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Mit den Wikingern verbindet man oft die Vorstellung von beutegierigen und trinkfesten Seeräubern. Rudolf Simek konfrontiert im vorliegenden Band diese und andere Gemeinplätze mit den Ergebnissen der neuesten Forschung und entwikkelt so auf ebenso verständliche wie anschauliche Weise das facettenreiche Bild einer faszinierenden Kultur, deren Spuren von Grönland bis nach Sizilien, von Amerika bis weit nach Rußland reichen. Rudolf Simek ist Professor für mittelalterliche deutsche und skandinavische Literatur an der Universität Bonn. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen vor allem zur Literatur und Kultur des mittelalterlichen Skandinavien vorgelegt.
Rudolf Simek
DIE WIKINGER
Verlag C.H.Beck
Mit 3 Karten
Die Deutsche Bibliothek – CIP Einheitsaufnahme Simek, Rudolf: Die Wikinger / Rudolf Simek. – München : Beck, 1998 (Beck’sche Reihe ; 2081 : C. H. Beck Wissen) ISBN 3406418813
Originalausgabe ISBN 3 406 41881 3 Umschlagentwurf von Uwe Göbel, München © C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München 1998 Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany
Inhalt Einleitung..........................................................................
7
I. „Wir haben Fahrtwind selbst gegen den Tod“ – „Nordisches Lebensgefühl“ und die Gründe für die Entstehung der Wikingerzeit.....................
11
II. Die Geißel der Christenheit Die Wikinger in europäisch christlicher Sicht......
27
III. Fjordhunde und Wellenwölfe Die Voraussetzung wikingischer Expansion: Das Schiff.................................................................
37
IV. Plünderer als Siedler, Geächtete als Entdecker, Händler als Staatengründer – Die Stoßrichtungen wikingischer Expansion.......................................... 1. Plünderer als Siedler: Die skandinavische Expansion nach Südwesten ... 2. Geächtete als Entdecker: Die wikingische Expansion nach Nordwesten ...... 3. Händler als Staatengründer: Die wikingische Expansion nach Osten ................
71
V. Alltag und Feste – Alltagsleben und materielle Kultur in der Wikingerzeit ....................................
86
VI. Eine Welt nur für Männer? Die Gesellschaftsordnung der Wikingerzeit .........
99
48 48 61
VII. Politische Propaganda, Heldenlieder und Götterdichtung – Skaldendichtung und Eddalieder als Literatur der Wikingerzeit ........... 105
VIII. Von heidnischen Wikingern und christlichen Heiligen – Die Religionen der Wikingerzeit.......... 1. Die heidnische Zeit ............................................... 2. Erste Kontakte mit dem Christentum und die Phase des Synkretismus ........................... 3. Die Bekehrung der Skandinavier zum Christentum...................................................
113 113 124 127
Literatur ........................................................................... 131 Register ............................................................................. 135
Einleitung: Ungebändigte nordische Lebenskraft: Der Wikinger als Mythos Wikinger (altnord. víkingr) heißt „Seeräuber“ und bezeichnet somit eigentlich nur einen kleinen Ausschnitt der Bevölkerung, nämlich den zur See fahrenden Krieger. Diese Gruppe hat aber einer ganzen Epoche ihren Namen gegeben, sodaß man heute, wenn man salopp von „den Wikingern“ spricht, die Gesamtbevölkerung Skandinaviens vom Ende des 8. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts bezeichnet. In diesem Sinn ist der vorliegende Titel Die Wikinger zu verstehen, deren Geschichte und Kultur hier auf knappstem Raum vorgestellt werden sollen. Von Geschichte und Kultur der Wikingerzeit ist aber der Mythos zu unterscheiden, der sich vor allem in den letzten 200-300 Jahren zu diesem Thema entwickelt hat. Dieser ist seiner eigenständigen Entwicklung halber von der Beschäftigung mit der realen Wikingerzeit sorgfältig zu trennen, ohne deswegen weniger real zu sein: der Wikingermythos tradiert weiterhin, daß Wikinger Met tranken, Helme mit Hörner trugen und in flachbordigen, geruderten Drachenschiffen nach Amerika gelangten. Für diesen Mythos „Die Wikinger“ ist es belanglos, daß dem nicht so war, und alle einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse werden keinen Eingang in ihn finden. Für die geläufige moderne Meinung ist die Vorstellung von den gehörnten Helmen oder Christian Kroghs berühmtes Gemälde „Leif Eriksson entdeckt Amerika“ viel relevanter als jedes sachliche Faktum. Es gilt daher im Folgenden, auch diesen Mythos nicht aus den Augen zu verlieren; auf die Wikinger, die nicht unseren historischen Erkenntnissen, sondern dem Wikingermythos angehören, wird daher im Weiteren verschiedentlich als „Die Wikinger“ verwiesen. Es ist bezeichnend für den Umgang mit der Wikingerzeit, und es macht die Existenz des Wikingermythos verständlich, daß trotz einer Unzahl archäologischer Daten und Artefakten, 7
die in den letzten 200 Jahren zutage gefördert wurden, der Großteil unseres geläufigen Wissens über die Wikingerzeit aus Texten stammt, die von Augenzeugen, Nachfahren, aber auch von mittelalterlichen Historikern in den auf die Wikingerzeit folgenden Jahrhunderten geschaffen wurden. Wie alle Texte tragen sie den Stempel ihrer Autoren und ihrer Entstehungszeit. Man könnte also auch sagen, daß die Wikingerzeit erst von diesen vielen früh- und hochmittelalterlichen Autoren geschaffen wurde. Die archäologischen Funde der Neuzeit werden, so gut es eben geht, mit der Wikingerzeit, die uns in den Quellentexten entgegentritt, in Übereinstimmung gebracht. Oft genug aber ist dies entweder nicht möglich oder die archäologischen Funde bleiben mangels entsprechender Texte weitgehend stumm; selbst die Toten in den großen Schiffsgräbern, die uns so viel über Leben und Tod in der Wikingerzeit mitteilen, bleiben, wenn sie nicht zufällig in irgendwelchen Texten erwähnt sind, für uns recht isolierte Funde. Oftmals müssen wir auch davon ausgehen – manchmal durch nichts mehr als das Genre eines Textes motiviert –, daß Quellentexte unhistorisch, legendenhaft sind, und müssen sie als historisches Zeugnis verwerfen. Andererseits sind die Historiker gelegentlich auch zu weit in ihrer Quellenkritik gegangen. Wenn z. B. der berühmte Wikinger Ragnar Loðbrókr in der Darstellung der Ragnars saga loðbrókar auch völlig ahistorisch sein mag, so geht es m. E. doch zu weit, jede Verbindung zu dem Wikinger Ragnar, der im März 845 Paris eroberte, abzulehnen. Denn als Erzählkern für Wikingergeschichten mag der historische Ragnar sehr wohl gedient haben. Dennoch müssen wir uns natürlich davor hüten, daß das literarische Bild der Wikingerzeit, wie es uns in hochmittelalterlichen Texten entgegentritt und welches unser durch den Wikingermythos beeinflußtes Alltagsverständnis der Wikingerzeit beherrscht, dominant wird, und wir müssen uns daher stets die literarische Qualität dieser Texte vor Augen halten. Manchmal ist es praktisch, sich an griffigen Daten zu orientieren, und auch die Wikingerzeit genannte Periode spannt man häufig zwischen zwei solche Daten. Den Anfang mar8
kiert dabei der angeblich völlig unerwartete Überfall von skandinavischen Kriegern auf die der englischen Nordostküste vorgelagerte Klosterinsel Lindisfarne im Jahre 793. Als das Ende dieser Periode wird im allgemeinen das Jahr 1066 angesehen, das gleich mit einer Reihe von relevanten Ereignissen aufwarten kann. Am Montag, dem 25. September, schlug der englische König Harold Godwinson in der Schlacht von Stamford Bridge das norwegische Heer des Königs Harald des Harten (Haraldr harðráði) und vereitelte damit den letzten Versuch, England unter skandinavischer Hoheit zu halten. Am 14. Oktober aber fiel Harold in der Schlacht von Hastings gegen das normannische Heer unter Wilhelm dem Bastard, später der Eroberer genannt, der in England eine normannische Herrschaft einrichtete. Im selben Jahr 1066 wurde aber auch die bedeutendste wikingische Handelsstadt, nämlich Haithabu (beim heutigen Schleswig), durch ein slawisches Heer so vollständig zerstört und niedergebrannt (Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, III, 51, Schol. 81.), daß der Ort nicht wiederbesiedelt wurde, nachdem er schon um 1050 von den Norwegern gebrandschatzt worden war. Die beiden Daten 793 und 1066 sind deswegen brauchbar, weil ihre Ereignisse symptomatisch für die Entwicklung der Wikingerzeit waren. Der Überfall von 793 war das für die Opfer überraschende Werk einer plündernden Seeräuberbande, die Schlachten von 1066 zeigen die wikingische Welt als durch politische, militärische und ökonomische Verbindungen eng vernetzt. Dieses Netz erst erlaubt es uns, überhaupt von einer wikingischen Kultur dieser frühmittelalterlichen Jahrhunderte zu sprechen. Im Gegensatz zu anderen Büchern der letzten beiden Jahrzehnte über die Wikinger ist es nicht das Hauptanliegen des vorliegenden Büchleins, eine „Ehrenrettung“ der Wikinger zu versuchen. Auch will es nicht, wie eines der jüngsten Werke zum Thema, zeigen, daß „die Wikinger Händler waren, die sich nach und nach, und wenn die Umstände es zuließen, in Piraten verwandelten“ (Boyer 1994, S. 16). Wenn überhaupt eine derartige Definition gewagt werden kann, dann die, daß 9
alle Wikinger Bauern waren, die versuchten, einer prekären Subsistenzwirtschaft zu entfliehen – sei es durch Raub, Handel oder die Bewirtschaftung ertragreicheren Bodens. Es ist mein Ziel, in knapper Weise und an Hand einer im Rahmen des vorgegebenen Raumes größtmöglichen Zahl von Quellen zu zeigen, was die wesentlichen Elemente der Wikingerzeit in den drei Hauptstoßrichtungen nach Südwesten, Nordwesten und Osten waren. Diese seien hier nur kurz mit den Begriffen Okkupation, Kolonisation und ökonomischer Infiltration umrissen. Darüber hinaus möchte ich deutlich machen, was die Geschichte und die Geschichtsschreibung seither mit diesen Quellen gemacht haben, um zu unserem heutigen gängigen Bild der Wikingerzeit zu kommen, das ich als Wikingermythos bezeichnen will. Dabei halte ich es für keineswegs sicher, daß für uns die Wikingerzeit überhaupt noch vom Wikingermythos zu trennen ist, sosehr haben schon die ältesten Quellen die Wikingerzeit selbst mitgeschaffen. Es geht also nicht um eine Ehrenrettung – im Stil von „Kulturnation statt blutrünstige Barbaren“ –, sondern um die vielen Facetten nationaler, geographischer, ökonomischer und auch mentaler Art, die sich daraus ergeben, daß sich in den knapp 300 hier behandelten Jahren der Wikingerzeit die Skandinavier mit zahlreichen anderen Völkern, Wirtschafts- und Siedlungsräumen, Religionen und politischen Systemen messen mußten. Es ist daher selbstverständlich, daß der Begriff Wikinger hier nur der sehr weite Oberbegriff für alle derartigen skandinavischen Aktivitäten vom 8. zum 11. Jahrhundert sein kann. Durch die Flut neuer Funde und Erkenntnisse ist es inzwischen fast unmöglich geworden, eine Epoche wie die Wikingerzeit in ihrer Gesamtheit mit allen Belegen darzustellen. Ein solcher Versuch würde zahlreiche Text- und noch mehr Bildbände füllen. Daher ist es auch hier nur mein Anliegen, möglichst viele der genannten Facetten anzuschneiden, um durch die Darstellung des Symptomatischen wie des Idiosynkratischen gleichermaßen der Komplexität des Gegenstandes wenigstens annähernd gerecht zu werden. 10
