuspitzung aufgetreten, als sich die allerärgsten Verhängnisse zusammenbrauten. Er hoffte, daß das kein böses Vorzeichen sein möge. Bis zum Hof von Burg Coroth waren es noch drei Meilen. Sie sollten ihm wie dreißig erscheinen. Auf Burg Coroth hatte die abendliche Festlichkeit mit dem Sonnenuntergang begonnen. Als die Dunkelheit herabsank, fingen kostbar gewandete Edelmänner und ihre prunkvollen Damen an, den herzoglichen
Saal mit Farbigkeit und Lebhaftigkeit zu füllen, während sie auf ihren Herzog warteten. Herr Robert hatte es geschafft, getreu seinem Vorsatz, den gewöhnlich recht düsteren Hauptsaal in eine Oase der Helligkeit und des Frohsinns zu verwandeln, einen willkommenen Zufluchtsort für alle, die aus der feuchten Trübnis eines Abends ohne Mondschein kamen. An der Decke aufgehängte Kronleuchter aus gehämmerter Bronze funkelten im Licht ihrer Hundertschaft von Kerzen. Blitze fuhren aus den geschliffenen Flächen zierlicher Kristallkelche und den kantigen Flanken herrlicher Silberbecher, Glanzlichter tanzten auf den sanften Rundungen polierten Zinngeschirrs und des Tafelsilbers; alles war in bewundernswerter Ordnung über die gewaltige Tafel aus dunklen Tischen verteilt. Ein Dutzend Pagen und Knappen in smaragdgrüner Tracht eilten zwischen den langen Tischreihen einher und legten darauf Brot aus, stellten Karaffen voller lindem fiannischen Wein zurecht. Und Herr Robert hielt wachsam Ausschau, um nicht das Auftauchen seines Gebieters zu versäumen, während er mit zwei wunderschönen Damen plauderte. Laute und Blockflöte lieferten zum Schwatzen der Gäste festliche Hintergrundmusik. Während die Gäste durcheinanderschwärmten, schlenderte auch Meister Randolph, Morgans zuverlässiger Leibarzt, gemächlich zwischen den versammelten Adeligen und Herrschaften dahin, nickte zum Gruße diesem oder jenem Gast zu und verharrte gelegentlich, um mit einem Bekannten ein paar Belanglosigkeiten zu wechseln. Am heutigen Abend, wie stets bei solchen Anlässen, war es seine Aufgabe, die Stimmung von seines Herrn Untertanen zu ergründen und dem Herzog später interessante
Einzelheiten zu berichten. Dieweil er durch den Saal wanderte, fing er überall Bruchstücke von Gesprächen auf. »Na, ich gäbe für einen bremagnischen Söldner keinen Heller«, erklärte soeben ein stattlicher Herr einem anderen Edelmann, während sein Blick einer prächtig geputzten Dame mit braunem Haar durch den Saal folgte. »Man kann ihnen nicht trauen.« »Und wie steht's um bremagnische Damen?« murmelte der andere Edle und stieß seinen Gesprächspartner in die Rippen, eine Braue aufwärts geschoben. »Glaubst du, man kann ihnen trauen?« »Ach...!« Die beiden Edelleute nickten sich nach der Art von Schwerenötern zu und gafften der fraglichen Dame nach, ohne Meister Randolphs Lächeln zu bemerken, das er sich erlaubte, als er seinen Rundgang fortsetzte. »Und eben das versteht der König anscheinend nicht«, behauptete ein junger Ritter mit aufgewecktem Antlitz, aber schwerlich schon alt genug, um sich die Sporen verdient zu haben. »Alles ist ganz einfach. Kelson weiß, wie Wencit vorgehen wird, sobald das Tauwetter einsetzt. Warum läßt er nicht...« Ja, warum nicht? dachte Randolph und lächelte verzerrt. Alles ist ganz einfach. Dieser junge Ritter kennt die Antworten auf alle Fragen. »Und nicht allein das«, sagte eine hinreißende rothaarige Dame zu ihrer Bekannten, »man erzählt auch, er sei bloß lange genug hier gewesen, um die Kleidung zu wechseln, dann sei er gleich wieder aufs Pferd gestiegen und fortgeritten, wohin, das mag Gott allein wissen. Ich hoffe, er kehrt rechtzeitig zum
Festmahl zurück. Ihr habt ihn schon einmal gesehen, nicht wahr?« »Hmm-hm.« Die blonde Dame seufzte wohlgefällig. »In der Tat. Was für ein Verdruß, daß er ein Priester ist. Man möchte...« Meister Randolph verdrehte aus Bestürzung die Augen, als er an den beiden Damen vorüberschritt. Die Damen des herzoglichen Hofes pflegten dem armen Pater Duncan regelrecht nachzustellen – fast in gleichem Maße wie dem Herzog selbst. Es war wahrhaft entwürdigend! Man könnte anders darüber denken, wenn der Priester sie womöglich ermutigte. Aber das tat er keineswegs. Wenn der gute Pater Glück hatte, kam er erst nach dem Bankett zurück. Als sein Blick aufmerksam durch die Versammlung schweifte, erkannte Randolph drei von Morgans Markgrafen in einigem Abstand zu seiner Rechten in eine ernsthafte Unterhaltung vertieft. Was sie sprachen, so wußte er, würde Morgans lebhaftes Interesse finden; doch Randolph wagte sich nicht zu nahe. Die Männer kannten ihn als einen Vertrauten Morgans, und falls sie merkten, daß er aufs Lauschen bedacht war, wechselten sie zweifellos ihren Gesprächsstoff. Er näherte sich ihnen so weit, wie er's für vertretbar hielt, und gab vor, zwei älteren Edlen zuzuhören, die über Falken sprachen. »Woll, Iehr dirrft den Riemen nicht zu eng ziehen, sonst wirrd Eich der...« »... und da kommt doch dieser Kerl Warin wahrhaftig in meinen Speicherhof geritten, wo ich das Korn lagere, und redet mich an: ›Entrichtet Ihr gerne Abgaben an Seine Gnaden?‹ Nun, sage ich zu ihm, niemand ist begeistert über Abgaben, aber bei Gott,
des Herzogs Untertanen erhalten Beistand und Wohlwollen, welche ihre Abgaben wert sind.« »Hmmm«, brummte ein anderer Markgraf. »Erst vorgestern hat mir Hurd de Blake erzählt, daß der elendige Schurke ihm vier Morgen Frühjahrsweizen niedergebrannt hat. Droben im Norden bei de Blake war's ein trockener Winter, und der Weizen loderte wie das Höllenfeuer. Warin hatte ihn aufgefordert, zu seiner Sache beizutragen, und de Blake riet ihm, er solle sich zum Teufel scheren.« »... nain, ich schätze die klainen Schlaufen ja selber, man hat den Riemen besser im Griff...« Der dritte Markgraf kratzte sich am Bart und zuckte die Achseln; Randolph strengte sein Gehör an, um seine Worte zu verstehen. »Und doch, dieser Bursche namens Warin scheint mir nicht völlig im Unrecht zu sein. Der Herzog ist ein Halbderyni, er macht ja kein Geheimnis daraus. Angenommen, er gedenkt sich mit Wencit zu verbünden, um eine neue Deryniherrschaft aufzurichten, Gwynedd ein neues Interegnum zu bereiten? Ich möchte ungern erleben, wie heidnische Derynimagie meine Güter verwüstet, weil ich mich diesen Ketzerlehren widersetzt habe.« »Ach, gemach, Ihr wißt, daß unser Herzog so etwas nie und nimmer täte«, wandte der erste Markgraf ein. »Ja, erst vor zwei Tagen...« »Mein Wanderfalke...« Meister Randolph nickte bei sich und strebte weiter; es stellte ihn zufrieden, daß von den Markgrafen keine Unruhe ausging. Sie sprachen über nichts anderes als alle anderen an diesem Abend auch. Ohne Zweifel waren die Untertanen dazu berechtigt, sich über die Absichten ihres Herzogs Gedanken zu ma-
chen, zumal er sich darauf vorbereitete, noch in diesem Jahr in den Krieg zu ziehen und mit sich die Blüte von Corwyns Kriegsmannen zu nehmen, so daß das übrige Volk mehr oder weniger selber für seinen Schutz sorgen mußte. Die fortgesetzte Erwähnung Warins und seiner Horde bot allerdings genug Grund zur Beunruhigung. Im Laufe des vergangenen Mondes hatte Randolph mehr über den Rebellenführer und dessen Bande vernommen, als er sich zu merken vermochte. Und anscheinend gestaltete sich ihr Treiben, statt nachzulassen, beständig schlimmer. Hurd de Blakes Land lag immerhin dreißig Meilen weit innerhalb der Grenze, und Randolph hatte nie zuvor gehört, daß Warin so tief nach Corwyn eingedrungen wäre. Allmählich entwickelte sich daraus mehr als ein bloßes Grenzärgernis. Er mußte Morgan davon unterrichten, bevor er morgen hofhielt. Randolph spähte durch den Saal und bemerkte hinter den Vorhängen, wovon aus Morgan bei Festlichkeiten hereinzuschreiten pflegte, eine schwache Bewegung – des Herzogs Zeichen, daß er bereit war zum Auftritt. Die Bewegung wurde wiederholt; Randolph nickte und begab sich gemessenen Schritts hinüber. Morgan ließ den schweren Samtvorhang los und straffte sich beruhigt, als er sah, daß Randolph sein Zeichen nunmehr bemerkt hatte und sich auf dem Wege befand. Hinter ihm zankte Gwydion erneut mit Herrn Hamilton, in gedämpftem, aber giftigem Tone. Morgan drehte sich um. »Auf meinen Fuß habt Ihr getreten!« flüsterte der kleingewachsene Troubadour wutentbrannt und deutete auf einen seiner vornehm spitzen Schuhe, welcher nun in der Höhe des großen Zehs seitlich einen stumpfen Schlorrflecken aufwies.
Seine gesamte Gewandung war in Tönen von Rosa und dunklem Blaurot gehalten, und der Schmutz, den Hamiltons Fehltritt hinterlassen hatte, haftete am wunderbar feinen Wildleder des linken Schuhs wie ein greulicher Makel. Gwydions Laute war an einem goldenen Band um seine Schulter geschlungen, und auf seinem dichten schwarzen Schopf saß ein schwungvoller, breitrandiger Hut mit weißer Kokarde. In seinem dunklen Antlitz funkelten die schwarzen Augen in glühendem Zorn. »Um Vergebung«, murmelte Hamilton und wollte sich bücken, da er es offenbar vorzog, den unliebsamen Flecken eigenhändig zu beseitigen, als nochmals in Morgans Gegenwart in einen Streit verwickelt zu werden. »Berührt mich nicht!« kreischte Gwydion und tänzelte um ein paar Schritte rückwärts, wobei er in übertriebener Gebärde des Abscheus eine Hand auf seinen Busen preßte. »Ihr tölpelhafter Esel, Ihr machtet es noch schlimmer.« Er kauerte sich nieder, um selber an seinem Schuh herumzuputzen, und seine weiten violetten Ärmel schleiften am Boden, so daß er anschließend auch sie ausklopfen mußte. Hamiltons Miene widerspiegelte Rachsucht, und als Gwydion die neue Beschmutzung entdeckte, gestattete er sich ein boshaftes Grinsen; dann bemerkte er, daß Morgan die Vorgänge beobachtete, und räusperte sich wie zur Entschuldigung. »Ich ersuche um Eure Nachsicht, Euer Gnaden«, murmelte er. »Es war wirklich ein Mißgeschick.« Ehe Morgan sich irgendwie äußern konnte, teilten sich flüchtig die Vorhänge, und Randolph huschte zu ihnen in die Nische. »Nichts von Bedeutung zu ver-
melden, Euer Gnaden«, berichtete er geruhsam. »Man redet viel über diesen Schelm Warin, aber nichts, worüber wir nicht erst morgen sprechen könnten.« »Erfreulich.« Morgan nickte. »Gwydion, falls Ihr und Hamilton für ein hinreichendes Weilchen mit dem Hader aufhört, möchten wir nun wohl den Saal betreten.« »Mein Herr!« keuchte Gwydion und richtete sich in heller Empörung auf. »Nicht ich war's, der diesen kindlichen Zank begonnen hat. Dieser ungehobelte Klotz...« »Euer Gnaden«, setzte Hamilton zum Einspruch an, »könnt Ihr wirklich von mir verlangen, daß ich noch länger...« »Schweigt, von keinem wünsche ich noch ein Wort zu vernehmen!« Der Seneschall nahm eine straffe, würdevolle Haltung an, als die Vorhänge, von Pagen gezogen, zur Seite glitten, und sofort dämpfte sich der Lärm im Saal. Hohl hallten drei Pochlaute, in langsamer Reihenfolge mit dem langen Amtsstab erzeugt, durch den Saal; die Gäste kamen rasch zur Ruhe, und dann erscholl feierlich des Seneschalls Stimme. »Seine Gnaden, Herr Alaric Anthony Morgan, Herzog von Corwyn, Herr auf Burg Coroth, Feldmarschall Seiner Majestät des Königs und Königlicher Kämpe!« Als die Musikanten einen kurzen Tusch bliesen, trat Morgan ins allgemeine Blickfeld und verharrte für einen Moment. Beifälliges Gemurmel verbreitete sich unter den versammelten Gästen, während alle sich achtungsvoll verbeugten. Die Musikanten begannen eine festliche Weise zu spielen, als Morgan die Ehrerbietung mit einem knappen Nicken würdigte und
ohne Hast hinüber zu seinem Platz an der herrschaftlichen Tafel strebte; sein Gefolge schloß sich ihm an. Heute abend war Morgan ganz in Schwarz gekleidet. Duncans besorgniserregende Neuigkeiten aus Rhemuth hatten ihn in düstere Stimmung versetzt, so daß ihm der Sinn ganz und gar nicht danach stand, auf die Anregungen seines von Putz und Prunk aller Art begeisterten Kämmerers zu hören. So hatte er das von Herrn Rathold auserwählte Grün verworfen und statt dessen schwarze Kleidungsstücke angelegt, und es war ihm gänzlich gleichgültig, was irgendwer davon halten mochte. Er trug ein schlichtes Gewand aus schwarzer Seide und von sparsamem Schnitt, das seinen Leib und die Arme eng bis zu den Handgelenken umhüllte; darüber einen prächtigen schwarzen Janker aus Samt, ausgiebig gebürstet, so daß er wie Pechkohle glänzte, und mit weiten, bis zu den Ellbogen geschlitzten Ärmeln, damit man des Gewandes schwarze Seide sehe; seidene Beinkleider verschwanden drunten in kurzen schwarzen Stiefeln aus dem allerfeinsten Leder. Um diese Finsterkeit seiner Erscheinung zu mildern, verfügte er lediglich über jene wenigen Schmuckstücke, die Morgan sich in so trübseliger Gemütsverfassung zu erlauben pflegte: seinen Greifensiegelring an der rechten Hand – sein Wappentier hob sich in smaragdenem Glanz vom Achat ab – und an der Linken den Ring des Königlichen Kämpen, woran auf in Gold gefaßtem Schwarz der goldene gwyneddische Löwe schimmerte. Und auf seinem Haupt saß die herzogliche Adelskrone von Corwyn, aus gehämmerten Gold und mit sieben zierlichen Zinnen, krönte den golblonden Schopf des derynischen Herr von Corwyn. Er schien unbewaffnet
zu sein, wie er so seinen Platz am Kopfende der Herrschaftstafel aufsuchte; nach herkömmlicher Vorstellung hatte es der Herrscher von Corwyn nicht nötig, mit Waffen und in Wehr unter seine Festgäste zu treten. Und doch schützte unter Morgans würdevoller Gewandung ein geschmeidiges Kettenhemd seinen verwundbaren Leib, und in der Unterarmscheide stak wie gewöhnlich das schmale Stilett. Und wohin er auch ging, die Schirme seiner Derynifähigkeiten umgaben ihn wie ein unsichtbarer Mantel. Nun mußte er den großzügigen Gastgeber spielen und sich den Langweiligkeiten eines Banketts unterwerfen, dieweil er insgeheim aus Ungeduld brodelte, sich fragte, wie es Duncan ergangen sein mochte. Als Duncan endlich Coroth erreichte, war es bereits geraume Zeit nach Anbruch der Dunkelheit. Auf den beiden letzten Meilen hatte sein Pferd gelahmt, weshalb er sich dazu veranlaßt sah, den Rest der Strecke zu Fuß zurückzulegen; es kostete ihn erhebliche Überwindung, das Pferd nicht trotz dessen Schmerzen zu gemäßigterer Gangart anzutreiben. Aber er entschied sich schließlich dagegen. Eine Rückkehr um eine Stunde früher konnte schwerlich eines von Alarics besten Reitpferden aufwiegen, und außerdem widersprach es Duncans Gemüt, irgendein Lebewesen zu quälen. Und so kam es, daß sie, als er und das Tier schließlich in die Burg humpelten, er voran, das müde Pferd hinter ihm, einen nahezu menschenleeren Innenhof betraten. Die Torwächter hatten ihn unbehelligt eingelassen, weil sie seine Rückkehr erwarteten, aber im Hof war niemand zur Stelle, um ihm das Pferd abzunehmen. Mit des Herzogs Duldung
hatten sich die Knappen und Pagen, denen an diesem Abend die Aufsicht über die Ställe oblag, in den Hintergrund des Hauptsaals geschlichen, um Gwydions Gesang zu lauschen. Duncan machte einen Knecht ausfindig, der sich um das Pferd kümmerte, dann schritt er über den Hof zum Eingang des Hauptsaals. Das Mahl war bereits verschlungen, erfuhr er sogleich, und als er sich durch die Diener schob, welche unter der Tür standen, sah er die abendlichen Darbietungen schon in vollem Gange. Gerade sang Gwydion; er saß auf der zweiten Stufe der Estrade am jenseitigen Ende der Halle, die Laute spielerisch leicht in den Armen. Duncan verharrte, um seinem Vortrag zu lauschen. Offenbar verdiente der Sänger den Ruf, welchen er in den Elf Königreichen genoß. Er sang eine getragene, gemessene Weise aus dem Bergland von Carthmoor im Westen, dem Land von Gwydions Jugend. Und sie war erfüllt von jenen Gleitlauten, den Tonübergängen zu Mollklängen, welche für die Musik der Bergbewohner anscheinend eigentümlich waren; Gwydions klare Tenorstimme tönte durch die stille Halle, erzählte die bittersüße Geschichte von Mathurin und Derverguille, den zu Sagengestalten gewordenen Liebenden, die während des Interregnums von den Händen des grausamen Herrn Gerent starben. Keine Seele rührte sich, dieweil der Troubadour die trauervollen Reime der Ballade vortrug. »Mag mein Sang noch unterm Silbermond erklingen? Wie soll ich's wohl den Ungeborenen singen? Kann ich leben, da mein Herze muß zerspringen? Mein Herr Mathurin ist tot.«
Als Duncan seinen Blick weiterwandern ließ, sah er Morgan an seinem Platz am Kopfende der herrschaftlichen Tafel sitzen, zur Linken der Estrade, wo Gwydion sang. Links von Morgan saß Herr Robert zwischen zwei schönen Damen, deren Blicke zärtlich auf Morgan ruhten, während Gwydions Stimme erklang. Doch bevor er mehr zu tun vermochte, als sich in diese Richtung zu wenden, sah Morgan ihn und schüttelte das Haupt; sodann erhob er sich lautlos und kam herüber an die Längsseite des Saales. »Was hat sich zugetragen?« flüsterte er, zog Duncan hinter eine Säule und schaute rundum, sich vergewissernd, daß niemand sie belauschte. »Mein Besuch bei Bischof Tolliver war erfolgreich zur Genüge«, murmelte Duncan. »Es mangelte ihm zwar an Begeisterung, aber er hat seine Bereitschaft erklärt, seine Antwort an Corrigan und Loris hinauszuschieben, bis er die Lage richtig zu beurteilen imstande ist. Er will uns auf dem laufenden halten, bevor er sich daranmacht, seine Entscheidung zu fällen.« »Nun, das dürfte besser sein denn gar nichts. Welche Haltung hat er im allgemeinen eingenommen? Glaubst du, er steht auf unserer Seite?« Duncan hob die Schultern. »Er windet sich natürlich wegen deines Derynitums, aber so geht's schließlich jedem. Vorerst ist er, so habe ich den Eindruck gewonnen, auf unserer Seite. Aber ich habe noch etwas zu berichten.« »Aha?« »Ich... äh... wir sollten nicht hier darüber sprechen.« Mit bedeutungsschwerer Miene sah Duncan sich um. »Auf dem Rückweg hatte ich eine... Begegnung.«
»Eine...?« Morgans Augen weiteten sich. »Du meinst, eine solcher Art, wie auch ich sie schon hatte?« Duncan nickte mit düsterer Miene. »Können wir uns im Turmzimmer unterhalten?« »Sobald ich mich den Festlichkeiten entziehen kann«, äußerte Morgan sein Einverständnis. Als Duncan die Richtung zur Tür einschlug, tat Morgan einen tiefen Atemzug, während er um Fassung rang, dann stahl er sich leise zurück an seinen Platz. Er überlegte, wie lange es noch dauern möge, bis er es sich erleichtert behaglich machen durfte. Im Turmgemach schritt Duncan vorm Kamin auf und nieder, rang ruhelos die Hände und versuchte sein aufgewühltes Gemüt zu besänftigen. Er bemerkte nun, daß er weit stärker erschüttert war, als er's sich ursprünglich zugeben wollte. Als er vor einem Weilchen das Gemach betrat, hatte ihn wahrhaftig eine Art von Schüttelkrampf befallen, als seine Gedanken sich der Heimsuchung auf der Straße zuwandten, ein Beben wie von eisigem Wind in seinem Nacken. Der Anfall ging vorüber, und nachdem er seinen feuchten Reitumhang beiseite geworfen hatte, sank er vor dem winzigen Altar in den Betstuhl und bemühte sich ums Gebet. Doch es wollte ihm nicht gelingen. Sein Geist blieb nicht bei den Worten, die er zu sprechen versuchte, und er mußte seine Absicht als vorerst sinnlos verwerfen. Auch das Hin- und Herschreiten, so begriff er rasch, eignete sich nicht dazu, ihm dabei zu helfen, sich zu beruhigen. Als er vorm Kamin verharrte und eine Hand ausstreckte, sah er, daß sie noch immer in einer Art von später Nachwirkung je-
ner Begegnung zitterte, welche ihm auf der Straße widerfuhr. Und warum? Indem er sich ernstlich ermahnte und ermannte, trat er zu Alarics Arbeitstisch, entnahm einer Kristallkaraffe den Stöpsel und schenkte sich ein kleines Glas mit dem schweren Rotwein voll, den Alaric für solche Notfälle in Bereitschaft zu haben pflegte. Er leerte das Glas und füllte es nochmals, dann begab er sich damit hinüber zu dem mit Fell ausgelegten Ruhebett an der linken Seite. Er knöpfte seine Soutane bis zu halber Höhe auf, lockerte seinen Kragen und reckte seinen Nacken rückwärts, um die Verspannung zu lockern, dann legte er sich rücklings auf das Ruhebett, in seiner Hand das Weinglas. Während er so dort lag, langsam vom Wein trank und sich zu einem nüchternen Rückblick zwang, begann er sich allmählich zu entspannen. Als sich schließlich die Tür mit dem Greifenwappen öffnete und Alaric hereinkam, fühlte er sich bedeutend wohler – beinahe lustlos, sich zu erheben oder nur zu reden. »Bist du wohlauf?« fragte Morgan, kam zum Ruhebett und setzte sich neben seinen Vetter. »Ich glaube, ich werde es überstehen«, antwortete versonnen Duncan. »Vor einem Weilchen war ich da gar nicht so sicher. Dieser Zwischenfall sorgt mich wahrhaftig ungemein.« Morgan nickte. »Ich kenne dies Gefühl. Wünschst du darüber zu sprechen?« Duncan seufzte beschwerlich. »Er war's. Ich ritt dahin, kam durch eine Biegung des Wegs, etwa drei oder vier Meilen von hier, und dort stand er mitten auf dem Pfad. Er trug eine graue Mönchskutte, hielt in der Hand einen Stab, und... wahrlich, sein Antlitz
glich nahezu gänzlich den Abbildungen, die wir in den alten Brevieren und Historien gefunden haben.« »Hat er etwas zu dir gesagt?« »O ja«, bestätigte Duncan mit herzhaftem Nachdruck. »Und zwar mindestens ebenso laut und deutlich, wie nun wir beide hier miteinander reden. Und nicht allein das, er weiß auch, wer und was ich bin. Er sprach mich mit dem Namen meiner mütterlichen Seite an – Duncan von Corwyn. Als ich Widerspruch erhob und einwandte, ich sei ein McLain, da sagte er mir ins Angesicht, ich sei auch ein Corwyn – ›von Eurer seligen Mutter her‹, so drückte er sich aus, wenn ich mich recht entsinne.« »Nur zu«, ermunterte ihn Morgan und schenkte sich ebenfalls vom Rotwein ein. »Ah... ferner verhieß er mir, ich werde in kurzer Frist einer ernsten Prüfung unterzogen, zwangsweise vor die Entscheidung gestellt, entweder zu meinen Fähigkeiten zu stehen und sie offen anzuwenden oder jedoch sie zu vergessen. Als ich erneut Einspruch einlegte und erklärte, als einem Priester sei mir die Anwendung dieser Fähigkeiten verboten, da richtete er an mich die Frage, ob ich wirklich ein Priester sei. Er wußte sogar um meine Amtsenthebung und... und um jene Dinge, die wir beide erst am Nachmittag besprochen hatten. Erinnerst du dich, ich sagte zu dir, die Amtsenthebung erschüttere mich nicht so arg, und meine Gelöbnisse wären anscheinend immer weniger wert, je mehr ich als Deryni handeln müsse, nicht wahr? Niemals habe ich so etwas zu irgendeinem Menschen geäußert, zu niemandem außer dir, Alaric, und das weißt du. Woher kann er's also erfahren haben?«
»Er wußte, worüber wir uns am heutigen Nachmittag unterhalten haben?« vergewisserte sich Morgan und nahm in höchstem Erstaunen wieder Platz. »Fast wörtlich. Und er hatte keineswegs zuvor meine Gedanken gelesen. Alaric, rate mir, was soll ich tun?« »Ich weiß es nicht«, sagte Morgan bedächtig. »Ich weiß nicht einmal so recht, was ich davon halten soll. Zu mir war er nie so gesprächig.« Er rieb sich die Lider und überlegte einen Moment lang. »Sag mir, glaubst du, er war menschlich? Ich meine, war tatsächlich in Fleisch und Blut dort? Oder nur als Erscheinung, als ein Gesicht?« »Er war in Fleisch und Blut dort«, erwiderte Duncan, ohne zu zögern. »Er nahm das Pferd beim Zügel, damit es ihm nicht auf die Füße trete.« Duncan schnitt eine finstere Miene. »Und dennoch, wo er wandelte, da hat er keine Fußspuren hinterlassen. Als er verschwunden war, konnte ich – es war noch hell genug – meine eigenen Spuren sehen, aber keine von seinen Füßen.« Duncan ließ eine Braue aufwärts rutschen. »Ach, o weh, Alaric, nun weiß ich selber nicht länger, was ich davon denken soll. Vielleicht war er doch nicht dort. Womöglich habe ich alles nur gewähnt.« Morgan schüttelte sein Haupt und erhob sich mit heftigem Ruck. »Nein, du hast etwas gesehen. Im Moment wage ich nicht einmal Vermutungen in der Hinsicht anzustellen, was es gewesen sein mag, aber ich glaube, da war etwas.« Einen Augenblick lang starrte er hinab auf seine Füße, dann schaute er auf. »Warum schlafen wir nicht erst einmal darüber, hm? Wenn du's magst, kannst du hierbleiben. Anschei-
nend findest du's auf meinem Ruhebett höchst gemütlich.« »Wollte ich's auch, ich könnte mich nicht rühren.« Duncan grinste. »Dann bis morgen.« Er sah Morgan nach, bis der Herzog sich durch die Tür mit dem Greifenwappen entfernt hatte; dann senkte er seinen Arm und setzte das Glas auf den Boden. Er hatte auf der Straße nach Burg Culdi jemanden gesehen. Erneut stellte er sich die Frage, wer es gewesen sein mochte. Und warum war die Begegnung geschehen?
5 Wer ist diese, die da herabschaut wie Morgenrot, schön wie der Mond, rein wie die Sonne, majestätisch gleich den Bannerscharen? Hoheslied 6,10 Als in Coroth die Glocken der Kathedrale zum sechsten kanonischen Stundengebet schlugen, unterdrückte Morgan ein Gähnen und unternahm einen neuen Versuch, nicht so gelangweilt auszusehen, wie er sich fühlte. Er befaßte sich damit, die Schriftrollen der Urteile durchzuschauen, welche er am Vortage gefällt hatte; ihm gegenüber, am anderen Ende des Tischs, arbeitete Herr Robert emsig an einer Rechnungsrolle. Herr Robert, so stellte Morgan bei dieser Gelegenheit insgeheim fest, arbeitete immer emsig. Und das war wahrscheinlich nur gut so, denn irgend jemand mußte sich wohl um diesen lumpigen Schreibkram kümmern. Anscheinend machte es Robert nicht das geringste aus, etliche Stunden hintereinander über schleierhaften Abrechnungen und Verzeichnissen zu brüten, während ringsum die Welt ins Bröckeln geriet. Aber natürlich war das auch seine Aufgabe... Morgan seufzte und suchte seine Aufmerksamkeit wieder seiner Aufgabe zuzuwenden. Als Herzog von Corwyn bestand eine seiner vornehmsten Pflichten darin, einmal in jeder Woche, solange er in der Residenz weilte, die Anklagen örtlicher Ge-
richte anzuhören und Entscheidungen zu unterbreiten. Gewöhnlich nahm er diese Pflicht gerne wahr, denn sie ermöglichte es ihm, über die Vorgänge in seinem Herzogtum in einem Mindestmaß unterrichtet zu bleiben, von den Dingen zu erfahren, welche seine Untertanen beschäftigten oder sorgten. Doch seit einigen Wochen kannte er nicht länger weder Rast noch Ruhe. Die lange Untätigkeit, wozu ihn die für fast zwei Monde ausgeübte Wahrnehmung der Landesvaterpflichten gezwungen hatte, erfüllte ihn mit störrischer Gereiztheit, dem Drang zum Handeln. Und selbst die täglichen Waffenübungen mit Schwert und Lanze sowie gelegentliche Ausritte auf Jagd ins Land hatten sein Unwohlsein nicht zu lindern vermocht. Er würde froh sein, wenn er in der nächsten Woche nach Culdi abreisen konnte. Die männliche Anstrengung des viertägigen Rittes sollte ihm nach dem glanzvollen, aber langweiligen Leben, welches er im Laufe der beiden letzten Monde geführt hatte, eine willkommene Abwechslung sein. Und am meisten sehnte er sich danach, alte Freunde wiederzusehen. Vor allem der junge König würde ihm ein höchlichst erfreulicher Anblick sein; es verlangte Morgan danach, an seiner Seite zu stehen, ihn zu beschützen und zu ermutigen, ihm angesichts der neuen Gefahr, die sich mit jedem Tag verstärkte, seinen Bestand zu leisten. Kelson war für ihn fast wie ein Sohn. Er konnte sich recht gut ausmalen, welche Arten von Sorgen gegenwärtig des Jünglings Seele bedrücken mußten. Widerwillig begann sich Morgan weiterhin mit den Dokumenten zu befassen und kritzelte seine Unterschrift an den unteren Rand des obersten Pergaments. Teilweise erklärte sich seine heutige Unlust aus der Tatsache, daß die
Fälle, mit denen er sich hatte auseinandersetzen müssen, im Gegensatz zu den Bedrohungen, um die Morgan wußte, so lächerlich geringfügig wirkten. Das Dokument beispielsweise, das er gerade unterzeichnet hatte, erlegte einem gewissen Harold Martham dafür eine niedrige Buße auf, daß er einige seiner Rindviecher auf dem Land eines Nachbarn weiden ließ. Der Mann, so erinnerte er sich, war wirklich ergrimmt über den Urteilsspruch gewesen, obschon daran kein Zweifel bestehen konnte, daß er sich im Unrecht befand. Sei getrost, Freund Harold, dachte Morgan. Solltest du glauben, du hättest ein Ärgernis zu erdulden, dann warte nur, bis Loris und Corrigan über uns den Kirchenbann verhängen. Du weißt gar nicht, was Sorgen sind. Und mittlerweile sah es ganz so aus, als müsse es tatsächlich zum Kirchenbann kommen. Am gestrigen Morgen, als alle Gäste fort waren, hatte er Duncan nochmals zu Bischof Tolliver gesandt, um in Erfahrung bringen zu lassen, wie sich die Boten äußerten, als sie am Abend vorher des Erzbischofs Schreiben aushändigten. Einige Stunden später kehrte Duncan mit mißmutiger Miene und trübem Sinn zurück, denn diesmal hatte der Bischof sich, im Widerspruch zu seiner ursprünglichen Zugänglichkeit, nahezu verschlossen gezeigt. Vermutlich hatten die Boten Tolliver eingeschüchtert. Auf jeden Fall hatte Duncan nichts herausbringen können. Als Morgan das Dokument auf den Stapel von Schriftstücken legte, welche bereits unterzeichnet waren, erscholl plötzlich von der Tür ein hastiges, zudringliches Klopfen, und herein trat Gwydion, die Laute auf dem Rücken. Der kleingewachsene Troubadour war in die schlichte braune Gewandung des gemeinen Volkes
gekleidet, sein dunkles Antlitz war gestreift von Staub und Schweiß, und er wirkte überaus ernst, als er über den blitzblanken Boden herüber zu Morgan strebte und sich neben dessen Stuhl kurz verneigte. »Euer Gnaden, dürfte ich mit Euch ein Wort wechseln?« Er sah Robert an. »Allein?« Morgan lehnte sich zurück und legte seine Feder beiseite, dann musterte er Gwydion ausgedehnt mit aufmerksamem Blick. Statt des gewohnten Gwydion, des geckenhaften Stutzers, als den jedermann ihn kannte, sah er nun vor sich einen zwar kleinen, aber entschlossenen Mann mit verpreßten, schmalen Lippen. Und irgend etwas in seinem Auftreten, in seinen schwarzen Augen verschaffte Morgan die Gewißheit, daß Gwydion diesmal in einer todernsten Sache kam. Morgan blickte Robert an und gab ihm ein Zeichen, daß er sich entfernen möge, doch der Kanzler runzelte die Stirn und rührte sich nicht. »Gebieter, ich muß mich dagegen aussprechen. Worum es sich auch handeln mag, ich bin davon überzeugt, daß es warten kann. Wir haben nur noch einige wenige Rollen zu bearbeiten, und danach...« »Verzeiht, Robert«, unterbrach ihn Morgan und richtete den Blick wieder auf Gwydion. »Ich bin derjenige, dem die Entscheidung darüber gebührt, was warten kann oder nicht. Sobald wir fertig sind, könnt Ihr wieder hereinkommen.« Robert sagte daraufhin nichts, aber er zog aus Ärger ein bitterböses Gesicht, während er seine Schriftstücke unwirsch zur Seite schob und den Sessel nach hinten stieß. Gwydion schwieg, bis Robert durch die Tür getreten und sie von draußen geschlossen hatte; sodann begab er sich ans Fenster und setzte sich auf die darunter befindli-
che Polsterbank. »Ich danke Euch, Euer Gnaden. Viele Herren täten nicht die Zeit opfern, um ihr Ohr einem Sänger und Erzähler zu leihen.« »Ich habe das Gefühl, Ihr wißt mir mehr als bloß eine Geschichte zu berichten, Gwydion«, erklärte Morgan ruhig. »Was ist's, das Ihr zu vermelden habt?« Gwydion griff zur Laute und begann sie zu stimmen; während er sprach, starrte er verträumt zum Fenster hinaus. »Ich war heute morgen in der Stadt, Gebieter«, leitete er seinen Bericht ein, schlug die Saiten und spannte die Wirbel. »Ich habe mich nach Liedern umgehört, um neue Wohlklänge zu entdekken, die Euer Gnaden möglicherweise erfreuen möchten. Aber von dem, was ich gefunden habe, fürchte ich, daß es Euch beileibe nicht erfreuen dürfte. Wünscht Ihr so ein Lied kennenzulernen?« Er drehte das Haupt und schaute Morgan voll an; seine Augen glitzerten erwartungsvoll, und Morgan nickte langsam. »Wohlan denn. Dies Lied ist eines, das Euch ganz sonderlich interessieren dürfte, mein Herr, da es den Deryni gewidmet ist. Ich kann für die Melodie und die Reime nicht einstehen, weil sie nicht mein Werk sind, aber ich vermag den Sinn wiederzugeben.« Er schlug ein paar Anfangstakte, dann trug er eine lebhafte, muntere Weise vor, die stark an ein Kinderlied erinnerte. »He! hei! rate mal, auf! Wohin ist der Deryni Hauf? He! hei! rate richtig! Warum ist Vorsicht für'n Greifen wichtig?
Viel Deryni sind tot, drum selten, Greifes Acht muß seinem Haupte gelten! He! hei! du rietest vortrefflichst. Rate erneut und höre, ob's recht ist.« Als Gwydion verstummte, lehnte Morgan sich im Stuhl zurück und legte die Hände zu einem Giebel gegeneinander; seine Miene war düster, sein Blick getrübt. Ein Weilchen lang saß er reglos, und seine grauen Augen musterten den Sänger; als er ihn ansprach, geschah es in gedämpftem Tone. »Gibt es mehr davon?« Der Troubadour zuckte die Achseln. »Andere Verse, Herr, andere Fassungen. Aber ihre Dichtkunst ist elendig, und ich fürchte, ihr Witz ist mehr oder weniger vom gleichen giftigen Schlage. Vielleicht interessiert Euch eher ›Die Ballade vom Herzog Cirala‹.« »Herzog Cirala?« »Jawohl, Gebieter. Anscheinend ist selbiger Herzog in jeder Beziehung im wahrsten Sinne des Wortes ein Unhold – böse und schlecht, lästerlich, ketzerisch, ein Lügner und Verführer seiner Untertanen. Aber zum Glück tröstet das Lied das arme unterdrückte Volk mit einer gewissen Hoffnung. Ich darf darauf verweisen, mein Gebieter, daß Cirala, buchstabiert man den Namen rückwärts, recht vertraut klingt – Alaric. Immerhin sind diese Verse aber von etwas höherer Güte.« Erneut schlug er einige Takte zur Eröffnung, und diesmal stimmte er eine getragene, ernste, beinahe hymnische Weise an. »Greuel vorm Allerhöchsten Herrn tat Herzog Cirala. Den Greifen stürzen muß des Herrgotts Dienerschar.
Des Menschen Auge täuscht von Gold und Tand der Schein. Doch Herr Warin weiß um Herzog Ciralas Ketzerein. O Männer Corwyns, müßt euch gen Ciralas Trachten wenden. Ganz Corwyn büßt, wollt nicht ihr sein Treiben enden. Und ob ein Mensch ohn Arg dem Teufel eine Gunst getan. So ist er doch verflucht. Das Böse nährt sich oft am Wahn. Nah ist des Gerichtes Tag. Nah ist Ciralas Zeit. Aufstehn soll'n Gottes Diener ohne Bangigkeit. Der edle Warin, mächtig und weise, ist von Gott erwählt. Männer in des Greifen Klauen, erhebt euch, und Cirala fällt.« »Hmmpf!« schnob Morgan, als der Troubadour geendet hatte. »Beim Satan, Gwydion, wo habt Ihr denn das aufgeschnappt?« »In einer Schenke, Herr«, erwiderte der Troubadour und lächelte verkrampft. »Und das erste Lied habe ich von einem zerlumpten Straßensänger in der Nähe des Sankt-Matthäus-Tores gehört. Ist mein Herr zufrieden mit dem, was ich ihm zur Kenntnis bringe?« »Nicht mit dem Inhalt, aber damit, daß Ihr mich davon wissen laßt. Wieviel Lieder dieser Art sind nach Eurer Meinung im Umlauf?« Behutsam legte Gwydion seine Laute neben sich
auf das Polster und lehnte sich gegen das Fenstersims, die Hände hinterm Haupt verschränkt. »Darauf kann ich schwerlich rechte Antwort erteilen, Herr. Ich war nur für ein paar Stunden in der Stadt, aber es gibt von beiden Liedern mehrere Fassungen, und wahrscheinlich gibt es außerdem weitere Lieder, die ich lediglich nicht vernommen habe. Falls Ihr von einem unwürdigen Sänger einen Rat zu beherzigen den Großmut besitzt, Euer Gnaden, so empfehle ich Euch, diese Schmäh- und Spottlieder mit anderen Liedern zu bekämpfen, mit Balladen, welche Eure Gnaden verherrlichen. Soll ich etwas Brauchbares zu schöpfen versuchen?« »Ich bin mir dessen nicht sicher, ob das gegenwärtig klug wäre«, äußerte Morgan. »Was habt Ihr...« Gegen die Tür erfolgte ein leises Pochen; Morgan hob ungnädig das Haupt. »Herein!« – Robert öffnete die Tür und kam ins Gemach; seine Miene zeugte von nichts als Mißbilligung. »Herr Rather de Corbie ist hier, um Euch zu sprechen, Euer Gnaden.« »Ach, gewiß – schickt ihn herein.« Robert gab den Weg frei, und eine Anzahl von Männern in der seegrünen Diensttracht, welche die Gefolgsleute Orsals trugen, kam in einer Zweierreihe hereingestapft. Zuletzt erschien der fürchterliche Herr Rather de Corbie, Sondergesandter aus dem Hort des Orsal. Morgan erhob sich an seinem Platz und lächelte, als die Zweierreihe sich vor ihm teilte und zur Einerreihe wandelte, Rather de Corbie davor verharrte und sich verbeugte. »Herzog Alaric«, dröhnte des Gesandten Stimme, die niemals zu seiner Gestalt von fünf Fuß Höhe passen wollte, »ich überbringe Euch die Segenswünsche und die Grüße Sei-
ner Hortischen Majestät, welchselbige mit ganzem Herzen hofft, daß Ihr Euch wohlauf befindet.« »Das ist in der Tat der Fall, Rather«, gab Morgan Auskunft und schüttelte herzlich des anderen Mannes Hand. »Und wie geht's dem alten Seelöwen?« Rather lachte im Brüllton. »Erst kürzlich ist des Orsals Familie mit einem neuen Erben gesegnet worden, und der Orsal selber hofft, daß es Euch bald möglich ist, ihm einen Besuch abzustatten.« Sein Blick fiel auf Gwydion und Robert, ehe er weitersprach. »Da sind gewisse Angelegenheiten der Schiffahrtsrechte und der Reichsverteidigung, welche er mit Euch zu besprechen wünscht, und er hofft, daß Ihr Eure Heeresberater mitbringt.« Morgan nickte verständnisvoll. Zwischen den beiden Ländern verlief der Wasserweg von der ZweiStröme-Ebene bis zum Meer, welcher des Orsals und Morgans gemeinsamer Obhut unterstand und von großer Bedeutung für den Kriegsverlauf, sollte sich Wencit von Torenth dazu entschließen, an der Küste zu landen. Und da Morgan in wenigen Wochen mit dem Heer abzog, mußten nun mit dem Orsal Verabredungen getroffen werden, um während des Herzogs Abwesenheit den Schutz von Corwyns Küste zu gewährleisten. »Wann sollte ich ihn am günstigsten aufsuchen, Rather?« erkundigte sich Morgan, sich dessen bewußt, daß das Ersuchen des Orsals recht dringlich war; aber er konnte erst am nächsten Tage fort, da er für den Abend die Geistesverbindung mit Derry vereinbart hatte. »Wäre es Euch angenehm, schon heute mit mir zu reisen?« fragte Rather mit List und beobachtete Morgan gespannt.
Morgan schüttelte den Kopf. »Wie wäre es morgen?« schlug er seinerseits vor. Er gab Robert und Gwydion ein Zeichen, daß sie sich entfernen möchten. »Die Rhafallia liegt im Hafen. Ich kann mit der Morgenflut auslaufen und zur neunten Stunde eintreffen. Dann bliebe uns zur Beratung noch der halbe Vormittag und der gesamte Nachmittag, bevor ich zurückkehren muß. Wie lautet dazu Eure Meinung?« Rather zuckte die Achseln. »Mir soll's recht sein, Alaric. Das weißt du. Ich bin nur der Übermittler von Botschaften. Ob der Orsal einverstanden ist, weiß nur der Orsal selbst.« »Also gut«, äußerte Morgan und klatschte Rather freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. »Wie bekäme Euch und Euren Männern ein Mahl, bevor Ihr wieder abzieht? Mein Vetter Duncan weilt zu Besuch hier, und ich würde ihn Euch gerne vorstellen.« Rather verneigte sich kurz und zackig. »Ich nehme mit Vergnügen an. Und Ihr müßt mir versprechen, mir alle Neuigkeiten über den jungen König zu erzählen. Der Orsal ist noch immer verärgert, weil ihm der Zweikampf anläßlich von Kelsons Krönung entgangen ist, müßt Ihr wissen.« Später am Nachmittag, als die Annehmlichkeit von Rather de Corbies Gesellschaft vorüber und der zähe alte Recke auf dem Heimweg war, geriet Morgan wieder in Beschlagnahme durch Herrn Robert. Letzterer hatte schlichtweg entschieden, daß an diesem Tage noch die endgültige Regelung von Bronwyns Mitgiftsache erfolgen müsse, und er und Morgan setzten sich erneut in der Sonnenhalle zusammen und beschäftigten sich mit diesbezüglichen Dokumenten.
Duncan hatte sich eine Stunde zuvor hinaus zur Rüstkammer begeben, um sich nach dem neuen Schwert zu erkundigen, das er sich anfertigen ließ; Gwydion lauschte in der Stadt nach weiteren aufrührerischen Liedern. Morgan bot alle Mühe auf, um seine Gedanken auf das unermüdliche Murmeln von Roberts Stimme gerichtet zu halten; mindestens zum fünfzehnten Mal in dieser Woche erinnerte er sich daran, daß dies ein langweiliger, aber unvermeidlicher Teil seiner Pflichten war, aber er stellte sogleich fest, daß die Mahnung auch diesmal nicht mehr nutzte als die zuvorigen vierzehn Male. Er hätte diese Zeit schlichtweg lieber anders zugebracht. »Übertragung des Rittergutes Corwode«, las Robert. »Gewöhnlich war Corwode Eigentum des Königshauses. Herr König Brion, Vater des gegenwärtigen Königs, Gott segne ihn, gab besagtes Rittergut Herrn Kenneth Morgan und dessen Erben zum Lehen. Dem Königshaus gebührt der Dienst von drei Kriegsmannen in Zeiten des Krieges.« Als Robert einatmete, um den nächsten Absatz zu beginnen, tat jemand die Tür auf, und Duncan kam hereingeschnauft. Er war lediglich in ein verschwitztes Leinengewand, wie man es zu Waffenübungen anlegte, und in weiche Stiefel an den bloßen Beinen gekleidet; der Priester hatte offenbar sein neues Schwert gleich mit dem Waffenmeister erprobt. Er riß ein grobes graues Schweißtuch von seiner Schulter und wischte sich mit einem Zipfel desselben das Antlitz, während er den Raum durchmaß; seine Linke hielt ein gefaltetes und versiegeltes Pergament. »Das brachte soeben ein Bote«, vermeldete er und warf das Pergament auf den Tisch. »Ich glaube, es ist
von Bronwyn.« Er setzte sich auf die Tischkante und nickte Robert zum Gruße zu, aber der Kanzler legte seine Feder zur Seite, seufzte vernehmlich und lehnte sich mit verdrossener Miene zurück. Morgan zog es vor, nicht darauf zu achten; rote Wachsstückchen flogen nach allen Seiten, als er das Siegel erbrach. In seinen Augen leuchtete Freude auf, als er die ersten Zeilen las, er lehnte sich zurück und lächelte. »Dein erlauchter Bruder versteht fürwahr mit Weibsbildern umzuspringen, Duncan«, versicherte der Herzog. »Hör zu, das ist ein Schreiben ganz in Bronwyns Art. ›Mein liebster Bruder Alaric! Kaum vermag ich's zu glauben, daß es endlich Wahrheit werden soll, und dennoch, in einigen wenigen, kurzen Tagen schon werde ich Lady Bronwyn McLain sein, Gräfin von Kierney, künftige Herzogin von Cassan und – was das Wichtigste ist – Gemahlin meines geliebten Kevin. Es dünkt schwerlich vorstellbar, aber die Liebe, welche wir schon immer teilten, scheint sich nun mit jeder Stunde, die verstreicht, gar noch zu vertiefen.‹« Er schaute auf zu Duncan und hob, wie um Nachsicht zu erheischen, eine Braue; Duncan schüttelte das Haupt und lächelte. »›Dies wird wahrscheinlich mein letzter Brief sein, bevor ich Dich in Culdi wiedersehe, aber Herzog Jared drängt mich zur Kürze. Er und Lady Margaret haben uns mit Geschenken überhäuft, und er beschwört, daß wir heute eine ganz ungemein besondere Gabe erhalten. Kevin läßt Dir seine brüderlichen Grüße ausrichten und stellt die
Frage, ob es möglich wäre, den Troubadour Gwydion zum Auftritt bei unserer Vermählung zu bewegen. Kevin war überaus beeindruckt von ihm, als er ihn im Winter in Valoret singen hörte, und ich bin sehr begierig, ihn auch einmal zu vernehmen. Richte Duncan und Derry sowie Herrn Robert meine allerherzlichsten Grüße aus; ich freue mich darauf, sie bei meiner Hochzeit zu sehen. Eile, mein Bruder, um am schönsten Tag ihres Lebens bei ihr zu weilen, Deiner liebevollen Schwester. Bronwyn‹.« Duncan wischte sich erneut Schweiß vom Antlitz und lächelte, dann nahm er den Brief und las ihn noch einmal für sich. »Denk dir, ich hätte früher nie geglaubt, Kevin könne so zahm und häuslich werden. Als er dreiunddreißig war und noch unvermählt, da begann ich allmählich zu sinnen, statt mir wäre wohl besser er Priester geworden.« »Nun, daß es so lange währte, war zweifelsfrei nicht Bronwyns Schuld.« Morgan lachte. »Wenn ich mich recht entsinne, entschied sie im Alter von ungefähr zehn Jahren, daß Kevin in ihrem Leben der einzige Mann sei. Nur eine Klausel in unserer Mutter Testament hielt die beiden für so lange Frist getrennt. Die McLains sind Eisenschädel, aber sie vermögen nicht gegen den Starrsinn einer halbderynischen Maid anzukommen, die den Beschluß gefaßt hat, zu erhalten, wonach sie strebt.« Duncan schnob und entfernte sich in die Richtung zur Tür. »Schätze, ich gehe lieber und hetze noch ein wenig den Waffenmeister umher. Alles fällt leichter, als einem Mann zu widersprechen, der seine Schwester für die Ausgeburt der Vollkommenheit erachtet.«
Morgan lachte leise und rückte sich in seinem Stuhl zurecht, stellte seine Füße auf die Fußbank; seine Sinne waren wiederbelebt. »Robert«, sprach er den Kanzler an und lächelte dabei zum Fenster hinaus, »erinnert mich daran, Gwydion davon in Kenntnis zu setzen, daß er in der Morgenfrühe nach Culdi aufbricht, ja?« »Jawohl, Gebieter.« »Und nun wollen wir uns wieder mit diesen Urkunden befassen, klar? Fürwahr, Robert, in jüngster Zeit seid Ihr unerträglich lasch und nachlässig.« »Ich, Euer Gnaden?« murmelte Robert und hob den Blick vom Vermerk, den er soeben geschrieben hatte. »Ja, ja, nun vorwärts damit! Wenn wir uns eilen, können wir vor der Nacht mit diesem verdammten Kram fertig sein, und dann ist's mir möglich, am Morgen mit Gwydion auszulaufen. Es ist allerhöchste Zeit – ich vermag mich nicht zu entsinnen, mich schon einmal dermaßen gelangweilt zu haben.« Lady Bronwyn Morgan dagegen langweilte sich derzeit beileibe nicht. Gegenwärtig wählten sie und ihre künftige Schwiegermutter, die Herzogin Margaret, die Gewänder aus, welche Bronwyn in der Frühe mit nach Culdi zu den Vermählungsfeierlichkeiten nehmen sollte. Das prunkvolle Hochzeitskleid, welches sie zum Zeremoniell der Vermählung selbst anlegen würde, lag behutsam ausgebreitet auf dem Bett, bereit zum Einpacken; das gleichsam fließende Gewand und seine weiten Ärmel glitzerten von winzigen silbernen Flitterblättchen und rosigen Balasrubinen. Mehrere andere wunderschöne Gewänder lagen ebenfalls ordentlich auf dem Bett. Und am Boden
standen zwei mit Leder verstärkte Truhen; eine davon war fast angefüllt und konnte bald geschlossen werden. Zwei Mägde taten einige letzte Kleinigkeiten in diese Truhe, worauf sie sich der andern zuzuwenden gedachten; aber Bronwyn fand stets noch belanglose Dinge, die sie hineinzutun wünschte, und dadurch dauerte das Packen an, weil die Mägde dazu gezwungen waren, alles wieder umzuschichten. Für den März war es ein außergewöhnlich sonniger Tag. Im Laufe der Nacht hatte es geregnet, aber der Morgen war in prachtvollem zitronengelben Schein heraufgezogen. Nun, mitten am Nachmittag, war das Erdreich fast wieder trocken. Durch die offenen Balkontüren strömte helles Sonnenlicht ins Gemach. Und nahe diesen Türen nähten und stickten mit Fleiß drei Hofdamen an Bronwyns Brautausstattung; ihre behenden Finger glitten geschwind über die feinen Linnen und Seidenstoffe. Zwei von ihnen arbeiteten am Schleier, den ihre Herrin zur Hochzeit tragen sollte, nähten an den Saum mit geschickten Händen die allerzierlichste Spitze. Die dritte Dame stickte Bronwyns neues McLain-Wappen mit goldenem Garn auf ein Paar geschmeidiger lederner Handschuhe. Hinter den Damen, am Kamin, saßen auf Samtkissen zwei junge Maiden, deren ältere eine Theorbe spielte, wobei sie, während ihre Finger die Saiten streichelten, selber zur Begleitung summte; die jüngere hielt dazu den Takt mit einem Tamburin und sang den leiseren Teil des Liedes, den eine selbstständige Stimmführung auszeichnete. Zu Füßen der beiden jungen Geschöpfe schlief friedlich eine fette orangefarbene Katze, deren leichtes Schwanzzucken allein noch Leben bezeugte.
Ohne Zweifel sind Bräute nach herkömmlicher Ansicht immer schön, sonderlich Bräute aus Adelsgeschlechtern. Und selbstverständlich machte Bronwyn Morgan keine Ausnahme. Doch allen Damen und Frauenzimmern, welche sich an diesem Nachmittag in jenem Gemach aufhielten, auch der alsbaldigen Braut, wäre es außerordentlich schwergefallen, irgendwo eine Dame von edlerer Art oder reinerem Gemüt als Lady Margaret McLain zu finden. Lady Margaret war Herzog Jareds dritte Herzogin – die Gemahlin jenes zweimal verwitweten Herrn, der geglaubt hatte, nach dem Tode seines zweiten Weibes Vera, der Mutter Duncans, niemals wieder ein Weib lieben zu können. Seine erste Braut hatte er kaum jemals recht kennengelernt; sie überlebte die Geburt des ersten Sohnes Kevin nicht einmal um ein Jahr. Doch seine drei Jahre später erfolgte Vermählung mit Lady Vera hatte in eine lange und glückliche Ehe gemündet – siebenundzwanzig Jahre des Glücks in einem Zeitalter, da Fürstenhochzeiten selten mehr als ausgeklügelte Abmachungen zur wechselseitigen Übervorteilung waren und so gut wie nie bestimmt von des Herzens wahrer Liebe. Aus dieser Verbindung gingen weitere Kinder hervor: zuerst Duncan, dann eine Tochter, die jedoch bereits im Kindesalter starb; danach nahm Jared, als sein Vetter Kenneth verstarb und ihm die Vormundschaft zufiel, dessen Kinder Alaric und Bronwyn Morgan in sein Haus auf. Und vor vier Jahren hatte diese wundervolle Ehegemeinschaft enden müssen. Ein absonderliches Siechtum befiel Lady Vera, beraubte sie ihrer Lebenskraft, schwächte sie bis zur gänzlichen Hilflosigkeit. Nicht einmal ihre Derynifähigkeiten – denn sie war eine
Vollderyni gewesen, die Schwester von Morgans Mutter, wiewohl niemand davon wußte – konnten verhindern, daß das Leben allmählich ihrem Leibe entwich. Und nun wandelte an Jareds Seite Lady Margaret – eine Frau ohne große körperliche Vorzüge, eine kinderlose Witwe von vierzig Jahren, die Jared niemals einen weiteren Erben schenken würde, aber eine ruhige Dame von sanftmütiger Seele, die Jared etwas geben konnte, wonach er am meisten strebte: Lady Margaret McLain hatte Jared wieder lieben gelehrt. Und heute sorgte sich selbige Dame um Bronwyns Hochzeitsvorbereitungen, als sei Bronwyn ihre eigene Tochter; sie wachte mit dem scharfen Blick einer Mutter über die Mägde, behielt immer einen Überblick der gesamten Geschäftigkeit. Da Duncan es vorgezogen hatte, auf die Möglichkeit des Ehestandes zu verzichten, lag es nun ausschließlich an Kevin und seinem Weib, die Linie der McLains weiterzutragen. Es konnten keine weiteren McLain-Töchter geboren oder der Familie angeheiratet werden, wenn nicht Bronwyn Erben gebar. Und so verwendete man auf die Hochzeitsvorbereitungen viel Ausdauer und Sorgfalt. Margaret schaute Bronwyn von der Seite an und trat zu einem mit Schnitzwerk verzierten Schrank; sie öffnete ihn mit einem Schlüssel, welcher an ihrer Gürtelkette befestigt war, die ihr von der Hüfte herabhing, schwer von Edelsteinen. Als sie im Schrank zu suchen anfing, nahm Bronwyn ein rosa Kleid aus moirierter Seide, bestickt mit Juwelen, hielt es vor sich hin und schritt damit nachdenklich zu dem hohen Spiegel, der in einer Ecke stand. Bronwyn Morgan war eine schöne Frau, hochgewachsen und
schlank, dichtes goldenes Haar floß geschmeidig hinab auf ihren Rücken, sie war die Verkörperung sämtlicher besten Eigenschaften ihrer derynischen Mutter, der Lady Alyce. Die großen Augen in ihrem länglichrunden Antlitz waren von hellem Blau, das an Grau grenzen konnte, wenn sich ihre Laune änderte. Das rosafarbene Kleid, das sie nun begutachtete, betonte ihre weiße, makellose Haut, das Rosenrot ihrer Wangen und Lippen. Sie betrachtete ihr Spiegelbild für einen Moment mit höchster Aufmerksamkeit, erwog die Wirkung, welche dies Kleidungsstück erzielen mochte, dann nickte sie zufrieden und legte es aufs Bett neben ihr Hochzeitskleid. »Dies sollte mir am Festabend, wenn wir in Culdi eintreffen, vortrefflich stehen, meint Ihr nicht auch, Lady Margaret?« fragte sie, während sie Falten des Kleides glättete, und blickte hinüber zu Margaret, um zu sehen, was dieselbe mache. »Kevin kennt es schon, aber ich glaube, das ist nicht so schlimm.« Margaret entnahm dem Schrank eine goldene, mit Samt bezogene Schatulle und kam damit zu Bronwyn. Das Behältnis maß etwa zehn Zoll im Viereck und war ungefähr so hoch wie eine Hand breit. Sie reichte es Bronwyn mit sanftem Lächeln. »Hierin ist etwas, das Kevin auch schon kennt, meine Liebe«, sprach sie in mildem Ton und beobachtete Bronwyn, als die Jungfer sich anschickte, die Schatulle zu öffnen. »Es gehört der Familie McLain seit vielen Jahren. Ich habe mir den schrulligen, aber angenehmen Gedanken zu eigen gemacht, daß es den Frauen, die's tragen, Glück bringt.« Bronwyn hob den Deckel und keuchte in ehrfürchtigem Staunen. Auf einem Polster von schwarzem
Samt ruhte ein von Diamanten schweres, hohes Diadem, das herrlich gleißte und auf Bronwyns schlichtes blaues Gewand einen Regen glitzrigen Feuers warf. »Wie überirdisch schön«, flüsterte Bronwyn, stellte die Schatulle vorsichtig auf das Bett und hob das Diadem heraus. »Das ist die Brautkrone der McLains, nicht wahr?« Margaret nickte. »Warum versuchst du nicht, wie sie dir steht? Ich möchte schauen, wie sie gemeinsam mit dem Schleier aussieht. Martha, seid so gut, bringt den Schleier, ja?« Während Lady Martha und die andere am Schleier beschäftigte Hofdame damit herbeikamen, trat Bronwyn erneut zum Spiegel; sie starrte das Spiegelbild des Diadems an, das sie zwischen den Händen trug. Margaret und Martha legten den noch unfertigen Schleier über Bronwyns goldenes Haupthaar und zupften daran, bis er nach ihrer Auffassung richtig hing, und dann bemächtigte sich Margaret des Diadems und setzte es behutsam auf den Schleier. Lady Martha gab Bronwyn einen kleineren Handspiegel, so daß sie sich auch von hinten betrachten konnte, und während sie sich drehte und wendete, bemerkte sie auf der Schwelle zwei Männer. Der eine war ihr künftiger Schwiegervater, Herzog Jared; den anderen kannte sie nur flüchtig vom Sehen. »Ihr seht ganz und gar zauberhaft aus, meine Teure«, erklärte Jared und durchquerte den Raum, indem er ihr zulächelte. »An Kevins Stelle hätte ich Euch schon längst fortgeführt, dem unfreundlichen Testament Eurer Mutter zum Trotze.« Bronwyn senkte lieblich ihren Blick, dann eilte sie Jared entgegen und warf schwungvoll ihre Arme um seine Schultern. »Herr Jared, Ihr seid der allerwun-
derbarste Mann in der ganzen Welt! Nach Kevin, versteht sich.« »Ach, natürlich«, entgegnete Jared, küßte sie auf die Stirn und schob sie dann sanft von sich, um nicht ihren Schleier zu zerknittern. »Ich muß sagen, meine Teure, Ihr gebt eine liebreizende McLain ab. Dies Diadem, so müßt Ihr bedenken, entfaltet seine Pracht nur auf den Häuptern der anmutigsten Damen in den Elf Königreichen.« Er trat zu Margaret und küßte leidenschaftlich ihre Hand, und Margaret errötete. Fast den ganzen Tag hindurch hatte Jared hofgehalten. Wie die meisten Grundherren seiner Bedeutung mußte er einen Großteil seiner Zeit opfern, um seinen Pflichten und Aufgaben zu genügen, die sich aus seiner Oberherrschaft ergaben. Er kam unmittelbar von einer Versammlung des herzoglichen Hofes und trug noch seine Adelskrone und eine braune Samtrobe mit dem Schottentuch der McLains um die Schultern. Eine emaillierte Silberspange mit dem Löwenwappen der McLains hielt den Tartan zur Linken, und auf seinen Schultern lag eine schwere silberne Amtskette mit Gliedern von der Größe einer Männerfaust. Seine blauen Augen im zerfurchten Antlitz blickten heute nachsichtig und milde drein, und er streifte eine verirrte Locke grauen Haars aus seiner Stirn, während er dem anderen Mann winkte, der unter der Tür verharrte. »Kommt herein, Rimmel. Ich möchte Euch meine künftige Schwiegertochter vorstellen.« Rimmel verneigte sich tief und gesellte sich zu seinem Herrn. Die ungewöhnlichste Eigenheit an ihm, welche man auf den ersten Blick bemerkte, war sein schneeweißes Haar. Rimmel war weder alt – vielmehr befand er sich erst im Alter von achtundzwanzig Jah-
ren – noch ein Albino. Bis zum Alter von zehn Jahren hatte er vielmehr ganz gewöhnliches braunes Haar besessen; doch dann, in einer warmen Sommernacht, während er schlief, war es plötzlich und aus unerklärlichen Gründen weiß geworden. Seine Mutter hatte die Schuld stets der ›Derynihexe‹ gegeben, der man am Rande des Dorfes das Dasein zu fristen erlaubte. Und der Dorfpfarrer beschwor, ein böser Geist sei in den Knaben gefahren, und bot alle Mühe auf, um denselben auszutreiben. Doch woher die seltsame Veränderung auch rühren mochte, alle Anstrengungen, um sie rückgängig zu machen, blieben vergeblich, Rimmels Haar blieb weiß. Diese Tatsache und zwei erstaunlich lichte blaue Augen bewahrten ihn vor der gemeinen Unauffälligkeit, wozu ihn ansonsten seine äußerst gewöhnlichen Gesichtszüge und die leicht krumme Haltung verurteilt hätten. Er trug ein graues Gewand, hohe Stiefel und eine graue Samthaube, an welche vorn Jareds Löwenwappen genäht war, und quer über der Schulter führte er an einem langen Lederriemen eine verkratzte graue Zeugtasche aus Leder mit sich; unter den Arm hatte er mehrere lange Pergamentrollen geklemmt, und diese umfing er unruhig, als er Jareds Seite erreichte und sich erneut verbeugte. »Euer Gnaden«, murmelte er und zog zum Gruß die Mütze; den Blick hielt er gesenkt. »Meine Damen...« Jared warf seiner Gemahlin einen verschwörerischen Blick zu und lächelte. »Bronwyn, das ist Rimmel, mein Baumeister. Er hat einige Zeichnungen angefertigt, zu denen ich gerne Eure Meinung wüßte.« Er deutete auf einen Tisch im Bereich des Kamins. »Wir wollen sie einmal hier ausbreiten, Rimmel.«
Während sich Rimmel an den Tisch begab und seine Pergamente zu entrollen begann, entfernte Bronwyn das Diadem und den Schleier vom Haupt und überreichte beides einer Magd, dann ging sie neugierig ebenfalls hinüber zum Tisch. Jared und Rimmel legten eine Anzahl von Pergamenten aus, bei denen es sich anscheinend um irgendwelche Baupläne handelte, und Bronwyns Stirn runzelte sich aus Ratlosigkeit, als sie sich darüber beugte, um sie näher zu betrachten. »Nun, was sagst du dazu?« »Was ist das?« Jared lächelte und richtete sich auf, um voller Erwartung die Arme auf der Brust zu verschränken. »Das sind die Pläne für Euren neuen Winterpalast in Kierney, meine Liebe. Die Bauarbeiten sind bereits im Gange. Ihr und Kevin solltet bereits zum Weihnachtsfest des nächsten Jahres dort hofhalten können.« »Ein Winterpalast?« keuchte Bronwyn. »Für uns? O Herr Jared, ich danke Euch!« »Erachtet ihn als das einzige angemessene Hochzeitsgeschenk, das wir uns für den künftigen Herzog und die künftige Herzogin von Cassan ausdenken konnten«, versetzte Jared zur Antwort. Er schlang liebevoll einen Arm um seine Gemahlin und lächelte auf sie herab. »Margaret und ich wollten, daß Ihr etwas habt, wo die Enkelkinder spielen können, etwas, das Euch an uns erinnert, wenn wir dahingeschieden sind.« »Euch!« neckte Bronwyn, während sie beide nacheinander an ihren Busen drückte. »Als bräuchten wir einen Palast, um Eurer zu gedenken! Kommt, erläutert mir die Pläne! Ich möchte jedes Kämmerchen und jede Hintertreppe kennen.« Jared lachte gedämpft
und beugte sich neben ihr über die Zeichnungen, wonach er ihr die Anlage des Bauwerkes darzulegen begann. Als er die Zuhörer mit Schwelgereien über des verheißenen Palastes Prunk und Pracht in seinen Bann zog, wich Rimmel um ein paar Schritte zurück und versuchte Bronwyn unaufdringlich zu betrachten. Er billigte die angesagte Vermählung von seines Herrn Erben mit diesem Deryniweib nicht. Er hatte sie vom ersten Moment an, als vor sieben Monden sein Blick auf sie fiel, nicht gutgeheißen. Innerhalb dieser sieben Monde hatte er mit Bronwyn nicht ein einziges Wort gewechselt. Überhaupt hatte er sie nur einige wenige Male gesehen. Aber diese wenigen Male genügten. Sie genügten, um ihn sich der Kluft zwischen ihnen bewußt werden zu lassen; sie war eines Edelmannes Tochter und Erbin vieler Ländereien – er ein Gemeiner, ein Baumeister ohne vornehme Herkunft. Und sie genügten, um in seinem Herzen eine hilf- und hoffnungslose Liebe zu dem auserlesenen derynischen Weibe zu entflammen. Er redete sich ein, er mißbillige die bevorstehende Eheschließung aus anderen, eher sittlichen Gründen als aus dem wahren Grund. Er sagte sich, er sei dagegen, weil Bronwyn eine Halbderyni war, weil es unziemlich sei, sie mit dem jungen Grafen Kevin zu verehelichen, daß sie eines so hochgestellten Herrn nicht würdig wäre. Doch welche Einwände er sich auch überlegte, immer wieder kehrte seine Einsicht zurück zur unausweichlichen, unvereinbaren Tatsache, daß er Bronwyn liebte, Deryni oder nicht. Und er mußte sie besitzen oder sterben. Er hatte keine offene Streitigkeit mit Kevin. Graf Kevin war sein künftiger Herr, und ihm schuldete er die gleiche Treue wie seinem
Vater. Aber er konnte andererseits unmöglich dulden, daß der Graf Bronwyn zum Eheweibe nahm. Allein der Gedanke daran flößte ihm allmählich Haß schon gegen den Klang von des jungen Grafen Stimme ein. Seine Grübeleien erfuhren durch eine Stimme eine Unterbrechung, welche über den Balkon von draußen hereinschallte – selbige Stimme des verhaßten Grafen selbst. »Bronwyn?« rief die Stimme. »Bronwyn, komm heraus! Ich möchte dir etwas zeigen.« Auf diesen Anruf eilte Bronwyn auf den Balkon und schaute über die Brüstung hinab. Von seinem Standort am Tisch aus konnte Rimmel oberhalb der Brüstung gerade noch die Wimpel von Lanzen sehen und durch die schmalen Zwischenräume derselben Brüstung die undeutlichen Gestalten von Reitern erspähen. Herr Kevin war mit seinen Männern zurückgekehrt. »Oh!« rief Bronwyn, und ihr liebliches Antlitz erhellte sich vor Aufregung. »Jared, Margaret, kommt und seht, was er da drunten hat! O Kevin, das ist der allerschönste Zelter, den ich jemals erblickt habe!« »Komm herunter und versuche ihn zu reiten«, rief Kevin. »Für dich habe ich ihn erworben.« »Für mich?« entfuhr es Bronwyn, und sie klatschte die Hände zusammen wie ein erregtes Kind. Sie drehte sich nach Jared und Margaret um, dann wandte sie sich wieder Kelson zu und warf ihm eine Kußhand hinab. »Wir kommen, Kevin«, rief sie, raffte ihre Röcke und wirbelte durch das Gemach zu den McLains, die sich bereits der Tür zukehrten. »Warte auf uns!« Als die drei aus dem Gemach eilten, starrte Rimmel
einen Moment lang Bronwyn begierig nach, dann betrat er langsam den Balkon. Unten im Hof saß Kevin in vollständiger Plänkelwehr auf einem mächtigen Streitroß, einem Rotschimmel mit dem McLainTartan am Sattel. Ein Knappe hielt seine Lanze und den Helm, und er hatte seine Haubenkapuze in den Nacken geschoben, so daß sein braunes Haar verwuschelt war und zerzaust. In der Rechten hielt er die Zügel eines sahnig hellen Zelters mit einem Überwurf aus grünem Samt und einem Damensattel aus weißem Leder. Als sich Bronwyn auf dem oberen Treppenabsatz zeigte, übergab er die Zügel einem anderen Knappen und trieb sein Streitroß zur Treppe, dann streckte er die Arme aus und hob Bronwyn herab und vor sich auf das Roß. »Da, Maid, wie gefällt dir's?« Er lachte, drückte sie rauh an seine gepanzerte Brust und küßte sie herzhaft. »Ist das ein Pferd, wie's einer Königin genügen könnte, oder nicht?« Bronwyn kicherte und drängte sich noch enger in seine schutzreiche Umarmung; Kevin lenkte sein Roß zurück an des Zelters Seite. Als Bronwyn eine Hand ausstreckte, um ihre neue Kostbarkeit zu streicheln, wandte sich Rimmel angewidert ab und schlurfte zurück zum Tisch. Er hatte noch keine Ahnung, wie er's vollbringen sollte, aber er mußte verhindern, daß diese Vermählung stattfand. Bronwyn gehörte ihm. Er hegte die feste Überzeugung, daß es ihm gelänge, sie dessen einsichtig zu machen, sie zur Liebe zu ihm zu stimmen, begann er's bloß im richtigen Augenblick. Ihm entging völlig, daß er soeben die Grenze von der Träumerei zum Wahnsinn überschritten hatte. Er rollte seine Pläne zusammen und sah sich unterdessen
aufmerksam im Gemach um; alle Hofdamen und Mägde standen nun auf dem Balkon, um sich nicht den Anblick drunten im Hof entgehen zu lassen. Falls er sich nicht ernstlich täuschte, empfanden einige dieser Frauenzimmer mehr als nur ein wenig Neid. Ob er sich diese Eifersucht auf irgendeine Weise zunutze machen konnte? Vielleicht vermochte eine der Damen ihn zu lehren, wie man die Liebe einer Frau errang. Auf jeden Fall verdiente diese Möglichkeit weitere Beachtung. Er beabsichtigte die Vermählung allen Ernstes zu unterbinden und Bronwyn für sich zu erringen, und deshalb durfte er keine einzige Möglichkeit mißachten. Bronwyn mußte sein werden!