I. „Wir haben Fahrtwind selbst gegen den Tod“ „Nordisches Lebensgefühl“ und die Gründe für die Entstehung der Wikingerzeit Der von Skandinavien bis Neuseeland belegbare Wikingerboom der Gegenwart ist wohl als harmloses Phänomen zu erachten, auch wenn eine seiner Wurzeln, die Germanenmode vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945, weniger harmlose Verwendung gefunden hat und deswegen nach dem 2. Weltkrieg auch weitgehend geächtet wurde und erst in der allerjüngsten Vergangenheit wieder etwas mehr Interesse erweckt (PM-Perspektive Nr. 39/1995: Die Germanen; Spiegel vom 28. 10. 1996: Die Germanen – unsere barbarischen Vorfahren). Eine Rückkehr der Germanentümelei ist jedoch wohl nicht zu befürchten, und die Wikingertümelei ist wenigstens außerhalb Skandinaviens eine recht periphere Erscheinung. Wenn die südwestenglische Stadt Tavistock 1997 ihre Brandschatzung durch Wikinger feiert und nachvollziehen will, oder wenn der erst im 19. Jahrhundert gegründete Ort Dannevirke auf North Island in Neuseeland der skandinavischen Herkunft seiner Bewohner mit einem Viking Festival unter Verbrennung eines Wikingerschiffes gedenkt, dann sind die zugrundeliegenden Beweggründe für derartige Feiern wohl nicht in dem Wunsch nach Rückkehr zu wikingerzeitlichen Bräuchen oder Idealen zu sehen. Ähnlich wie in den überaus zahlreichen skandinavischen Aktivitäten wird darin eher die Suche nach vorzeigbaren historischen Wurzeln deutlich, die der Identitätsfindung von Gemeinden oder Regionen in einer immer uniformeren und reglementierten Welt dienen. Diese Suche nach der historischen Dimension einer solchen Identität ist in Skandinavien, hier besonders in Schweden und Norwegen, und auf den nordatlantischen Inseln, insbesondere den Orkneys und Shetlands, längst mit dem Rekurs auf die Wikingerzeit entschieden. In Dänemark ist dies weniger offensichtlich, aber als man während des dänischen EU-Vorsitzes im ersten Halbjahr 1993 ein Schiff von einer bronzezeitlichen 11
Felszeichnung als Logo wählte, wurde es – obwohl immerhin 3000 Jahre älter – durchwegs als Wikingerschiff bezeichnet. Die Wikingerzeit scheint sich also offenbar als historische Größe im Bereich der Identitätsfindung einer erstaunlich großen Zahl von Ländern, Regionen und Gemeinden anzubieten. Natürlich stellt sich dabei die Frage nach dem Grund für dieses Phänomen, und den wiederum dürfte man in erster Linie im Bild der „Wikinger“ in der öffentlichen Meinung zu sehen haben. Selbst wenn man, wie eine ZDF-Dokumentation am 3. 11. 1996, eine populäre Darstellung der Wikingerzeit mit dem Verweis auf die „metsaufenden Raufbolde“ aus dem Norden beginnt, so ist es heute üblich, dieses Zerrbild sofort durch eine ausführliche Beschreibung wikingischer kultureller Leistungen zu konterkarieren. So auch im vorliegenden Fall, wo der Film den Titel „Genies aus der Kälte“ trägt. Diese Entwicklung wurde im wesentlichen durch Peter H. Sawyers Buch The Age of the Vikings (London 1962) eingeleitet und ist heute für jeden Diskurs zum Thema Wikinger dominierend. Das Spannungsverhältnis zwischen den Wikingern als mörderischen Barbaren und den Wikingern als Kulturträgern ist wohl einer der Hauptgründe für den gegenwärtigen Wikingerboom: In einer reglementierten, bürokratisierten Welt, in der jedes triebhafte Ausleben des menschlichen Aggressionspotentials streng geahndet wird, muß die – seinerzeit wenigstens innerhalb Skandinaviens — sozial akzeptable Form organisierten Aggressionsverhaltens der Wikingerzeit ideal verklärt als Ventil für entsprechende (auch unterbewußte) Wunschvorstellungen heute herhalten. Andererseits hat die Hervorhebung der kulturellen und organisatorischen Leistungen der Wikingerzeit den Vorwurf entkräften helfen, die Wikinger hätten sich auf einer noch barbarischen Kulturstufe befunden. Der Vergleich mit Skythen, Awaren, Magyaren und Mongolen, die trotz einer von ihrer Umwelt als ähnlich barbarisch empfundenen Kriegsführung eine ebenfalls nicht unbeträchtliche Sachkultur hervorgebracht haben, entfällt dabei meist. Im Gegensatz zu den Gründen für den Wikingerboom geht es bei den Gründen für den Beginn der skandinavischen Ex12
pansion, die man üblicherweise als Wikingerzeit bezeichnet, nur peripher um Identitäten, obwohl diese in der wikingischen Spätzeit eine Rolle gerade bei der Selbstdarstellung gespielt haben mögen. Es muß zudem vorweg festgestellt werden, daß keiner der vielen in der Vergangenheit genannten Gründe allein eine ausreichende Erklärung dafür bieten kann, warum innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte an der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert plötzlich jährlich etliche Flotten mit Dänen und Norwegern aus Skandinavien aufbrachen, um ihr Glück in Friesland, England und Frankreich zu machen. Auch die vorgeschlagene Reduktion auf drei Hauptursachen (Boyer 1994) wird den komplexen Ursachen für diese späte Phase der Völkerwanderungszeit nicht gerecht. Nur eine multikausale Erklärung kann Anspruch darauf haben, die Wurzeln der Wikingerzeit wenigstens einigermaßen sichtbar zu machen. Es zeigt sich aber schon bei erster Betrachtung, wie sehr gerade bei der Suche nach den Gründen für die Wikingerzeit der Wikingermythos die historischen Fakten in einer Weise überwuchert hat, die für uns die wahren Ursachen kaum mehr zugänglich macht. Das Dilemma der Forschung liegt dabei gerade darin, daß uns zeitgenössische Texte nur wenig über die Ursachen der Wikingerzeit berichten, wohl weil dieses Phänomen auch für sie nicht einsichtig war. Wir sind somit auf wenige Stellen angewiesen, die von der Forschung unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt rezipiert wurden. Die ältere Forschung (so noch Brandsted 1960) sah in einer angeblichen Überbevölkerung Skandinaviens und in der damit verbundenen Verknappung der agrarischen Ressourcen die Hauptursachen für den Aufbruch größerer Banden jugendlicher Krieger nach Süden. Dieser Erklärungsansatz aber fußt auf den Aussagen des notorisch unverläßlichen normannischen Geschichtsschreibers Dudo von St. Quentin (De moribus et actis primomm Normanniae ducum, verfaßt um 1020 gegen Bezahlung für die normannischen Herzöge), der die Verherrlichung der normannischen Herrscher zum Ziel hatte: 13
Diese Menschen geben sich unverschämt den Ausschweifungen hin, leben in Gemeinschaft mit mehreren Frauen und zeugen durch diesen schamlosen und gesetzlosen Verkehr eine zahllose Nachkommenschaft. Wenn sie aufgewachsen sind, streiten die Jungen gewaltsam mit ihrem Vätern und Großvätern oder untereinander um Besitz, und wenn sie zu zahlreich werden, und sich nicht mehr ausreichendes Land für ihren Lebensunterhalt erwerben können, wird nach altem Brauch durch das Los eine große Gruppe junger Menschen ermittelt, welche zu fremden Völkern und Reichen getrieben wird, wo sie sich durch Kampf Länder erwerben können und wo sie in dauerhaftem Frieden leben können. (Lib. 1,1) An seiner Beschreibung ist die christliche Entrüstung nur oberflächlich, darunter steckt aber die absichtsvolle Bewunderung für die Virilität der normannischen Adeligen, die zu seiner Zeit neue Aktualität hatte. Es war gerade diese Virilität, die etwa im 2. Viertel des 11. Jahrhunderts dazu führte, daß von den 12 Söhnen des Tancred de Hauteville die meisten nach Süditalien zogen, um dort ihr Glück zu machen, und schließlich die sizilianische Königslinie begründeten. Die Aussagen der normannischen Schriftsteller des 11. Jahrhunderts wie Dudo oder auch Wilhelm von Jumieges müssen also vor dem Hintergrund gesehen werden, daß zu ihrer Zeit eine neue normannische Auswanderungswelle eben nach Süditalien im Gange war, wo sich die Normannen innerhalb der nächsten 100 Jahre ein weiteres Reich erobern sollten. Es war also wenig opportun für Dudo und seine Zeitgenossen, reine Habsucht oder Abenteuerlust als Motive der ersten normannischen Expansion von Dänemark nach Nordfrankreich darzustellen. Aber auch ein weiterer Chronist des 11. Jahrhunderts, Adam von Bremen, der Verfasser der Hamburgischen Kirchengeschichte (Gesta Hammaburgensis ecdesiae pontificum, ca. 1072; IV, 31), dem die Schilderung der skandinavischen Bekehrung ein großes Anliegen war, stellte die Wikingerzüge als aus der Not geborene Unternehmungen dar, zu der die Norweger aus Armut gezwungen wurden und die 14
sie inzwischen wieder aufgegeben hätten, wohl nicht zuletzt, um die inzwischen zum Christentum bekehrten und zur Hamburgisch-Bremer Diözese gehörigen Skandinavier in ein besseres Licht zu rücken. Noch ein dritter Grund findet sich in den mittelalterlichen Quellen, wenn auch schon mit deutlich größerem zeitlichen Abstand, nämlich die Aussagen der Isländersagas des 13. Jahrhunderts. In ihnen findet sich häufig der Topos, daß die norwegischen Auswanderer nach Island am Ende des 8. Jahrhunderts das unter Harald Schönhaar sich zu einer zentral beherrschten Monarchie entwickelnde Norwegen in der Regel deshalb verlassen hätten, um sich nicht der Königsmacht beugen zu müssen und in Island weiter als freie Bauern leben zu können. Auch dieser, den Wikingermythos mitschaffende oder fortführende Erklärungsversuch ist unübersehbar interessengebunden und reflektiert die Anstrengungen der Isländer, sich der Angliederung an das Königreich Norwegen unter Hákon Hákonarson zu widersetzen; 1264 fanden diese Bemühungen durch den Verlust der isländischen Unabhängigkeit für fast sieben Jahrhunderte ihr vorläufiges Ende. Obwohl der letztgenannte Grund in vereinzelten Fällen tatsächlich den Anlaß für die Auswanderung nach Island gebildet haben mag, so ist er als allgemeinere Erklärung unbrauchbar und genauso dem schon mittelalterlichen Wikingermythos zuzuzählen wie die genannte Überbevölkerung oder die Armut der Norweger. Es gibt tatsächlich keine archäologischen Hinweise, die für eine Überbevölkerung Skandinaviens im 8. oder 9. Jahrhundert sprechen würden, auch keine Spuren von plötzlich ansteigender Sterblichkeit auf Grund von Unterernährung oder Seuchen. Skandinavien mag damals eine Gesamtbevölkerung von nicht mehr als 2 Millionen gehabt haben, und dafür dürfte die bestellte Anbaufläche jener Zeit leicht als Versorgungsgrundlage ausgereicht haben; Adam von Bremen beschreibt noch gegen Ende des 11. Jahrhunderts Jutland und Norwegen als über weite Strecken brachliegend, sodaß also Landknappheit nicht die Hauptursache für die wikingerzeitliche Expansion gewesen sein dürfte. Weder ist die 15