6 Die mir nach dem Leben trachten, legen Schlingen. Psalm 38,13 »Noch 'ne Runde«, forderte Derry mit schwerer Zunge, knallte einen Silberling auf den Schanktisch und wies großmütig rundum. »Bier für all diese edlen Herren! Wenn der olle John Ban'r sich betrinkt, dann haben sich auch alle seine Freunde zu betrinken!« Unter beifälligem Gebrüll scharte sich das halbe Dutzend roher Gesellen in der Gewandung von Jägern und Seeleuten noch enger um Derry, und der Schankwirt nahm eine große Eichenholzkanne zur Hand und begann die braunen, irdenen Krüge mit Bier von würzigem Geruch aufzufüllen. »Wasch bischu'n feiner Kerrle, Fründ Johnny!« lärmte einer der Kloben und spie Derry aus lauter Anerkennung vor die Füße, während er seinen Krug hinhielt. »Voll machen!« krakeelte ein anderer Bärbeißer. Noch war es früh am Abend. Die Dunkelheit war eben erst herabgesunken. Und doch war in Fathane das Schankhaus zum ›Harschen Rüden‹ schon fast gedrängt voll von Gästen, und die trinkfreudigen Mannen benahmen sich so laut und großmäulig wie überall in den Elf Königreichen. An einer Seite des Schankraums grölte ein Seemann im zerschlissenen Wams eines Toptaklers zur Begleitung durch eine verstimmte Laute, eine Rohrflöte und das Getrommel etlicher Fäuste auf zwei schwere Bocktische ein altes
Seefahrerlied. Rings um die Horde, welche Derry umdrängte und immer größer und lauter wurde, mußten mittlerweile Gäste ernsteren Sinnes ihre Stimmen heben, um sich durch das Grölen und Johlen noch verständigen zu können. Aber sie waren zu klug, um irgendwelche Bekundungen von Mißfallen zu äußern und eine Prügelei mit vierschrötigen Seemännern herauszufordern. Fathane, genau an der zwei Ströme Landenge gelegen, war hauptsächlich eine Hafenstadt. Man sah dort Schiffe aus Torenth und ebenso aus Corwyn, und überdies war die Stadt ein Sammelbecken für Jäger und Fallensteller, die darin Aufenthalt einlegten, bevor sie weiter flußaufwärts in die Veldurischen Wälder zogen. Derry nahm einen langen Zug aus seinem frisch gefüllten Krug und drehte sich unsicher dem Mann zu seiner Rechten zu, um scheinbar dessen Geschichte zu lauschen. »Unnda sacht der Mann, wattenn, Heern Varneys Weinladung? Dasssis mein Wein, den habbich bezahlt, und der Deibel hole Heern Varney!« Daraufhin brach ein Brüllgelächter aus, denn der Sprecher war anscheinend einer der berühmtesten Geschichtenerzähler des Ortes; Derry allerdings mußte sich alle Mühe geben, um ein Gähnen zu unterdrücken. Während der vergangenen drei Stunden des Trinkens und Schwatzens hatte er eine ganze Menge an Erkenntnissen gesammelt, darunter nicht zuletzt der Tatsache, daß sich nördlich der Stadt, bei einer Ortschaft namens Medras, eine torenthische Heerschar in Bereitschaft begab. Der Mann, welcher Derry davon erzählte, hatte nichts über den Auftrag der Schar zu sagen gewußt; er war nicht eben der hellste Kopf gewesen, obendrein bereits halb betrun-
ken, als Derry ihn kennenlernte. Aber er wußte immerhin soviel, daß man dort ungefähr fünftausend Krieger zusammenzog. Und offenbar galt dieser Aufmarsch als Geheimnis, denn der Mann verhielt sich plötzlich in einer Art schreckhafter Ernüchterung sehr still, als ein torenthischer Waffenknecht hereinschaute. Derry hatte Mangel an Interesse vorgetäuscht und von anderem zu reden angefangen. Aber er merkte sich diese Mitteilung und andere Kenntnisse, zu denen er am Nachmittag gelangte, höchst genau. Bislang war sein Erkundungsunternehmen fruchtbar gewesen; allmählich begannen sich die Umrisse der gegnerischen Kriegsplanung herauszuschälen. Derry starrte in die Tiefe seines Bierkrugs, das Antlitz von der mürrischen Grüblermiene eines Volltrunkenen entstellt, während er seinen nächsten Schritt erwog. Unterdessen war es draußen nahezu stockfinster, und er hatte den ganzen Nachmittag lang getrunken. Er war keineswegs betrunken – dafür brauchte es mehr als nur Bier –, aber seiner Trinkfestigkeit zum Trotze, die Morgan ihm nachsagte, begann er gewisse Folgen zu spüren. An der Zeit war's, daß er sich in die Kammer zurückzog, welche er im ›Buckligen Drachen‹ gemietet hatte. Er wollte die verabredete Geistesverbindung zu Morgan nicht versäumen. »Unnda sach ich zu dem Mädelchen, Heerzelein, was koscht's? Unnda sacht se zu mir, mehr alstu hast, Seemann, ach! mit Böcken deinsgleichen müßte ich darben!« Derry nahm einen letzten Schluck vom kühlen Bier, dann stieß er sich vom Schanktisch ab und rückte mit übertriebener Umständlichkeit sein Lederwams zurecht. Als er zum Abschluß eine Kupfermünze hinlegte, geriet zu seiner Linken ein Mann
ins Schwanken und schüttete beinahe sein Bier in Derrys Stiefel, doch Derry konnte noch zur Seite treten und den Trunkenen auffangen, ohne dabei zu nüchtern zu wirken. »Hab acht, Freund«, lallte Derry und half dem Mann zurück an den Schanktisch, leistete ihm Beistand beim Abstellen des Krugs. »Da, trink meins. Isch musch was schlafen.« Er goß den restlichen Inhalt seines Krugs in den des vollgesoffenen Gesellen, indem er absichtlich die Hälfte verschüttete, dann klopfte er dem Burschen wie zur Ermutigung auf die Schulter. »Nun kannstu schlucken, mein Freund«, brabbelte er und stemmte sich erneut vom Schanktisch ab. »Und ich wünsche dir eine guhde Na-acht.« »Wasch, du wilschoch noch nisch gehn, olde Fründ? Ischa noch früh.« »Komm, Johnny, noch einen für den Heimweg, hä?« »Nein.« Derry schüttelte den Kopf und straffte sich mit gespielter Mühsal. »Isch bin voll. Ich hab genug, feddisch.« Er versuchte sich mit einer entschlossenen Drehung, stolperte rücklings gegen einen Mann, der hinter ihm herumlungerte, und wankte dann ohne ernstere Zwischenfälle, aber mit Mühe zum Ausgang. Er schielte über die Schulter, als er hinaustaumelte, in der Hoffnung, daß niemand ihm folgte. Doch niemand außer seinen zeitweiligen Saufbrüdern schien sich um seine Abschiednahme zu scheren, und selbst jene vergaßen rasch, daß er jemals unter ihnen geweilt hatte. Indem der Lärm, welcher im ›Harschen Rüden‹ herrschte, immer mehr zurückblieb, nahm auch Derrys Gehör wieder die gewöhnliche Schärfe an. Er versuchte, während er die Straße hinabtorkelte,
nicht mit zu vielen Leuten zusammenzuprallen – jedenfalls nicht mit Männern, die ihn an Körpergröße übertrafen. Als er an eine düstere Gasse gelangte, drückte er sich in den Schatten und spähte in die Richtung, aus der er gekommen war. Er neigte bereits zur Auffassung, daß er gefahrlos davon absehen konnte, länger den Betrunkenen zu mimen, als er hinter sich in der Gasse Schritte vernahm. »Wer da?« brummelte er und verfiel, indem er sich umdrehte, erneut in seine Rolle; er hoffte, seine Sorge möge sich als unbegründet erweisen. »Wer issas?« »Oha, Freund, seid Ihr wohlauf?« erkundigte sich der Fremde und trat näher; seine Stimme klang in dieser schmutzigen Gasse absonderlich geziert und vornehm. Verdammnis! dachte Derry, als er den Mann erkannte. Er hatte ihn am Nachmittag im Schankhaus gesehen; dort war er mit einem anderen Mann recht still in einem Winkel gehockt. Warum war er ihm gefolgt? Und wo steckte sein Trinkgefährte? »Isch kenne disch«, erklärte Derry mit unsicherem Zungenschlag und wies mit zittriger Hand auf den Mann, insgeheim zu entscheiden bemüht, wie er sich nun verhalten sollte. »Du warscht inner Schenke, nischt wah? Waschisch? Kannstu nisch zahlen?« »Zufällig sah mein Freund, wie unstet Euer Gang war, als Ihr Euch verabschiedet habt«, entgegnete der Mann, verharrte etwa vier Fuß von Derry entfernt und musterte ihn aufmerksam. »Wir wollten uns nur dessen vergewissern, daß es Euch gutgeht.« »Dein Freund?« fragte Derry und versuchte sich umzuschauen, ohne allzu nüchtern zu wirken. »Waschisch dein Freund so in Sorge um misch?«
Argwöhnisch drehte er den Hals, als er den zweiten Mann sich auf der Straße nähern sah. »Waschischasch?« »Seid nicht beunruhigt, mein Freund«, tröstete ihn der erste Mann, trat zu Derry und nahm ihn am Arm. »Wir wollen Euch kein Übel antun.« »Halt, hört«, sagte Derry und widersprach in erhöhter Lautstärke, als der Mann ihn weiter in die finstere Gasse zu ziehen begann. »Wollt ihr Geld, isch hab nischt. Mein letschter Heller isch inner Schenke geblieben.« »Wir haben es keineswegs auf Euer Geld abgesehen«, versicherte ihm der zweite Mann, packte Derrys anderen Arm und unterstützte seinen Kumpan dabei, Derry in die Gasse zu schleifen. Indem er gedämpft murmelte und fluchte, spielte Derry weiterhin den Betrunkenen; er stolperte und wankte bei jedem zweiten Schritt, um Zeit zu gewinnen, während er insgeheim sann, welches Vorgehen sich nun empfahl. Die beiden Männer hegten offenkundig keine guten Absichten. Aber ob sie in ihm vermuteten, was er wirklich war, oder bloß nach seinem Geld und seiner Habe trachteten, das war gegenwärtig gleichgültig. Wichtig war, daß sie ihn für betrunken hielten. An der Nachlässigkeit, womit sie seine Arme umfaßten, erkannte er, daß sie von ihm keinen ernstlichen Widerstand erwarteten. Vielleicht ergab sich noch eine Gelegenheit, um die Beendigung seines Erkundungsunternehmens zu gewährleisten. »Das dürfte weit genug sein«, meinte der erste Mann, als sie ihn ungefähr dreißig oder vierzig Fuß weit, mit Gestolper und Geschwanke, in die Gasse gezerrt hatten. »Lyle?«
Der zweite Mann nickte und holte aus seiner Gewandung einen kleinen, schimmrigen Gegenstand. »Nur einen Augenblick, mein Freund.« Der Gegenstand war zu klein für eine Waffe. Derry sah zu, wie der Mann ihn schüttelte, und er bemerkte, daß es sich um ein Fläschchen mit einer trüben, orangefarbenenen Flüssigkeit handelte. Neugierig beobachtete er, wie der Mann mit den Fingern am Korken klaubte; er verwarf seine bisherige Einschätzung. Sie wollten ihm eine Droge verabreichen – ob zum Zweck des Verhörs oder um ihn zu töten, das wußte er nicht, und sein Interesse daran, es herauszufinden, war gering. Der eine Mann hielt ihn an beiden Armen, aber gerade nachdrücklich genug, um ihn zu stützen. Anscheinend glaubten sie noch immer, er sei betrunken. Das sollte ihnen zum Verhängnis gedeihen. »Waschisch dasch?« nuschelte Derry friedlich, als der Mann den Korken herauszog. »Ischa fein, waschu hasch?« »Gewiß, mein Freund«, gab der Mann zur Antwort und hob das Fläschchen vor Derrys Antlitz. »Das wird Euch zu einem klaren Kopf verhelfen. Trinkt sogleich.« Das war der Moment zum Handeln. Mit einem urplötzlichen Ruck entriß sich Derry dem Griff des Mannes hinter ihm und verspritzte die Flüssigkeit über seine Schulter und in selbigen Mannes Gesicht. Gleichzeitig duckte er sich und versetzte dem anderen Mann einen Tritt in den Leib, und mit dem Schwung des Trittes warf er sich zur Seite, vollführte eine Rolle und sprang auf die Füße, das Schwert halb gezogen. Bevor er die Klinge völlig blank hatte, sprang der eine Mann bereits nach seinem Waffen-
arm, rang ihm die Faust von der Waffe; doch während er sich anstrengte, um das Schwert selber in den Besitz zu bekommen, stürzte sich der zweite Mann ins Gekeile und sprang seinem Kumpan, im Wähnen, es sei Derry, ins Genick. Der Mann erschlaffte, das Schwert entfiel seiner Hand; der andere Schurke wich mit einem Fluch zurück, dann warf er sich erneut Derry entgegen. Die Auseinandersetzung entsprach nun eher Derrys Auffassung von Ritterlichkeit, obschon ihm klar war, daß er keinen leichten Stand haben konnte. Er war ganz entschieden nicht betrunken, aber andererseits auch nicht völlig nüchtern. Seine Bewegungen waren langsamer als gewöhnlich, und sein Gegner besaß offenbar großes Geschick im Umgang mit dem Dolch. Derry riß seinen eigenen Dolch aus dem Stiefelschaft und vollführte etliche Scheinstiche; ebenso tat sein Widersacher. Dann wurden sie handgemein. Nach einem kurzen, wilden Ringen vermochte Derry den Gegner zu entwaffnen und ihn in einen Würgegriff zu bekommen. Doch schon, als der Mann bewußtlos niedersank, erkannte Derry, daß er ihn töten mußte. Er durfte es nicht wagen, ihn lebend entweichen zu lassen, er hatte ihn zum Schweigen zu bringen. Der Mann mußte sterben. Hastig trat Derry zum zuerst Gefällten, tastete nach dem Pulsschlag, aber der Körper erkaltete schon, in seiner Seite klaffte eine tiefe Wunde. Das ersparte ihm wenigstens eine Tötung. Der andere jedoch... Er zerrte den zweiten Mann an des Toten Seite und wälzte ihn auf den Rücken, dann durchsuchte er geschwind des Mannes Taschen. Er fand ein zweites Fläschchen mit einem Inhalt jener Art, welchen man ihm hatte einflößen wollen, einige Schriftstücke, zu deren Durchsicht ihm
jetzt nicht die Zeit verblieb, und eine Anzahl von Goldmünzen. Morgan würde wohl an den Schriftstücken und der Flüssigkeit interessiert sein, und deshalb nahm er beides an sich; die Goldmünzen beließ er, wo sie waren, denn er war kein Dieb. Und wer auch immer später die Leichen in dieser Gasse entdeckte, er mußte annehmen, die beiden Männer hätten sich beim Streit um das Geld getötet. Zumindest würde man also nicht nach einem Raubmörder fahnden. Eine Durchsuchung von des Toten Taschen erbrachte weitere Schriftstücke. Der Besinnungslose stöhnte und begann langsam das Bewußtsein wiederzuerlangen, und Derry sah sich dazu gezwungen, ihn erneut zu betäuben. Er verspürte ein reichlich unwohles Gefühl in der Magengegend, als er des anderen Mannes Messer zur Hand nahm, denn noch niemals zuvor hatte er einen Menschen kaltblütig umgebracht. Aber tat er's nicht, geriet sein eigenes Leben in Gefahr; er besaß keine Wahl. Er mußte die Maßnahme betrachten wie eine Hinrichtung. Indem er tief einatmete, bog er das Haupt des Bewußtlosen rückwärts und setzte ihm die Klinge an die Kehle, dann vollführte er einen schnellen Schnitt. Das Messer warf er neben die Hand des anderen Mannes, ehe er sich wieder seines Schwertes bemächtigte und die Gasse hinabfloh. Er hatte bereits Männer von seiner Hand sterben gehört und gesehen. Das war allerdings in der Schlacht gewesen, in offenem Kampf. Niemals hatte er geglaubt, er könne einmal ein Mörder im Dunkel sein. Am jenseitigen Ende der Gasse torkelte er auf eine Straße, zwang sich dazu, von neuem einen Betrunkenen zu spielen. Er gelangte noch einen Häuserblock weit, bevor er verharren und sich in die Gos-
se erbrechen mußte. Einige Leute sahen ihn im Vorübergehen voller Abscheu oder Mitgefühl an; sie hielten ihn für nichts anderes als noch einen Trunkenbold. Nur Derry wußte es besser. Und als er seine Kammer im ›Buckligen Drachen‹ betrat, war er ein entsetzlich nüchterner junger Mann voller Ekel vor sich selbst. Morgan lehnte sich zurück an die hohe Kopfstütze des holzgeschnitzten Lehnstuhls und schloß die Augen. Er befand sich im Turmgemach und war allein. Er hörte und spürte das Wummern des Feuers im Kamin zu seiner Rechten, und er wußte, er würde, öffnete er seine Augen, über sich die hohe, gewölbte Decke sehen, die sieben Fenster aus grünem Glas in den hohen Wänden, die Fenster, welche dem Turm seinen Namen gegeben hatten – den Namen Grüner Turm. Vor ihm ruhte der Shiralkristall; er schimmerte kühl in den Greifenklauen in des Tisches Mitte. Morgans Hände lagen locker auf den Armlehnen, während er sich entspannte und seinen Geist klärte. Von der Tür ertönte ein Pochen; weder regte er sich noch schlug er die Augen auf. »Ja?« »Ich bin's, Duncan. Kann ich eintreten?« Morgan seufzte, öffnete die Augen und betrachtete die Decke, dann beugte er sich vor, um seinen Blick zur Tür zu richten. »Die Tür ist unverriegelt.« Er sah den Türknauf sich bewegen; Duncan tat die Tür um einen Spalt weit auf und huschte herein. »Schließ ab«, sagte Morgan und ließ sich erneut im Lehnstuhl zurücksinken. Duncan trat an den kleinen, runden Tisch und setzte sich in den Stuhl gegenüber Morgan. Seines
Vetters Miene bezeugte Ruhe und Gelassenheit, und Duncan ersah, daß er bereits nach Derrys geistigem Ruf gelauscht haben mußte. »Kann ich dir helfen, Alaric?« erkundigte er sich bedächtig. »Du weißt, es ist noch ein wenig zu früh.« »Ich weiß.« Morgan seufzte erneut. »Aber ich möchte verhindern, daß er den Mut verliert, falls er seinerseits zu früh beginnt. Solche Dinge sind für ihn noch recht neuartig.« Duncan lächelte. »Auch für uns sind's nicht unbedingt Alltäglichkeiten, oder?« meinte er, stützte seine Ellbogen auf den Tisch und klammerte die Finger ineinander. »Bist du dessen sicher, daß du mich nicht teilhaben und deine Kräfte durch mich verstärken lassen willst? Damit spartest du Kraft und eine Wiederholung der Mitteilungen. Und früher oder später muß Derry doch die Wahrheit über mich erfahren.« Morgan lächelte halbherzig. »Du sollst deinen Willen haben. Wie lange warten wir noch?« »Wenn du bereit bist, wollen wir beginnen«, lautete Duncans Erwiderung. »Fang du an, ich folge sogleich nach.« Morgan nahm einen tiefen Atemzug und atmete langsam aus, dann beugte er sich vor und schloß seine Hände um den Shiralkristall. Ein weiterer tiefer Atemzug leitete über zur Thurynischen Trance, und er schloß die Lider. Einen Moment lang herrschte Stille, und dann begann der Shiralkristall schwach zu leuchten. Daraufhin streckte Duncan die Arme aus, legte sie beiderseits des Kristalls locker auf die Tischplatte und faßte mit den Händen fest Morgans Handgelenke. Er atmete aus – und vereinte sich mit Morgan in der Trance. Der Shiralkristall leuchtete nun
hell; dann nahm er eine rauchige Bernsteintönung an. Keiner der beiden Männer bemerkte etwas von dem Vorgang. Er bereitet sich auf die Verbindung vor, erreichte Morgans Gedanke mit aller Klarheit Duncan. Er denkt daran, sie herzustellen. Ich spüre es, bestätigte Duncan. Wer ist er? Weißt du das? Ich kann's nicht erkennen. Weit, weit fort. In einer winzigen Kammer an der Rückseite eines reichlich schlampigen Gasthauses setzte sich Derry behutsam auf die Bettkante und löschte eine der beiden Kerzen, die in der Kammer brannten. Er hatte die Schriftstücke gelesen, welche er von den beiden Meuchlern erbeutete, und was er daraus entnommen hatte, erleichterte ihm um ein weniges die Bedrükkung, welche es ihm bereitete, kaltblütig getötet zu haben. Denn die beiden Männer waren Kundschafter aus Torenth gewesen, ausgeschickt zum besonderen Unterfangen, Wissen über Morgans Truppenbewegungen zu sammeln – genau das, was Derry selber tat, nur auf der anderen Seite. Sie hatten sich lediglich auf dem Durchweg in Fathane befunden; aber damit waren sie weit genug gekommen. Und sie hätten, wäre die Auseinandersetzung zu ihren Gunsten ausgegangen, Derry getötet Nun waren sie tot, und er war's, der lebte. Ohne ihre Dokumente mußte es den Rat der Stadt reichlich viel Zeit kosten, die Namen der beiden Toten zu ermitteln. Sobald jedoch feststand, daß sie torenthische Kundschafter gewesen waren, würde sich im kleinen Fathane ein großer Tumult erheben, und alle Fremden gerieten in Verdacht. Derry sah eigentlich keine Möglichkeit, mit den beiden Leichen in Zusammenhang gebracht zu
werden, aber er mußte auf der Hut sein. Seltsamere Dinge hatten sich schon ereignet, und er war gänzlich allein in Fathane. Nein, nicht ganz allein, sprach er sich Mut zu, als er sich rücklings aufs Bett ausstreckte und das Medaillon, das ihm Morgan ausgehändigt hatte, aus seinem Hemd holte. Wenigstens war er dazu in der Lage, Morgan davon zu unterrichten, was geschehen war, ihm die Kenntnisse zu übermitteln, die er bis jetzt gewonnen hatte. Er barg das Medaillon zwischen seinen Händen und betrachtete es einen Moment lang, dann schloß er die Augen und murmelte den Zauberspruch, den er von Morgan wußte. Er spürte ein flüchtiges Gefühl der Benommenheit, als er in jenen sonderlichen Schlafzustand versank, der nahezu Grund zur Furcht bot. Und da fühlte er sich plötzlich in der Gegenwart einer überaus vertrauten Wesenheit – und einer zweiten, welche er fast ebensogut kannte. Der Zauberspruch hatte gewirkt! Meinen Glückwunsch, Derry. Ihr seid ein gelehriger Schüler. War es schwierig für Euch, uns zu erreichen? Morgan? Genau. Und Duncan. Pater Duncan?! Seid Ihr überrascht? Überrascht ist wohl nicht der rechte Ausdruck. Wir erklären Euch alles später. Was habt Ihr in Erfahrung gebracht? Eine Menge, erwiderte Derry und lächelte breit, obwohl er wußte, daß sein Befehlshaber es nicht sehen konnte. Eine torenthische Heerschar sammelt sich irgendwo nördlich von hier – wenn die Gerüchte recht haben, ungefähr fünftausend Mann stark. Wo ist das, ›hier‹? fragte Morgan dazwischen.
Um Vergebung. Ich bin in Fathane – in einem Gasthof, der aus einem mir noch unerfindlichen Grunde ›Zum Buckligen Drachen‹ heißt. Den kenne ich. Berichtet weiter. Die Heerschar sammelt sich in der Nähe einer Ortschaft namens Medras, ungefähr einen halben Tagesritt nördlich in landeinwärtiger Richtung. Ich gedenke morgen in diese Richtung zu reiten. Dort soll die Jagd vortrefflich sein. Um so besser für Eure Tarnung, pflichtete Morgan ihm bei. Wie denkt man über die Verhältnisse in Corwyn? Ah... Warin de Grey hat wenig Aufmerksamkeit erregt, fürwahr nur in beschränktem Maße. Torenth hat schließlich einen Deryniherrscher, und da man von den Torenthi kaum erwarten kann, daß sie an einem derynifeindlichen Frömmler und Eiferer Gefallen finden, besitzt er von ihrer Seite so gut wie keinen Rückhalt. Anscheinend hat er hier diesseits der Grenze ein paar Überfälle durchgeführt, aber ohne siel Erfolg. Auf dem Rückweg nach Westen werde ich nochmals meine Ohren aufsperren. Macht das, bekräftigte Morgan. Sonst irgend etwas? Ihr habt gute Arbeit geleistet, aber ich möchte Eure Kräfte, an denen diese geistige Verbindung zehrt, nicht mehr als notwendig beanspruchen. Ja! meldete sich Derry mit Heftigkeit. Heute abend habe ich einen Menschen kaltblütig töten müssen, Gebieter. Er und sein Begleiter waren torenthische Kundschafter, und sie wollten mir irgendeine Droge geben. Wißt Ihr, was für eine? Nein, aber ich habe etwas davon hier. Ich beschloß, sie Euch mitzubringen. Holt sie, befahl Morgan. Ihr könnt die Augen öffnen, ohne daß die Verbindung abbricht. Beschreibt sie mir. Vorsichtig hob Derry die Lider, dann streckte er ei-
nen Arm aus und nahm das Fläschchen zur Hand. Er betrachtete es ausgiebig und genau, dann schloß er wieder die Augen. Es handelt sich um ein kleines Fläschchen aus trübem Glas und mit einem bräunlichen Korken. Die Flüssigkeit darin ist von ungefähr orangefarbener Tönung und scheint dicklich zu sein. Gut. Öffnet die Flasche mit Obacht und riecht daran. Verschüttet nichts. Jawohl, Gebieter. Derry setzte sich auf und entkorkte das Fläschchen. Achtsam schnupperte er daran. Noch einmal, befahl Morgan. Derry gehorchte. Kennst du das Zeug, Duncan? Ich bin nicht sicher. Es könnte Bélas sein. Die R'Kassan verwenden es als Wahrheitsdroge. Aber sie wirkt nur auf Menschen, und selbst das nur, wenn jemand reichlich betrunken ist. Derry, seid Ihr betrunken gewesen? forschte Morgan nach. Sie dachten, ich sei's, erteilte Derry Auskunft und lächelte. Hätte es mir geschadet? Das hängt davon ab, ob Ihr die Wahrheit sprecht. Woran habt Ihr festgestellt, daß die Männer torenthische Kundschafter waren? Ich habe die Dokumente an mich genommen, welche sie mitführten. Garish de Brey und Edmund Lyle, zuletzt gewesen an Seiner Majestät Hof zu Beldour. Sie wollten Eure Pläne auskundschaften. Wie unfreundlich von ihnen, bemerkte Morgan. Noch etwas zu vermelden, ehe wir die Verbindung abbrechen? Nein, Herr. Nun gut. Jetzt vernichtet vor allem die Dokumente und entledigt Euch des Bélas. Sollte man Euch ergreifen, könnte jedes davon Euer Todesurteil bedeuten. Morgen muß ich
mich in den Hort des Orsal begeben, aber ich werde am morgigen Abend um diese Zeit auf Euren Ruf lauschen, falls eine Verständigung unbedingt notwendig ist. Andernfalls, das heißt, wenn Eure Erkenntnisse nicht von entscheidendem Gewicht sind, seht davon ab, da wir uns diesen Kräfteverschleiß nicht regelmäßig erlauben können. Und hört Euch um, ob Ihr etwas über den drohenden Kirchenbann vernehmt. Laßt Vorsicht walten und kehrt innerhalb der nächsten zwei Tage zurück. Habt Ihr Euch alles gemerkt? Jawohl, Herr. Morgen abend Verständigung, falls wichtiger Grund vorliegt, Rückkehr binnen zwei Tagen. Ich wünsche Euch viel Glück. Meinen Dank, Herr. Derry erbebte schwach, als die Verbindung erlosch; dann hob er seine Lider und blickte in der Kammer umher. Er fühlte sich ermüdet, entkräftet, aber die Müdigkeit war angenehmer Natur; und diese sonderliche Erfahrung war weniger schwierig als erwartet abgelaufen. Anscheinend hatte er sich grundlos gesorgt. Allmählich mußte er wohl endlich glauben, was ihm Morgan hinsichtlich der Magie schon seit jeher versicherte. Versonnen betrachtete er das offene Fläschchen in seiner Hand, dann entleerte er den Inhalt in den Nachttopf, den er unterm Bett vorfand. Das Fläschchen zermalmte er unter seinem Stiefelabsatz; die Schriftstücke zündete er an. Die Asche folgte der Droge in den Nachttopf, und diesen abscheulichen Brei pißte er in reichlichem Maße zu. Selbst einem Deryni dürfte es nicht gelingen, so war er überzeugt, damit noch etwas anzufangen – falls sich überhaupt jemand der Unannehmlichkeit unterzog, dies Gemansche näher zu untersuchen. Nachdem er sich dieses gefährlichen Besitzes
solchermaßen entledigt hatte, schnürte er sein ledernes Wams auf und zog die Stiefel aus. Er warf die schäbige Bettdecke zurück, sich selber auf die Bettstatt, dann deckte er sich zu, schob unters Kissen seinen Dolch, an eine Stelle, wo er ihn sofort erreichen konnte, und verbarg Morgans Medaillon wieder unterm Hemd. Das wäre kein gutes Ding, käme jemand herein und sähe es, dachte er, während er sich in den Schlaf hinüberdämmern ließ.
7 Einen solchen treffe unvermerkt das Verderben! Psalm 35,8 Kurz nach Sonnenaufgang trafen Morgan, Duncan und das herzogliche Gefolge am Kai ein, um sich an Bord der Rhafallia zu begeben. Die Luft war feucht und frostig, roch stark nach dem bitteren, salzigen Seetang. Da der Besuch im Hort des Orsal einer von staatsmännischer Art war, trug Morgan eine halbwegs festliche Gewandung – einen knielangen, schwarzen Wappenrock, auf dessen Brustteil in grünem Wildleder der corwynische Greif leuchtete, darunter ein leichtes Kettenhemd, das den Leib vom Hals bis zu den Knien schützte. Wo der Kettenpanzer endete, umhüllten steife lederne Stiefel Morgans Waden, und an den Fersen saßen silberne Prunksporen obschon er kein Pferd zu besteigen gedachte. Von seinen breiten Schultern hing ein prächtiger Umhang aus grüner Wolle von knubbiger Beschaffenheit, rechts von der Kehle mit einer aus Silber gemeißelten Spange befestigt. Und da er nicht zu einer Flottenübung ausfuhr, sondern zu einem Staatsbesuch, krönte die herzogliche Adelskrone von Corwyn seinen blonden Schopf. An seiner Seite baumelte in einer recht abgetragenen Lederscheide sein Schwert. Auch Duncan hatte anläßlich des Besuchs im Hort des Orsal hinsichtlich der Bekleidung Zugeständnisse gemacht. Seiner priesterlichen Gewandung hatte er nun
ein schwarzes Wams mit hohem Kragen, ein Kettenhemd und einen schwarzen Umhang vorgezogen. Er hatte mit sich im Widerstreit gelegen, ob er den Tartan seiner McLain-Ahnen anlegen sollte – er wußte, daß Alaric einen für derartige Gelegenheiten aufbewahrte –, aber dann entschieden, daß es möglicherweise noch zu früh war für einen solchen Schritt. Bislang wußten erst wenig Menschen von seiner Amtsenthebung. Und solange sie nicht von anderer Seite davon Kenntnis erhielten, bestand auch keine Eile, sie selbst darauf hinzuweisen. Ging er in Schwarz, konnte er schwerlich auffallen. Die Leute sahen, was zu sehen sie erwarteten. Unterdessen sollte er, so sagte er sich in verschrobener Humorigkeit, wenig Schwierigkeiten dabei haben, sich wieder in die Weltlichkeit des Laientums einzufinden. Herr Duncan Howard McLain war zuerst und zuoberst eines Edelmannes Sohn, wohlgeübt in des Adels überlieferten Waffenkünsten. Und obwohl die neue Klinge, welche an seiner Hüfte hing, sich noch in jungfräulichem Zustand befand, kannte Duncan so gut wie keinen Zweifel daran, daß sie ihm vortreffliche Dienste leistete, sobald sich dazu die Notwendigkeit ergab. Der dichte Küstennebel hob sich, als Morgan und Duncan sich der Rhafallia näherten, und sie sahen ihren hohen Mast in den Himmel ragen. Das mit Stickereien prachtvoll verzierte Großsegel war locker entlang der einzigen, breiten Rahnock festgezurrt, und an einem kurzen Fahnenmast am Bug hing schlaff Morgans in Schwarz-Grün-Schwarz gehaltenes Seefahrtsbanner. Ein Seemann hißte bei ihrer Ankunft am Mast Morgans Farben, und am grauen Morgen-
himmel glänzten plötzlich Karmesinrot und Gold. Die Rhafallia war nicht Morgans größtes, jedoch mit lediglich fünfzig Tonnen ein schnelleres Schiff, zählte zu den schnellsten Schiffen der Flotte. Wie die meisten Schiffe, welche zu Handels- oder anderen Zwekken das Südmeer befuhren, war sie in Klinkerbauart ausgeführt und besaß ein Doppelheck; sie war bemannt mit einer dreißigköpfigen Mannschaft und vier Schiffshauptleuten, darunter der Kapitän, und sie bot außer für Fracht Platz für ungefähr die halbe Anzahl Bewaffneter oder Reisender. Wenn der Wind beständig aus einer Richtung blies, konnte sie fast mühelos vier bis sechs Knoten machen; und erst kürzlich vorgenommene Verbesserungen der Takelage, den bremagnischen Handelsschiffen des Südens abgeschaut, erlaubten es nunmehr, sie mit einem neuartigen Vordersegel, das sich Klüver nannte, gar bis zu vierzig Grad zum Wind zu lavieren. Sollte der Wind abflauen oder aus gänzlich widriger Richtung wehen, standen jederzeit noch die Ruder zur Verfügung. Und selbst ohne Einsatz der Segel konnte die schlanke, hoch am Wind liegende Rhafallia mit Leichtigkeit innerhalb eines Tages des Hortes Inselhafen anlaufen und wieder zurückkehren. Morgan hob erneut den Blick zum Mast, als er und Duncan zur Laufplanke kamen, und bemerkte, daß bereits Seeleute durchs Tauwerk wimmelten, um das Auslaufen vorzubereiten. Eine Wache hielt vom Krähennest in der Höhe des Mastes Ausschau, und Morgan sah im etwas tiefer als das Deck gelegenen Rudergang die hellen Wollmützen von Mannschaften vorbeihuschen. Aber er hoffte, sich am heutigen Morgen nicht zu sehr auf die Ruder verlassen zu müssen; vor der
Mittagsstunde wollte er wieder Land unter den Füßen haben. Während er über die unerfreuliche Möglichkeit einer öde langwierigen Überfahrt nachsann, eilte ein hochgewachsener Mann in verschlissenen Beinkleidern und ebensolchem Wams, beides aus braunem Leder, sowie einem groben Wollumhang in verblicherem Karmesinrot um Hals und Schultern herbei. Auf dem Haupt trug er die spitze Mütze eines Schiffsmeisters, woran man die auffällige grüne Kokarde von Morgans Seeherren an der Krempe sah. Bei Morgans Anblick lächelte er breit, und sein zottiger, rostroter Schnurrbart und gleichartiger Kinnbart sträubten sich, als er ihn ansprach. »Einen gesegneten guten Morgen wünsche ich, Euer Gnaden«, brüllte er, rieb sich munter die Hände und schaute rundum, als habe er an Kälte und Nebel und an der frühen Morgenstunde die allergrößte Freude. »Ist's nicht ein wundervoller Morgen?« In drolliger Laune hob Morgan eine Braue. »Mir will's fast scheinen, Henry, daß es Euch Gefallen bereitet, wie ein Blinder übers Meer zu segeln. Was glaubt Ihr – wird zum Gezeitenwechsel Wind aufkommen, oder müssen wir rudern?« »Oh, es kommt Wind«, versicherte ihm der Kapitän. »Der Tag wird wunderbar zum Segeln. Lediglich bei der Ausfahrt zum Hafen hinaus dürften wir ein wenig lavieren müssen. Übrigens, wieviel Leute begeben sich zu uns an Bord?« »Insgesamt neun«, gab Morgan zur Antwort, indem er sich zerstreut umschaute. »Ach, das ist mein Vetter, Monsignor Duncan McLain. Duncan, das ist Meister Henry Kirby, Kapitän der Rhafallia.« Kirby rührte an seine Krempe. »Hocherfreut, Euch
kennenzulernen, Monsignor.« Er wandte sich von neuem an Morgan. »Seid Ihr bereit, um an Bord zu kommen, Herr?« »Kann sogleich geschehen. Wie lange währt's noch bis zur Flut?« »Ach, bloß eine Viertelstunde oder so. Wir können ablegen und Segel setzen, sobald Ihr an Bord seid.« »Um so besser.« Morgan drehte sich um und winkte dem Häuflein, das in einigem Abstand auf der Uferstraße harrte, dann folgte er Duncan und Kirby aufs Schiff. Herr Hamilton und sein Anhang schlossen sich an, zusammen ein siebenköpfiges Gefolge. Hamilton wirkte nun, da er gewappnet war, selbstsicherer als in anderem Aufzug. Er war ein Kriegsmann, kein Höfling. Und der enge Umgang mit Gwyndion und anderen feinsinnigeren Personen, welchen er während der letzten Tage pflegen mußte, hatte ihn – wollte man's gelinde ausdrücken – einigermaßen mitgenommen. Zweifellos hatte niemand sich mehr als er gefreut, als er den zänkischen kleinen Troubadour am Morgen packen sah, um nach Culdi aufzubrechen. Dank diesem Umstand begann der Tag für ihn überaus erfreulich, und er fühlte sich nun wahrhaft in seinem Element; als er seine Begleitung an Bord des Schiffes führte, geschah es in einzigartig selbstbewußtem Auftreten. Als erster der Abordnung betrat Meister Randolph die Schiffsplanken; sein wohlgeschnittenes Antlitz war erhellt von der freudigen Erwartung des Abenteuers, worauf er hoffte, da er als Leibarzt nur äußerst selten in höfische Intrigen verwickelt war, die schwierigere Aufgaben von ihm verlangten als jene, die er während des Festmahls wahrgenommen hatte. Und
Morgans Einladung zu dieser Fahrt an den Hof des Orsal bedeutete ihm eine ständige Quelle des Wunderns und der Freude. An seiner Seite befand sich der junge Richard FitzWilliam, der königliche Knappe, welcher mit Duncan aus Rhemuth gekommen war; die Aussicht, nun in Person den weithin berühmten Hof Orsals besuchen zu dürfen, hatte ihn ganz in ihren Bann geschlagen. Außerdem war er ein Verehrer Morgans, unter dessen Obhut er am Hof zu Rhemuth seine Ausbildung genossen hatte. Dem Herzog in leidenschaftlicher Treue ergeben, hatte er bereits mehr denn einmal harte Worte und Fährnisse für Leib und Leben erduldet, um seinen Mentor vor nahen Gefahren zu warnen. Die anderen vier Begleiter waren Hauptmänner von Morgans Burgmannschaft und zugleich Berater für die Gespräche über die Verteidigung, welche der Gegenstand des Besuches waren; diesen Männern sollte die Befehlsgewalt über die örtlichen Befestigungen zufallen, während Herr Hamilton den Oberbefehl erhielt, dieweil Morgan im Norden war und des Königs Heere gegen den Feind führte. Als sämtliche Ankömmlinge sich an Bord befanden, holten zwei Seeleute in verblichenen blauen Beinkleidern und Linnenhemden die Laufplanke ein und befestigten sie am Schanzkleid. Und schon kam eine Brise auf, der Nebel verflüchtigte sich in dünnen Dunstfahnen. Kirby fing Befehle zu schreien an, man löste die Leinen, entfaltete die Segel. Die Rhafallia trieb vom Kai ab, ein Dutzend Ruderer schob die Ruder ins Wasser und manövrierte das Schiff ungefähr fünfzig Ellen weit, bis der Wind in die Segel fuhr. Die letzten Schiffe, welche im Bereich des Kais vor Anker
lagen, blieben zurück. Als die Rhafallia die Hafeneinfahrt durchquerte, versteifte sich die Brise, und das Schiff nahm merklich Fahrt auf. Ein paar hundert Ellen weiter auswärts drehte man bei und nahm Kurs auf des Orsals Inselhauptstadt. Wenn der Wind so blieb, mußte die Rhafallia in weniger als vier Stunden, sollte auch der Seitenwind beständig bleiben, am jenseitigen Ufer eintreffen. Sobald alle zum Auslaufen notwendigen Verrichtungen erledigt waren, gesellte sich Kapitän Kirby aufs Achterdeck zu Morgan, Duncan und Randolph. Obwohl die Rhafallia im wesentlichen nach Art eines Handelsschiffes gebaut war, wies sie an Bug und Heck hölzerne Forts auf. Der Steuermann lenkte das Schiff an der Rückseite des Kampfdecks am Heck mit einem breiten Steuerbordruder, doch den Rest dieses Decks beherrschte gewöhnlich der Kapitän, der es als Ausguck und Aufenthalt benutzte. Seeleute hatten Feldstühle mit fein gearbeitetem forcinnischem Leder aufs Deck gebracht, und die vier Männer machten es sich im Rahmen des Möglichen gemütlich. Inzwischen schien die Sonne recht warm, und als sie den Blick rückwärts in Coroths Richtung wandten, sahen sie den Nebel sich noch an den steilen Klippen der Küste entlangwinden, aber im frühlingshaften Sonnenschein verflüchtigte er sich immer rascher. Hamilton, die vier Hauptleute und der junge Richard hielten sich mittschiffs auf dem Hauptdeck auf, und jene Seeleute, welche die Schiffsführung gerade nicht beanspruchte, saßen untätig in den engen, beiderseits des Schiffs auf ganzer Länge als Reihen von Scharten sichtbaren Rudergängen. Eine Wache stand auf dem Kampfdeck des Forts am Bug, eine zweite befand sich im Krähennest des
Hauptmastes. Die weite Fläche des Großsegels und die kleinere des Klüvers entzogen den Blicken der Männer an Deck den größeren Teil des Himmels; über alles wachte der gewaltig Greif auf dem Großsegel. Kirby seufzte und lehnte sich rücklings an die Reling des Achterdecks, während er übers Schiff Ausblick hielt. »Ach, dies wird ein schöner Tag, ganz wie ich's Euch vorausgesagt habe, Herr. Um das Leben richtig schätzenzulernen, muß man hinaus aufs Meer und die salzige Luft genießen. Kann ich Euch womöglich, um die Nachtkälte aus Euren Gliedern zu vertreiben, mit ein wenig Wein erfreuen?« »Nur wenn Ihr fiannischen Wein habt«, lautete Morgans Entgegnung; er wußte, daß dieser Wein der allerteuerste war, und ebenso, daß Kirby keinen anderen trank. Kirby lächelte schief und vollführte eine großzügige Geste. »Für Euch, Gebieter, ist nur das Beste gut genug.« Er blickte über seine Schulter hinab in den Rudergang der Steuerbordseite, wo ein Knabe von sieben oder acht Jahren an einem Schnitzwerk hockte. »Dickon, komm herauf zu mir, Freundchen.« Als sein Name ertönte, hob der Knabe aufmerkend den Kopf; er legte sein Messer beiseite und eilte zum Fuß der Stiege. Das Schiff schlingerte leicht in der frischen Brise, aber der Knabe erklomm das Achterdeck mit katzenhafter Behendigkeit. Sein Blick verriet lautere Heldenverehrung, als er zu Kirby aufschaute. »Herr?« »Bring uns Becher und eine Flasche fiannischen Wein herauf, ja, mein Sohn? Einer der Männer soll dir helfen und sie herunterheben.«
»Mein Knappe kann ihm zur Hand gehen«, meinte Morgan und trat zum Kapitän an die Reling. »Richard, seid so gut und helft diesem Bürschlein, ja? Kapitän Kirbys weites Herz hat ihn dazu bewogen, uns aus seinem persönlichen Weinvorrat zu bewirten.« An seinem Standort in Gesellschaft der Hauptleute und Herrn Hamiltons blickte Richard auf, dann grinste er und verneigte sich zur Bestätigung, daß er den Befehl verstanden hatte. Als Dickon auf dem Absatz herumwirbelte, eine andere Stiege hinabschwirrte und dann hinunter in den Frachtraum kletterte, starrte Richard ihm reichlich ungläubig hinterdrein. Des Knaben Beweglichkeit bestürzte ihn anscheinend etwas, denn er selber hegte keine Schwäche für die Seefahrt; aber er befolgte seines Herrn Befehl und begab sich ebenfalls nach unten, jedoch auf umsichtigere Weise. Kirby sah zu, wie die beiden unter Deck verschwanden; er lächelte. »Mein Sohn«, stellte er voller Stolz fest. Darauf wußte Morgan nichts zu sagen. Am Bug hatte ein Mitglied der Mannschaft dem vorangegangenen Wortwechsel mit Interesse gelauscht. Sein Name lautete Andrew; er war Hilfssteuermann der Rhafallia. Und nun wandte er sich um und lehnte sich über die Reling, spähte angestrengt in den Nebel, der weit voraus lag und die hortische Küste verbarg. Er sollte, so wußte er, die jenseitigen, von Gischt bestürmten Ufer niemals erreichen; auch sollte er nie wieder sein heimatliches Fianna sehen, dasselbe Fianna, von dessen köstlichem Wein soeben auf dem Achterdeck die Rede gewesen war. Aber er hatte sich damit abgefunden. Der Preis war klein genug für
die Großtat, welche er nun vollbringen wollte. Er war seit langer Frist darauf vorbereitet. Er stand für eine beträchtliche Weile reglos, dann griff er vorsichtig unter sein verblichenes, heimgesponnenes Hemd und brachte ein kleines, zusammengeknülltes Stück Tuch zum Vorschein. Nachdem er sich umgeschaut hatte, um sich dessen zu vergewissern, daß niemand ihn beobachtete, entfaltete er den Fetzen, hielt ihn in seinen verschlungenen Händen und las zum fünften oder sechsten Male, wobei er die Lippen bewegte, die Worte, welche darauf geschrieben standen. Der Greif segelt am Morgen mit der Flut. Er darf sein Ziel nicht erreichen. Tod allen Deryni. Unter diesen Zeilen befanden sich ein R und der Umriß eines Falken. Andrew schielte über seine Schulter hinüber zum Achterdeck, dann kehrte er sein Antlitz wieder dem Meer zu. Die Nachricht war gestern abend eingetroffen, als die Sonne hinter den von Nebeln umschleierten Bergen sank. Und wie sie's seit langem geplant hatten, war nun der Zeitpunkt gekommen, da Morgan wieder die Planken der Rhafallia betrat – um vom Verderben ereilt zu werden. Ihm war kein angenehmer Tod beschieden – nicht Herrn Alaric. Aber der Tod, und zwar alsbald. Andrew preßte seine Rechte auf seine Brust und fühlte das Gewicht des Fläschchens, das an einer Schnur um seinen Hals hing; die Berührung erfüllte ihn mit Gelassenheit. Er schrak nicht zurück vor seiner Pflicht. Obwohl sein eigener Tod außer Frage stand, er hatte den Eid der Söhne des Himmels geschworen, und er gedachte ihn zu halten. Außerdem hatte Warin selbst ihm versichert, daß das Ende schmerzlos sein werde. Und im Jenseits sollte Andrew dafür, daß er den verhaßten derynischen
Herzog tötete, reichlich Lohn finden. Was zählte es also, daß er, um Morgan töten zu können, sein eigenes Leben opfern mußte? Denn vom Schiff, hatte er auch wirklich Erfolg, gab es kein Entkommen. Und schlug sein Beginnen fehl – nun, er hatte bereits zur Genüge darüber vernommen, was die Deryni einem Menschen anzutun vermochten, wie sie seinen Verstand verdrehen konnten, ihn gar zwingen, seine Seele den Mächten des Bösen zu öffnen, sogar zum Verrat an der Sache treiben. Nein, es war weitaus besser, das zuverlässige Gift zu trinken und dann den Deryni zu töten. Was bedeutete das Leben, verfiel eines Menschen Seele der Verdammnis? Mit einer Bewegung, die Entschlossenheit bezeugte, knüllte Andrew den Tuchfetzen in seiner Hand erneut zusammen und ließ ihn hinab in die Wasser des Meeres fallen. Er sah ihm nach, bis er außer Sicht war, dann nahm er das kleine Giftfläschchen. Das Elixier sei überaus wirksam, hatte Warin ihm gesagt. Ein paar Tropfen an die Klinge des Dolches, und schon ein harmloser Kratzer an einer Hand oder der Wange brachten den Tod; alle Kettenpanzer und Zauberwerke der Welt konnten dann den Verräter Morgan nicht retten. Er entkorkte das Fläschchen, blickte nochmals verstohlen hinter sich, um sich davon zu überzeugen, daß niemand herschaute, und träufelte einige Tropfen auf die Klinge in seinem Ledergürtel. Da! dachte er. Sieh zu, wie du das verdaust, Deryni! Denn so wahr ich lebe und atme, noch heute wird dein Blut fließen, und mit ihm wird dich dein verruchtes Leben fliehen. Er verschloß das Fläschchen und verbarg es in seiner Faust, dann wandte er sich um und schlenderte gemächlich achternwärts, hinüber zum Steuerruder. Als er das Ach-
terdeck erklomm und vorbei an Morgan und den anderen ging, strengte er sich an, um Morgan nicht anzusehen, als könne ein bloßer Blick des Zauberers seine Absicht enthüllen und die geplante Tat vereiteln. Sein Vorüberkommen fand kaum Beachtung, da in diesem Moment Richard und der Knabe zurückkehrten und eine Flasche Wein und holzgeschnitzte Becher brachten. Die Flasche, so bemerkte Andrew erbittert, trug noch das fiannische Gütesiegel. »Prächtig, Bube«, lobte Kirby seinen Sohn und lächelte, als er die Flasche zur Hand nahm; er öffnete sie und schenkte die Becher voll. »Gebieter, Ihr besitzt, was Wein angeht, einen untrüglich hervorragenden Geschmack.« »Ich folge lediglich Eurem Beispiel, Henry.« Morgan lächelte und trank einen langen Zug. »Stünden in meinen Diensten nicht Kapitäne wie Ihr, die solchen Wein einführen, so wüßte ich wohl gar nicht, daß ein dergestalter Himmel auf Erden vorhanden ist. Ein ausgezeichneter Jahrgang. Aber das sind sie eigentlich alle.« Er seufzte und streckte seine Beine aus; die Sonne funkelte auf seinem Kettenhemd und seinem goldenen Haar. Er nahm die goldene Adelskrone vom Haupt und legte sie behutsam neben seinem Feldstuhl aufs Deck Andrew, der sich inzwischen an der Ruderpinne befand, nutzte die Geschäftigkeit des Einschenkens und Trinkens, um mit dem Daumen erneut den Korken aus dem Fläschchen zu entfernen; er hob sie, indem er vortäuschte, er verdecke mit der Hand ein Gähnen, an seine Lippen. Das vorgebliche Gähnen verwandelte sich in echtes Husten, als die Flüssigkeit in seiner Kehle brannte, und Andrew geriet in echte Not, um sein außergewöhnliches Unbe-
hagen zu verhehlen. Kirby warf ihm einen Blick der Verwunderung zu, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder aufs Gespräch. Mühevoll schluckte Andrew den Rest; schließlich gelang es ihm, seine Fassung wiederzuerringen. Alle Teufel der Hölle! dachte Andrew, während er sich die tränenden Augen rieb; Warin hatte ihn nicht davor gewarnt, daß das Zeug so schmeckte. Beinahe hätte er vorzeitig Verdacht erregt. Nun mußte er schnell handeln. Er straffte sich und überblickte die Ansammlung von Männern auf dem Deck. Ungefähr acht Fuß weit entfernt saß auf einem Stuhl Morgan, dem Steuerruder den Rücken zugekehrt. Zur Linken und etwas weiter weg stand Kirby, leicht seitwärts gewandt. Der Priester, Meister Randolph und der Knappe Richard saßen rechts von Morgan, und aller Interesse galt mehr dem jenseitigen Land, das nun allmählich im Osten in Sicht kam, als den Verrichtungen der Steuerleute an Bord. Andrews Lippen verzogen sich zu einem maskenhaften Grinsen, während seine Hand nach dem langen Dolch tastete und er sorgsam die Stelle ins Auge faßte, der sein Stoß gelten sollte – Morgans ungeschützten Nacken. Dann riß er die Waffe heraus, indem er die Ruderpinne fahren ließ, und stürzte sich auf sein Opfer. Der Ergebnis entsprach allen möglichen schönen Plänen nicht im geringsten. Als Andrew heransprang, drehte der junge Richard FitzWilliam sich um und bemerkte die Bewegung. Genau in jenem unheilvollen Augenblick, bevor Andrew das auserkorene Opfer erreichte, stieß Richard einen Schrei aus und warf sich zugleich zwischen die beiden Männer, wobei er Morgan von seinem Sitz schleuderte. Lederbezogene
Feldstühle kippten um. Das Schiff schlingerte, als es sich in den Wind legte, und der Ruck raubte Andrew das Gleichgewicht, so daß er nicht einzuhalten vermochte. Während bereits Duncan und Kirby herbeisprangen, um ihn zu entwaffnen und zu überwältigen, rammte Andrew wuchtig Richard und Morgan, und durch den Zusammenprall polterten alle drei übers Deck. Morgan lag am Ende zuunterst, Richard in seinen Armen, und auf beiden zappelte der entsetzte Andrew. Er hatte versagt! Duncan und Kirby ergriffen ihn bei den Armen und rissen ihn zurück; unterdessen kamen Hamilton und die vier Hauptleute über die Stiege aufs Achterdeck geschwärmt, um ebenfalls einzugreifen. Sobald letztere den Meuchler in Gewahrsam hatten, begab sich Kirby an die Ruderpinne und brachte das Schiff wieder auf Kurs; mit eindringlicher Stimme rief er nach einem anderen Seemann, damit dieser ihm das Steuer abnehme. Randolph, der am Rande des Geschehens den Knaben Dickon in seine Obhut genommen hatte, sah fassungslos Morgan sich aufsetzen, wobei er nach Atem rang und in seinem Schoß in ungläubigem Schrecken Richard schüttelte. »Richard?« keuchte Morgan und rüttelte heftig des jungen Knappen Schultern. Der Knappe ruhte schlaff in seinen Armen, und des Herzogs Augen weiteten sich, als er den Dolch aus Richards Flanke ragen sah. »Randolph, kommt! Er ist verwundet.« Sofort war Randolph an seiner Seite und kniete nieder, um die Verletzung zu untersuchen. Richard stöhnte und schlug mit großer Mühsal die Augen auf. Sein Antlitz hatte eine aschgraue, bläuliche Farbtönung, und als der Leibarzt den Dolch anrührte, ver-
zerrte es sich aus Schmerz. Duncan vergewisserte sich, daß man den Übeltäter gut bewachte, dann gesellte er sich eilig zu Morgan, Randolph und dem Verwundeten. »Ich... ich habe ihn aufgehalten, mein Gebieter«, röchelte Richard schwach, während er vertrauensvoll zu Morgan aufschaute. »Er wollte Euch meucheln.« »Wohl getan«, murmelte Morgan, strich dem Jüngling das dunkle Haar aus der Stirn und sah in selbiger die Furchen der Qual eingegraben. »Wie steht's, Randolph?« Randolph schüttelte in bitterlichem Kummer das Haupt. »Ich fürchte, die Klinge ist vergiftet, Herr. Selbst wenn die Wunde nicht so schwer wäre, ich...« Er neigte sein Haupt. »Ich bedaure, Gebieter.« »Euer Gnaden«, flüsterte Richard, »darf ich Euch um eine Gunst bitten?« – »Um jede, die zu gewähren in meiner Macht steht, Richard«, gab Morgan leise zur Antwort. »Wolltet... wolltet Ihr wohl meinem Vater sagen, daß ich in Euren Diensten fiel, als Euer Vasall? Er...« Richard mußte husten, und die dadurch verursachte Bewegung jagte eine neue Welle des Schmerzes durch seinen Körper. »Er hat gehofft«, vollendete er mit schwacher Stimme, »ich werde eines Tages ein Ritter sein.« Morgan nickte; er biß sich auf die Lippe, um zu verhindern, daß Tränen seinen Blick trübten. »Dann laßt mich den Eid ablegen, Herr«, flüsterte Richard, ergriff Morgans Hand und drückte sie mit aller noch verbliebenen Kraft. »Ich, Richard FitzWilliam, erkläre mich zu Eurem Lehnsmann mit Leib und Leben und in meinem Herzen weltlicher Verehrung.« Seine Augen öffneten sich weiter, und seine Stimme klang fe-
ster, als er weitersprach. »Und mein Vertrauen und meine Treue gelobe ich Euch, und ich schwöre, mit Euch zu leben und zu sterben und an Eurer Seite gegen alle Widersacher zu stehen, so wahr mir Gott helfe...« Seine Stimme verstummte mit des Eides letztem Wort, und sein Zugriff um Morgans Hand ermattete. Langsam entwich der letzte Atemzug. Mit einem krampfartigen Beben drückte Morgan den toten Jüngling an seine Brust, im Gram die Lider geschlossen. Neben sich hörte er Duncan die Worte der Absolution murmeln. Er blickte auf in Kirbys verzerrte Miene, er sah seine Hauptleute an, die den Gefangenen hielten, dann den Gefangenen selbst, und seine Augen nahmen einen ehern grauen Farbton an. Sanft ließ er Richard aus seinen Armen auf die Planken gleiten, ohne seinen Blick von dem Mann zu wenden, der seinerseits den Blick auf trotzige Weise gesenkt hielt, und richtete sich auf. Zwischen ihm und dem Gefangenen lag umgekippt ein Stuhl, und er zwang sich dazu, den Stuhl bedächtig zurück an seinen vorherigen Standort zu stellen, bevor er dem Manne nähertrat. Er ballte die Hände mehrmals zu Fäusten und lockerte sie wieder, während er vor ihm verharrte; er mußte den nahezu unwiderstehlichen Drang niederringen, die höhnische Fratze des Mörders mit der Faust einzudreschen. »Warum?« erkundigte er sich mit gedämpfter Stimme. »Weil Ihr ein Deryni seid«, schleuderte ihm der Mann entgegen, »und alle Deryni müssen sterben!« In seinen Augen leuchtete das Feuer des Eiferers. »Der Teufel hole Euch, das nächste Mal kommt Ihr nicht davon! Und das kann ich Euch versichern, es wird ein
nächstes Mal geben!« Morgan starrte den Mann einen Moment lang wortlos an, und dann senkte der Gefangene, indem er zugleich heftig schluckte, seinen Blick. »Ist das alles, was Ihr zu sagen habt?« fragte Morgan ruhig; seine Miene war finster und bedrohlich. Da hob der Mann von neuem den Blick, und sein Gesicht verzog sich zu einem seltsamen Ausdruck. »Ihr könnt mir nichts anhaben, Morgan«, erklärte er mit ruhiger Stimme. »Ich habe Euch zu töten versucht, und ich bin froh darum. Hätte ich die Möglichkeit, ich versuchte es noch einmal.« »Welche Möglichkeiten blieben Richard?« hielt Morgan ihm in eisigem Tonfall entgegen; er beobachtete, wie des Mannes Blick unsicher den Leichnam hinter des Herzogs Rücken streifte. »Er war verbunden mit einem Deryni«, schnauzte der Mann. »Er hat das Schicksal verdient, das ihn nun ereilte.« »Der Teufel hole Euch«, fluchte Morgan, »nie und nimmer hat er's verdient!« Er packte den Mann am Hemd und riß ihn zu sich heran, so daß nur noch wenige Zoll ihre Häupter voneinander trennte. »Wer hat Euch angestiftet, das zu tun?« Der Mann verzerrte schmerzlich das Gesicht und schüttelte das Haupt, dann lächelte er schwach. »Zwecklos, Morgan. Ich verrate Euch nichts. Ich weiß, daß ich ein toter Mann bin.« »Noch lebt Ihr«, knirschte Morgan aus zusammengebissenen Zähnen hervor und verdrehte des Mannes Kragen. »Heraus mit der Sprache! Wer steckt dahinter?« Als Morgan den Blick seiner Deryniaugen in des
Mannes Augen bohrte, um dessen Gedanken zu lesen, weiteten sich Andrews blaue Augen, und seine Streitbarkeit wich blankem Entsetzen. »Nicht meine Seele, derynisches Scheusal!« krächzte der Mann, entzog seine Augen Morgans Blick und schloß fest die Lider. »Laßt mich in Frieden!« Ein Beben durchlief seinen Körper, während er sich Morgans geistiger Gewalt widersetzte, und dieweil er sich loszureißen versuchte, stöhnte er qualvoll. Dann erschlaffte er und sank in den Armen seiner Bewacher zusammen; sein Kopf lag kraftlos auf den Schultern. Morgan unternahm eine letzte Anstrengung, in seinen Geist vorzudringen, als der Mann seinem Zugriff in jeder Beziehung entglitt, doch vergeblich. Der Mann war tot. Morgan entließ das Hemd aus seiner Faust und winkte Randolph herbei. »Nun, was ist das?« meinte Morgan, indem er sich angewidert abwandte. »Habe ich ihn umgebracht, ist er aus Furcht gestorben, oder was ist ihm geschehen?« Randolph begutachtete den Leichnam, nachdem die Hauptleute ihn aufs Deck ausgestreckt hatten; schließlich bog er die linke Hand auseinander, entnahm ihr das Fläschchen, schnupperte daran, erhob sich und hielt es Morgan entgegen. »Gift, Gebieter. Wahrscheinlich dasselbe, das sich auch an der Klinge befand. Offenbar besaß er Klarheit darüber, daß er selbst beim Gelingen seines Anschlags nicht entrinnen konnte.« Morgan sah einen der Hauptleute an, der die Kleidung des Toten durchsuchte. »Irgend etwas Aufschlußreiches vorhanden?« »Bedaure, Herr. Nichts.«
Für einen Moment starrte Morgan hinab auf den Leichnam, dann stieß er ihn mit der Stiefelspitze an. »Schafft ihn aus der Welt«, befahl er schließlich. »Und bahrt Richard auf. Er wird zu Coroth mit allen ritterlichen Ehren eingeäschert.« »Jawohl, Herr«, erwiderte ein Hauptmann und breitete seinen grünen Umhang über den Toten. Morgan wandte sich ab und trat an die Reling, so weit von den beiden Leichnamen weg wie möglich; er runzelte die Stirn, als ein Aufklatschen ihm mitteilte, daß sich einer davon nicht länger an Bord befand. Duncan trat zu ihm und lehnte sich zu seiner Linken an die Reling. Er musterte seinen Vetter für einen längeren Moment von der Seite, bevor er das Schweigen brach. »Alle Deryni müssen sterben«, wiederholte Duncan mit leiser Stimme jenes Wort. »Der Schatten der Inquisition. Erinnert die Äußerung dich an noch etwas?« Morgan nickte »An die Lieder, welche man in den Straßen singt. An Randolphs Bericht über die Überfälle an der Grenze, wovon er während des Festmahles vernahm. All das fügt sich zusammen zu einer Tatsache: Dieser Warin beginnt uns über den Kopf zu wachsen.« »Dieser Mann, der eben vor unseren Augen in den Tod ging, war ganz erfüllt von Opfermut«, bemerkte Duncan. »Warin muß eine überaus starke Überzeugungskraft besitzen. Was er wohl dem Seemann erzählt haben mag, so daß er dazu bereit war, für die Sache das eigene Leben hinzugeben?« Morgan schnob. »Das ist leicht vorstellbar. ›Indem du das Deryniungeheuer tötest, dienst du dem gesamten Menschengeschlecht. Im Jenseits erwartet
dich eine hohe Belohnung. Nur durch den Tod vermagst du der Rache der Deryni zu entgehen, zu verhindern, daß er deine unsterbliche Seele beschmutzt.‹« »Wo der Aberglaube ohnehin schon verbreitet ist, könnte so etwas einen gemeinen Menschen leicht überzeugen«, bekräftigte Duncan. »Und ich fürchte, wir werden noch etlichen Fällen mehr begegnen, falls und wenn der Kirchenbann auf Corwyn niederfällt. Damit wird alles offenbar werden. Dies war nur ein Vorgeschmack.« »Ich kann nicht behaupten, daß der Geschmack mir behagt«, sagte Morgan. »Wir werden heute nicht lange am hortischen Hof verweilen, Duncan. Vielleicht vermag ich daheim nicht mehr zu unternehmen als hier, aber zumindest möchte ich gegenwärtig sein, wenn alles zusammenbricht.« »Also bist du endlich davon überzeugt, daß es sich bei der Androhung des Kirchenbanns um eine ernstgemeinte Drohung handelt?« »Ich habe nie etwas anderes geglaubt«, antwortete Morgan. Die Sonne war im Meer versunken, und die Rhafallia folgte ihrem heimwärtigen Kurs zurück zur corwynischen Küste, als Morgan letztendlich die Zeit dazu fand, sich zu entspannen und über die Ereignisse des Tages nachzudenken. Der Tag war nicht gut verlaufen. Abgesehen vom spürbaren Schrecken des versuchten Anschlags und Richards Tod – auch die Begegnung mit dem Orsal war weit weniger als zufriedenstellend gewesen. Seine Hortische Majestät hatte sich in gräßlicher Mißstimmung befunden, denn kurz
zuvor erreichte ihn die Meldung, daß aus einem in den Nordprovinzen gelegenen Gestüt fünf seiner unermeßlich kostbaren Hengste geraubt worden waren; die Täter waren torenthische Grenzräuber gewesen. Als Morgan und Duncan vor den Orsal traten, hegte der weit stärkeres Interesse an der Wiedererlangung der Pferde und Rache als am Gespräch über die gemeinsamen Verteidigungsmaßnahmen für einen Krieg, den man erst in drei Monden zu erwarten brauchte. Daher war das Treffen in dieser Beziehung nicht fruchtbar abgelaufen. Der Besuch Morgans bei seinem alten Freund und dessen Familie gipfelte darin, daß man ihn dazu überredete, sich einverstanden zu erklären, des Orsals zweiten Erben, den elfjährigen Rogan, zu sich an den herzoglichen Hof zu nehmen, um ihn in den ritterlichen Künsten auszubilden. Die Verteidigungspläne dagegen, welche sich in den kommenden Monden als so entscheidend erweisen konnten, erfuhren keine Klärung, die Morgan befriedigte. Als der Herzog wieder an Bord der Rhafallia ging, blieben zwei seiner Burghauptleute zurück, um mit des Orsals Beratern und Seeherren die Einzelheiten aller erforderlichen Vorbereitungen zur Herstellung des Schutzbundes zu besprechen. Morgan überließ ungern anderen die Verantwortung für Angelegenheiten von so entscheidungsträchtigem Gewicht, aber in diesem besonderen Fall besaß er keine echte Wahl. Er konnte unmöglich die etlichen Tage an des Orsals Hof zubringen, die darüber vergehen mußten, eine annehmbare endgültige Lösung auszuhandeln. Im Laufe des Tages hatte sich auch das Wetter verschlechtert. Die Luft war so still, daß sie sogar die
Ruder einsetzen mußten, um bloß vom Kai abzulegen. Die Mannschaft begab sich mit dem gutwilligen Gleichmut, der auf Morgans Schiffen üblich war, ans Rudern. Und als im Osten am Himmel Sterne zu erscheinen begannen, summten und sangen die Männer mit rauhen Stimmen wilde Seefahrerlieder, die so alt waren wie der Menschen erste Seefahrten. Auf dem Schiff herrschte Dunkelheit, sah man einmal von den grünen Laternen ab, die an Heck und Bug hingen. Auf dem Achterdeck stand Kapitän Kirby neben dem Steuermann achtsam Wache. In den Unterkünften unterhalb des Achterdecks lagen Meister Randolph und die restlichen Mitglieder von Morgans Begleitung auf harten Strohsäcken und versuchten zu schlafen. Der Herzog und Duncan ruhten auf dem vorderen Kampfdeck, gegen den leichten Nieselregen durch einen Baldachin aus Segeltuch geschützt, welchen Kirby vorm Ablegen zu diesem Zweck hatte errichten lassen. Später riß die Bewölkung auf. Morgan vermochte nicht zu schlafen. Er schlang seinen Umhang enger um die Schultern und beugte sich unterm Baldachin vor, um die Sterne zu betrachten. Im Osten hatte sich aus dem Meer der Jagdhund erhoben, und in der frostigen Märzluft glitzerte kalt sein helles Halsband. Zerstreuten Geistes musterte Morgan die anderen Sternbilder, ohne sich dabei irgendwelche sonderlichen Gedanken zu machen; dann ließ er sich, indem er hinterm Haupt die Hände faltete, wieder zurück aufs Strohlager sinken. »Duncan?« – »Hmmm?« »Schläfst du?« »Nein.« Duncan setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Was gibt's?«
»Nichts.« Morgan seufzte und zog die Knie an den Leib, auf die er seine verschränkten Arme legte und das Kinn darauf stützte. »Sag, Duncan, haben wir heute irgend etwas geschafft – ausgenommen, daß wir einen guten Mann verloren?« Duncan schnitt eine Grimasse, preßte im Dunkeln die Lippen aufeinander; er versuchte einen leichten Tonfall anzuschlagen. »Nun, wir haben des Orsals jüngsten Abkömmling kennengelernt – den siebenten, wenn ich nicht einem Irrtum erliege. Und ein ›lebhaftes Kind‹, wie wir in Kierney zu sagen pflegen.« »Heil deinem ›lustigen Kind‹!« Morgan lächelte halbherzig. »Außerdem haben wir die Sprößlinge eins bis sechs gesehen, und der dritte Abkömmling zählt nunmehr zu meinem Gefolge. Warum hast du nicht eingegriffen und mich gehindert, Duncan?« »Ich?« Duncan kicherte. »Mich dünkte, Herr Feldmarschall, Ihr wäret begierig darauf bedacht, auf Burg Coroth einen hortischen Pagen zu haben. Bedenkt – Ihr könntet des Orsals Sohn mit Euch in die Schlacht führen.« »Den Teufel kann ich!« Morgan schnob erbost. »Nehme ich des Orsals Sohn mit in die Schlacht und ihm stößt etwas zu, dann könnte es sich recht gut ergeben, daß ich um meines neuen Pagen willen den Tod finde, Gott bewahre! Aber was hätte ich denn einwenden sollen? Ich war dem Orsal eine Gunst schuldig. Und es wäre verflucht schwergefallen, sich mit einer Verbeugung zu verabschieden, während der Knabe schon in Bereitschaft stand.« »Du brauchst niemandem irgendwelche Erklärungen zu liefern«, antwortete Duncan. »Sollten ernste
Gefahren entstehen, kannst du das Bürschlein jederzeit auf das nächstbeste Schiff mit heimwärtigem Kurs setzen. Ich habe den Eindruck gewonnen, das behagte dem jungen Rogan ohnehin am meisten.« Dies äußerte Duncan mit nachdenklicher Miene. »Ich glaube nicht, daß er sich zum Krieger eignet.« »Ja, fürwahr, er entspricht schwerlich der Vorstellung, welche man von einem Orsal-Sohn hat. Er nimmt in der Erbfolge die zweite Stelle ein, und ich habe das Gefühl, daß er nicht einmal allzu froh darum ist, dem Thron so nahe zu stehen.« Duncan nickte. »Wenn ich jemals jemanden gesehen habe, der von seiner Anlage her ein Gelehrter, Arzt oder Mönch ist, dann zweifellos Rogan. Es ist ein Jammer, daß er niemals die Gelegenheit erhalten wird, seiner wahren Berufung nachzugehen. Vielmehr wird er irgendein unbedeutendes Höflingsamt an seines älteren Bruders Hof antreten, sobald dazu die Zeit kommt, er wird niemals wirklich glücklich sein, niemals recht wissen, warum. Oder vielleicht wird er's wissen, aber nichts ändern können. Das ist wohl die traurigste Seite dieser Geschichte, glaube ich. Sein Los bekümmert mich, Alaric.« »Mich ebenso«, bekannte Morgan; er wußte, daß auch Duncan sich in einer Rolle gefangen fühlte, die zu spielen die Umstände ihn zwangen, obwohl sie ihm mißfiel. Die Verhältnisse in einer Welt, welche er weder angestrebt noch erschaffen hatte, erlegten ihm den Zwang auf, seine wahren Fähigkeiten zu verhehlen, eine Maske zu tragen. Mit einem Seufzer beugte Morgan sich auf seinem Strohlager vor, um von neuem die Sterne zu betrachten, dann rutschte er näher zum Bug, in den Lichtschein, den die Buglater-
ne verbreitete. Er setzte sich auf und lehnte sich rücklings an die Reling, zog seinen rechten Handschuh aus; er lächelte, als das Greifensiegel an seiner Hand im grünlichen Laternenlicht kühl blinkte. Duncan kam auf Händen und Knien übers Deck gekrochen und kauerte sich an seines Vetters Seite. »Was hast du vor?« »Es ist Zeit für die Verbindung mit Derry, falls er etwas zu berichten hat«, erwiderte Morgan und rieb den Siegelring mit einem Zipfel seines Umhangs blitzblank. »Wünschst du teilzuhaben? Ich begebe mich lediglich auf die erste Ebene der Trance, um darauf zu lauschen, ob er mich ruft.« »Nur zu«, entgegnete Duncan, kreuzte neben Morgan die Beine und nickte, um seine Bereitschaft zu bekunden. »Ich schließe mich an.« Als beide Männer ihre Aufmerksamkeit gemeinsam auf den Ring richteten, atmete Morgan tief ein, um die Unterstufe der derynischen Geistesverbindung herzustellen, dann entließ er den Atem langsam, als er sich auf die Erstebene der Trance begab. Seine Lider sanken herab; sein Atem ging langsam und beherrscht. Dann legte auch Duncan seine Hände um das Greifensiegel, und er verschmolz seinen Geist mit Morgans Gedankenstrom. Ungefähr eine Viertelstunde lang tasteten sie nach einem geistigen Ruf; zunächst rührten sie nur an die Bewußtseinsschwingungen von Mannschaften und Mitgliedern des herzoglichen Gefolges; während sie den Kreis ihres geistigen Tastsinns immer weiter ausdehnten, bemerkten sie das geisterhafte Flimmern anderer, fremder Bewußtheiten, fanden Berührungen von solcher Flüchtigkeit statt, daß sie nahezu unmerklich und mit Gewißheit unbegreif-
lich für jene Fremden blieben. Doch nirgendwo stießen sie auf eine Spur Derrys. Morgan seufzte und beendete die Trance; Duncan tat dasselbe. »Nun, wir dürfen wohl davon ausgehen, daß er wohlauf ist«, meinte Morgan und schüttelte behutsam den Kopf, um die leichte Benommenheit zu vertreiben, welche stets nach einer solchen geistigen Suche zurückzubleiben pflegte. »Gäbe es etwas von Gewicht zu melden, hätte er die Verbindung herzustellen versucht, das weiß ich – es sei denn, er ist ernstlich gehindert.« Er lächelte. »Ich fürchte, unserem jungen Freund Derry gefiel sein erster Umgang mit der Magie viel zu sehr, um von einer Wiederholung abzusehen, solange sich nur der fadenscheinigste Vorwand bietet. Ich gehe aber dennoch davon aus, daß er sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in Sicherheit befindet.« Duncan lachte leise, als er sich wieder auf sein Strohlager bettete. »Es überrascht ein wenig, wie leicht er sich in die Anwendung der Magie einübt, findest du das nicht auch? Er verhielt sich, als bediene er sich ihrer schon sein Leben lang, und blinzelte kaum, als er erfuhr, daß ich ebenfalls ein Deryni bin.« »Das Ergebnis langjähriger Einflüsterungen.« Morgan lächelte erneut. »Derry ist seit fast sechs Jahren mein Leutinger. Und bis zu jenem Anlaß vor zwei Tagen habe ich ihn niemals unmittelbar an der Ausübung meiner Fähigkeiten mitwirken lassen. Gelegentlich sah er die Früchte meiner Begabung, aber niemals besaß er Zugang zum Verständnis ihrer Wege. Und so hegte er keine Bedenken, als der Zeitpunkt kam, da er sich selbst damit befassen mußte, weil es für ihn keine Frage ist, ob es übel ist oder gut, ein De-
ryni zu sein. Er weiß, daß daran nichts Schlechtes ist. Auch zeigt er eine bemerkenswerte Einfühlsamkeit.« »Könnte er derynisches Blut besitzen?« Morgan schüttelte das Haupt und streckte sich aus. »Das nicht, fürchte ich sagen zu müssen. Womit sich aber eine andere interessante Frage erhebt. Man fragt sich unwillkürlich, zu was Menschen fähig wären, hätten sie nur die Möglichkeit, wären sie nicht so fluchwürdig fest davon überzeugt, daß Magie ein Verbrechen sei. Derry, um bei ihm zu verweilen, besitzt eine beachtliche Anpassungsfähigkeit. Wäre er zur Stelle, ich könnte ihn sofort eine ganze Anzahl schlichterer Formeln lehren, und es bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten, sie zu meistern. Und er hat nicht einmal unter jenen ursprünglichen menschlichen Familien Ahnen, welche die Veranlagung zur Aneignung derynischer Fähigkeiten verbreitete – anders als Brion, anders als das Geschlecht der Orsals.« »Nun, ich hoffe, er läßt Vorsicht walten«, murmelte Duncan, wälzte sich herum und bedeckte sich mit seinem Umhang. »Selbst geringes Wissen kann gefährlich sein, vor allem, wenn es sich dabei um Deryniwissen handelt. Und gerade in dieser Zeit kann die Welt für Derynianhänger ein reichlich gefahrvoller Ort sein.« »Derry ist dazu imstande, auf sich zu achten«, erklärte Morgan. »Er blüht inmitten von Gefahren regelrecht auf. Außerdem ist er, wie ich überzeugt bin, in Sicherheit.« Aber Derry war nicht in Sicherheit.