für den Beginn der Wikingerzeit unterstellte Klimaverschlechterung stichhaltig zu beweisen, noch läßt sich der Nachweis für eine Klimaverbesserung erbringen, mit der man das schlagartige Ansteigen seefahrerischer Aktivitäten zu erklären versucht. Belege für größere, durch Mißernten verursachte Hungersnöte oder Seuchen gibt es ebenfalls nicht. Vielmehr ist gegenüber der älteren Forschung nicht bei punktuellen Auslösern für die Wikingerzüge anzusetzen, sondern zwischen allgemeinen Voraussetzungen, politischen und kulturellen Kontinuitäten sowie der Kumulation von weiteren Einzelursachen zu unterscheiden. Von den allgemeinen Voraussetzungen sind vor allem jene drei hervorzuheben, welche die Wikingerzüge vielleicht nicht ausgelöst, so doch erst ermöglicht haben. An erster Stelle ist dabei die Entwicklung von brauchbaren, seegängigen Segelschiffstypen zu nennen, die vom ältesten bekannten Fund eines klinkergebauten Plankenschiffs (also mit überlappenden Planken), dem dänischen Hjortspringboot aus der Zeit um 300 v. Chr., bis zu den ersten Segelschiffen etwa 1000 Jahre benötigt hat. Auf einer mittleren Entwicklungsstufe steht dabei das schon weniger zerbrechliche, aber noch immer ganz flachkielige Schiff vom Typ des Nydamschiffs aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. Die mächtigen Boote des Nydam-Typs, die wohl für die Auswanderung der Angeln und Sachsen von Friesland nach Britannien Verwendung fanden, wurden aber immer noch gerudert (jedoch nicht mehr gepaddelt). Gotländische Bildsteine zeigen, daß erst zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert die Entwicklung eines Segelschiffstyps ausreichende Fortschritte gemacht hat. Darüber hinaus müssen sich auch die praktischen technischen Kenntnisse, die zur Herstellung und Anpassung von Schiffsplanken notwendig sind, deutlich weiterentwickelt haben, um einen Schiffsbau in größerem Stil zu ermöglichen (vgl. Kap. 3 für weitere Informationen zum Thema Schiffsbau). Mit der Entwicklung des Segelschiffs und den verbesserten Techniken im Schiffsbau hängt eine zweite, oftmals unterschätzte Voraussetzung der wikingerzeitlichen Züge zusammen. Spätestens seit der Bronzezeit hatten sich die 16
Skandinavier aufgrund ihrer topographischen Lage und des Zwanges zum Fischfang im Rahmen einer agrarischen Subsistenzwirtschaft enorme Praxis in Seefahrt und praktischer Navigation erworben. Dabei ist die oft diskutierte Frage nach skandinavischen Sonderkenntnissen (Kompaß, Solarstein, Peilscheibe o. ä.) eher von sekundärem Interesse. Schließlich ließen sich die Nord- und Ostsee ebenso wie die Deutsche Bucht, der Ärmelkanal oder die irische See mehr oder weniger problemlos mit Mitteln der terrestrischen Navigation und nur rudimentären Kenntnissen der astronomischen Navigation befahren. Noch Segelanweisungen des 13. Jahrhunderts geben für die Reise von Norwegen nach Island – immerhin mit sieben Tagen veranschlagt – und weiter nach Grönland nur terrestrische Landmarken und den Kurs West vor: So sagen weise Männer, daß man von Stade [heute Stadlandet nördl. des Nordfjords] in Norwegen sieben Segeltage nach Horn in [Süd-] Ost-Island braucht, aber von Snsefellsness vier Segeltage bis nach Hvarf in Grönland. Von Hernum [heute Hennoya nordwestlich von Bergen] in Norwegen soll man genau nach Westen bis Hvarf [in der Ostsiedlung] in Grönland segeln, sodaß man nördlich der Shetland-Inseln so vorbeisegelt, daß man sie nur bei klarer Fernsicht sieht, aber südlich der Färöer so, daß der Horizont auf halber Höhe der Berge liegt, und so südlich von Island vorbei, daß man davon nur die Vögel und Wale sieht. (Landnámabók, Hauksbók-Version, Kap. 2) Angesichts der seemännischen und navigatorischen Praxis der Skandinavier stellten also Fahrten nach Friesland, England oder Nordfrankreich keine sonderlich großen Herausforderungen dar. Weiterführende Reisen, wie die nach Grönland oder Vinland, oder durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer bis Italien oder Jerusalem werden dagegen in den mittelalterlichen Quellen ob ihrer Seltenheit immer gesondert hervorgehoben. Die dritte Grundvoraussetzung, ebenfalls häufig übersehen, ist das skandinavische Erbrecht, das auf der sogen. Primogeni17
tur, also dem Erstgeburtsrecht beruhte. Unsicher ist jedoch, welche Rolle dabei im Skandinavien der Wikingerzeit das Seniorat spielte, bei dem der jeweils älteste der gerade Erbberechtigten zum Zuge kommt – also etwa der Onkel vor dem Sohn. Die übliche germanische Erbteilung, derzufolge der älteste Sohn das ganze Land bekam, während der bewegliche Besitz aufgeteilt wurde, konnte in einer kinderreichen Gesellschaft ebenfalls Auslöser sozialer Spannungen sein. Neben diesen Grundvoraussetzungen sind verschiedene Punkte zu erwähnen, die zeigen, daß die Wikingerzeit sich einpaßt in ein Kontinuum der Völkerwanderungszeit, das die Besonderheiten der Wikingerzeit verständlicher und zugleich weniger sonderbar macht. Dazu gehören in erster Linie die schon lang andauernden skandinavischen Auswanderungswellen nach Süden, wie sie mindestens ein Jahrtausend vor der Wikingerzeit in den Wanderungswellen germanischer Stämme greifbar werden und selbst in einer noch älteren Tradition indogermanischer NordSüd-Bewegungen stehen. Die Kimbern und Teutonen etwa waren aus Jutland schon im 2. vorchristlichen Jahrhundert aufgebrochen, die Goten im 2. Jahrhundert n. Chr. aus Schonen, die Langobarden, Wandalen, Rugier und Heruler kamen ursprünglich ebenfalls allesamt aus Nordeuropa. Darüber hinaus hat man darauf hingewiesen, daß die Wikingerüberfälle im Kontext des normalen politischen Verhaltens des frühmittelalterlichen Westeuropa gesehen werden müssen. Zwar neigen die Berichte der christlichen Primärquellen zu Übertreibungen – schließlich handelt es sich bei den Wikingern um Heiden –, doch die Prinzipien der Wikingerzüge unterscheiden sich nicht wesentlich vom Konfliktverhalten politischer Potentaten, etwa der irischen Könige oder der fränkischen Herzöge, im Westeuropa des 8. und 9. Jahrhunderts. Militärische Aggression, Erpressung und Plünderung sind politische Mittel, die die Skandinavier wohl nur übernommen und technisch verfeinert, keineswegs aber erfunden haben (Sawyer 1962). Auch die Seeräubertätigkeit der Goten im östlichen Mittelmeer hatte das römische Imperium im 18
3. Jahrhundert nicht unwesentlich geschädigt. Man hat ferner darauf hingewiesen, daß gerade im Baltikum schon vor der Wikingerzeit eine gewisse Piratentätigkeit zwischen den Anwohnervölkern an der Tagesordnung war. Wenn also die Skandinavier als die westlichsten Anrainervölker diese Methoden nun in die viel ertragreichere Nordsee trugen, dann war auch das nur ein kleiner Schritt, nicht aber eine wesentliche qualitative Veränderung der bisherigen Praxis. Ein mit der Piraterie zusammenhängender Grund war wohl auch die Notwendigkeit der Versorgung von Gefolgschaften und Heeren durch skandinavische Könige und Kleinkönige auch außerhalb von Zeiten offener Feindseligkeiten. Je kleiner der Einflußbereich eines Königs oder Fürsten war, desto eher dürfte für ihn die Notwendigkeit bestanden haben, seine Einnahmen durch regelmäßige Raubzüge aufzubessern. Viele der in den fränkischen Annalen des 10. Jahrhunderts verzeichneten Wikingerkönige waren zudem wohl kaum Könige im engeren Sinn, sondern sogenannte Seekönige, Heerführer einer Flotte mit käuflichen Kriegern besetzter Schiffe, Söldner also, deren Lebensunterhalt und Lohn irgendwie aufgebracht werden mußte. Auf diese Weise verdingten sich im 11. Jahrhundert zunächst auch die Normannen in Süditalien, bevor sie zur Bedrohung für die existierenden (Stadt-)Staaten wurden und mit Land befriedigt werden mußten. Ein viertes Kontinuum der Wikingerzeit mag in der ursprünglich überlebenswichtigen Bedeutung zahlreicher Söhne zu sehen sein, auf die schon der Normannenhistoriker Dudo hingewiesen hatte. In einer wohlgeordneten, durch Handel differenzierten Gesellschaft mag sich diese soziale Gewohnheit unter Berücksichtigung der schon erwähnten Erbgesetze von der sozialen Absicherung zur sozialen Bedrohung gewandelt haben, ohne daß sich aber deswegen der höhere Sozialstatus, den eine größere Zahl von Söhnen verleiht, geändert hätte. Gerade unter günstigen wirtschaftlichen (bzw. auch klimatischen) Bedingungen, und nicht erst bei Überbevölkerung und Landknappheit, mag ein Überschuß an Nachkommenschaft zu einer Quelle sozialer Unruhe geworden sein – eine soziale 19
Unruhe, die Westeuropa bald auch nachhaltig zu spüren bekam. Man hat darüber hinaus überlegt, ob eine Wikingerfahrt in der Gesellschaft des 8. bis 10. Jahrhunderts vielleicht auch die Rolle eines Initiationsritus gehabt haben könnte, wenn schon nicht im Sinn von kultischen Männerbünden, so doch wenigstens als eine Art von Reifeprüfung (Boyer 1994). Wenn dieser Erklärungsansatz auch nicht sehr wahrscheinlich anmutet, so ist es doch eine Tatsache, daß im Altnordischen noch im Hochmittelalter des Wort heimskr sowohl „häuslich/zu Hause geblieben“ als auch „dumm“ bedeutet, also die soziale Überlegenheit des Weitgereisten, Er-fahrenen dokumentiert. Eine weitere Voraussetzung für Wikingerfahrten bildete die Entstehung einer funktionierenden Sozialstruktur, die solchen Fahrten zugrundelag. Die Wissenschaft hat diesen Aspekt bislang eher vernachlässigt, wiewohl doch evident ist, daß die Organisation der Schiffsgemeinschaft und auch diejenige einer kleinen Flotte von fundamentaler Voraussetzung für das Gelingen eines Raubzugs war, auch wenn er nur mehrere Sommermonate gedauert haben mag. Hierbei sind Elemente wie die Finanzierung des Unternehmens, die Befehlshierarchie innerhalb der Gruppe, der Aufteilungsschlüssel für den Gewinn, die Verantwortung füreinander und nicht zuletzt die Versorgungsansprüche der Hinterbliebenen zu beachten. Über die Finanzierung wissen wir nur aus hochmittelalterlichen Texten, daß sich zum Schiffskauf und -bau mehrere Personen zu einer Gesellschaft zusammenschließen konnten, aber für den Verteilungsschlüssel und die Befehlshierarchie droht der Wikingermythos einmal mehr die historischen Fakten zu überlagern. Wenn Dudo von St. Quentin (De moribus et actis primorum Normanniae ducum, Lib. II, 11) um das Jahr 882 am Zusammenfluß von Eure und Seine einen anonymen dänischen Wikinger zu Herzog Ragnold sagen läßt, „wir haben keinen Anführer, sondern sind alle gleich“, dann tritt hier ein spätes normannisches Sentiment zutage und kaum die Wahrheit; und wenn die Jómsvíkinga saga (Kap. 7) des 13. Jahrhunderts beschreibt, wie alle Beute „zur Stange“ gebracht 20