8 Denn vom Norden her naht sich Rauch; an seinem Sammelplatz bleibt niemand allein zurück. Jesaja 14,31 Am Morgen, da Derry Fathane verließ, hatte er beschlossen, die Richtung gen Norden einzuschlagen, nach Medras, um zu erkunden, was sich erkunden ließ. Die Ortschaft selber wollte er nicht aufsuchen, weil keine Gewähr bestanden hätte, bis zur folgenden Nacht, wie Morgan befohlen hatte, wieder in Coroth zu sein. Doch Medras war der Ort, wo sich torenthische Haufen sammeln sollten. Wenn er achtsam war, konnte er Morgan vielleicht wichtige Erkenntnisse mitbringen. Natürlich würde er, so rief er sich in Erinnerung, als er zu Fathane hinaus durchs Tor ritt, künftig noch weit umsichtigr und behutsamer vorgehen müssen, sollte er wieder eine Einrichtung wie das Schankhaus ›Zum Harschen Rüden‹ betreten; der Zwischenfall am gestrigen Abend in der Gasse hatte sein Gemüt zu stark mitgenommen, so daß er keine Neigung verspürte, nochmals in eine ähnliche Zwangslage zu geraten. Das Ereignis war der andere Grund, warum er Fathane so rasch verließ. Er wollte mit den beiden Leichen in der Gasse in keinen Zusammenhang gebracht werden. Er bezweifelte, daß einer seiner gestrigen Saufbrüder sich an ihn zu entsinnen vermochte, und noch weniger hatten sie einen
Anlaß, ihn mit den beiden Toten in Verbindung zu bringen. Aber Zeugen besaßen die schlechte Gewohnheit, sich zum unangebrachtesten Zeitpunkt an die sonderbarsten Einzelheiten zu erinnern. Und falls sich das Schicksal einen bösartigen Winkelzug ausdachte, konnte es sich genauso ergeben. Und für jemanden, der es gewagt hatte, zwei von Wencits besonders auserwählten Kundschaftern zu töten, konnte das Leben kurz und sauer werden. So war er landeinwärts nach Norden geritten, in die Richtung Medras'; gelegentlich rastete er in Gasthöfen und an Brunnen, um mit den Einheimischen zu schwatzen und ein paar von den Pelzen zu verkaufen, die er in einem Ballen hinterm Sattel mitführte. Zur Mittagsstunde hatte er den Flecken erreicht, wo die Landstraße nach Medras abzweigte, und nur ein Stückchen voraus befand sich eine Rotte von Fußknechten dorthin auf dem Marsch; beinahe hätten ihn zwei Bewaffnete der Nachhut angehalten und ausgefragt. Hatte er auch schon zuvor berechtigte Abneigung dagegen gehegt, so sah er darin den endgültigen Beweis dafür, daß es sich dringlich empfahl, Medras keinen Besuch abzustatten. Es war an der Zeit, sich westwärts zu wenden, zurück nach Corwyn. In der Dämmerung durchquerte Derry das gewellte hügelige Nordgebiet von Morgans Herzogtum, den fruchtbaren Pufferstreifen, welcher Corwyn von der Ostmark trennte. Die Straßen waren in Grenznähe stets schlecht, und jene, die Derry nahm, machte keine Ausnahme, aber er war zügig vorangekommen, nachdem er die Grenze zwischen Torenth und Corwyn passiert hatte. Nun jedoch, da sich die Dunkelheit anschlich, verlangsamte Derrys Pferd auf dem
rauhen Untergrund und strauchelte häufig. Derry sandte einen Stoßseufzer empor und erlegte sich den Zwang auf, dem Reiten mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Bald mußte Dunkelheit herrschen, aber er hatte den Vorsatz gefaßt, noch ein bestimmtes Ziel zu erreichen, bevor er den Ritt für die abendliche Rast unterbrach. Denn wiewohl dies Morgans Land war, so war's zugleich auch, hatten die Gerüchte recht, Warins Tummelplatz. Voraus lag eine Ortschaft mit einem annehmbaren Gasthof. Außer einer kräftigen Mahlzeit, wonach Derry heftig begehrte, ließen sich dort möglicherweise weitere Neuigkeiten von Wert erhalten. Indem er, dieweil er dahinritt, gedämpft eine fröhliche Weise pfiff, spähte Derry nach links an den Horizont, und dann heftete sich sein Blick fest auf eine absonderliche Erscheinung. Sie war in der Tat überaus seltsam. Unterlief ihm nicht ein schwerer Irrtum, sah er die Glut des Sonnenuntergangs hinterm nächsten Hügel nicht allein am falschen Platz (denn zuvor hatte er sie ein beträchtliches Stück weiter rechts erblickt), sondern zudem schien sie auch noch heller zu werden statt sich zu verdunkeln. Feuer? Er zügelte das Pferd, um zu lauschen und in den Wind zu schnuppern. Derry runzelte die Stirn, dann lenkte er das Tier vom Weg ab und querfeldein hinüber zum Hügel. Alsbald drang der bittere, beißende Geruch von Rauch sehr stark an seine Nase. Und als er sich dem Hügelkamm näherte, konnte er dicke Rauchwolken an den noch grauen Himmel emporquellen sehen. Und nun vernahm er auch Geschrei, das durch die kühle Abendluft heranwehte. Aufs Schlimmste gefaßt, jedoch in der Hoffnung, sich zu täuschen, glitt Derry aus dem Sattel und legte die
wenigen letzten Schritte bis zur Höhe des Hügels zu Fuß zurück. Seine Miene verfinsterte sich, als er sich bäuchlings niederwarf, um das Schauspiel zu überblicken, das sich drunten bot, jenseits des Hügels. Felder standen in Brand. Südwärtig schwelten ungefähr dreißig oder vierzig Morgen von Winterweizenstoppeln, und helle Flammen bedrohten ein bescheidenes Herrenhaus seitlich der Straße, wovon Derry soeben abgewichen war; doch es war nicht allein das Feuer, was die Bewohner des Gebäudes bedrohte – im Hof sprengten bewaffnete Reiter umher und gingen mit Lanzen und Schwertern gegen sie vor, hieben die in grüne Gesindetracht gewandeten Männer nieder, welche sich zu Fuß vergeblich zu erwehren versuchten. Bei diesem Anblick stieß alles Edle in Derrys Busen und Seele inwärtig einen lautlosen Schrei höchster Empörung aus. Denn eine der obersten Tugenden ritterlicher Ehre war's, die Schwachen und Unschuldigen zu beschützen. Er empfand den verzweifelt eindringlichen Wunsch, den Menschen drunten sogleich zu Hilfe zu eilen. Doch sein Verstand sagte ihm zu Recht, daß ein einziger Mann gegen eine solche Bedrängnis nichts, aber auch gar nichts zu tun vermochte denn sich selbst niederhauen zu lassen. Und obschon er ohne Zweifel ein Schock dieser Mordbrenner mit sich ins Grab gerissen hätte, wäre es ein sinnloser Tod gewesen. Wenn er umkam, konnte Morgan nicht erfahren, was im Lande geschah, und noch weniger half es drunten den Leuten. Während Derry abwartete, wobei ihm nahezu das Herz brach, bemerkte er, wie im Norden weitere Feuer aufloderten, entzündet von Reitern mit Fackeln. Als dieser zweite Trupp sich schließlich sammelte
und am Rand der Straße harrte, sah Derry, daß das ungleiche Gefecht im Hof vorüber war, alle Männer in grüner Tracht niedergestreckt lagen. Mit Befriedigung erkannte er, daß auch eine anders gekleidete Gestalt gefallen war; die übrigen Halunken warfen dieselbe über ein Pferd, dann warteten sie, bis aus dem Herrenhaus zwei Männer mit Fackeln gelaufen kamen und wieder auf ihre Pferde sprangen. An der Rückseite des Hauses kräuselte sich, obschon dort keine Schornsteine aufragten, nun ebenfalls Rauch empor, und Derry knirschte mit den Zähnen, dieweil die letzten Mordbrenner zum Hof hinauseilten und zu ihren Spießgesellen an der Straße stießen, worauf die ganze Horde über die Hügel nach Westen verschwand. Derry fluchte unterdrückt, lief zurück zu seinem Pferd, schwang sich in den Sattel und preschte stürmisch den Hang hinunter. Aus dem Herrensitz schlugen inzwischen hohe Flammen. Das Gebäude retten zu wollen, war aussichtslos. Aber Derry beabsichtige, sich dessen zu vergewissern, daß in den Trümmern niemand noch lebte. Er konnte sich dem Haus bis auf fünfzig Ellen nähern, bevor brennender Weizenstoppel ihn zwang, zur Straße auszuweichen, und danach mußte er seinem Pferd seinen Umhang über den Kopf werfen, ehe es durch die Flammen zu beiden Seiten des Tores laufen wollte. Derry mahnte sich, hart zu sein, als er das Tier anhielt. Dies war der Herrensitz eines Edelmannes in bescheidenen Verhältnissen gewesen. Das Haus war anspruchslos, aber gut gepflegt – jedenfalls, was man noch davon sah. Und des Edlen Gefolgsleute hatten offenbar nach besten Kräften Widerstand geleistet.
Ein halbes Dutzend Leichen lagen im Hof verstreut, weitere in der Vorhalle; zumeist waren die Toten Männer in fortgeschrittenem Alter, und alle trugen – nun von ihrem Blut getränkt – eine Gesindetracht in Grün und Silber, jenen Farben, die auch das Wappen überm geborstenen Tor auszeichneten. Senkrecht drei geordnete Weizengarben auf silbernem Sparren. Der Wahlspruch: Non concedo. ›Ich beuge mich nicht.‹ Diese Männer haben sich offenkundig nicht gebeugt, dachte Derry, während er den Hof abritt und dabei die Leichname betrachtete. Doch gilt's auch, so darf ich wohl fragen, für ihren Herrn? Wo ist er? Von der linken Seite vernahm er ein Stöhnen und bemerkte im Augenwinkel eine Regung. Er veranlaßte das Pferd zum Wenden und sah eine flehentlich erhobene Hand. Er ließ sich aus dem Sattel rutschen und kniete an der Seite eines alten, bärtigen Mannes nieder, der ebenfalls in der grünen und silbernen Tracht stak. »Wer... wer seid Ihr?« röchelte der Greis, packte den Zipfel von Derrys Umhang und zerrte daran, um Derry in der vom Feuerschein erleuchteten Dunkelheit anzublinzeln. »Ihr gehört nicht zu jenen...« Derry schüttelte den Kopf, hob des Alten Haupt an und stützte es auf sein Knie. Es dunkelte rasch, und des Mannes Antlitz war im schwindenden Licht als kaum mehr denn ein heller Fleck erkennbar, aber Derry sah genug, um darüber Klarheit zu gewinnen, daß er im Sterben lag. »Ich bin Sean Graf Derry, mein Freund, ein Gefolgsmann des Herzogs. Wer hat euch dies angetan? Wo ist euer Herr?« »Sean Graf Derry«, wiederholte der Mann und schloß aus Schmerz die Augen. »Ich habe von Euch vernommen. Ihr... sitzt in des Königs Rat, nicht
wahr?« »Bisweilen«, erwiderte Derry und schnitt im Finstern eine grimmige Miene. »Doch gegenwärtig ist's wichtiger, daß du mir berichtest, was vorgefallen ist. Wer trägt die Verantwortung für diese Untat?« Der Alte hob eine Hand und deutete fahrig westwärts. »Sie kamen von den Hügeln, Herr. Eine Bande von Warins Gesellen. Mein junger Herr, der Junger Sieur de Vali, ist nach Rhelledd aufgebrochen, er möchte des Herzogs Beistand für die hiesigen Landadeligen erbitten, doch ach!...« Er verstummte, und Derry befürchtete schon, er sei dahingeschieden, aber da begann die greisenhafte Krächzstimme von neuem zu sprechen. »Sagt dem Herzog, daß wir getreulich bis zum Ende fochten, Herr. Sagt ihm, daß wir uns nicht gebeugt haben, wiewohl wir nur alte Männer waren und Knaben. Wir haben uns dem ›Heiligen‹ nicht unterworfen, was seine Günstlinge uns auch androhten. Wir...« Er hustete, und aus einem Mundwinkel sickerte helles Blut. Aber aus irgendeiner Quelle schien ihm Kraft zuzufließen, und er hob um ein paar Zoll sein Haupt, krallte sich, um sich aufzusetzen, an Derrys Umhang. »Euren Dolch, Herr – kann ich ihn haben?« Derry legte die Stirn in Falten, da er sich fragte, ob der Mann etwa meine, er solle ihm einen Gnadenstoß geben. Sein Zweifel mußte sich deutlich in seiner Miene widergespiegelt haben, denn der Alte lächelte und schüttelte sein Haupt, während er es wieder an Derrys Knie lehnte. »Nicht das ist's, worum ich Euch ersuche, junger Herr«, flüsterte er, indem sein Blick Derrys Augen ertastete. »Ich fürchte nicht den Tod, doch verlangt's mich nach dem Trost eines Kreuzes, um mir den Übergang in
jene andere Welt zu erleichtern.« Derry nickte, seine Miene war nun ernst und feierlich, und er zog seinen Dolch aus der Scheide am Stiefelschaft. Er hielt ihn an der Klinge, den Griff aufwärts gerichtet, vor des Mannes Augen; ein schwacher Schatten, verursacht vom Feuerschein, fiel über des Sterbenden Antlitz. Der Alte lächelte und bog Derrys Arm herab, um seine Lippen an das notdürftige Kreuz zu rühren. Und dann erschlaffte seine Hand; Derry sah, daß er ausgelitten hatte. Ruhe in Frieden, du guter und getreuer Knecht, dachte Derry, bekreuzigte sich unter Verwendung des Dolches und schob ihn zurück in die Scheide. Und wieder hat Warin de Grey zugeschlagen. Doch diesmal hat er, statt nur zu drohen und zu brandschatzen, gemordet und gemetzelt. Er warf im verwüsteten Hof einen letzten Blick in die Runde, als er sich aufrichtete; er verharrte, indem er unentschlossen mit den Zügeln spielte, dann bestieg er sein Pferd. Er sollte wahrhaftig nicht tun, was er nun zu wagen vorhatte; alle vernünftigen Erwägungen sprachen dafür, nunmehr einen sicheren Ort aufzusuchen und zu warten, bis der Zeitpunkt kam, um wieder mit Morgan Verbindung aufzunehmen. Derrys Kriegsherr würde das Wagnis, welches er nun mutwillig einging, beileibe nicht gutheißen. Aber die Vernunft lieferte nicht immer die beste Antwort, fand Derry. Manchmal mußte man sich außergewöhnlicher Mittel und Wege bedienen, um Fortschritte zu erzielen, auch indem man sich großen Gefahren für Leib und Leben aussetzte. Derry gab seinem Reittier die Sporen, sprengte zum Hof hinaus, den jetzt nur noch das Flackern der Flammen im Haus erhellte, und folgte dem Verlauf der Straße in
jener Richtung, welche die Mordbrenner genommen hatten. Wenn seine Beurteilung solcher Banden etwas taugte, so ritten Warins Mordbuben an diesem Abend nicht weit. Beim schlechten Zustand der Straßen in dieser Gegend konnte man im Dunkeln nicht lange weiterreiten, zumal kein Mond schien. Außerdem hatten die Reiter einen Toten oder Verwundeten dabei; war er lediglich verletzt, bestand sehr die Möglichkeit, daß sie in kurzer Frist anhielten, um sich um seine Wunde zu kümmern. Und überdies stellte sich die Frage nach Warin selbst. Er war nicht bei der Horde gewesen, die das Herrenhaus heimsuchte. Zu dieser Überzeugung war Derry mit höchster Sicherheit gelangt, während er das Gemetzel beobachtete. Und der Alte im Hof hatte den herrischen Rebellenführer nicht erwähnt – nur dessen Anhänger. Derry hegte die Auffassung, daß man Warin, wäre er dabeigewesen, erkannt hätte. Die Schlußfolgerung, die sich daraus ziehen ließ, lautete, daß Warin sich irgendwo in der näheren Umgebung aufhielt, vermutlich mit einem zweiten Trupp; und daß er sich noch im Laufe der Nacht mit seinen anderen Leuten zu vereinen gedachte. Und wenn das geschah, wollte Derry zur Stelle sein. Die nächsten Stunden gerieten für Derry zur Schinderei. Mit dem Herabsinken der Nacht verbreitete sich immer tiefere Finsternis über das dünnbesiedelte Land. Auch die Beschaffenheit der Straßen besserte sich nicht, je weiter er sich vom Herrensitz des Junkers de Vali entfernte. Dennoch kam er offenbar schneller vorwärts, als es den Anschein hatte. Lange bevor er damit rechnete, zwinkerten ihm voraus in der Dunkelheit die trüben, flimmrigen Lichter
des Dorfes Kingslake entgegen. Und als Derry sein fußlahmes Reittier von der Landstraße durchs Dorf lenkte, da sah er plötzlich den dunklen Umriß des Gasthofes ›Zum Königlichen Herold‹ sich gegen den Nachthimmel abheben. Mit ein wenig Glück konnte er dort ein frisches Pferd bekommen, ehe er die Verfolgung fortsetzte, vielleicht sogar herausfinden, welche Richtung die Reiter von hier aus eingeschlagen hatten, denn hinter Kingslake gabelte sich die Landstraße. Der Gasthof ›Zum Königlichen Herold‹ besaß zwei Geschosse, ein gedrungenes Gebäude aus Holz, nahezu zweihundert Jahre alt; er bot Unterkunft für vierzig Gäste, und seine Schankstube genoß meilenweit höchstes Lob. Derry hatte den Gasthof bereits zum Ziel ausersehen gehabt, bevor das Geschehen am Herrensitz ihn von der Landstraße ablenkte; nun jedoch mußte er's sich ernstlich überlegen, ob er genug Zeit opfern durfte, um bloß einen Krug Bier zu trinken. Aber als Derry sich der Mietstallung neben dem Gebäude näherte, sah er davor mehrere Dutzend Pferde angekoppelt, die noch dampften, und dabei stand ein Mann auf Wache. Derselbe war schwer bewaffnet, was ungewöhnlich wirkte, da er lediglich einen unauffällig schlichten Bauernrock trug; seine Erscheinung verströmte außerdem eine Aura von Leidenschaftlichkeit und Selbstvertrauen, von gefährlicher Entschlußkraft. Derry sah ihn sich zweimal an. War es möglich, daß es sich um einen der Mordbrenner handelte? Hatten sie etwa den ›Königlichen Herold‹ zum Rastplatz erwählt? Derry wagte kaum an einen so unvorhersehbar großen Glücksfall zu glauben, als er abstieg und sein Pferd in den Mietstall
führte. Es beanspruchte nur einige wenige Augenblicke, die Bereitstellung eines frischen Pferdes in Auftrag zu geben, dann strebte Derry aus dem Stall zum Gasthof, um sich einen Krug Bier zu genehmigen, was er auch dem Wächter sagen wollte, falls der ihn ansprach. Er rührte an seine Mütze und nickte dem Mann freundlich zu, als er an ihm vorüberkam, und der Mann nickte ebenfalls und ebenso freundlich. Aber er war eine sonderbare Gestalt, seltsam waren die an seiner linken Schulter und der Kappe aufgenähten Wappen mit einem Falken darin; Derrys Miene war düster, als er die Schankstube betrat. Drinnen bot sich ein gänzlich anderer Anblick, als man ihn für gewöhnlich in einem solchen Raum zu sehen erwartete. Als er vor den Gasthof ritt, hatte er bereits bei sich gedacht, daß es im Innern, betrachtete man die Menge der draußen angebundenen Pferde, bei weitem zu ruhig sei; so viele Männer beim Bier hätten erheblichen Lärm verursachen müssen. Selbst die Anwesenheit bloß von Einheimischen aus dem Dorf müßte an einem gewöhnlichen Abend zumindest den gedämpften Lärm von Unterhaltungen erzeugt haben. Aber dies war offenkundig kein gewöhnlicher Abend. Dorfbewohner und Leute aus dem Land rundum waren durchaus gegenwärtig; und sie tranken auch Bier. Sie erfuhren auch keinerlei Bedrückung durch die Männer auf der anderen Seite der Stube – Männer, die ebenfalls das Falkenwappen trugen; dieselben Männer, die Derry beim Herrensitz beobachtete. Aber niemand sprach ein Wort. Und die Reitersmänner standen still um einen langen Bocktisch, den man auf die linke Seite des Raumes geschoben hatte; ihre Blicke ruhten auf einer reglosen,
von Blut besudelten Gestalt, die auf dem Tisch ausgestreckt lag. Als Derry sich zu einem Stuhl begab, der an einer Stelle stand, welche man weder der einen noch der anderen Seite der Schankstube zuordnen konnte, runzelte er die Stirn. Der Mann auf dem Tisch – eben jener, welchen Derry von den Verteidigern des Hauses de Vali erschlagen geglaubt hatte – war offensichtlich noch nicht tot; denn ein mageres Mädchen in Bauerntracht kühlte das Haupt des Hingestreckten mit Tüchern, die sie in einer Holzschüssel in Wasser tränkte und darüber auswrang. Er stöhnte unterdessen, und des Mädchens Blick streifte mit bangem Ausdruck die Männer, die ringsum standen und seinem Tun zuschauten. Aber auch sie sagten nicht ein Wort. Ein anderes Mädchen brachte irdene Krüge voller Bier und teilte sie an die Reiter aus; einige von ihnen nahmen leise an anderen Tischen Platz und tranken vom Bier. Doch es entstand kein Gespräch, niemand vollführte lebhafte Gesten. Es sah ganz so aus, als warteten diese Männer, lauschten. Diesen Eindruck hatten anscheinend auch die Einheimischen auf der anderen Seite; sie warteten und schwiegen ebenso beharrlich. Derry nahm den Bierkrug, den der Wirt ihm brachte, trank einen langen Zug und zwang sich daraufhin dazu, seinen Blick in des Kruges Tiefe zu versenken, damit er nicht etwa allzu aufdringlich die Mordbrenner anstarrte. Was geht hier vor? fragte er sich. Wartete man auf Warin? Und was hoffte man noch für den Mann auf dem Tisch tun zu können, der ganz eindeutig im Sterben lag? Draußen erklangen Hufschlag und dann der Lärm gezügelter Rosse, vielleicht ungefähr zwanzig, und gleich darauf trat eine. Gruppe weiterer Reiter ein.
Auch sie trugen das Falkenwappen. Ihr Anführer winkte seinen Begleitern, nachdem er sich mit den Männern am Tisch, die den Todwunden umstanden, im Flüstertone verständigt hatte, daß sie sich herbeigesellen sollten. Erneut begann man Krüge auszuteilen. Und erneut ergab sich keine Unterhaltung. Dieser Ankömmling war offenbar nicht Warin. Eine weitere halbe Stunde verstrich ohne irgendwelche Vorkommnisse; indessen leerte Derry einen zweiten und dritten Krug und versuchte sich vorzustellen, was geschehen möge. Dann erscholl von neuem Hufschlag, diesmal von nur etwa einem Dutzend Pferden. Und als die Tiere hielten, Schnauben und Geklirre von Zaumzeug erscholl, da schien es in der Schankstube plötzlich noch stiller zu werden. Die Luft erfüllte sich mit einer gewaltigen Spannung, welche die Kehlen zuschnürte. Als Derry sich langsam der Tür zukehrte, schwang selbige auf und gab den Blick auf eine Gestalt frei, welche nur Warin selber sein konnte. Wie alle anderen in der Stube erstarrte Derry, wagte nicht einmal noch zu atmen. Warin war kein großer Mann. Ohne seine aufrechte, straffe Haltung hätte er vielmehr gar als von kleinem Wuchs gegolten. Aber diese Tatsache trat völlig in den Hintergrund, verdrängt durch den Umstand, daß der Mann eine Persönlichkeit besaß, die von seiner Erscheinung ausstrahlte, als wäre sie selber ein lebendiges ätherisches Wesen. Seine Augen waren dunkel, fast schwarz, und schimmerten in einer unbezähmbaren, ja, sogar verwegenen, unbekümmerten Eindringlichkeit, die an Derrys Rückgrat einen kalten Schauder entlangjagte, als des Mannes Blick, während er sich in der Stube umschaute, über ihn hin-
wegglitt. (Derry hatte diesen Blick einmal auf Morgans Antlitz gesehen, und noch heute schüttelte ihn ein Frostgefühl, als er sich der Folgen jener Taten entsann, welche sich darauf begaben.) Warins Haar war braun und kraus, vom Braun trockenen dunklen Sandes, und kurz gestutzt; vom selbigen Braun waren sein Schnurrbart und sein sehr kurzer Kinnbart. Als einziger seiner Schar trug Warin ein Gewand, das wenigstens entfernt einer Feldausstattung ähnelte: ein dickes graues Lederwams überm Hemd, Beinkleider und hohe Stiefel in gleicher Farbe – und das Falkenwappen auf seiner Brust war groß, es bedeckte den überwiegenden Teil seines breiten Brustkorbs, und das Wappen an seinem schmalen, grauen Hut war nicht aufgenäht, sondern aus Silber. Sein grauer Lederumhang von der Art, die man zum Reiten umwarf, war weit und lang, schleifte fast am Boden. Und Warin war, soweit Derry das mit bloßen Augen erkennen konnte, völlig unbewaffnet. Ein kaum wahrnehmbares Rauschen von Bewegungen durchlief die Stube, und plötzlich sah Derry sich wieder zum Atmen imstande. Er wagte Warins Männern, die gegenüber zusammengedrängt standen, einen hastigen Blick zuzuwerfen, und er sah, daß sie ausnahmslos tief die Häupter neigten und bei Warins Annäherung ihre rechten Fäuste zum Herzen erhoben. Warin nickte ihnen zu; die Männer sahen erwartungsvoll ihren Gefährten auf dem Tisch an und machten dann Platz. Lebhaft trat Warin in ihre Mitte, und die Einheimischen erhoben sich und versammelten sich inmitten der Stube, um zu sehen, was der Rebellenführer beginnen werde. Behutsam gesellte sich auch Derry zu diesen Zuschauern. »Was hat sich ereignet?«
erkundigte sich Warin. Seine Stimme klang leise, ihr Tonfall war gemessen und durchsetzt mit Machtbewußtsein. »Es geschah am Herrensitz Sieur de Valis, Eure Heiligkeit«, erteilte der Anführer der ersten Gruppe untertänig Auskunft. »De Vali ist fortgeritten, um des Herzogs Beistand zu erbitten, und seine Leute leisteten Widerstand. Wir mußten das Haus den Flammen übergeben.« Warin richtete den Blick seiner großen, düsteren Augen auf den Mann. »Das war unklug, Ros.« Ros sank auf die Knie, buckelte und vergrub das Antlitz in den Händen. »Verzeiht mir, Eure Heiligkeit«, flüsterte er. »Ich besitze nicht Eure Weisheit.« »Seht zu, daß so etwas nicht noch einmal geschieht«, antwortete Warin mit mattem Lächeln und berührte in einer Geste der Ermutigung des Mannes Schulter. Während der Mann sich aufraffte, die Miene von ehrfürchtiger Bewunderung gezeichnet, widmete Warin seine Aufmerksamkeit dem Verletzten und begann seine grauen Lederhandschuhe abzustreifen. »Wo ist die Wunde?« »In seiner Seite, Herr«, murmelte einer der Männer am anderen Ende des Tisches und schlug des Mannes zerrissenes Gewand beiseite, um die Wunde freizulegen. »Ich fürchte, die Lunge dürfte verletzt sein.« Warin beugte sich vor, um die Wunde zu begutachten, dann bewegte er des Ausgestreckten Haupt und hob eines seiner Lider. Er nickte, dann straffte er sich, schob die Handschuhe in seinen Gürtel und blickte in die Runde seiner Männer, die ihn voller Eifer beobachteten. »Mit Gottes Hilfe werden wir diesen Mann retten«, sprach er und breitete die Arme
aus, in einer Gebärde, die Unterstützung erheischte. »Wollt ihr mit mir beten, Brüder?« Wie ein Mann fielen seine Anhänger auf die Knie; ihre Blicke hafteten auf ihrem Führer, als er die Augen schloß und zu beten anhob. »In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti, Amen. Oremus.« Als Warin die lateinische Einleitung sprach, starrte Derry ihn aus geweiteten Augen an, und er sah sich gehalten, seine Augen noch stärker als zuvor anzustrengen; denn falls nicht auch er schon der mächtigen Beeinflussungskraft des Rebellenführers verfallen war, begann nunmehr rund um Warins Haupt ein schwaches Leuchten zu entstehen – ein nebelhaft blauer bis blauroter Glutstreif, der nichts anderem so sehr ähnelte wie einem Heiligenschein! Derry unterdrückte ein Ächzen, dann biß er sich auf die Unterlippe, um mit dem Schmerz das Trugbild zu zerstören. Es war unmöglich, daß Wirklichkeit war, was er dort schaute. Menschen wandelten nicht mit Heiligenscheinen einher, und in dieser Zeit gab es nicht länger Heilige. Und dennoch unterlag er offenkundig keiner Täuschung. Morgan hatte ihn gelehrt, wie man Trugbilder durchschaute; aber das hier war wahrhaft wirklich, ganz gleichgültig, wie stark sich Derry bemühte, etwas anderes zu sehen. »... und so, o Gott, sende Deinen heilkräftigen Geist durch diese Hände herab, damit Dein Diener Martin lebt, um Dich zu verherrlichen. Durch Jesus Christus, Deinen Sohn, unseren Herrn, der lebt und herrscht mit Dir und dem Heiligen Geiste von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen.« Als Warin verstummte, senkte er seine Rechte und legte sie leicht auf des Verwundeten Stirn, dann ließ er die linke Hand auf die blutverkrustete Wunde in
des Mannes Flanke sinken. Für einen langen Moment herrschte in der Stube vollständige Stille, und Derry vernahm nichts als das laute Pochen des eigenen Herzens, dieweil er beobachtete, wie der Lichtschein, wovon er die Überzeugung hegte, es könne ihn gar nicht geben, hinab durch Warins Arm strömte und in die reglose Gestalt darunter. Dann erbebte der Mann namens Martin und ließ einen langgezogenen Seufzer vernehmen; er blinzelte erstaunt, als er über sich seinen Führer stehen sah. Warin öffnete die Augen und lächelte; er half Martin beim Aufsetzen. Ringsum entstand ein langes Gemurmel der Ehrfurcht, als Martin sich vom Tisch erhob und den Humpen nahm, den jemand ihm reichte. Als er ihn leerte, entfuhr einem Dorfbewohner ein Keuchen; der Mann wies auf Martins Seite. Von der Wunde war nicht länger etwas zu erkennen; nur der blutige Riß in seinem Gewand bezeugte noch, daß es sie jemals gegeben hatte. »Deo gratias«, murmelte Warin, schlug das Kreuzzeichen und senkte seinen Blick. Die Lichterscheinung war nun erloschen, und er blickte mit strenger Miene rundum, während er die Handschuhe aus dem Gürtel zog und sie wieder über die Finger zu streifen begann. An seiner Linken, womit er Martins Wunde berührt hatte, klebte Blut, und einer seiner Männer bemerkte es; er sank neben Warin auf die Knie und säuberte die Hand mit einem Zipfel seines Umhangs. Warin lächelte und senkte seine Hand für einen Augenblick wie zum Segen auf des Mannes Haupt, bevor er in seiner Tätigkeit fortfuhr, die Handschuhe anzulegen. Der Mann erhob sich, auf dem Antlitz einen Ausdruck reiner Glückseligkeit. Erneut glitt Warins Blick durch den Raum, und wiederum verspürte
Derry, als des Mannes Augen flüchtig auf ihm verweilten, jenes Frösteln. Warin wandte sich zur Tür. Darauf leerten seine Anhänger ihre Krüge, rafften sich auf und sammelten sich in seinem Rücken. Ein Unterführer Warins zahlte dem Wirt aus einer Börse Goldmünzen. Und als Warin an die Tür trat, warf sich plötzlich einer der Dorfleute auf die Knie. »Ein Wunder!« schrie der Mann. »Der Herr hat uns einen neuen Messias gesandt!« Fast augenblicklich nahm die Hälfte der Einheimischen den Ruf auf, und diese Leute fielen ebenfalls auf die Knie und bekreuzigten sich in gläubigem Eifer. Als Warin sich unter der Tür umdrehte, kniete sich auch Derry nieder – obschon er nicht im geringsten dem Glauben zuneigte, es hier mit einem Wunder zu tun zu haben. Der Rebellenführer sah sich ein letztes Mal mit bedächtigem Blick in der Stube um, dann hob er mit gütiger Miene seine Rechte zum Segen, ehe er ins Dunkel entschwand. Sobald Warins letzter Anhänger zur Tür hinaus war, sprang Derry auf und lief ans Fenster. Nun, da Warin die Schankstube verlassen hatte und Derry wieder klar zu denken vermochte, begriff er, was an dem Mann ihm auf so bestürzende Weise vertraut erschienen war; nämlich die Eindrucksvollheit, welche er von solchen Männern wie Morgan, Duncan, Brion und dem jungen König Kelson kannte. Das Gefühl sonderlicher Machtfülle und Gewalt, welches sich fast immer in Gegenwart einer Begabung verbreitete, welche heutzutage nicht unbedingt im höchsten Ansehen stand. Er spähte durchs trübe Fensterglas und beobachtete, wie Warin und seine Anhänger im Schein der mitgeführten Fackeln auf der Land-
straße außer Sicht gerieten. Er beabsichtigte, ihnen nicht zu folgen. Was er nun erkannt hatte, ließ eine weitere Verfolgung als unangebracht erscheinen. Er mußte sein soeben gewonnenes Wissen so eilends wie nur möglich Morgan übermitteln. Inzwischen war es spät. Er besaß darüber Klarheit, daß er den verabredeten Zeitpunkt für die Geistesverbindung diesmal versäumt hatte, und zwar gut um eine Stunde; doch gleichwohl, wenn er ohne Rücksicht ritt und ihm keine weiteren Zwischenfälle zustießen, konnte er morgen kurz nach der Mittagsstunde zurück in Coroth sein. Er vermochte es kaum abzuwarten, Morgans Miene zu sehen, wenn er ihm berichtete, daß Warin vermutlich nicht mehr und nicht weniger war als – ein Deryni!
9 Schreien sie ob ihrer Bedränger zum Herrn, so sendet er ihnen einen Retter, der führt ihren Streit und befreit sie. Jesaja 19,20 »Warin ist was?« ächzte Morgan. »Derry, Ihr erkühnt Euch eines überaus scheißigen Scherzes!« Morgan und Duncan saßen unter einem Baum im Gestechshof, der an die Rüstkammer grenzte; dort hatten sie mit Kriegsschwertern geübt, bis eine halbe Stunde zuvor Derry durch die Tore von Burg Coroth gedonnert kam. Derry war müde und hungrig gewesen, als er sich neben seinem Feldmarschall ins Gras kauerte. Aber seine Augen funkelten, als er alles berichtete, was sich am zuvorigen Abend im Gasthof ›Zum Königlichen Herold‹ ereignet hatte. Morgan schlang sein Badetuch überm leichten Waffenrock um den Leib und betupfte mit einem Zipfel sein schweißiges Antlitz; Duncan hatte ihm im Waffengang schwer zu schaffen gemacht. Derry entgegnete nichts auf des Herzogs Ausbruch, und einige Augenblicke später schüttelte er voller Unglauben sein Haupt. »Fürwahr, auf jeden Fall ist's eine unerwartete Neuigkeit«, fügte er hinzu und strich sich mit einer Hand über die Stirn. »Derry, seid Ihr Euch dessen ganz gewiß?« »Natürlich nicht«, gab Derry zur Antwort, zog die Jagdmütze vom zerzausten braunen Schopf und klopfte den Staub aus. »Aber kann ein Mensch be-
wirken, was er getan hat, Gebieter?« »Nein.« »Pater Duncan, seid Ihr des Glaubens, daß Warin ein Heiliger ist?« »Es gibt seltsamere Heilige«, versetzte darauf Duncan rätselhaft zur Antwort, indem er sich seiner Begegnung auf der Landstraße entsann. Derry schob nachdenklich die Lippen nach vorn und richtete seinen Blick wieder auf Morgan. »Nun, wie auch immer, Gebieter, er hat den Mann geheilt. Und nach allem, was ich von Euch weiß, hatte ich den Eindruck, dergleichen vermöchten allein Deryni.« »Ich vermag's«, gab Morgan zu und betrachtete düster den Grund zwischen seinen nackten Beinen. »Was andere Deryni können, das weiß ich nicht. Ich habe nie von solchen Heilungen vernommen, bis ich im verflossenen Jahr selbst eine vollbrachte, um Euch das Leben zu bewahren.« Derry senkte sein Haupt, als er sich des Überfalls auf die Wache erinnerte, die in jener Nacht vor Kelsons Krönung seinem Befehl unterstand; daran, wie man sie im Dunkeln überrascht und niedergemacht hatte; an den heißen Schmerz, als eine Klinge seine Seite durchbohrte und er im Glauben hinsank, sich nicht wieder zu erheben. Und dann erwachte er in seiner Unterkunft seine Wunde war fort, ganz so, als hätte er nie eine besessen. Über ihn stand ein verwirrter Arzt gebeugt, unfähig zu irgendwelchen Erklärungen. Erst Wochen später hatte Morgan ihm erzählt, wie er die Hand auf seine Braue legte – und ihn heilte. Derry blickte auf und nickte. »Vergebt mir, Herr. Ich wollte keineswegs in irgendeiner Hinsicht Geringschätzung zum Ausdruck bringen. Aber Ihr
seid ein Deryni, und Ihr könnt heilen. Und ebenso kann's Warin.« »Und ebenso kann's Warin«, wiederholte Morgan. »Nun, sollte er wirklich ein Deryni sein, so kann er unmöglich darum wissen, was er ist«, sprach Duncan, indem er sich am Bein kratzte und, indem er seinen Vetter anblickte, das Haupt schieflegte. »Was mich angeht, so fällt's mir zu glauben schwer, daß eben jener Mann, mit dem sich alle diese Gerüchte beschäftigen, ein solcher Heuchler sein soll – daß er seine eigene Art verfolgt.« »Dergleichen ist schon dagewesen.« »O ja, sicherlich ist's schon vorgekommen, und jene, die's taten, waren in ihrem Treiben ihre eigenen Meister. Immer wird's Menschen geben, die um einen hinreichend hohen Lohn alles und jeden verkaufen. Doch ist das eigentlich nicht der Eindruck, den ich von Warin erlangt habe. Er meint es ernst. Er ist davon überzeugt, daß seine Sache gerecht ist, daß er einer göttlichen Eingebung gehorcht. Und was Ihr uns soeben berichtet habt, Derry, ich meine, über seine Heilkünste, die er an jenem Todwunden anwendete, ihre Wirksamkeit – all das bestätigt schlichtweg meinen Eindruck.« »Das Schwierig ist«, bemerkte Morgan, indem er sich erhob und sein Schwert an sich nahm, »daß Warin genau jene Taten verrichtet, die nach herkömmlicher Vorstellung Heilige und Gottgesandte, wie's scheint, stets tun. Unglücklicherweise ist man's nicht gewohnt, solche Taten auch Deryni zuzuschreiben, obgleich die Legenden vieler christlicher Heiliger ihren wahren Ursprung in Derynifähigkeiten haben dürften. Wüßten Warins Anhänger, daß er selber ein
Deryni ist, wäre das freilich das Ende ihres aufsässigen Trachtens – aber so treu und ergeben, wie sie ihm sind – dem zufolge, was Derry berichtet –, dürfte es schwerfallen, ihnen diese Tatsache glaubhaft beizubringen.« Derry nickte. »So ist es, Gebieter. Schon heute gilt er unter seinen Anhängern als Heiliger, als Gottgeweihter. Die Dörfler und Landleute in Kingslake gewannen die Überzeugung, einer vor ihren Augen stattgefundenen Wundertat beigewohnt zu haben, einem Wunder nach schönstem biblischen Beispiel. Wie wendet man sich gegen so etwas? Wie macht man's den Leuten klar, daß ihr Messias ein Betrug ist? Er ist genau das, wogegen er Predigten hält, aber wie soll man ihnen das deutlich machen? Vor allem, wenn letztendlich dabei herauskommen soll, daß die Leute zu den Deryni ein besseres Verhältnis einnehmen als zuvor, nicht wahr?« »Man muß es ihnen behutsam und nach und nach erklären«, pflichtete ihm Morgan mit gedämpfter Stimme bei. »Und gegenwärtig sagt man ihnen am günstigsten gar nichts. Denn zur Zeit eilen die Leute, bis wir etwas dagegen zu unternehmen vermögen, in Scharen an seine Seite.« »Und das wird sich noch verstärken, sobald die Menschen vom Vorhaben der Erzbischöfe erfahren«, ergänzte Duncan. »Derry, Ihr wißt noch nicht davon, so höret: Erzbischof Loris hat alle Bischöfe des Reiches in seine Konklave zu Dhassa eingeladen, wo sie sich übermorgen versammeln sollen. Heute morgen ist Bischof Tolliver abgereist – er hat's nicht gewagt, sich der Einladung zu widersetzen. Er wird's auch nicht wagen, sich wider Loris zu stellen, wenn er vor
der Kurie vorschlägt, Corwyn den Kirchenbann aufzuerlegen. Ich glaube, Ihr begreift, wovon ich rede.« »Können sie wirklich und wahrhaftig über ganz Corwyn einen Kirchenbann verhängen?« fragte Derry. Die Männer schickten sich an, hinüber in den Haupthof zu streben; Morgan und Duncan trugen ihre Schwerter, Derry wirbelte die Mütze um einen Finger. »Sie können's, und sie werden es tun, wenn man sie nicht hindert«, lautete Morgans Antwort. »Aus diesem Grund brechen Duncan und ich in der Morgenfrühe nach Dhassa auf. Wahrscheinlich ist's hoffnungslos, sich unmittelbar an die Kurie zu wenden, ich zweifle sogar daran, daß sie überhaupt die Bereitschaft aufbrächte, uns anzuhören, was wir auch vortragen könnten. Aber Loris dürfte nicht damit rechnen. Und vielleicht beeindruckt unser Auftreten die anderen Teilnehmer wenigstens so stark, daß sie sich über ihr Beginnen ein paar Gedanken mehr machen. Wird der Kirchenbann verhängt, während Warin so erheblichen Einfluß besitzt, wird das Volk ihm bereitwillig in einen heiligen Krieg gegen die Deryni folgen. Selbst wenn ich mich der Kurie unterwürfe, mich ihr zum Schein bußfertig erklärte, so könnte ich doch das keinesfalls zulassen.« »Darf ich Euch begleiten, Gebieter?« forschte Derry nach und blickte hoffnungsvoll zu Morgan auf, während sie Seite an Seite ausschritten. »Ich glaube, ich vermöchte Euch eine geringe Unterstützung zu sein.« »Nein, Ihr habt Euch bereits als große Hilfe erwiesen, Derry, und ich weiß für Euch eine wichtigere Aufgabe. Reitet nach Rhemuth, nachdem Ihr Euch ein paar Stunden Schlaf gegönnt habt. Kelson muß unter-
richtet werden, und Duncan und ich sind zu diesem Zweck nicht abkömmlich, da wir uns an die Kurie wenden müssen, ehe es zu spät ist. Sollte Kelson bereits nach Culdi aufgebrochen sein, wenn Ihr in Rhemuth eintrefft, so folgt ihm dorthin. Es ist von höchster Bedeutung, daß auch er um die Dinge weiß, die Ihr uns heute vermeldet habt.« »Zu Befehl, Gebieter. Soll ich Euch auf geistigem Wege auf dem laufenden halten?« Morgan schüttelte den Kopf. »Falls sich die Notwendigkeit ergibt, setzen wir uns mit Euch in Verbindung. Und nun legt Euch schlafen. Ich möchte, daß Ihr bei Anbruch der Dunkelheit auf dem Weg seid.« »Sehr wohl.« Als Derry sich eilig entfernte, schüttelte Duncan das Haupt und seufzte. »Was denn!?« meinte Morgan. »Bist du entmutigt?« »Freilich fühle ich mich nicht eben ermutigt.« »Vetter, du hast erneut meine Gedanken gelesen. Komm, wir wollen uns nun lieber erfrischen. In einer Stunde dürfte Hamilton meine Hauptleute zur Besprechung beisammen haben. Ich kann mich nicht des Gefühls erwehren, daß dieser Nachmittag langwierig sein wird.« In der Mitte selbigen Nachmittags wandelte Bronwyn müßig auf der Terrasse von Burg Culdi. Den ganzen Tag hindurch hatte hell die Sonne geschienen, alle Feuchtigkeit ausgetrocknet, die vom Regen der vorherigen Woche herrührte. Aus dem Süden begannen bereits die Vögel aus ihren Wintergefilden zurückzukehren und schmetterten in den Gärten, die allmählich zum Leben wiedererwachten, ihre munteren
Weisen. Bronwyn verharrte an der Brüstung und beugte sich hinüber, um einen Blick auf den drunten befindlichen Fischteich zu werfen, dann schlenderte sie weiter, genoß die köstliche, laue Luft und die Behaglichkeit des alten Bauwerks. Sie drehte eine Strähne ihres Haars zwischen den Fingern, lächelte bei sich und ließ, dieweil sie so wandelte, ihre Gedanken dahintreiben. Nach einem angenehmen, wiewohl etwas nassen Ritt, der von Kevins Residenz in Kierney aus einen Tag beanspruchte, waren die Hochzeitsbeteiligten am gestrigen Abend in der Bergstadt Culdi eingetroffen. Ein Ball hatte stattgefunden, und am heutigen Morgen war zu Ehren der baldigen Braut und des künftigen Bräutigams eine Jagd veranstaltet worden. Sie und Lady Margaret hatten den früheren Teil des Nachmittags damit zugebracht, die im Knospen befindlichen Gärten zu besichtigen; Bronwyn zeigte ihrer zukünftigen Schwiegermutter die liebsten Besonderheiten dieser wohlvertrauten Umgebung. Culdi beherbergte für Bronwyn schöne Erinnerungen, denn sie und Alaric, Kevin und Duncan hatten hier gemeinsam viele wunderbare Sommer ihrer Kindheit verbracht. Lady Vera McLain, die zu Bronwyn und ihrem Bruder wahrhaft wie eine zweite Mutter gewesen war, hatte die Kinder der McLains und Morgans im Sommer oft nach Burg Culdi mitgenommen. Bronwyn erinnerte sich der Tollereien und Balgereien in den Gärten, welche während der Jahreszeit, da sie hier weilten, stets in voller Blüte standen; an den Sommer, als Alaric vom Baum fiel und sich einen Arm brach, an die gleichmütige Tapferkeit, womit der damals achtjährige Knabe den Schmerz ertrug. Sie entsann sich der zahlreichen Geheimgänge der
Burg, in denen sie und die Knaben früher das Versteckspiel betrieben. Und an die stille, ehrwürdige Kapelle, wo ihre Mutter begraben lag; ein Ort, den Bronwyn noch heute gerne zur Besinnung aufsuchte. Sie hatte ihre Mutter nie gekannt. Lady Alyce von Corwyn und Morgan war nur wenige Wochen nach der Geburt ihrer winzigen Tochter gestorben, als Opfer des Milchfiebers, das – ach! – so viele junge Mütter mitten aus dem Leben riß. Alaric entsann sich ihrer; er behauptete es wenigstens. Dagegen umfaßte Bronwyns Erinnerung lediglich die herrlichen Geschichten, welche Lady Vera von jener Lady zu erzählen gewußt hatte, die sie beide gebar, und einen Anflug von Trauer darüber, daß es ihr nie erlaubt war, diese wunderbare, glanzvolle Lady zu kennen. In Gedanken in der Vergangenheit versunken, stand Bronwyn für ein Weilchen ruhig auf der Terrasse, dann strebte sie entschlossen zurück in ihre Gemächer. Es war noch recht früh am Tag. Wenn sie nicht säumte, sollte es ihr möglich sein, sich noch in die kleine Kapelle zu begeben, bevor sie sich zum Abendmahl umkleiden mußte. Doch um diese Tageszeit war es in der Kapelle kühl und klamm. Sie brauchte ihren Umhang. Sie hatte fast die Terrassentür zur Kemenate erreicht, da stolperte sie an einem Riß in dem Fliesenbelag der Terrasse, konnte jedoch das Gleichgewicht bewahren. Als sie sich vornüber beugte, um verdrossen ihren Fuß zu reiben, lauschte sie durchaus nicht; aber plötzlich drangen aus der Kemenate Stimmen in ihr Bewußtsein – weibliche Stimmen. »Fürwahr, ich begreife einfach nicht, warum Ihr sie so in Schutz nehmt«, äußerte soeben eine davon. Bronwyn er-
kannte die Stimme von Lady Agnes, einer ihrer Damen; sie straffte sich und trat, als sie begriff, daß man über sie sprach, der Tür ein wenig näher. »Richtig«, bekräftigte eine andere Stimme. »Es ist doch nicht so, als wäre sie eine von uns.« Das war Lady Martha. »Sie ist ein Weib wie wir«, widersprach leise eine dritte Stimme, deren Tonfall sie unmißverständlich als Mary Elizabeth gehörig auswies, Bronwyns Lieblingsdame. »Und wenn sie ihn liebt, und er liebt sie, dann sehe ich darin für niemanden eine Schande.« »Keine Schande?« keuchte Agnes. »Aber sie... sie ist...« »Agnes hat recht«, stellte Martha rundheraus fest. »Der Erbe des Herzogtums Cassan sollte eine weit höhergestellte Gemahlin haben denn die Tochter eines...« »Die Tochter eines gemeinen Deryni«, vollendete gehässig Agnes. »Sie hat ihre Mutter nie gekannt«, bemerkte Mary Elizabeth. »Und ihr Vater war ein Edelmann. Außerdem ist sie nur eine Halbderyni.« »Und das ist für meine Begriffe genau eine halbe Deryni zuviel in dieser Welt«, erklärte heftig Martha. »Gar nicht zu reden von ihrem unaussprechlichen Bruder!« »Sie kann nichts für ihren Bruder«, entgegnete Mary Elizabeth mit Nachdruck, doch auch inmitten des Streitgesprächs in aller Ruhe. »Und abgesehen davon, daß er ein wenig offensichtlicher mit seinen Fähigkeiten umgeht, als es vielleicht klug ist, kann man Herzog Alaric kein Übel nachsagen. Er kann sowenig wie Lady Bronwyn dafür, als Deryni zur Welt ge-
kommen zu sein. Und wäre nicht der Herzog, wer möchte sagen, welchen Herrscher Gwynedd heute hätte.« »Mary Elizabeth, verteidigt Ihr ihn etwa?« schnob Agnes. »Meiner Treu, das grenzt ja an Blasphemie!« »Es ist Blasphemie«, versicherte Martha. »Nicht allein das, es liegt auch nicht fern von Hochverrat und...« Bronwyn hatte genug gehört. Mit einem Gefühl von Übelkeit in ihrer Magengrube wandte sie sich um und überquerte langsam in gesamter Länge die Terrasse, welche sie schließlich über die Treppe verließ, um sodann die Richtung zum entfernteren Garten einzuschlagen. So schien es immer wieder kommen zu müssen. Wochen vergingen, bisweilen verstrichen Monde, ohne daß irgend etwas ihr den dunklen Schatten in ihrem Hintergrund zurück ins Bewußtsein rief. Und dann, wenn sie gerade das Empfinden zu verspüren begann, ihr derynisches Erbteil womöglich verwunden zu haben, daß man sie als sie selbst anerkannte, nicht für eine Art auf allerlei Untaten gesonnene Hexe hielt, da begab sich stets ein derartiger Zwischenfall. Irgendwer entsann sich ihres Derynitums und benutzte diese Erinnerung, um die Wahrheit zu verzerren und zu verdrehen, bis sie einer unreinen Scheußlichkeit glich. Warum waren Menschen so grausam? Menschen! dachte sie und lächelte bitterlich, während sie den Pfad entlangeilte. Wieder war sie soweit, daß sie in der Unterscheidung Menschen einerseits und Deryni andererseits dachte. Das widerfuhr ihr jedesmal, wenn sie so eine bittere Erfahrung machte. Warum hatte es überhaupt jemals so kommen müssen? Nichts war schlecht daran, ein
Deryni zu sein, obgleich die Kirche das Gegenteil lehrte. Wie Mary Elizabeth zu Recht angeführt hatte, besaß niemand Einfluß auf die Umstände seiner eigenen Geburt. Außerdem hatte sie ihre Begabung niemals wirklich angewendet. Nun – fast niemals. Sie schnitt eine trübselige Miene, während sie den Weg zur Kapelle nahm, die Arme gegen die plötzliche Kälte des Nachmittags auf dem Busen verschränkt. Sie mußte zugeben, daß sie ihre Gabe gelegentlich benutzt hatte, um die Sinne ihrer Augen, Ohren und ihrer Nase, wenn es erforderlich war, zu verfeinern, zu erhöhen. Und einmal, als sie beide jung waren und Gefallen daran fanden, verbotene Dinge zu tun, als die Lust daran ihre Furcht vor der Strafe, womit sie, falls man sie ertappte, rechnen mußten, schließlich überwog, hatte sie mit Kevin eine geistige Verbindung hergestellt. Und ebenso rief sie manchmal in den Gärten Vögel auf ihre Hand, um sie zu füttern – aber nur, wenn sie dessen gewiß sein durfte, daß niemand sie beobachtete. Doch was sollte denn an dieser Art von Magie eigentlich schlecht sein? Wie konnte jemand behaupten, sie sei böse, ein Übel? Diese Weiber waren eifersüchtig – das mußte der wahre Grund sein! Als sie diese Erklärung erwog, bemerkte sie eine hochgewachsene Gestalt, die ihr auf dem Pfad entgegenschritt; am weißen Haar und dem grauen Wams erkannte sie unmißverständlich den Baumeister Rimmel. Sobald sie ihm nahe war, trat er zur Seite an den Rand des Pfads, um sie vorbeizulassen, und verneigte sich tief. »Edelste Lady«, murmelte er, während sie vorüberging. Bronwyn nickte freundlich und strebte weiter. »Lady, darf ich ein Wort an Euch
richten?« sprach sie da Rimmel an und folgte ihr ein paar Schritte weit; als Bronwyn sich umdrehte, verharrte er und verbeugte sich von neuem. »Natürlich, Meister Rimmel. Ihr seid's doch, nicht wahr?« »Jawohl, Lady«, bestätigte unruhig Rimmel und nickte. »Mich beschäftigt die Frage, wie Euer Liebwürden meine Pläne für das Schloß in Kierney befunden haben. Ich hatte bislang keine Gelegenheit, um Euch danach zu fragen, aber ich glaube, es ist besser, Herrin, ich erfahre Eure Meinung, solange noch Änderungen möglich sind.« Bronwyn lächelte und nickte wohlgefällig. »Ich danke Euch für Eure Umsicht, Rimmel. Ich war allerdings sehr zufrieden mit den Plänen. Vielleicht können wir sie morgen noch einmal zusammen anschauen. Gegenwärtig fällt mir nichts ein, was ich geändert haben wollte, aber ich nehme Euren Vorschlag gerne an.« »Ihr seid allzu gütig, Gebieterin«, murmelte Rimmel und verneigte sich erneut, während er seine Freude darüber zu verhehlen suchte, daß sich Bronwyn wirklich und wahrhaftig überhaupt mit ihm unterhielt. »Darf... darf ich Euch dorthin geleiten, wohin Ihr unterwegs seid, Herrin? Der Nachmittag wird kühl, und hier in Culdi zieht der Abenddunst früh herauf.« »Nein, seid bedankt«, antwortete Bronwyn, schüttelte ihr Haupt und rieb sich, wie auf die Erwähnung der Kühle, die Oberarme. »Ich möchte meiner Mutter Grab einen Besuch abstatten. Ich ziehe es vor, wie Ihr verstehen werdet, dort allein zu sein.« »Selbstverständlich.« Rimmel nickte verständnis-
voll. »Wollt Ihr dann so großmütig sein, Herrin, und meinen Umhang annehmen? Es dürfte zugig in der Kapelle sein, und Eure Gewandung, Herrin, wie sehr sie sich auch zum Wandeln im milden Sonnenschein eignen mag, genügt schwerlich drunten in der Gruft.« »Meinen Dank, Rimmel«, entgegnete Bronwyn und lächelte in aufrichtiger Dankbarkeit, als Rimmel ihr seinen grauen Umhang um die Schultern warf. »Ich werde ihn Euch später durch eine meiner Mägde bringen lassen.« »Das hat keine Eile, edle Dame«, versicherte ihr Rimmel, trat zurück und verbeugte sich ehrerbietig. »Ich wünsche Euch einen guten Abend.« Als Bronwyn sich entfernte, gehüllt in Rimmels Umhang, blickte der Baumeister ihr für einen Moment in zärtlicher Verzückung nach, dann machte er kehrt und setzte seinen Weg fort. Und als er gerade die Treppe zur Terrasse erklimmen wollte, sah er droben Kevin erscheinen und die Stufen heruntereilen. Kevin war frisch barbiert, sein braunes Haar war ordentlich gekämmt, und er hatte die staubigen Jagdkleider gegen ein kurzes Wams aus braunem Samt eingetauscht, an dessen linker Schulter munter der McLain-Tartan wehte. Während er die Treppe herabstürmte, wobei seine jüngst geputzten Stiefel und die Sporen funkelten, seine Schwertscheide und deren Kette klirrten, sah er Rimmel, verhielt auf halber Höhe der Treppe und hob seine Hand zum Gruß. »Rimmel, ich bin fertig mit dem Durchschauen der Pläne, die Ihr mir heute morgen überlassen habt. Ihr könnt Euch, so Ihr wollt, die Pläne nun aus meiner Unterkunft holen. Übrigens habt Ihr hervorragende Arbeit geleistet.«
»Danke, mein Herr.« Kevin wollte schon davonhasten, doch plötzlich blieb er stehen. »Rimmel, habt Ihr zufällig meine Lady Bronwyn gesehen? Mir will's schon vorkommen, als könnte ich sie nirgendwo finden.« »Ich glaube zu wissen, daß sie sich an ihrer Mutter Grab befindet, Herr«, gab Rimmel Auskunft. »Eben erst traf ich sie auf diesem Pfad, und sie sagte mir, sie sei unterwegs zur Gruft. Ich habe ihr wider die Kälte meinen Umhang geliehen. Ich hoffe, das ist Euch nicht unlieb, Gebieter.« »Keineswegs«, antwortete Kevin und schlug Rimmel in freundschaftlicher Geste auf die Schulter. »Meinen Dank.« Indem er erneut zum Gruß die Hand hob, sprang Kevin die wenigen letzten Stufen hinab; gleich darauf verschwand er hinter einer Biegung des Pfads, und Rimmel stieg hinauf zu seines Herrn Gemach. Er hatte inzwischen entschieden, wie er vorgehen wollte. Offene Gewalt wider seinen huldvollen jungen Herrn stand völlig außer Frage. Außerdem war Rimmel kein Mann, der Gewalttätigkeit schätzte. Dafür war er allerdings in Liebe entflammt. Am Morgen hatte Rimmel mehrere Stunden im Gespräch mit etlichen Einheimischen zugebracht, denen er seine mißliche Lage anvertraute, ohne jedoch den Gegenstand seiner leidenschaftlichen Verehrung beim Namen zu nennen. Als Bergbewohner hegten die Hiesigen, heimisch im Grenzgebiet zum Connait und dem wilden Meara, bisweilen sonderliche Vorstellungen davon, wie ein Freier seine Angebetete erringen möchte. Zum Beispiel konnte Rimmel sich schwerlich zu glauben entschließen, daß es den Sinn der Derynijungfer ändern sollte, steckte er an Bronwyns Tür
Glockenblümchen und sagte siebenmal das Ave Maria auf. Wenig Hilfe versprach er sich auch davon, in Kevins Weinpokal eine Kröte zu tun. Der Graf geriete lediglich in Zorn und würde die Diener mit Vorwürfen bedenken, weil sie so achtlos gewesen seien. Doch ein paar Leutchen hatten geäußert, daß es nur einen Beistand gebe, wolle er ernstlich einer geliebten Dame Gunst gewinnen – nämlich eine alte Witfrau, die in den Bergen hause, eine fromme Schäferin namens Bethane, die im Ruf stünde, schon manchem verzweifelten, liebeskranken Jüngling aus seiner Notdurft verholfen zu haben. Begäbe sich Rimmel mit einem Sack voller Speisen und einer Handvoll Gold hinauf zu ihr, könne Bethane womöglich auch ihm Abhilfe schaffen. Und daher hatte Rimmel den Entschluß gefaßt, es auf diese Weise wenigstens zu versuchen. Er hatte kaum einen Gedanken an die Tatsache verschwendet, daß er sich auf eine läppische Art von Aberglauben einzulassen bereitfand, die er nie und nimmer ernsthaft erwogen hätte, wäre er nicht mit Liebe zur schönen Bronwyn Morgan geschlagen gewesen. Vielmehr war's nun seine Überzeugung, daß die Witfrau Bethane sein Heil sei, der einzige Weg, um das märchenhafte Geschöpf zu erlangen, das er besitzen mußte – oder er mußte sterben. Mit einem Liebestrank oder einem Liebesamulett aus den Händen jener ehrenwerten und verehrungswürdigen Frommen sollte er, Rimmel, in die Lage versetzt werden können, Herrn Kevin die Gunst Bronwyns zu entziehen, sie dazu zu bringen, statt des Bauherrn den Baumeister zu lieben. Er betrat Kevins Unterkunft und hielt Umschau nach seinen Plänen. Wenig unterschied sich das Ge-
mach von den meisten übrigen Herrschaftsgemächern in der Burg, denn fast alle dienten vornehmlich zum nur zeitweiligen Aufenthalt. Einige Dinge jedoch verrieten deutlich, daß der Bewohner Kevin war; der Feldstuhl mit dem Schottentuch der McLains, der kunstvolle Teppich am Boden vorm Bett, die Bequemlichkeit des Bettes – kostbare Seide, auf welche das Wappen des Grafen genäht war –, desselben Bettes, in das Kevin in drei Tagen seine geliebte Bronwyn tragen würde, wenn Rimmel nicht alsbald eingriff. Er wandte seinen Blick vom Bett ab, da er's vorzog, diese Möglichkeit gegenwärtig gar nicht in Erwägung zu ziehen; er sah seine Pläne zusammengerollt auf einem Tisch neben der Tür liegen. Er hatte sie sich bereits unter den Arm geschoben und wollte sich auf dem Weg entfernen, den er gekommen war, da erregte ein Glitzern auf dem Deckel einer kleinen Schatulle seine Aufmerksamkeit. Auf dem Kästlein lagen einige gewöhnliche Schmuckstücke und die üblichen Insignien eines Fürsten – Ringe, Broschen, Ketten. Aber ein Stück hatte Rimmels Blick ganz besonders angezogen – ein kleines, länglichrundes Medaillon an einer goldenen Kette, zu zierlich und zerbrechlich, um einem Mann gehören zu können. Ohne darüber nachzudenken, was er begann, nahm Rimmel das Medaillon behutsam in die Hand und öffnete die Kapsel, indem er zur Tür schielte, um sicherzugehen, daß ihn niemand beobachtete; dann schaute er hinein. Im Innern war ein Bildnis Bronwyns; es wies die allerwundervollste Ähnlichkeit auf, die Rimmel jemals an einem solchen kleinen Kunstwerk gesehen hatte; ihr goldenes Haar fiel auf ihre makellosen Schultern, ihre Lippen waren ein wenig offen, wäh-
rend sie des Betrachters Blick liebevoll erwiderte. Ohne seinem Tun nur einen klaren Gedanken einzuräumen, steckte Rimmel das Medaillon unter sein Gewand und eilte, indem er die Pläne unter seiner Achselhöhle fast zerdrückte, zur Tür. Er blickte weder nach rechts noch nach links, als er die Treppe hinab in seine Unterkunft floh. Zeugen hätten ausgesagt, wären nur welche vorhanden gewesen, er wäre dahingerast wie ein Besessener. Bronwyn hob ihr Haupt vom Eisengitter um ihrer Mutter Grabstätte; dann richtete sie ihren Blick mutlos hinüber auf das lebensgroße Abbild. Nunmehr erkannte sie, daß die unfreiwillig belauschte Unterhaltung sie in weit größere Unruhe versetzte, als sie sich zunächst hatte eingestehen wollen. Aber sie wußte nicht recht, was sie unternehmen sollte. Sie konnte die Hofdamen schwerlich zur Rede stellen und fordern, daß sie fortan vom Schwatzen absahen. Damit vermöchte sie nichts zu lösen. Unverwandt betrachtete sie das Bildnis, bis sie schließlich die vornehmen Züge des Antlitzes erkennen konnte, und sie fragte sich, was wohl sie getan hätte, diese außergewöhnliche Frau, welche sie so bewunderte, ihre Mutter. Lady Alyce von Corwyn und Morgan war zu ihren Lebzeiten eine überaus schöne Frau gewesen, und der Sarkophag tat ihrer einstigen Gestalt mehr als Gerechtigkeit an. Steinmetze aus dem Connait hatten den glatten Alabaster mit höchster Kunstfertigkeit bearbeitet und die allerkleinste Einzelheit berücksichtigt. Das Bildnis war so lebensecht, daß Bronwyn selbst jetzt, da sie ein erwachsenes Weib war, das Gefühl hatte, noch ein Kind zu sein, das Empfinden, als
lebe das Bildwerk, als müsse man nur die rechten Worte aussprechen, und es begänne zu atmen, die Frau erwache zum Leben. Der Schein der in langsamem Sinken begriffenen Sonne loderte im trüben Glas des Fensters überm Sarkophag, tauchte die kleine Kapelle in eine goldene, orangene und rote Farbenpracht, warf einen Lichtstreifen über den Prunksarg, auf Bronwyns geborgten grauen Umhang und über den winzigen Altar aus Elfenbein, der ein paar Ellen weiter zu ihrer Rechten stand. Bronwyn hörte die Pforte knarren und wandte den Kopf; sie sah Kevin neugierig hereinschauen. Seine Miene erhellte sich, als er sie erblickte; er trat ein und schloß die Tür. Er beugte vor dem winzigen Altar sein Knie, bevor er zu ihr trat und sich am Sarg an ihre Seite kniete. »Ich wunderte mich schon, wo du sein mögest«, redete er sie mit verhaltener Stimme an und legte seine Rechte sanft auf ihre Hand. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« »Nein... ja...« Bronwyn schüttelte ihr Haupt. »Ich weiß es selbst nicht.« Sie senkte den Blick auf ihre Hände und schluckte mühselig, und plötzlich bemerkte Kevin, sie war den Tränen nahe. »Was ist dir?« fragte er, indem er einen Arm um ihre Schultern legte und sie an sich drückte. Mit einem unterdrückten Schluchzen brach Bronwyn unverzüglich in Tränen aus und verbarg das Antlitz an seiner Brust. Kevin hielt sie fest in seiner Umarmung und ließ sie für ein Weilchen weinen, während er zur Besänftigung mit zärtlicher Hand ihr Haar streichelte. Dann setzte er sich behutsam auf die Stufe, zog sie auf seinen Schoß und bettete sie in seine Arme, als sei sie ein furchtgeplagtes Kind. »So, so, nun ist's gut«,
murmelte er mit leiser, ruhiger Stimme. »Wollen wir darüber sprechen?« Nach und nach minderte sich ihr Schluchzen, und Kevin lockerte seine Haltung, lehnte sich an die Grabeinfassung und fuhr darin fort, Bronwyns Haar zu streicheln, das dunkel den Streifen Lichtschein durchbrach, prächtig wie der Glanz von Edelsteinen, und über ihre Schultern auf den weißen Marmorboden fiel. »Weißt du noch, wie wir als Kinder hier zu spielen pflegten?« fragte er sie; als er auf sie hinabsah, stellte er mit Erleichterung fest, daß sie bereits dabei war, ihre Tränen zu trocknen. Er zog ein Sacktuch aus seinem Ärmel und gab es ihr, als er weitersprach. »Ich glaube, im Sommer vor Alarics Gang an den Hof haben wir meine Mutter beinahe um den Verstand gebracht. Er und Duncan, sie waren beide acht, ich war elf, und du warst höchstens vier und ungemein altklug. Einmal spielten wir Verstekken, zwar im Garten, aber Alaric und ich verbargen uns hier unterm Altartuch, das bis auf den Boden hing. Und der alte Pater Anselm kam herein und ertappte uns, und er drohte, er wolle es Mutter verraten.« Er lachte leise. »Und ich entsinne mich noch, daß du hereinkamst, als er gerade fertig war mit dem Schelten, in den Händen etliche von Mutters allerschönsten Rosen, und du weintest, weil die Dornen dir deine kleinen Finger zerstochen hatten.« »Ich erinnere mich«, bestätigte Bronwyn und lächelte trotz ihrer Tränen. »Und einige Sommer später, als ich zehn war, da warst du schon ein ausgewachsener Siebzehnjähriger, und wir...« Sie senkte den Blick. »Du verführtest mich dazu, mit dir eine Geistesverbindung herzustellen.« »Und ich habe es niemals nur für einen Moment
bereut.« Kevin lächelte und küßte ihre Stirn. »Was ist los mit dir, Bronwyn? Vermag ich dir irgendwie zu helfen?« »Nein«, lautete Bronwyns Antwort, und sie lächelte zerstreut. »Ich glaube, mich hatte bloß so etwas wie Selbstmitleid gepackt. Heute nachmittag habe ich unfreiwillig einen Wortwechsel belauscht, den ich lieber gar nicht gehört hätte, und es hat mich stärker außer Fassung gebracht, als ich dachte.« »Was hast du gehört?« fragte er mit finsterer Miene und schob sie von sich, so daß er ihr Antlitz sehen konnte. »Wenn jemand dir Kummer macht, wohlan, dann werde ich...« Sie schüttelte ergeben ihr Haupt. »Nichts ist's, Kevin, wogegen sich etwas unternehmen ließe. Ich kann's nun einmal nicht ändern, daß ich so und nicht andersartig bin. Ein paar Hofdamen haben geschwatzt, sonst nichts. Es... mißfällt ihnen, daß eine Deryni ihren künftigen Herzog ehelichen soll.« »Was für ein Unglück für sie«, meinte Kevin, drückte sie wieder an sich und küßte sie auf den Scheitel. »Wie's sich begibt, liebe ich diese Deryni von ganzem Herzen, und ich wollte keine andere Braut.« Bronwyn lächelte gerührt, dann erhob sie sich, strich über ihr Kleid und wischte sich erneut die Augen. »Du weißt stets das rechte Wort zu sagen, nicht wahr?« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Komm. Meine Schwäche ist vorüber. Wir müssen uns sputen, sonst verspäten wir uns zum Abendmahl.« »Der Teufel hole das Mahl.« Kevin richtete sich auf, reckte sich und umschlang Bronwyn mit beiden Armen. »Weißt du was?« »Was denn?« Sie legte die Arme um seine Hüften
und schaute zärtlich zu ihm auf. »Ich glaube, ich liebe dich.« »So ein Zufall.« »Wieso?« »Weil ich glaube, daß ich auch dich liebe.« Sie lächelte. Und in einem engen Gemach nicht weit davon lag Baumeister Rimmel auf seiner Bettstatt ausgestreckt und starrte ein kleines Bildnis in einem Medaillon an, in den Bann gezogen von einer schönen und unerreichbaren Dame. Morgen gedachte er sich zur Witfrau Bethane zu begeben. Er würde ihr das Bildnis zeigen. Er wollte der frommen Frau erklären, daß er die Liebe dieser Dame gewinnen oder sterben mußte. Und dann mochte die Schäferin ein Wunder wirken. Und die Lady würde Rimmel gehören.
10 Trachtend nach finsterer Mächte Beistand... Im trüben Nieselregen, der in feinen Schleiern durch die Morgendämmerung fiel, ruckte Duncan McLain, der in einer Nebenstraße Coraths stand, ein letztes Mal an der Schnalle des Sattelgurts und ließ den Steigbügel wieder baumeln. Ein zweites Paar Zügel, das über Duncans linkem Arm lag, spannte sich leicht, als Alarics Roß im frostigen Dunst den Kopf schüttelte; und als das Tier mit den Hufen scharrte, knarrte das abgetragene Lederzaumzeug unterm Ölzeug, das als Sattelschutz diente. Dahinter hob ein zottiges Packpferdchen, beladen mit Ballen ungegerbter Felle und Pelze, den Kopf und schnob, ehe es auf der Stelle wieder einnickte. Allmählich wurde Duncan des Wartens müde. Der Regen hatte am Abend zuvor mit dem Anbruch der Dunkelheit begonnen und die ganze Nacht hindurch angehalten, wovon Duncan die meiste Zeit im nahe gelegenen Stall eines Händlers in unruhigem Schlaf lag; inzwischen jedoch war ein Bote mit der Nachricht gekommen, daß Alaric sich unterwegs befand und bald eintreffen müsse. Und daher stand Duncan nun im Regen und wartete, den groben Lederumhang bis dicht unters Kinn gerafft, wie's dhassanische Jäger taten, den Kragen und den Kapuzenüberwurf wider den eisigen Wind und den Regen eng um Hals und Haupt geschmiegt. Seine Kleidung war an den Schultern be-
reits dunkel von Nässe, vom Regen durchtränkt. Und Duncan spürte die Eiseskälte seines Hauberts selbst durch das Untergewand aus grober Wolle, das er unmittelbar auf der Haut trug. Ungeduldig stampfte er mit den Füßen und blies in seine Hände; ob des Gefühls, das seine Zehen ihm in feuchtem Leder bereiteten, verzog er übellaunig das Gesicht. Er fragte sich, was Alaric so lange aufhielt. Da tat sich im Haus zur Rechten, wie auf Befehl, eine Pforte auf, und gegen das Licht im Innern des Gebäudes zeichnete sich für einen Moment eine hochgewachsene, in Leder gekleidete Gestalt ab. Dann trat Alaric zwischen die Pferde, klopfte Duncan zur Aufmunterung auf die Schulter und blickte empor an den trostlos grauen Himmel. »Ich bedaure, daß es so lange dauerte«, murmelte er, entfernte den Sattelschutz und wischte nachlässig Spritzer vom Sattel. »Gab es sonst irgendwelche Schwierigkeiten?« Morgan stieß einen Brummlaut aus, während er sich vom sicheren Sitz des Sattelgurtes überzeugte. »Die Männer hatten viele Fragen. Sollte sich Warin dazu entschließen, während unserer Abwesenheit gegen mich zu handeln, dürfte Hamilton alle Hände voll zu tun haben. Das ist ein weiterer Grund, weshalb unser Aufbruch im geheimen geschieht. Was Corwyns Volk angeht, so haben sein Herzog und sein Vetter, der Königliche Beichtvater, sich in die Gewölbe der Burg zurückgezogen, um in aller Stille und Abgeschiedenheit des Herzogs Gewissen zu prüfen und ihm die Reue zu ermöglichen.« »Du und Reue?« Duncan schnob geringschätzig, als sein Vetter sich in den Sattel schwang. »Willst du etwa unterstellen, teurer Vetter, es er-
mangele mir an der erforderlichen Frömmigkeit?« erkundigte sich Morgan und lächelte; er ergriff des Packpferdes Leine und lenkte sein Roß an die Seite von Duncans Tier. »Nicht ich.« Duncan schüttelte den Kopf. »Wohlan – können wir nun diesen trübsinnigen Winkel verlassen?« »Das können wir«, sagte Morgan mit Nachdruck. »Vorwärts! Bei Sonnenuntergang möchte ich bei der alten Abtei Sankt Neot sein, und das ist selbst bei gutem Wetter ein voller Tagesritt.« »Vortrefflich«, murmelte Duncan, als sie im Trab den Weg durch Coroths noch leere Straßen einschlugen. »Mein ganzes Leben lang habe ich auf so etwas gewartet.« Später am selben Morgen und viele Meilen von Coroth entfernt erklomm Rimmel einen felsigen Hang westlich von Culdi mit mehr als nur gelindem Unbehagen. An diesem Tag war's im Bergland kalt und windig, und in der Luft war ein Anflug von Frost spürbar, selbst als sich die Sonne bereits dem Scheitelpunkt näherte. Aber der Kälte zum Trotz schwitzte Rimmel unter seinem Reitkleid aus geschmeidigem Leder, und mit jedem Schritt schien der Ranzen aus Leinwand, welcher seine Schultern drückte, sein Gewicht zu erhöhen. Im Tal tief drunten wieherte sein Pferd, das sich wohl in der vom Wind durchfegten Schlucht verloren fühlte. Rimmel zwang sich mit aller Willenskraft zur Fortsetzung des Aufstiegs. Aber seine Gemütsruhe begann von ihm zu weichen. Sein Verstand, der ihm auch während der langen und schlaflos zugebrachten Nacht Zuflucht gewährt hatte,
versicherte indessen, daß es töricht war, sich zu fürchten, daß kein Grund vorhanden wäre, vor diesem Weib namens Bethane zu erbeben, daß sie nicht wie jenes andere Weib sei, deren Magie ihn Jahre zuvor ereilt hatte. Und dennoch... Rimmel erschauderte, als er sich jener Nacht entsann, seit der nun mindestens zwanzig Jahre verstrichen waren, als er und ein anderer Knabe sich in den Garten der alten Freifrau Elfrida geschlichen hatten, um Äpfel und Kohl zu stehlen. Beide hatten sie gewußt, daß Elfrida als Hexe galt, daß sie unduldsam gegen Fremde war, die sich auf ihrem winzigen Fleckchen Land herumtrieben; sie hatten am hellichten Tage schon mit ihrem Besen Bekanntschaft geschlossen. Doch sie waren der Überzeugung gewesen, die Alte bei Nacht überlisten zu können, sich dessen vollständig sicher, ungeschoren zu entkommen. Doch dann hatte die alte Freifrau Elfrida sie ertappt; plötzlich tauchte sie in der Dunkelheit inmitten einer Aura blauroten Schimmers auf, der sie umgab wie ein Lichtkranz, und Rimmel und sein Gefährte ergriffen die Flucht vor einem blendend hellen, glutheißen Blitz, so schnell die Füße sie tragen wollten. Sie waren entronnen, und die Alte folgte ihnen nicht. Aber am nächsten Morgen, als Rimmel erwachte, war sein Haar weiß gewesen; und wie sehr man's auch wusch oder bürstete, mit Breipackungen behandelte oder färbte, die ursprüngliche Farbe stellte sich nicht wieder ein. Seine Mutter war voller Entsetzen, hatte sogleich einen Verdacht wider die alte Hexe geäußert. Aber Rimmel hatte stets geleugnet, in besagter Nacht auch bloß das Haus verlassen zu haben, stets vorgegeben, schlichtweg ins Bett gegangen und unvermutet mit weißem Haar aufge-
wacht zu sein; er verriet kein einziges Wort. Und kurz darauf hatte man die alte Freifrau Elfrida aus dem Dorf verjagt, sie kam niemals zurück. Rimmel zitterte in der kühlen Morgenluft, dazu außerstande, das Gefühl von Übelkeit aus seiner Magengegend zu verdrängen, welches ihn bei der Erinnerung daran jedesmal befiel. Bethane war ohne Zweifel irgendeine Art von Hexe – sie mußte es sein, konnte sie wirklich die Hilfen erweisen, die man ihr nachsagte. Aber wenn sie ihn, Rimmel, nun wegen seiner Bitte verlachte? Oder ihm den Gefallen verweigerte? Oder einen Lohn verlangte, den Rimmel nicht zu entrichten vermochte? Oder noch schlimmer – angenommen, Bethane war eine böse Hexe? Wenn sie ihn nun zu übertölpeln versuchte? Ihn etwa mit einem falschen Zauber versah? Oder sich später, womöglich erst in vielen Jahren, darauf verlegte, das Entgelt sei zu geringfügig gewesen? Wenn sie etwa auf Rimmel die ärgsten Übel herabbeschwor, auf Herrn Kevin – oder gar auf Bronwyn selbst?! Es schauderte Rimmel neuerlich, und er verscheuchte diese Gedanken. Solche übertriebenen Befürchtungen waren unvernünftig und hatten in allen bekannten Tatsachen keinerlei Rechtfertigung. Am Vortag hatte Rimmel sich eingehend über Bethanes Ansehen in Kenntnis gesetzt, mit denen gesprochen, die bereits in den Genuß ihrer Dienste gekommen waren; es bestand kein Anlaß zur Annahme, sie sei anders, als die Leute sie schilderten – eine harmlose alte Schäferin, der bisweilen darin Erfolg beschieden war, diesem oder jenem Menschen aus einer Notlage zu helfen. Vor allem aber war sie Rimmels einzige Hoffnung, um die Frau für sich gewinnen zu können, die er liebte.
Rimmel beschattete seine Augen gegen das Sonnenlicht und verharrte, um den Pfad aufwärts zu spähen. Jenseits eines kärglichen, dürftigen Hains von Kiefern, von dem ihn nur noch wenige Ellen trennten, konnte er im bloßen Fels einen schmalen, hohen Spalt erkennen, verhangen mit Tierfellen. Eine Anzahl von Schafen, die mager aussahen – zumeist Lämmer und Mutterschafe –, rupfte an Büscheln vom Frost verdorbenen Grases, welche beiderseits der Höhle zwischen dem Gestein wuchsen, und neben dem Höhleneingang lehnte am Fels ein Hirtenstab. Vom Eigentümer des Hirtenstabes war nichts zu sehen. Rimmel tat einen tiefen Atemzug, nahm allen Mut zusammen und klomm die letzten Ellen empor zur Höhe der Höhle, vor der ein Stück ebenes Gelände lag. »Ist jemand da?« rief er, und aus Mißbehagen klang seine Stimme leicht brüchig. »Ich... ich suche die Witwe Bethane, die Schäferin.« Seinen Worten folgte ein ausgedehntes Schweigen; Rimmel konnte nur die gedämpften, frühlingshaften Laute von Vögeln und Insekten vernehmen, das Rupfen der Schafe am Gras ringsum, seinen eigenen rauhen Atem. Und dann ertönte das Knurren einer Stimme. »Tritt ein.« Rimmel zuckte bei ihrem Klang zusammen. Er verbarg seinen Schrecken, schluckte mühsam, trat zum Höhleneingang und schob vorsichtig den Vorhang beiseite, wobei er feststellte, daß der Vorhang wie ungegerbtes Ziegenleder aussah – und auch roch. Er blickte sich beunruhigt ein letztes Mal um, als ihm der unsinnige Gedanke kam, daß er vielleicht niemals wieder die Sonne schauen werde, dann starrte er ins Innere der Höhle. Drinnen herrschte pechschwarze Finsternis. »Herein!« befahl
die Stimme von neuem, als Rimmel zauderte. Rimmel tastete sich vorwärts, indem er den Vorhang hielt, um Licht und Luft einzulassen, und hielt verstohlen Umschau, woher die Stimme stammen möge. Sie schien von überall ringsum zu kommen, hallte zwischen den Wänden der schmutzigen Höhle; aber natürlich vermochte er nicht das geringste zu sehen. »Laß den Vorhang los und bleib, wo du bist.« Beim erneuten Klang der Stimme erschrak Rimmel nochmals, obschon er damit gerechnet hatte; er ließ den Vorhang fahren, als er bestürzt zusammenfuhr. Diesmal war die Stimme aus dem Dunkel zu seiner Linken an sein Ohr gedrungen – dessen war er sich gewiß. Aber er wagte keinen Muskel zu rühren, um sich in diese Richtung zu wenden; er fürchtete sich davor, dieser körperlosen Stimme Ungehorsam zu zeigen. Er schluckte mühselig, zwang sich zu aufrechter Haltung und ließ seine Arme an die Seiten sinken. Seine Knie bebten, seine Handflächen waren feucht, doch er wagte sich nicht zu regen. »Wer bist du?« wollte die Stimme wissen. Aber diesmal schien sie hinter seinem Rücken zu ertönen, in dumpfem Schnarrton, der keinen Rückschluß aufs Geschlecht erlaubte. Unruhig befeuchtete Rimmel seine Lippen. »Mein Name lautet Rimmel. Ich bin Oberster Baumeister Seiner Gnaden, des Herzogs von Cassan.« »In wessen Namen kommst du, Baumeister Rimmel? In eigenem oder im Namen des Herzogs?« »In... in eigener Sache.« »Und was begehrst du von Bethane?« fragte die Stimme. »Bewege dich nicht, bevor's dir gestattet wird.« Rimmel hatte sich seitwärts drehen wollen, aber
nun erstarrte er von neuem und bot alle Willenskraft auf, um sich zur Gelassenheit anzuhalten. Anscheinend konnte der Körper, welcher zu der Stimme gehörte, im Finstern sehen. Wogegen Rimmel das nicht konnte. »Bist du die Witwe Bethane?« erkundigte er sich zaghaft. »Die bin ich.« »Ich...« Er schluckte. »Ich habe dir Speisen gebracht, Witwe Bethane«, erklärte er. »Ich...« »Stell sie neben dir ab.« Rimmel gehorchte. »So, und welchen Wunsch möchtest du Bethane vortragen?« Wieder schluckte Rimmel. Er spürte, wie aus seinen Brauen Schweiß in seine Augenwinkel rann, aber er brachte nicht den Mut dazu auf, eine Hand zu heben und ihn fortzuwischen. Er blinzelte heftig und zwang sich zu einer Antwort. »Da... da gibt's ein Weib, Witwe Bethane. Es... ich...« »Nur zu.« Rimmel schöpfte tief Atem. »Ich begehre dies Weib zu meiner Gemahlin, Witwe Bethane. Sie aber... sie ist einem anderen versprochen. Sie... wird ihn zum Manne nehmen, solltest nicht du mir helfen können. Aber du kannst mir doch helfen, nicht wahr?« Er bemerkte, daß hinter ihm Helligkeit entstand, dann sah er seinen eigenen Schatten über den Felsuntergrund wabern; das Licht war von orangefarbener Tönung und stammte offenbar von einer Flamme, und es vertrieb etwas von der Düsternis der Höhle und auch der Furcht in Rimmels Herz. »Du darfst dich umdrehen. Tritt näher.« Mit einem kaum vernehmlichen Seufzer der Erleichterung kehrte sich Rimmel langsam der Lichtquelle zu. Etwa
zwölf Schritt von ihm entfernt stand eine Laterne auf dem Felsboden, und dahinter kauerte in zerfetzten Lumpen eine steinalte Vettel. Ihr Antlitz war zernarbt und runzlig, umgeben von einer Mähne verfilzten grauen Haares, das einmal schwarz gewesen sein mußte. Sie faltete mit peinlicher Genauigkeit ein dunkles Tuch zusammen, das vermutlich die Laterne abgedeckt hatte. Rimmel strich mit dem Ärmel über seine Augen und näherte sich widerwillig der Laterne; davor verharrte er und richtete seinen Blick auf die Frau. »So, Meister Rimmel«, sagte die Alte, und ihre schwarzen Augen funkelten und glommen im unsteten Schein der Laterne. »Empfindest du meinen Anblick als greulich?« Ihre Zähne waren gelb und faul, ihr Atem stank; Rimmel mußte den Drang niederkämpfen, aus Abscheu zurückzuweichen. Bethane kicherte – ein piepsiger, kurzatmiger Laut – und deutete mit einem Wink eines knochigen Arms auf den Boden. An der Hand blitzte Gold auf, als sie diese Bewegung tat, und Rimmel schlußfolgerte, daß es sich dabei um einen Ehering handelte. Sie war Witwe, hatten die Leute ihm gesagt. Er fragte sich, wer wohl ihr Gemahl gewesen sein mochte. Unbehaglich ließ Rimmel sich auf den Felsboden der Höhle nieder, tat es seiner Gastgeberin gleich, indem er die Beine überkreuzte. Als er saß, musterte Bethane ihn übers Licht hinweg für ein beträchtliches Weilchen, ohne ein Wort zu sprechen, und ihre Augen waren wachsam und von übermächtiger Eindringlichkeit. Dann nickte sie. »Dies Weib – erzähl mir davon. Ist es schön?« »Sie...«, krächzte Rimmel, und seine Stimme versagte. »Das ist ihre Erscheinung«, antwortete er und
holte das Medaillon heraus, hielt es ihr scheu entgegen. Die Alte streckte eine knorrige Hand aus, bemächtigte sich des Medaillons und öffnete es mit einem krummen, gelben Fingernagel, so daß es vernehmlich knackte. Kaum merklich zuckte eine ihrer Brauen aufwärts, als sie das Bildnis sah, und ihr Blick hob sich mit verschlagenem Ausdruck wieder zu Rimmel. »Dies ist jene Frau?« Furchtsam nickte Rimmel. »Und das Medaillon ist ihres?« »Zuvor«, erwiderte Rimmel. »Zuletzt trug's jener, der sich mit ihr vermählen will.« »Und was ist mit ihm, der sich mit ihr vermählen will?« meinte die Witfrau beharrlich. »Liebt er sie?« Rimmel nickte. »Und liebt sie ihn?« Rimmel nickte wieder. »Aber auch du liebst sie – so sehr, daß du, um sie zu gewinnen, dein Leben wagtest.« Rimmel nickte ein drittes Mal; seine Augen waren weit. Bethane lächelte, und ihr Lächeln glich einem abartigen Hohn auf den Frohsinn. »Ich besaß einst einen solchen Mann, der sein Leben wagte, um mich zu besitzen. Überrascht dich das? Gleichwohl. Ich glaube, er würde es gutheißen.« Sie schloß die Kapsel mit neuerlichem Knacken, hielt das Medaillon in ihrer knotigen Linken an der Kette, griff hinter sich und brachte eine Kürbisflasche mit langem Hals zum Vorschein. Rimmel verhielt seinen Atem und sah aus aufgerissenen Augen zu, wie Bethane mit einem Druck ihres Daumens den Korken entfernte und das Gefäß ihm zuschob. Die schwache Vorahnung, welche ihn den ganzen Morgen hindurch gequält hatte, ging ihm durch den Kopf, aber er verdrängte den Gedanken daran mit Gewalt. »Strecke deine Hände aus, Bau-
meister Rimmel, daß das Wasser nicht den durstigen Stein netze und für immer verloren sei.« Rimmel gehorchte, und Bethane goß Wasser in die Mulde seiner Hände. »Nun schau«, sprach Bethane weiter, während sie die Kürbisflasche zur Seite stellte, »wie ich die geweihten Zeichen überm Wasser mache. Schau, wie die Wirbel von Zeit und heiliger Liebe übers Wasser tanzen und ihren Weg kennzeichnen. Schau, wie jener, der ihrer war, zu einem wird, der sie abwärts treibt, wie er sie zu dem macht, der deiner ist.« Dieweil sie das Medaillon über Rimmels gewölbten Händen schwingen und pendeln ließ, damit verschlungene Muster und Zeichen überm Wasser zog, murmelte sie mit einer Stimme, die sich hob und senkte, eine Beschwörung, bis sie sah, daß die Lider ihres Bittstellers flatterten, schwer wurden, sich endlich schlossen. Sie legte das Medaillon beiseite und trocknete mit dem Tuch Rimmels Hände, damit keine Feuchtigkeit entrinne und die Korridore der Zeit enthülle, während sie ans Werk ging. Danach seufzte sie und öffnete das Medaillon nochmals, dieweil sie in ihrem Gedächtnis nach dem geeigneten Zauberspruch suchte. Ein Liebeszauber. Und kein gewöhnlicher Liebeszauber – vielmehr ein Zauber, der eines Weibes Liebe vom einen auf den anderen Mann übertragen sollte. Ja, solche Zauber hatte sie schon vollbracht – und häufig. Aber das war vor langer Zeit gewesen, als Bethane nicht so alt war, so zahnlos, so vergeßlich. Sie war sich dessen unsicher, ob sie sich der richtigen Worte zu entsinnen vermochte. ›Stille Stätten rauschen leise...?‹ Nein, so begann der Zauber für eine gute Ernte. Gewiß, man konnte ihn später auf jene Dame anwenden, möglicherweise, damit sie ei-
nen Sohn gebar, falls Rimmel Wert darauf legte. Aber das war nicht der Spruch, den Bethane jetzt brauchte. Es gab eine Anrufung Baazams, die war ungemein wirksam... Aber nein! Sie schüttelte unwillig den Kopf. Das war ein finsterer Zauberspruch, ein Todeszauber. Darrell hatte sie schon vor langem dazu bewogen, von solchen Dingen Abstand zu nehmen. Außerdem wünschte sie der schönen jungen Frau im Medaillon so etwas nicht. Sie mochte selber einmal so ähnlich wie diese Lady ausgesehen haben. Auf jeden Fall hatte Darrell ihr gesagt, sie sei schön. Als eine geisterhafte Erinnerung durch ihr Bewußtsein flimmerte, starrte sie, indem sie kurzsichtig zwinkerte, noch einmal das Bildnis an. Dies Weib im Medaillon – hatte sie es nicht schon zuvor gesehen? Es mußte vor vielen Jahren gewesen sein, als ihr Augenlicht noch besser war, nicht so alt und lahm, aber... ja! Sie erinnerte sich nun. Sie entsann sich an ein schönes blondes Kind in Begleitung dreier älterer Knaben, die dessen Brüder oder Vettern gewesen sein mußten. Bergpferdchen hatten sie geritten, ein müßiges Mahl auf dem Teppich aus grünem Gras eingenommen, der im Sommer den Hang unterhalb von Bethanes Höhlenbehausung zu bedecken pflegte. Und Kinder aus edlem Hause waren's gewesen, aus dem Hause des mächtigen Herzogs von Cassan – desselben Herzogs, dessen Gefolgsmann nun im Zustand der Trance vor Bethane am Boden kauerte. Bronwyn! Das war der Name. Das Kind hatte Bronwyn geheißen. Lady Bronwyn Morgan, Herzog Jareds Nichte, eine Halbderyni. Sie war die Dame auf dem Bildnis! Bethane duckte sich unwillkürlich und schielte schuldbewußt umher. Eine derynische Lady. Und sie, Bethane, hatte
versprochen, an ihr einen Zauber zu vollziehen. Durfte sie das wagen? Und würde der Zauber sich auch an einem halbderynischen Weibe bewähren? Bethane wollte dieser Dame keinesfalls ein Leid zufügen. Damals hatte das Kind Bronwyn sie angelächelt, damals vor vielen Jahren hier auf der Weide, so wie die Tochter, welche Bethane niemals bekam; es hatte die Lämmer und Mutterschafe gestreichelt und mit Bethane gesprochen, keine Furcht vor der verhutzelten alten Witfrau empfunden, die auf der Bergweide ihre Herde hütete. Nein, das konnte Bethane nicht vergessen. Sie richtete den Blick empor und rang die Hände. Sie hatte Rimmel ein Versprechen gegeben. Es mißbehagte ihr überaus, in diese Zwickmühle geraten zu sein. Half sie dem Baumeister, tat sie der Jungfer womöglich ein Übel an; und das wollte sie nicht. Sie musterte Rimmel und versank in ihren Gedanken. Die Börse an des Baumeisters Hüfte war schwer von Gold, und die Tasche, die er am Eingang abgestellt hatte, war prall gefüllt mit Brot und Käse und anderen Köstlichkeiten, welche sie sich seit Monden nicht hatte schmecken lassen können. Während sie innerlich mit ihren gegensätzlichen Empfindungen rang, roch sie den frischen, herrlichen Duft der Speisen, welcher sich in der Höhle verbreitete. Hielt sie ihr Versprechen nicht, Rimmel würde gehen und Speisen und Gold wieder mitnehmen. Nun denn, so mußte es ein geringerer Zauber tun! Vielleicht genügte ein Zauber, der Unentschlossenheit hervorrief. Ja, das war die Lösung. Ein Zauber für Unentschiedenheit, so daß die liebliche Bronwyn nicht solche Eile verspürte, sich mit ihrem gegenwärtigen Freier zu vermählen. Und wer mochte dieser Freier sein?
fragte sich Bethane. Eine Frau derynischen Blutes konnte keine Vermählung mit einem sonderlich Hochgestellten erwarten. So etwas war Angehörigen dieses lange verfolgten Geschlechts in diesen dunklen Zeiten nicht beschieden. Doch da es so war, warum sollte Bethane nicht einen wirksameren Zauber verwenden, der Rimmels Verlangen erfüllte, wenn sie dadurch keinen hochgeborenen Edelmann herausforderte? Bethane nickte entschlossen und stand mühselig auf; sie begann in einer morschen alten Truhe zu kramen, die an der Rückseite der Höhle stand. Die Truhe enthielt Dutzende von Gegenständen, welche Bethane bei ihrem Werk verwenden konnte; eifrig suchte sie in einem Sammelsurium aus etlichem Tand, seltsam geformten Steinen, Federn, verschiedenen Arten von Pulvern und Tränken sowie anderen Hilfsmitteln ihres Gewerbes. Sie zog einen kleinen, blanken Knochen heraus und senkte darüber nachdenklich ihr graues Haupt, dann legte sie ihn kopfschüttelnd wieder hinein. Gleiches geschah mit einem getrockneten Blatt, einem kleinen Schnitzwerk, das ein Lamm darstellte, einer Handvoll Kräuter, zusammengebunden mit einem aus Gras geflochtenen Kränzlein, und einem kleinen Tontopf. Endlich stieß sie zum Grund der Truhe vor und fand, wonach sie suchte: einen ledernen Sack voller Steine. Sie zerrte den Sack an den Rand der Truhe, ächzte beim Herausheben, ließ ihn beinahe fallen; dann löste sie den Strick, welcher den Sack verschlossen hielt, und begann den Inhalt zu ordnen. Zauber für Liebe, Zauber des Hasses. Zauber zum Sterben und Zauber zum Leben. Zauber, die ließen die Ernte emporschießen.
Zauber, welche des Feindes Felder verdarben. Einfache Zauber, um die Gesundheit zu bewahren. Verwickelte Zauber, um die Seele zu schützen. Zauber für Reiche. Zauber für die Armen. Noch unentwikkelte Zauber, die darauf harrten, daß die Frau sie ins Leben setzte. Bethane summte leise in brüchigen Tönen eine Melodie, während sie einen großen blauen Stein auswählte, den Flecken in der Farbe von Blut bedeckten; er paßte gerade in eine menschliche Faust. Sie klaubte in der Truhe, bis sie einen kleinen Beutel aus Ziegenleder fand, der für den Stein genügte, dann senkte sie den großen Sack zurück in die Truhe und klappte sie zu. Sie schlurfte mit Stein und Beutel zurück zur Laterne, nahm wieder vor Rimmel Platz und schob Stein und Beutel unter die Falten ihrer zerlumpten Kleidung. Rimmel saß in Trance vor der Laterne, die trübes Licht verströmte, die zu einer Mulde vereinten Hände ausgestreckt, entspannt, die Augen geschlossen. Bethane ergriff die gelbe Kürbisflasche, schüttete erneut Wasser in Rimmels Handflächen und hielt wiederum das Medaillon darüber, ließ es pendeln. Als sie den Beschwörungssingsang fortsetzte, hob sie behutsam eine Hand an Rimmels Stirn und berührte seine Braue. Der Baumeister nickte mit einem Ruck, als schräke er aus dem Einschlummern auf, dann begann er wieder das Schwingen des Medaillons zu beobachten, dessen gänzlich unbewußt, daß sich etwas Unvorhergesehenes ereignet hatte, daß eine Zeitspanne verstrichen war, aus der er nichts wußte. Bethane beendete die Beschwörung, legte das Medaillon weg und holte den blutbefleckten Stein heraus. Für einen Moment drückte sie den Stein mit beiden Händen und murmelte etwas, das Rimmel
nicht verstehen konnte. Dann legte sie den Stein unter Rimmels Händen auf den Felsgrund, senkte ihre klauenhaften Finger auf die Finger Rimmels und blickte ihm in die Augen. »Öffne deine Hände und laß das Wasser den Stein befeuchten«, befahl sie im Schnarrton. »Damit ist Zauber vollbracht, die Würfel sind gefallen.« Rimmel schluckte und blinzelte aus Bangigkeit erst einige Male, bevor er gehorchte. Das Wasser troff auf den Stein, und der Stein saugte es auf; voller Staunen wischte er die Hände an seinen Beinkleidern trocken. »Also ist's nun soweit?« flüsterte er ungläubig. »Meine Dame liebt mich?« »Noch nicht, nein«, antwortete Bethane, klaubte den Stein auf und steckte ihn in den Beutel aus Ziegenleder. »Aber sie wird's.« Sie drückte Rimmel den Beutel in die Hand. »Nimm diesen Beutel. Darin ist, was du gesehen hast, und du darfst es nicht herausnehmen, bevor du eine treffliche Gelegenheit dazu erhältst, es an einem Ort zu hinterlassen, wo deine Dame sich mit Gewißheit allein einfinden wird. Dann mußt du den Beutel öffnen und herausholen, was darin ist, ohne es zu berühren. Sobald der Kristall ans Licht gerät, bleiben dir nur wenige Augenblicke, um die Reichweite seines Einflusses zu fliehen. Ist der Stein ausgelegt, ist der Zauber vorbereitet, und es bedarf nur noch deiner Dame Gegenwart, um ihn zu vollenden.« »Und sie wird die meine sein?« Bethane nickte. »Der Zauber wird sie an dich binden. Nun geh.« Sie nahm das Medaillon und ließ es in Rimmels Hand fallen, und Rimmel steckte das Medaillon und
den Beutel unter sein Gewand. »Ich danke dir in allerhöchster Ergebenheit, Witwe Bethane«, murmelte er, schluckte und tastete nach der Börse an seiner Hüfte. »Wie... wie kann ich deine Gunst vergelten? Ich habe dir Speisen gebracht, wie's der Brauch ist, aber...« »Du trägst Gold an deinem Gürtel?« »Jawohl«, wisperte Rimmel, nestelte an der Börse und zog einen kleinen, aber schweren Beutel heraus. »Ich besitze nicht viel, aber...« Vorsichtig setzte er das Säckchen neben der Laterne auf den Boden und schaute Bethane furchtsam an. Bethane betrachtete den Beutel, dann hob sie den Blick wieder zu Rimmel. »Mach auf.« Mit lautem Schlucken kam Rimmel der Aufforderung nach und schüttete den Inhalt auf den Felsboden. Die Münzen klirrten und klimperten im Klang feinen Goldes; aber Bethanes Blick löste sich nicht von des Baumeisters Antlitz. »Nun, wie bemißt du den Wert meines Dienstes, Meister Rimmel?« fragte sie und beobachtete wachsam jede Regung in seinem Antlitz. Rimmel leckte sich über die Lippen, sein Blick glitt hinab zu dem verstreuten Gold, das ein wahrhaftiges Vermögen ausmachte. Dann schob er den gesamten Betrag mit einer entschlossenen, ruckartigen Bewegung hinüber zu Bethane. Die Frau lächelte ihr zänkisches Lächeln, griff zu und nahm sechs Münzen. Den Rest schob sie wieder Rimmel hin. Der Baumeister war erstaunt. »Das... das verstehe ich nicht«, stammelte er mit zittriger Stimme. »Willst du nicht mehr haben?« »Ich habe für meine Bedürfnisse reichlich genommen«, krächzte Bethane. »Mir lag mehr daran, dich
zu prüfen, ob du meinen Dienst in der Tat zu schätzen weißt. Doch möchtest du noch etwas für mich tun, dann gedenke der Witwe Bethane in deinen Gebeten. In dieser düsteren Zeit, so fürchte ich, könnte sich ein gutes Wort, das jemand beim Allmächtigen für mich einlegt, als gewichtiger erweisen denn Gold.« »Ich... das werde ich tun, Witwe Bethane«, stotterte Rimmel, sammelte sein Gold ein und steckte es zurück in seine Börse. »Aber kann ich dir nicht noch irgendeinen anderen Gefallen tun?« Bethane schüttelte den Kopf. »Solltest du mich einmal besuchen, so bring deine Kinder mit. Und nun geh. Du hast erhalten, was du verlangtest, und ich habe bekommen, was ich dafür von dir wollte.« »Meinen Dank, Witwe Bethane«, murmelte Rimmel und raffte sich auf, insgeheim voller Verwunderung über das Ausmaß seines Glücks. »Und ich werde gewißlich für dich beten.« Seine Stimme ertönte bereits vom Eingangsspalt der Höhle; er schlüpfte vorbei am Vorhang aus Ziegenfell. Als der Baumeister in die Außenwelt entschwand, stieß Bethane einen Seufzer aus und sackte ein wenig ein, wie sie dort vor der Laterne saß. »Nun gut, mein Darrell«, flüsterte sie und rieb den goldenen Ring an ihren Lippen, »es ist getan. Ich habe den Zauber eingeleitet, um diesem Mann den Wunsch zu erfüllen. Du glaubst doch nicht, daß ich falsch gehandelt habe, indem ich mich gegen eine Deryni stellte, oder?« Sie schwieg, als lausche sie auf eine Antwort; dann nickte sie. »Ich weiß, mein Liebster. Ich habe noch nie einen Zauber an einem Angehörigen des Magiergeschlechts angebracht. Aber er dürfte wirken. Ich glaube, ich
habe mich der Worte richtig erinnert. Das ist ohnehin alles gleichgültig... solange nur wir zwei zusammen sind.« Fast war es dunkel, als Morgan endlich winkte, um anzuzeigen, daß er einen Halt wünschte. Seit ihrem Aufbruch in Coroth am frühen Morgen waren sie unentwegt geritten und hatten zur Mittagsstunde nur lange genug gerastet, um die Pferde zu tränken und ein paar Handvoll ihrer Reiseverpflegung hinabzuschlingen. Nunmehr näherten sie sich dem Kamm der Lendourischen Bergkette, wohinter der sagenumwobene Gunury-Paß lag; an dessen Ende befanden sich der Schrein St. Torins und zugleich das südliche Tor zur heiligen Freistadt Dhassa. Am Morgen, wenn Rösser und Männer wieder ausgeruht waren, mußten die beiden Männer St. Torins Schrein die Ehre erweisen – ein unablösbarer Tribut, um überhaupt den weiten See überqueren zu dürfen, der sich zwischen den Bergen und Dhassa erstreckte. Und dann erst konnten sie die Freistadt Dhassa betreten, wohin nicht einmal ein gekröntes Haupt ohne das Einverständnis der städtischen Bürgerschaft zu gehen wagte; aber Morgan kam ohnehin in Verkleidung. Und danach würden sie vor die Kurie Gwynedds hintreten. Durch das unablässige trübe Nieseln und die herabsinkende Dämmerung waren undeutlich Ruinen erkennbar, und Morgan zügelte sein Pferd zum Schritt, überschattete seine Augen mit behandschuhter Hand, um besser durch den Nebel spähen zu können. Der Blick seiner grauen Augen schweifte von einem Turm über Stufen zu einer geborstenen Mauer,
suchte nach Anzeichen dafür, daß sich bereits jemand dort eingenistet hatte; aber nichts deutete darauf hin. Sie konnten dort die Nacht sicher zubringen. Morgan ließ seine Füße aus den Steigbügeln rutschen, streckte die Beine, setzte sich im Sattel zurück und ließ die Füße baumeln, während sein Reittier sich durch das unebene Gelände vorwärtstastete. Hinter ihm beruhigte Duncan sein eigenes Tier, das in einem Schlammpfuhl ausgerutscht war und sich mit knapper Not auffangen konnte. Das Packpferdchen, welches Duncan folgte, schielte argwöhnisch nach jeder neuen schattenhaften Erscheinung, die sich voraus im Düstern regen mochte, und es scheute bei jedem Laut und der leisesten Bewegung, die sich auf der stürmischen Höhe des Tafelberges wahrnehmen ließen, und zerrte an der Leine. Männer und Tiere waren vom Ritt ermattet und bis aufs Gebein durchgefroren. »So – weiter reiten wir heute nicht«, erklärte Morgan, als sie sich dem zertrümmerten Tor näherten. Das dumpfe Schmatzen der Pferdehufe im Morast wechselte über zu einem gewöhnlichen Klickklack, als sie auf den gepflasterten Pfad gelangten, der in den alten Hof führte. Trotz des fortwährenden Regens lag eine unheimliche Stille über diesem Ort, und Duncan flüsterte nahezu wider Willen, als er sein Tier an die Flanke von Morgans Roß drängte. »Was ist das für eine Ruine, Alaric?« Morgan lenkte sein Pferd über die Schwelle einer zerfallenen Pforte und duckte sich, als sie einen zum Teil herabgebrochenen Balken unterquerten. »Sankt Neot. Vor der Restauration war die Abtei eine blühende Klosterschule, geleitet von einer rein deryni-
schen Bruderschaft. Während der Plünderung entweihte man die Kapelle, und einige Brüder erschlug man unmittelbar auf den Stufen des Altars. Die Bewohner der Umgebung, soweit hier welche sind, meiden die Ruine wie die Pest. Brion und ich ritten bisweilen hierher.« Morgan trieb sein Pferd in einen trockenen Raum, der noch einen Teil des Daches besaß, und begann beiläufig die Festigkeit der Balken über ihren Köpfen zu prüfen, indem er sich dagegen stemmte, während er weitersprach. »Demzufolge, was ich in Erfahrung bringen konnte, vermochte die Abtei sich mit der großen Hochschule zu Concaradine und mit der Varnaritischen Schule zu Grecotha zu messen, als sie in höchster Blüte stand. Natürlich genoß man damals als Deryni noch ein beachtliches Ansehen.« Er rüttelte am letzten Balken und brummte zufrieden, als dieser standhielt. Dann ließ er sich zurück in den Sattel sinken und klatschte in einer Gebärde der Endgültigkeit die Hände zusammen. »Na, ich schätze, dies eignet sich als trockener Schlafplatz. Jedenfalls wird das Dach nicht über uns zusammenbrechen.« Beim Absteigen schaute er sich nachlässig um; offenbar war er mit dem Innern der Ruine vertraut. Nach einem Weilchen hatten er und Duncan den Pferden die Sättel abgenommen und das Gepäck an einer trockenen Wand aufgestapelt. Und als Morgan aus dem Stall im hinteren Bereich der Ruine zurückkehrte, wo er die Pferde angebunden hatte, bereitete Duncan bereits auf einem sorgsam geschürten Feuer in einem Winkel die abendliche Mahlzeit. Morgan schnupperte beifällig, als er seinen triefnassen Umhang und die Handschuhe abstreifte; lebhaft rieb er sich die Hände überm Feuer. »Hmmm, ich begann
schon zu wähnen, ich könne meine Glieder niemals wieder erwärmen. Du hast dich selber übertroffen, Duncan.« Duncan rührte im Topf, dann fing er in einer seiner Satteltaschen zu suchen an. »Du ahnst nicht, wie nahe wir der Gefahr waren, auf ein Feuer verzichten zu müssen, mein Freund. Das Holz feucht, und ich mußte eine Stelle wählen, wo man's von draußen nicht sehen kann... Was war dies für eine Räumlichkeit?« »Das Refektorium, wie ich glaube.« Morgan sammelte aus trockenen Spalten ein paar Handvoll Zweiglein auf und lagerte sie neben dem Feuer. »Dort rechts waren die Küche, die Ställe und die Schlafgemächer der Brüder. Die Abtei ist in ärgerem Zustand, als ich's in Erinnerung hatte. Seit ich zuletzt hier war, müssen einige sehr harte Winter durch dies Land gezogen sein.« Erneut rieb er seine Hände aneinander und blies hinein. »Kann man das Feuer nicht ein wenig stärker entfachen?« Duncan lachte verhalten, als er einen Weinschlauch entkorkte. »Nein, nicht, es sei denn, du willst jedermann in Dhassa von unserer Ankunft unterrichten. Glaub mir, es war unerhört schwer, einen geschützten Winkel für bloß solch ein Feuerchen zu finden. Betrachte es als einen Segen.« Morgan lachte. »Deine Worte leuchten mir durchaus ein. Ich verspüre keine größere Lust als irgendein anderer, mich am Halse aufhängen oder ihn mir abschneiden zu lassen.« Er sah zu, wie Duncan Wein in zwei kleine kupferne Becher füllte und in jeden Becher einen kleinen, glutheißen Stein versenkte. Die Steine zischten und dampften, als sie mit dem kalten
Wein in Berührung kamen. »Und wie mir einfällt«, fügte Morgan hinzu, »haben die Dhassaner sich einige gänzlich neuartige Gewohnheiten angeeignet, mit Kundschaftern umzugehen, zumal mit solchen derynischen Schlages.« »Erspare mir Einzelheiten«, entgegnete Duncan. Er holte die Steine heraus und reichte einen Becher seinem Vetter. »Hier, trink. Das ist der Rest vom fiannischen Wein.« Morgan ließ sich neben das Feuer plumpsen, seufzte und trank Wein; er war heiß, kräftig, erwärmte den Leib bis hinab in die Eingeweide. »Ein Jammer, daß man eine solche Köstlichkeit in Dhassa nicht kennt. Nichts tut wohler als fiannischer Wein, ist man durchfroren und müde. Es würgt mich im Halse, wenn ich nur an das Gesöff denke, das wir in den nächsten Tagen hinunterzuschütten gezwungen sein werden.« »Wobei du natürlich unterstellst, daß wir lange genug am Leben bleiben.« Duncan grinste. »Und daß die frommen Dhassaner dich nicht erkennen, bevor wir bei unseren ehrenwerten Erzbischöfen sind.« Er lehnte sich an die Mauer und trank genüßlich. »Weißt du, daß die Dhassaner, weil ihr Wein so schlecht ist, sogar bei der Kommunion Bier verwenden?« »Das ist doch sicherlich ein schlechter Scherz?« »Nein, ich weiß es aus zuverlässiger Quelle. Sie nehmen Meßbier.« Er beugte sich vor und rührte im Topf. »Wünschst du nun zu essen?« Eine Viertelstunde später hatten sie die trockensten Stellen für ihr feldmäßiges Bettzeug ausfindig gemacht und bereiteten sich zum Schlafe vor. Duncan versuchte, beim schwachen Schein, den die letzte Glut der Feuerstelle
erzeugte, in seinem Brevier zu lesen; Morgan legte sein Schwert weg und kauerte sich auf die Fersen, um hinaus in die Dunkelheit zu starren. Der Wind heulte durch die Ruine, begleitet vom Geräusch des Regens, der allmählich nachließ. Und nahe im Dunkeln, im Stall, ertönte das Scharren eiserner Hufe über Schutt. Irgendwo in der Ferne schnarrte einmal ein Nachtvogel und ließ sich darauf nicht wieder vernehmen; inmitten der Stille betrachtete Morgan noch für ein Weilchen das Glosen des Feuers, dann stand er mit einem Ruck auf und raffte den Umhang um seine Schultern. »Ich glaube, ich mache einen kurzen Rundgang«, murmelte er, während er die Spange seines Umhangs schloß, und entfernte sich vom Feuer. »Irgend etwas Verdächtiges?« Morgan senkte den Blick verlegen auf seine Stiefel und schüttelte den Kopf. »Vor Jahren ritten Brion und ich häufig durch diese Berge. Das ist alles. Soeben habe ich mich wieder daran erinnert.« »Ich glaube, ich verstehe dich.« Morgan zog fest die Kapuze ums Haupt, trat aus dem Kreis des Feuerscheins und in die nasse Finsternis, die jenseits lag. Er dachte verschwommen an Brion, noch nicht ganz dazu bereit, den Erinnerungen, die mit diesem Ort verbunden waren, freien Lauf zu lassen; nach einer Weile bemerkte er, daß er unterm zum Himmel offenen, da ausgebrannten Dach der alten Kapelle stand. Beinahe selbst überrascht, sah er sich um, denn es war nicht seine Absicht gewesen, sich hierher zu begeben. Die Kapelle war groß gewesen. Obwohl die rechte Mauer und ein Großteil des Gemäuers hinterm Altar seit langem zusammengebrochen waren, ent-
weder durch den ursprünglichen Brand oder unter der Jahre Last, und obschon die letzten Glasscherben längst aus den hohen Lichtgaden herabgefallen waren, haftete diesen Trümmern noch immer eine Aura von Weihe an. Nicht einmal der gotteslästerliche Mord an derynischen Mönchen in eben diesem Raum hatte gänzlich die eindrucksvolle Ruhe zerstören können, welche Morgan stets mit geweihtem Boden verband. Er musterte den verwüsteten Altarbereich aufmerksamer, und fast war ihm, als erkenne er auf den Stufen dunklere Flecken; doch dann schüttelte er aus Mißbilligung über die Zügellosigkeit seiner Vorstellungskraft das Haupt. Die derynischen Mönche, die hier starben, waren seit zweihundert Jahren tot, ihr Blut längst von den wolkenbruchartigen Regenfällen fortgewaschen, welche in jedem Frühling und Herbst über die Berge hereinbrachen. Sollten die Mönche wirklich jemals als Geister in den Ruinen St. Neots gespukt haben, wie die Mären der Bergbauern behaupteten, so hatten sie seit langem den Frieden gefunden. Er wandte sich ab und entfernte sich durch eine erhaltene Pforte an der Rückseite des verödeten Kirchenschiffs; er lächelte, als er sah, daß die Treppe des Glockenturms noch betretbar war, obwohl ihre Kanten zerbröckelten. Er tastete sich hinauf, indem er sich dicht an der Außenmauer hielt und seine Schritte mit Achtsamkeit wählte, denn die Stufen waren übersät mit Schutt. Als er den ersten Treppenabsatz betreten hatte, schob er sich an der Mauer entlang zum Fenster, schlang den ledernen Umhang enger um den Leib und setzte sich. Wie lange war's her, seit er zuletzt an diesem Fenster gehockt hatte? fragte er sich, als er im Finstern um sich blickte. Zehn Jahre? Zwan-
zig? Nein, entsann er sich; er war vierzehn gewesen – und ein paar Monde mehr. Er hob seine Füße aufs Fenstersims und stemmte sie an den Fensterrahmen gegenüber, die Knie angewinkelt; und gab sich seinen Erinnerungen hin. Im Herbst war's gewesen – Novemberanfang. In jenem Jahr hatten die Blätter spät zu fallen begonnen, und er und Brion waren in aller Morgenfrühe aus Coroth aufgebrochen, um einen ihrer allzu seltenen Streifzüge ins Land zu unternehmen, bevor das Schlechtwetter einsetzte. Der Tag war klar und frisch, und man spürte eben erst einen Hauch vom Herannahen des Winters; Brion war in seiner gewöhnlichen guten Laune gewesen. Als er vorschlug, Morgan möge ihm die alte Ruine zeigen, hatte der junge derynische Edle unumwunden zugestimmt. Damals war Morgan schon nicht mehr Brions Knappe gewesen. Im Jahr zuvor hatte er sich an Brions Seite im Kampf gegen den Marluk bewährt. Außerdem war er fünfzehn und daher nach gwyneddischem Gesetz im Mannesalter, und er war aus eigenem Recht Herzog von Corwyn. Deshalb trug er, während er neben Brion ein feuriges schwarzes Streitroß ritt, den smaragdgrünen corwynischen Greifen auf seinem schwarzen, ledernen Wappenrock, statt in Brions karmesinrote Tracht gekleidet zu sein. Die Pferde schnoben und schnauften zufrieden, als ihre Reiter sie am Portal zur alten Kapelle zügelten. »Schaut da«, hatte Brion gerufen, als er seinen weißen Hengst ins Innere lenkte und seine Augen mit einer Hand überschattete, um in die Runde zu spähen. »Alaric, mich dünkt, die Treppe des Glockenturms ist erhalten geblieben. Wir wollen uns einmal droben umsehen.« Er
ließ sein Reittier um ein paar Schritte zurückweichen und sprang dann aus dem Sattel; die Zügel aus rotem Leder ließ er herabhängen, so daß das Tier geruhsam grasen konnte, derweil sie den Turm erkundeten. Morgan stieg ebenfalls ab und folgte Brion in die zerstörte Kapelle. »Dies muß zu seiner Zeit ein ehrwürdiger Ort gewesen sein«, äußerte Brion, stieg über einen Balken hinweg und bahnte sich einen Weg durch Trümmer und Schutt. »Wie viele lebten hier, glaubt Ihr?« »Im ganzen Kloster? Etwa zwei- bis dreihundert Leute, dürfte ich mit Recht glauben können, Sire. Natürlich einschließlich Knechte und Klosterschüler. Soweit ich Bescheid weiß, muß der Orden weit über hundert Brüder vereint haben.« Brion erklomm die ersten Stufen der Treppe; seine Stiefel stießen Bruchstücke von Mauersteinen und Mörtel hinab, während er behutsam Schritt um Schritt aufwärts tat. Seine helle, lederne Reitkleidung hob sich wie ein roter Fleck gegen das verwitterte Grau des Turmes ab, und der schneeig weiße Federbusch an seiner scharlachroten Jagdhaube wippte munter über seiner Schulter, dieweil er die Treppe erstieg. Er knurrte, als sein Fuß ausglitt und er beinahe den Halt verlor, jedoch das Gleichgewicht bewahren konnte und den Aufstieg fortsetzte. »Habt acht, wohin Ihr tretet, mein Gebieter«, rief Morgan und beobachtete Brion voller Sorge, während er sich ihm anschloß. »Bedenkt, daß diese Stufen mehr als vierhundert Jahre alt sind. Bricht die Treppe zusammen, wird Gwynedd eines Königs beraubt.« »Ha, Ihr seid zu zaghaft, Alaric«, lautete Brions Antwortruf. Er erreichte den untersten Treppenabsatz
und trat ans Fenster. »Schaut hier hinaus. Man kann den halben Weg nach Coroth zurückblicken.« Als Morgan an seine Seite trat, säuberte Brion das Fenstersims von Steinbrocken und Glasscherben, indem er den Schutt mit einer Bewegung seiner durch einen Handschuh geschützten Hand hinabfegte, dann nahm er leichtfertig darauf Platz, einen Fuß an den jenseitigen Fensterrahmen gestemmt. »Seht dort«, sprach er und wies mit seiner Reitpeitsche auf die Berge im Norden. »Ein Mond noch, dann werden sie mit Schnee bedeckt sein. Und dann, vom Schnee bedeckt, werden sie ebenso schön aussehen wie jetzt, da sich der erste Frost in den Bergweiden festsetzt.« Morgan lächelte und lehnte sich an den Fensterrahmen. »Noch müßte man droben gut jagen können, Sire. Seid Ihr Euch darin gewiß, daß Ihr nicht doch ein Weilchen länger in Coroth bleiben wollt?« »Ach, Ihr wißt, es kann nicht sein, Alaric«, gab Brion zur Antwort und zuckte ergeben die Achseln. »Die Pflicht ruft nach mir mit lauter und beharrlicher Stimme. Finde ich mich nicht binnen einer Woche wieder in Rhemuth ein, verfallen meine Ratsherren in eine Erregung wie eine Herde aufgescheuchter Weibsbilder. Ich glaube, sie vermögen es noch nicht so recht zu fassen, daß der Marluk tot, daß der Krieg vorüber ist. Und dann ist da ja noch Jehana.« Ja, und dann ist da noch Jehana, dachte mit Mißmut Morgan. Für einen Augenblick wagte er sich das Bild der jungen Königin mit dem nußbraunen Haar vorzustellen – dann verdrängte er es hastig aus seinem Bewußtsein. Alle Hoffnung auf ein freundliches Verhältnis zwischen ihm und Jehana war an dem Tag verflogen, da sie erfuhr, er war ein Deryni. Das ver-
mochte sie ihm nicht zu verzeihen, und genau das war's, das er nicht ändern konnte, hätte er's auch gewollt. Es hatte keinen Zweck, sich jetzt dazu zu äußern. Er würde Brion lediglich an die Enttäuschung erinnern, die er nicht zu beheben vermochte, ihn daran erinnern, daß zwischen seiner Königin und seinem besten Freund niemals etwas anderes als Abscheu sein sollte. Morgan beugte sich über Brions angewinkeltes Bein und blickte übers Fenstersims hinab. »Seht, Sire«, sagte er und wechselte den Gesprächsstoff, »Derah hat ein paar Grashalme aufgespürt, die noch nicht vom Frost verkümmert sind.« Brion sah hinunter. Morgans schwarzes Schlachtroß zupfte etwa zwanzig Fuß weit vom Turm entfernt an einem Büschel grünen Grases. Brions Hengst war um einige Ellen weiter zur Rechten abgewandert und begnügte sich damit, lustlos in einem Gewucher bräunlichen Klees zu schnuppern; einen seiner großen Hufe hatte er gewichtig auf seine roten Lederzügel gestellt. Brion schnob, lehnte sich wieder zurück und kreuzte die Arme auf der Brust. »Hmmpf! Dieser Kedrach ist ein so dummes Pferd, daß ich mich bisweilen frage, wie er die eigene Nase wiederfindet. Man sollte meinen, das törichte Tier käme auf den Einfall, den Fuß zu heben – aber nein, es wähnt, es sei angebunden.« »Ich habe Euch davon abgeraten, Pferde aus Llannedd zu kaufen, Sire.« Morgan lachte unterdrückt. »Aber Ihr wolltet nicht auf mich hören. Die Llannedditen züchten auf Aussehen und Schnelligkeit, aber sie scheren sich wenig ums Hirn. Die Pferde aus R'Kassi...« »Schweigt!« befahl Brion in gespielter Entrüstung.
»Ihr flößt mir ein Gefühl der Unterlegenheit ein. Und ein König darf sich nie und nimmer unterlegen fühlen.« Erneut versuchte Morgan ein Lachen zu unterdrücken und hielt nochmals Ausschau über die Ebene. Plötzlich sah er, daß sich ein halbes Dutzend Reiter näherte, und indem seine höchste Aufmerksamkeit erwachte, berührte er Brion sacht am Ellbogen. »Sire...?« Während die beiden den Reitern entgegensahen, erkannten sie in der Faust eines der vorderen Reiters Brions karmesinrotes Löwenbanner. Und daneben ritt eine stämmige Gestalt in orangefarbener Gewandung, die nur Herr Ewan sein konnte, der mächtige Herzog von Claibourne. Ewan mußte im selben Moment Brions rote Reitkleidung erspäht haben, denn er richtete sich ruckartig in den Steigbügeln auf und ließ einen rauhen bergländischen Kriegsschrei erschallen, als er und seine Begleitung sich unterm Donner von Hufen dem Turm zuwandten. »Alle Teufel, was...?« murmelte Brion, stellte sich ans Fenster und schaute erwartungsvoll hinab, als Ewan und seine Begleiter inmitten einer Staubwolke ihre Tiere zügelten. »Sire!« brüllte Ewan, dessen Augen fidel funkelten, und sein roter Bart und ebensolches Haupthaar wehten im Wind, als er Brions Banner an sich riß und voller Triumph schwang. »Sire, Ihr habt einen Sohn! Der Thron von Gwynedd hat einen Erben!« »Einen Sohn!« Brion ächzte, und sein Kinn sank gleichsam ehrfürchtig herab. »Mein Gott, es sollte doch noch ein Mond vergehen!« Aus freudigem Stolz leuchteten seine Augen auf. »Ein Sohn! Alaric, hört Ihr das?« Während er das brüllte, packte er Alaric bei
den Armen und tanzte mit ihm einen halben Kreis. »Ich bin Vater! Ich habe einen Sohn!« Er ließ Morgan los, kehrte sich frohgemut wieder zum Fenster und schrie zu seinen Mannen hinab, die laut jubelten. »Ich habe einen Sohn!« Dann polterte er die Treppe hinunter, dichtauf gefolgt von Morgan, und seine Stimme hallte wie ein Freudengesang durch die öde Ruine. »Ein Sohn! Ein Sohn! Alaric, hört Ihr das? Ich habe einen Sohn!« Morgan seufzte schwer und rieb sich mit den Händen das Antlitz. Er verweigerte es dem Gram, ihn zu überwältigen; dann lehnte er die Stirn an den Fensterrahmen. Viele Jahre waren seither verstrichen. Der Jungmann Alaric war nun Feldmarschall des Königlichen Heeres und ein mächtiger Lehnsherr – wenn auch gegenwärtig ein wenig in Bedrängnis. Und Brion ruhte unterm Rhemuther Dom in der Gruft seiner Ahnen, Opfer eines mittels Magie vollbrachten Meuchelmordes, den auch Alaric nicht zu verhindern vermocht hatte. Und Brions Sohn – »Ein Sohn! Ein Sohn! Alaric, hört Ihr das? Ich habe einen Sohn!« – war nun vierzehn, ein Mann und überdies König von Gwynedd. Morgan schaute aus über die Ebene, so wie er und Brion es vor jenen vielen Jahren getan hatten; er stellte sich vor, er sähe wieder die Reiter über die Ebene nahen; dann hob er den Blick zum nebelhaft verschleierten Nachthimmel. Im Osten ging ein ausgebuckelter Mond auf und brachte die wenigen Sterne, welche hell genug schienen, um die Wolkendecke zu durchdringen, zum Erblassen. Und Morgan schaute für einen langen Moment zu diesen Sternen empor, ehe er schließlich seine Füße zurück
auf den Boden setzte, um sich zum Lagerplatz zu begeben. Es wurde spät. Alsbald müßte Duncan sich wegen seines Ausbleibens ernsthaft Sorgen machen. Und der morgige Tag mit dem Versteckspiel, das zu erwarten stand, und der Begegnung mit den verstockten Erzbischöfen würde früh genug anbrechen. Mit Umsicht stieg er die Treppe wieder hinunter; diesmal, da der Mond nun die Ruine zu erhellen begann, fiel ihm der Weg leichter. Er betrat das Kirchenschiff und hatte die Kapelle fast zur Hälfte durchquert, als ein schwacher Glanz am jenseitigen Ende des Raumes, links des zerstörten Altares, seine Aufmerksamkeit erregte. Er verharrte und wandte den Kopf in diese Richtung; und seine Miene verhärtete sich, als der Schimmer nicht verschwand.