wird, um dann gleichmäßig aufgeteilt zu werden, widerspricht auch dies wohl dem Prinzip der unterschiedlichen Investitionen in das Unternehmen. Wichtig für den Zusammenhalt der Gruppe war aber wohl die Organisation in einem felag, das in seinen Regeln nicht weit von der späteren Gildeorganisation (die auf schwedischen Runensteinen schon für das 11. Jahrhundert belegt ist, (Foote/Wilson 1970, S. 98) entfernt war und auf gemeinsamem Besitz und gemeinsamer Verantwortung auf bestimmte Zeit beruhte. Selbst der Name der Waräger (altnord. Væringjar), also der in Rußland aktiven Skandinavier, dürfte auf altnord. várar „Eide“ beruhen, also Männer bezeichnen, die sich gegenseitige Hilfe geschworen hatten. Hierbei war es wohl ursprünglich unerheblich, ob die Fahrgemeinschaft in erster Linie zum Zwecke des Handels (wie bei den Ostfahrten) oder einer Plünderfahrt (wie im Südwesten) geschlossen wurde. Insofern mag die Annahme, das skandinavische Gildenwesen sei aus eben diesen Fahrgemeinschaften hervorgegangen, durchaus ihre Berechtigung haben. Ein letzte, gleichwohl wesentliche allgemeine Ursache der Wikingerfahrten mag zwar ein wenig romantisch wirken, ist aber in allen zeitgenössischen Quellen gut belegt und auch menschlich verständlich, wenn der Wikingermythos auch schon seit dem 11. Jahrhundert daraus nur die jeweils opportunen Aspekte verwertet hat: angesprochen ist die vielfach bezeugte Habgier nach Land, Reichtum und Ruhm. Die Gier nach Ruhm mag zwar erst eine sekundäre Entwicklung gewesen sein, aber die literarische Gestaltung der frühen Formen des Wikingermythos hat sicherlich auch eine Eigendynamik innerhalb der Wikingerzeit angenommen. Wenn man für die letzten Jahrzehnte des 10. Jahrhunderts ein „nordisches Hochgefühl“ hat konstatieren wollen (Kuhn 1977), so ist dabei immer zwischen tatsächlichem Lebensgefühl und literarischer Überhöhung zu unterscheiden (und im Gegensatz zu Kuhn meine ich nicht, daß beide zur Deckung gebracht werden müssen). Ein Beispiel für solch eine literarische Überhöhung ist zweifellos die als Titel dieses Kapitels verwendete Verszeile aus einem Heldenlied der Liederedda, der Reginsmál (Str. 17). 21
In der Forschung wurde diese Zeile dazu verwendet, einer bestimmten Zeitspanne innerhalb der Wikingerzeit ein besonderes, heroisches, ja todesverachtendes Hochgefühl zu unterlegen. Diese wikingische Hochstimmung habe gerade die Jahre 985 bis 1015 erfaßt, als unter der Herrschaft des Dänenkönigs Knut ganz Skandinavien und die britische Insel zum größten Reich vereint waren, das ein skandinavischer Herrscher je in Europa regiert hat. Ob es gerade diese drei Jahrzehnte waren, in denen die Literatur dieses Lebensgefühl spiegelte, mag dahingestellt bleiben, Tatsache jedoch ist, daß man wohl für die ganze Wikingerzeit eine Art von erhöhter Lebenslust zu konstatieren hat, wie sie nicht in allen Epochen der Menschheitsgeschichte zu finden ist. Die ältere Forschung hat hier gerne von der „Jugendzeit eines Volkes“ oder von einer „großen Zeit des Nordens“ (Mallet) gesprochen. Diese Sturm- und Drang-Periode des skandinavischen Mittelalters zeichnet sich jedenfalls in den dafür zur Verfügung stehenden skandinavischen Quellen durch eine derartige Hochstimmung aus, die sich durch angeberisches Verkünden vergangener oder zukünftiger Heldentaten, halsbrecherische körperliche Großtaten und todesverachtende Tapferkeit im Kampf oder zur See auszeichnet (darüber mehr unten in Kap. 8 über die Literatur der Wikingerzeit). In Ergänzung zu der erwähnten Eddazeile sei dabei nur an die Erzählungen von den Jómswikingern erinnert, die im Suff schwören, Norwegen zu erobern und darüber alle zugrunde gehen (Jómsvíkinga saga), oder an das ähnlich absurde Versprechen des Ragnar Lodbrok, der England mit nur zwei Schiffen erobern will und daraufhin sein Leben in einer englischen Schlangengrube beschließt (Ragnars saga loðbrókar). Zu diesen beiden Gruppen – Grundvoraussetzungen und allgemeine Ursachen im Rahmen der Völkerwanderungszeit – hat man noch eine Reihe von Ursachen für die Wikingerzeit genannt, die ich als Einzelursachen oder Auslöser der Wikingerzeit zusammenfassen will, und die sich alle durch ihre scheinbare Zufälligkeit auszeichnen. Gerade dieses zufällige Zusammentreffen mehrerer Umstände ist es jedoch, das die 22
wikingerzeitliche Expansion konkret erst ausgelöst haben dürfte, ohne daß einem von ihnen allein sonderlich große Bedeutung zuzumessen ist. Einer dieser Auslöser könnten Erbstreitigkeiten um den dänischen Thron gewesen sein, von denen wir allerdings erst am Ende des 8. und zu Beginn des 9. Jahrhunderts durch die fränkischen Historiographen erfahren, die die Könige Sigfred (gest. um 800) und Godefred (ermordet um 810) erwähnen. Hemming, der Neffe Godefreds, regierte nur ein Jahr, bevor es offenbar zu Erbfolgekämpfen kam. Aus den nächsten Jahrzehnten kennen wir an dänischen Königen nur Godefreds Sohn Horik und Harald Klak, Sohn eines anderen Harald, der laut Vita Hludovici mit einigen Hunderten seiner Gefolgsleute 826 in der Pfalz Ingelheim bei Mainz unter Ludwig dem Frommen die Taufe empfing. Der ältere Harald war um 813 möglicherweise gemeinsam mit einem Reginfred König (Roesdahl 1991, S. 73), und in der Vita Ansgari wird um 850 auch ein jüngerer Horik erwähnt. Unsere Kenntnis der dänischen Geschichte dieser Zeit — und das gilt in noch stärkerem Maße für den Rest des 9. Jahrhunderts – ist also äußerst mager. Auch besteht unter Historikern keineswegs Einigkeit darüber, ob Dänemark von der Mitte des 8. bis zum Ende des 9. Jahrhunderts überhaupt ein geeinigtes Königreich war, auch wenn archäologische Funde von militärischen und wirtschaftlichen Großprojekten, wie dem Kanhave-Kanal auf Sams0 von 726 und die erste Phase des Danewerks von 737, eine solche Zentralmacht vor der in Frage stehenden Zeit wahrscheinlich machen. Sicher ist nur, daß Karl der Große (Alleinherrscher 771— 814) während und nach den Sachsenkriegen (772-804) politischen Druck auf Dänemark ausübte, der in militärischen Gegenschlägen in Form von dänischen Angriffen gegen Friesland und die Abodriten in Schleswig unter Godefred resultierte. Diese Attacken mögen den Dänen vielleicht gezeigt haben, wie verwundbar das Küstenland des fränkischen Reichs bei blitzartigen Raubüberfällen einer Flotte war. Bis Karl der Große aber 811 eine Flotte und eine Verteidigungsanlage zum 23
Schutze Frieslands organisiert hatte, waren diese Überfälle fürs erste vorbei. Als aber nach Karls Tod das Frankenreich unter Ludwig dem Frommen (gest. 840) und dessen drei zerstrittenen Söhnen Lothar, Ludwig dem Deutschen und Karl dem Kahlen – die 833 ihren Vater absetzten – langsam zerfiel, setzten die dänischen Plünderungen entlang der fränkischen Nordseeküste erst so richtig ein. Man hat in dieser Schwäche des fränkischen Throns sogar die Hauptursache für die Wikingerzüge in Westeuropa sehen wollen, aber stichhaltig ist diese Argumentation keineswegs. Denn erstens begannen die Überfälle auf England schon Jahrzehnte vor Karls Tod, und zweitens litt England, obwohl es dort im 9. Jahrhundert kein vergleichbares Machtvakuum gab, kaum weniger unter den Wikingerüberfällen als der Kontinent. Außerdem gingen sowohl Ludwig der Fromme ab 837 als dann auch Lothar relativ entschieden gegen die skandinavischen Angreifer vor, ohne jedoch deren Angriffslust dadurch nachhaltig zu schwächen. Dagegen mag mit Bezug auf das Talent der Wikinger, ihre politischen Kontrahenten gegeneinander auszuspielen, sehr wohl eine Rolle gespielt haben, daß sich im fränkischen Reich seit 833 mehrere Herrscher die Königswürde teilten. Im Frankenreich ebenso wie in Irland oder England – und dann besonders erfolgreich in Süditalien im 11. Jahrhundert – gelang es den Wikingern bzw. Normannen, mit einem Minimum an persönlichem Risiko maximalen finanziellen Ertrag aus einer komplexen politischen Situation zu ziehen. Dies war insofern wichtig, als Wikinger in allen Phasen ihrer Expansion bei konkreten Konfliktsituationen auf beiden Seiten zu finden waren. Beispielhaft für das Frankenreich seien hier nur jene beiden Wikingerheere unter Weland und Hasting auf der Seine im Jahre 856/7 genannt, die es, obwohl Karl der Kahle die enorme Summe von 5000 Pfund Silber aufgeboten hatte, auf keinen Kampf ankommen ließen, sondern durch eine weitere Zahlung Hastings an Weland in Höhe von 6000 Pfund Silber Hastings freien Abzug arrangierten. In Aquitanien nahm Pippin um 850 im Bürgerkrieg mit Karl dem Kahlen die auf der Garonne und um Toulouse plündernden Wikinger in seine 24
Dienste. Was Irland betrifft, so war das gegenseitige Ausspielen seiner Könige schon immer ein wesentlicher Bestandteil in der Überlebensstrategie der Wikinger. Die geteilten Loyalitäten lassen sich gut an der berühmten Schlacht von Clontarf am Karfreitag 1014 ablesen, als auf beiden Seiten Wikinger kämpften, während König Sigtrygg Seidenbart, der wikingische Herrscher von Dublin, mit seinem Heer an der nur wenige Kilometer entfernten Schlacht gar nicht erst teilnahm. Als Beispiel aus Süditalien mag schließlich genügen, daß 1017 und 1018 in Italien Waräger in byzantinischen Diensten gegen normannische Söldner süditalienischer Städte kämpften, und daß wir bei der Belagerung von Capua 1024/25 Normannen auf beiden Seiten finden. Neben dem politischen Druck des Karolingerreiches gab es aber noch weitere äußere Einflüsse, die bei Dänen und Norwegern den Eindruck erhärteten, daß Westeuropa ein ertragreicher Boden für Beutezüge war. Das war zum einen der sich ständig verstärkende Druck des Christentums, zum andern der stetig zunehmende Handel mit und um Skandinavien. Dabei steht außer Frage, daß der Handel allein kein wesentlicher Auslöser für Beutezüge gewesen sein kann (so noch Boyer 1994). Allerdings dürften der Reichtum der Handelsstädte – besonders Dorestadt in der Rheinmündung oder Quentowic (an der französischen Küste etwas südlich von Boulogne), die beide noch dazu Münzstätten waren – sowie die durch den weiter südlich betriebenen, intensiveren Handel deutlich verbesserten Chancen auf Piraterie im engeren Sinn für reine Seeräuber sehr wohl anziehend gewesen sein. Auch der politische und ideologische Druck des Christentums (die Zwangsbekehrung der Sachsen und die erwähnte Taufe Harald Klaks in Ingelheim waren in Dänemark wohl gut bekannt) mag eine Rolle gespielt haben. Schließlich ist nicht auszuschließen, daß das vordringende Christentum mit seinem Absolutheitsanspruch nicht nur religiöse Ablehnung, sondern durch die verwendeten wertvollen Kultobjekte (Kelche, Patenen, Reliquiare, Bücher bzw. deren Edelmetallbeschläge, Meßgewänder, Musikinstrumente und Glocken etc.) 25
auch Neid hervorgerufen hat. Jedenfalls war eine Plünderung christlicher Klöster, Kirchen und Städte von skandinavischer Seite wohl eher zu vertreten als die Plünderung von Handelsplätzen (vor allem solchen, die auch von skandinavischen Händlern frequentiert wurden), da diese im Norden traditionell dem Thingfrieden unterlagen. Ansonsten hätte auch ein Handel zwischen potentiell verfeindeten Völkern und Religionen, wie eben in Kaupang, Haithabu, Birka, Sigtuna, Truso und Staraja Ladoga, ja gar nicht funktioniert. Es mag aber sehr wohl eine Rolle gespielt haben, wenn solche Handelsplätze (wie eben Dorestadt) unter christlicher Herrschaftsgewalt lagen und sich damit außerhalb des Rechts der skandinavischen Tradition stellten. Dennoch ist es natürlich völlig verfehlt, die Wikingerzüge in erster Linie als Ausdruck religiöser Gegensätze oder gar als eine Art von Glaubenskrieg zu betrachten. Mehr als religiöse Interessen, denen allenfalls ein gewisser Symbolgehalt zugemessen werden konnte, zählte für die wikingerzeitlichen Skandinavier die Gier nach Geld, Land und Ruhm allemal. Vielleicht sollten wir aber auch eine Aussage des Zeitgenossen Alkuin nicht vernachlässigen. Immerhin gibt er in einem Brief an seine englischen Glaubensbrüder einen wenigstens für ihn schlüssigen Grund für die Heimsuchungen durch die Wikinger: der untugendhafte Lebenswandel der Gläubigen sei der Grund dafür, daß die Wikinger als Strafe Gottes von diesem gesandt worden seien.
II. Die Geißel der Christenheit – Der Wikinger in europäisch christlicher Sicht Es gehört zu den Präliminarien einer Schlacht zwischen Wikingern, egal ob sie nun in der Wikingerzeit stattfand oder heutzutage von „Wochenendwikingern“ in Europa oder Amerika neuinszeniert wird, daß sich die kriegführenden Parteien vor dem eigentlichen Kampf ein Wortgefecht liefern. Der verbale Schlagabtausch der Kontrahenten bewegt sich zwischen der Schmähung des Gegners, der Aufreizung des Feindes, um ihn zu unkontrollierten Handlungen zu verführen, und offener Prahlerei (das Altnordische hatte hierfür wohl nicht ohne Grund eine reiche Terminologie, die von hvöt „Aufreizung“ über nið „Schmähung“ und senna „Spottdichtung“ zu mannjafnaðr „Männervergleich“ reicht). Ich fand es daher einen hübschen Zug, nicht der historischen Ironie entbehrend, wenn der Anführer einer Gruppe „dänischer Wikinger“ dem Führer einer Schar „englischer Wikinger“ anläßlich einer solchen neuaufgelegten Schlacht im jütländischen Moesgard auf dessen Prahlereien hin den englischen König Harold Godwinson zitiert, der seinem Bruder – und Anhänger Haralds des Harten, seines Feindes – vor der Schlacht von Stamford Bridge (1066) ausrichten ließ: „Sagt ihm, was er von England bekommen wird: Sieben Fuß Platz oder um so viel mehr, als er größer als andere Männer ist“ (So zum erstenmal zu finden bei Snorri in der Heimskringla: Haralds saga Sigurðarsonar, Kap. 91) . Dieser Wortwechsel ist in seiner überlieferten Form zwar nur eine literarische Anekdote, doch auch die angelsächsische Dichtung überliefert Kampfespräliminarien dieser Art. Wieviele Skandinavier in England oder anderswo im 9. und 10. Jahrhundert den Tod fanden, wissen wir natürlich nicht. Vereinzelte Angaben über die Gefallenen einer Schlacht sind meist heftig übertrieben. Harolds provozierende Bemerkung sollte sich im übrigen bewahrheiten. Von einer weiteren ausgefallenen, historisch ebenfalls nicht verbürgten Art der Landnahme weiß uns auch eine andere Legende zu berichten: Als 27
der englische König Ella Ivar dem Knochenlosen, einem Sohn Ragnar Loðbrokrs, soviel Land überließ, wie er mit einer Ochsenhaut umspannen konnte (Ragnars saga loðbrókar, Kap. 16), ließ dieser die Haut in extrem feine Riemen schneiden und noch dazu in Fell- und Speckseite spalten, sodaß er mit dem so gewonnenen langen Riemen genug Land einzuhegen vermochte, um darauf die – in Wahrheit schon rund 1000 Jahre zuvor von den Kelten besiedelte – Stadt London zu gründen. Die Landnahme – wenn vielleicht auch nicht auf solch listenreiche Weise – ist für England, Schottland und Irland bereits relativ früh in der Wikingerzeit belegt. Auf den nordatlantischen Inseln Orkney, Shetland, Färöer und Island, wo es wenig zu plündern gab, war sie von Anfang an die Regel (vgl. dazu Kap. 4). In den Augen der westeuropäischen Zeitgenossen indes, von Frankreich bis nach Irland, waren Northmannos und Dani raubende, plündernde und sengende Horden, was zu dem allerdings für das Mittelalter noch nicht schriftlich nachweisbaren Litaneivers De furore Normannorum libera nos, Domine („Befreie uns, Herr, von der rasenden Wut der Normannen“) führte. Die Hildesheimer und Quedlinburger Annalen berichten für das Jahr 994 in der ihnen eigenen, nüchternen und knappen Art, daß die Söhne des Grafen Heinrich, Udo, Heinrich und Siegfried, auf Befehl des Kaisers gegen die Wikinger auszogen. Während einer von ihnen das Unternehmen mit dem Leben bezahlte, gerieten die beiden anderen in Gefangenschaft. Diese knappe Angabe erhält etwas mehr Farbe durch den recht ausführlichen Bericht des Thietmar von Merseburg in seinem Chronicon (vor 1018), der von den Wikingereinfällen selbst betroffen war, denn die drei erwähnten Brüder waren seine Onkel mütterlicherseits. Er beschreibt, wie die drei am 23. Juni 994, als er selbst noch in Magdeburg die Domschule besuchte, zu Schiff gegen die Wikinger auszogen. Während Onkel Udo im Kampf gegen die Wikinger fiel, wurden Heinrich und Siegfried gefangen und sollten mit immensen Geldsummen ausgelöst werden. Nach Ablieferung einer Teilzahlung ließen die Wikinger, um die Eintreibung zu beschleunigen, Heinrich und 28
Graf Adaiger gegen ihre Söhne als Geiseln frei. Lediglich Siegfried wurde zurückbehalten, da er keine Söhne hatte. Um auch ihn auszulösen, sollte zuerst sein Neffe und Bruder Thietmars, der auch Siegfried hieß, schließlich, da diesem sein Abt die Erlaubnis hierzu versagte, der spätere Chronist selbst für den festgesetzten Onkel einspringen. Noch vor Eintreffen Thietmars war Siegfried jedoch bereits die Flucht gelungen. Voller Zorn warfen die Wikinger die noch in ihrer Hand befindlichen Geiseln, Thietmars Vettern sowie den sie begleitenden Priester, mit abgeschnittenen Nasen, Ohren und Händen in den Fluß und segelten ab. Thietmar von Merseburg war also aus verständlichen Gründen nicht sonderlich gut auf Wikinger zu sprechen, und so wundert es kaum, wenn er sie in seinem Text einmal als „verfluchte Seeräuberbande“ oder an anderer Stelle als „Schlangenbrut“ beschimpft. Dabei dürfte es Thietmar kaum berührt haben, daß es sich bei dem Überfall von 994 gar nicht um einen Wikingerzug im engeren Sinn, sondern um eine „normale“ kriegerische Auseinandersetzung zwischen dem dänischen König und dem Frankenreich gehandelt hatte. Überhaupt war es für die Opfer von Wikingerüberfällen und ihre Chronisten – und in einigen Fällen wie den Annalen von St. Bertin in St. Omer oder der Chronik des Regino von Prüm waren Opfer und Chronisten identisch – zunächst einmal nicht sonderlich wichtig, woher ihre Angreifer kamen, obwohl es in der Regel klar war, daß es sich um Skandinavier handelte. Das Anglo-Saxon Chronicle etwa nennt bei der Erwähnung der ersten Überfälle die Angreifer nur pagani, also Heiden, ohne sich weiter für deren Herkunft zu interessieren. Andere angelsächsische Autoren – wie beispielsweise William von Malmesbury (Gesta Regutn Anglorum, c. 1125) – bezeichnen sie schlicht als barbari, häufig auch als piratae (Seeräuber), also durchaus sachlich. Erst im 9. Jahrhundert werden die Bezeichnungen spezifischer, wobei vor allem die fränkischen Chroniken die Angreifer üblicherweise als pyratae Danorum „Dänische Seeräuber“ (Ann. Bert, ad 859) oder noch allgemeiner als Dani „Dänen“ bezeichnen. Der Biograph Karls des Großen, Einhard, nennt die Skandinavier allgemein Nord29
manni (Vita Caroli Magni, Kap. 12, um 833), aber dies steht in den Annalen oft genug gleichbedeutend mit Dani, sodaß man aus den Bezeichnungen selbst nicht ablesen kann, ob es sich nun um Norweger, Dänen oder Schweden gehandelt hatte. Adam von Bremen, der Historiograph des Hamburg-Bremener Bischofssitzes aus dem späten 11. Jahrhundert überliefert (Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, um 1072; I, 14 und II, 31), daß sich die skandinavischen Plünderer selbst Wikinger nannten, sie von den fränkischen Chronisten Normannen genannt worden wären, aber bei den Deutschen Eschen-Leute hießen. Die Bezeichnung Ascomannos ist uns auch aus dem Altsächsischen (Ascmann) sowie dem Altenglischen (Æscmann) geläufig. Das Altnordische hingegen kennt den Begriff allenfalls als Personenbeiname. Denkbar wäre, daß der Name „EschenMänner“ auf eine Waffenart, den Eschen-Bogen, zurückgeht, wahrscheinlicher ist aber, da das Altnordische askr und das Altenglische cesc (ab 897) einen Schiffstyp bezeichnen, daß sich der Terminus „Eschen-Männer“ von jenem Schiff herleitet, mit dem die Wikinger für gewöhnlich die Meere befuhren. Bei den Arabern, mit denen Wikinger sowohl im östlichen Mittelmeer als auch an der nordafrikanischen Küste und in Spanien durch Konflikte ebenso wie durch Handel in Berührung kamen, hießen die Skandinavier al-Majus („Heiden“). Die Byzantiner nannten sie Rhos oder Baraggoi (< Vaeringjar, vgl. arab. Varank), aber auch Nordmanni, wie der Bericht des Bischofs von Cremona, Liudprand, bestätigt, der von 948 bis 950 und dann wieder 968 als Gesandter in Byzanz weilte (Antapodosis, 1.11 und V. 15). Die Griechen hatten ihre Bezeichnungen wohl von den Slawen übernommen, von denen die Skandinavier ebenfalls als Rus oder Nordmanni bezeichnet wurden. Die Iren verwendeten zwei Namen für die Wikinger, nämlich Finn-gail („weiße Fremde“ = Norweger) und Dubh-gail („schwarze Fremde“ = Dänen), woran bereits deutlich wird, daß die Dänen in der Berichterstattung üblicherweise schlechter wegkamen als die Norweger. Das Bild, das sich die westeuropäischen Zeitgenossen, die ja üblicherweise auf der Seite der Opfer standen, von den Wi30
kingern machten, hat den Wikingermythos, der nur zu gerne auf einen derartigen „furor Normannorum“ rekurriert, nachhaltig geprägt. Wirksamer als die erwähnten Bezeichnungen für die Wikinger erweisen sich dabei jedoch die zahlreichen anekdotenhaften Schilderungen in Annalen und Chroniken, die häufig die angebliche Treulosigkeit und Falschheit der Wikinger zum Inhalt haben, wie ein Eintrag aus dem AngloSaxon Chronicle für das Jahr 865 lehrt, in dem in wenigen Zeilen das Verhandlungsgeschick sowie die absolute Treulosigkeit und Gefährlichkeit der Wikinger auf den Punkt gebracht werden. Allerdings ist dabei durchaus zu relativieren: So sind etwa die fränkischen Annalen voller Vorwürfe der Treulosigkeit auch den eigenen Fürsten gegenüber und die irischen Chroniken handeln öfter von irischem Verrat und Überfällen als von wikingischen (Roesdahl 1991, 223), wenn man sich hie und da auch erleichtert gezeigt haben mag, wenigstens einen Teil der Überfälle den Heiden zur Last legen zu können. So geht beispielsweise aus manchen Einträgen in den Annalen (z.B. Annales Bertiniani s. a. 860) nicht ganz klar hervor, ob nun die Handlungsweise Karls des Kahlen oder das Verhalten der Wikinger stärker im Zentrum der Kritik stehen: Im Jahre des Herrn 874 belagerte König Karl die Normannen in der Stadt Angers, aber auf schlechtester Menschen Rat ließ er sie, nachdem er Geiseln von ihnen erhalten hatte, ungekränkt abziehen. Zu jener Zeit kam auch eine Heuschreckenplage über das Land. [...] Karl schickte ein Heer gegen sie, aber es richtete nichts Ersprießliches aus. Er begann daher an die Befreiung des Reichs durch Loskauf zu denken. 877 [Karl] schickte Gesandte, um mit den Normannen zu verhandeln, daß sie gegen Geschenke das Reich verließen. Und als hierüber ein Vertrag zustandekam, wurden die Kirchen geplündert und es steuerte das ganze Reich zu dem Tribut bei, um von diesem Unheil befreit zu werden. (Ann. Ved.) Aber es sind natürlich nicht nur die von den Wikingern im Frankenreich wie in England erpreßten Tributzahlungen, son31