11 »Ich aber erwecke einen von Mitternacht, und er kommt vom Aufgang der Sonne. Er... geht über die Gewaltigen wie über Lehm, wie ein Töpfer, der Tonerde tritt.« Jesaja 41,25 Vielleicht zehn Herzschläge lang stand Morgan vollständig reglos, während unwillkürlich, indem er nach Gefahr tastete, seine derynischen Sinne erwachten. Noch schien das Mondlicht sehr schwach, aber es befand sich dort im Dunkel zur Linken ganz eindeutig irgend etwas, das glänzte. Er erwog, ob er einen Anruf wagen solle, denn es konnte Duncan sein. Aber... nein. Seine verschärften Sinne hätten Duncan längst erkannt. Falls drüben jemand oder etwas in den Schatten lauerte, dann war es Morgan unbekannt. Vorsichtig und vom Wunsch geplagt, sein Schwert mitgenommen zu haben, lenkte Morgan seine Schritte im Kirchenschiff nach links, um die Erscheinung zu untersuchen; als er den Seitengang erreicht hatte, glitten seine Fingerkuppen, während er dahinhuschte, über die Außenmauer. Er hatte sich kaum geregt, da war der Schimmer entschwunden, und nunmehr konnte er sehen, daß es in diesem Winkel der Ruine nichts Ungewöhnliches gab. Doch inzwischen war Morgans Neugier geweckt. Was mochte nach so vielen, vielen Jahren derartig hell geschim-
mert haben? Glas? Eine flüchtige Spiegelung des Mondlichts in einer Pfütze? Oder etwas Bedrohliches? Aus der Richtung des verwüsteten Altars ertönte ein leises Rascheln, und Morgan wirbelte herum, erstarrte, das Stilett rutschte in seine Faust. Weder hatte ihn seine Vorstellungskraft genarrt noch der Mond in eine Pfütze geschienen. Dort war etwas! Die Sinne bis zum äußersten angespannt, wartete Morgan; er rechnete halb damit, auf einmal die spektrale Gestalt eines seit langer Zeit toten derynischen Mönchs aus dem Altar schweben zu sehen. Beinahe hatte er von neuem entschieden, daß sein ermüdeter Geist ihn in der Tat täuschte, da sprang plötzlich aus ihrer Deckung eine große graue Ratte und lief schnurstracks auf ihn zu. Aus Überraschung knurrte Morgan auf und wich dem Tier aus, dann entließ er mit einem Seufzlaut den Atem und lachte leise, während die Ratte entfloh. Er widmete den Trümmern des Altars einen letzten Blick, wobei er sich insgeheim einen Narren schalt, und strebte mit frischem Mut den Seitengang hinab. Die Ecke, welche schon zuvor Morgans Aufmerksamkeit angezogen hatte, war noch teilweise überdacht, aber der Boden war uneben und übersät mit Schutt. Im Gemäuer befand sich hier eine schmale, waagerechte Steinplatte, die noch erhalten war, obschon ihre Kante gesprungen und abgeschlagen war wie von wuchtigen Hieben. In der Nische, die darüber aufragte, mußte früher ein marmornes Bildnis gestanden haben. Nun waren davon bloß noch die Füße übrig – diese, die angeschlagene Platte, ein Haufen Bruchstücke und Glasscherben; stumme Überbleibsel jenes schrecklichen Tages und jener ebenso
schrecklichen Nacht vor zweihundert Jahren, als Rebellen das Kloster verheert hatten. Morgan lächelte, als er die abgebrochenen Füße betrachtete, und fragte sich, wer dieser unglückliche Heilige gewesen sein mochte, dessen Füße, die in Sandalen staken, noch immer inmitten der geborstenen Träume dieses Ortes verharrten. Dann fiel sein Blick auf eine längliche Scherbe silbrigen Glases, und er erkannte, daß er den Ursprung jenes unbestimmbaren Schimmers entdeckt hatte. Auf der Platte und darunter lagen überall silbrige und rubinrote Scherben verstreut, Trümmer eines zerschmetterten Mosaiks, das einstmals den Sokkel der Säule unmittelbar oberhalb der Steinplatte geziert hatte. Die Plünderer hatten es zerschlagen, gerade so wie sie die Standbilder zerschmetterten, das bunte Glas der Lichtgaden zertrümmerten, die marmornen Kacheln und Fliesen zerbrachen und den kostbaren Altarschmuck zerstörten. Morgan wollte sein Stilett zu Hand nehmen, um diese trügerische Scherbe, die noch in ihrem ursprünglichen Platz saß, aus dem Stein zu klauben, aber dann hielt er inne. Dies Stücklein hatte den Rebellen, dem Zahn der Zeit und den Elementen widerstanden. Konnte der unbekannte Heilige, zu dessen Ehre man das Mosaik einst geschaffen hatte, das gleiche von seinen menschlichen Anhängern behaupten? Schwerlich, befand Morgan. Selbst der Name des Heiligen war nun unbekannt und verloren. Oder nicht? Morgan spitzte versonnen die Lippen und strich mit den Fingern über die schartige Kante der Steinplatte; dann beugte er sich vor, um sie näher zu begutachten. Wie er vermutet hatte, waren Buchstaben in den Stein gemeißelt, deren verwickelte Verschlungenheit vor zwei
Jahrhunderten der Wut der Plünderer fast völlig zum Opfer gefallen war; bemühte man ein wenig seinen Verstand, konnte man die beiden ersten Wörter erraten: JUBILANTE DEO – eine für solche Standbilder herkömmliche gebräuchliche Wendung. Das nächste und übernächste Wort dagegen waren aufs ärgste beeinträchtigt. Er vermochte die Buchstaben S-CTV – herauszuschälen, wahrscheinlich sanctus. Doch das allerletzte Wort, des Heiligen Name... Schließlich ergründete er ein schadhaftes C, ein A, dann am Ende ein zerbröckeltes S. CA-----S. CAMBERVS? Sankt Camber? Verblüfft stieß Morgan einen gedämpften Pfiff aus, als er sich aufrichtete. Wieder St. Camber, der derynische Patron der Magie. Kein Wunder, daß die Plünderer hier so gründlich ans zerstörerische Werk gingen. Er staunte gar, daß sie soviel, wie er noch sah, übriggelassen hatten. Er entfernte sich einige Schritte weit und schaute zerstreut umher; in ihm regte sich der Wunsch, mehr Zeit zur Verfügung zu haben, um noch zu bleiben und die Ruine näher zu erforschen. Sollte dies wahrhaftig ein St. Camber geweihter Winkel der Kirche sein, so stand die Aussicht gut, daß sich in der Nähe eine Porta Itineris befand. Doch auch wenn sie noch brauchbar war – und das mußte man nach so zahlreichen Jahren anzweifeln –, konnte er sie schwerlich nutzen. Die einzigen anderen derartigen Portae, die er kannte, gab es in Rhemuth, in Duncans Arbeitszimmer und in der Sakristei des Domes, und dorthin wollte er gegenwärtig nicht. Ihr Bestimmungsort war Dhassa. Nach aller Wahrscheinlichkeit war sein Einfall ohnehin lächerlich. Eine solche Einrichtung, vermochte er sie auch zu finden, mußte längst zerstört sein. Aber er konnte ohne-
hin nicht die Zeit aufbringen, um danach zu suchen. Indem er ein Gähnen unterdrückte, ließ Morgan seinen Blick ein letztes Mal in die Runde schweifen, winkte den Füßen des Heiligen wie zum Abschied nachlässig zu und schlug langsam den Weg zurück zum Lagerplatz ein. Morgen sollten sie Antwort auf viele Fragen erhalten, wenn sie vor der gwyneddischen Kurie standen. Was die Nacht anging, so hatte es wieder zu regnen begonnen; vielleicht half das ihm beim Einschlafen. Für einen Mann namens Paul de Gandas sollte es in dieser Nacht keinen Schlaf geben. Inmitten der Wälder, nur wenige Meilen vom Ort entfernt, wo Morgan und Duncan schliefen, spähte Paul voraus in die Regenschleier, die herabrauschten, und ließ sein Pferd zum Schritt verlangsamen, als er sich dem verborgenen Berglager Warin de Greys näherte. Sein mit Schaum bedecktes Pferd schnaufte und keuchte laut und blies aus seinen Nüstern Paare weißlicher Dampfblumen in die kalte Nachtluft. Paul, selber durchnäßt bis auf die Haut und mit Schlamm vollgespritzt, nahm seinen Spitzhut ab und richtete sich im Sattel ein wenig auf, als er in Reichweite des ersten Vorpostens gelangte. Seine Maßnahme war die Unbill wert. Denn die Wachen mit ihren verdunkelten Laternen konnten ebenso rasch aus dem Finstern über ihn herfallen wie ihn erkennen und im Schatten verbleiben, mit dem Dunkel verschmolzen. Alsbald enthüllte das Funkensprühen und Flackern von Fackeln im Regen die dunklen Umrisse von Zelten. Und als Paul ans erste Zelt am Lagerrand kam, sprang ein junger Bursche herbei, der das gleiche Falkenwappen
trug wie Paul, um sich des Pferdes anzunehmen; er rieb sich den Schlaf aus den Augen und musterte den Reiter voller Verwirrung. Paul nickte zum Gruß, als er zittrig vom Pferd glitt; ungeduldig schaute er übers Lager aus, soweit der Fackelschein es erlaubte, während er seinen durchtränkten, besudelten Umhang enger raffte. »Ist Warin im Lager?« erkundigte sich Paul und streifte sich feuchtes Haar aus der Stirn, bevor er wieder seinen Hut aufsetzte. Ein älterer Mann in hohen Stiefeln und einem Umhang mit Kapuze war herangetreten, als Paul die Frage stellte, und nun nickte er Paul gemessen zu und gab dem Jüngling ein Zeichen, er möge sich mit dem Pferd entfernen. »Warin befindet sich in einer Beratung, Paul. Er möchte nicht gestört werden.« »Beratung?« Paul streifte die nassen Handschuhe ab und begann dem Verlauf des Trampelpfades zu folgen, der zur Mitte des Lagers führte. »Mit wem? Wer's auch sein mag, ich glaube, Warin dürfte Wert darauf legen, das zu erfahren, was ich entdeckt habe.« »Selbst auf das Wagnis hin, Erzbischof Loris zu verstimmen?« fragte der Ältere und lächelte zufrieden, als er sah, wie Pauls Unterkiefer herabsank. »Ich glaube, Paul, der gute Erzbischof wird unsere Sache unterstützen.« »Loris – hier?« Ungläubig lachte Paul auf, dann spaltete ein Grinsen sein rauhes Antlitz von Ohr zu Ohr, und er schlug seinen Gefährten begeistert auf den Rücken. »Mein Freund, du ahnst nichts vom unerhörten Glück, das wir in dieser Nacht haben. Nun
weiß ich, daß Warin die Nachricht, die ich bringe, willkommen heißen wird!« »Ihr versteht also meine Haltung«, sagte Loris. »Da Morgan sich weigert, seinen Hochmut aufzugeben und seinen Ketzereien abzuschwören, bin ich dazu gezwungen, einen Kirchenbann in Erwägung zu ziehen.« »Was Ihr vorschlagt, ist gänzlich klar«, entgegnete Warin in kühlem Ton. »Ihr gedenkt Corwyn von allen Wohltaten des Glaubens auszuschließen, ahnungslose Seelen der Not und womöglich ewiger Verdammnis auszuliefern, ihnen die Tröstungen der Sakramente zu nehmen.« Er betrachtete seine gefalteten Hände. »Wir stimmen darin überein, daß man Morgans Treiben unterbinden muß, Erzbischof, aber ich kann nicht Eure Mittel billigen.« Warin saß auf einem kleinen Feldstuhl, wider die Kälte in eine bernsteingelbe, mit Pelz besetzte Robe gehüllt. Vor ihm, in der Zeltmitte, loderte hell ein gut gehütetes Feuer, die einzige Stelle am Boden, die nicht bedeckt war von lohbraunem Sackleinen oder Teppichen. Loris, dessen burgundische Reitkleidung vom Ritt feucht und beschmutzt war, saß in einem ledernen Faltstuhl zur Rechten Warins – im Stuhl, den sonst der Rebellenführer persönlich belegte. Hinter Loris stand im eintönig schwarzen Priesterrock Monsignor Gorony, die Hände wechselseitig in die Ärmel geschoben. Eben erst war er von seinem Besuch beim Bischof von Corwyn zurückgekehrt, und seine Miene blieb gleichmäßig undurchschaubar, während er dem Gespräch lauschte. Warin verklammerte seine langen Finger ineinander, stützte seine Unterarme auf die Knie und starrte mür-
risch hinab auf den Vorleger zwischen seinen Füßen. »Kann ich nichts tun, um Euch diesem Schritt abgeneigt zu machen, Eure Exzellenz?« Loris vollführte eine Geste der Hilflosigkeit und schüttelte ernst sein Haupt. »Ich habe alles versucht, dessen ich fähig war, aber sein Bischof, Tolliver, er verhielt sich wenig tatkräftig. Hätte er Morgan exkommuniziert, wie ich's von ihm ersucht hatte, wäre die gegenwärtige Zwangslage vielleicht vermeidbar gewesen. Nun jedoch muß ich die Kurie zusammenkommen lassen und...« Er verstummte, als jemand die Zeltlasche beiseite schlug, und herein trat ein von Morast bespritzter Mann mit dem Falkenwappen auf seinem verdreckten Umhang. Der Mann riß sich den Hut vom Haupt und grüßte, indem er mit der rechten Faust auf seine Brust pochte, dann nickte er, um wortlos Nachsicht zu erbitten, hinüber zu Loris und Gorony. Warin blickte verwirrt auf und schnitt eine finstere Miene, als er den Ankömmling erkannte; doch er erhob sich unverzüglich und eilte zum Zelteingang, wo der Mann wartete. »Was gibt's, Paul?« erkundigte sich Warin, pflügte eine Hand durch sein bereits zerrauftes Haar und zog Paul näher zur Zeltklappe. »Ich habe Michael gesagt, daß während des Erzbischofs Anwesenheit nicht gestört werden möchte.« »Ich bin guter Hoffnung, daß Ihr diese besondere Störung verzeihen werdet, wenn Ihr meine Neuigkeit vernommen habt, Herr«, erwiderte Paul und verhehlte ein Lächeln; unwillkürlich sprach er mit leiser Stimme, so daß Loris nichts verstehen konnte. »Kurz vorm Anbruch der Dunkelheit habe ich auf der Landstraße nach St. Torin Morgan gesehen. Er und ein Be-
gleiter nächtigen in der alten Ruine des Klosters St. Neot.« Warin packte Paul bei den Schultern und starrte ihm fassungslos ins Antlitz. »Bist du dessen ganz sicher, Mann?« Plötzlich war er merklich erregt, und seine Augen, deren Blick sich in Pauls Augen bohrte, funkelten vom Eifer. »O mein Gott«, murmelte er wie zu sich selber, »du hast ihn in unsere Hände gegeben!« »Meine Vermutung ist, daß er sich auf dem Wege nach Dhassa befindet, Herr.« Paul grinste. »Vielleicht könnte man ihm einen angemessenen Empfang bereiten.« Warins Augen glitzerten, als er herumwirbelte und sich an Loris wandte. »Habt Ihr das vernommen, Exzellenz? Man hat Morgan bei der Ruine St. Neot gesehen, er ist unterwegs nach Dhassa.« »Was!« Loris sprang heftig auf, das Antlitz verzerrt vor Wut. »Morgan unterwegs nach Dhassa? Wir müssen ihn aufhalten!« Warin schien ihn nicht zu hören; er hatte damit begonnen, ruhelos auf den Auslagen des Zeltinnern hin und her zu schreiten, seine schwarzen Augen glommen von innerer Anspannung. »Hört Ihr mich, Warin?« sprach Loris ihn erneut an; er musterte Warin mit befremdeter Miene, während der Rebellenführer das Zelt durchmaß. »Das ist eine derynische Tücke, die er ersonnen hat, um uns in die Irre zu leiten. Er will sich morgen der Kurie aufdrängen. Mit seinen derynischen Schlichen könnte es ihm gar gelingen, einige meiner Bischöfe von seiner Unschuld zu überzeugen. Ich weiß, daß er sich keineswegs meiner Amtshoheit zu beugen beabsichtigt.«
Warin schüttelte sein Haupt, und seine Lippen verzogen sich zu einem matten Lächeln, aber er blieb nicht stehen. »Nein, Exzellenz, auch ich glaube nicht, daß er daran denkt, sich zu unterwerfen. Aber ich werde es ihm auch nicht gestatten, die Kurie zu spalten. Vielleicht ist's nun an der Zeit, daß wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten, Morgan und ich. Vielleicht ist der Zeitpunkt da, um zu zeigen, was stärker ist – seine fluchwürdigen Zauberwerke oder die Macht des Herrn, Paul...« Er wandte sich wieder an den Mann am Eingang. »Stell einen Trupp von etwa fünfzehn Männern zusammen, die noch vorm Morgengrauen mit mir nach St. Torin reiten.« »Ja, Herr.« Paul machte eine Verbeugung. »Und sobald Seine Exzellenz fort ist, wünsche ich nicht nochmals gestört zu werden, es sei denn, es handelt sich um wichtige Dinge. Ist das klar?« Paul verneigte sich erneut und verließ das Zelt, um Warins Anweisung auszuführen. Loris' Miene dagegen bezeugte Verblüffung, als Warin sich wieder ihm zukehrte. »Ich bin mir nicht gewiß, ob ich Euch recht verstehe«, bekannte Loris und nahm in der Absicht wieder Platz, unbedingt auf einer Erklärung zu beharren. »Sicherlich seid Ihr doch nicht etwa dazu entschlossen, Morgan anzugreifen?« »Seit vielen Monden erwarte ich eine solche Gelegenheit, um den Deryni zum Kampf zu stellen, Eure Exzellenz«, antwortete Warin, sein verschleierter Blick schien Loris nicht zu sehen. »In St. Torin, das er durchqueren muß, will er nach Dhassa, vermöchte ich ihn wohl zu überraschen, ihn vielleicht gar zum Gefangenen zu machen. Im schlimmsten Falle dürfte
er im Ergebnis verhindert sein, sich in die Angelegenheiten der Kurie einzumischen. Im günstigsten Falle... nun, dann werdet Ihr Euch womöglich niemals wieder um diesen Deryni sorgen müssen.« Loris schnitt eine düstere Miene und begann mit unruhigen Fingern über die Falten seines Gewands zu streichen. »Ihr würdet Morgan töten, ohne ihm die Möglichkeit einzuräumen, seine Sünden zu bereuen?« »Ich bezweifle, daß es im Jenseits für seinesgleichen irgendeine Hoffnung gibt, Exzellenz«, entgegnete Warin in scharfem Ton. »Von den Tagen der Schöpfung an waren die Deryni eine Ausgeburt des Satans. Ich glaube nicht, daß sie die Erlösung erlangen können.« »Vielleicht nicht«, erwiderte Loris und erhob sich, um vor den Rebellenführer zu treten und ihn aus seinen strengen blauen Augen zu mustern. »Ich glaube allerdings, daß es nicht bei uns liegt, diese Entscheidung zu fällen. Morgan muß wenigstens die Möglichkeit zur Reue erhalten. Dies Recht wollte ich nicht einmal dem Teufel selber versagen, trotz der mannigfachen Gründe, die ich besitze, um Morgan zu hassen. Um einen Mann leichtfertig zu verdammen, ist die Ewigkeit eine zu lange Zeit.« »Nehmt Ihr ihn etwa in Schutz, Erzbischof?« erkundigte sich Warin bedächtig. »Vernichte ich ihn nicht, solange ich dazu die Gelegenheit habe, kann's zu spät sein. Gewährt man dem Teufel eine zweite Möglichkeit? Liefert man sich wissentlich seiner Macht aus, wenn man dazu imstande ist, es zu vermeiden? ›Fliehe die Versuchung‹, hat einmal jemand gesagt, will mich dünken.«
Zum erstenmal, seit sie das Zelt aufgesucht hatten, räusperte sich Gorony und widmete Loris einen angelegentlichen Blick. »Darf ich etwas bemerken, Exzellenz?« »Worum geht's, Gorony?« »Wenn Eure Exzellenz gestatten, es gibt ein Mittel, um Morgan wehrlos zu machen, so daß sich auf seine Seele Rücksicht nehmen ließe. Man könnte ihn daran hindern, seine Fähigkeiten einzusetzen, derweil man darüber berät, wie man am besten mit ihm verfährt.« Warin runzelte die Stirn und starrte Gorony argwöhnisch an. »Wie wäre das durchführbar?« Gorony sah hinüber zu Loris, dann sprach er weiter. »Es gibt eine Droge, von den Deryni Merascha genannt, die nur gegen Personen ihrer Art wirkt. Sie umnebelt ihren Geist und nimmt ihnen die Fähigkeit, ihre finsteren Kräfte anzuwenden, solange die Wirkung der Droge anhält. Könnte man vom Merascha beschaffen, sollte man's nicht benutzen, um Morgans Widerstand zu brechen?« »Eine derynische Droge?« Nachdenklich furchte sich Loris' Stirn, und seine Brauen zogen sich zusammen; seine Miene war plötzlich verdüstert. »Das mißbehagt mir, Gorony.« »Und mir auch!« knurrte in heftigem Ingrimm Warin. »Um Morgan zu schlagen, will ich mich keiner derynischen Heimtücken bedienen. Täte ich's, wahrlich, ich wäre ja nicht besser als er!« »Wenn Ihr gestattet, Herr«, sagte Gorony geduldig, »wir haben es mit einem ungewöhnlichen Gegner zu tun. Um einen solchen zu überwinden, muß man bisweilen ungewöhnliche Wege wählen. Immerhin geschähe es doch für eine gute Sache.«
»Das ist wahr, Herr Warin«, pflichtete ihm der Erzbischof vorsichtig bei. »Und es verringerte für Euch zumindest das irdische Wagnis. Gorony, was schlagt Ihr vor, auf welche Weise man ihm diese Droge verabreichen könnte? Morgan dürfte kaum zusehen, wie Ihr sie in seinen Trank gießt oder Euch mit irgendeiner anderen List versucht.« Gorony lächelte, und sein mildes, ausdrucksloses Antlitz wies plötzlich einen diabolischen Anflug auf. »Das könnt Ihr getrost mir überlassen, Exzellenz. Herr Warin sprach davon, sich am Schrein St. Torins auf die Lauer zu legen. Ich stimme ihm zu. Mit Euerer Exzellenz Erlaubnis werde ich ohne Verzug das Merascha besorgen und damit am Morgen zu Herrn Warin und seinen Mannen stoßen. Beim Schrein ist ein Mönchsbruder tätig, der uns dabei helfen wird, die Falle sorgsam zu stellen. Ihr, Exzellenz, solltet in aller Eile nach Dhassa zurückkehren, damit Ihr Euch auf die morgige Zusammenkunft der Kurie vorbereiten könnt. Sollte ich unglücklicherweise nicht von Erfolg beschieden sein, so ist Euch nach wie vor die Möglichkeit eines Kirchenbannes gegeben.« Loris dachte über den Vorschlag nach, wog alle etwaigen Folgen und Nebenerscheinungen ab und musterte endlich den Rebellenführer von der Seite. »Nun, Warin?« fragte er und hob zur Betonung der Frage eine Braue. »Was meint Ihr? Gorony steht Euch bei Morgans Ergreifung zur Seite, bleibt so lange bei Euch, bis Morgan, sollte er sich zur Abbuße entschließen, die Beichte abgelegt hat. Danach gehört Morgan Euch, und Ihr könnt mit ihm nach Eurem Belieben verfahren. Hat dies Vorgehen Erfolg, wird's nicht erforderlich sein, über Corwyn den Kirchen-
bann zu verhängen. Ihr vermöchtet Euch das Verdienst anzurechnen, ein solches Unheil von Corwyn abgewendet zu haben, und ich erachte es für höchst wahrscheinlich, daß man Euch zu Corwyns neuem Landesherrn erhebt. Und ich – ich wäre von der schweren Pflicht befreit, ein ganzes Herzogtum mit allem Zorn der Kirche zu strafen, um das Böse eines einzigen Mannes auszutilgen. Schließlich ist ja das geistliche Wohlergehen des Volkes mein Hauptanliegen.« Versonnen starrte Warin für einen langen Moment zu Boden, dann erteilte er mit einem langsamen Nikken sein Einverständnis. »Nun gut, Eure Exzellenz. Wenn Ihr sagt, es könne meine Seele nicht beflecken, wenn ich eine derynische Droge benutze, um Morgan gefangenzunehmen, so bin ich verpflichtet, Eurem Wort Glauben zu schenken. Ihr seid der Primas von Gwynedd, und ich muß mich in einer solchen Angelegenheit auf Eure Entscheidung verlassen, will ich ein wahrer Sohn der Kirche bleiben.« Loris nickte beifällig und erhob sich. »Ihr seid überaus weise, mein Sohn«, versicherte er und gab Gorony einen Wink, um den Aufbruch anzuzeigen. »Ich werde darum beten, daß Euch Erfolg beschieden sei.« Er streckte seine Hand mit dem Amethystsiegelring aus, und nach kurzem Schweigen sank Warin auf ein Knie und berührte den Stein mit seinen Lippen. Doch des Rebellenführers Augen spiegelten einen stürmischen inneren Aufruhr wider, als er sich erhob, und er wich Loris' Blick aus, während er den Erzbischof zur Zeltlasche begleitete. »Der Herr sei mit Euch, mein Sohn«, murmelte Loris und reckte seine Hand, indem er am Eingang verharrte, zu einem fei-
erlichen Segen empor. Dann trat er hinaus; Warin stand reglos und stumm. Er wandte sich ab und ließ seinen Blick durchs Zeltinnere wandern – Zeltbahnen aus grobem, gegerbtem Leder, das breite Feldbett mit einem grauen Fellüberwurf, die beiden feldmäßig faltbaren Stühle am Feuer, die mit Leder bezogene Truhe auf der anderen Seite, das schlichte, hölzerne Betpult in einer Ecke, an dem der unruhige Feuerschein die Härte und Abgenutztheit der Kniestütze offenbarte. Langsam schritt Warin hinüber zum Betpult und rührte mit der Hand an ein schweres Brustkreuz, das an seiner Kette über einer Armlehne hing, dann klammerte seine Faust sich fest um das gewichtige Silber. »Habe ich recht gehandelt, Herr?« flüsterte er, drückte Kreuz und Kette an seine Brust, schloß inbrünstig seine Augen. »Ist es wahrhaft gerechtfertigt, sich derynischer Hilfsmittel zu bedienen, um Deinen Willen zu erfüllen? Oder habe ich in meinem Eifer, Dir wohlgefällig zu sein, Deine Ehre angetastet?« Er fiel am Betpult auf die Knie und vergrub das Antlitz in seinen Händen, ließ das kalte Silber durch seine Finger gleiten. Gewähre mir Deinen Beistand, o Herr, ich flehe Dich an! Hilf mir, damit ich erkenne, was ich tun muß, wenn ich morgen unters Angesicht Deines Widersachers trete.
12 Wenn wie ein Ungewitter euch der Schrecken naht... Sprüche 1,27 Seit fast drei Stunden war's bereits hell, als Morgan und Duncan durch den nördlichen Bereich des Gunury-Passes ritten. Der Tag war klar und hell, jedoch ein wenig zu kalt; in der frischen Morgenluft regten die Pferde ihre Füße mit Munterkeit. Sie rochen Wasser, denn der Jaschansee lag gleich jenseits der Bäume, die rings um St. Torins Schrein wuchsen, kaum noch eine halbe Meile voraus. Ihre Reiter, mittlerweile vom langen, beschwerlichen Gewaltritt des Vortages erholt, hielten beim Dahinreiten müßig ins Umland Ausschau, ein jeder bei sich in eigene Mutmaßungen darüber vertieft, was der Tag bescheren mochte. Jener Teil des märkischen Berglandes, wo zwischen den Bergen Dhassa eingebettet lag, war ein Waldgebiet, bewachsen von hohen Bäumen und belebt von vielerlei Arten von Wild und anderem jagbaren Getier, durchsetzt von lebhaften Bächen und Seen, aber seltsamerweise äußerst arm an eigenem Gestein. Natürlich standen die Wälder auf einem Sockel aus Fels, und es gab durchaus einige Flecken, wo der Stein ans Licht kam und überwog, wo nichts gedeihen wollte, aber dergleichen sah man nur auf den Gipfeln des Berglandes, weit oberhalb der Waldgrenzen, und Menschen hatten dort nichts zu suchen. Infolgedessen errichteten die Bewohner Dhassas ihre Häuser
und Siedlungen aus Holz; denn Holz war in riesigen Mengen und großer Vielfalt greifbar, und die Feuchtigkeit der Bergluft minderte sehr die Brandgefahr. Selbst der Schrein, den Morgan und sein Verwandter in kurzer Frist erreichen sollten, war aus Holz – Holz in allen, schier zahllosen Schattierungen und Beschaffenheiten des Gewebes, welche das Land bieten konnte. Und ein solcher Schrein war in diesem Land recht und angemessen; denn Torin war ein Waldheiliger gewesen. Wie es Torin gelungen war, seine Heiligsprechung zu begründen, war eigentlich noch Gegenstand von Vermutungen. Wenig Tatsachen waren über St. Torin von Dhassa herauszufinden, aber um so mehr Legenden konnte man hören, und davon waren einige zweifelhafter Herkunft. Man wußte, daß er ungefähr fünfzig Jahre vor der Restauration gelebt haben sollte, zur Zeit der Höhe derynischer Macht während des Interregnums. Allgemein glaubte man, daß er der Sproß einer armen, aber edlen Familie berühmter Jäger gewesen sei, deren männliche Abkömmlinge stets Erbhüter der weiten Wälder im Norden gewesen sein sollten. Aber nur wenig wußte man mit Gewißheit. Man sagte ihm nach, er habe Gewalt über die Tiere der Wälder besessen, die er hütete, und viele Wunder vollbracht. Auch erzählte man, einmal hätte er einem der ruhmreichen Könige Gwynedds das Leben gerettet, als dieser an einem stürmischen Oktobermorgen in den Königlichen Waldungen jagte – aber niemand vermochte zu sagen, wie das sich denn zugetragen habe. Nichtsdestoweniger hatte man St. Torin schon bald nach seinem Tode zum Patron ganz Dhassas gemacht; und seine Verehrung war für dies Bergvolk zu einem we-
sentlichen Bestandteil des Daseins geworden. Weiber waren allerdings von der Mitwirkung in diesem Kult ausgeschlossen; sie hatten zum Anrufen ihre St. Ethelburga. Erwachsene Männer jedoch, gleichwohl aus welchem Lande sie stammten, mußten zuerst zum Schrein St. Torins pilgern, wollten sie die Freistadt Dhassa von Süden betreten, und am Schrein erhielten sie eine blanke Hutspange aus Zinn, welche sie als Gläubige auswies. Danach erst, nachdem sie St. Torin geehrt hatten, durften sie ihren Weg zu den Fährleuten fortsetzen, deren Aufgabe es war, die Ankömmlinge über den weiten Jaschansee nach Dhassa selbst zu befördern. Von der Pilgerschaft abzusehen, war lediglich dazu geeignet, einen unfreundlichen Empfang auszulösen – um es gelinde auszudrücken. Wäre es auch jemandem gelungen, einen Fährmann zu bestechen und auf solche Art den See zu überqueren – ihn zu umrunden, war unmöglich –, so würde sich doch schwerlich ein Wirt oder Herbergsvater finden, der sich mit einem Gast einließ, welcher nicht die erwähnte Pilgerspange trug. Und nahezu gewißlich mußten alle Bestrebungen, in der Stadt ernsthaft Geschäften nachzugehen, auf ähnlichen Widerstand stoßen. Im Hinblick auf ihren Heiligen waren die Dhassaner überaus störrisch. Und sobald sich erst herumgesprochen hatte, daß Reisende ohne Pilgerspangen in der Stadt weilten, also nicht die erforderliche Ehrerbietigkeit zeigten, kamen rasch wirksame Druckmittel zur Anwendung. Folglich geschah es kaum, daß Reisende sich den Artigkeiten an St. Torins Schrein verweigerten. Der Sammel- und Warteplatz, wohin Morgan und Duncan ihre Pferde lenkten, war matschig und gra-
sig, eine kleine, zum Teil eingefriedete Wiese unmittelbar neben der Landstraße, wo Reisende und ihre Pferde rasten oder die Männer sich auf die Ehrung St. Torins vorbereiten konnten. Die äußere Seite der Umzäunung zog die Aufmerksamkeit durch ein grobes Holzstandbild des Waldheiligen an; die hölzerne Gestalt hatte die Arme ausgestreckt zum Segen erhoben. Und über die Häupter der Pilger hatten hohe, triefnasse Bäume ihre knorrigen Äste ausgebreitet. Mehrere Männer auf dem Platz trugen bereits die Spange an ihren Kopfbedeckungen, die bezeugte, daß sie der Auflage der Heiligenehrung inzwischen nachgekommen waren und hier lediglich noch Rast hielten. Drüben an der Kapelle zog soeben ein schmächtiger Mann in Jägertracht, der Gewandung Morgans und Duncans ähnlich, seine Haube vom Schopf und trat durch das hölzerne Portal. Morgan und Duncan stiegen ab und banden ihre Pferde an einen Eisenring; etliche solcher Ringe waren in einem niedrigen Steinwall verankert. Morgan öffnete das Kinnband seiner ledernen Haube und verdrehte den Hals, um die Steifheit seines Nackens zu vertreiben. Er hätte das Haupt gern entblößt, doch wäre er damit die Gefahr eingegangen, daß irgendwer ihn erkannte – ein Wagnis, das er meiden mußte, wollte er sich der Hoffnung hingeben können, unbehelligt und rechtzeitig die erzbischöfliche Kurie zu erreichen. Nur äußerst wenige Männer von Morgans stattlicher Gestalt besaßen überdies den Schmuck goldenen Haupthaars; er mußte die Möglichkeit, erkannt zu werden, so gering wie nur machbar halten. Duncan musterte die Reisenden auf der anderen Seite des Platzes, dann richtete er seinen Blick verstohlen wieder hinüber zur
Kapelle und beugte sich ein wenig näher zu seinem Vetter. »Sonderbar, wie sie in dieser Gegend mit Holz umgehen können«, bemerkte er mit gedämpfter Stimme. »Die Kapelle scheint geradezu gleich aus dem Boden gewachsen zu sein, als hätten nicht Menschenhände sie errichtet, sondern wäre sie gleich einem Pilz über Nacht aus dem Erdreich erstanden.« Morgan lachte leise, dann blickte er um sich, um zu schauen, ob irgend jemand es gemerkt habe. »Heute früh geht dir dein Vorstellungsvermögen durch, Vetter«, schalt er nachsichtig und bewegte beim Sprechen kaum die Lippen, während er sich weiter umsah. »Die Dhassaner sind seit Jahrhunderten für ihre Kunstfertigkeit in der Holzverarbeitung berühmt.« »Das mag sein«, meinte Duncan. »Dennoch bereitet mir dieser Ort irgendwie ein unheimliches Gefühl. Spürst du nichts dergleichen?« »Nur die stets gleiche Aura der Geweihtheit wie an jedem Ort eines Heiligtums«, antwortete Morgan und musterte seinen Vetter mit einem Seitenblick. »Vielleicht sogar etwas schwächer als sonst. Bist du dessen sicher, daß dich nicht dein priesterliches Gewissen stichelt?« Duncan schnob unterdrückt. »Du bist ein ganz und gar unerträglicher Kerl. Weißt du da? Hat dir das schon einmal jemand offenbart?« »Sehr oft, und zwar mit wundersamer Regelmäßigkeit«, gab Morgan zu, indem er lächelte. Er schaute sich ein letztes Mal um, damit er's wahrnehme, falls sie ungewöhnliche Aufmerksamkeit erregten, dann trat er näher zu Duncan, und seine Miene wurde ernster. »Übrigens vergaß ich's«, murmelte er, wobei er seine Lippen wiederum kaum regte, »dir zu
erzählen, was für ein Schrecken mir gestern abend in die Glieder fuhr.« »Ach?« »Anscheinend war der Seitenaltar in der Kapelle von St. Neot einmal St. Camber geweiht. Für kurze Zeit hatte ich dort den Eindruck, es werde mich erneut eine Vision heimsuchen.« Duncan rang die Anwandlung nieder, herumzuwirbeln und seinen Verwandten anzustarren. »Und kam's so?« fragte er; es kostete ihn hörbar Mühe, weiterhin leise zu reden. »Ich habe eine Ratte aufgescheucht«, gab Morgan zur Antwort. »Davon abgesehen, fürchte ich, war's nur eine Einbildung. Du siehst also, du stehst nicht ganz allein.« Sein Blick verweilte auf einem Vorgang auf der Landstraße, der seine Aufmerksamkeit geweckt hatte, und versetzte Duncan einen Rippenstoß. Eben waren aus einer Biegung zwei Reiter gekommen; wahrscheinlich hatte die Tatsache, daß sie ihre Pferde im Schritt gehen ließen statt im Trab, seinen Blick angezogen. Die Reiter trugen eine gleichartige Tracht in Königsblau und Weiß, und während Morgan und Duncan ihnen entgegensahen, folgte dem ersten ein zweites Paar so gewandeter Reiter, dann noch eines und ein weiteres. Sie zählten sechs Reiterpaare, bevor die kleine Kutsche um die Biegung rollte – eine Kutsche, die in den Zwischenräumen des Bretterwerks blaue Einsätze aufwies. Sie wurde von vier einander ähnlichen Rotschimmeln gezogen. Die Pferde trugen Decken und Federbüsche, beides ebenfalls in Blau und Weiß. Die Bewaffneten in ihrer Tracht hätten an diesem Frühlingsmorgen auf der verschlammten Landstraße nach Dhassa genug Auf-
sehen erregt, doch die prunkvolle Kutsche bestätigte das erste Empfinden – jemand von hohem Rang befand sich unterwegs nach Dhassa. Berücksichtigte man die Parteilosigkeit der Freistadt, konnte es sich dabei um nachgerade jeden Fürsten handeln. Dieweil die Kutsche und ihr Geleit sich näherten, kam der Pilger, welcher die Kapelle zuletzt betreten hatte, wieder heraus; die Torin-Spange blinkte matt an seiner spitzen Lederhaube. Da Morgan keinerlei Anstalten gemacht hatte, als nächster Pilger zum Schrein zu gehen, gürtete Duncan sein Schwert ab und hängte es an den Sattelknauf, dann strebte er mit lebhaften Schritten zur Kapelle. Man nahte sich dem Schrein St. Torins nicht mit Stahl an der Hüfte. Die Reiter hatten nun fast die Höhe von Morgans Standort erreicht. Während sie vorüberzogen, sah er den Glanz seidener Wappenröcke, hörte das gedämpfte Klirren von Kettenhemden darunter, das Schellen und Klingen von der Zaumzeuge, Gebißstangen und von Sporen und Geschirren. Die Zugpferde stelzten bis zu den Knien im Morast einher, als sie das Gefährt auf den Platz zerrten. Und dann kam die Kutsche mit einem heftigen Ruck zum Stehen, denn eines der Räder war im Schlamm festgefahren; die Pferde vermochten es nicht herauszuziehen. Der Kutscher prügelte mit seiner Peitsche auf die Tiere ein und brüllte sie an (wobei er allerdings, wie Morgan beiläufig mit Staunen feststellte, keine Flüche ausstieß); zwei Reiter ergriffen die beiden Leitpferde am Zaumzeug und suchten sie zusätzlich anzutreiben. Aber alle Anstrengungen blieben fruchtlos. Die Kutsche stak fest. Morgan sprang vom Steinwall und schnitt angesichts des steckengebliebenen Reiterzuges eine gefällige, erge-
bene Miene; er wußte, man würde ihn sogleich zur Dienstleistung pressen. Die Reiter in ihren Samtrökken hegten zweifellos nicht die Absicht, sich mit Kot zu bespritzen – nicht, solange Gemeine herumstanden, welche die Arbeit leisten konnten, die Kutsche aus dem Dreck zu befreien. Und seinem ganzen Äußeren zufolge war der Herzog von Corwyn heute ein Gemeiner; und er durfte sich nicht anders als ein solcher verhalten. »Ihr da!« rief auch schon prompt einer der Reiter, lenkte sein Tier in die Richtung Morgans und anderer Reisender, winkte mit seiner Reitpeitsche. »Kommt her und packt der edlen Dame Kutsche an!« Die Kutsche einer Dame war's also – kein Wunder, daß der Kutscher auf Verwünschungen verzichtete. Morgan verbeugte sich achtungsvoll und eilte zu dem festgefahrenen Rad, setzte seine Schulter dagegen und gab ihm einen wuchtigen Ruck. Das Gefährt rührte sich nicht. Ein zweiter Mann stemmte sich unterhalb Morgans Schulter gegen das Rad, und während sie ihre Muskeln für den nächsten Versuch anspannten, begaben sich mehrere weitere Männer an das gegenüber auf der anderen Seite befindliche Rad. »Sobald ich das Zeichen gebe«, rief der Reiter, indem er neben den Kutschbock ritt, »zieht ihr vorn am Zaumzeug, du läßt sie ein wenig die Peitsche spüren, und ihr, ihr Männer, ihr schiebt. Fertig, Kutscher?« Der Kutscher nickte und hob die Peitsche; Morgan tat einen tiefen Atemzug. »Also dann – vorwärts!« Die Pferde zogen an, Morgan und die übrigen Helfer warfen sich mit aller Kraft gegen die Räder, welche knarrten. Und dann rollte die Kutsche langsam aus dem Pfuhl. Der Kutscher lenkte das Gespann eine kurze Strecke wei-
ter und brachte es schließlich zum Stillstand. Der Reiterhauptmann ritt näher zu Morgan und den anderen Pilgern. »Euch allen der Lady Dank«, rief der Mann und hob gutmütig zum Gruß die Reitpeitsche. Morgan und die ebenfalls beteiligt gewesenen Pilger neigten ihre Häupter. »Und die Lady wünscht euch auch persönlich zu danken«, ertönte aus dem Innern der Kutsche eine helle, wohlklingende Stimme. Verblüfft schaute Morgan auf und blickte in ein Paar Augen, welche die blauesten Augen waren, die er jemals in einem makellos weißen Antlitz von unvergleichlicher Schönheit gesehen hatte. Dieses Antlitz war umrahmt von einer Wolke geschmeidigen, rotgoldenen Haars, an beiden Schläfen abwärts gelegt wie zwei Schwingen aus Feuer, dann rings ums Haupt zu einer Zopfkrone verflochten. Die zierliche Nase wölbte sich leicht aufwärts, der Mund war breit und besaß volle Lippen, deren Farbe nach herkömmlicher Vorstellung allein einer Rose gebühren dürfte. Diese unglaublich blauen Augen begegneten für einen flüchtigen Moment dem Blick Morgans – gerade lang genug, um ihren Anblick für immer seinem Gedächtnis einzuprägen. Dann war dieser Augenblick dahin, und Morgan faßte sich, trat zurück und vollführte eine unbeholfene Verbeugung. Noch rechtzeitig besann er sich darauf, daß er hier nicht der höfisch vornehme, glanzvolle Herzog Alaric Morgan war, und seine Äußerung fiel anders aus, als sie ihm ursprünglich auf der Zunge gelegen hatte. »Es ist Alain dem Jäger eine Freude, Euch zu Diensten zu sein, edle Dame«, murmelte er, während er erfolglos versuchte, ihr nicht nochmals in die Augen zu schauen.
Der Reiterhauptmann räusperte sich und griff ein; er senkte die Spitze seiner Reitpeitsche leicht, aber spürbar auf Morgans Schulter. »Das genügt, Jäger«, sagte er; seine Stimme nahm, als er sprach, jene Art von Schärfe an, die aus der Sorge um die eigene Zuständigkeit und Hoheit entsteht. »Gewiß, guter Herr«, murmelte Morgan und wich noch weiter von der Kutsche zurück, wandte dabei jedoch den Blick noch nicht zur Gänze von der Lady. »Gott sei mit Euch, edle Dame.« Als die Lady nickte und wieder hinterm Vorhang verschwinden wollte, schob sich plötzlich über die Unterkante des Fensters ein kleiner, zerzauster Rotschopf und betrachtete Morgan aus großen Augen. Die Dame schüttelte ihr Haupt und flüsterte in des Kindes Ohr, dann lächelte sie Morgan zu, bevor beide wieder hinter dem Vorhang verschwanden. Morgan grinste seinerseits, als das Gespann sich von neuem in Bewegung setzte und auf der Landstraße entfernte. Duncan kehrte aus der Kapelle zurück und schnallte sich wieder das Schwert um die Hüften; an seiner Jagdhaube stak eine Torin-Spange. Mit einem Seufzer wandte sich Morgan ab, begab sich zu ihren Pferden und entledigte sich dort des eigenen Schwertes. Dann überquerte er mit entschlossenen Schritten den geräumigen Platz und betrat den Vorraum der Kapelle. Besagter Raum war winzig und düster; als Morgan eintrat, betrachtete er interessiert das aus Holz geschnitzte Gitterwerk, das zu beiden Seiten des Zugangs die Wände zierte, und er bemerkte den hohlen Klang, den seine Stiefel auf dem parkettierten Holzfußboden hervorriefen. Am jenseitigen Ende des Vorraumes war eine schwere, reich mit Schnitzerei ge-
schmückte Flügeltür, durch welche man zum Schrein gelangte. Und hinter dem Gitterwerk zur Rechten war eine Gestalt. Morgan drehte das Haupt nach rechts und nickte. Das mußte der Mönch sein, welcher stets im Vorraum wachte – sowohl zum Zwecke, jenen Ankömmlingen, denen danach bußfertig der Sinn stand, die Beichte abzunehmen, wie auch dazu, den Schrein zu hüten und darauf zu achten, daß jeweils nur ein Pilger unbewaffnet hereinkam. »Gott segne Euch, frommer Bruder«, murmelte Morgan und hoffte, daß er einen zur Genüge gottesfürchtig klingenden Ton gefunden hatte. »Und Euch und die Euren«, erwiderte der Mönch in heiserem Flüstern. Um für den Segen zu danken, verbeugte sich Morgan kurz, dann näherte er sich der Tür. Als er seine Hände an die Türknäufe legte, hörte er den Mönch sich in seinem hölzernen Verschlag regen, und ihm kam der Gedanke, daß er sich womöglich zu überstürzt benahm. Er wandte sich um und sah zu dem Mann hinüber, wobei er hoffte, kein unerwünschtes Interesse gefunden zu haben; der Mönch räusperte sich. »Gedenkt Ihr zu beichten, mein Sohn?« Morgan schüttelte den Kopf und wollte schon die Türflügel einwärts drücken; doch da verharrte er plötzlich inmitten der Bewegung und neigte das Haupt nachdenklich zur Seite, den Blick auf das Gitter gerichtet. Vielleicht hatte er doch etwas vergessen. Ein mattes Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln, als er zum Leibgurt und in seine Börse griff, um eine kleine Goldmünze herauszuklauben. »Nein, guter Bruder, meinen Dank«, entgegnete er und unterdrückte sein Lächeln vollends. »Nehmt dies für Euren
frommen Rat.« Mit einer vorsätzlich linkischen, scheinbar verlegenen Geste hob er die Hand ans Gitterwerk und steckte die Münze durch einen schmalen Schlitz. Als er sich wieder der Tür zukehrte, hörte er, wie die Münze mit leisem Klingen eine Rille hinabrollte, und dem Geräusch folgte ein nicht sonderlich gedämpfter Seufzer der Erleichterung. »Geht in Frieden, mein Sohn«, vernahm er ein Murmeln des Mönches, als er durch die Türflügel trat. »Möget Ihr finden, wonach Ihr sucht.« Morgan schloß die Tür hinter sich und wartete, bis seine Augen sich auf die noch größere Düsternis eingestellt hatten, die im Innern der Kapelle herrschte. St. Torins Grabstätte war keine der eindrucksvollsten Art. Morgan hatte bereits größere und prachtvollere Grabstätten gesehen – solche, die für weit erhabenere und gebenedeitere Personen errichtet worden waren als dieser leicht zweifelhafte und nur innerhalb eines kleinen Landstriches verehrte Waldheilige. Aber dieser Ort besaß eine gewisse Art von eigentümlichem Zauber, welcher Morgan beinahe in seinen Bann zog. Zunächst einmal war da die Einzigartigkeit, daß man die Kapelle vollständig aus Holz gebaut hatte. Die Wände und die Decke bestanden aus Holz; der Altar, ein wuchtiger hölzerner Block, mußte aus einer riesenhaften Eiche gehauen sein. Den Fußboden bildeten schmale Leisten aus Hölzern der unterschiedlichsten Herkunft und Beschaffenheit, angeordnet in einem wunderbaren Zickzack- und Kreuzlagenmuster. Die Wände waren nur roh bearbeitet und wiesen grobe Schnitzwerke auf, lebensgroße Darstellungen des Leidensweges. Und die hohe, gewölbte Decke war mit rauhen Kreuzbalken verstrebt. Am stärksten
jedoch beeindruckte ihn die Stirnseite der Kapelle. Wer die Wand hinterm Altar auch geschaffen haben mochte, er war ein Meister seines Handwerks gewesen, hatte jegliche Holzart gekannt, welche dies Land hergeben konnte, und genau gewußt, wie man eine jede davon auf die günstigste Weise anbrachte und wie man sie voneinander abhob. Von den Seiten verliefen eingelegte Maserungen zur Mitte und gischteten hinterm Kreuz wie ein Ausbruch hölzernen Wassers empor, festgefroren in Zeitlosigkeit, ein Wahrzeichen des Ewigen Lebens, das wartete. Das Standbild St. Torins, das zur Linken aufragte, war in einem Stück aus dem knorrigen Stamm einer Eiche geschnitzt. Ein Gegensatz kennzeichnete das Kreuz vorm Altar – dunkles Holz, der Gekreuzigte aus hellem Holz; seine Gestalt war steif, starr, die seitwärts ausgestreckten Arme formten überm Leib eine strenge Waagerechte wie der Querbalken an einem T, das Haupt war aufrecht erhoben und blickte geradeaus. Dies war der König und Herrscher, nicht der Schmerzensmann am Kreuze. Morgan stellte fest, daß ihn diese kaltherzige Darstellung des Heilands abstieß. Sie schien die Menschlichkeit aufzusaugen, die Wärme und die Lebendigkeit wieder aufzuheben, welche die hölzernen Wände verbreiteten. Auch das Glimmen des Ewigen Lichtes und der goldene Glanz zahlreicher Opferkerzen, von Pilgern dargebracht, vermochten die kalte, unnahbare Erscheinung des Gekreuzigten kaum zu mildern. Zerstreut tauchte Morgan seine Finger in ein Weihwasserbehältnis zur Rechten der Tür und schlug das Kreuzzeichen, während er das schmale Kirchenschiff hinabschritt. Die nähere Begutachtung der Kapelle hatte seinen ur-
sprünglichen Eindruck von Durchlauchtigkeit zerstört; er war einem Gefühl des Unbehagens gewichen. Er vermißte die Klinge, die sonst an seiner Seite baumelte. Wenn er dies Bauwerk wieder verlassen hatte, würde er heilfroh sein. An einem kleinen Tisch in der Mitte des Kirchenschiffes blieb er stehen und entzündete eine dünne Kerze aus gelbem Wachs; so eine mußte der Pilger nach vorn tragen und am Altar darbringen. Als der Docht aufflackerte, kehrten seine Gedanken für einen kurzen Moment zurück zu jener Dame in der Kutsche, deren Haar im Sonnenschein in der gleichen Farbe geleuchtet hatte. Dann brannte die Kerze, Wachs rann herab auf seine Finger, und er mußte sich daranmachen, das Zeremoniell zu beenden. Die Pforte des Altargeländers war geschlossen. Morgan ließ sich auf ein Knie sinken und neigte vorm Altar das Haupt, bevor er seine Hand nach dem Schnappriegel an der Innenseite der Pforte ausstreckte. Jenseits des Altargeländers flackerten die Kerzen der Pilger auf einem Gestell vorm Bildnis des Heiligen. Als Morgan sich aufrichtete, öffnete sich der Schnappriegel mit einem scharfen Klicken, und als er die Hand fortnahm, kratzte der Handrücken an etwas Spitzem entlang, so daß sofort Blut floß. Instinktmäßig hob er die kleine Verletzung an den Mund. Eine seltsame Stelle, dachte er, während er die Pforte einwärts schwang, für ein so gefährliches Ding. Er beugte sich vor, um den Verschluß genauer zu betrachten, wobei er noch an seiner verwundeten Hand saugte. Und da begann sich der gesamte Raum um ihn zu drehen. Noch bevor er sich straffen konnte, spürte er, wie er in einen wilden Mahlstrom aus allen
Farben der Zeit abglitt. Merascha! schrie sein Verstand. Die Droge mußte irgendwie am Riegel hinterlistig angebracht worden sein. Und zusätzlich hatte er sie aus der Wunde gelutscht. Und schlimmer noch – es war nicht allein die Umnachtungswirkung des für alle Deryni unheilvollen Merascha, wogegen er ankämpfen mußte; überdies bedrängte eine fremde Wesenheit sein Bewußtsein, eine kraftvolle Macht von der Gewalt einer Flutwelle, die seinen Geist niederzuwalzen drohte, danach trachtete, ihn zu unterwerfen. Er stürzte auf Hände und Knie und bot alle Kräfte auf, um sich dagegen aufzulehnen, zugleich von der Furcht gepackt, daß es zu spät sei, daß der Angriff zu plötzlich erfolgt wäre, die Droge zu stark sein könne. Und dann erschien eine riesige Hand, die sich hinab nach ihm streckte, eine Hand, welche die ganze Kapelle auszufüllen schien, die das wabrige, verwaschene Licht ringsum verdunkelte, als sie sich um ihn schloß. Er versuchte auf geistiger Ebene nach Duncan zu rufen, während Schmerz seinen Verstand verwirrte, unternahm eine letzte Anstrengung, um die finstere Macht, die ihn zu überwältigen begann, doch noch abzuschütteln. Aber seine Mühe blieb vergeblich. Obwohl ihm zumute war, als müßten seine Schreie das Himmelsgewölbe zerreißen, war sich ein anderer, abgesonderter Teil seines Ichs dessen bewußt, daß jenes fremde Etwas auch sie aufsaugte wie ein Schwamm. Er bemerkte, wie er vollends niederbrach, und sein Schrei, als er in den abgründigen Strudel stürzte, war zur Lautlosigkeit erstarrt. Und dann gab es nicht länger irgend etwas außer Dunkelheit. Und Vergessen.
13 ... hinab zu den Kammern des Todes. Sprüche 7,27 Im Laufe der Viertelstunde, seit Morgan in die Kapelle gegangen war, hatte der Himmel sich merklich verfinstert. Der Warteplatz war inzwischen leer bis auf Duncan und die drei Pferde, und ein klammer, schwüler Wind wehte durch Duncans braunen Schopf, blies ihm lange Strähnen aus des Packpferdchens Schweif ins Angesicht, während er an des Tieres linkem Hinterbein rüttelte. Endlich gehorchte das Tier und hob seinen Fuß; Duncan stemmte den Huf in seinen Schoß und benutzte den Griff seines Dolches, um die restliche Schlammkruste abzulösen. Fern am Horizont grollte Donner und kündete ein weiteres Ungewitter an, und Duncan schaute, derweil er sich mit dem Huf befaßte, ungeduldig hinüber zur Kapelle. Was trieb Alaric so lange? Er hätte schon längst wieder zur Stelle sein müssen. Konnte irgend etwas mißlich verlaufen sein? Er gab den Pferdefuß frei und trat zurück, schob den Dolch in die Stiefelscheide. Es paßte nicht zu Alaric, soviel Zeit zu vergeuden. Sein Vetter war keineswegs ein nachlässiger Gläubiger, aber andererseits auch nicht der Mann, der unangemessen lang am Schrein eines zweifelhaften Bergund Waldheiligen verweilte, während die gwyneddische Kurie sich darauf vorbereitete, gegen ihn Beschlüsse zu fassen. Duncan runzelte die Stirn, lehnte sich an das Gepäck und schaute über des Pferdes
Kruppe hinweg zur Kapelle hinüber; er zog seine lederne Mütze ab und betastete die daran befestigte Torin-Spange, wirbelte die Kopfbedeckung um seine Finger. Vielleicht war wirklich irgend etwas mißraten. Womöglich sollte er lieber nach dem Rechten schauen. Mit einer Bewegung, die Entschlossenheit bezeugte, drückte Duncan sich die Mütze wieder aufs Haupt und begann sich ein zweites Mal der Kapelle zu nähern; plötzlich machte er jedoch kehrt und band die Pferde los – unter Umständen erwies sich ein eiliger Aufbruch als notwendig –, bevor er erneut den Platz überquerte. Als er den Vorraum betrat, entstand hinterm rechten Gitterwerk ein unruhiges Geräusch des Staunens, und unverzüglich sprach ihn jenes Mönches brüchige Stimme an. »Ihr dürft in dies Haus keine Waffen mitbringen. Ihr wißt das. Dies ist ein geweihter Ort.« Duncan schnitt eine Miene des Mißmuts. Ihm lag beileibe nicht daran, die hiesigen Bräuche zu verletzen, aber er hegte andererseits nicht die Absicht, sich unter den gegenwärtig unklaren Umständen zu entwaffnen. Sollte Alaric sich drinnen in Not befinden, lag es möglicherweise allein an ihm, Duncan, ihnen beiden den Ausweg freizukämpfen. Seine Linke hob sich nahezu unbewußt an des Schwertes Heft. »Ich suche den Mann, der hier vor einem Weilchen nach mir hereinkam. Habt Ihr ihn gesehen?« »Seit Ihr dem Schrein die Ehre erwiesen habt«, lautete die in hochmütigem Tone vorgetragene Antwort, »hat niemand die Kapelle betreten. Werdet Ihr nun mit Eurem Stahl, dessen Gegenwart dies Gotteshaus schändet, alsbald entschwinden, oder bin ich gezwungen, mir Beistand zu verschaffen?«
Mit scharfem Blick spähte Duncan durchs Gitterwerk, erfaßt von plötzlichem Argwohn wider den Mönch. »Wollt Ihr damit zum Ausdruck bringen«, meinte er dann bedächtig, »Ihr hättet keinen Mann in lederner Jagdkleidung und mit einer braunen Haube hereinkommen sehen?« »Wie ich Euch bereits gesagt habe, ist niemand hier. Und nun geht.« Duncans Lippen preßten sich zu einem dünnen, harten Strich zusammen. »Sicherlich stört's Euch nicht«, sprach er in frostigem Tonfall, »wenn ich mich davon selber überzeuge.« Das gesprochen, trat er zur Flügeltür und schwang deren Flügel auseinander. Er vernahm einen Aufschrei der Entrüstung, als er hindurchtrat und die Tür hinter sich schloß, aber er scherte sich nicht um des Mönches gedämpftes Schelten. Indem er seine derynischen Tastsinne erweckte, soweit er's wagte, um nach Gefahr zu forschen, schritt er hastig das Mittelschiff hinunter. Wie der Mönch behauptet hatte, hielt sich niemand in der kleinen Kapelle auf; zumindest gegenwärtig nicht. Aber da es nur einen Zu- und Ausgang gab, wohin sollte dann Alaric verschwunden sein? Duncan näherte sich dem Altargeländer und musterte mißtrauisch die Umgebung, verglich jede Einzelheit mit seinem vortrefflichen derynischen Gedächtnis. Auf dem Gestell am Altar waren keine neuen Kerzen hinzugefügt worden, doch lag eine angebröckelte, erloschene Kerze nahe bei den Altarstufen, von der er sich nicht entsann, sie schon zuvor bemerkt zu haben. Und die Pforte – war sie schon während seines Aufenthalts in der Kapelle geschlossen gewesen? Auf gar keinen Fall. Doch warum hätte Alaric sie schließen sollen?
Anders gefragt: Konnte Alaric sie geschlossen haben? Wenn ja, warum? Er wandte seinen Blick rückwärts zur Flügeltür und erkannte flüchtig eine magere, kahlköpfige Gestalt in brauner Mönchskutte, die davon in die Schatten huschte. Also hatte der kleine Mönch ihn beobachtet. Und wahrscheinlich kehrte er bald mit der Verstärkung wieder, wie er's angedroht hatte. Duncan richtete seine Aufmerksamkeit von neuem auf den Altar und beugte sich übers Geländer, um den Schnappriegel zu öffnen. Dabei sah er etwas, das vorher beileibe nicht vorhanden gewesen war, und verharrte inmitten der Bewegung. Es handelte sich um eine abgewetzte Jagdhaube aus braunem Leder und mit Knieband, die zerknautscht auf der anderen Seite drunten am Geländer lag. Alarics Haube? Ein schauderhafter Verdacht begann an Duncans Bewußtsein zu nagen; er streckte seinen Arm nach der Haube und erstarrte wiederum, als sein Ärmel den Schnappriegel streifte und unerwartet hängenblieb. Vorsichtig beugte er sich hinab, um den Riegel zu untersuchen, und da erspähte er die winzig Spitze von der Feinheit einer Nadel, woran er sich festgehakt hatte. Er befreite seinen Ärmel und nahm seine Hände fort in sicheren Abstand, dann beugte er sich tiefer, um den sonderlichen Dorn eingehender zu betrachten. Behutsam ließ er seine geistigen Fühler die Verriegelung ertasten. Merascha! Heftig schrak sein Geist vor der Erkenntnis zurück, und Duncan brach kalter Schweiß aus. Nur mühevoll vermochte er das Beben, das ihn befiel, zu unterdrücken und sich der Anwandlung zu widersetzen, unverzüglich und so schnell wie möglich die Flucht zu ergreifen. Er sank auf ein Knie und
stützte sich ans Geländer, zwang sich zu tiefen, geröchelten Atemzügen. Merascha. Nun begriff er alles – das Geschlossensein der Pforte, die Haube, das Machwerk am Schnappriegel. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie's sich abgespielt haben mußte: Alaric strebte, so wie er selbst, zum Altar, eine entzündete Kerze in der Hand... langte übers Geländer nach dem Riegel, wachsam gegenüber etwaigen Gefahren, die sich an diesem Ort verbergen mochten, aber nicht einmal im Traum darauf gefaßt, daß diese harmlose Vorrichtung für ihn die größte aller Heimtücken bereithielt... der Dorn zerriß bloßes Fleisch statt – wie bei ihm, Duncan – nur den Ärmel, entließ die Droge, welche den Verstand umnebelte, in den ahnungslosen Leib. Und jemand harrte in stillem Hinterhalt, wartete auf den richtigen Moment, um über den vom Merascha in seiner Abwehrkraft geschwächten derynischen Edlen herzufallen, ihn fortzuschleppen, einem ungewissen Schicksal entgegen. Duncan schluckte schwer und blickte sich um, plötzlich sich dessen bewußt, wie dicht davor er gestanden hatte, das Geschick seines Verwandten zu teilen. Nun mußte er sich sputen. Das aufgebrachte Mönchlein konnte schon im nächsten Moment mit seiner Verstärkung eintreffen. Doch ehe er diesen Bau verließ, mußte er versuchen, mit Alaric in Verbindung zu treten. Denn fand er nicht irgendeinen Hinweis darauf, wohin sein Vetter entschwunden war, besaß er nicht die leiseste Vorstellung, wo er überhaupt nach ihm Umschau halten sollte. Wie mochte er unbemerkt aus der Kapelle gelangt sein? Duncan wischte seine schweißige Stirn an der Schulter, bückte sich und zog die Lederhaube durchs
Geländer; er verdrängte seine aufgewühlten Empfindungen, klärte seinen Geist und tastete mit seinen Derynisinnen rundum. Er spürte das Od, welches der Haube anhaftete, den Schmerz, die Verwirrung, das Anschwellen der Schwärze; er erahnte einen Anflug der Qual, worin sein Verwandter sich die Haube vom gepeinigten Haupte gerissen hatte. Dann drang er nach draußen vor, streifte kurz die zahlreichen Fünkchen, welche die Bewußtheiten der Reisenden auf der Landstraße sein mußten; er nahm wahr, daß sich Waffenknechte in irgendeiner bestimmten Absicht herbeibeeilten, doch konnte er auf diese Entfernung selbige Absicht nicht durchschauen; er erkannte die dumpfe Schwärze eines Bewußtseins, das nur der kleingewachsene Mönch sein konnte, restlos erfüllt von Zorn wider den dreisten Eindringling, der sich dem verehrungswürdigen Schrein so rücksichtslos zu nahen gewagt hatte. Aber er stellte noch etwas fest. Der Mönch hatte Alaric doch gesehen. Aber er hatte ihn nicht gehen gesehen – und er rechnete auch gar nicht damit! Duncan hob seine Trance auf, erzitterte und sank mutlos gegen das Altargeländer. Er mußte sich wohl oder übel doch von hier hinwegheben, ohne mehr in Erfahrung gebracht zu haben. Der Mönch, der offenbar dabei mitgewirkt hatte, Alaric diese Falle zu stellen, würde alsbald mit den Bewaffneten hereinkommen. Und wollte Duncan künftig von irgendeinem Nutzen für Alaric sein, durfte er nicht zulassen, daß man auch ihn zum Gefangenen machte. Duncan seufzte und hob den Kopf, blickte sich letztmalig im Altarraum um; er mußte fort, und zwar unverzüglich. Aber wo war Alaric?
Er lag bäuchlings ausgestreckt, seine rechte Wange ruhte auf einer kühlen, harten Fläche, die übersät war mit etwas Rauhem, Sprödem. Und seine erste Wahrnehmung, als sein Bewußtsein zurückkehrte, war Pein – ein pochender Schmerz, dessen Herd irgendwo hinter seinen Augen saß und der bis in die Zehenspitzen reichte. Seine Lider waren geschlossen, und es schien, als könne er niemals wieder genug Kraft aufbringen, um sie zu öffnen; doch seine Besinnung kehrte zurück. Und mit jedem Pulsschlag schienen erneut tausend glühende Nadeln seinen Schädel zu durchbohren, so daß es ihm nahezu unmöglich war, einen klaren Gedanken zu fassen. Er kniff seine Augen noch fester zusammen und versuchte den Schmerz zu verdrängen, alle seine Anspannung und Aufmerksamkeit darauf zu richten, wenigstens einen Körperteil seines gepeinigten Leibes zu regen. Finger zuckten – links, vermutete er –, und er spürte unter den Fingerkuppen Schmutz und Stroh. Befand er sich unter freiem Himmel? Als er sich diese Frage stellte, merkte er, daß der Schmerz hinter seinen Augäpfeln in gewissem Maße nachgelassen hatte, und er entschied sich dafür, nun kurzentschlossen die Augen aufzuschlagen. Zu seiner nicht unerheblichen Überraschung gehorchten ihm seine Lider; für einen langen Moment jedoch wähnte er, daß er erblindet sei. Dann aber sah er seine eigene linke Hand, nur wenige Zoll weit entfernt von seiner Nase lag sie auf dem... Boden? Bedeckt mit Stroh? Und er erkannte, daß er nicht blind war, sondern lediglich in einem dunklen Raum; ein Zipfel seines Umhangs war ihm teilweise aufs Gesicht gefallen und behinderte seinen Blick zusätzlich. Sobald er seine gleichsam betäubten Sinne
auf diese Tatsache eingestellt hatte, vermochte er seine Sichtweite über seine Hand hinaus auszudehnen. Indem er noch immer nicht mehr bewegte als seine Augen, versuchte er die Umgebung zu erkennen, und er hatte wenigstens insofern Erfolg, als er nun Hell und Dunkel unterscheiden konnte; überwiegend waren die Umrisse ringsum dunkel. Er lag in einer Räumlichkeit, bei der es sich um eine riesengroße Halle oder ein solches Gewölbe handeln mußte, ganz aus Holz. Sein Blickfeld war begrenzt, solange er nicht die Stellung wechselte, aber was er sah, war eine Wand aus hohen, tiefen Bogengängen, schwach erleuchtet vom trüben Schein mehrerer Fackeln in schwarzen Eisenhaltern. In der Tiefe eines jeden Bogengangs sah er, von der Schatten Düsternis kaum unterscheidbar, eine hohe, reglose Gestalt bedrohlich aufragen, jede bewaffnet mit einem Speer und ausgestattet mit einer Tartsche, die irgendein Wappenzeichen aufwies. Er blinzelte und sah genauer hin, versuchte angestrengt, die Wappen zu erkennen – und bemerkte, daß diese Gestalten nichts anderes waren als Standbilder. Wo war er? Er wollte sich aufrichten und unternahm den Versuch, wie er sofort einsehen mußte, entschieden zu hastig. Es gelang ihm, sich auf die Ellbogen zu stützen und das Haupt um ein paar Zoll vom Boden zu heben; doch dann überwältigte ihn erneut das Schwindelgefühl, und alles schien sich noch weit ärger als zuvor um ihn zu drehen. Er senkte sein Gesicht auf die Hände und bemühte sich, dem Wirbeln zu entrinnen. Und schließlich entsann er sich inmitten der geistigen Umnebelung daran, wogegen er anzukämpfen hatte – die Benommenheit, welche die Nachwirkung von Merascha war; und so-
gleich erinnerte er sich auch an alles andere. Merascha. Am Altargeländer der Kapelle. Er war in die Falle getappt wie ein tölpelhafter Anfänger. Und der schale Nachgeschmack auf seiner Zunge bezeugte, daß er nach wie vor unterm Einfluß der Droge stand, die den Geist abstumpfte, daß er, wie seine gegenwärtige mißliche Lage auch beschaffen sein mochte, nicht seine Derynikräfte verwenden konnte, um sich herauszuwinden. Nachdem er nun die Quelle seiner Unannehmlichkeiten kannte, entdeckte er binnen kurzem, daß er zumindest die körperlichen Folgen der Droge in gewissem Grade abzuschwächen imstande war, die Taubheit zu vertreiben, die Übelkeit zu mindern. Behutsam hob er von neuem den Kopf, diesmal ein paar Zoll höher als zuvor, und da erblickte er rechts im Abstand von nur wenigen Fuß den Saum eines Gewandes aus schwarzer Wolle, dann einen reglosen grauen Stiefel, keine sechs Zoll entfernt von seinem Haupt. Sein Blick huschte nach beiden Seiten – weitere Stiefel, lange Umhänge, die den mit Stroh ausgelegten Boden berührten, die Spitzen blanker Schwerter; und er wurde sich der Gefahr bewußt und begriff, daß es sich empfahl, augenblicklich auf die Beine zu kommen. Doch jede Bewegung seiner verkrampften Beine erwies sich als Tortur; er zwang seinen Körper nachgerade mit Gewalt zum Gehorsam. Langsam stemmte er sich empor auf Hände und Knie; als er sich aufraffte, hob er zugleich den Blick, und indem er's tat, war er sich darüber im klaren, daß so gut wie gar keine Hoffnung darauf bestand, dieser graue Stiefel könne zufällig leer und herrenlos sein. Und wirklich stak im Stiefel ein Bein, und daneben stand ein zweiter, gleichartiger Stiefel mit einem Bein darin,
und über den Beinen saß ein Leib in grauer Kleidung. Morgan sah verschwommen auf der Brust des Mannes ein Falkenwappen. Und als er seinen Blick weiter erhob, auf die eindringlichen schwarzen Augen, die auf ihn herabstarrten, sank Morgans Mut vollends. Nun war er mit Gewißheit verloren. Denn der Mann mit dem Falkenwappen auf dem Gewand konnte kein anderer sein als Warin de Grey. Schon wollte Duncan auf dem Absatz kehrtmachen, um die Kapelle zu verlassen, da verharrte er und betrachtete nochmals den Altarraum. Etwas war noch ungeklärt. In irgendeiner Hinsicht war er nicht allen Spuren nachgegangen, die sich finden ließen – und vielleicht mißachtete er somit etwas, das möglicherweise Alarics Leben rettete. Die Kerze, die er vorhin gesehen hatte wo war sie? Erneut lehnte er sich übers Altargeländer und sah die Kerze links vom Mittelläufer an den Altarstufen liegen. Er machte bereits Anstalten, nach dem Schnappriegel zu greifen, aber inmitten der Bewegung erstarrte er, als er sich der Gefahr entsann, die an selbigem Verschluß lauerte; dann schwang er ein Bein übers Geländer und kletterte hinüber. Unruhig widmete er dem Eingang einen Blick, bevor er sich an der Kerze niederkauerte und nachdenklich ihre Lage betrachtete. Dann streckte er die Hand aus und stieß sie vorsichtig mit dem Zeigefinger an. Wie er vermutet hatte, war die Kerze noch warm, das Wachs rund um den Docht war noch weich und knetbar. Er vermochte sogar noch eine überaus geringfügige Spur von Alarics Od daran zu erahnen, nahm den Ausbruch von Pein und Entsetzen wahr, der stattfand, ehe sie seinen Händen ent-
fiel. Verdammnis! Alles das wies auf irgend etwas hin, das ihm bisher entgangen war; er wußte es genau. Alaric mußte jenseits des Altargeländers gewesen sein. Er hatte noch die Pforte durchquert. Die Kerze lag zu nahe am Altar, um einfach dorthin gerollt zu sein. Aber wohin hätte Alaric von diesem Standort aus verschwinden können? Während er rings um die Kerze den Fußboden untersuchte, erspähte er auf dem bloßen Holz Wachströpfchen; eine feine Fährte aus gelbem Wachs verlief von der Kerze bis zu einer Stelle gleich links vom Läufer, der zum Altar führte. Neben dem Läufer war das Wachs flachgedrückt und verschmiert, als habe jemand darauf getreten, bevor es genug Zeit zum Erkalten hatte. Und ein Tropfen, ein verhältnismäßig großer Tropfen dicht am Rand des Läufers, besaß in der Mitte einen haarfeinen senkrechten Strich, als ob... Aufgrund eines plötzlichen Einfalls weiteten sich Duncans Augen, und er beugte sich tiefer, um diese Sonderbarkeit näher zu betrachten. War es möglich, daß sich hier im Holzfußboden ein Spalt befand, eine Ritze, die nicht zum Muster gehörte, sondern entlang des Läufers in die Richtung des Altars verlief? Auf Händen und Knien überquerte er den Läufer, wobei er unterwegs dem Altar einen Blick widmete, der wortlos um Nachsicht für dies unziemliche Benehmen ersuchte, dann starrte er auf der anderen Seite den Fußboden an. Ja! Hier war sie eindeutig zu sehen – eine dünne Ritze, die auf des Läufers ganzer Länge von der Pforte des Altargeländers bis zur untersten Altarstufe verlief, deutlicher erkennbar als andere Linien von Muster und Maserung des Fußbodens. Und dort, wo der Läufer an die Altarstufen stieß, schien
eine Naht zu sein, bevor er sich über die Stufen fortsetzte. Eine Falltür unterm Teppich? Duncan kroch zurück auf die linke Seite und untersuchte erneut den Riß im Wachstropfen. Ja, das Wachs war getrennt worden, nachdem es erkaltet war, nicht vorher; eine Seite war dünner, als habe diese Seite sich gesenkt, sich abwärts bewegt und sei dann an ihren Platz zurückgekehrt. Noch dazu außerstande, zu glauben, daß es so sein könne, schloß Duncan seine Augen und dehnte seine Derynisinne nach unten aus, suchte zu ertasten, was sich unter dem Läufer befand. Er nahm einen Hohlraum wahr, eine Vielzahl ineinander verwundener Rampen, einen Irrgarten niedriger Korridore mit Wänden aus gebeiztem Holz, wodurch ein Mensch – und über die Rampen auch ein Besinnungsloser – weit gelangen konnte, vielleicht so weit, bis nur noch Gott allein wußte, wo er sich aufhielt. Und die Vorrichtung, welche in diesen Hohlraum Zutritt gewährte – sie bestand aus einem kaum sichtbaren Viereck im Fußboden unmittelbar an des Läufers linker Seite; aber Duncan spürte, daß dies nicht die einzige Vorrichtung zur Betätigung der Falltür war. Duncan erhob sich auf die Füße und starrte hinab auf den Teppich, auf das Viereck. Er vermochte sich leicht Zugang zu verschaffen. Ein kräftiger Tritt auf das Viereck sollte genügen. Aber führte dieser Weg zu Alaric? Und wenn, lebte sein Vetter noch? Ein irriger Glaube wäre es, etwa anzunehmen, jene Leute, welche ihm diese Falle gestellt hatten, wer sie auch sein mochten, hätten nicht drunten auf Alaric gewartet. Und wenn Alaric eine starke Dosis Merascha ins Blut bekommen hatte – und es gab keinen Grund, das Gegenteil anzunehmen –, dann würde er
für Stunden im Zustand der Untüchtigkeit bleiben. Doch andererseits, begab Duncan sich hinab, bewaffnet und im Vollbesitz seiner Derynikräfte – die nicht unbeträchtlich waren –, mochte Alaric womöglich noch zu retten sein. Duncan hielt noch einmal in der Kapelle Umschau und fällte dann seine Entscheidung. Er mußte außerordentliche Vorsicht walten lassen. Wohin er auch geriet, es empfahl sich eigentlich, unten mit blanker Waffe zu erscheinen, bereit zum Kampf um den Ausweg. Dagegen sprach jedoch die einem Irrgarten gleiche Anlage der unterirdischen Räume. Er besaß kein Wissen darum, wie weit sie sich erstreckten, wie die Rampen sich wanden und verschlangen, bevor er am Ende den Grund erreichte, und war er nicht achtsam, konnte er sich möglicherweise aufs eigene Schwert spießen. Versunken in diese Gedanken betastete er das Heft seiner Klinge, dann klemmte er sich die Waffe in ihrer Scheide unter den linken Arm, den Griff abwärts gerichtet. Auf diese Weise am Griff gehalten, sollte die Waffe ihn eigentlich unter keinen Umständen verletzen können, und die Möglichkeit, sie schnell zu ziehen, war kaum eingeschränkt. Er vernahm aus dem Vorraum der Kapelle Geräusche und sah ein, daß er sofort zur Tat schreiten mußte, wollte er eine Auseinandersetzung mit dem verräterischen kleinen Mönch vermeiden. Indem er sein Schwert fester packte, stampfte er mit Nachdruck auf das Viereck und kauerte sich in des Läufers Mitte zusammen, spürte das Nachgeben des Bodens unter seinen Füßen; er erhaschte noch einen Ausblick auf die schweren Türflügel der Kapelle, die in ihren Angeln einwärts
schwangen, auf den kleinen Mönch, der plötzlich weniger klein wirkte, als er in Begleitung dreier Waffenknechte in Kettenhemden über die Schwelle trat. Und dann glitt er hinab und durch die Finsternis, das Schwert an die Rippen gepreßt, immer schneller und schneller einer unbekannten Gefahr entgegen. Kraftvolle Fäuste rissen Morgan roh auf die Beine und hielten ihn fest, drehten ihm die Arme auf den Rücken und legten um seine Kehle einen Würgegriff. Er leistete zunächst ein wenig Scheinwiderstand, um die Kräfte seiner Bewacher zu erproben, welche sie aufzubieten vermöchten, sollte er zu fliehen versuchen. Aber sie erteilten ihm mit einigen trockenen Hieben in die Nieren und den Unterleib eine Abfuhr, so daß er sogleich wieder auf die Knie sank und sich vor Schmerzen krümmte. Erneuter Druck auf seine Kehle, welcher ihm nahezu völlig die Luftzufuhr abschnitt, rückte die gleichsam trunkene Finsternis der Umnachtung wieder bedrohlich nahe. Morgan stöhnte erstickt und schloß die Augen, zwang sich dazu, in der Umklammerung ruhig zu bleiben, verdrängte den Schmerz, während die Männer ihn von neuem auf die Füße zerrten. Er fand sich damit ab, daß er in seiner gegenwärtigen Verfassung, in dieser Benommenheit, gegen eine Übermacht keine Handgreiflichkeiten austragen und hoffen konnte, die Oberhand zu gewinnen. Und bis die vom Merascha verursachte Wirkung nachließ, waren auch seine Derynifähigkeiten ihm von keinem Nutzen. Und die gewöhnlichen Gedankengänge... ha! Vorerst vermochte er nicht einmal klar zu denken. In der Tat, es war eine höchst interessante Frage, ob es ihm wohl
gelingen werde, sich dieser verhängnisvollen Notlage noch einmal irgendwie zu entwinden. Er schlug die Augen auf und mahnte sich insgeheim zur Gelassenheit, um den Mißlichkeiten der Stunde so vernünftig entgegenzutreten, wie's seine verunsicherten Sinne erlaubten. Im Gewölbe befanden sich etwa zehn bewaffnete Männer; vier davon hielten ihn im Gewahrsam, während der Rest vor ihm im Halbkreis stand, die Schwerter gezogen. Hinter ihm mußte es eine starke Lichtquelle geben – wahrscheinlich ein Ausgang, der nach draußen führte –, denn auf den Helmen und Klingen der Männer spiegelte sich Helligkeit. Zwei von ihnen hielten zusätzlich Fackeln, deren orangeroter Schein sie umwaberte wie feurige Mäntel. Zwischen diesen beiden Männern standen Warin und ein anderer Mann in Priestergewandung, den Morgan zu kennen glaubte. Niemand hatte im Lauf des kurzen Ringens ein Wort gesprochen, und Warins Miene blieb gleichgültig, derweil er seinen Gefangenen musterte. »Das also ist Morgan«, sprach er nun mit ruhiger Stimme; weder die noch seine Miene verrieten irgendeine innere Regung. »Endlich ist der derynische Ketzer zur Strecke gebracht.« Warin kreuzte überm Falkenwappen auf seiner Brust die Arme und begann seinen Gefangenen langsam zu umschreiten, betrachtete ihn vom Haupt bis zu den Zehen; seine Stiefel raschelten, während er rundum schritt, im locker verstreuten Stroh. Morgan konnte seinerseits Warin nicht im Blickfeld behalten, da der um seinen Hals geklammerte Arm ihn hinderte, den Kopf zu drehen; aber wäre er auch dazu in der Lage gewesen, er hätte dem Rebellenführer diese Genugtuung nicht gegönnt.