dem oft genug auch die ganz konkreten Grausamkeiten, über die sich die Chronisten ereifern, selbst wenn sie übertrieben geschildert worden sein mögen. Nicht viel anders werden die Heimsuchungen in Irland, wo wir eine Beschreibung der Ulster Annais für die Zeit um 920 besitzen, oder auf dem Kontinent empfunden, wo sie Regino von Prüm in seiner Chronik für das Jahr 853 ausführlich beschrieb. Besonders hart dürfte die Franken, allen voran ihre geistlichen Chronisten getroffen haben, daß die Wikinger bei ihren Raubzügen auch vor Kirchen und Klöstern nicht haltmachten. Wiederholt wird in den Quellen davon berichtet, daß die Wikinger im Jahre 881 die Aachener Pfalz erobert und die dortige Kirche zu einem Pferdestall umfunktioniert hatten (Ann. Fuld. s. a. 881). Etwa 100 Jahre später wurden die Überfälle auf das Frankenreich sogar von den Nachfahren der Wikinger, den Herzögen der Normandie, mit kritischen Augen gesehen, obwohl es sich doch um die eigenen Vorfahren handelte. Selbst Dudo von St. Quentin, der im Auftrag eben jener Abkömmlinge der Wikinger eine Geschichte der frühen Normannenherzöge schrieb, läßt in seinen Aufzeichnungen keinen Zweifel an der brutalen Art der skandinavischen Überfälle (De moribus et actis primorum Normannice ducum, Lib. I, 3): Diese Dänen [...] strömten nun unter ihrem Führer, Anstignus, mit Gewalt auch in die entlegensten Landschaften Frankreichs. [...] Er tötete, wen er traf und wen er aufstöberte. Er erschlug die Feinde und tötete die Unglücklichen mit der Speerspitze. Er verurteilte die Priesterschaft und bestrafte sie mit einem grausamen Tod. Sie bekleideten sich schamlos mit priesterlichen Gewändern, die sie von den heiligen Altären raubten. Sie bekleideten sich mit den weißen Chorröcken, die dem Gottesdienst geweiht waren. Jeden, der es wagte, eine Waffe gegen sie zu erheben, töteten sie aufs grausamste. Das übrige Volk verschleppten sie entwaffnet in die Gefangenschaft. Die Hausfrauen wurden, von vielen vergewaltigt, weinend in die Fremde geführt. 32
Alle Mädchen wurden schamlos ihrer Jungfräulichkeit beraubt. Mit den jungen Männern wurden auch die alten in großer Zahl ins Ausland verschleppt. Alle Haustiere machten sie zu Geld; und ihre Wildheit wuchs, genährt von ihren Übeltaten. Ungeachtet dieser recht negativen Schilderungen in den Hauptquellen ist bei näherer Betrachtung aber selbst die fränkische Überlieferung nicht völlig frei von vereinzelten positiven Schlaglichtern auf die Wikingerzeit, allerdings selten und sozusagen nur als Subtext zur offiziellen Historiographie. So klingt in den Fuldaer Annalen zum Jahre 884, also inmitten der wikingischen Heimsuchungen, fast so etwas wie Bewunderung für das Aussehen der Skandinavier durch: In dieser Schlacht sollen von den Normannen Männer gefallen sein, wie man sie nie zuvor im Volke der Franken gesehen hatte, an Schönheit nämlich und Körpergröße. In den Annalen ist eine solche ausdrücklich positive Stelle wohl ein Einzelfall. Dennoch zeigt ein genauerer Blick in Annalistik und Chronistik, wie – je nach den Umständen – eine negative Zeichnung in eine positive umschlagen konnte, was in der politischen Bewertung durchaus faktische Grundlagen hatte. Als Beispiel mag die Wikingerkarriere eines gewissen Rorik dienen, über den die Xantener Annalen (zu 850) wenig Positives zu berichten wissen, als er Dorestad schleift, der indes in den Fuldaer Annalen (s. a. 850) in einem differenzierteren Licht erscheint, als sein (zweifelhafter?) Nutzen für das fränkische Reich Erwähnung findet: Der Normanne Roric, der zur Zeit des Kaisers Ludwig mit seinem Bruder Heriold Wijk bei Dorestad als Lehen besaß, wurde nach dem Tode des Kaisers, als der Bruder gestorben war, bei Lothar, der seinem Vater in der Herrschaft gefolgt war, fälschlich, wie das Gerücht sagt, des Verrats beschuldigt, festgenommen und in Gewahrsam gebracht. Von hier entfloh er und huldigte Ludwig, dem König der Ostfranken; als er sich hier einige Jahre aufgehalten und unter den Sach33
sen in der Nachbarschaft der Normannen gewohnt hatte, sammelte er eine nicht geringe Mannschaft Dänen, mit denen er anfing, Seeräuberei zu treiben und in Lothars Reich Orte an der Nordseeküste zu plündern. Durch die Rheinmündung gelangte er nach Dorestad, das er besetzte und behielt; und weil er von Kaiser Lothar ohne Gefahr für die Seinigen nicht verjagt werden konnte, so wurde auf den Rat des Senates und durch Vermittlung von Gesandten seine Huldigung wieder angenommen, unter der Bedingung, daß er mit Steuern und was sonst des Königs Schatz angehe, treu diene und sich der seeräuberischen Einfälle der Dänen erwehre. Dennoch wurde Dorestad auch 834-7, 846, 847, 857 und 863 geplündert; Rorik wird schließlich im Jahre 867 von den Friesen verjagt und wir hören zum letzten Mal von ihm 873 in Dänemark; aber die Schilderung macht deutlich, wie aus einem „Feind der Christenheit“ zunächst ein fränkischer Lehensmann, dann nicht einmal durch eigene Schuld wieder ein wikingischer Feind, und schließlich wieder ein Lehensmann wurde, bevor er von den Einheimischen (nicht vom Kaiser!) endgültig vertrieben wurde. Hier zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab, die in der Normandie aufgrund der etwas klügeren Taktik Rollos zur Einrichtung eines Herzogtums durch die Wikinger führte (vgl. unten Kap. 4). Indirekt scheint in der Überlieferung auch sonst mitunter ein wenig Bewunderung für die verhaßten Barbaren und Feinde durch, so etwa bei Prudentius von Troyes, jenem Fortsetzer der Annales Bertiniani, dem wir die Kenntnis folgender Geschichte über Björn Eisenseite und seinen „Erzieher“ Hastingus (wohl Hástein) verdanken. Um das Jahr 859 befährt Björn die Seine und überwintert auf der Insel Oissel (knapp oberhalb von Rouen). Karl der Kahle, der es nicht wagt, die marodierenden Wikinger selbst anzugreifen, beauftragt einen anderen Wikinger in der Normandie namens Völundr (in den Quellen: Weland) damit, Björn zu vertreiben, wofür er ihm 3000 Pfund Silber verspricht. Nach einigem Hin und Her 34
übernimmt Völundr schließlich den Auftrag für 5000 Pfund Silber nebst Verpflegung in Form von Korn und Rindern und beginnt unverzüglich mit der Belagerung. Um sich aus der Umklammerung zu lösen, bietet Björn seinem Belagerer 6000 Pfund für freien Abzug, der ihm auch gewährt wird. Daraufhin zieht sich das dänische Heer unter Björn zurück und bricht direkt im Anschluß – so zumindest berichten Dudo von St. Quentin und Benedikt von St. Maur – zu einer der denkwürdigsten Abenteuerfahrten der Wikingerzeit auf, denn sie beschließen, Rom zu erobern. Mit 62 Schiffen, so die Annalen, sei das von Oissel abgezogene Dänenheer unter Björn Eisenseite und Hästein nach Süden gesegelt. Nachdem sie die spanische Küste entlanggesteuert war, habe die Flotte den Fluß Guadalquivir aufwärts befahren, dort aber im Kampf gegen die Mauren eine Niederlage hinnehmen müssen. Ob es allerdings Björns Wikingerheer war, das bis nach Sevilla vorgedrungen sei, ist dagegen nicht sicher. Die Flotte durchfuhr dann die Meerenge von Gibraltar, plünderte Algeciras, und wandte sich anschließend der nordafrikanischen Küste zu, wo man plünderte und schwarze Sklaven machte, die man in typisch mittelalterlicher Manier als Souvenirs nach Hause mitbrachte, wie sogar irische Quellen vermerken. Danach wandten sich Björn und sein Heer wieder nach Norden und verheerten die Küste bei Murcia und die Balearen, bevor man auf einem der Inselchen vor der Camargue in der Nähe der Rhonemündung Winterquartier bezog. Obwohl ihre Schiffe zu diesem Zeitpunkt schon mit Beutegut überfüllt waren, plünderten sie nicht zuletzt zur Verproviantierung in Südfrankreich bis Arles, Nîmes und Valence, bevor sie dem Widerstand der Franken weichen mußten. Im Frühling des zweiten Jahres segelten sie die Côte d’Azur entlang nach Italien, wo sie zunächst Pisa einnahmen. Den fränkischen Annalisten zufolge – die hier wohl in ihrer Verachtung der intellektuellen Fähigkeiten der Wikinger die Wahrheit biegen mögen – habe das Heer jedoch irrtümlich die gutbefestigte Stadt Luna für Rom gehalten und mit Hilfe einer List eingenommen. Demzufolge hätten die Wikinger vorgetäuscht, ihr Anführer Hästein 35
sei gestorben und habe um ein christliches Begräbnis gebeten. Nachdem aber der „Leichnam“, eskortiert von einem Gefolge der Wikinger, in die Kirche überführt worden war, sei der vermeintlich Tote plötzlich aufgesprungen; auf einmal hätten auch seine Begleiter die Waffen gezogen und erst den Bischof, dann die übrigen Bewohner der Stadt erschlagen und diese geplündert. Dieselbe Geschichte wird noch 200 Jahre später als eine von mehreren Episoden über einen Kriegszug Haralds des Harten in Sizilien erzählt (Snorri, Heimskringla, Haralds saga Sigurðarsonar, Kap. 10), ist aber deswegen keineswegs authentischer. Auch Angaben über weitere Reisen ins östliche Mittelmeer sind unbestätigt, wogegen Dudo und Benedict darin übereinstimmen, daß die Flotte im Jahre 861 in der Straße von Gibraltar in einem Gefecht mit einer maurischen Einheit geschlagen wurde, jedoch in den Atlantik entkommen konnte. Dennoch plünderten sie noch Pamplona im Königreich Navarra und sind 862 wieder an der Loire: zwar nur mehr mit einem Drittel der ursprünglichen Flotte, aber mit reichen Schätzen, den gefangenen Afrikanern und umgeben von einer Aura des Ruhmes, um die es bei dem ganzen Unternehmen wohl vorrangig ging. Somit beginnt, wider Erwarten, die Legendenbildung über die Heldentaten der Wikinger schon bei den fränkischen Chronisten des 9. Jahrhunderts, die zwar in erster Linie die Wikinger schmähen, aber ihre Hybris in so glänzenden Farben schildern, daß sie späteren Jahrhunderten als vorbildlich erscheinen konnte, und zwar nicht nur in Skandinavien, sondern auch in der deutschen und französischen Romantik.
III. Fjordhunde und Wellenwölfe – Die Voraussetzung wikingischer Expansion: Das Schiff Als ein Nachbau des norwegischen Gokstadschiffs, die „Viking“, unter einem gewissen Magnus Andersen im Jahre 1893 von Bergen nach Neufundland und von dort zur Weltausstellung nach Chicago segelte, benötigte sie für die knapp 2600 Seemeilen (ca. 4800 km) 27 Tage. Das Boot erreichte dabei mehrfach Geschwindigkeiten von 11 Knoten (ca. 20,5 km/h). Obwohl es heute zum Allgemeinwissen gehört, daß „die Wikinger“ schon knapp 500 Jahre vor Kolumbus „Amerika entdeckt“ haben, ist diese Reise dennoch erwähnenswert, weil das Osebergschiff nach unserem heutigen Erkenntnisstand nicht als hochseegängiges Wasserfahrzeug gebaut worden war, mit dem solche Fernfahrten unternommen wurden. Es handelte sich vielmehr um eine Art leichten Kriegsschiffes, das in erster Linie für Fahrten in relativ geschützten Küstengewässern gedacht war. Jüngere Nachbauten desselben Schiffstyps („Hugin“ von 1949, „Gaia“ von 1989) zeigten trotz dieser Einschränkungen ebenfalls exzellente Segeleigenschaften, während der Nachbau des äußerst schlanken Osebergschiffs, das sicherlich am zutreffendsten als königliche Yacht zu charakterisieren ist („Dronningen“ von 1987), bei Segelversuchen im Jahre 1988 auf einem Am-Wind-Kurs bei 10 Knoten Fahrt kenterte und sank. Im Gegensatz dazu repräsentiert der Nachbau des Wracks 1 von Roskilde kein Kriegsschiff, sondern ein äußerst seetüchtiges Handelsschiff. Unter dem Namen „Saga Siglar“ hat dieser Nachbau aus dem Jahre 1983 zwischen 1984 und 1986 die Erde umrundet, und es ist als höchst unglücklicher Zufall zu werten, daß gerade diese seetüchtigste aller Repliken von Wikingerschiffen 1992 im Mittelmeer sank. Zwar wurde damit die Medienöffentlichkeit – wenn auch in recht negativer Weise – erreicht und es brach eine Diskussion über die Seetauglichkeit von Wikingerschiffen aus, doch darf nicht übersehen werden, daß die Wikinger37
schiffe trotz allem den Höhepunkt der historischen Schiffbautechnik darstellen, den man in ihnen traditionellerweise sieht. Dennoch war die „Viking“, als sie 1893 Amerika erreichte, aus wenigstens zwei Gründen atypisch: erstens aus dem schon genannten Grund, daß gerade dieses Schiff kein Hochseefahrzeug darstellt, und zweitens, weil mit der friedlichen Reise eines derartigen Langschiffs der falsche Eindruck erweckt wird, daß die wikingische Expansion im wesentlichen auch so konfliktfrei verlaufen sei. Die wikingische Südwestexpansion der Frühzeit, das hat auch Kapitel 2 zu zeigen versucht, war jedoch alles andere als friedlich vonstatten gegangen. Ob es sich bei den Seereisen aber nun um militärische Expeditionen oder Handelsreisen, Entdeckungsfahrten oder Kolonisationsunternehmen handelte, das Schiff war für alle wikingerzeitlichen Aktivitäten unabdingbar und kann zweifellos als eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für die skandinavische Expansion der Wikingerzeit gewertet werden. Wie bereits an anderer Stelle (Kap. 1) angeschnitten, ist die wesentlichste Sonderleistung der Skandinavier in der Entwicklung eines seetüchtigen, schnellen und flachkieligen Segelschifftyps zu sehen. Auf Grund der archäologischen Funde sind wir heute in der Lage, die Entwicklung des skandinavischen Schiffbaus vor der Wikingerzeit zumindest in ihren Grundzügen zu verfolgen. Die markantesten Einschnitte in der Geschichte des skandinavischen Schiffbaus bilden zweifellos die Entstehung des klinkergebauten Plankenschiffs (gegenüber Einbaum oder Fellboot) sowie – mit deutlichem zeitlichen Abstand – die Einführung des Segels. Das Plankenschiff – der älteste bekannte Fund eines derartigen Schiffes, das dänische Hjortspringboot aus der Zeit um 300 v. Chr., – ist als das Resultat eines langen technischen Entwicklungsprozesses zu betrachten, an dessen Beginn der gespreizte Einbaum mit aufgesetzten Seitenbrettern gestanden haben dürfte. Die Herstellung von so dünnen Holzplanken, wie sie beim Hjortspringboot Verwendung fanden, setzte jedoch die Verwendung von Metallwerkzeugen voraus. Obwohl das früheisenzeitliche Hjortspringboot noch einer bronzezeitlichen 38
Bootsbautradition verpflichtet ist, weisen doch schon etliche Konstruktionsmerkmale auf die über 1000 Jahre jüngeren Wikingerschiffe hin: die dünnen Planken, der flache Boden, und vor allem die Doppelenderkonstruktion. Allerdings war das Hjortspringboot ein Paddelfahrzeug und relativ filigran gebaut, und es sollten noch Jahrhunderte vergehen, bevor Boote größer und stabiler gebaut werden konnten, wovon das Nydamschiff (heute in Schleswig) vom Ende des 4. Jahrhunderts Zeugnis ablegt. Dieses immerhin 23 m lange und massive, wenn auch schlank gebaute Hochseefahrzeug wurde ausschließlich gerudert und wies keinerlei Spuren eines Riggs auf. Gleiches gilt für das 200-300 Jahre jüngere, in Westnorwegen gefundene Kvalsundschiff, das allerdings durch seine senkrechte Kielplanke durchaus schon als Segelschiff hätte Verwendung finden können. Irgendwann zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert erst wurde in Skandinavien das Segel eingeführt, obwohl es eigentlich spätestens seit der Römerzeit hätte bekannt sein müssen, als die Westgermanen mit den römischen Flotten konfrontiert wurden. Die Entwicklung eines funktionsfähigen Riggs war aber der wesentlichste technische Fortschritt im Schiffsbau, da erst mit Hilfe des Segels längere Distanzen bewältigt werden konnten. In Verbindung mit dem schlanken, doppelendigen Schiffstyp konnten die Schiffe der Wikingerzeit aber vor allem auch Geschwindigkeiten erreichen, die bis in die Neuzeit herein für größere Segelfahrzeuge sonst unerreichbar blieben. Die eingangs erwähnte Geschwindigkeit des Gokstad-Nachbaus aus dem Jahre 1893 von 11 Knoten und die ähnliche Höchstgeschwindigkeit des Skuldelev-5-Nachbaus „Helle Ask“ aus den frühen 90er Jahren von 14 Knoten liegen deutlich über der Reisegeschwindigkeit motorisierter Frachtschiffe noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auf diese Weise konnten die in den isländischen Segelanweisungen des Mittelalters angegebenen Reisezeiten problemlos erreicht werden. So veranschlagte man beispielsweise für eine Fahrt von Westnorwegen bis Südisland (ca. 1300 km) 7 Tage. Ebenfalls 7 Tage nahm die Umschiffung Islands in Anspruch, 3 Tage hingegen dauerte 39
die Reise von Island zu den Färöern, weitere 3 Tage benötigte man, um Norwegen zu erreichen. Etwa 4 Segeltage rechnete man für die Fahrt von Westisland um die grönländische Südspitze herum (ca. 1500 km), und Irland konnte von Südisland aus innerhalb von 3 Tagen (ca. 1200 km), von Nordisland aus in 5 Tagen (ca. 1600 km) erreicht werden, ebenso wie Svalbarði von Nordisland aus in 4 Tagen, freilich unter der Voraussetzung, daß der Wind nicht gerade gegenan stand. Alle skandinavischen Schiffe der Wikingerzeit waren nämlich rahgetakelt, und die rechteckigen Rahsegel sind zum Kreuzen gegen den Wind im Prinzip ungeeignet. Diese Schwäche der skandinavischen Takelagen machte sich wohl auch in den Seegefechten mit den lateinergetakelten mediterranen Schiffstypen der Araber negativ bemerkbar, in denen die Skandinavier offenbar einige Male Niederlagen einstecken mußten. Im Gegensatz zu späteren Schiffstypen, die alleine mittels Rahsegel überhaupt nicht kreuzen konnten, entwickelte sich auf den Wikingerschiffen jedoch eine Technik, mit deren Hilfe man dennoch, wenn auch in begrenztem Ausmaß, gegen den Wind kreuzen konnte. Die Takelagen der Wikingerschiffe bestanden aus einem einzigen Mast, der durch Wanten und Stage aus Hanf oder Seehundsleder verstagt war und in einem Kielschwein steckte, in dem er sich auch umlegen ließ. Am Mast wurde durch ein Fall ein an einer querschiffs stehenden Rahe befestigtes rechteckiges Segel gesetzt. Das freie Unterliek ließ sich mit Hilfe von an beiden Schothörnern angebrachten Schoten bedienen, die Rahe wurde mit Hilfe von Brassen bewegt. Beim Kreuzen konnte der Hals des Segels am Luvbord befestigt werden, oder wurde gar mit einer als eine Art von Bugspriet dienenden Spiere luvwärts vom Vorsteven ausgebracht, sodaß man das Vorliek des Rahsegels möglichst weit nach vorne und auf Mittschiffslinie durchsetzen konnte, was einen ähnlichen Effekt wie bei einem modernen Vorsegel zur Folge hatte, weshalb man damit nun in beschränktem Grad (bis etwa 60°65°) gegen den Wind kreuzen konnte. Die Segel waren nicht nur mehrfarbig gestreift, wie auf dem berühmten Teppich von 40
Bayeux zu erkennen ist, sondern zu Repräsentationszwecken auch mit farbigen und kostbaren Stoffen an den Lieken besetzt. So wird etwa in der von Snorri Sturluson (um 1230) verfaßten Sigurðar saga Jórsalafara (Kap. 11f.) berichtet, wie König Sigurd im Jahre 1111 zwei Wochen vor Malea vor Anker wartete, um schließlich mit Halbwindkurs in Byzanz einlaufen zu können, wobei die Lieken der Segel mit kostbaren Stoffen besetzt gewesen sein sollen; die Flotte segelte dann so knapp beieinander, daß die Segel vom Land her wie eine Mauer gewirkt hätten, was sicherlich den von Sigurd beabsichtigten imponierenden Eindruck hinterlassen mußte. Gesteuert wurden alle wikingerzeitlichen Schiffe und Boote mit einem achtern an der Steuerbordseite angebrachten massiven Ruder. Daher steht der Begriff Steuerbord auch für rechts, während der Rücken des Steuermanns nach Backbord, d. h. nach links, gerichtet war. Nun funktionierte das genannte Ruder zwar äußerst effizient, doch stellte es durch die mittels Tauwerk an einem Punkt konzentrierte Befestigung bei größeren Schiffen auch einen Schwachpunkt der Konstruktion dar, sodaß sich zuerst bei den Handelsschiffen des Hochmittelalters, dann überall das weniger effiziente, aber stabiler zu befestigende Heckruder durchsetzte. Während diese Konstruktionsmerkmale allen Wikingerschiffen gemeinsam waren, hatten nur die Kriegsschiffe über die ganze Schiffslänge verteilte Ruderlöcher, mit deren Hilfe die Boote von 20 bis 30 (seltener auch mehr) Riemenpaaren bewegt werden konnten. Auf diese Fortbewegungstechnik griff man jedoch wohl nur in Ausnahmefällen zurück, durchwegs aber im Kampf, bei dem Masten und Segel gestrichen wurden. Handelsschiffe dagegen hatten nur vorne und achtern Einrichtungen für je 2 Riemenpaare, die also lediglich als Hilfe beim An- und Ablegen oder der Ausfahrt aus Häfen verwendet wurden. Die flachkielige und doppelendige Konstruktion der wikingerzeitlichen Schiffe bot eine Reihe von Vorteilen, die für die skandinavischen Unternehmungen unerläßlich waren. Zum einen erlaubte der relativ flache Boden ein Anlegen auch auf flachen Stränden. Die Doppelenderform erwies sich dabei so41