Außerdem gehörte seine Aufmerksamkeit mehr dem Priester. Der Anblick dieses ihm bekannten Mannes hatte in ihm einen furchtbaren Verdacht erzeugt. Wenn Morgan sich richtig erinnerte, war dieser Priester ein gewisser Monsignor Lawrence Gorony aus Erzbischof Loris' Gefolge; und war er tatsächlich derselbe, dann befand sich Morgan in noch ärgerer Bedrängnis als bislang vermeint. Denn das konnte nur bedeuten, daß die Erzbischöfe in bestimmtem Umfang Warin anerkannt hatten, daß sie nunmehr die Bereitschaft hegten, den Rebellenhäuptling bei seinem Griff nach der Macht zu unterstützen. Darüber hinaus ergab sich eine zweite, unmittelbarere Gefahr. Denn womöglich bedeutete Goronys Anwesenheit in diesem Hinterhalt – statt der Gegenwart eines seiner hochgestellten bischöflichen Herren –, daß die Erzbischöfe sich Morgans endgültig zu entledigen gedachten, ihn abgeschrieben hatten, daß sie beabsichtigten, ihn nach einer Spiegelfechterei um sein Seelenheil sogleich in Warins Gewalt auszuliefern. Und Warin hatte für jene von Morgans Art niemals etwas anderes verheißen als den Tod. Warins Sendung war's, wie er selbst jedenfalls immer betont hatte, alle Deryni zu vernichten, ganz gleichgültig, welches Maß an Reue sie auch zeigen mochten. Daher war es höchst unwahrscheinlich, daß er ausgerechnet Morgan, den er für den Erzderyni hielt, das Schicksal ersparte, welches er doch allen Deryni geschworen hatte, da sie's nach seiner Auffassung verdienten. Morgan verhehlte ein Schaudern und wunderte sich insgeheim darüber, daß es ihm gelang. Dann richtete er seinen Blick wieder auf Warin, als der Rebellenführer an die Stelle zurückkehrte, wo er zuvor gestanden
hatte. Warins Blick war kühl und streng, und seine Augen glitzerten wie Pechkohle, als er seinen Gefangenen ansprach. »Ich gedenke keine Zeit zu verschwenden, Deryni. Hast du irgend etwas zu sagen, ehe ich über dich das Urteil spreche?« »Das Urteil sprechen...?« Bestürzt unterbrach sich Morgan, als ihm auffiel, daß er die Wendung nicht nur gedacht, sondern auch laut ausgesprochen hatte, und mit nur teilweisem Erfolg versuchte er, die Entrüstung und Furcht zu verbergen, welche das Wort in ihm erregte. Zernebock! Hatte er vom Merascha eine so starke Dosis erhalten, daß er nicht einmal seine Zunge länger zu beherrschen vermochte? Er mußte sich in acht nehmen, Zeit zu gewinnen versuchen, bis die Wirkung der Droge schwand und er wider fähig war, klare Überlegungen anzustellen. Und während er noch dies dachte, drang ihm bereits die Erkenntnis ins Bewußtsein, daß seine Gedanken nichts taugten, daß er sich glücklich schätzen durfte, wenn er bloß noch ein kurzes Weilchen durchstand, ohne sich gänzlich ans Messer zu liefern. Er fragte sich, wo Duncan sein mochte. Sicherlich suchte sein Vetter inzwischen nach ihm – andererseits jedoch besaß er keine Vorstellung davon, wie lange diese Zwischenzeit gewesen sein mochte; er wußte nicht, für welche Dauer er besinnungslos gelegen hatte. Überdies war's möglich, daß er sich gar nicht länger bei St. Torin aufhielt. Er wagte nicht darauf zu vertrauen, daß Duncan ihn retten konnte. Eine Aussicht auf Rettung bestand nur, wenn er wenigstens soviel Zeit herausschindete, daß sich zumindest ein Teil seiner Kräfte wiederherstellte. »Wolltest du etwas sagen, Deryni?« fragte Warin,
während er Morgan ins Angesicht blickte und allmählich zu begreifen begann, daß er wirklich und wahrhaftig nun über den verhaßten Deryni die Oberhand hatte. Morgan rang sich ein verzerrtes Lächeln ab und versuchte zu nicken, aber der Arm um seine Gurgel war stark und umhüllt von einem Kettenpanzer, und er spürte, wie die eisernen Kettenglieder seinen Hals zwickten, als der Mann den Druck verstärkte. »Ich bin im Nachteil, mein Herr«, sprach er mit unsicherer Stimme. »Ihr kennt mich, aber ich weiß nicht, wer Ihr seid. Dürfte man wohl erfahren...?« »Ich bin dein Richter, Deryni«, lautete Warins barsche Antwort, womit er Morgan mitten im Satz unterbrach; er musterte ihn in kühler Bedächtigkeit. »Gott der Herr hat mich auserwählt, um das Land von dir und deinesgleichen für immer zu säubern. Dein Tod wird eine bedeutsame Maßnahme auf dem Wege zur Vollendung meiner Aufgabe sein.« »Nun weiß ich, wer du bist«, entgegnete Morgan; seine Stimme klang nun fester, aber seine Knie bebten vor Anstrengung. Diesmal gelang es ihm, einen gleichmäßigeren Tonfall anzuschlagen. »Du bist jener Strolch namens Warin, der in meinen nördlichen Ländereien Untaten begeht und Felder anzündet, und soviel mir bekannt ist, hast du auch schon Menschen verbrannt. Das steht nicht im Einklang, möchte ich bemerken, mit deinem scheinheiligen Gehabe.« »Einige Tote sind stets unvermeidlich«, erwiderte Warin frostig; er ließ sich durch die Vorwürfe nicht erschüttern. »Und dazu zählst ganz gewiß du, Morgan. Aber ich habe wider meine bessere Einsicht das Versprechen abgelegt, dir die Gelegenheit einzuräu-
men, deine Sünden zu bereuen und die Absolution zu erhalten, bevor du in den Tod gehst. Meiner persönlichen Meinung zufolge ist eine Beichte im Falle deiner Art nur Zeitverschwendung, doch Erzbischof Loris kann mir hierin nicht beipflichten. Willst du dich also der Reue befleißigen, Deryni, so steht Monsignor Gorony hier bereit, um dir die Beichte abzunehmen und zu versuchen, deine Seele zu erretten.« Morgan heftete seinen Blick auf Gorony und runzelte die Stirn; er sah eine weitere Möglichkeit, um Zeit zu gewinnen. »Ich befürchte, mein Freund, ihr alle habt einige Entscheidungen bei weitem zu hastig gefällt«, meinte er tadelnd. »Hättet ihr euch die Mühe gemacht, mich zu fragen, ehe ihr mich in den Hinterhalt locktet, ihr würdet die Auskunft erhalten haben, daß ich mich auf dem Weg nach Dhassa befinde, um mich der Amtsgewalt des Erzbischofs zu unterwerfen.« Er log forsch weiter. »Ich hatte bereits den Entschluß gefaßt, meinen Fähigkeiten zu entsagen und fortan ein Büßerleben zu führen.« Warins schwarze Augen verengten sich wachsam. »Das halte ich für höchst unwahrscheinlich. Nach allem, was ich über dich vernommen habe, wird der große Morgan niemals seinen Kräften abschwören, und noch weniger täte er jemals Buße.« Morgan unternahm den Versuch eines Achselzukkens und stellte mit Erleichterung fest, daß die Klammergriffe seiner Bewacher sich ein ganz klein wenig gelockert hatten. »Ich befinde mich in deiner Gewalt, Warin«, sagte er und sprach diesmal die Wahrheit, um der Lüge, welche er vorhin vorgetragen hatte, mehr Gewicht zu verleihen, und ebenso den Lügen, welche er vielleicht noch erzählen mußte.
»Wer dich auch mit der Derynidroge versorgt haben mag, gewiß hat er dich darüber aufgeklärt, daß ich unter dem Einfluß von Merascha vollständig hilflos bin. Nicht allein meine insgeheimen Kräfte sind gelähmt, auch meine körperliche Verfassung ist geschwächt. Ich könnte dich in diesem Zustand, wenn ich's auch wollte, nicht belügen.« Das war freilich selbst eine Lüge; wie Morgan bereits bemerkt hatte, als er die erste Unwahrheit aussprach, hinderte ihn nichts am Lügen. In dieser Beziehung blieb das Merascha unwirksam. Jetzt kam es darauf an, daß Warin ihm Glauben schenkte. Warin schnitt eine finstere Miene, schob mit der Stiefelspitze ein Büschel Stroh beiseite und schüttelte unwirsch den Kopf. »Ich weiß nicht, was du dir von deinem Gerede versprichst, Morgan. Nichts kann noch dein Leben retten. In kurzer Frist wirst du auf dem Scheiterhaufen schmoren. Warum erhöhst du deine Sündenschuld, indem du meineidig wirst, während sich dir schon der Tod naht?« Der Scheiterhaufen! dachte Morgan, und sein Antlitz wurde aschgrau. Soll ich wahrlich als Ketzer verbrannt werden, ohne mich bloß verteidigen zu dürfen? »Ich habe dir doch gesagt, daß ich mich dem Erzbischof unterwerfen will«, entgegnete Morgan; sein Tonfall wies einen Anklang von Ungläubigkeit auf. »Hegst du denn keine Bereitschaft, mir die Verwirklichung dieser Absicht zu gestatten?« »Dieser Weg steht dir nicht länger offen«, gab Warin gleichmütig zur Antwort. »Du hattest in deinem Leben überreichlich dazu Gelegenheit, dich zum rechten Pfad hinzuwenden, und du hast es nicht getan. So ist denn dein Leben verwirkt. Empfindest du
den Wunsch, deine Seele zu retten, wobei ich dir versichern kann, daß sie der allerhöchsten Gefahr ausgesetzt ist, so höre auf mich und kümmere dich jetzt darum, solange meine Geduld währt. Wenn du beichten möchtest, steht Monsignor Gorony dir zur Verfügung.« Morgan wandte sich an Gorony. »Gedenkt Ihr etwa, Monsignor, so etwas zu dulden? Wollt Ihr Zeuge einer Hinrichtung ohne rechtmäßiges Urteil sein?« »Ich habe lediglich Anweisungen bezüglich Eures Seelenheils erhalten, Morgan. Das entspricht der Übereinkunft. Danach gehört Ihr Herrn Warin.« »Ich gehöre keinem Menschen, gottloser Pfaffe!« schleuderte Morgan dem Priester entgegen, und seine grauen Augen funkelten aus Zorn. »Und ich glaube nicht, daß der Erzbischof um diesen grobschlächtigen Verstoß gegen jegliche Gerechtigkeit weiß und ihn billigt!« »Deinesgleichen steht außerhalb der Gerechtigkeit«, erwiderte mit ähnlicher Heftigkeit Gorony. Im Fackelschein wirkte sein Angesicht düster und boshaft. »Nun – wollt Ihr beichten oder nicht?« Morgan benetzte seine Lippen und schalt sich innerlich dafür aus, die Geduld verloren zu haben. Wortgefechte konnten ihm nicht nutzen, soviel stand nun fest. Warin und der Priester waren verblendet vom Haß gegen etwas, das sie nicht verstanden. Er konnte so gut wie nichts sagen oder tun, das diese Männer umzustimmen sich eignete – höchstens etwas, war er nicht vorsichtiger, um seine Hinrichtung zu beschleunigen. Er mußte irgendwie Zeit gewinnen! Er senkte seinen Blick und gab sich alle Mühe, um eine angemessen zerknirschte Miene zu machen. Viel-
leicht ließ sich die Beichte ausdehnen. Nach dreißig Lebensjahren mußte es hunderterlei Dinge geben, die er beichten konnte, und sollte ihn sein Gedächtnis im Stich lassen, durfte er, dessen war er sich gewiß, wohl dazu imstande sein, noch eine ganze Vielfalt zu erfinden. »Ich bitte um Vergebung«, sagte er und neigte sein Haupt. »Ich war jähzornig, wie so oft in der Vergangenheit. Erlaubt man mir eine Beichte unter vier Augen, oder muß ich sie unter den Ohren aller Anwesenden ablegen?« Warin schnob geringschätzig. »Du beliebst zu scherzen, Deryni. Gorony, seid Ihr bereit, um dieses Mannes Beichte zu hören?« Gorony zog aus dem Ärmel seines Priestergewandes eine schmale purpurrote Stola, hob sie an seine Lippen und schlang sie sich um den Nacken. »Ihr wünscht zu beichten, mein Sohn?« murmelte er heuchlerisch, ohne Morgan anzusehen, und trat einen Schritt vor. Morgan schluckte und nickte, und seine Bewacher sanken auf die Knie, zogen ihn mit sich herab; jener hinter ihm nahm den Arm von seiner Kehle, und erleichtert schluckte Morgan erneut, als er das Haupt neigte, versuchsweise spannte er die Muskeln seines linken Handgelenks, als er sich auf die Knie niederließ – letzteres war ein etwas schwieriges Unterfangen, da die Bewacher seine Gliedmaßen nicht freigaben –, und zu seinem äußersten Erstaunen spürte er an seinem Unterarm den kühlen Druck von Metall, der von seinem verläßlichen Stilett herrührte, welches die Männer offenbar unter seinem Haubert nicht bemerkten. Anscheinend hatten sie sich nicht der Mühe unterzogen, ihn zu durchsuchen – Trottelhafte Narren! dachte er mit einem Gefühl des
Triumphes, als er sich anschickte, seine Sünden aufzusagen –, und das hieß möglicherweise, daß er nicht lange besinnungslos gewesen war; vielleicht vermochte er, wenn's darauf ankam, wenigstens noch ein paar von diesen verblendeten Eiferern mit in den Tod zu nehmen, sobald er sich mit ihm abfinden mußte. Denn allem Anschein zufolge war wirklich jedes Entweichen ausgeschlossen. »Segnet mich, Pater, denn ich habe gesündigt«, murmelte er, indem er seine Aufmerksamkeit wieder Gorony zuwandte, der vor ihm stand. »Dies sind meine Sünden...« Bevor Morgan nur Atem holen konnte, um mit der Aufzählung zu beginnen, erscholl plötzlich aus den Deckenbalken des Gewölbes ein Poltern. Häupter ruckten rückwärts, Augenpaare starrten ungläubig empor, als droben eine hagere Gestalt in brauner Jagdkleidung aus Leder durch eine schmale Öffnung gerumpelt kam und mit dumpfem Aufprall an jener Stelle ins Stroh stürzte, wo zuvor Morgan gelegen hatte. Und die Gestalt war Duncan! Als der Priester auf die Beine sprang, streifte seine Klinge, indem er sie aus der Scheide riß, einen von Morgans Bewachern am Knie. Der Mann schrie auf und sank zusammen, hielt sich in wildem Schmerz das Bein; und in diesem Moment warf sich Morgan mit ganzem Gewicht nach links, zerrte zwei weitere seiner Bewacher mit sich zu Boden. Der vierte Mann, von der zweifachen Behelligung verstört und aus dem Gleichgewicht geworfen, versuchte noch im Herumtorkeln sein Schwert zu ziehen und seinen verwundeten Gefährten zu schützen, ehe Duncan ernstlich zuschlagen könne, aber seine Unentschlossenheit kostete ihn das Leben. Bevor er seine Klinge
blank hatte, hieb Duncan ihn nieder. Und dann herrschte im Gewölbe die größte Wirrnis, als Warins Männer ihren ersten Schrecken überwanden und zum Angriff schritten. Duncan focht mit Obacht, und Schwert und Dolch lagen in seinen Fäusten und gehorchten ihnen wie Auswüchse seiner leiblichen Arme. Morgan, noch am Boden und im Griff der beiden Männer, versetzte dem einen, als derselbe sich aufrichten wollte, mit Wucht einen Tritt; der Mann brach schwerfällig zusammen und hinderte dadurch den anderen, so daß Morgan sein Stilett ziehen und sich auch des letzten Bewachers entledigen konnte. Wie aus dem Nichts warf sich plötzlich ein anderer Gegner auf Morgan, einen Dolch zum Stoß erhoben. Morgan stieß und stach um sich und brüllte. Während er dem Angreifer die Waffe zu entwinden versuchte, bemerkte er undeutlich, wie Duncan fast die Beine grätschte, um einem halben Dutzend Bewaffneter zugleich Widerstand leisten zu können, und er sah ein, daß sie beide, Duncan und er, wider eine solche Übermacht schwerlich zu bestehen vermochten. Dann vernahm er durch das Gewirr das Kreischen von Goronys Stimme. »Tötet sie! Der Teufel hole euch, ihr müßt alle beide töten!«
14 Was ist des Menschen höchste Weisheit? Dem anderen, liegt es auch in seiner Macht, kein Übel anzutun. St. Teilo Im Bemühen, sich die Angreifer vom Leibe zu halten, sprang Duncan wie ein Besessener hin und zurück, wehrte Streiche ab, fintete, drang seinerseits vor, parierte einen Hieb mit dem langen Dolch in seiner Linken, trat mit dem Fuß einem anderen Mann die Waffe aus der Faust. Aber es war völlig unmöglich, irgendwelche flüchtigen Vorteile zu nutzen, solange für jeden Gegner, den er zeitweilig entwaffnete, vier andere Männer auf ihn eindrangen. Ein Schwertstreich sauste zur Rechten, und er wäre ihm zum Opfer gefallen, hätte sein Kettenhemd den Hieb nicht aufgefangen. Und ehe er sich von dem wuchtigen Anprall erholte, stieß jemand mit einer brennenden Fackel nach seinem Gesicht. Er wich beiseite und rutschte in einer Blutlache aus – zu seinem Glück. Denn als er fiel, pfiff in der Höhe, wo zuvor sein Haupt war, eine Schwertklinge durch die Luft – mit einer Gewalt, welche ihm dieses gewiß von den Schultern getrennt hätte. Er beendete seinen Sturz mit einer Rolle vorwärts und sprang mit einem Aufwärtsstoß wieder auf die Beine, der einem Gegner den Bauch aufschlitzte, dann vollführte er einen weiten Rundschlag, der den Mann mit der Fackel fällte und einen anderen böse
verwundete. Die halb durchtrennte Kehle jenes Angreifers überschüttete Duncan und seine übrigen Bedränger mit einem roten Blutregen, einem Springbrunnen gleich, dann rollte die Fackel aus der kraftlos gewordenen Hand und entzündete das blutige Stroh. Der Gestank verbrutzelten Blutes stieg zudringlich empor in Duncans Nase, als er die Flammen auszutrampeln versuchte, aber seine Bemühung mußte erfolglos bleiben, weil die Angriffe wider ihn nicht nachließen. Während er vor Flammen und Schwertern zurückwich, stolperte er fast über Morgan und einen von dessen Gegnern; die beiden wälzten sich am Fußboden, darauf bedacht, einander zu erwürgen. Warins Gefolgsmann war obenauf, und dem durch die Droge geschwächten Morgan mußte es alsbald übel ergehen. Duncan schleuderte einen Angreifer auf eines seiner Spießgesellen Klinge und hob sein Schwert, um Morgans Bedränger niederzuhauen. Da packte jemand von hinten seinen Waffenarm, und ein anderer schlang einen Arm um seinen Hals, um ihn rücklings niederzuwerfen. Duncan entriß seinen rechten Arm dem Zugriff und stieß mit dem Ellbogen kurz und wuchtig nach rückwärts; der Stoß traf Warin mit voller Gewalt in die Magengrube, so daß er zu Boden torkelte und um Atem rang. Ein Dolch glitt an Duncans Kettenhemd ab, und er duckte sich und gab diesem tückischen Widersacher einen Hieb über den Schädel, so daß er zu seinen Füßen zusammensank; es war Gorony. Mit einem beherrschten Knurren des Abscheus griff Duncan hinab und packte Gorony am Kragen der Soutane, wobei er zugleich auf Goronys Hand trat, worauf der den Dolch mit einem Schmerzensschrei fahren ließ. Grob riß er Gorony auf die
Beine und zerrte ihn als Schild zwischen sich und zwei Männer Warins, einen Arm um Goronys Kehle gelegt, und die beiden Bewaffneten verhielten ratlos und bestürzt. »Haltet ein!« rief Duncan und hob sein Schwert an Goronys Gurgel. »Einen Schritt näher, und ich töte ihn!« Die Männer standen still und sahen sich nach Warin um, damit er ihnen befehle, aber der Rebellenführer wälzte sich noch benommen im Stroh und schnappte nach Luft, außerstande zum Erteilen von Befehlen. Der Mann mit der Beinverletzung war zur Seite gekrochen und kümmerte sich um einen schwerer Verwundeten. Für einen ausgedehnten Moment schienen sich im Gewölbe nur noch die Flammen zu bewegen, die immer höher loderten. Duncan näherte sich Morgan, indem er seine widerwillige Geisel mitzerrte, und da sah er, wie sein Vetter einen toten oder besinnungslosen Gegner würgte und des Mannes blutigen Schädel unermüdlich auf den Holzfußboden hämmerte. War er von Sinnen? »Alaric!« fauchte Duncan, wagte den Blick aber nicht zu lange von Warins Männern abzuwenden. »Alaric, hör auf damit, das genügt! Komm, wir müssen hinaus!« Morgan stutzte, erstarrte und schien erst jetzt wieder seiner Umwelt gewahr zu werden. Verblüfft blickte er Duncan an, dann die mißhandelte Gestalt unter sich; urplötzlich klärte sich sein Verstand, und er wischte sich die Hände voller Entsetzen an den Beinkleidern. »O mein Gott«, murmelte er, richtete sich mühsam auf und stützte sich an Duncans Schulter. »Gott, das war nicht notwendig. Was habe ich getan?« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben jetzt keine Zeit, wir müssen fort von
hier«, entgegnete Duncan, während er die Flammen hinter Warins Männern beobachtete. Er begann sich mit seinem menschlichen Schild dem Ausgang zu nähern. »Und diese edlen Herren werden sich hüten, zu versuchen, uns daran zu hindern, denn es ist eine ernste Sache, einen Priester umzubringen. Fast so ernst wie zwei zu ermorden.« »Ihr seid kein wahrer Priester«, krächzte Gorony, während er an Duncans Arm ruckte, um den Druck gegen seine Kehle zu mindern. »Ihr seid ein Verräter an der heiligen Kirche! Wenn seine Exzellenz davon erfährt...« »Ja, ich bin davon überzeugt, daß Seine Exzellenz alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen wird«, meinte Duncan ungeduldig; er behielt Warins Männer im Blickfeld. Er und Morgan erreichten die mit einem schweren Balken verriegelte Pforte. »Alaric, bist du dazu imstande, dies Tor zu öffnen?« Die Türflügel bestanden aus schwerem, mit Schnitzereien verziertem Holz, im oberen Teil jedoch aus Eisengittern; der mächtige Balken aus Eichenholz ruhte in zwei schwarzen Eisenhalterungen. Morgan bot alle Kraft auf, knurrte vor Anstrengung, hob den Riegel heraus. Doch als er sich gegen die Flügel stemmte, nochmals kräftiger dagegen stemmte, rührten sie sich nicht. Als Duncan sich umschaute, um zu sehen, was sie da noch aufhielt, raffte sich Warin unsicher auf, wobei zwei Bewaffnete ihm halfen, und kam langsam herüber. »Eitles Beginnen«, sprach er mit noch mühseligem Atem. »Das Tor ist verschlossen.« »Dann öffnet es«, erwiderte Duncan. »Oder er ist des Todes.« Er setzte seine Schwertklinge von neuem
an Goronys Kehle; der Priester ächzte und rollte die Augen. Warin blieb ungefähr fünfzehn Fuß weit von Morgan und Duncan entfernt stehen und breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Arme aus. »Ich kann's nicht. Bruder Balmoric hat sie auf meinen Wunsch von außen verschlossen. Gorony mag gegenwärtig eure Sicherheit sein, aber Bruder Balmoric ist meine. Mich dünkt, ihr werdet nun doch nicht entkommen.« Er wies hinter sich auf das in Ausbreitung befindliche Feuer, und Duncans Mut sank beträchtlich. Die Flammen schlugen mit furchtbarer Geschwindigkeit immer höher, versengten die Einlegearbeiten an den Wänden des Gewölbes, leckten über die uralten Farbschichten der geschnitzten Leisten und Bildwerke. Sobald die Decke Feuer fing, was bald geschehen mußte, würden die Flammen sich rasch empor zur Kapelle fressen, und das ganze Bauwerk verwandelte sich in ein Inferno. »Ruft Balmoric«, verlangte Duncan in ruhigem Tonfall und ließ Gorony an der Kehle die Kälte der Klinge spüren. Warin schüttelte sein Haupt und verschränkte die Arme auf der Brust. »Wenn wir sterben müssen, so gilt das gleiche für euch.« Warin lächelte. »Es wäre das Opfer wert.« Duncan sah Morgan an. »Wie ist dir zumute?« »Oh, prachtvoll«, antwortete Morgan geflüstert, schluckte beschwerlich und klammerte seine Fäuste um Eisenstäbe der Pforte, um nicht erneut die Besinnung zu verlieren. »Duncan, entsinnst du dich, was ich bei einer anderen Gelegenheit mit einer verschlossenen Tür getan habe...?« »Das ist lachhaft, du bist jetzt doch nicht in der
Verfassung, um...« Duncan verstummte, als er verstand, was Morgan meinte. Ihr einziger Ausweg bestand darin, daß nun er, Duncan, seine Derynikräfte aufbot, um das Schloß zu öffnen. Tat er das in Goronys Gegenwart, so war er unwiderruflich als Deryni erkannt. Wie jene Erscheinung auf der Landstraße ihm verkündete, sollte die Zeit kommen, da Duncan sich entscheiden mußte; und nun war dieser Zeitpunkt angebrochen. Er blickte hinüber zu Morgan und nickte bedächtig. »Kannst du solange auf meinen Freund achten?« Er wies mit dem Kinn auf Gorony, und Morgan nickte. »Nun gut.« Duncan übergab Gorony in Morgans Obhut, händigte seinem Vetter den langen Dolch aus und steckte sein blutiges Schwert in die Scheide. Als Morgan seinen Arm um Goronys Hals zurechtrückte, hob Duncan besorgt eine Braue, aber anscheinend hatte Morgan ihre Geisel voll in der Gewalt. Duncan vermochte sich auszumalen, welche Anstrengung das Morgan in dessen geschwächtem Zustand kosten mußte, aber es gab kein anderes Mittel. Indem er einen Seufzer der Schicksalsergebenheit ausstieß, widmete er seine Aufmerksamkeit der Pforte. Das Holz fühlte sich unter seinen Fingern warm und glatt an, und sein Blick durch das Gitter verriet ihm ungefähr die Stelle, wo das Schloß saß. Er legte seine Hände leicht an diese Stelle, ließ seine Lider herabsinken und ertastete die Vorrichtung mit seinem Bewußtsein, begann sich in seine innere Beschaffenheit einzufühlen. Von seiner Stirn rann Schweiß, und die Hände wurden bei seiner Tätigkeit feucht. Doch dann ertönte tief aus dem Innern der Pforte ein Knacken, dem ein weiteres folgte, dann noch eines. Mit einem Blick über die Schulter nach
Warin und dessen Leuten versetzte Duncan der Pforte einen Stoß – und sie tat sich auf. »O mein Gott, er ist einer von ihnen«, murmelte Gorony, dessen Angesicht erbleichte, indem er die Lider verkniff. »Eine derynische Natter am Busen der Kirche!« »Schweigt, Gorony«, gebot Morgan leise, »sonst könntet Ihr Euch stechen.« Goronys Augen quollen, als er den verstärkten Druck von Morgans Dolch am Halse spürte, und er keuchte, doch er sprach nicht ein Wort mehr. Anders verhielt sich Warin. »Ein Deryni? Dafür wird der Herrgott dich zertreten, du Spottgeburt des Satans! Seine Vergeltung wird über dich kommen wie...« »Fort von hier«, murmelte Duncan, packte Gorony und schob seinen Vetter hinaus, während Warin und seine Bewaffneten sich zur Verfolgung anschickten. »Eile zu den Pferden und reite, ich werde dich schon einholen.« Morgan begann einen kleinen Hang zu erklimmen und schlug die Richtung zur Vorderseite der Kapelle ein; Duncan schleifte Gorony mit nach draußen, dann schloß er die Pforte und verriegelte das Schloß wieder mit einem Schub geistiger Gewalt. Unverzüglich stürzten Warin und seine Begleiter ans Gitterwerk und spähten hindurch; Warin schrie Flüche, während Duncan nachdrücklich Gorony den Hang hinaufdrängte. Als sie fast oben waren, sah Duncan plötzlich seinen Verwandten niedergesunken, den entsetzten Blick auf einen hohen, ins Erdreich gerammten Pfahl gerichtet, um den Stapel von Reisig aufgeschichtet waren; rund um den Pfahl wanden sich eiserne Ketten, dazu geeignet, jedes noch so unwillige Opfer festzuhalten, und nahebei
flackerte und prasselte vor Morgans Augen eine Fakkel im Wind. »Alaric, komm doch!« »Wir müssen ihn niederbrennen, Duncan.« »Niederbrennen? Bist du wahnsinnig geworden? Wir haben keine Zeit für... Alaric!« Trotz Duncans Widerspruch begann Morgan hin zur Fackel zu kriechen, mühselig arbeitete er sich auf Händen und Knien hinüber, um sich ihrer zu bemächtigen. Das Antlitz von einander widerstrebenden Gefühlen gezeichnet, blickte Duncan über seine Schulter zur Kapelle, dann zu Alaric, und endlich riß er Gorony schroff herum, so daß sie sich gegenüber standen. »Ich gebe Euch frei, Gorony, nicht weil Ihr's verdient hättet, sondern weil für das, was Ihr ihm angetan habt, diesem Mann die Rache zusteht, nicht mir. Und nun fort mit Euch, ehe ich meinen Sinn ändere.« Er schleuderte Gorony mit einem Ruck den Hang hinunter, daß er sich überschlug, und erklomm das letzte Stück, das ihn von Morgan trennte. Morgan hatte die Fackel erreicht und bemühte sich, sie aus dem Erdboden zu zerren; aus Anstrengung waren seine Augen glasig. Mit einem Wutschrei riß Duncan die Fakkel aus seines Vetters Umklammerung und warf sie ms Reisig rings um den Pfahl, beobachtete einen Augenblick lang die Wirkung, bis das Holz Feuer fing und zu brennen begann. Dann schob er seine Schulter unter Morgans Arm und half ihm auf die Beine, und die beiden Männer taumelten für den Rest des Weges gemeinsam dahin. In einiger Entfernung zu ihrer Rechten kamen der Mönch Balmoric und eine Handvoll von Waffenknechten gerannt und strebten zur Pforte und zu Gorony hinunter. Ein Waffenknecht machte Anstalten, als wolle er ihnen hinterdrein ei-
len, aber Balmoric winkte barsch und schnauzte etwas, das Duncan nicht verstehen konnte. Der Mann folgte daraufhin den anderen. Mittlerweile fing die Kapelle selbst zu brennen an. Inmitten der Wirrnis gelangten Duncan und Morgan schließlich zur Koppel. Als Rauchwolken aus der Kapelle quollen, ein Zeichen dafür, daß nun die massiven hölzernen Grundfesten unterm Bauwerk brannten, schob Duncan seinen Vetter aufs Pferd, wickelte sich dessen Zügel ums Handgelenk und sprang dann aufs eigene Reittier. Indem er sein Pferd nur durch den Druck seiner Knie lenkte, sprengte er voran vom Platz der Kapelle, worin sich St. Torins Schrein befand, und der Hufschlag überschüttete Reisende, die nahebei unter den ausgebreiteten Armen von des Waldheiligen Standbild vorbeizogen, mit einem Hagel von Schlamm und Erdbrocken. Morgan folgte an Duncans Fersen, ungefähr um eine halbe Pferdelänge zurück, in die Pferdemähne mit einer Verzweiflung geklammert, welche der Not der Stunde entstammte, seine Augen fest geschlossen. Als Duncan das Haupt wandte, sah er St. Torin in Flammen stehen, schwarzer Rauch wallte empor zu den grauen Gewitterwolken; gegen den Feuerschein zeichneten sich Warin und Gorony ab, beide außer sich vor Grimm, und sie schüttelten hinter den zwei entkommenen derynischen Edlen die Fäuste Niemand nahm die Verfolgung auf. Duncan lachte freudlos und beugte sich über den Hals des Pferdes, um die Zügel zu ergreifen, und er hielt sein Tier für einen Moment zurück, so daß Morgans Roß aufholen konnte. Sein Vetter war gegenwärtig kaum zum Reiten fähig, also noch erheblich weniger dazu, irgendwelche bedeutsamen
Entscheidungen zu treffen. Aber er hegte die Überzeugung, daß Morgan ihm darin beipflichten würde, daß es nunmehr am vernünftigsten war, sich so eilends wie möglich zu Kelson zu begeben. Sobald die Nachricht vom Zwischenfall dieses Morgens bei den Erzbischöfen eintraf, durfte Kelson das nächste Ziel der kirchlichen Mißbilligung sein. Und Duncan wußte, daß Morgan gewißlich an des Jünglings Seite stehen wollte, wenn es dazu kam. Nach diesem Ereignis war natürlich jede Vorsprache bei der Kurie zu Dhassa gänzlich sinnlos. Sowohl er und Alaric konnten nun damit rechnen, bis zum Abend mit Kirchenbann und Exkommunikation gestraft zu sein. Sie vermochten nicht einmal gefahrlos nach Corwyn heimzukehren. Sobald auf Corwyn der Kirchenbann fiel – und jetzt war kaum noch ein Zweifel daran möglich, daß das geschah –, mußte dort das Volk untereinander in Fehde geraten. Und Alaric war zumindest für mehrere Tage nicht in der Lage, um persönlich in die Entwicklung einzugreifen. Duncan streckte den Arm aus und ergriff wieder die Zügel von Morgans Roß, dann gab er dem eigenen Tier die Sporen, als unheilvoll Donner grollte. Alaric mußte sich binnen kurzem eine Rast gönnen. Vielleicht bestand die Möglichkeit in der Klosterruine St. Neot, wo sie in der vergangenen Nacht gelagert hatten. Mit einigem Glück sollte es ihnen gar gelingen, eine Porta Itineris ausfindig zu machen; Alaric hatte einen St. Camber geweihten Altar erwähnt. In dessen Nähe konnte sich eine Porta Itineris finden lassen. Und entdeckten sie wirklich eine, so ersparten sie sich damit einen vollen Tagesritt, den es nämlich beanspruchte, um Rhemuth und Kelson zu erreichen.
Dicke Regentropfen begannen zu fallen, und Blitze zuckten über den Himmel, der sich rasch verfinsterte. Duncan schickte sich ergeben in die Notwendigkeit, durch Regen reiten zu müssen, und rückte sich im Sattel zurecht, um sich auf einen harten Ritt einzustellen, wobei er obendrein seinen Vetter unter Obacht halten mußte. Sie ritten in mehr als nur einem Sinne ins Ungewitter. In kurzer Frist würde Gorony den Erzbischöfen von Morgans Gefangennahme und Flucht berichten und darüber, wie Duncan McLain dem Herzog half, daß derselbe Monsignor McLain, Königlicher Beichtvater und einst aussichtsvoller Würdenträger in den unteren kirchlichen Rängen, ein derynischer Zauberer sei. Er verspürte eine Abneigung dagegen, sich auch bloß vorzustellen, was Loris sagen mochte, wenn er das vernahm. »Ich exkommuniziere ihn! Ich exkommuniziere beide!« Loris brüllte. »Welche Falschheit, was für eine Hinterlist, eine Verworfenheit...! Ich werfe ihn aus dem Priesteramt! Ich werde...!« Loris, Corrigan, etliche ihrer Schreiber, Gefolgsleute und eine hohe Anzahl von Mitgliedern des gwyneddischen Klerus waren im Empfangssaal des Bischofs von Dhassa versammelt, als die Kunde sie erreichte. In der Mitte des Nachmittags kam Monsignor Gorony in den Saal gewankt, das Gewand besudelt mit Blut, und überdies troff es von Schlamm; er hatte sich zu Loris Füßen auf den Fußboden geworfen. Der Klerus lauschte mit wachsendem Entsetzen, als Gorony seinen Bericht über die morgendliche Heimsuchung herauskeuchte: die Vereitelung der Gefangennahme, die ihm selbst widerfahrene Roheit, die Heimtücke der beiden De-
ryni namens Morgan und McLain. Ja, er war sich dessen sicher, daß es sich bei Morgans Begleiter um Duncan McLain gehandelt hatte. Der seines Amtes enthobene Priester wußte sogar, daß er ihn erkannt hatte, denn auch er war von ihm erkannt, beim Namen gerufen worden, und der Elendige hatte ihm für den Fall des Ungehorsams in gotteslästerlicher Weise den Tod angedroht. Daraufhin hatte Loris die Beherrschung verloren; er tobte seine Wut gegen Morgan, Duncan, die Deryni und die Verhältnisse im allgemeinen hemmungslos aus. Corrigan und der übrige Klerus taten es ihm in angemessen abgestufter Stärke gleich, und die Entrüstung hing so schwer in der Luft, daß sie sich nahezu mit Händen greifen ließ. Die Kleriker standen nun in kleinen Gruppen beisammen und sprachen aufgewühlt über das Ereignis. Obwohl der jeweilige Grad des Entsetzens sehr unterschiedliche Höhen aufwies, war man sich weitgehend darüber einig, daß am Schrein St. Torins schreckliche Dinge geschehen waren und man entsprechende Maßnahmen einleiten mußte. Bischof Cardiel, in dessen Gemächern die Streitgespräche wogten, warf durch den Saal einen Seitenblick hinüber zu seinem Amtsbruder Arilan und schenkte dann seine Aufmerksamkeit wieder der hitzigen Unterhaltung zwischen dem gealterten Carsten von Meara und Creoda von Carbury. Arilan nickte bei sich und unterdrückte ein Lächeln, als er wieder seine Beobachtung Loris und Corrigans aufnahm. Cardiel und Arilan, der eine einundvierzig, der andere achtunddreißig Jahre alt, waren die beiden jüngsten Bischöfe Gwynedds. Nach ihnen folgte altersmäßig der fünfzigjährige Tolliver von Corwyn, Morgans Bischof; die anderen Kleriker
waren überwiegend mehr denn sechzigjährig. Vom Alter abgesehen, bestand noch ein weiterer gewichtiger Unterschied zwischen Cardiel und Arilan einerseits und der Mehrheit der übrigen Bischöfe andererseits. Denn die jüngeren Mitglieder der Kurie empfanden Loris Wutausbruch fast als heiteres Schaustück. Nicht die Drohungen, welche Loris ausstieß, erheiterten sie; insgeheim waren beide dem derynischen Feldmarschall Morgan zugeneigt, der im letzten Herbst den jungen König so zuverlässig vor den Fährnissen behütet hatte, die ihm anläßlich seiner Krönung bedrohten. Und Duncan McLain war eine Zeitlang ein aussichtsreicher Schützling des leidenschaftlichen Bischofs Arilan gewesen. Es erfreute sie auch nicht, von diesem Warin zu hören, den Gorony erwähnt hatte; keinem von beiden behagte die Vorstellung eines derynifeindlichen Glaubenseiferers, der das Land unsicher machte, und sie empfanden ein gewisses Maß an Ärger darüber, daß Loris sich dazu herbeigelassen hatte, Warins Aufrührertum, wenn auch nicht offen, zu billigen. Doch auf der anderen Seite sahen sie darin einen Grund zur Heiterkeit, daß es dem unbeschreiblichen Morgan erneut gelungen war, aus Loris einen Narren zu machen. Cardiel, im Verhältnis zu anderen Klerikern eher eine Art von Außenseiter, da er Dhassas herkömmlicherweise parteiloser Bischof war, hegte lediglich ein mehr schöngeistiges Interesse daran, ob Loris tatsächlich ein Narr sein mochte. Dagegen wußte Arilan es genau und genoß diese öffentliche Klarstellung der Tatsache. Der junge Nebenbischof von Rhemuth hatte sich schon oft damit auseinandersetzen müssen, was er für närrisches Eiferertum erachtete, zu häufig, um
sich länger beeindrucken zu lassen, bloß weil Loris Gwynedds Primas war; vielleicht brauchte Gwynedd einen neuen Primas. Arilan gab sich jedoch nicht dem Wahn hin, der neue Mann könne er sein. Er hätte als erster zugegeben, daß er viel zu jung war und unerfahren. Aber der gelehrte Bradene von Grecotha, oder Ifor von Marbury, oder auch Lacey von Stavenham – jeder von ihnen wäre Edmund Loris als Erzbischof von Valoret weit überlegen. Und was Loris Amtsbruder und Arilans unmittelbaren Vorgesetzten betraf, den aufgeblasenen Patrick Corrigan – nun, vielleicht vermochte der Erzbischof von Rhemuth auch etwas jüngeres Blut hinzunehmen. Und dafür genügte Arilans Leistungsfähigkeit durchaus. Endlich gelang es Loris, seine Selbstbeherrschung wiederzuerringen, und sein Gezeter verstummte. Er erhob sich an seinem Platz und streckte beide Arme in die Höhe, um Ruhe zu erheischen, und die Kleriker stellten nach und nach ihre Unterhaltungen ein und suchten ihre Plätze auf. Jüngere Priester und in den Diensten der Bischöfe befindliche Schreiber drängten sich enger um ihre Herren, um zu hören, was der Erzbischof zu sagen habe. Alsbald herrschte Stille, durch die man nur noch des alten Bischofs Carstens röchelnden Atem vernahm. Loris neigte sein Haupt und räusperte sich, dann blickte er auf; seine Haltung war gestrafft, sein Blick gefaßt, als er ihn durch den Saal wandern ließ, denn nun sprach er als Primas von Gwynedd. »Ihr Herren, Wir erbitten Eure Vergebung für Unseren Ausbruch, doch wie Euch ohne Zweifel bekannt ist, beschäftigen Wir Uns bereits seit vielen Jahren mit der Derynifrage. Um es ehrlich zu sagen, Wir sind über Morgans
Handlungen nicht überrascht. Wir hätten sie vielmehr voraussagen können. Aber die Entdeckung, daß ein Angehöriger des Klerus, ein Sohn eines Edelmannes und ein Prälat, gar selber ein...« Er zwang sich dazu, das Wort ohne besondere Betonung auszusprechen. »... ein Deryni ist...« Er schwieg für einen Moment und würgte seine Wut hinunter. »Erneut ersuchen Wir um Nachsicht für Unsere starke Gemütsbewegung. Nun, da Unsere Verstandesklarheit wiederkehrt und Wir überdies die ganze Tragweite dieser Entdeckung des Betruges und der Täuschung in unserer Mitte erkennen, ihr Schwergewicht für die Kirche in Gwynedd ersehen, begreifen Wir, daß es von nun an, zumindest was den ketzerischen Priester McLain angeht, nur noch ein Mittel gibt. Das ist die Exkommunikation – Exkommunikation, Entzug der Priesterwürde, und außerdem, wenn die Kurie sie befürwortet, die Hinrichtung als der verräterische derynische Ketzer, welcher er wahrlich ist. Wir sind Uns dessen bewußt, daß die zweite und die dritte Maßnahme dieser erlauchten Versammlung Beschlüsse abfordern, die Zeit kosten, und Wir sind restlos vom Willen beseelt, diese Verfahren durchzuführen.« Sein scharfäugiger Blick schweifte durch den Saal. »Doch als Primas von Gwynedd liegt es innerhalb Unserer Amtsgewalt, hier und jetzt zu erklären, daß Duncan Howard McLain und sein niederträchtiger Vetter Alaric Anthony Morgan fortan unterm Bannfluch der Kirche stehen und exkommuniziert werden sollen. Erzbischof Corrigan, Unser Rhemuther Bruder und McLains Dienstherr, unterstützt diese Unsere Erklärung. Wir hoffen, daß möglichst viele von Euch dazu imstande sind, heute abend nach dem Komplet am
Exkommunikationsritus teilzunehmen.« Im Saal entstanden gedämpfte Gespräche, aber Loris beendete sie, indem er in strengem Ton dazwischenfuhr. »Ihr Herren, in dieser Angelegenheit kann es doch beileibe keine Gewissensnöte geben! Am heutigen Tage erst haben Morgan und McLain verabscheuenswerte Mordtaten an guten und treuen Söhnen der Kirche begangen, haben das Leben Unseres Dieners Monsignor Gorony bedroht, eines geweihten Priesters, haben an einem geweihten Ort sich verbotener, scheußlicher Zauberei befleißigt. Wenden Wir den Blick zurück, so erkennen Wir nun, daß nach aller Wahrscheinlichkeit McLain für viele jener Dinge verantwortlich gewesen sein muß, welche sich im vergangenen Herbst anläßlich der Krönung unseres geliebten Königs Kelson zutrugen, und dafür muß man ihn und Morgan zweimal so schwer verurteilen.« Sein Blick streifte erneut durch den Saal. »Gibt's abweichende Meinungen? Wenn ja, so rede man unbefangen.« Niemand meldete sich zu Wort. »Nun gut.« Loris nickte. »Wir erwarten die Versammlung heute abend vollzählig zum Exkommunikationsritus. Morgen wollen wir über die weiteren Schritte beraten, die in dieser außergewöhnlichen Angelegenheit zu tun sind. Außerdem müssen wir uns nochmals darüber verständigen, was mit Morgans Herzogtum Corwyn geschehen soll. Es mag vonnöten sein, daß wir dem Herzogtum doch den Kirchenbann auferlegen müssen, worüber wir heute gesprochen haben. Bis zum Abend, Ihr Herren.« Mit einer knappen Verbeugung verabschiedete sich Loris vom Klerus und rauschte zur Tür hinaus; ihm schlossen sich Corrigan an, Corrigans Schreiber – Pater Hugh de Berry – und ein hal-
bes Dutzend weiterer Schreiber und Diener. Sobald hinter ihnen die Tür zugefallen war, brachen die übrigen Anwesenden von neuem in hitzige Streitgespräche aus. »Arilan?« Bischof Arilan, der einer Unterhaltung zwischen den Bischöfen Bradene und Tolliver lauschte, blickte auf, als er durch das Stimmengewirr seinen Namen hörte, und sah, wie ihm Cardiel winkte. Er ersuchte die zwei Bischöfe um Entschuldigung und strebte durch das Gewimmel erregter Prälaten und eine Traube von Dienern, welche sich um den bischöflichen Gastgeber scharten, zu ihm hinüber, wo er sich höflich verbeugte. »Ihr wünscht mich zu sprechen, Herr Cardiel?« Cardiel erwiderte die Verbeugung ohne ein Wimpernzucken. »Angesichts dieser ernsten Krisis, welche über uns gekommen ist, Herr Arilan, habe ich daran gedacht, mich zur Besinnung in meine Hauskapelle zurückzuziehen«, schrie er, um sich verständlich zu machen, in Arilans Ohr. »Da fiel mir ein, daß Euch womöglich daran gelegen sein könnte, Euch zu mir zu gesellen, denn die Kapelle der Kurie dürfte heute wohl stark gefüllt sein mit unseren bejahrteren Brüdern.« Arilan verbarg ein Lächeln und neigte würdevoll sein Haupt, während er mit einem Wink seine Diener entließ. »Ihr gewährt mir eine hohe Ehre, Herr Cardiel. Und vielleicht vermag unser gemeinsames Gebet Gottes Zorn wider unseren Bruder Duncan ein wenig zu lindern. Einen Priester Gottes der Verdammnis zu überantworten, auch einen, der ein Deryni ist, muß zwangsläufig ein ernstes Ding sein. Stimmt Ihr mir
nicht zu?« »Wir befinden uns in vollständiger Übereinstimmung, mein Bruder.« Cardiel nickte, während sie durch eine Seitentür den Saal verließen. »Ich glaube, wir sollten in unsere Besinnung auch jenen Warin einschließen, welchen der gute Monsignor Gorony in seinem etwas überstürzten Bericht erwähnte. Seid Ihr nicht auch dieser Meinung?« Mit Zurückhaltung nickten sie zwei Mönchen zu, die ihnen im Korridor begegneten und ihr Nicken erwiderten, dann betraten sie die sorgsam abgesonderte, gegen unerbetene Lauscher abgeschirmte Hauskapelle des Bischofs von Dhassa. Als sich die Türflügel schlossen, erlaubte sich Arilan endlich das Lächeln, das er schon seit einer Weile unterdrückte, und lehnte sich unbefangen rücklings ans Portal, während neben ihm Cardiel eine Kerze entzündete. »Warin ist nicht die eigentliche Schwierigkeit, wie Ihr wißt«, sagte Arilan und blinzelte, als die Kerzenflamme aufflackerte. »Aber wenn wir uns über ihn unterhalten, muß es in engem Zusammenhang mit der sorgfältigen Erwägung des Kirchenbannes geschehen, den Loris anscheinend durchzusetzen fest entschlossen ist. Ich wüßte nicht, wie wir uns wider die Exkommunikation wenden und dennoch in guter Beziehung zur Kurie bleiben könnten. Die Tatsachen sind unabweisbar, und Morgan und McLain sind zumindest der Sache nach dessen schuldig, was man ihnen vorwirft. Aber ich muß die Absicht des Kirchenbannes gänzlich ablehnen, es sei denn, das Volk Corwyns weigerte sich, seines Herzogs Exkommunikation durch die Kurie anzuerkennen.« Cardiel schnob, während er durch die Kapelle nach
vorn schritt und auf dem Altar ein Paar weiterer Kerzen anzündete. »Ich bin mir nicht einmal darin sicher, ob ich selbst dann den Kirchenbann befürworten könnte, Denis. Um ehrlich zu sein, ich bin nicht davon überzeugt, daß Morgan und McLain irgend etwas anderes getan haben als sich verteidigt. Und nach meinem Ermessen ist sogar das der Derynimagie angeblich innewohnende Böse äußerst fraglich.« »Es ist gut, daß Ihr das nur zu mir sagt.« Arilan lächelte und kam das kurze Mittelschiff entlang, um sich zu Cardiel zu gesellen. »Andere Mitglieder der Kurie hegten womöglich dafür kein Verständnis.« »Aber Ihr habt welches«, meinte Cardiel zuversichtlich. Er schaute auf zum roten Schein des Ewigen Lichts, das von der Decke herabhing, und nickte zu ihm hinauf. »Und auch Er, für den dies Licht brennt, hat Verständnis. Wir drei sind vorerst genug.« Arilan lächelte erneut und setzte sich in die vordere Reihe des Kirchengestühls. »Das sind wir«, pflichtete er bei. »So wollen wir darüber sprechen, wie wir's erreichen, daß wir mehr als drei werden, was wir zu tun und vorzutragen vermögen, um Loris Pläne zu vereiteln, sobald dazu die Zeit reif ist.«
15 Die Menschen töten, was sie nicht verstehen. Unbekannter derynischer Mönch Es regnete noch, als Duncan und Morgan aus den Bergen herabkamen. Im Westen fuhren Blitze über den Himmel und tauchten den im Erlöschen begriffenen Sonnenuntergang in fahlen Schein, und zwischen den Gipfeln grollte und hallte Donner. Durch die Klosterruine St. Neot heulte der Wind und fegte Regenschwaden gegen den verwitterten grauen Stein und das verkohlte Gebälk, als die beiden Reiter erneut den Klosterhof durchquerten. Duncan spähte in die Düsternis und zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht. Zu seiner Rechten saß Morgan matt und zusammengesunken im Sattel, seine Finger, die in den Handschuhen staken, fest um den hohen Sattelknopf gekrampft, die Augen geschlossen; sein Oberkörper wippte mit der Bewegung seines Pferds. Vor Stunden schon war er in einen Dämmerzustand von Halbbewußtlosigkeit entglitten; seine Betäubung milderte ihm gnädig die Mühsal des langen Rittes, aber Duncan war sich darüber im klaren, daß sein Vetter nicht viel länger ohne Rast durchhalten konnte. Gott sei Dank hatten sie nun endlich ihren Zufluchtsort erreicht. Duncan lenkte sein Reittier in den geschützt gelegenen Winkel, wo er und Morgan die vorherige Nacht zugebracht hatten, und zügelte das Pferd. Morgan schwankte im Sattel, dann schrak er mit ei-
nem Ruck auf, als die Tiere stehenblieben und Duncan absprang. Fassungslos betrachtete er die Umgebung aus verschleierten Augen. »Wo sind wir? Was ist geschehen?« Duncan unterquerte den Pferdehals und trat an Morgans Seite. »Es ist alles gut«, versicherte er. »Wir sind in der Ruine St. Neot.« Er half Morgan aus dem Sattel. »Du wirst dich hier ausruhen, derweil ich Umschau halte. Irgendwo in der Nähe dürfte es eine Porta Itineris geben. Sollte sie noch zu verwenden sein, können wir auf diesem Wege geschwind nach Rhemuth gelangen.« »Ich helfe dir suchen«, murmelte Morgan schwerfällig und stolperte fast, während Duncan ihn in die trockenste Ecke ihres alten Lagerplatzes geleitete. »Wahrscheinlich ist sie beim Altar Cambers, von dem ich dir erzählt habe.« Duncan schüttelte sein Haupt, als er Morgan beim Niedersetzen beistand und sich neben ihn kniete. »Ist eine dort, dann finde ich sie allein«, erklärte er und lehnte seinen Verwandten rücklings ans Gemäuer. »Unterdessen mußt du dir ein Mindestmaß richtigen Schlafs gönnen.« »Halt, warte einmal«, widersprach Morgan und unternahm einen schwachen Versuch, sich aufzusetzen. »Du kannst unmöglich draußen allein umherstreifen, während ich schlafe.« Duncan lächelte nachsichtig, aber seine Hand drückte Morgan unerbittlich zurück an die Mauer, und er schüttelte nochmals das Haupt. »Ich fürchte, genau das werde ich tun, mein Freund. Diesmal hast du nicht das Sagen. Nun widerstrebe mir nicht, sonst muß ich dich in den Schlaf zwingen.«
»Das tätest du wahrlich«, murmelte Morgan gereizt und erschlaffte an der Mauer mit einem Seufzer. »In der Tat. Nun entspanne dich.« Als Morgan die Lider schloß, entledigte sich Duncan der Handschuhe und schob sie unter sein Gewand. Für einen Moment der Einstimmung faltete er die Hände, musterte seinen Vetter und sammelte seine Geisteskraft; seine hellen Augen trübten sich, dann hob er die Arme und berührte mit den Händen Morgans Haupt, die Daumen an die Schläfen gelegt. »Schlaf, Alaric«, flüsterte er, »schlaf, schlaf, schlaf ohne Träume. Laß den Schlummer die Erschöpfung vertreiben und dich stärken.« Er ging zu Morgan eine stumme derynische Geistesverbindung ein. Schlafe, schlafe, mein Bruder. Schlafe tief und ohne Sorge. Ich werde nicht weit sein. Morgans Atem verlangsamte sich, wurde gleichmäßig; seine Gesichtszüge lockerten sich. Dann sank er in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Duncan senkte seine Hände und betrachtete ihn für einen Augenblick, vergewisserte sich, daß sein Vetter nicht vor seiner Rückkehr erwachen werde; danach richtete er sich auf, holte vom Sattel eine Decke und breitete sie über die eingeschlummerte Gestalt. Nun konnte er nach der Porta Itineris forschen. Auf der Schwelle der zerstörten Kapelle verharrte Duncan und verschaffte sich vorsichtig einen ersten Überblick. Die Nacht war hereingebrochen, aber der Regen schwächer geworden, so daß er die halb eingestürzten Mauern erkennen konnte, die finster an den dunklen Nachthimmel aufragten. Zur Linken, wo noch ein Teil des Daches vorhanden war, starrten die hohen Fenster der beschädigten Lichtgaden wie leere Augenhöhlen auf ihn herab; in der allgemeinen Zer-
störung, die das Bauwerk heimgesucht hatte, war ihr buntes Glas für immer verschwunden. Ein Blitz zuckte und erleuchtete die einstmals hehre Kapelle taghell, während Duncan zum Hochaltar schritt. Seichte Pfützen zwischen den zerbrochenen Fliesen des Fußbodens funkelten in zerstückelter Helligkeit, wann immer ein neuer Blitzschlag über den Himmel toste. Wind heulte durch die Ruine, lieh seine Klagestimme den vergangenen Schändlichkeiten und Mißgeschicken. Duncan erreichte den Fuß der Altarstufen und blieb dort stehen, stellte sich vor, wie es hier in jener Zeit gewesen sein mußte, als die Abtei in höchster Blüte gedieh, als die Mauern ungefähr einhundert derynische Mönche, zahlreiche Gelehrte und edelblütige Schüler umschlossen hatten. In jenen Tagen mußten die Prozessionen sich dem Altar voller Ehrfurcht und Andacht genaht haben, die Stimmen hoben sich zum Lobgesang zugleich mit dem bittersüßen Duft von Weihrauch himmelwärts, derweil Kerzen aus Bienenwachs freudigen Schein verbreiteten. Er vermochte nahezu entsprechende Eindrücke wahrzunehmen. Introibo ad altare Dei... Ich will vor den Altar Gottes treten. Ein weiterer Blitz spaltete den Nachthimmel und erhellte die Nichtigkeit von Duncans Grübeln, und er lächelte bei sich. Er stieg die Altarstufen empor, verharrte vor der zertrümmerten Altarplatte und legte sacht seine Hände darauf; er fragte sich, wie viele Hände, geweihte Hände wie seine, schon darauf geruht haben mochten. Vor seinem geistigen Auge schaute er die Pracht jener Tage, da man des Altares Heiligkeit in Ehren hielt, und er neigte sein Haupt und beugte aus Achtung vor dem Vergangenen das
Knie. Donner erscholl, und er wandte sich vom Altar ab seine Überlegungen wieder auf seine gegenwärtige Aufgabe gerichtet. Eine derynische Porta Itineris ausfindig zu machen – so lautete diese Aufgabe. Eine durch Magie besonders beschaffene Stelle inmitten der Ruine eines längst verfallenen derynischen Klosters zu finden – in der Hoffnung, das magische Werk möge nach zweihundert Jahren noch brauchbar sein. Wo hätte vor vierhundert Jahren ein Baumeister dieser Kapelle eine solche Einrichtung angelegt? Wäre er nach gleichartigen Gesichtspunkten verfahren, die jenen Portae zugrunde lagen, welche Duncan kannte? Wie viele davon gab es überhaupt in den Elf Königreichen? Wußte das irgend jemand? Duncan wußte um zwei Portae. Eine befand sich in seinem Studierzimmer, ursprünglich errichtet, damit des Königs Beichtvater, in frühereren Zeiten gewöhnlich ein Deryni, binnen eines Augenblicks den Dom aufsuchen könne. Die andere Porta befand sich in der Sakristei des Domes; sie umfaßte eine einfache metallene Platte im Boden unterm Teppich, in jenem Winkel, der zum Umkleiden diente. Schließlich konnte man niemals voraussagen, wann es sich als notwendig erwies, die Tore des Himmels mit Gebeten und Fürsprachen zugunsten des Königs zu bestürmen – so dachten wenigstens die Alten. So führte nichts an der vorherigen Fragestellung vorbei: Wo konnte sich hier in der Klosterruine St. Neot eine Porta Itineris befinden? Duncan betrachtete die linke und dann die rechte Seite des Kirchenschiffes; wie auf Geheiß einer inneren Eingebung wandte er sich nach rechts. Ein Seitenaltar, hatte Morgan gesagt; ein Seitenaltar befand sich zumeist links vom Hochaltar, von Duncans Standort
aus also rechts – dort, wohin er nun blickte. Vielleicht lag dort die Antwort. Sankt Camber war der Schutzpatron der Derynimagie. Welchen besseren Ort konnte es für eine durch dieselbe Magie geschaffene Porta Itineris geben? Von jenem Altar war wenig geblieben. Schon damals war er nicht mehr gewesen als eine in die Mauer eingelassene, schmale Marmorplatte, deren Kante nun von wuchtigen Schlägen gesprungen und abgesplittert war, so daß man von der Inschrift nur noch einen beinahe unleserlichen Rest sah. Duncan entzifferte das Jubilante Deo am Anfang der Inschrift; und sein Vorstellungsvermögen gestattete es ihm, auch die Lücken der anderen Wörter auszufüllen und somit den Namen des Heiligen zu ersehen: Sanctus Camberus. In der rundgewölbten Nische darüber standen noch die abgebrochenen Füße des derynischen Heiligen. Duncans Finger strichen über die schadhafte Mamorplatte, während er das Innere der Ruine von diesem Standort aus musterte; nach einem kurzen Weilchen schüttelte er das Haupt. Hier konnte er keine Porta Itineris finden; nicht hier im allgemeinen Blickfeld. Trotz der weiten Anerkennung, welche die Magie vor und während des Interregnums genoß, als man die Abtei erbaute, hätten die derynischen Baumeister von St. Neot eine Porta Itineris nie und nimmer hier eingerichtet, unter den Augen sämtlicher Besucher der Kapelle. Das war nicht derynische Art. Nein, sie mußte sich an einer abgesonderten Stelle befinden – vielleicht durchaus in der Nähe, da man sich von der Gegenwart St. Cambers sicherlich einen gewissen Schutz versprach, aber nicht in offenem Blickfeld. Wo also? Duncan kehrte sich wieder dem kleinen Altar zu und begutachtete
beiderseits davon die Mauer, suchte nach einem Zugang zu den Kammern und Nebenräumen, die jenseits der Mauer liegen mußten. Er entdeckte ihn – eine baufällige Türöffnung, halb begraben hinter herabgestürzten Balken und niedergebrochenem Mauerwerk; und ohne Verzug bahnte er sich den Weg, räumte sich ein Loch frei, durch das er kriechen konnte. Er wand sich durch die Trümmer und gelangte in eine kleine, jedoch erhabene Kammer, welche einst die Sakristei gewesen sein mußte. Drinnen richtete er sich vorsichtig auf, den Hals eingezogen, um nicht mit dem Kopf an niedrighängende Balken zu stoßen, die beim Brand der Kapelle herabgefallen waren; der Fußboden war übersät mit Mauersteinen, morschem Holz und Glasscherben. Doch an der jenseitigen Wand standen die Überreste eines elfenbeinernen Ornatschreins, lagen Bruchstücke von Laden, Truhen und angekohlten Kleiderschränken. Mit geübtem Blick hielt Duncan in der Sakristei Umschau; er zwinkerte, als ein besonders greller Blitz den Nachthimmel erleuchtete. Und wo hätten die Alten hier eine Porta Itineris erstellt? Konnte sie angesichts so gründlicher Zerstörungen überdauert haben? Indem er mit den Füßen Schutt beiseite räumte, trat Duncan weiter ins Innere der Sakristei und schloß die Augen, während er sich müde mit dem Handrücken über die Stirn fuhr, er versuchte sein Bewußtsein irgendwelchen Eindrücken zu öffnen, die hier haftengeblieben sein mochten. Hüte dich, Deryni! Hier lauert Gefahr! Erschrocken wirbelte Duncan herum, er nahm mit einem Ruck eine geduckte Haltung ein, zog halb das Schwert. Von neuem zuckte ein Blitz herab, und un-
heimliche Schattengebilde huschten über die Wände; aber niemand außer Duncan war in der Sakristei. Wachsam straffte er sich wieder, schob sein Schwert in die Scheide zurück; doch er achtete weiterhin darauf, ob sich irgendeine Bedrohung einstelle. Hatte er die Stimme lediglich gewähnt? Nein. Sollte es also gar eine geistige Stimme gewesen sein? Eine, welche die alten derynischen Herren von St. Neot zurückgelassen hatten? Behutsam wich Duncan rückwärts, bis er sich wieder am Platz befand, wo er vorher gestanden hatte; dann schloß er nochmals die Augen und zwang sich zu äußerst aufmerksamem Lauschen auf geistiger Ebene. Obschon er diesmal mit der Stimme rechnete, jagte sie ihm keinen geringeren Schauder über den Rücken; es handelte sich eindeutig um eine geistige Stimme. Hüte dich, Deryni! Hier lauert Gefahr! Von ganzen hundert Brüdern blieb nur ich, um zu versuchen, mit meinen geschwächten Kräften diese Porta zu zerstören, bevor man sie entweiht. Blutsverwandter, sei auf der Hut! Hab acht auf dich, Deryni! Die Menschen töten, was sie nicht verstehen. Heiliger Sankt Camber, beschütze uns vor allen furchtbaren Übeln! Duncan schlug die Augen auf und schaute umher; dann versuchte er es noch einmal. Hüte dich, Deryni! Hier lauert Gefahr! Von ganzen hundert Brüdern... Duncan löste sich von der Verbindung und seufzte. Also eine Botschaft des letzten an diesem Ort gewesenen Derynimönchs. Und als er im Sterben lag, hatte er die Porta zu zerstören versucht. Mit Erfolg. Duncan kauerte sich nieder und untersuchte den Boden unter seinen Füßen; er zog den Dolch aus dem Stiefel und fegte den Schutt zur Seite. Wie erwartet entdeckte er den schwachen Umriß eines Vierecks, ungefähr drei mal drei Fuß groß.
Wahrscheinlich war die Porta, ganz so wie jene im Rhemuther Dom, einstmals unter einem Teppich verborgen gewesen, doch der Teppich war seit langem verfallen. Und das Portal... Duncan steckte seinen Dolch fort, legte seine Handflächen behutsam auf das Viereck und erforschte es mit seinen Derynisinnen, hoffte verzweifelt, er möge das leichte Schwindelgefühl und den Sog empfinden, welche einer Versetzung vorangingen. Aber beides blieb aus. Er versuchte es ein zweites Mal. Diesmal nahm er eine schwache Welle von Schwärze, von Pein wahr, dazu den Anfang der Botschaft, die er bereits kannte. Dann nichts mehr. Die Porta Itineris war erloschen. Der letze Derynimönch hatte Erfolg gehabt. Duncan seufzte erneut, stand auf und schaute ein letztes Mal rundum, während er sich die Hände an den Beinkleidern wischte. Nun mußten sie doch nach Rhemuth reiten. Da die Porta zerstört war, besaßen sie keine andere Wahl. Und von dort aus mußten sie vermutlich den Weg nach Culdi fortsetzen; denn dorthin würde sich auch Kelson begeben, um an der Vermählung Bronwyns und Kevins teilzunehmen. Es ließ sich nicht ändern. Er mußte sich darin schicken und Alaric wecken, damit sie sich von neuem auf den Weg machen konnten. Mit ein wenig Glück müßten sie Rhemuth am folgenden Abend erreichen, lange vor irgendwelchen Verfolgern. Die Glocken klangen dumpf und bleiern schwer, als die Bischöfe in Dhassas Sankt-Andreas-Kathedrale einzogen. Der Abend war klar und frisch, angehaucht von neuerlichem Frost, und winzige Eiskristalle wirbelten durch die Luft, während die Männer sich hin-
term Portal sammelten. An einem Feuerbecken im Mittelschiff entzündete man lange Kerzen, welche zwei junge Priester austeilten. Die Flammen tanzten in der Zugluft, die von den halboffenen Eingängen durch die Kathedrale pfiff, und ihr Geflacker erzeugte im Dunkel und auf den vom Frost schwach bereiften Mänteln der Prälaten ein sonderbares Wabern von Kerzenschein. Die Männer schoben sich die Seitengänge hinauf, um im Chorgestühl ihre Plätze einzunehmen, zwei unregelmäßige Kolonnen gesichtsloser Männer mit Feuer in den Händen. Als die Glocken ihr düsteres Läuten einstellten, zählte ein Kirchendiener unauffällig die Häupter der Versammelten, um sich von der Anwesenheit aller zu überzeugen, welche der Primas gefordert hatte. Danach entfernte er sich durchs Dunkel des Kirchenschiffes, und gleich darauf erscholl ein hohles Dröhnen, als er das Portal der Kathedrale schloß. Man sah drei Kerzenflammen am Chorgestühl entlangziehen, als der Kirchendiener und die beiden Priester vom Portal kamen, um sich zu den Klerikern zu gesellen. Für kurze Zeit herrschte Ruhe, man hörte nur Husten und Füßescharren; dann öffnete jemand eine Seitentür, und Loris trat ein. Loris war am heutigen Abend mit allen kirchlichen Zeichen der Würde ausgestattet. Er trug einen schwarzen und silbernen Chormantel und auf dem Haupt die von Edelsteinen schwere Mitra, und er hielt seinen silbernen Krummstab entschlossen in der Linken, während er durchs Querschiff schritt und dann in den Chor einbog. Zu seinen Seiten begleiteten ihn Erzbischof Corrigan und Bischof Tolliver, und dahinter folgte Bischof Cardiel. Während sie zwischen den Gestühlen voller Kleriker dahinschritten, trug ih-
nen ein junger Kaplan des Erzbischofs schweres Silberkreuz voraus. Loris und seine Begleiter erreichten die Stufen des Sanktuariums und blieben stehen, verbeugten sich ehrerbietig vorm Altar und kehrten sich sodann der Versammlung zu. Als Cardiel sich nach rechts wandte, um von einem in Bereitschaft befindlichen Mönch vier Kerzen entgegenzunehmen, widmete er Arilan aus Augen voller Grimm einen Seitenblick. Dann begab er sich wieder an Tollivers Seite und händigte die Kerzen aus, entzündete mit seiner Kerze Tollivers, Loris und Corrigans Kerzen. Sobald Loris Kerze brannte, trat Gwynedds Primas vor und richtete sich zu seiner vollen Höhe auf. Seine Augen glommen von kaltem Feuer, derweil ihr Blick den versammelten Klerus musterte. »Dies ist der Wortlaut des Exkommunikationsdokuments«, begann er zu sprechen. »Merkt auf und lauscht. Da denn Alaric Anthony Morgan, Herzog von Corwyn, Herr auf Coroth, Feldmarschall des Königlichen Heeres und Kämpe des Königs, und Monsignor Duncan Howard McLain, ein seines Amtes enthobener Priester der Kirche, mit Vorbedacht und wiederholt der Heiligen Kirche Gebote mißachtet und übertreten haben, und da denn die Genannten, Alaric und Duncan, am heutigen Tage unschuldige Söhne der Kirche erschlagen und der Person eines geweihten Priesters Gottes in gotteslästerlicher Weise den Tod angedroht und ihn somit gezwungen haben, abscheulichen und ketzerischen Zauberwerken beizuwohnen, und da denn die Genannten, Alaric und Duncan, durch Anwendung verbotener Zauberei den Schrein Sankt Torins entweiht und seinen Untergang bewerkstelligt haben, da sie sich auch in der Vergan-
genheit wiederholt der Ausübung besagter verbotener Zaubereien befleißigten, und da denn die Genannten, Alaric und Duncan, keine Bereitschaft kundtaten, ihre Sünden zu bekennen und vom Pfad der Sünde abzuweichen, daher erkläre ich, Edmund Loris, Erzbischof von Valoret und Primas von Gwynedd, indem ich im Namen aller Geistlichen der Kurie Gwynedds spreche, die Genannten, Alaric Anthony Morgan und Duncan Howard McLain, in der Kirche Acht und Bann. Wir entlassen sie aus dem Schoß der Heiligen Kirche Gottes. Wir verstoßen sie aus der Gemeinde der Rechtgläubigen. Möge der Zorn des Himmlischen Richters auf sie niederfahren. Mögen sie gemieden sein von den Frommen. Mögen die Türen des Himmels sich ihnen verschließen und jedem, der ihnen günstig gesonnen ist. Bei Strafe des Bannfluchs soll kein Gottesfürchtiger ihnen Gastfreundschaft gewähren, ihnen Speise oder Obdach vor der Nacht geben. Kein Priester soll ihnen die Sakramente spenden, solange sie leben, oder an ihren Gräbern stehen, wenn sie gestorben sind. Verflucht seien sie unter den Dächern, verflucht in den Feldern und Fluren. Verflucht seien ihre Speise und ihr Trank und alles, was ihnen zu eigen ist oder sie besitzen. Wir erklären sie für exkommuniziert und hinausgeworfen in die Finsternis zu Luzifer und allen seinen gefallenen Engeln. Wir zählen sie zu den Dreimalverdammten ohne Hoffnung auf Erlösung. Und wir verdammen sie zur Ewigen Höllenstrafe und belegen sie mit unlöslichem Fluch. So möge ihr Licht inmitten der Finsternis erlöschen. So sei es!« »So sei es!« bekräftigte die Versammlung. Loris streckte seine Kerze vor sich hin, kehrte den Docht
abwärts und warf sie auf den Boden, so daß die Flamme erlosch. Und dann taten die zusammengekommenen Bischöfe und Geistlichen es ihm gleichzeitig nach. Die Kerzen polterten wie hohle Scheite; ihre Flammen erloschen, und dann herrschte Finsternis. Nur eine Kerze brannte noch; ihr Flämmchen flakkerte trotzig auf den Fliesen weiter. Und niemand wußte zu sagen, wessen Händen das Licht entstammte.
16 Denn stark wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft hart wie die Unterwelt. Ihre Gluten sind Feuergluten, lodernde Blitze. Hoheslied 8,6 »Fang mich, wenn du's vermagst!« spottete Bronwyn. Mit einem koketten Augenzwinkern lief sie über den Gartenpfad davon, ihr goldenes Haar wehte, das blaue Gewand raschelte verführerisch um ihre langen Beine. Als sie fortsprang, unternahm Kevin sofort den Versuch, ihren Arm zu ergreifen, doch vergeblich, dann eilte er ihr mit fröhlichem Gelächter hinterdrein. Sein Schwert schepperte gegen seine Stiefel und drohte ihn bei jedem Schritt zu Fall zu bringen, aber er schenkte dieser Nebensächlichkeit wenig Aufmerksamkeit und begnügte sich damit, das Schwert mit einer Hand am Griff festzuhalten, während er Bronwyn über das Gras verfolgte. Der Tag war frisch, die Sonne ein wenig warm, und Bronwyn und Kevin waren soeben von einem Morgenritt in die Hügel vor Culdi zurückgekehrt, welche zu grünen begannen. Nun tollten sie durch die Gärten wie mutwillige Kinder, fast eine Viertelstunde lang liefen und sprangen sie zwischen den Bäumen und Standbildern der gepflegten Gärten umher, Kevin als Verfolger, Bronwyn als die Gejagte. Endlich gelang es Kevin, Bronwyn hinter einem kleinen
Springbrunnen in die Enge zu treiben, und er drohte ihr schon zuversichtlich mit dem Zeigefinger und lachte, während sie den Brunnen umkreisten. Bronwyn selbst beendete diese ausweglose Lage. In einer aufsässigen Geste streckte sie die Zunge heraus und rannte davon, um sich in Sicherheit zu bringen, doch sie rutschte im Gras aus und fiel aufs Knie. Kevin nutzte seinen Vorteil, sprang an ihre Seite und schlang die Arme um sie, drückte sie mit seinem Gewicht ins Gras, als er sich vorbeugte, um ihr einen Kuß zu rauben. Als sie in seinen Armen ermattete und ihre Lippen sich den seinen öffneten, verlor er in der rauschhaften Verzückung des Augenblicks nahezu die Besinnung, bis er vernahm, wie sich hinter ihm jemand bedeutsam räusperte. Kevin erstarrte und schlug die Augen auf, dann endigte er den Kuß. Als er sich von Bronwyn löste, sah er ihre Augen sich ein wenig weiten, als sie über seine Schulter hinwegblickte, und sie unterdrückte ein Kichern. Dann schaute er auf ins Antlitz seines Vaters. Herzog Jared lächelte nachsichtig. »Ich dachte mir, daß ich euch zwei hier finde« sprach Kevins Vater, während Kevin einfältig grinste. »Erhebe dich und heiße deine Gäste willkommen, Kevin.« Als Kevin sich aufraffte und Bronwyn hilfreich die Hand darbot, sah er, daß Jared sich tatsächlich nicht allein eingestellt hatte. Mit ihm erschienen waren Jareds Seneschall, Herr Deveril, der Baumeister Rimmel – Deveril suchte ein Lächeln zu verhehlen, wogegen Rimmel todernst dreinschaute wie stets –, ferner Kelson, Derry, der rotbärtige Herzog Ewan, einer von Kelsons Ratsherren. Kelson, der in seiner Reitkleidung aus scharlachrotem Leder zerzaust, aber wohl-
gemut aussah, lächelte und nickte den beiden zu, als Kevin und Bronwyn sich verbeugten, dann trat er beiseite, um einen siebenten Gast vorzustellen – einen kleingewachsenen, drahtigen Mann von dunklem Äußeren, aber in einer Gewandung von grellem Rosa und Violett, der nur der berühmte Troubadour Gwydion sein konnte. Eine Laute mit rundlichem Bauch hing an einer goldenen Schnur um seine Schultern; vom vielen Gebrauch war die mit durchbrochenen Verzierungen gefertigte Griffleiste glatt wie Samt. Und des Troubadours schwarze Augen glitzerten, während er das junge Paar in höflicher Aufmerksamkeit musterte. Kevin sah Kelson an und erwiderte dessen Lächeln. »Willkommen in Culdi, Sire«, grüßte er den König, streifte Grashalme von seinem Gewand und begrüßte die übrigen Gäste mit einer weiträumigen Geste. »Eure Anwesenheit beehrt uns, Majestät.« »Keineswegs, denn es ist Gwydion, der uns allen die Ehre gibt, mein Herr Kevin«, entgegnete Kelson mit unvermindertem Lächeln. »Und falls Ihr ihn Eurer Dame vorstellt, so glaube ich gar, er dürfte sich dazu bewegen lassen, uns am heutigen Nachmittag mit einem Stegreifvortrag zu erfreuen.« Als Gwydion sich zum Dank vor Kelson verneigte, grinste Kevin und nahm Bronwyn bei der Hand. »Bronwyn, ich habe die Ehre, dir den unvergleichlichen Gwydion ap Plenneth vorstellen zu dürfen, von dessen Kunstfertigkeit im Lautenspiel und Gesang du bereits vernommen hast. Meister Gwydion, dies ist die Lady Bronwyn Morgan, meine Anverlobte. Sie allein war's, die aufgrund Eures Ansehens darauf beharrte, ich solle Alaric dazu überreden, Euch kommen zu lassen.«
»Meine allergnädigste Dame«, säuselte Gwydion, lüftete seine kräftig rosafarbene Mütze, schwang sie, verbeugte sich schwungvoll und tief, so daß seine weiten Ärmel das Gras streiften, »für den Anblick einer so außergewöhnlichen Schönheit hätte ich mir selbst den Zorn Eures Herrn Bruders aufzuladen gewagt.« Er beugte sich erneut vornüber und küßte ihr die Hand. »Verzeiht es mir, wundervolle Dame, wenn mir in Eurer Gegenwart die Worte mangeln.« Bronwyn lächelte freudig und senkte ihren Blick, und eine schwache Röte färbte ihre Wangen. »Mich dünkt, Kevin, dieser Minnesänger ist ein Mann mit wahrhaft vornehmen höfischen Sitten. Meister Gwydion, wolltet Ihr in der Tat schon am heutigen Nachmittag für uns spielen? Wir haben lange darauf geharrt, Eure Weisen hören zu dürfen.« Gwydions Miene widerspiegelte höchste Freude, und mit Schwung verbeugte er sich erneut. »Ich stehe zu Euren Diensten, meine Dame.« Er vollführte eine Rundumgebärde. »Und da dieser Garten so märchenhaft schön ist und die rechte Umgebung für meine Lieder abgibt, sollten wir uns nicht, während ich spiele, an der überreichen Natur des Herrn weiden und hier eine Zeitlang verweilen?« »Eure Majestät?« fragte Bronwyn. »Er ist gekommen, um für Euch zu spielen, edle Dame«, antwortete Kelson, lächelte und verschränkte, als er ihre Freude bemerkte, seine Arme auf der Brust. »Ist es Euer Wunsch, daß wir hier im Garten lauschen sollen, dann mag es so geschehen.« »O ja!« Mit einer knappen Verbeugung wies Gwydion aufs Gras neben dem Springbrunnen, um seine Zuhörer
zum Niedersetzen aufzufordern. Während er sein Instrument vom Rücken nahm und sich auf die Einfassung des Springbrunnens setzte, entledigte sich Kevin seines Reitmantels und breitete ihn auf dem Gras aus. Bronwyn ließ sich darauf nieder und verbarg ihre Füße unterm Saum ihres Gewandes. Derry, Deveril und Ewan machten es sich selber auf ihre Weise bequem. Kevin wollte seinen Platz an Bronwyns Seite einnehmen, da merkte er, wie Kelson seine Aufmerksamkeit zu erregen versuchte; er überließ den Platz seinem Vater. Während Kevin und Kelson sich langsam von der Gruppe absonderten, schlug Gwydion eine Saite und begann feinsinnig sein Instrument zu stimmen. Seine Zuhörerschaft lauschte in ungeteilter Achtsamkeit, als er von dem Lied zu erzählen anfing, das er vorzutragen beabsichtigte. Kelson drehte sich noch einmal um, dann wandte er sich, indem sie sich entfernten, an Kevin. Seine Miene war ernst und versonnen, als er den Älteren ansprach. »Habt Ihr in den letzten Wochen Kunde von Eurem Bruder erhalten, Herr Kevin?« Er wirkte ruhig, aber Kevin spürte, wie des jungen Königs Gestalt sich in Erwartung der Antwort verkrampfte. »Ihr sprecht, als hättet auch Ihr nichts von ihm vernommen, Sire«, entgegnete er in gefaßtem Ton. »War er nicht bei Euch?« »Eine und eine halbe Woche lang nicht«, erteilte Kelson Auskunft. »Vor zehn Tagen erhielten wir zur Kenntnis, daß Duncan seines Amtes enthoben und vors Rhemuther Kirchengericht gerufen werden solle. Natürlich konnten wir gegen die Amtsenthebung nichts unternehmen. Das ist eine rein kirchliche Sache, die zwischen Duncan und seinem Vorgesetzten
ausgefochten werden muß. Aber wir alle – das heißt, Nigel und ich – waren der Auffassung, daß er sich dem Kirchengericht besser entziehe.« Kelson verharrte und betrachtete die Spitzen seiner blanken Lederstiefel, ehe er weiterredete. »Zur selben Zeit wurden wir auf eine andere ernste Angelegenheit aufmerksam gemacht – eine von viel ernsterer Natur als Duncans Amtsenthebung. Loris und Corrigan hegen die Absicht, ganz Corwyn mit einem Kirchenbann zu belegen. Das ist ein geeignetes Vorgehen, um sich an Morgan zu rächen und die Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der Deryni, welche die Elf Königreiche seit zweihundert Jahren spaltet, endgültig zu beenden – oder zumindest glauben's die Erzbischöfe. Unter diesen Umständen beschloß Duncan, daß sein Platz nun an Alarics Seite sein müsse, sowohl zum Zweck, um ihm die Nachricht von der Gefahr eines Kirchenbanns zu bringen, wie auch infolge der Überlegung, daß es weiser sei, sich aus der Reichweite des Kirchengerichts zu begeben. Als Herr Derry die beiden vor vier Tagen verließ, waren sie wohlauf. Sie bereiteten sich darauf vor, nach Dhassa zu reiten und vor der Kurie selbst wider einen Kirchenbann aufzutreten. Seitdem habe ich keine weitere Kunde erhalten.« Kevin stöhnte auf. »Amtsenthebung? Kirchenbann? Sind noch andere Übel zu vermelden, die sich während meiner Abwesenheit vom Hof ergeben haben?« Kelson grinste schief. »Da Ihr's unbedingt wissen wollt, ja. In den nördlichen Bergen Corwyns hat sich eine Schar von Rebellen zusammengerottet und möchte zu gerne einen heiligen Krieg wider die Deryni anzetteln. Sollte es zu dem Kirchenbann kom-
men, dürften sie sich natürlich der gewaltigsten Unterstützung sicher sein. Und jeden Tag kann Wencit von Torenth mit der Belagerung Cardosas beginnen. Von diesen Verhältnissen abgesehen, herrscht wunderbarer Friede. Euer verehrter Bruder riet mir, ich möge gelassen bleiben, den rechten Zeitpunkt abwarten, niemanden aufscheuchen, bis er und Morgan zurückgekehrt wären und mir Empfehlungen geben könnten. Freilich, er hat recht. Trotz meines Ranges und meiner Macht bin ich für mancherlei Dinge noch zu jung, und er weiß das... Ich bin sehr freimütig zu Euch, Kevin. Aber es ist überaus beschwerlich, nur herumzusitzen und zu warten.« Kevin nickte bedächtig, dann schaute er sich vorsichtig über seine Schulter in die Richtung um, wo Gwydion nun sang. Er konnte die Worte nicht verstehen, aber die Melodie schwebte klar und süß durch die stille Frühlingsluft herüber. Er scharrte mit den Füßen im Gras, die Arme auf der Brust überkreuzt, dann senkte er seinen Blick. »Ich nehme an, die anderen wissen von alldem nichts?« »Derry weiß alles. Gwydion vermutet etwas, ist sich jedoch dessen nicht sicher. Aber die anderen – nein. Ich wüßte es zu schätzen, würdet Ihr's dabei belassen. Gegenwärtig könnte es, sorgten sie sich, die Lage nicht bessern, und ich möchte die Hochzeitsfeierlichkeiten nicht stärker beeinträchtigen als erforderlich.« Kevin lächelte matt. »Ich danke Euch dafür, daß Ihr mir Aufklärung erteilt habt, Sire. Ich werde darüber schweigen. Und sollte ich Euch in irgendeiner Beziehung Beistand erweisen können, so bedenkt, daß mein Schwert und
mein Vermögen Euch zu Diensten stehen.« »Ich hätte mich Euch nicht anvertraut, besäße ich nicht vollständige Klarheit über Eure Vertrauenswürdigkeit«, entgegnete Kelson. »Kommt, wir wollen umkehren und Gwydion lauschen. Schließlich ist's Eure Vermählung, die stattfinden soll.« »Ach, meine Dame«, sagte soeben Gwydion, als sie sich wieder hinzugesellten, »Bescheidenheit ist gewißlich eines Weibes angenehme Zier, doch erlaubt mir, Euch erneut zu drängen Herr Alaric hat Euer Lautenspiel überaus hoch gepriesen. Wollt Ihr nicht jemanden schicken, damit er Eure Laute holt?« »Kevin?« Bevor Kevin antworten konnte, verließ Rimmel den nahen Baum, woran er gelehnt hatte, und verneigte sich hastig. »Gewährt mir die Ehre, meine Dame«, meldete er sich zu Wort, wobei er seinen Eifer zu verhehlen versuchte. »Herrn Kevin ist bereits ein Lied entgangen. Es wäre unrecht, ihn auch um den Genuß eines zweiten Liedes zu bringen.« »Meine Dame?« fragte Gwydion. »Oh, nun gut.« Bronwyn lachte. »Rimmel, Mary Elizabeth weiß, wo ich meine Laute aufbewahre. Richtet ihr aus, daß ich Euch sende, um sie mir zu holen.« »Jawohl, edle Dame.« Gwydion zupfte an einer Saite, stimmte sie mehr auf Molltöne ein, dann spielte er die ganze Tonleiter durch. »Ein getreuer Diener ist ein wahrer und kostbarer Schatz«, bemerkte er, während Rimmel forteilte. Er strich sanft über die Saiten und musterte seine Zuhörerschaft mit zufriedenem Lächeln. »Und nun, während wir warten, möchte ich's wagen, ein anderes
Lied zu singen, eine Liebesweise, gewidmet dem glücklichen Paar.« Er schlug einige Takte zur Einleitung und hob zu singen an. Bruchstücke von Gwydions neuem Lied hallten noch in Rimmels Gehör wider, als er eilends den Schloßhof überquerte. Ihm hatte keineswegs danach der Sinn gestanden, sich aus Bronwyns Nähe zu entfernen und sie mit Kevin Liebesweisen lauschen zu lassen; es ergaben sich selten genug Anlässe, da er in ihrer Gegenwart sein und sie unauffällig anschauen durfte. Aber er würde niemals eine bessere Gelegenheit dazu erhalten, den Zauber, welchen Bethane ihm geliefert hatte, anzuwenden. Um diese Tageszeit ruhten Bronwyns Damen sich für ein paar Stunden in ihren Gemächern aus. Und die nächste Person, welche Bronwyns Räume betreten mußte, sobald er sie wieder verlassen hatte, war Bronwyn selbst. Als er die Treppe zur Terrasse hinaufstürmte, von wo aus er in Bronwyns Gemächer gelangen konnte, preßte er seine Hand auf seine Brust und fühlte seinen Herzschlag, spürte den Beutel, den er am Vortag von Bethane bekommen hatte, unter seinem Wams, und die Berührung flößte ihm Zuversicht ein. In wenigen Stunden würde alles vorüber sein, Bronwyn ihm gehören. Er vermochte kaum zu glauben, daß es wahrhaftig so geschehen sollte. Er zögerte und blickte sich schuldbewußt um, bevor er das Gemach betrat, denn seine Anweisung lautete, er möge Mary Elizabeth unterrichten; doch niemand hatte ihn gesehen. Auch im Gemach hielt sich niemand auf. Er sah Bronwyns Laute an einem hölzernen Pflock neben ihrem Bett hängen, doch darum kümmerte er sich zunächst
nicht. Er mußte den Kristall irgendwo verbergen. An einer Stelle, wo Bronwyn ihn nicht entdeckte, bis es zu spät war und der Zauber seine Wirkung getan hatte. Er entschied, daß der richtige Ort der Ankleidetisch sei, und er schritt hinüber, holte den Beutel hervor. Eine Frau begab sich, wenn sie ihr Gemach betrat, zweifellos zuerst an ihren Ankleidetisch, vor allem, wenn sie den ganzen Morgen hindurch auf einem Pferd geritten war; und auf dem Tisch lagen bereits andere Kleinodien und funkelten und glitzerten, so daß sie den Stein, den er zurücklassen wollte, zur Genüge tarnen konnten. Behutsam legte er den Beutel auf den Tisch und begann die Schnur zu entknoten, da erinnerte er sich der Warnung, daß ihm nur wenige Augenblicke zur Verfügung stünden, um sich aus dem Wirkungskreis des Zaubers zu begeben. Er nahm die Laute vom Pflock, hängte sie sich um die Schultern, kehrte zurück zum Ankleidetisch und öffnete den Beutel, ließ den Kristall, der in kaltem Blaurot schimmerte, auf die Tischplatte rutschen. Rimmel riß den Lederbeutel vom Tisch, indem ihm das Herz im Halse pochte, und floh zur Tür, zwang sich erst auf der Schwelle zur Fassung; er wagte einen letzten, flüchtigen Blick über die Schulter zu werfen – im Geglitzer auf dem Tisch war des Kristalls blauroter Glanz nicht zu unterscheiden. Er pfiff in siegesgewisser Stimmung ein keckes Marschliedchen, während er ohne Eile über die Terrasse in den Garten zurückkehrte, Bronwyns Laute über der Schulter. Unterwegs zog er vorsichtig das Medaillon aus seinem Gewand, öffnete die Kapsel und betrachtete zärtlich das Bildnis darin, dann klappte er es mit einem Knacken wieder zu, steckte das Medaillon von neuem unter sein Ge-
wand und seufzte. Als er in den Garten gelangte, konnte er Gwydions Gesang durch den Sonnenschein klingen hören. »Liebliche Dame, vernehmt das Flehen, Das ich heute Euch vortrag. Ach! daß der Klage Klang An Euer Herze rühren mag. Euer Auge, es strafe mich nicht mit Zorn. Weist Ihr mich ab, ist eitel, was ich geschworn. Kann ein Herz schlagen ohne der Hoffnung Born, Ohne Eure huldvolle Liebe?« Eine Stunde später verharrte Bronwyn im Korridor vor ihren Gemächern und lächelte, als Kevin seine Lippen in ihre Handfläche drückte. »Eine halbe Stunde?« flüsterte sie. »Eine halbe Stunde«, erklärte er ernst. Dann erlaubte er sich ein Lächeln. »Und wenn du säumig bist, komme ich und kleide dich selber an.« Sie rümpfte schelmisch die Nase und schnitt ihm eine Fratze. »Noch zwei Tage, Kevin McLain«, höhnte sie. »Du wirst sie überleben.« »Werde ich's?« murmelte er, zog sie an sich und schaute mit nur zum Teil gespielter Leidenschaft auf sie hinab. Sie kicherte und drückte ihn kurz, dann entschlüpfte sie seiner Umarmung und durch die einen Spalt weit offene Tür. »Eine halbe Stunde«, mahnte sie. »Und sieh zu, daß du dich nicht verspätest, sonst komme ich und helfe dir beim Ankleiden.« »Tu's!« lautete Kevins begeisterte Antwort, als sie
die Tür schloß. Ihre Laute an den Busen gepreßt, wirbelte Bronwyn anmutig herum und tanzte durchs Gemach, übermütig aus reiner Freude am Leben und an der Liebe. Sie blieb am Ankleidetisch stehen, um sich im Spiegel zu betrachten, wobei sie ein paar Takte aus Gwydions zuletzt vorgetragener Melodie summte. Sie stand vornüber gebeugt und streifte eine tiefgoldene Locke des Haupthaars aus ihrer Stirn. Und als sie sich aufrichten wollte, begann der hinterhältige Zauber seine Wirkung auszuüben. Bronwyn taumelte und klammerte sich, um Halt zu erringen, an die Kante des Ankleidetisches, und als sie zum zweitenmal verschlungen zu werden drohte, vermochte sie kaum auf den Füßen zu bleiben. Während ihres verzweifelten Kampfes um ihre Besinnung entglitt die Laute ihrer erlahmten Hand und fiel auf den Fußboden. Beim Aufprall brach der Hals des Instrumentes ab, und eine Saite zersprang mit einem heftigen Ping. Das Geräusch genügte, um ihre Derynisinne zu wecken, die Umstände zu erkennen, wenn auch ihr Bewußtsein an der Oberfläche umnebelt war; ihre Augen suchten mit verschleiertem, nahezu stumpfem Blick nach einem Anhaltspunkt, der den Angriff erklären mochte, und sie entdeckte den blauen Kristall, der zwischen dem Tand auf ihrem Ankleidetisch lag und Schwingungen aussandte. Magie! rief ihr Verstand. O mein Gott, wer hat das getan? »Kevin!« Sie vermochte zu schreien. »Kevin!« Kevin hatte gar nicht genug Zeit gehabt, um sich weit zu entfernen. Als er Bronwyns entsetzliche Schreie vernahm, stürmte er zurück durch den Korridor und warf sich gegen die Tür. Sie gab ohne Mühe nach. Er torkelte ins Gemach – und verhielt in höch-
stem Schrecken. Er sah Bronwyn neben dem Ankleidetisch auf die Knie gesunken, ihre Finger, deren Knöchel weißlich hervortraten, an die Kante der dunklen Tischplatte geklammert. Der Gegenstand, worauf ihr von Entsetzen gezeichneter Blick unverwandt haftete, war ein seltsamer blauer Kristall, der zwischen den Edelsteinen und etlichem Plunder, welche sich auf dem Tisch häuften, düster glomm und waberte. Und derweil Kevin noch wie versteinert stand, streckte sie langsam eine Hand nach dem Stein, während ihre Lippen lautlos Kevins Namen wiederholten. Kevin handelte. Mit einem Aufschrei und ohne Überlegung stürzte er vorwärts, um den Kristall aus seiner Geliebten Nähe zu entfernen, schob sie beiseite und klaubte den Stein mit beiden Händen vom Tisch, in der Absicht, ihn hinaus durch die offene Terrassentür zu schleudern. Doch es sollte nicht sein. Von Anfang an war der Zauber mißraten, und er war unverträglich für einen Menschen wie Kevin – ja, er war tödlich. Als Kevin den Kristall ergriff, erstarrte er inmitten der Bewegung, und ein gräßlicher Ausdruck von Furcht und Pein zeichnete sein Antlitz. Im selben Augenblick erkannte Bronwyn, was er gewagt hatte, und unternahm den Versuch, ihm den Kristall zu entwinden, wobei sie hoffte, daß ihr Deryniblut ihr zumindest einen teilweisen Schutz gab, während Kevin nicht den geringsten Schutz besaß. Aber als sie ihn berührte, erstarrte auch sie, und der Kristall verbreitete seine Schwingungen gleich einem Pulsschlag zum zweifachen Pochen ihrer Herzen. Dann hüllte ein Lichtschein von grellem Weiß, der das gesamte Gemach ausleuchtete, die beiden ein; er versengte die Teppiche und selbst die Luft
mit seinem unirdischen Leuchten, brachte die Schreie die durchs Schloß hallten, zum Verstummen, indem er erlosch. Und dann herrschte Stille. Sie währte, bis Wächter ins Gemach stürzten, von den Schreien aufgeschreckt, doch angesichts des Anblicks, der sich ihnen bot, wichen sie fassungslos und in höchster Verwirrung zurück auf den Korridor; und schon kam Kelson in raschem Lauf hinzu, Derry an seinen Fersen, und er verharrte auf der Schwelle so ruckartig, als sei er gegen eine Mauer geprallt. »Alles zurücktreten!« befahl Kelson und unterstrich seinen Willen mit einem Wink, während er aus geweiteten Augen ins Gemach starrte. »Hurtig! Hier ist Magie am Werk.« Die Wächter gehorchten, und Kelson trat achtsam ein, breitete seine Arme nach den Seiten aus, seine Lippen murmelten einen Gegenzauber. Als er das letzte Wort gesprochen hatte, glomm in des Gemachs Mitte schwach ein Lichtschimmer auf und erlosch sofort wieder. Kelson biß sich auf die Lippe und schloß für einen Moment die Augen, verdrängte seine immer stärkeren Befürchtungen, zwang sich zu langsamem Vorwärtsschreiten. Das Paar lag nahe der offenen Terrassentür ausgestreckt, Kevin auf dem Rükken, derweil Bronwyn mit dem Antlitz auf seiner Brust ruhte; ihr goldenes Haar war aufgelöst über sein Haupt gefallen. Kevins ausgebreitete Hände waren verkohlt, verbrannt von der entsetzlichen Gewalt, die er zu meistern versucht hatte. Der McLain-Tartan an seiner Schulter war am Rand versengt, wo er bei einer kraftlosen Hand lag. An keinem der beiden ließ sich ein Lebenszeichen wahrnehmen. Kelson schluckte mühselig und kniete neben dem Paar nie-
der, streckte eine Hand aus; er zuckte zusammen, als er Kevins Arm und Bronwyns Goldhaar berührte. Dann kauerte er sich auf die Fersen und neigte kummervoll sein Haupt, die Hände hilflos auf die Schenkel gestützt. Weder er noch irgendein anderer konnte noch etwas für die beiden Liebenden tun. Auf Kelsons Wink, mit dem er das Unabänderliche zum Ausdruck brachte, kamen langsam die Wächter, Derry und Jareds Seneschall, Herr Deveril, ins Gemach, sprachlos und entgeistert angesichts dieses unerwarteten Unheils. Herrn Deverils Antlitz erbleichte, als er das hingestreckte Paar erblickte; und dann drängte er sich durch zur Tür, darauf bedacht, Herzog Jared aufzuhalten, aber zu spät. »Was ist geschehen, Deveril?« flüsterte Jared und reckte das Haupt, um den Blick hinweg über seinen Seneschall zu lenken. »Ist Bronwyn etwas zugestoßen?« »Nicht, Gebieter, bleibt fern, ich flehe Euch an!« »Laßt mich vorbei, Deveril. Ich möchte wissen, was... O mein Gott, da ist mein Sohn! Gütiger Gott im Himmel, sie sind's beide!« Als die Wächter beiseite traten, um Jared einzulassen, traf Rimmel am Ort des Geschehens ein und gaffte hinter den Rücken der Anwesenden ins Gemach, und als er die Wirkung sah, welche der Zauber ausgeübt hatte, da keuchte er auf und verschloß sich den Mund mit der Faust. Ein heftiger Schüttelkrampf packte ihn, und er drückte die Faust wie besessen um das winzige Medaillon; verzweifelt fürchtete er, daß er niedersinken müsse. O mein Gott, was habe ich getan? So sollte es nicht enden. So nicht. Lieber Gott, das kann nicht wahr sein! Sie sind tot! Meine Dame Bronwyn ist tot! Während weitere Waffenknechte und Höflinge
ins Gemach strömten, wich Rimmel zurück an die Wand und suchte mit dem Mauerwerk zu verschmelzen, versuchte den Blick von dem grauenhaften Bild abzuwenden, aber vergeblich; schließlich fiel er auf die Knie und schluchzte in bitterlichster Verzweiflung, wußte weder, daß das Medaillon in seine Finger schnitt, als er die Hände rang, noch hätte er sich darum geschert. Lady Margaret erschien in Begleitung Gwydions. Sie erbleichte, als sie das Paar am Boden erblickte, und für einen Moment sah es so aus, als werde sie auf der Stelle in Ohnmacht sinken, doch dann eilte sie zu ihrem Gemahl, der wie gelähmt reglos neben den beiden stand. Sie schlang die Arme um ihn und hing für eine lange Weile stumm an des Herzogs Brust; dann führte sie ihn sanft durch die Terrassentür hinaus und kehrte ihn von dem Anblick ab, der an seinem Herzen fraß. Sie sprach leise zu ihm, und niemand außer ihm hörte ihre Worte. Gwydion hob Bronwyns Laute auf; der Hals des Instruments war abgebrochen, sein Bauch gesprungen vom Fall. Der kleingewachsene Troubadour trat an Kelsons Seite und sah wortlos zu, wie der junge König seinen scharlachroten Umhang abstreifte und ihn über die beiden Leichname breitete, dann zupfte er zerstreut an einer noch gespannten Saite. Ein Mißton hallte durch die Stille und Kelson schaute gereizt auf. »Ich fürchte, Sire, der Wohlklang ist für immer dahin«, murmelte voller Trauer Gwydion und kniete an Kelsons Seite nieder, um die Laute behutsam neben Bronwyns Hand zu legen. »Man wird ihn niemals wieder vernehmen.« Kelson wandte den Blick ab; er wußte, daß es nicht die Laute war, wovon Gwydion
sprach. Ein letztes Mal streichelten Gwydions schlanke Finger die Laute, dann faltete er seine Hände. »Darf man fragen, wie das geschehen ist, Sire?« Matt hob Kelson die Schultern. »Jemand hat in diesem Raum einen Jerráman-Kristall versteckt, Gwydion. Für sich allein wäre diese Tatsache nicht allzu schlimm, denn ein solcher Stein ist sehr vielfältig verwendbar, auch für einige überaus nutzreiche Zwecke. Sicherlich wird er in einigen der alten Balladen erwähnt, welche Ihr singt.« Seine Stimme klang brüchig, als er weitersprach. »Aber dieser Kristall war nicht zuträglich – wenigstens nicht, sobald Kevin in seinen Wirkungskreis trat. Allein hätte Bronwyn den Zauber vielleicht abwehren können, wozu er auch dienen sollte. Sie besaß dazu die Befähigung, falls ihr Geschick gut genug ausgebildet war. Aber sie muß gerufen oder geschrien haben, und zweifellos hörte Kevin sie und eilte herbei, um ihr beizustehen. Sich selbst und ihn vermochte sie nicht zu schützen... und folglich mußten sie am Ende beide unterliegen.« »Hätte sie nicht...« Kelson unterband weitere Äußerungen mit einem warnenden Blick und richtete sich auf, denn draußen auf der Terrasse hatte sich zu Jared und Margaret der alte Kaplan von Burg Culdi gesellt, Pater Anselm. Der junge König verneigte sich achtungsvoll, als Anselm mit den so schwer geprüften Eltern eintrat, dann wich er zur Seite, um sie an den Leichnamen niederknien zu lassen. Er bekreuzigte sich, als Anselm zu beten anfing, dann zog er sich langsam zurück und wies Gwydion durch ein Zeichen an, ihm zu folgen. »Gwydion, Derry, kommt und laßt uns das Gemach räumen. Die Familie bedarf nun des Alleinseins.«
Die beiden Männer befolgten Kelsons Befehl und drängten die umstehenden Waffenknechte und tränenüberströmten Hofdamen hinaus, und zuletzt kam Derry zu Rimmel. Der Baumeister kniete in einer Ekke und stöhnte leise, sein weißes Haar bebte von seinen Schluchzern, und eine feine goldene Kette glitt durch seine ineinander verkrampften Finger, während er seinen Oberkörper hin und her warf. Als Derry an seine Schulter rührte, blickte Rimmel erschrokken auf; seine Augen waren feucht und gerötet. Derry sah die goldene Kette, und da er mit derartig aufgewühlten Gemütern nicht recht umzugehen wußte, nahm er die Kette zum Vorwand, um den Mann abzulenken, und griff danach. »Na, was ist das Schönes? Was habt Ihr da, Rimmel?« Als Derry ihn am Handgelenk packte, versuchte Rimmel sich ihm zu entwinden; seine Augen waren schier so groß wie Teller, als er sich zittrig erhob. Sein Widerstand erhöhte jedoch bloß die Neugier des jungen Markgrafen, und Derry unternahm es nun um so nachdrücklicher, des Baumeisters Hand zu öffnen. »Kommt, Rimmel, ich möchte sehen, was das ist«, sagte Derry, den es ein wenig verwunderte, wie nachdrücklich sich Rimmel widersetzte. »Aha, das ist ein Medaillon. Was für...« Er sprach noch, da entglitt das Medaillon Rimmels Hand und fiel auf den Fußboden, und als Derry sich bückte, sprang die Kapsel auf. Er widmete ihr lediglich einen flüchtigen Blick und wollte das Medaillon schon Rimmel wiedergeben, da erkannte er, wen das kleine Bildnis darstellte. »Khadasa, das ist ja die Lady!« Kelson runzelte die Stirn, als Derrys Fluch erscholl, und kehrte sich ihm zu, um ihm für diesen unziemli-
chen Ausbruch eine Rüge zu erteilen, doch als er den fassungslosen Ausdruck von Derrys Miene sah, trat er zu ihm und nahm dem jungen Grafen das Medaillon aus der Hand. Auf den ersten Blick erkannte auch er die dargestellte Person; Lady Margaret wurde aufmerksam und kam an seine Seite geeilt, ergriff voller Entsetzen seinen Arm. »Woher habt Ihr dies Medaillon, Sire?« »Dies hier?« Kelson schaute verwirrt drein. »Nun, anscheinend war's in Meister Rimmels Besitz, meine Lady. Aber wieso, das weiß ich nicht.« Margarets Hand bebte, als sie das Medaillon von Kelson entgegennahm, und sie zuckte zusammen, als das Metall ihre Finger berührte. Für einen Augenblick starrte sie das Bildnis im Innern an, dann preßte sie es mit einem Aufstöhnen an ihren Busen. »Woher...« Mühsam schluckte sie. »Woher habt Ihr es Rimmel?« »Edle Lady, ich...« »Bronwyn schenkte Kevin dies Medaillon an ihrem Verlobungstag. Woher habt Ihr es?« Mit einem Heulen der Verzweiflung warf sich Rimmel auf die Knie und klammerte sich flehentlich an ihren Saum, und sein weißer Schopf zitterte wie Espenlaub, während er sein Elend herauswinselte. »O meine allerteuerste Lady, ich bitte Euch, glaubt mir, nie und nimmer war's mein Trachten, daß so etwas hereinbrechen möge!« Er schluchzte. »Ich liebte sie doch in – ach! – solchem Maße! Ich wollte nur, daß sie meine Liebe erwidert. Sicherlich versteht Ihr's doch, was es heißt, zu lieben!« Margaret schrie auf und wich in höchstem Abscheu zurück, als sie die Bedeutung von Rimmels Äußerungen begriff, und Derry und mehrere Waffenknechte packten den Baumeister und
erzwangen, daß er Margarets Saum freigab. Jared, der den Wortwechsel verständnislos beobachtet hatte, murmelte einmal seines toten Sohnes Namen, doch es schien, als könne er weder ein Wort hervorbringen noch irgend etwas tun. »Ihr!« keuchte Kelson, der kaum zu glauben wagte, was er soeben vernommen hatte. »Ihr habt in dies Gemach einen Jerráman-Kristall gebracht, Rimmel?« »O Sire, Ihr müßt mir glauben«, plapperte Rimmel und schüttelte den Kopf. »Es sollte nur ein Liebeszauber sein. Die Witfrau Bethane...« »Witfrau Bethane?« schnauzte Kelson, packte Rimmels Haar und bog mit einem Ruck des Baumeisters Haupt zurück, um ihm in die Augen zu blicken. »Das war Derynimagie, Rimmel. Ich weiß es, denn nachdem sie ihre Wirkung getan hatte, mußte ich ihre Restschwingungen beseitigen. Wer ist diese Witfrau Bethane, von der Ihr redet? Eine Deryni?« »Ich... ich weiß nicht, ob sie eine Deryni ist, mein König«, stammelte Rimmel. Er wimmerte, als Kelson sein Haupt noch weiter zurückbog. »Die Witfrau Bethane haust in den Bergen nördlich der Stadt in... in einer Höhle. Die Dorfleute halten sie für eine Wundertäterin, sie behaupten, sie hätte schon oft Liebeszauber bewirkt und andere Gefälligkeiten erwiesen, wenn man ihr Speisen bringt... und Gold.« Er schluckte und blinzelte mit verkniffenen Lidern. »Ich wollte nur Bronwyns Liebe, Gebieter. Bethane versprach mir einen gewöhnlichen kleinen Zauber.« »Ein gewöhnlicher Zauber tötet nicht!« fuhr Kelson ihn mit Donnerstimme an, ließ Rimmels Schopf los und wischte sich die Hand am Beinkleid. »Auch Ihr tragt Schuld am Tod der beiden, Rimmel, gerade so,
als hättet Ihr selber den Zauber vollbracht und ihnen das Leben ausgebrannt!« »Ich bringe ihn um!« brüllte Jared, stürzte zu einem Waffenknecht und riß dem Mann das Schwert aus der Scheide. »Gott sei mein Zeuge, er wird sterben für diese niederträchtige Schandtat!« Als er hinüber zu Rimmel stürmte, die Augen gläsern starr und das Schwert bereits erhoben, warf sich Margaret zwischen die beiden Männer. »Nein!« Derry und ein Hauptmann ergriffen Jareds Arm und senkten ihn gewaltsam, während sich Margaret an ihn klammerte und schluchzte; aber Jared fuhr damit fort, sich gegen die Behinderung aufzulehnen und zu brüllen. »Nehmt Eure Hände von mir fort, ihr Narren! Ich erschlage ihn! Margaret, er hat meinen Sohn ermordet! Weiche aus meinem Weg!« »Jared, nein! Sind diese Toten nicht genug? Warte zumindest, bis dein Gemüt wieder ruhiger ist! Sire, erlaubt ihm nicht, das zu tun, ich flehe Euch an!« »Ein jeder halte ein!« Kelsons Stimme durchfuhr das Stimmengewirr wie eine scharfe Klinge und erzeugte augenblicklich Stille; man vernahm nur noch Rimmels hoffnungsloses Schluchzen. Alle Blicke richteten sich auf den jungen König, der nun seinen ernsten Blick über die Mienen der Anwesenden schweifen ließ, und er ähnelte sehr seinem Vater, als er sich an Derry wandte. »Gebt Herrn Jared frei.« »Gebieter?« Derry wirkte ungläubig, und Lady Margaret starrte den König entsetzt an. »Ich wies Euch an, Herrn Jared freizugeben, Derry«, erklärte Kelson in ruhigem Ton. »Ich glaube, der Befehl war deutlich genug.«
Derry nickte verwundert, löste seinen Griff um Jareds Arm und trat zurück, dann faßte er Lady Margaret behutsam an den Schultern, um sie am Eingreifen zu hindern. Voller Grauen sah Margaret, wie Jared erneut das Schwert hob und sich Rimmel näherte. »Sire, ich bitte Euch inständigst, laßt nicht zu, daß Jared ihn tötet! Er...« »Doch, er mag mich erschlagen, Sire«, schrie Rimmel, schloß ergeben die Augen und schüttelte das Haupt. »Ich verdiene keine Gnade, schändlich wie ich bin, des Lebens bin ich nicht wert. Tötet mich, Euer Gnaden! Ich bitte Euch darum. Ich habe der Frau den Untergang gebracht, die ich über alles liebe! Verurteilt mich zur Folter! Ich verdiene zu leiden!« Jared blieb stehen, und von seinen Augen schwand der Schleier der Umnachtung. Er straffte sich und senkte das Schwert in seiner Faust, betrachtete Rimmels geneigtes Haupt. Dann sah er Kelson an, sah in Margarets angespannt banges Antlitz, und er ließ das Schwert auf den Fußboden fallen, daß es klirrte, und angewidert wandte er sich halb zur Seite. »Herr Fergus?« rief er mit beherrschter Stimme und starrte zur Terrassentür hinaus in den Garten. Aus der Schar im Korridor löste sich ein Mann von stämmiger Gestalt, der das Wehrgehenk eines Hauptmanns trug, und verbeugte sich. Seine Miene bezeugte Grimm und Entschlossenheit, und der Blick, den er dem unterwürfig zusammengesunkenen Rimmel widmete, bezeugte nichts als Verachtung. »Euer Gnaden?« »Dieser Mann hat sich als Mörder bekannt. Noch in dieser Stunde soll sein Haupt am Verrätertor zur Schau stehen. Verstanden?«
Fergus' Augen funkelten aus Befriedigung, als er sich erneut verbeugte. »Jawohl, Euer Gnaden.« »Vortrefflich. Ehe Ihr den Garten verlaßt, möchte ich bewiesen sehen, daß Ihr meinen Befehl befolgt, Fergus.« Fergus nickte. »Ich verstehe, Euer Gnaden.« »Dann vorwärts.« Fergus nickte erneut, gab zwei Waffenknechten ein Zeichen, daß sie sich des Gefangenen bemächtigen sollten, und schritt voraus durch die Terrassentür. »Ich verdiene den Tod«, wimmerte Rimmel fortgesetzt, während die Männer ihn abführten. »Ich habe sie umgebracht, ich verdiene zu sterben.« Fergus lokkerte sein Breitschwert in der Lederscheide. Jared wartete, bis sie das Gemach verlassen hatten, dann wankte er zu den beiden Leichnamen, kniete nieder, zog den scharlachroten Umhang beiseite und berührte Bronwyns goldenes Haar, das noch auf Kevins Antlitz ruhte. Margaret starrte den Waffenknechten und ihrem Gefangenen mit ungläubiger Miene nach, dann sah sie ihren Gemahl und Pater Anselm an, die bei den Toten knieten, schließlich trat sie vor Kelson und rang die Hände. »Sire, Ihr dürft das nicht erlauben! Natürlich, der Mann ist schuldig, niemand vermöchte das zu leugnen. Aber ihn kaltblütig umzubringen...« »Herzog Jared hat diese Hinrichtung befohlen, meine Dame. Verlangt nicht von mir, daß ich mich in seine Angelegenheiten menge.« »Aber Ihr seid der König, Sire. Ihr könnt...« »Ich bin nicht als König, sondern als Hochzeitsgast gekommen«, unterbrach sie Kelson, indem er den Blick seiner grauen Augen auf Margaret richtete und
sie ernst musterte. »Ich gedenke Herzog Jared nicht in seinem eigenen Hause seiner herrschaftlichen Gewalt zu entheben.« »Sire, aber...« »Ich verstehe Herrn Jareds Beweggründe, meine Dame«, sprach Kelson im Tone der Unerschütterlichkeit und sah hinüber zum niedergeknieten Herzog. »Er hat einen Sohn verloren. Ich habe noch keine Söhne, und ich werde vermutlich niemals welche haben, sollten die Mächte der Finsternis ihren Willen erzwingen. Aber ich vermeine, daß ich weiß, wie er empfindet. Ich habe meinen Vater und viele andere verloren. Ich glaube, solcher Kummer kann nicht sonderlich verschieden sein.« »Aber...« Von der Terrasse ertönte ein scheußlich dumpfes Geräusch, Stahl klirrte auf steinerne Fliesen, und Margarets Antlitz wurde kalkweiß. Gemessene Schritte näherten sich auf der Terrasse den Türflügeln, und dann trat Herr Fergus mit einem triefnassen Etwas auf die Schwelle, das er am blutbesudelten weißen Haar hielt. Es war Rimmels Haupt. Jared blickte gleichgültig auf, als Fergus das abgeschlagene Haupt vorzeigte, nur seine Fäuste lockerten und verkrampften sich in beständiger Wiederholung in den Falten des roten Umhangs und bezeugten seine innere Aufgewühltheit. Dann nickte er mit bleicher Miene. Fergus vollführte eine Verbeugung und entfernte sich; zurück ließ er eine Blutspur, die in die Ritzen zwischen den Fliesen sickerte. Als er entschwunden war, senkte Jared seinen Blick wieder auf das Paar unterm Umhang. »Mein ist die Rache, spricht der Herr«, murmelte Pater Anselm im Tonfall gelinder Schelte, als er Jared
ansah. »Und ich habe meine Kinder gerächt«, flüsterte Jared und legte seine zittrige Hand auf Kevins Schulter. »Meinen Sohn, meine geliebte künftige Tochter... Bei meiner Seele und allem, was mir teuer ist, niemals hätte ich mir nur träumen lassen, daß Euer Hochzeitsbett ein Grab sein solle! Ich glaubte, ich sähe euch in zwei Tagen vermählt.« Seine Stimme versagte, und er begann zu weinen; der Gram schüttelte den alten Recken und entrang ihm ein rauhes, abgehacktes Schluchzen. Mit einem Aufschrei eilte Margaret zu ihrem Gemahl, kniete sich an seine Seite, drückte wortlos sein Haupt an ihren Busen und weinte mit ihm. Kelson betrachtete das Paar, erlebte für einen Moment von neuem den Kummer und die Verzweiflung, den sie verspürten, dann wandte er sich mit einem mühseligen Ruck ab und winkte Derry zu sich herüber. »Da ist etwas zu unternehmen, das eigentlich ich selber durchführen müßte«, murmelte Kelson, »aber ich darf Herzog Jared in dieser schweren Stunde nicht allein lassen. Seid Ihr dazu bereit, diese Sache für mich zu erledigen, Derry?« Derry nickte feierlich. »Ihr wißt, ich bin's, Sire. Was soll ich tun?« »Geht in die Berge und sucht diese Witfrau Bethane. Sollte sie eine Deryni sein, könnte Gefahr drohen. Aber ich weiß, daß Ihr Euch vor Magie nicht fürchtet. Ihr seid hier der einzige Mann, dem ich soviel zutraue, daß ich ihn an meiner Stelle schicken kann.« Derry tat eine Verbeugung. »Ihr ehrt mich übers Maß, Sire.« Kelson schaute sich im Gemach um, dann winkte
er Derry, er möge ihm abseits in eine Ecke folgen. Die Waffenknechte und Damen hatten sich mittlerweile alle zurückgezogen; nur Gwydion, Herr Deveril und einige ausgesuchte Diener waren noch gegenwärtig. Pater Anselms Gebete erfüllten die Stille mit leisem Murmeln. Kelson blickte in Derrys Augen. »Ich möchte Euch die Frage, die ich nun an Euch richte, als Freund stellen, nicht als König«, sprach Kelson mit gedämpfter Stimme. »Ich frage Euch so, wie Morgan Euch fragen täte, nehme ich an. Das heißt, ich überlasse es vollständig Eurer freien Entscheidung, ob Ihr zustimmt oder Euch weigert.« »Dann fragt, mein Herr«, entgegnete Derry und erwiderte fest den Blick Kelsons. Kelson nickte. »Wünscht Ihr, daß ich Euch, ehe Ihr diese Bethane zu suchen anfangt, mit okkultem Schutz versehe? Es widerstrebt mir, Euch gänzlich unbehütet fortzuschicken.« Nachdenklich senkte Derry seinen Blick; dann hob er die Rechte zur Brust, wo Morgans CamberMedaillon hing. Für einen langen Moment erwog er Kelsons Angebot, dann zog er die Kette aus seinem Gewand und legte das Medaillon in seine Handfläche. »Ich bin nicht völlig uneingeweiht in die Künste der Magie, mein Gebieter. Dies war das Werkzeug, womit Herr Alaric mich unterwies. Wie's scheint, erstreckt sich Sankt Cambers Schutz auch auf Menschen.« Kelson betrachtete das Medaillon mit scharfem Blick und hob ihn dann wieder zu Derry. »Darf ich's berühren? Vielleicht vermag ich mit meinen Kräften zu verstärken, was Ihr bereits habt.« Derry nickte, und Kelson nahm das Medaillon zwischen seine
Hände. In höchster Aufmerksamkeit starrte er es für einen ausgedehnten Moment an, dann legte er seine Rechte leicht auf Derrys Schulter. Seine Linke hielt noch das Kleinod. »Entspannt Euch und schließt die Augen, wie Morgan es Euch lehrte«, ordnete Kelson an. »Eröffnet mir Eure Gedanken.« Derry gehorchte. Kelson benetzte sich die Lippen und ballte seine geistigen Kräfte, und um seine Linke begann eine dunkelrote Aura zu entstehen, die grünlich aufflackerte, als sein Zauber sich mit jenem Morgans verband. Dann erlosch der Glanz; Kelson ließ seine Hände sinken und seufzte. Das Medaillon schimmerte silbern auf Derrys blauem Gewand. »Das dürfte Euch eine gewisse Hilfe sein.« Kelson lächelte unsicher und betrachtete das Medaillon ein letztes Mal. »Seid Ihr Euch dessen gewiß, daß Ihr kein derynisches Blut besitzt, Derry?« »Keines, Sire. Ich glaube, das hat auch Herrn Alaric gewundert.« Er lächelte, senkte jedoch plötzlich den Blick, und seine Miene verdüsterte sich. »Und Herr Alaric, Sire? Sollte man ihm nicht vom traurigen Geschehen eine Nachricht senden?« Kelson schüttelte sein Haupt. »Wozu wäre es gut? Brächte es ihn schneller zu uns? Gewiß befindet er sich schon auf dem Weg hierher... erneut reitet er an einen Ort des Todes, so wie er's für meinen Vater tat. Diesmal soll sein Ritt wenigstens friedlich verlaufen.« »Sehr wohl, Gebieter. Und wenn ich diese Bethane finden und ergreifen kann, soll ich sie dann vor Euch bringen?« »Ja. Ich möchte wissen, was für eine Rolle sie bei alldem gespielt hat. Aber seid auf der Hut. In ihrem Zauber war ein Fehler, entweder absichtlich oder aus
Irrtum. Sollte sich die Wahl aufzwingen, so möchte ich lieber Euch lebend wiedersehen als sie lebend kennenlernen.« »Ich vermag auf mich zu achten.« Derry lächelte. »Das hat man mir bereits erzählt«, antwortete Kelson, und wider Willen stahl sich ein halbherziges Lächeln auf seine Lippen. »Am besten brecht Ihr sofort auf.« »Unverzüglich, Sire.« Und während Derry davoneilte, um den Auftrag seines Königs auszuführen, wandte Kelson sich erneut dem Anblick des Trauerns zu. Pater Anselm kniete mit der Familie und den Dienern noch bei den Leichnamen, und in die Stille des Gemachs flüsterte seine Stimme die zeitlosen Worte der Litanei. »Kyrie eleison.« »Christe eleison.« »Kyrie eleison.« »Pater noster, qui es in coelis...« Kelson sank auf ein Knie nieder und ließ die vertrauten Worte vorüberrieseln wie schon einmal, als er auf einem Feld bei Candor Rhea an eines Mannes Leichnam kniete. Jener Mann war sein Vater gewesen, König Brion, ebenso dahingerafft durch Zauberei. Und die frommen Worte spendeten ihm heute so wenig Trost wie seinerzeit, vor fünf Monden, in der vom Wind durchfegten Ebene von Candor Rhea. »O Herr, schenke ihnen das Ewige Leben.« »Und das Ewige Licht leuchte Ihnen...« Kelson unterdrückte einen leisen Seufzer und erhob sich, verließ lautlos das Gemach, um sich dem Murmeln des Todes zu entziehen. In zwei Tagen sollte er diese Worte nochmals hören; und er würde
sie nicht leichter ertragbar finden als heute. Wieder einmal fragte er sich, ob sie jemals leicht zu ertragen sein konnten.
17 Es muß ja Parteiungen unter euch geben, damit die Bewährten unter euch offenbar werden. 1 Korinther 11,19 Jener verhängnisvolle Tag näherte sich seinem Abend – Kelson trauerte, Morgan und Duncan ritten, ohne es zu ahnen, an den Ort der Trauer –, doch die gwyneddische Kurie in Dhassa befand sich noch immer in der Beratung. Loris hatte seine Bischöfe in die große Kurienhalle im Mittelbau des Bischofspalastes gerufen, nicht weit von der Kathedrale entfernt, wo er und seine Amtsbrüder am vorherigen Abend die Exkommunikation vollzogen. Doch obwohl die Beratung schon kurz nach Morgengrauen begonnen hatte, obschon man nur eine kurze Pause fürs Mittagsmahl und die allernotwendigsten Bedürfnisse einschob, schleppten die Wortgefechte sich unvermindert dahin, und eine Lösung war nicht näher in Sicht denn am Anfang. Der hauptsächliche Grund für diese scheinbare Ausweglosigkeit lag bei zwei Männern: bei Ralf Tolliver und Wolfram de Blanet, einem von Gwynedds zwölf Bischöfen ohne eigenes Bistum. Gleich nach Eröffnung der Beratung hatte Tolliver seinen Widerspruch erhoben – immerhin war's seine Diözese, welcher der Kirchenbann drohte. Aber Wolfram war's, der schließlich den offenen Streit auslöste. Der bärbeißige alte Prälat war erst im Laufe des Vormittags eingetroffen, und mit ihm sieben seiner Amtsbrüder; er war zutiefst entsetzt darüber gewe-
sen, daß man in der Tat in allem Ernst jenen Kirchenbann wider Corwyn erwog. Er war lautstark aufgetreten – wie ungehobelte Weihbischöfe es zu tun pflegten, dachten insgeheim seine Feinde – und hatte ohne Umschweife erklärt, daß er unwiderruflich gegen die von Loris wider Corwyn beabsichtigte Sanktion sei. Corwyns Herzog – eine Überlegung, die am Vortage Cardiel und Arilan ebenfalls teilten – habe ohne Zweifel, so trug er vor, für sein Treiben zu St. Torin eine strenge Bestrafung verdient, ebenso wie sein derynischer Vetter, der viele Jahre lang den Priesterrock als Mummenschanz entweiht habe, aber ein ganzes Herzogtum für die Sünden seines Landesherrn zu strafen, vor allem, wenn man selbigem Landesherrn schon den rechtmäßigen Schurkenlohn ausgezahlt hatte, das grenze ja nahezu ans Hirnrissige! So hatte der Meinungsstreit zu wogen begonnen. Cardiel und Arilan hielten sich für längere Zeit mit ihren Äußerungen zurück, da sie zunächst abwarten wollten, wie weit der bissige alte Wolfram vorzupreschen gedachte; sie hüteten sich, irgend etwas zu sagen, das sie entblößt haben könnte, bevor sie sich zur Genüge darauf vorbereitet hatten. Aber beide gewannen sogleich darüber Klarheit, daß Wolfram genau jene Triebkraft sein mochte, deren sie bedurften, um Verbündete zu gewinnen – vorausgesetzt, sie warteten auf den günstigsten Augenblick. Es war schlichtweg vonnöten, den Weg erst zu pflastern, ehe man ihn beschritt. Arilan faltete vor sich auf der Tischplatte seine schlanken Finger und musterte unauffällig die Versammelten, während der alte Carsten unermüdlich über irgendeinen unklaren Punkt des Kirchenrechts
redete und redete, der die auf der Tagesordnung befindliche Sache irgendwie berührte. Natürlich würde Wolfram jeden unterstützen, der sich gegen den Kirchenbann aussprach. Das bedeutete, daß er sich, wenn's soweit war, hinter Cardiel stellte. Von Wolframs sieben unabhängigen Amtsbrüdern sollten wohl Siward und der flachgeistige Gilbert seinem Beispiel folgen; drei mußte man wahrscheinlich Loris zurechnen, zwei ließen sich nicht einschätzen. Bei den älteren Bischöfen konnte man Enthaltungen von Bradene und Ifor erwarten – das sah man ganz einfach an den Mienen, mit welchen sie den wortgewaltigen Disputen lauschten –, aber de Lacey und Creoda standen gewiß unverrückbar auf Loris' Seite, ebenso der kurzatmige alte Carsten. Und Corrigan hatte sich natürlich sofort als Loris' Helfer erwiesen; somit blieb von den Alten nur Tolliver. Zum Glück gab es keinen Zweifel daran, wem seine Gunst gehörte. Aus dieser Übersicht ergaben sich acht Stimmen für das Interdikt, vier Enthaltungen und sechs Ablehnungen. Die Aussichten, so mußte Arilan sich eingestehen, waren nicht besonders gut. Denn sie konnten nicht darauf vertrauen, daß die vier Prälaten, die sich noch unparteiisch verhielten, auch tatsächlich Stimmenthaltungen abgaben, denn im Ernstfall wollte wahrscheinlich keiner von ihnen mit der Kurie brechen. Daraus konnte sich letztendlich ein Ergebnis von zwölf zu sechs Stimmen ergeben, es wäre denn, jemand brächte wirklich den Mut zur Stimmenthaltung auf. Die sechs Gegenredner setzten sich daher der Gefahr aus, sich selber von der Kirche abzutrennen, sich gleichsam selber zu exkommunizieren, und vielleicht unwiderruflich.
Arilan schaute über die Tafel aus – sie war groß und hatte die Form eines Hufeisens, zwischen dessen Seiten Loris' Platz war – und kreuzte seinen Blick mit dem Cardiels. Fast unmerklich nickte Cardiel, dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder Carstens Schlußbemerkungen. Als der alte Bischof sich von neuem niedergelassen hatte, erhob sich Cardiel. Der Zeitpunkt zum Handeln war gekommen. »Mein Herr Erzbischof?« Obwohl Cardiel leise sprach, durchdrang seine Stimme das zänkische Geflüster, welches Carstens vorgetragene Wüstenei des Wortes verursacht hatte, und Häupter drehten sich zur Krümmung der Hufeisentafel, wo er stand. Er wartete still, die Knöchel aufgestützt, bis die Widersacher sich gemäßigt hatten und allmählich beruhigten, dann nickte er hinüber zu Loris. »Darf ich sprechen, Eure Exzellenz?« »Durchaus.« Cardiel verneigte sich kurz in Loris' Richtung. »Meinen Dank, Exzellenz. Einen vollen Tag hindurch habe ich nunmehr diesem Gezeter und dieser Zwietracht zwischen Christenbrüdern gelauscht, und nun möchte ich als Gastgeber der Kurie eine Erklärung abgeben.« Loris runzelte die Stirn. »Wir haben Euch das Wort erteilt, Bischof Cardiel.« Seine Stimme bezeugte einen Anflug von Verwirrung – und von Argwohn. Cardiel unterdrückte ein Lächeln und ließ seinen Blick über die Versammlung schweifen, merkte sich, wo seine Hauptgegner saßen, und wechselte flüchtige Blicke mit Arilan und Tolliver. Corrigans Schreiber, Pater Hugh, schaute erwartungsvoll von seinem Schreibzeug auf, als Cardiel schwieg, und als der Bi-
schof Atem holte, um zu sprechen, senkte er das Haupt erneut darüber. »Meine Herren Bischöfe, meine Brüder«, begann er in gelassenem Ton, »ich spreche am heutigen Abend zu Euch als Bruder, als Freund, aber ebenso als Gastgeber der Kurie. Während der längsten Zeit des Tages habe ich in Frieden allem mein Ohr geliehen, denn es ist guter Brauch, daß der Bischof von Dhassa im wesentlich unparteiisch bleibe, um nicht jene von geringerer Größe wankelmütig zu machen. Aber ich glaube, daß die Beratung nun bis an die Stelle vorgerückt ist, da ich nicht länger schweigen kann, da ich mich entweder äußern muß oder das Vertrauen hintergehen, welches ich erlangte, als man mich zum Bischof weihte.« Sein Blick wanderte durch die Runde der Versammelten, und er spürte, wie andererseits Loris' Blick ihn nahezu durchbohren wollte. Hugh schrieb in aller Hast, und schon jetzt waren ihm beim Schreiben Haarsträhnen über die Augen gefallen, aber alle anderen Anwesenden schauten Cardiel an. »Laßt mich daher in meiner Eigenschaft als Würdenträger der Kirche erklären – und ich hoffe, Pater Hugh vermerkt auch dies alles –, daß auch ich gegen den Kirchenbann bin, den Corwyn aufzuerlegen unser Bruder aus Valoret vorgeschlagen hat.« »Was!« – »Habt Ihr den Verstand verloren, Cardiel?« »Er ist von Sinnen!« Geduldig wartete Cardiel, bis die Zwischenrufer wieder saßen. Loris' Finger umklammerten die Armlehnen seines Sessels fester, doch änderte sich des Erzbischofs Miene nicht. Cardiel hob seine Hände, um Schweigen zu erbitten, und man gewährte es ihm;
bedächtig musterte er die Anwesenden von neuem, als er weiterzusprechen begann. »Man fällt eine solche Entscheidung nicht leichtfertig, Brüder. Viele Tage lang habe ich gesonnen und gebetet, schon seit ich erstmals erfuhr, welchen Vorschlag unser Bruder Loris dieser Kurie zu unterbreiten gedachte. Und die heutige Auseinandersetzung um selbigen Vorschlag hat mich in meiner Überzeugung gar bestärkt. Ein Kirchenbann wider Corwyn wäre eine schlechte Maßnahme. Jener, den das Interdikt treffen soll, befindet sich nach jüngsten Ermittlungen außerhalb Corwyns, und gestern abend ereilte ihn bereits der gestrenge Arm der Kirche, als wir ihn und seinen Verwandten exkommunizierten.« »Ihr habt die Exkommunikation gebilligt, Cardiel«, unterbrach ihn Corrigan. »Wie ich mich gut entsinne, seid Ihr mit dem Herrn Erzbischof Loris und mir auch in der Kathedrale gewesen. Und ebenso war's Herr Tolliver, Morgans eigener Landesbischof.« »So war es in der Tat«, entgegnete unerschüttert Cardiel. »Und nach dem Wort des Kirchenrechtes sind Morgan und McLain rechtmäßig geächtet worden. So soll es bleiben, bis sie entweder beweisen können, daß sie der erhobenen Anklagen unschuldig sind, oder vor dieser Versammlung ihre Taten einsichtig zu rechtfertigen vermögen. Um die Exkommunikation geht es hier nicht.« »Worum also möchte es dann wohl gehen, Cardiel?« fragte einer der Weihbischöfe. »Wenn Ihr Euch der Meinung anschließt, daß Morgan und jener Priester schuldig sind, so...« »Ich habe keinerlei Urteil bezüglich ihrer Schuld oder Unschuld ausgesprochen, mein Herr. Fest steht
allein, daß sie die Taten begangen haben, welche man ihnen im Exkommunkationsdokument nachsagt. Aber hier reden wir ja von der Ächtung eines ganzen Herzogtums, vieler Tausender von Menschen, die unvermutet in böswilliger Weise um der Taten ihres Herzogs willen von den Sakramenten der Heiligen Kirche ausgeschlossen wären. Das könnte man keineswegs Gerechtigkeit nennen.« »Es wird die Verderbten der Gerechtigkeit ausliefern«, behauptete Loris. »Es wäre nicht gerecht«, bekräftigte Cardiel und schlug zur Betonung eine Handfläche auf die Tafel. »Ich werde mich niemals damit einverstanden erklären! Und solltet Ihr darauf beharren, diese Versammlung weiterhin zur Annahme Eures Ansinnens zu drängen, dann werde ich mich aus der Beratung zurückziehen.« »Dann geht!« fuhr Loris auf, erhob sich an seinem Platz, während sich sein Antlitz von Zornesröte färbte. »Wenn Ihr wähnt, Ihr könntet mich mit der Drohung, der Kurie Euren Beistand zu versagen, ins Wanken bringen, so seid Ihr im Irrtum! Schließlich ist Dhassa nicht die einzige Stadt in den Elf Königreichen. Wenn die Kurie nicht hier zusammentritt, versammelt sie sich eben an einem anderen Ort. Entweder das – oder Dhassa wird binnen kurzer Frist einen neuen Bischof haben.« »Vielleicht ist's Valoret, das einen neuen Bischof braucht«, sprach Wolfram, richtete sich auf und heftete einen Blick höchster Entrüstung auf Loris. »Und was mich betrifft, mein Herr, ich habe keine Diözese, deren Fortnahme Ihr mir androhen könnt. Ich bleibe Bischof, solange ich lebe. Weder Ihr noch ein anderer
Mensch vermag mir zu nehmen, was ich durch Gott erhalten habe. Cardiel, ich stehe auf Eurer Seite.« »Das ist Verrücktheit!« krächzte Loris. »Glaubt Ihr, zu zweit könntet Ihr Euch der Kurie widersetzen?« »Wir sind mehr als zwei, mein Herr«, sprach Arilan, und er und Tolliver erhoben sich und traten zu Cardiel. Corrigan warf in äußerster Bestürzung seine Arme in die Höhe. »O Herr, erlöse uns von Männern mit falschem Eifer! Sollen wir nun von den Jüngsten in unserer Mitte belehrt werden?« »Ich bin älter, als unser Herr Jesus war«, antwortete Arilan in kühlem Tone, »da er die Schriftgelehrten und Pharisäer zurechtwies.« »Siward? Gilbert? Steht Ihr zu uns oder zu Herrn Loris?« Die beiden Angesprochenen sahen einander und danach Wolfram an; dann verließen sie ihre Plätze. »Zu Euch, mein Herr«, äußerte Siward. »Uns mißfällt dies Gerede vom Kirchenbann wider unschuldig Seelen.« »Gefällt Euch Aufrührertum etwa besser?« grollte Loris wutentbrannt. »Ihr wißt, daß ich Euch alle, Ihr Herren, Eurer Ämter entheben könnte, ja, sogar exkommunizieren...« »Für Ungehorsam?« Arilan schnob verächtlich. »Ich bezweifle, mein Herr Erzbischof, daß uns das zu Abtrünnigen erniedrigt. Was die Amtsenthebungen angeht – ja, dergleichen steht in Eurer Macht, aber Eure Worte hätten keinen Einfluß auf unsere Taten. Und wir würden weiterhin jene Menschen geistlich betreuen, die uns ihr Vertrauen schenken.« »Das ist Wahnwitz«, flüsterte der alte Carsten und
stierte sie aus aufgerissenen Triefaugen an. »Was glaubt Ihr damit gewinnen zu können?« »Sagen wir, mein Herr, wir bezeugen unseren Glauben«, antwortete ihm Tolliver, »und versuchen, die Rechte der Herde zu bewahren, zu deren Hirten uns Gott gemacht hat. Wir beabsichtigen nicht hinzunehmen, daß ein ganzes Herzogtum für die Handlungen von einem Mann oder zweien einem Kirchenbann unterworfen wird.« »Ihr werdet es sehr wohl hinnehmen, und zwar hier und jetzt!« Loris tobte vor Wut. »Pater Hugh, habt Ihr die Urkunde zur Unterzeichnung bereit?« Hughs Antlitz erbleichte, als er seinen Blick zu Loris hob – schon längst hatte er mitzuschreiben aufgehört –, dann zog er unter seinem Stapel ein Pergament hervor und reichte es Loris. »So«, sagte Loris, eignete sich Hughs Feder an und setzte schwungvoll unter das Dokument seine Unterschrift. »Hiermit erkläre ich das Herzogtum Corwyn mit allen seinen Städten und Bewohnern in der Kirche Acht und Bann, bis Herzog Alaric Morgan und sein derynischer Verwandter, Herr Duncan McLain, sich zum Zwecke der Aburteilung im Gewahrsam der Kurie von Gwynedd befinden. Wer unterschreibt mit mir?« »Ich«, meldete sich Corrigan, bahnte sich einen Weg an Loris' Seite und nahm die Feder zur Hand. »Und ich«, sprach de Lacey. Stumm sah Cardiel zu, bis Corrigan seine Unterschrift aufs Pergament gekratzt hatte. »Habt Ihr bedacht, was der König sagen wird, wenn er von Eurem Tun erfährt, Herr Loris?« erkundigte er sich beim Erzbischof. »Der König ist ein unfähiges Kind«, erwiderte Lo-
ris. »Er wird's nicht wagen, sich der ganzen gwyneddischen Kurie zu widersetzen – nicht, derweil sich Zweifel an ihm selbst regen. Auch er wird den Kirchenbann gutheißen.« »Wirklich?« meinte Arilan und beugte sich gleichsam zur Herausforderung über die Tafel. »Man konnte nicht von Unfähigkeit sprechen, als er sich im vergangenen Herbst gegen den Regentschaftsrat behauptete und Morgan befreite, wider Euren Willen Herrn Derry zum Ratsherrn erhob. Es wirkte auch nicht unfähig, als er seinen Thron gegen die Zauberin Charissa verteidigte. Vielmehr wart Ihr's, wie ich mich entsinne, der sich damals als reichlich unfähig erwies, mein Herr.« Loris errötete und widmete de Lacey einen scharfen Blick, weil er stehengeblieben war, als Arilan zu sprechen begann, die Feder übers Dokument erhoben. »Unterschreibt, de Lacey«, flüsterte er und richtete seinen Blick wieder auf Arilan. »Wir wollen sehen, wie viele diesen jungen Emporkömmling unterstützen und wie viele es vorziehen, der Wahrheit beizustehen.« Während de Lacey unterschrieb, begaben sich acht weitere Bischöfe von ihren Plätzen zu Loris, um ihre Unterschriften auf das Dokument zu setzen; nachdem alle unterzeichnet hatten, saß nur noch Bradene an seinem Platz. Loris schaute zu ihm hinüber und zog die Brauen zusammen; als Bradene aufstand und sich kurz verbeugte, kündete sich auf Loris' Lippen ein Lächeln an. »Ich erhebe mich, mein Herr Erzbischof«, stellte Bradene in ruhigem Tonfall fest, »aber nicht, um Euer Dokument zu unterschreiben.« Cardiel und Arilan wechselten Blicke der Verwunderung. Sollte
sich der berühmte grecothanische Gelehrte nun etwa doch auf ihre Seite stellen? »Doch auch zu den ehrenwerten Herren zu meiner Rechten kann ich mich nicht gesellen«, sprach Bradene weiter. »Denn gleichwohl ich aufgrund eigener Erwägungen Euren Kirchenbann nicht zu billigen vermag, so kann ich mich ebenso nicht mit Leuten verbünden, die sich von der Kurie loszusagen bereit sind und damit über sie die Gefahr des Untergangs heraufbeschwören – denn genau dazu muß es kommen wenn Herr Cardiel und seine Freunde ihre Drohung verwirklichen, dieser Versammlung die Stirne zu bieten.« »Was schlagt Ihr zu tun vor, mein Herr?« fragte Tolliver. Bradene zuckte die Achseln. »Ich muß mich enthalten. Und da meine Enthaltung in diesem Falle keiner Seite nutzt, werde ich mich in meine Gelehrtengemeinschaft zu Grecotha zurückziehen und für Euch alle beten.« »Bradene...«, begann Loris. »Nein, Edmund, mein Entschluß ist unumstößlich. Sorgt Euch nicht. Ich denke nicht daran, Euch irgendwelche Schwierigkeiten zu bereiten.« Während die gesamte Versammlung ihn voller Erstaunen anstarrte, verbeugte sich Bradene zum Abschied nach beiden Seiten und ging durch die Tür hinaus. Als sich die Tür hinter ihm schloß, wandte sich Loris nach Cardiel um, und seine Kiefer mahlten vor Wut, während er sich langsam durchs Hufeisen der Tafel den sechs widersetzlichen Bischöfen näherte. »Ihr alle werdet Eurer Ämter enthoben, Cardiel, sobald die Dokumente ausgefertigt werden können. Dieser Angriff wider meine Amtsgewalt darf nicht
straflos ausgehen.« »Laßt getrost Eure Dokumente anfertigen, Loris«, spottete Cardiel und stützte beide Hände auf die Tafel, indem er Loris' Blick unerschrocken erwiderte. »Ohne Unterschriften einer Mehrheit der Kurie sind weder Eure Bannflüche noch Eure Amtsenthebungen mehr wert als irgendwelche beliebigen Fetzen.« »Elf Bischöfe haben...«, begann Loris. »Elf von zweiundzwanzig sind keine Mehrheit«, erläuterte Arilan. »Von den elf Bischöfen, die nicht unterschrieben haben, werden sechs es niemals tun, einer hat sich geweigert, an Euren Machenschaften mitzuwirken, und vier Weihbischöfe haben gar nicht an der Beratung teilgenommen, sondern befinden sich im Lande bei ihren Gläubigen, wie's sich für einen Bischof gehört. Es dürfte Wochen beanspruchen, bloß einen von ihnen ausfindig zu machen, und weitere Wochen, um einen davon zur Unterzeichnung zu überreden.« »Das bekümmert mich nicht«, flüsterte Loris. »Elf oder zwölf, das ist kaum ein Unterschied. Diese Kurie wird Euch wie Ausgestoßene behandeln, und das Volk wird Morgan ergreifen und uns ausliefern, so schnell man seiner nur habhaft zu werden vermag. Und das ist ja der hauptsächliche Zweck dieser Maßnahme.« »Seid Ihr Euch dessen gewiß, daß es nicht einen neuen heiligen Krieg gegen die Deryni auslöst, Erzbischof?« fragte Tolliver. »Leugnet es, so Ihr könnt, aber Ihr wißt so gut wie ich, daß Warin de Grey, sobald er von der Verkündung des Kirchenbannes erfährt – und daß er's erfährt, daran zweifle ich kaum, solange Ihr dafür Sorge tragen könnt –, den blutigsten
Vernichtungsfeldzug gegen die Deryni beginnen wird, den dies Königreich seit zweihundert Jahren erlebt hat. Und dabei wird er Euren Segen haben.« »Ihr seid toll, wenn Ihr das glaubt.« »So, bin ich's?« erwiderte Tolliver. »Wart nicht Ihr derjenige, der uns berichtet hat, wie er sich mit diesem Warin zu geheimen Verhandlungen traf und ihm die Befugnis erteilte, Morgan zu beseitigen, wenn er's vermöchte? Habt nicht Ihr...« »Es geht um mehr! Warin ist ein...« »Warin ist ein übereifriger, verblendeter Derynihasser, so wie Ihr einer seid«, unterbrach ihn Arilan. »Nur des Hasses Maß ist verschieden. Es hat ihn geplagt, gerade so wie Euch, daß Corwyn unter Herzog Alarics Herrschaft ein Zufluchtsort für Deryni geworden ist, daß viele Deryni, darunter solche, die vor Euren Nachstellungen aus Valoret geflohen sind, in Corwyn eine Heimat gefunden haben, wo sie friedlich und ungestört leben können. Ich glaube allerdings nicht, daß sie diesmal stillstehen und sich abschlachten lassen werden, Herr Loris, wie's in der Vergangenheit geschah.« »Ich bin kein Schlächter!« schleuderte ihm Loris entgegen. »Ich verfolge niemanden ohne guten Grund. Aber Warin hat recht. Die Derynigeißel muß von dieser Erde verschwinden. Wir wollen den Deryni das Leben lassen, aber ihre bösen Kräfte müssen sie für immer der Finsternis überantworten, sie müssen ihnen abschwören, sich das Gelübde auferlegen, sie in Zukunft niemals wieder zu gebrauchen.« »Kann der gemeine Mann den feinen Unterschied erkennen der zwischen diesem und jenem Deryni besteht, Herr Loris?« meinte Cardiel heftig. »Warin
wird zu töten befehlen, und man wird töten, töten, töten. Wenn's erst soweit gekommen ist, wird der einfache Mann dazu imstande sein, die derynischen Abfälligen, die ihrer Begabung abgeschworen haben, von jenen Deryni zu trennen, die sich weigern, auf ihr Geburtsrecht zu verzichten?« »Dazu wird's gar nicht kommen«, widersprach Loris. »Warin wird meinen Anweisungen gehorchen, und...« »Hinaus mit Euch!« befahl Cardiel. »Hinaus, bevor ich meine Priesterwürde vergesse und etwas vollbringe, das ich später bereuen könnte! Ihr ekelt mich an, Loris!« »Ihr wollt es wagen...?« »Hinaus, habe ich gesagt!« Langsam nickte Loris, und seine blauen Augen funkelten wie glutheiße Kohlen aus seinem weißhaarigen Haupt. »Dann muß zwischen uns eine Fehde ausbrechen«, flüsterte der Erzbischof. »Und wer auf des Feindes Seite steht, soll zum Feind gehören. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« »Loris, ich lasse Euch hinauswerfen, sollte es erforderlich sein! Tolliver, Wolfram, Siward, Gilbert – Ihr Herren, seht zu, daß diese Herrschaften mein Haus verlassen. Richtet den Wachen aus, daß sie spätestens um Mitternacht fort sein sollen. Und man halte sie in Obacht.« »Mit Vergnügen, Herr Cardiel«, antwortete Wolfram. Loris machte auf dem Absatz kehrt und stapfte aus der Halle, sein Antlitz war aus Ingrimm weiß, seine Haltung steif und verkrampft; ihm folgten seine Bischöfe und alle dazugehörigen Diener, und Cardiels Anhänger schlossen sich an, um sie hinauszu-
gleiten. Als die Türflügel zufielen, waren nur Cardiel, Arilan und Pater Hugh verblieben; Hugh hing niedergesunken im Sessel, worin er dem ganzen Zusammenprall beigewohnt hatte, und hielt das Haupt sorgenvoll gesenkt. Arilan bemerkte seine Anwesenheit zuerst, und er winkte Cardiel heran, während er sich dem Pater näherte. »Ihr wünscht uns ein wenig zu belauschen, Pater Hugh?« meinte er in ruhigem Ton, nahm Hugh am Arm und stellte ihn mit sanfter Gewalt auf die Füße. Hugh hielt seinen Blick abgewandt, zupfte an einer Falte seines Gewands und betrachtete die Zehen, die aus seinen Sandalen hervorschauten. »Ich bin kein Spitzel, Herr Bischof«, entgegnete er mit leiser Stimme. »Ich... ich möchte auf die Seite Eurer Sache treten.« Arilan sah seinen Amtsbruder an, und Cardiel verschränkte bedächtig die Arme auf seiner Brust. »Was bewegt Euch zu diesem Gesinnungswandel, Pater? Ihr seid schon jahrelang Erzbischof Corrigans Schreiber.« »Es liegt kein Gesinnungswandel vor, möchte ich sagen, Exzellenz – oder wenigstens nicht erst seit heute. In der vergangenen Woche, als ich Loris' und Corrigans Absicht ersah, den Kirchenbann über Corwyn zu verhängen, da warnte ich Seine Majestät vor dieser Absicht. Ich legte Seiner Majestät das Versprechen ab, bei Corrigan zu bleiben, um zu schauen, was ich weiterhin in Erfahrung bringen könne. Aber nach dem heutigen Tage vermag ich nicht länger auszuharren.« »Ich glaube, ich kann Euch verstehen.« Cardiel lächelte. »Denis? Seid Ihr dazu bereit, ihm zu vertrau-
en?« Arilan lächelte ebenfalls. »Ich bin bereit.« »Nun gut.« Cardiel streckte die Hand aus. »Willkommen in unseren Reihen, Pater Hugh. Unser Häuflein ist klein, aber unser Glaube, wie's in den Psalmen heißt, ist groß. Vielleicht könnt Ihr uns darüber einige Aufschlüsse erteilen, was Loris und Corigan nunmehr beginnen dürften. Eure Hilfe wird sehr wertvoll sein.« »Ich werde Euch auf jede erdenkliche Weise unterstützen, Eure Exzellenz«, murmelte Hugh und küßte Cardiels Siegelring. »Ich spreche Euch meinen heißen Dank aus.« »Halten wir uns nicht mit Zeremonien auf.« Cardiel lächelte erneut. »Wir haben wichtigere Dinge zu erledigen. Würdet Ihr Euch wohl umschauen, ob Ihr meinen Schreiber findet, Pater Evans? Wir haben für Euch und ihn in etwa einer Viertelstunde Verwendung. Es sind dringliche Briefe zu versenden.« »Natürlich, Exzellenz.« Hughs Miene spiegelte Freude wider, als er sich verbeugte und dann hinauseilte. Cardiel seufzte, ließ sich in einen verlassenen Lehnstuhl sinken, schloß die Lider und rieb sich ermattet die Stirn, dann hob er den Blick zu Arilan. Der jüngere Bischof hatte sich auf die Tischkante gesetzt und lächelte in einer Art grimmiger Ergebenheit ins Schicksal auf Cardiel herab. »Ja, nun haben wir's getan, mein Freund. Am Vorabend eines Krieges haben wir unsere Kirche gespalten.« Cardiel schnob und lächelte müde. »Krieg mit Wencit von Torenth... und Bürgerkrieg. Sollte das nicht genügen, um unsere Tage auszufüllen...«
Arilan hob die Schultern. »Es ließ sich nicht vermeiden. Aber ich bedaure unseren König Kelson. Gegen ihn wird sich Loris als nächstem Mißliebigen wenden. Immerhin ist er ein Halbderyni, genau wie Morgan, und dazu besitzt er gewisse Fähigkeiten, die er von seinem Vater ererbt hat.« »Das bedeutet lediglich, daß Kelson der leibhaftige Beweis dafür sein muß, wie wohltätig und reinherzig ein Deryni sein kann«, sprach darauf Cardiel. Er seufzte, faltete seine Hände im Nacken und starrte empor an die Decke der Halle. »Was denkt Ihr von den Deryni, Denis? Glaubt Ihr, daß sie wirklich so schlecht sind, wie Loris glauben machen will?« Arilan lächelte andeutungsweise. »Ich gehe davon aus, daß es einige schlechte Deryni gibt, so wie man schwarze Schafe unter Menschen antrifft. Ich glaube jedoch nicht, daß Kelson, Morgan oder Duncan eine bösartige Natur besitzen, wenn's das sein sollte, was Ihr meint.« »Hmmm. Ich habe bloß so nachgedacht. Und dies ist das erste Mal, daß ich von Euch zu dieser Frage eine unzweideutige Antwort erhalte.« Er drehte das Haupt und zwinkerte Arilan zu. »Wüßte ich's nicht besser, bisweilen wäre ich zu schwören bereit, Ihr wärt selbst ein Deryni.« Arilan lachte leise und schlug Cardiel auf die Schulter. »Ihr habt die allersonderlichsten Einfälle, Thomas. Kommt, wir machen uns nun wohl lieber ans Werk, bevor jener wahrhaftige Deryni aus Torenth an unsere Tore pocht.« Cardiel schüttelte sein Haupt und stand auf. »Das möge der Himmel verhüten.«
18 So tritt nun auf mit deinen Beschwörern und der Menge deiner Zauberer, unter welchen du dich von deiner Jugend bemüht hast, ob du dir könntest raten, ob du dich könntest stärken. Jesaja 47,12 Des zweiten Tages Dämmerung war in wenigen Stunden zu erwarten, als Morgan und Duncan in Sichtweite von Culdis Stadtmauern kamen. Unermüdlich waren sie zwanzig Stunden lang geritten, nachdem sie in Rhemuth einen nur kurzen Aufenthalt eingelegt hatten, um sich dessen zu vergewissern, daß Kelson sich bereits unterwegs befand. Nigel, der für die Dauer der Abwesenheit seines jungen Neffen in der Hauptstadt dessen Angelegenheiten und Amtsgeschäfte regelte, war über den Bericht, welchen Duncan ihm über das Unheil zu Dhassa vortrug, höchst entsetzt gewesen und hatte ihre Auffassung geteilt, daß ihr einzig vernünftiges Verhalten nunmehr allein daraus bestehen konnte, mit der Neuigkeit so bald wie möglich Kelson aufzusuchen. Wenn die Nachricht vom Zwischenfall zu St. Torin den jungen König erst einmal erreicht hatte – und das geschähe wahrscheinlich durch eine kirchliche Verkündung der Exkommunikation durch die Kurie in Dhassa –, wäre es für den jungen König zu gewagt, die beiden flüchtigen Deryni bloß zu empfangen.
Unterdessen wollte Nigel die Aushebung von Waffenfähigen für den bevorstehenden Feldzug beschleunigen und das Heer auf den Ausmarsch vorbereiten. Falls die Unruhe im Südosten des Reiches sich verstärkte, mußte man womöglich dort Truppen einsetzen, um den inneren Zwist beizulegen. Die Möglichkeit einer Reichsspaltung ließ sich nicht länger ausschließen. So waren Morgan und Duncan weiter nach Culdi geritten, ohne zu ahnen, was außer dem jungen König in der Stadt ihrer harrte. Als sie an einem der Haupttore in der kalten, frühmorgendlichen Dunkelheit ihre Tiere zügelten und hinauf zur Fackel auf des Bollwerks Zinnen blinzelten, öffnete ein Torwächter ein Guckloch und betrachtete sie voller Argwohn. Nach dreitägigem Ritt sahen die beiden Männer gewiß nicht wie Leute aus, die man gerne vor Sonnenaufgang in die Stadt einließ. »Wer begehrt vor der Sonne Einlaß in die Stadt Culdi? Gebt euch zu erkennen oder beugt euch den Verordnungen der Stadt.« »Herzog Alaric Morgan und Duncan McLain auf dem Wege zum König«, antwortete mit gedämpfter Stimme Duncan. »Sputet Euch mit dem Öffnen. Wir haben's eilig.« Der Torwächter beriet sich hastig im Flüstertone mit jemandem, den man von draußen nicht sehen konnte, und spähte dann erneut heraus, um zu nikken. »Bitte geduldet Euch, Herr. Der Hauptmann ist unterwegs. Haltet derweilen Abstand vom Tor.« Morgan und Duncan lenkten ihre Pferde ein paar Schritte weit rückwärts und erschlafften in den Sätteln. Morgan blickte an den Wällen empor und sah plötzlich überm Tor ein weißhaariges Haupt, das auf
einem Spieß stak. Er runzelte die Stirn und berührte Duncan am Ellbogen, machte ihn mit einem Nicken aufmerksam, und Duncan hob ebenfalls seinen Blick. »Ich dachte, diese Art der Hinrichtung sei Verrätern vorbehalten«, meinte Morgan und musterte verwundert das abgeschlagene Haupt. »Es steckt noch nicht lange hier. Die Hinrichtung kann auf keinen Fall länger als ein paar Tage her sein.« Duncan zog die Brauen zusammen und zuckte die Achseln. »Ich erkenne den Mann nicht. Aber er sieht trotz des weißen Haars ziemlich jung aus. Was er wohl getan haben mag?« Hinterm Tor kreischten Riegel, Ketten klirrten und rasselten, eherne Angeln knarrten, und dann tat sich im rechten Torflügel eine Pforte auf, kaum groß genug, daß ein Reiter sie durchqueren konnte. Morgan sah Duncan erstaunt an, denn es war, soweit er sich zu erinnern vermochte, nicht üblich, Besucher durch die kleine Pforte einzulassen; allerdings hatte er die Stadt auch noch nie vorm Anbruch der Morgendämmerung betreten. Und es lauerte auch keine Gefahr hinterm Tor. Mittlerweile waren Morgans Derynifähigkeiten wiederhergestellt, und seine Sinne konnten keine irgendwie geartete Hinterlist entdecken. Duncan trieb sein Pferd hindurch und in den kleinen Hof, der dahinter lag, und Morgan folgte. Drinnen stiegen zwei in dunkle Umhänge gehüllte Stadtwächter mit Fackeln auf Pferde und hielten ihre ungebärdigen Tiere zurück, bis Morgan und Duncan vorüber waren; ein Hauptmann mit dem Abzeichen von Kelsons Kerntruppe streckte den Arm aus und ergriff Morgans Zaumzeug. »Willkommen in Culdi, Euer Gnaden, willkommen, Monsignor McLain«, begrüßte er
die Ankömmlinge, verbeugte sich knapp, hielt jedoch seinen Blick abgewandt, während er den Hufen von Morgans Roß auswich. »Diese Männer geleiten Euch zum Bergfried.« Der Hauptmann gab Morgans Roß frei, trat zurück, gab den beiden Wächtern einen Wink; Morgan runzelte erneut die Stirn. Im winzigen Hof war's finster, nur der kärgliche Fackelschein spendete ein wenig Helligkeit, doch Morgan war davon überzeugt, am Arm des Hauptmanns oberhalb des Ellbogens einen schwarzen Trauerflor gesehen zu haben. Sonderbar, daß jemand aus Kelsons Umkreis in offener Trauer ging. Wer mochte gestorben sein? Ihr berittener Geleitschutz trieb die Pferde an, die Fackeln in die Höhe gereckt, und Morgan und Duncan lenkten ihre müden Tiere hinterdrein. Um diese Morgenstunde lagen Culdis Straßen noch leer und verlassen, und der Hufschlag auf dem Kopfsteinpflaster und den Wackersteinen hallte laut durch die gewundenen Straßen. Nach einer Weile gelangten sie zum Vorwerk des Bergfrieds; als die Wachen ihre Begleitung sahen, ließ man sie bereitwillig ein. Doch als Morgan und Duncan ihre Blicke nach oben richteten, dorthin, wo die Königlichen Gemächer lagen, welche dem König während des Aufenthalts in Culdi vorbehalten waren, sahen sie verwundert, daß hinter den Fenstern Lichter brannten, obwohl bis zur Dämmerung noch länger als eine Stunde blieb. Das war nun wahrhaftig seltsam. Was konnte den jungen König um diese Morgenstunde aus dem Bett geholt haben? Morgan und Duncan wußten beide, daß der Jüngling ein unverbesserlicher Langschläfer war und sich beileibe nicht aus freien Stücken um diese Stunde erhoben hätte, wäre seine Aufmerksamkeit nicht von
dringlichen Angelegenheiten gefordert worden. Was ging hier vor? Die beiden Männer zügelten ihre Reittiere und stiegen ab. Ein Stallknecht, der ein völlig erschöpftes Pferd, dem er eine Decke übergeworfen hatte, zur Linken über den Vorhof führte, murmelte bei sich und schüttelte jedesmal den Kopf, wenn er verharrte, um die Beine des Tieres abzutasten; das Roß war anscheinend dem Zusammenbruch nahe. Ein Bote mußte eben eingetroffen sein, folgerte Morgan. Ein Bote mit einer Nachricht für Kelson, die keinen Aufschub vertrug. Deshalb brannten Kerzen hinter Kelsons Fenstern. Als sie die Eingangstreppe hinaufeilten, sah Morgan seinen Vetter an und bemerkte, daß Duncan zu demselben Schluß gelangt war. Ein uralter Schließer, den beide Männer noch aus den Tagen ihrer Kindheit kannten, gewährte ihnen Zutritt, vollführte eine tiefe Verbeugung und winkte zwei junge Knappen herbei, damit sie den Weg nach oben erleuchteten. Der Schließer war ein Gefolgsmann Jareds, stets ein getreuer Diener der Familie McLain sein ganzes Leben lang gewesen, aber auch er wich ihren Blicken aus und sprach kein Wort. Und auch er trug einen schwarzen Trauerflor. Wer ist gestorben? fragte sich Morgan, und eine frostkalte Furcht rührte an sein Herz. Lieber Gott, doch nicht der König?! Morgan warf Duncan einen besorgten Blick zu und stürmte die Treppe empor, indem er jeweils drei Stufen gleichzeitig überwand; dichtauf folgte ihm Duncan. Beide wußten, welchen Weg sie zu nehmen hatten, denn Burg Culdi war einer der häufigsten Tummelplätze ihrer Kindheit. Morgan erreichte die Tür zuerst und rüttelte an der Klinke. Die Tür sprang auf und krachte gegen die Wand.
Kelson saß in seiner Nachtgewandung an einem Schreibpult am Fenster; er sah verhärmt aus, und sein rabenschwarzes Haar war zerrauft. Auf dem Pult stand eine Reihe von Kerzen, deren Flammen zu tanzen begannen, als die Tür aufflog. Kelson schrieb in tiefer Versonnenheit, wobei er ein Pergament zu Rate zog, das vor ihm lag. Zur Linken hinter ihm stand Derry, nachlässig in seine blaue Kleidung gehüllt, über Kelsons Schulter gebeugt, um irgendeinen Punkt des Dokuments zu erörtern. Auf einem Sitzkissen am Kamin kauerte ermattet ein junger Knappe, um die Schultern einen von Kelsons karmesinroten Umhängen geschlungen, und starrte stumpfen Blikkes in die Flammen, während er Glühwein trank; zwei Pagen beschäftigten sich damit, ihm die Stiefel auszuziehen und ihm Essen vorzusetzen. Als sich die Tür auftat, fuhr Kelson mit einem Ruck empor, und seine Augen weiteten sich, als er Morgan und Duncan sah. Alle Augen richteten sich zur Tür, als die beiden Männer eintraten; Kelson erhob sich, und Derry begab sich stumm zur Seite. Selbst im trüben Kerzenlicht ersah man sofort, daß irgend etwas aufs äußerste im argen lag Kelson gab dem Knappen und den Pagen ein Zeichen, daß sie gehen sollten, und regte sich nicht, bis die drei die Tür von draußen geschlossen hatten. Dann erst verließ er den Platz hinterm Pult und lehnte sich mit bedrückter Miene an dessen Kante. Noch niemand hatte ein Wort gesprochen; Morgan sah zunächst Derry an, dann Kelson. »Was ist geschehen, Kelson?« Kelson betrachtete die Spitzen seiner Pantoffeln und mied Morgans Blick. »Alaric, Pater Duncan... das ist nicht leicht auszu-
sprechen. Nehmt zuvor Platz.« Derry rückte Stühle heran, und während Morgan und Duncan sich niederließen, wechselten sie erneut sorgenvolle Blicke. Derry kehrte an seinen Platz neben Kelsons Lehnstuhl zurück; seine Miene war ausdruckslos. Morgan schenkte seine Aufmerksamkeit wieder Kelson, als der Jüngling seufzte. »Zuerst einmal haben wir das hier«, erklärte der Jüngling und wies hinter sich, wo auf dem Pult das Pergament lag. »Ich weiß nicht, was sich zu St. Torin ereignete – Pater Hugh schreibt keine Einzelheiten –, aber ich glaube, ich enthülle keine Überraschung, wenn ich sage, daß man dich, Alaric, und Euch, Pater Duncan, exkommuniziert hat.« Morgan und Duncan sahen sich wiederum an, und Duncan nickte. »Loris?« »Die vollzählige gwyneddische Kurie.« Duncan lehnte sich zurück und seufzte. »Nein, wir können nicht von uns behaupten, daß wir überrascht sind, Majestät. Gorony wußte gewißlich allerhand zu erzählen. Ich vermute, es ist auch erwähnt, daß ich dazu gezwungen war, mich als Deryni zu erkennen zu geben?« »Das steht alles darin«, bestätigte Kelson und deutete fahrig erneut auf das Pergament. Morgan schnitt eine düstere Miene, beugte sich in seinem Stuhl vor und musterte Kelson mit scharfem Blick. »Da ist noch etwas, Kelson, das Ihr uns zu sagen habt. Etwas, das Ihr schon vorm Eintreffen von Pater Hughs Nachricht wußtet. Was geht vor? Warum trägt das Gefolge Trauer? Wessen Haupt steckt draußen am Tor?« »Der Mann hieß Rimmel«, antwortete Kelson und wich unverändert Morgans Blick aus. »Womöglich
erinnert Ihr Euch an ihn, Pater Duncan.« »Freilich, ja.« Duncan nickte. »Meines Vaters Baumeister. Was hatte er angestellt? Die Enthauptung gebührt doch gewöhnlich Verrätern.« »Er liebte deine Schwester, Alaric«, flüsterte Kelson. »Er holte sich bei irgendeiner alten Hexe in den Bergen einen Liebeszauber. Aber dieser Zauber war ein elendiges Pfuschwerk, und statt sie Rimmel zugeneigt zu machen... tötete er sie.« »Bronwyn?« Kummervoll nickte Kelson. »Und Kevin. Beide.« »O mein Gott«, murmelte Duncan, und seine Stimme erstickte, als er sein Antlitz in den Händen verbarg. Benommen berührte Morgan die Schulter Duncans, eine unbewußte, zum Trost gedachte Geste, und sank im Stuhl zurück. »Bronwyn ist tot? Durch Magie?« »Es geschah durch einen Jerráman-Kristall«, sagte Kelson mit leiser Stimme. »Allein hätte sie den Zauber vielleicht gebrochen. Er war schlecht getan. Aber er war nicht auf das Eingreifen eines Menschen abgestellt, und als er zu wirken begann, befand sich Kevin im Wirkungskreis. Vor zwei Tagen ist es geschehen. Heute findet das Begräbnis statt. Ich hätte einen Boten ausgeschickt, aber ich wußte, du warst bereits unterwegs. Ich wollte dir einen zweiten so trübseligen Ritt ersparen wie jener damals einer war, als mein Vater den Tod gefunden hatte.« Ungläubig schüttelte Morgan sein Haupt. »Ich kann's nicht begreifen. Sie hätte doch dazu imstande sein müssen... Wer ist diese Hexe, an die sich Rimmel wandte? Eine Deryni?« Derry trat vor und verneigte sich; seine Miene be-
zeugte Mitgefühl. »Wir wissen nichts Genaues, Gebieter. Gwydion und ich haben den Rest jenes unseligen Nachmittages und den gesamten gestrigen Tag in den Bergen zugebracht, wo sie Rimmels Wort zufolge zu finden sein sollte. Aber wir haben sie nicht entdecken können.« »Zum Teil trage ich daran die Schuld«, fügte Kelson hinzu. »Ich hätte Rimmel ausführlicher verhören sollen, seine Gedanken lesen. Aber in jenem Augenblick dachte ich nur an...« Von der Tür ertönte ein Pochen, und Kelson schaute auf. »Wer da?« »Jared, Sire.« Kelson sah Morgan und Duncan an, dann schritt er hinüber zur Tür und ließ Jared herein. Morgan erhob sich und trat fassungslos ans Fenster hinter Kelsons Pult, starrte durch das trübe Glas hinaus nach Osten, wo sich der Himmel zu erhellen begann. Duncan hockte zusammengesunken auf seinem Stuhl, die Hände zwischen den Knien gefaltet, und starrte auf den Fußboden. Beim Klang von seines Vaters Stimme schaute er mit schmerzlicher Miene auf, rang um Beherrschung und erhob sich, um sich zur Tür zu wenden, als Jared eintrat. Der Herzog schien in den letzten Tagen um Jahre gealtert zu sein. Unter gewöhnlichen Umständen war sein Haar stets sorgsam gepflegt, wogegen es nun wirr herabhing, und es wies mehr graue Strähnen auf, als Duncan in Erinnerung hatte. Seine schwere, braune Robe mit dem Kragen und den Ärmelaufschlägen aus dunklem Pelz betonten nun lediglich die neuen Falten in seinem hageren Antlitz, fügte scheinbar seiner Gestalt, die ihm selbst zu schwer geworden zu sein schien, weitere Jahre hinzu. Er sah Duncan kurz in die Augen, als er das Gemach durchmaß, kehrte seinen Blick
jedoch wieder ab, um in seines Sohnes Gegenwart nicht von Schwäche übermannt zu werden. Seine Hände rangen einander unbehaglich in den langen Samtärmeln. »Ich... ich war bei ihm, als man mir mitteilte, daß du gekommen bist, Duncan. Ich konnte nicht schlafen.« »Ich weiß Bescheid«, flüsterte Duncan. »Ich hätte an deiner Stelle auch nicht zu schlafen vermocht.« Kelson war nun an sein Pult zurückgekehrt und stand neben Morgan, und Jared blickte hinüber zum König, ehe er sich von neuem an seinen Sohn wandte. »Darf ich dich um eine Gunst ersuchen, Duncan?« »Um jede, die in meiner Macht steht«, antwortete Duncan. »Würdest du am Morgen deines Bruders Totenmesse lesen?« Duncan senkte den Blick, von dem Ansinnen insgeheim in Schrecken versetzt. Anscheinend hatte man Jared noch nicht von der Amtsenthebung unterrichtet, schon gar nicht von der Exkommunikation, denn andernfalls hätte er die Bitte niemals geäußert. Ein seines Amtes enthobener Priester sollte sich der Ausübung seiner geweihten priesterlichen Vollmachten enthalten. Und ein exkommunizierter Priester... Er schaute hinüber zu Kelson, um seinen Verdacht zu bestätigen, und Kelson drehte das Pergament um, so daß es auf der beschriebenen Seite lag, und schüttelte sein Haupt. Also wußte Jared tatsächlich nichts davon. Offenbar befanden sich die einzigen Personen in Culdi, die davon Kenntnis besaßen, gegenwärtig hier in diesem Raum. Aber Duncan selbst wußte darum. Bis die öffentliche Verkündung der Exkommunikation aus Dhassa eintraf, konnte man natürlich alles als
Gerüchte abtun, denen keinerlei Gewicht beizumessen war – obwohl Duncan die Wahrheit wußte. Doch seine Amtsenthebung... nun, sie konnte nicht die Sakramente unwirksam machen, welche Duncan vollzog. Die Amtsenthebung raubte einem Priester nicht die geistliche Gewalt – sie war lediglich mit der Anweisung verbunden, auf ihre Ausübung zu verzichten. Und wenn er's vorzog, der Amtsenthebung zu trotzen und seinem seelsorgerischen Auftrag dennoch nachzugehen – ja, das war dann eine Sache, die der Priester und sein Gott miteinander aushandeln mußten. Duncan schluckte und hob den Blick zu seinem Vater; er legte ihm in einer Geste des Zuspruchs einen Arm um die Schultern. »Selbstverständlich werde ich das tun, Vater«, versicherte er mit ruhiger Stimme. »Wollen wir nun gemeinsam zu Kevin gehen?« Jared nickte und blinzelte, versuchte Tränen zurückzudrängen, und Duncan sah hinüber zu Morgan und Kelson. Als Kelson nickte, neigte Duncan sein Haupt und schritt mit seinem Vater zur Tür. Derry sah Kelson an und hob eine Braue, um nachzuforschen, ob auch er das Gemach verlassen solle, und Kelson nickte wiederum. Derry schloß sich Duncan und Jared an und machte leise die Tür von außen zu, und Kelson und Morgan standen allein im Gemach. Für einen Moment beobachtete Kelson den Feldmarschall, hinter dessen Rücken er stand; dann beugte er sich vor und blies die auf seinem Pult aufgereihten Kerzen aus. Mit dem Herannahen der Dämmerung erhellte sich der Himmel zusehends, und was inzwischen an Helligkeit durch die Fenster hereindrang, genügte zum mäßigen Unterscheiden von Schatten-
gebilden, von Umrissen. Kelson lehnte sich zur Rechten Morgans an den Fensterrahmen und schaute aus über die Stadt, die Hände in die Taschen seiner Robe vergraben; er vermied es, Morgan anzusehen. Er fand keine Worte, um von Bronwyn zu sprechen. »Es bleiben uns noch ein paar Stunden, ehe wir uns wieder unter Leute begeben müssen, Alaric. Warum legst du dich nicht noch ein wenig zur Ruhe?« Morgan schien ihn nicht zu hören. »Mir ist zumute wie in einem äußerst schlimmen Alptraum, mein König. Die drei vergangenen Tage glichen keiner Zeitspanne, die mir zuvor Bedrückungen bescherte; sie waren fast so schlimm wie die Tage noch Eures Vaters Tod – ja, vielleicht in mancher Hinsicht gar ärger. Noch immer denke ich beständig, ich müsse im nächsten Augenblick erwachen, es könne nicht noch übler kommen – aber dann wird's trotzdem noch schlimmer.« Kelson senkte das Antlitz und wollte zu sprechen beginnen, da es ihn bekümmerte, seinen Mentor so reden zu hören, aber Morgan fuhr mit seinen Äußerungen fort, als sei Kelson gar nicht gegenwärtig. »Sobald die Exkommunikation öffentlich verkündet wird, Kelson, habt Ihr die Obliegenheit, uns nicht länger zu empfangen, es sei denn, Ihr wollt selber die Exkommunikation auf Euch nehmen. Aus demselben Grund dürft Ihr von uns nicht länger irgendeine Unterstützung dulden. Und falls man Corwyn unter einen Kirchenbann stellt, was nahezu mit Gewißheit geschieht, kann ich Euch nicht einmal den Beistand meiner Untertanen verheißen. Statt dessen könnte Corwyns Volk sich gar erheben. Ich... ich weiß nicht, welchen Rat ich Euch erteilen soll.«
Kelson stieß sich vom Fensterrahmen ab, nahm Morgan am Ellbogen und deutete auf das Prunkbett in der jenseitigen Ecke. »Wir wollen uns zu dieser Stunde nicht darum sorgen. Du bist erschöpft und bedarfst der Ruhe. Lege dich für eine Weile nieder, ich wecke dich zur rechten Zeit. Entscheidungen können wir später fällen.« Morgan nickte und ließ sich zur Bettstatt führen. Er gürtete sein Schwert ab und ließ es auf den Fußboden rutschen, als er auf die Bettkante niedersank. Endlich sprach er von Bronwyn. »Sie war so jung, Kelson«, murmelte er, während Kelson die Spange seines Umhangs öffnete und ihm den Umhang von den Schultern nahm. »Und Kevin – er war nicht einmal ein Deryni, und doch mußte auch er sterben. Alles durch diesen unsinnigen Haß, nur um des Andersseins willen...« Er streckte sich auf dem Bett aus und schloß für einen Moment die Augen, dann starrte er matt empor an den Brokatbaldachin. »Die Finsternis schließt ihren Belagerungsring mit jedem Tag enger um uns, Kelson«, flüsterte er, darum bemüht, seinen Körper zu entkrampfen. »Und was sie noch aufhält, das seid Ihr, das sind Duncan und ich...« Er entglitt in den Schlummer, während Kelson ihn besorgt musterte; dann setzte er sich behutsam, als er dessen sicher war, daß er schlief, an seines Freundes Seite auf die Bettkante. Für eine ausgedehnte Weile ruhte sein Blick auf seines Feldmarschalls Antlitz, derweil er Morgans von Dreck bespritzten Umhang an seine Brust preßte, dann streckte er eine Hand aus und senkte sie sacht auf Morgans Stirn. Indem er sorgsam seinen Geist klärte, schloß er die Lider und tastete mit seinen Sinnen nach Morgan.
Müdigkeit... Gram... Schmerz... angefangen mit den Hiobsbotschaften aus Rhemuth, als Duncan in Coroth eintraf... die Gefahr des Kirchenbanns, die Sorge um das Volk... Derrys Kundschafterritt... der Mordversuch und die Trauer um den Tod des jungen Richard FitzWilliam... Derrys Bericht über Warin und dessen Wunderheilung... Erinnerungen an Brion, an Brions Vaterstolz, als er von Kelsons Geburt erfuhr... die schaurige Umschau in der zerstörten Kapelle, welche kein Ergebnis erbrachte... St. Torin... Trug, Hinterlist, ein wirres Chaos und Schwärze, daran nur undeutliche Erinnerung... der Schrecken des Erwachens in gänzlicher Hilflosigkeit, gelähmt vom Merascha, das Bewußtsein, sich in der Gewalt eines Eiferers zu befinden, der Morgan und allen seiner Art den Tod geschworen hatte... Flucht, ein langwieriger, stumpfsinniger Ritt, überwiegend in gnädiger Benommenheit einer Halbbewußtheit durchgestanden, während Verstand und Kräfte sich wieder sammelten... und dann der Kummer über den Verlust einer geliebten Schwester, eines höchst geschätzten Vetters... und Schlaf, barmherziges Vergessen, wenigstens für ein paar Stunden... sicher... ungefährdet... Mit einem Schaudern löste Kelson seinen Geist und seine Hand von Morgan und öffnete die Augen. Morgan lag nun in friedlichem Schlaf, in der Mitte des breiten Prunkbetts ausgestreckt, vorerst aller Bedrängnis ledig. Kelson erhob sich, schüttelte den Umhang aus, den er hielt, breitete ihn über die schlafende Gestalt, löschte die Kerzen neben dem Bett und begab sich zurück an sein Pult. Die nächsten Stunden sollten für niemanden leicht sein, am wenigsten für Morgan – und Duncan. Doch unterdessen mußte das
Bemühen, inmitten der Wirrnisse ein Maß von Ordnung zu bewahren, unverdrossen weitergehen; und er mußte nun, da Morgan ihm nicht beizustehen vermochte, stark sein. Mit einem letzten Blick zum Bett setzte sich Kelson wieder hinter sein Pult, zog das Pergament zu sich heran, drehte es um und nahm erneut die Vermerke zur Hand, worüber er und Derry zuvor gegrübelt hatten, als Morgan eintraf. Nigel mußte nun unterrichtet werden – von der ganzen düsteren Wahrheit. Er mußte vom Tod Bronwyns und Kevins, von der Exkommunikation, der Gefahr der Bekriegung des Reiches an zwei Grenzen erfahren. Denn Wencit von Torenth würde schwerlich warten, bis Gwynedd seine heimischen Schwierigkeiten gelöst hatte. Der derynische Kriegsherr würde sich das Durcheinander in Gwynedd in vollem Umfang zu Nutzen machen, die Gefahr eines Glaubenskrieges in seine Pläne einbeziehen. Kelson seufzte und las den Briefentwurf noch einmal. Die Nachricht war erbarmungslos grausam, ganz gleichgültig, wie man sie angehen wollte. Es gab keinen anderen Weg, um sie mitzuteilen, als nun endlich einfach damit zu beginnen. Duncan kniete allein in der kleinen Sakristei der St. Teilo geweihten Kirche und starrte in die Flamme des Ewigen Lichtleins neben dem bescheidenen Altar. Er fühlte sich nun ausgeruht. Er hatte die derynische Fähigkeit angewendet, Müdigkeit zu verdrängen, so oft, wie er's wagen konnte, und er fühlte sich so gestärkt, wie man's daher erwarten durfte. Doch obwohl er sich gereinigt und barbiert und sein Priestergewand frisch gesäubert hatte, war sein Herz nicht bei der
Aufgabe, die ihm bevorstand. Er besaß nicht länger dazu das Recht, die Stola aus schwarzer Seide umzulegen, sich ins Meßgewand und die geweihte Amtstracht zu kleiden, deren es bedurfte, um die Messe zu feiern. Feiern, dachte er voller Bitternis. Es gab nicht nur einen Grund, warum es ihm widerstrebte, die Meßgewänder anzulegen. Denn in der Tiefe seines Bewußtseins besaß er darüber Klarheit, daß dies nach aller Wahrscheinlichkeit das letzte Mal war, daß er vielleicht niemals wieder an den Sakramenten der Kirche mitwirken durfte, welcher er bereits neunundzwanzig Jahre seines Lebens gewidmet hatte. Er neigte sein Haupt und versuchte zu beten, aber ihm kamen nicht die rechten Worte in den Sinn; oder vielmehr, es kamen durchaus welche, aber sie wälzten sich durch sein Bewußtsein wie bedeutungslose Floskeln, spendeten ihm keinen Trost. Wer hätte jemals gedacht, daß er einmal seinen eigenen Bruder und Morgans Schwester ihrem Grabe übergeben müßte? Wer hätte geglaubt, daß es dazu käme? Er hörte, wie sich hinter ihm leise die Tür öffnete, und wandte das Haupt. Auf der Schwelle stand der alte Pater Anselm im Priesterrock und Chorhemd aus weißer Spitze, sein Haupt gesenkt, um Nachsicht dafür zu erbitten, Duncan gestört zu haben. Er richtete den Blick auf das Meßgewand neben Duncan, dann sah er Duncan selbst an. »Ich möchte Euch nicht drängen, Monsignor, aber es ist fast an der Zeit. Kann ich Euch auf irgendeine Weise helfen?« Duncan schüttelte den Kopf und kehrte sein Antlitz wieder zum Altar. »Sind alle bereit?« »Die Familie ist gegenwärtig, und man stellt sich zur Prozession auf. Es bleibt Euch noch ein kurzes
Weilchen.« Duncan beugte das Haupt und schloß die Augen. »Ich danke Euch. Ich finde mich an Ort und Stelle ein.« Er hörte, wie die Tür sich mit leisem Geräusch wieder schloß, und hob den Blick empor. Das Bildnis überm Altar war ein Gott voller Wohlwollen und Liebe, dessen war er sich sicher; Er konnte verstehen, was Duncan nun begann, warum er sich der kirchlichen Gewalt wenigstens dies eine Mal widersetzen mußte. Gewiß verurteilte Er Duncan nicht zu hart. Mit einem Seufzer erhob sich Duncan nahm die schwarze Stola, drückte sie an die Lippen und schlang sie um den Nacken, schob die überkreuzten Enden unter die seidene Schärpe um seine Hüften. Dann streifte er das Meßgewand über, rückte die Falten zurecht. Einen Moment lang stand er reglos und schaute an sich hinab. Er glättete das silbern umrandete Kreuz, das auf dem Brustteil glänzte und sich von der schwarzen Seide abhob. Dann verbeugte er sich vorm Altar und strebte zur Tür, um sich zur Prozession zu gesellen. Diesmal mußte alles einwandfrei verlaufen, wie es sich geziemte; er mußte seine Amtshandlung makellos vollziehen, da er's sehr wahrscheinlich das letzte Mal tun durfte. Morgan saß benommen in der zweiten Bankreihe hinter den Särgen, zu seiner Rechten Kelson, zur Linken saßen Jared und Margaret; alle waren in schwarze Gewänder gehüllt. Hinter ihnen saßen Derry, Gwydion, ein Gast von Herzog Jareds Rat sowie Gefolgsleute und höhere Bedienstete des herzoglichen Hauses, und dahinter befanden sich so viele Bewohner Culdis, wie sich in die kleine Kirche zu drängen
vermocht hatten. Sowohl Bronwyn wie auch Kevin waren in Culdi sehr beliebt gewesen, und das Volk betrauerte ihren Tod wie das Hinscheiden eigener Familienangehöriger. Der Morgen war sonnig, wiewohl von Nebel durchwallt, die Luft harsch von des Frühlings letzter Kälte. Das Innere von St. Teilo jedoch war dunkel, düster, geisterhaft; statt der Hochzeitskerzen, die geleuchtet hätten, wäre es anders gekommen, glommen nun in trübem Flackern Trauerkerzen. Sie standen zu beiden Seiten der beiden Särge aufgereiht, welche in der Mitte des Querschiffs ruhten, verhangen von schwarzen Sargtüchern aus Samt. Auf jedem der in Trauer gehüllten Särge sah man das Wappen des Geschlechtes; und Morgan zwang sich dazu, ein jedes in Gedanken zu beschreiben, im Gedenken an jene, die nun in ihren Särgen schliefen. McLain: Auf Silber in Himmelblau ein Löwe in Ruhestellung; im Dreieck drei rote Rosen. Das Ganze war gekrönt von Kevins Abstammungsmerkmal – einer Reihe von drei silbernen Punkten. Morgan (Morgans Kehle verengte sich, und es kostete ihn Überwindung, sich an die Beschreibung zu machen): Auf Schwarz in Smaragdgrün ein zur Wehr gespreizter Greif; Einfassung aus zweifach geflochtener Borte von wechselseitigem Blumenschmuck – dies Wappen war nicht in Schildform gehalten, sondern als Witwenwappen in Gestalt einer Raute. Um Bronwyns willen. Morgans Blickfeld verschwamm, und er nötigte sich dazu, den Blick hinweg über die Särge und auf die Altarkerzen zu richten, die überm blanken Silber und Gold der Kerzenhalter und des Altarschmucks funkelten und glommen. Doch die Altartücher waren schwarz, die vergoldeten Bildwerke schwarz zugehangen. Und als
der Chor das Eingangslied zu singen anhob, da gab es nicht länger irgendeine Möglichkeit, sich einzureden, dies sei nicht, was es war: ein Begräbnis. Die Zelebranten begannen sich aufzureihen; Kapläne in Priesterröcken und Chorhemden schwangen Weihrauchgefäße und verbreiteten des Weihrauchs scharfen Geruch, der Küster trug das schwarz verschleierte Prozessionskreuz, Meßdiener hielten silberne Kerzenleuchter. Dieser Vorhut schlossen sich St. Teilos Mönche an, über ihren Kutten Chorröcke und schwarze Trauerstolen; dann kam Duncan, der die Messe feiern sollte, in seiner Gewandung von Schwarz und Silber gespenstisch bleich. Als die Prozession den Altarraum erreichte und sich teilte, damit die Teilnehmer zum Altar treten konnten, beobachtete Morgan mit abgestumpften Sinnen die Vorgänge, murmelte willenlos die Antworten, als sein Vetter mit der Liturgie begann. Introibo ad altare Dei. Ich will vor den Altar Gottes treten. Morgan kniete sich nieder und verbarg das Antlitz in seinen Händen, dazu außerstande, dies letzte Zeremoniell für jene, die er liebte, mitanzusehen. Noch vor Wochen hatte er Bronwyn voller Leben gesehen, voller Freude über ihre bevorstehende Vermählung mit Kevin. Und nun war sie in ihrer Jugend Blüte dahingemordet durch Magie; vermutlich durch ein Weib ihrer eigenen Art... In dieser Stunde fühlte Morgan sich nicht länger wie er selbst. Es mißbehagten ihm die Deryni, und ihm mißfielen seine Fähigkeiten, und ganz besonders schmerzte ihn die Tatsache, daß die Hälfte des Blutes, das in seinem Leibe kreiste, von jenem verfluchten Geschlecht stammte. Warum mußte es so sein? Warum sollte Derynitum
verhohlen werden müssen warum sollte es verboten sein, so daß ein Deryni sich um seine Fähigkeiten schämte, sie zu verheimlichen lernte, daß Deryni ihre Begabung womöglich so lange verbargen, bis nach vielen Erbfolgen die Fertigkeit zu ihrer klugen Anwendung verloren war, obwohl die Begabung blieb? Solche Kräfte schlummerten bisweilen im Geist schrulliger, absonderlicher oder altersblöder Personen, welche sie für etwas anderes mißverstanden und mißbräuchlich anwendeten, ohne bloß zu ahnen, daß diese Kräfte von einem uralten, edlen Erbe herrührten, von Leuten, die man Deryni nannte. Und so hatte es dazu kommen können, daß ein hutzliges, wohl vom Alter umnachtetes derynisches Weib, das nichts begriffen hatte, sich vor vielleicht vielen Jahren dem Zwang ausgesetzt sah, seine Fähigkeiten zu tarnen – möglicherweise ein Zwang, der sogar von den eigenen Eltern ausgegangen war –, sich mit einem einfachen Zauber für einen liebeskranken jungen Mann versuchte – und statt Liebe Tod brachte. Und das war noch nicht einmal das Schlimmste an allem. Von allen den Schwierigkeiten, welche sich in den nächsten Wochen und Monden vor ihnen auftürmen sollten, ließ sich jede einzelne in irgendeiner Hinsicht auf die Derynifrage zurückführen. Deryni selbst trugen daran die Schuld, daß die Kirche seit dreihundert Jahren zur Magie eine feindliche Haltung einnahm, und nun drohte aufgrund der Derynifrage ausgerechnet zum ungünstigsten Zeitpunkt ein Glaubenskrieg. Die Derynifrage und der unsinnige Haß, welchen sie in gewöhnlichen Menschen erzeugte, hatten Warin de Grey zu dem Wahn verleitet, er sei dazu ausersehen, alle Deryni zu vertilgen, und zuerst, vor allen ande-
ren Alaric Morgan; und das wiederum hatte zu dem verhängnisvollen Zwischenfall bei St. Torin geführt, und der vorläufige Höhepunkt war, was die Folgen betraf, seine und Duncans Exkommunikation. Eine Deryni hatte die Krisis bei Kelsons im vergangenen Herbst stattgefundener Krönung ausgelöst, die Zauberin Charissa, die nach dem Thron gestrebt hatte, um ›zurückzuerringen‹, was nach ihrer Auffassung schon ihrem Vater gebührte; gegen diese Bedrohung war Kelson mit den Fähigkeiten seines Vaters vorgegangen, die sein Vater wiederum von Deryni erlangt hatte; und Jehana, die leidenschaftlich treue Mutter des jungen Königs, hatte Leib und Seele gewagt, um ihren Sohn vorm Bösen, das sie in den Deryni verkörpert sah, zu beschützen – und doch war sie selber eine hochgeborene Deryni, hatte es bis dahin nicht gewußt. Und wer könnte behaupten, der bevorstehende Krieg wider Wencit von Torenth sei nicht auch verbunden mit der Derynifrage? War nicht Wencit von Torenth ein reinblütig derynischer Adeliger, geboren in der uneingeschränkten Machtfülle, die seine Art in jenem Land genoß, wo die Magie noch immer in hohem Ansehen stand? Und gingen nicht darüber Gerüchte um, er verbünde sich mit anderen Deryni, daß an der Furcht der gewöhnlichen Menschen etwas Wahres sei, das Anwachsen der derynischen Macht im Osten könne erneut in einer derynischen Gewaltherrschaft gipfeln, jener gleich, die dreihundert Jahre zuvor das Reich heimsuchte, die dem menschlichen Volk, wie man nicht verschweigen durfte, großes Leid zufügte? Alles in allem war's, ob man nun daran glaubte, daß den Deryni das Böse innewohne, oder nicht, eine
beschwerliche Zeit, um ein Deryni zu sein, eine schwere Zeit, um sich als Angehöriger dieses Magiergeschlechtes zu bekennen. Nun hätte Morgan, wäre ihm die Möglichkeit der Wahl gegeben gewesen, sich möglicherweise stark versucht gefühlt, sein derynisches Erbteil aus seinem Dasein zu verbannen und bloß noch Mensch zu sein seine Fähigkeiten zu verleugnen und ihnen für immer abzuschwören, ganz so, wie Erzbischof Loris es verlangt hatte. Morgan hob das Haupt und bemühte sich um Fassung, erlegte sich den Zwang des Zusehens und Zuhörens auf, während Duncan die Messe zu zelebrieren fortfuhr. Seine Überlegungen waren, so wurde ihm plötzlich bewußt, höchst selbstsüchtig gewesen. Er war nicht der einzige Deryni, der gegenwärtig Seelenschmerz erlitt. Was war denn mit Duncan? Mit was für einem gewaltigen Engel mußte er gerungen haben, als er sich dazu entschloß, Amtsenthebung und Exkommunikation zu mißachten und zum Begräbnis in Würde und Gewandung des Priesters zu erscheinen? Morgan war bei weitem zu zerstreut, um Duncans Gedanken anzuzapfen, während sein Vetter vollführte, was möglicherweise seine letzte liturgische Amtshandlung war; außerdem hätte er ohnehin davon Abstand genommen, auf geistiger Ebene in Duncans persönliche Trauer einzudringen. Doch jetzt, da er daran dachte, gab es für Morgan keinen Grund zum Zweifel, daß sein Vetter nicht weniger Schmerz als er erduldete, während er die Messe las. Bis heute hatte die Kirche Duncans Leben ausgemacht. Nun handelte er derselben Kirche zuwider, gleichwohl nur Morgan, Kelson und Derry darum wußten, um seinen Beweis der Hochachtung und Liebe für einen Bruder und ei-
ne Jungfrau, die fast seine Schwester geworden wäre, darzubringen; ja, auch Duncan mußte es heute schwerfallen, ein Deryni zu sein. »Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis«, psalmodierte Duncan. Lamm Gottes, das Du hinwegnimmst die Sünden der Welt, erbarme dich unser. Morgan neigte das Haupt und wiederholte das Wort andachtsvoll im Flüstertone. Es konnte lange währen, bis er sich damit abzufinden vermochte, was vor zwei Tagen mit dem Willen Gottes geschehen war; lange, bis er wieder die innere Gewißheit besaß, daß die Fähigkeiten, welche er sein ganzes Leben hindurch bewußt genutzt hatte, ihren guten Zweck besaßen. Vorläufig lastete die Verantwortung dafür, was Bronwyn und Kevin widerfahren war, schwer auf seiner Seele. »Domini, non sum dignus...« O Herr, ich bin nicht würdig, daß Du eingehst unter mein Dach. Aber sprich nur ein Wort, und ich bin gesund. Die Messe schleppte sich schier endlos dahin, und dennoch nahm Morgan von allem nur wenig wahr Müdigkeit, Verzweiflung und dumpfe Trauer, dazu ein Dutzend geringerer Empfindungen, versetzten sein Bewußtsein in einen Zustand von Stumpfheit, und er verspürte ein gewisses Maß an Überraschung, als er plötzlich bemerkte, daß er draußen mit den anderen am Tor zur unter St. Teilo gelegenen Gruft stand; und da begriff er, daß das Tor sich hinter Bronwyn und Kevin zum letztenmal geschlossen hatte. Er schaute umher und stellte fest, daß die Menge sich auflöste, daß die wenigen Mitglieder der Familie und des Haushalts sich in kleinen Gruppen, die sich in gedämpftem Tone unterhielten, in verschiedene Richtungen entfernten. Kelson war noch mit Herzog
Jared und Lady Margaret zusammen, doch Derry stand aufmerksam an Morgans Seite, und als Morgan den Blick hob, nickte Derry ihm zum Ausdruck des Mitgefühls zu. »Meint Ihr nicht auch, Gebieter, daß Ihr Euch nunmehr etwas Ruhe gönnen solltet? Die letzten Tage waren lang, und alsbald werdet Ihr nicht länger eine Gelegenheit erhalten.« Morgan schloß die Augen und rieb sich mit behandschuhter Faust die Stirn, als wolle er die Trauer der vergangenen Stunden fortwischen, dann schüttelte er sein Haupt. »Entschuldigt mich, Derry, falls jemand nach mir fragt, seid so gut, ja? Ich brauche ein Weilchen ganz für mich allein.« Derry schaute ihm besorgt nach, als Morgan sich von der Trauergemeinde entfernte und den Burggärten zustrebte, welche an die Kirche grenzten. Er folgte gleichsam willenlos dem Verlauf der Kiespfade, bis er schließlich an seiner Mutter Kapelle anlangte und durch das Portal aus schwerem Holz hineintrat. Lange Zeit war er hier nicht gewesen – wie lange, dessen vermochte er sich nicht zu entsinnen –, aber die Kapelle war ein wahrhaftiger Zufluchtsort, hell, freundlich und sogar luftig; jemand hatte das Fenster aus buntem Glas über seiner Mutter Sarkophag geöffnet, so daß der warme Sonnenschein in prachtvollem Goldglanz hereinströmte, dem Alabasterstandbild Wärme einflößte. Dieser Anblick weckte in Morgans Gedächtnis erfreulichere Erinnerungen, denn früher war dies seine bevorzugte Tageszeit gewesen, um seiner Mutter Gruft aufzusuchen. Er entsann sich noch daran, als Kind häufig mit Bronwyn und seiner Tante Vera hergekommen zu sein, um zu Füßen des Standbilds Blumen niederzulegen; und er erinnerte sich der hin-
reißenden, wundersamen Geschichten, die seine Tante ihnen von der Lady Alyce von Corwyn und Morgan erzählt hatte. Damals verspürte er, geradeso wie heute, das Gefühl, als sei seine Mutter niemals wirklich von ihnen gegangen, als wäre sie gegenwärtig und wache über ihn und seine Schwester, derweil sie in der Gruft und rundum in den Gärten spielten. Er entsann sich seiner stillen Aufenthalte an diesem Ort, da er allein in diesem kühlen, weihevollen Gewölbe saß, wenn die Welt draußen zu unerträglich geworden war; oder da er auf seinem Rücken inmitten eines schillernden Lichtkegels, der durch das Fenster überm Sarkophag herabfiel, gelegen hatte, dem eigenen Atem gelauscht, dem Wind draußen in den Bäumen, der Stille in seiner eigenen Seele. Und diese Erinnerungen spendeten ihm nunmehr ein gewisses Maß an Trost. Plötzlich fragte er sich, ob seine Mutter wohl wisse, daß ihre Tochter nun unweit in einem steinernen Grab ruhte. Das breite Messinggitter rings um den Sarkophag schimmerte im Sonnenlicht, und Morgans Hand verweilte für einen Moment darauf, während er im Gram das Haupt geneigt hielt. Nach einem Weilchen enthakte er die Kette, welche den Durchgang verwehrte, und trat ein, ließ die Kette schwerfällig auf den Fußboden aus Marmor gleiten. Als er sanft einen Finger über die alabasterne Hand von seiner Mutter Bildnis strich, vernahm er plötzlich von draußen, aus dem Garten, ein brüchiges Summen. Die Melodie war ihm bekannt – es war eine von Gwydions am häufigsten vorgetragenen Weisen –, doch als er die die Augen schloß, um zu lauschen, da begann die Stimme neue Worte zu dieser Weise zu singen, Worte, die er noch nicht vernommen hatte. Es
war Gwydions Stimme, begriff er mit geringfügiger Verspätung; des Troubadours weiche Stimme verschmolz mit den vollen Klängen der Laute zu einem gleichsam goldenen Wohlklang von reinster Schönheit. Dennoch mißriet bisweilen etwas in Gwydions Stimme, wie sich während des Gesangs offenbarte; und es dauerte ein Weilchen, bis Morgan erkannte, daß der kleine Troubadour Tränen vergoß. Er vermochte nicht alle Worte zu verstehen. Das außerordentlich melodische Lied erstickte so manches Mal in einem verhaltenen Schluchzen; doch wenn des Sängers Stimme versagte, dann griffen seine gewandten Finger ein und unterlegten das Wort mit sanften Klängen. Er sang vom Frühling und vom Krieg. Er sang von einer goldhaarigen Maid, an die er sein Herz verloren habe und die nicht länger sei; von eines Edlen Sohn, der die Maid zu lieben wagte und sterben mußte. Trauer müsse in gewaltigem Übermaß kommen, sang der Troubadour. Denn der Krieg sei blind, er metzle die Unschuldigen ebenso nieder wie jene, die ihn vom Zaun brächen und austrügen; und wenn das Sterben unvermeidlich sei, dann müsse der Mensch sich auch die Zeit zum Trauern nehmen. Nur der Gram verleihe dem Tod einen Sinn, verwandle das Trachten nach dem Endsieg in eine wirkliche Kraft. Morgan hielt den Atem an, während er Gwydions Lied lauschte, und neigte das Haupt über seiner Mutter Sarkophag. Der Troubadour hatte recht. Ein Krieg war's, was geschah, und viele mehr mußten sterben, ehe sie den Sieg erringen konnten. Das war unausweichlich, sollte das Licht bestehenbleiben, die Finsternis vertrieben werden. Doch jene, die den
Kampf führten, durften niemals vergessen, warum sie sich wider die Finsternis stemmten, und daß der Preis des Sieges sein Maß in den Tränen von Menschen hatte; und nicht, daß auch die Tränen vonnöten waren, um den Schmerz fortzuspülen, die Schuld, um das Herz zu befreien und das menschliche Wesen aufschreien zu lassen. Er schlug die Augen auf und schaute empor in den Sonnenschein, nahm es hin, daß weite Leere sein Inneres auszuhöhlen begann, spürte seine Kehle sich verengen, als er die Bitterkeit des Verlustes schmeckte. Bronwyn, Kevin, der geliebte Brion, den er wie einen Vater und zugleich wie einen Bruder geliebt hatte, der blutjunge Richard FitzWilliam – alle waren dahin, allesamt Opfer dieses wahnwitzigen, sinnlosen Ringens, das seinem Höhepunkt entgegenstrebte. Doch in einer Stunde wie dieser – wenn inmitten des Sturms eine kurze Windstille einen Aufschub des Wütens gewährte –, da konnte ein Mann sich endlich der Trauer hingeben und auch die Geister zur Ruhe betten. Das goldene Sonnenlicht verschwamm vor seinen Augen, seine Sicht wurde trübe; und diesmal unternahm er keinen Versuch, um die Tränen zurückzuhalten, die in seinen Augen standen. Es dauerte ein ganzes Weilchen, bis ihm auffiel, daß der Gesang verstummt war, daß sich draußen auf dem Kiespfad Schritte nahten. Er hörte sie jedoch lange genug vorm Eintreffen – er wußte, daß man ihn suchte –, und als jemand zaudernd die Pforte öffnete, hatte er sich wieder in der Gewalt, trug sein Antlitz erneut jene gefaßte Miene, welche er der Welt zeigen mußte. Er tat einen tiefen Atemzug, um sich vorzubereiten, und als er sich umdrehte sah er in der Helligkeit des Eingangs Kelson
stehen, und hinter ihm einen von Morast besudelten Boten in rotem Gewand. Jared Ewan, Derry und eine Handvoll Heeresberater waren mit Kelson gekommen, hielten jedoch achtungsvollen Abstand, als ihr junger König die Kapelle betrat. In des Königs Hand war ein vielfach gefaltet gewesenes Pergament mit etlichen Hängesiegeln daran. »Die Kurie hat sich zu Dhassa während der Auseinandersetzung um das Interdikt gespalten, Morgan«, erklärte der König, und seine grauen Augen musterten Morgan aufmerksam. »Die Bischöfe Cardiel, Arilan, Tolliver und drei weitere haben sich gegen die Verhängung des Kirchenbannes über Corwyn gestellt und mit Loris gebrochen. Sie teilen uns ihre Bereitschaft mit, sich innerhalb von vierzehn Tagen in Dhassa mit uns zur Beratung zu treffen. Arilan glaubt, daß er bis zum Ende des Mondes fünfzigtausend Mann auszuheben vermag.« Morgan senkte den Blick und kehrte sich halb ab, während er mißbehaglich seine Finger ineinander verklammerte. »Das ist vortrefflich, mein König.« »Ja, das ist's«, bestätigte Kelson und runzelte ob der kurzen Antwort die Stirn. Er tat ein paar Schritte auf seinen Feldmarschall zu. »Glaubst du, daß sie genug Kühnheit aufbringen, um sich mit Warin anzulegen? Und wenn, bist du der Ansicht, daß Jared und Ewan es vermögen, Wencit im Norden aufzuhalten, falls wir den abgefallenen Bischöfen Unterstützung senden müssen?« »Ich weiß es nicht, Gebieter«, antwortete Morgan mit leiser Stimme. Er hob sein Haupt und schaute zerstreut durchs offene Dachfenster hinaus, empor an den Himmel. »Ich bezweifle, daß Arilan sich mit Ta-
ten gegen Warin wendet. Täte er's, wäre das ein Eingeständnis, daß die Kirche zweihundert Jahre lang zur Magie eine falsche Einstellung hegte, daß Warins Kreuzzug gegen die Deryni falsch ist, und ich bin nicht davon überzeugt, daß einer unserer Bischöfe so weit zu gehen bereit ist – nicht einmal Arilan.« Kelson wartete; er hoffte, der Feldmarschall werde weiterreden, aber anscheinend gedachte sich Morgan mit dieser Entgegnung zu begnügen. »Nun, und was schlägst du demnach vor?« fragte Kelson schließlich mit Ungeduld. »Arilans Kleriker haben den Willen zum Ausdruck gebracht, uns zu helfen, Morgan, und wir brauchen jeglichen Beistand, den wir bekommen können.« Morgan starrte mißmutig auf den Marmorboden, von Widerwillen dagegen geplagt, Kelson an den Grund seines Zögerns zu erinnern. Wenn der junge König nicht bald davon abließ, weiter Umgang mit Duncan und ihm selber, Morgan, zu pflegen, dann würde womöglich ganz Gwynedd mit Exkommunikation und Kirchenbann gestraft, bevor man die Erzbischöfe in ihre Schranken verweisen konnte. Er durfte nicht zulassen, daß... »Morgan, ich harre deiner Antwort!« »Vergebt mir, Sire, aber Ihr solltet mir nicht derartige Fragen stellen. Ich sollte nicht einmal länger hier weilen. Ich darf nicht zulassen, daß Ihr Eure Lage verschlechtert, indem Ihr Euch mit jemandem...« »Schweig!« fuhr Kelson auf, packte Morgan am Unterarm und blickte ihm erzürnt ins Antlitz. »Von der Kurie ist noch keine öffentliche Verkündung deiner Exkommunikation eingetroffen. Und solange sie ausbleibt – und möglicherweise auch danach –, beabsichtige ich nicht auf deine Dienste zu verzichten,
weil vertrottelte Erzbischöfe irgend etwas beschließen. Und nun, Morgan, wirst du tun, was ich dir befehle, oder du sollst wahrhaft verdammt sein! Ich brauche dich!« Während des Jünglings Wutausbruch blinzelte Morgan ihn erstaunt an, für einen Augenblick vom Wahn befallen, vor ihm stünde Brion, ein König, der einen törichten Pagen ausschalt. Er schluckte und senkte den Blick, als er einsah, wie dicht davor er gestanden hatte, Kelsons Sache mit dem eigenen Selbstmitleid zu schwächen; er begriff, daß Kelson die Gefahren erkannte, die heraufzogen – und die Bereitschaft besaß, ihnen zu begegnen. Und als er in die stürmischen grauen Augen schaute, sah er einen vertrauten Blick von Entschlossenheit, den er jedoch in diesem Antlitz niemals zuvor gesehen hatte. Und Morgan fand sich damit ab, daß er nie wieder in Kelson einen Jüngling erblicken sollte. »Ihr seid in der Tat Eures Vaters Sohn, mein König«, sagte er leise. »Verzeiht mir, daß ich das nur für einen Moment vergessen konnte. Ich...« Er verstummte. »Versteht Ihr wirklich, was diese Entscheidung bedeutet, Kelson?« Kelson nickte ernst. »Sie bedeutet, daß ich dir vertraue«, antwortete er freundschaftlich, »und sollten sich auch zehntausend Erzbischöfe gegen dich erheben. Sie bedeutet, daß wir Deryni sind und zusammenstehen müssen, du und ich, ganz so, wie du zu meinem Vater standest. Wirst du an meiner Seite bleiben, Alaric? Willst du mit mir ins Sturmgewitter reiten?« Zögernd lächelte Morgan; dann nickte er. »Nun gut, mein König. Vernehmt meinen Ratschlag. Setzt
Arilans Truppen ein, um Corwyns nordöstliche Grenze gegen Wencits Scharen zu schützen. Dort besteht eine klar für jedermann ersichtliche Gefahr. Dadurch bringen wir die Krieger in keinerlei mit der Derynifrage verquickte Gewissensnöte. In Corwyn selbst schickt Nigels Männer gegen Warin, wenn er's letztendlich so haben will. Nigel ist in allen Elf Königreichen höchlichst geachtet und beliebt. An seinem Namen haftet kein Makel.« Er blickte hinüber zu Jared und lächelte wie zur Ermutigung. »Was den Norden betrifft, so glaube ich fest, daß Eure Herzöge Jared und Ewan ihn vollauf zu verteidigen imstande sind. Dort kann auch der Graf von Marley ausheben und Verstärkungen senden. Dadurch bleibt Euch die Kerntruppe des Hauses Haldane als Reserve, um sie in den Kampf zu werfen, wo immer es notwendig wird. Wie denkt Ihr darüber, mein König?« Kelson lächelte breit, gab Morgans Arm frei und schlug ihm frohgemut auf die Schulter. »Fürwahr, so höre ich dich lieber reden. Jared, Derry, Deveril, folgt mir, wir müssen noch in dieser Stunde Boten zu Nigel und den königstreuen Bischöfen schicken. Morgan, kommst du auch?« »In kurzer Frist, mein König. Ich wollte auf Duncan warten.« »Ich verstehe dich. Komm, sobald du bereit bist.« Während Kelson und seine Begleitung davonschritten, machte Morgan kehrt und begab sich erneut in die Kirche St. Teilos. Er setzte die Füße behutsam auf, um nicht die wenigen Trauergäste zu stören, die noch in der Kirche Stille beteten, als er das Kirchenschiff durchquerte und den Wandelgang hinabschritt, bis er die Sakristei erreichte, wo sich Duncan befinden
mußte. Er verharrte an der offenen Tür und spähte hinein. Duncan war allein. Er hatte seine priesterlichen Gewänder abgelegt und schnürte soeben das Brustteil eines schlichten Lederwamses, den Rücken der Tür zugewandt. Als er mit den Bändern fertig war, griff er nach seinem Schwert und dem Schwertgurt, welche neben ihm auf einem Tisch lagen. Seine Bewegung rührte beiläufig an die Gewänder, die zu seiner Rechten hingen, und streifte die seidene Stola von ihrem Pflock. Duncan erstarrte, als die Stola auf den Fußboden glitt, bückte sich langsam, um sie aufzuheben. Er richtete sich auf und stand für einen langen Moment reglos, verkrampfte Finger um die Stola geklammert; dann drückte er sie an die Lippen und hängte sie zurück an ihren Platz. Aus einem hohen Fenster fiel Licht auf das silberne Stickwerk, als Morgan leise die Schwelle betrat und sich an den Türrahmen lehnte. »Es schmerzt stärker«, sprach er seinen Vetter mit leiser Stimme an, »als du geglaubt hast, nicht wahr?« Für einen flüchtigen Augenblick verspannten sich Duncans Schultern, dann neigte er sein Haupt. »Ich weiß nicht, was ich geglaubt habe, Alaric. Vielleicht glaubte ich, die Antwort käme von selber zu mir, so daß die Trennung leichter fiele. Aber so ist's nicht.« »Nein, so ist's wohl nicht.« Duncan seufzte, nahm seinen Schwertgurt und heftete den Blick auf Morgan, während er sich damit gürtete. »Nun, und was jetzt?« meinte er. »Wenn man ein Deryni ist, exkommuniziert von der Kirche, vom König verstoßen, wohin kann man sich wenden?« »Wer hat davon gesprochen, wir seien verstoßen?« Duncan ergriff seinen Umhang, warf ihn sich um
die Schultern, runzelte die Stirn und starrte hinab auf die Spange, während er sich anschickte, sie zu schließen. »Ach, komm, wir wollen den Tatsachen ins Auge schauen. Er muß doch nicht erst ein Verbannungsurteil aussprechen, oder? Du weißt so gut wie ich, daß wir nicht in seinem Umkreis bleiben können, wenn wir unter Acht und Bann der Kirche stehen. Erführen so etwas die Erzbischöfe, sie exkommunizierten auch ihn« Seine Spange schloß sich mit einem Knacken; Morgan lächelte. »Mag sein, daß sie's ohnehin tun. Unter den gegebenen Umständen hat er wahrlich kaum noch etwas zu verlieren.« »Kaum noch...« Verblüfft verstummte Duncan, als er begriff, was Morgan andeutete. »Er hat sich bereits dafür entschieden, dieses Wagnis einzugehen?« erkundigte er sich und blickte seinem Vetter ins Antlitz. Morgan nickte. »Und er ist nicht besorgt?« Duncan schien nicht sogleich glauben zu können, was er da vernommen hatte. Morgan lächelte. »Doch, er sorgt sich, Duncan, aber er vermag vortrefflich zu erkennen, was zählt und was weniger wichtig ist. Er ist dazu bereit, das Wagnis auf sich zu nehmen. Er wünscht, daß wir an seiner Seite bleiben.« Für einen langen Augenblick musterte Duncan seinen Vetter; endlich nickte er bedächtig. »Wir stehen gegen eine übermächtige Bedrohung«, stellte er zaghaft fest. »Das weiß du.« »Wir sind Deryni. Mit unseresgleichen war's schon immer so.« Duncan ließ seinen Blick ein letztes Mal durch die Sakristei wandern, auf dem kleinen Altar, den Sei-
dengewändern an ihrem Gestell verweilen; dann trat er an die Tür zu Morgan. »Ich bin bereit«, erklärte er und sah sich nicht um. »Dann laß uns zu Kelson gehen«, sagte Morgan und lächelte. »Unser Derynikönig braucht uns.«