wohl beim Ablegen als auch bei Gefechtsmanövern von Nutzen, selbst wenn man auf Grund von Rigg und Ruderkonstruktion nicht, wie manchmal behauptet wird, in beide Richtungen segeln kann. Zum andern ermöglichte der flache Kiel den Transport von Schiffen über Land mittels Rollen. Diese Technik war nicht nur auf den Portagen zwischen den russischen Flüssen von Bedeutung, wo allerdings kaum größere Schiffe mehrere Kilometer über Land gezogen wurden, sondern auch für die Verkürzung von Wegstrecken bei militärischen Operationen. So ist mehrfach belegt, daß die ca. 60 km lange Halbinsel Kintyre in Westschottland mittels einer Portage in Tarbert umgangen werden konnte, ein Umstand, der sogar politische Folgen zeitigen sollte. Als nämlich König Magnus von Norwegen im Jahre 1098 vom schottischen König Malcolm all jene Inseln westlich von Schottland zugesprochen bekam, die von einem Schiff mit befestigtem Steuerruder umsegelt werden konnten, ließ er das Schiff mit Ruder, wobei er selbst an der Ruderpinne stand, über diese Portage rollen, mit der Absicht, Kintyre zu den Hebriden zu schlagen. Die durch archäologische Ausgrabungen belegten Schiffstypen und die in den mittelalterlichen Texten überlieferten zahlreichen Bezeichnungen für verschiedene Schiffstypen lassen sich heute nicht mehr völlig in Deckung bringen, wofür aber sicher auch die regionalen wie zeitlichen Veränderungen während der Wikingerzeit verantwortlich sind. Es ist seit langem bekannt, daß das 21 m lange, reich verzierte Osebergschiff kein hochseetüchtiges Kriegsschiff war, sondern eher eine königliche Yacht für die Fahrt in geschützten Gewässern. Auch weiß man inzwischen, daß selbst das wesentlich massivere und hochbordigere Gokstadschiff mit 23 m Länge für 16 Riemenpaare oder das Wrack 5 von Skuldelev mit 18 m für 13 Riemenpaare nicht in erster Linie für die Hochseefahrt gedacht waren. Letztere gehörten als Kriegsschiffe sogar zu der kleinsten Klasse unter den Langschiffen – dieser Begriff bezeichnet nach Vorbild des lateinischen navis longa jedes Kriegsschiff, unabhängig von Bauart und Größe –, nämlich der snekkja, was nach moderner Terminologie höchstens ei42
ner Fregatte entspricht. Ein Kriegsschiff zwischen 20 und 30 Riemenpaaren wurde dagegen als skeid, eines mit über 30 Riemenpaaren – das wäre nach Auskunft des leider fast völlig zerstörten Wracks 2 von Skuldelev oder eines 1997 ebenfalls im Roskildefjord gefundenen Wracks immerhin ein Schiff von rund 35 m Länge – als dreki „Drache“ bezeichnet. Allerdings könnte sich die ursprünglich wohl aus dem Eigennamen von König Harald hárfagris Schiff Dreki (ca. 870) hergeleitete Typenbezeichnung dreki auch allgemein auf solche Kriegsschiffe mit Drachenhäuptern auf den Stevenenden bezogen haben. Als Stevenschmuck der Kriegsschiffe sind übrigens in Texten und Abbildungen nicht nur die erwähnten Drachen-, sondern auch geschnitzte Tier- und Menschenhäupter, des weiteren auch eine Art von vergoldeten Standarten überliefert, von denen einige als Wetterfahnen auf Stabkirchen die Jahrhunderte überlebt haben. Als Windfahnen auf Schiffen scheinen sie hingegen untauglich gewesen zu sein. Vermutlich dienten sie, das legen zumindest geschnitzte Flottendarstellungen nahe, der Kennzeichnung bestimmter Kriegsschiffe. Obwohl Seeschlachten in der altnordischen Literatur verhältnismäßig häufig geschildert werden, wissen wir nur wenig Konkretes über den Ablauf von Seegefechten während der Wikingerzeit. Als sicher kann allenfalls gelten, daß während der Schlacht die Masten niedergelegt wurden. Mitunter wurden, um möglichst wenig von den niedrigen Bordwänden zu exponieren, die eigenen Schiffe miteinander verbunden. Eine andere Taktik war, einzelne feindliche Schiffe möglichst zwischen zwei eigenen einzuschließen, wobei das Entern und der Kampf von Mann zu Mann die eigentliche Entscheidung herbeiführten. Allerdings wird in größeren Seeschlachten auch von Bogenschützen berichtet, doch war der Fernkampf eher Präliminarie oder Ausnahme. Wie sehr dabei auch das Wetter eine zentrale Rolle spielte, zeigt die Geschichte vom Kampf Jarl Hakons gegen die Jómswikinger im Hjörungavag im Jahre 995. Damals machte ein Hagelsturm die Erfolgschancen der angreifenden Jómswikinger so vollständig zunichte, daß das Unwetter nachträglich auf den Bund Hakons mit einer 43
Lokalgottheit namens Þorgerðr Hölgabrúðr zurückgeführt wurde, von der man sagte, sie habe die Schiffe der Gegner nicht nur mit Hagelkörnern, sondern auch mit aus den Wolken abgefeuerten Pfeilen beschossen. Während die Schiffe aus den älteren Funden von Gokstad und Oseberg im Oslofjord jeweils militärischen Zwecken dienten, ist uns das Aussehen von Handelsschiffen der Wikingerzeit erst aufgrund der seit 1962 im Roskildefjord in Dänemark ausgegrabenen Wracks von Skuldelev bekannt. Diese Funde waren insofern eine Sensation, als mit dem 16,5 m langen und 4,6 m breiten Wrack 1 einer knörr erstmals ein wikingerzeitliches Hochseehandelsschiff gehoben werden konnte. Es war dieser Schiffstyp, der die Überfahrt nach Island, Grönland und Vinland ermöglichte, da er die nötige Ladekapazität für Güter und Haustiere besaß. Die knörr von Roskilde weist bezeichnenderweise nur 4 Riemenpaare auf, dieses Schiff wurde also praktisch ausschließlich gesegelt. Mit dem Nachbau dieser knörr, der „Saga Siglar“, gelang sogar die bereits erwähnte Weltumseglung. Auch das gut erhaltene Wrack 3 von Roskilde war ein Handelsschiff und mit seinen Abmessungen von 13,3 zu 3,3 m ein gutes Beispiel für ein kleineres Handelsschiff in der Küsten- oder Ostseefahrt, das in den mittelalterlichen Gesetzen als byrðingr bezeichnet wurde. Einer der Nachbauten dieses Wracks, die „Roar Ege“, hat sich als ebenso seetüchtiges wie wendiges und für ein Handelsschiff keineswegs langsames Fahrzeug erwiesen, das unter Segeln eine Geschwindigkeit von 8,5 Knoten, unter den vier Riemenpaaren allerdings nur 2 Knoten erreicht. War die Navigation im Ostseeraum noch problemlos, so hat man oft die Frage nach den navigatorischen Kenntnissen der wikingerzeitlichen Skandinavier auf ihren langen Reisen nach Island, Grönland, Vinland und durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer gestellt. Die Antwort liegt zweifellos nicht in irgendwelchen oft postulierten, ansonsten in Europa noch unbekannten Instrumenten, zu denen neben einem mutmaßlichen sólarsteinn (ein Kordierit-Kristall zur Bestimmung des Sonnenstands bei bedecktem Himmel), eine in 44
Grönland gefundene fragmentarische angebliche Peilscheibe oder sogar eine Frühform des Kompasses gehört haben sollen. Vielmehr dürften die Wikinger ihre Fahrten mit Hilfe der terrestrischen Navigation, also dem Segeln in Küstennähe und/oder mit gegißtem Besteck, sowie unter Anwendung elementarer Kenntnisse der astronomischen Navigation, so vor allem der Beobachtung des Sonnenhöchststands, der das approximative Latitudinalsegeln ermöglicht, bewältigt haben. Das zweifellos wichtigste Hilfsmittel aber bildete die über Jahrtausende erworbene nautische Praxis und die Kenntnis der skandinavischen Gewässer, die mit den nunmehr technisch perfektionierten Schiffen beträchtliche navigatorische Leistungen ermöglichten. Solange eine Schätzung der eigenen Position möglich war, konnten die Ziele zwar nicht exakt, jedoch mit ausreichender Sicherheit angesteuert werden. Nicht von ungefähr konstatieren noch die hochmittelalterlichen Quellen eine Desorientierung von Steuerleuten gerade dann, wenn sie nach tagelangen schweren Stürmen vom normalen Kurs abgekommen waren. Unter solchen Bedingungen machte sich der Mangel an exakten Ortsbestimmungen besonders empfindlich bemerkbar, da weder die Fahrtrichtung noch die Schiffsgeschwindigkeit zu bestimmen waren. Immerhin aber verdanken sowohl Grönland als auch Amerika ihre Entdekkung solchen vom Kurs abgekommenen Seefahrern der Wikingerzeit, die erst nach Abklingen des Schlechtwetters ihre Orientierung wiedererlangten. Für den Bereich der Ostsee, der britischen Inseln ebenso wie für die Fahrten rund um die iberische Halbinsel bis hinein ins Mittelmeer dürfte die Orientierung durch Segeln in Küstennähe der Regelfall gewesen sein. Von der berühmten Fahrt Hásteins und Björns nach Rom (bzw. Luna) etwa hören wir, daß sie ab Gibraltar dem Verlauf der spanischen Küste nach Norden zum Rhônedelta, von dort weiter der Küste bis nach Italien gefolgt waren. Auch die Überfahrten von Norwegen und Dänemark zu den britischen Inseln, Irland sowie den Orkneys und Shetlands dürften im weiteren Sinn noch als küstennahe Seefahrt aufgefaßt worden sein. Noch im zweiten 45
Weltkrieg segelten Norweger ohne navigatorische Hilfsmittel in kleinen offenen Booten zu den Shetlands, um für die Alliierten zu kämpfen. Überhaupt dürfte es etwas mit dem spezifisch skandinavischen Weltbild des Mittelalters zu tun haben, daß man den Nordatlantik bis Grönland und Vinland ebenso unbefangen befuhr wie die Ostsee, den Kanal oder das Mittelmeer. Bald nach der Entdeckung (930/40) und Besiedlung (ab 982) Grönlands dürfte sich in Norwegen und Island das Wissen um das Bestehen einer Landbrücke zwischen Bjarmaland (= Permien) am Weißen Meer und Grönland verbreitet haben, deren Existenz und selbst Begehbarkeit auf der Grundlage von Augenzeugenberichten in wissenschaftlichen Texten des 13. Jahrhunderts beschrieben und noch im 17. Jahrhundert auf Landkarten verzeichnet wird. Die Entdeckung der erstmals 1194 in den isländischen Annalen erwähnten Inselgruppe Svalbaröi mag diesem Glauben zusätzliche Nahrung gegeben haben. Eine aus dieser Vorstellung abgeleitete imaginäre „Bucht“ zwischen Norwegen und Grönland, die als Hafsbotn, lateinisch sinus septentrionalis, bezeichnet wurde (Historia Norvegica, um 1220), gab den Skandinaviern wohl das Gefühl, der Nordatlantik sei eine Art nordischer Binnenozean. Gegen Ende des 10. Jahrhunderts wurde dieser Eindruck noch durch die Entdeckung von Helluland, Markland und Vinland (vgl. unten Kap. 4 b) für den äußersten Westen verstärkt, da einer der genannten geographischen Texte des Hochmittelalters dazu vermerkt, daß manche Leute der Ansicht seien, Vinland hänge mit (West-)Afrika zusammen, was einen ziemlich überschaubaren Atlantik ergibt. Unsere Quellen über die wikingerzeitliche Expansion berichten aber nicht nur von den Seereisen, die durch die Schiffe ermöglicht wurden, sie überliefern uns auch zahlreiche poetische Namen und dazu noch über 500 poetische Umschreibungen für Schiffe aus der Skaldendichtung. An ihnen können wir ablesen, welches (Wunsch-)Bild sich die Skandinavier von ihren Schiffen machten. Natürlich finden sich unter den eigentlichen Schiffsnamen zahlreiche funktionelle Bezeichnun46
gen, die mit dem Zweck oder Typ des Fahrzeugs zusammenhingen oder sich auf den Eigentümer bezogen. In christlicher Zeit tragen viele Schiffe die in ganz Europa verbreiteten Heiligennamen. Daneben begegnen aber auch solche Namen, die sich aus den Verzierungen des Schiffskörpers ableiten – so etwa Gullbringa „Goldbrust“ – oder den Vergleich mit einem Tier herstellen, wobei Vögel, Drachen, Schlangen und schnelle Landtiere bevorzugt wurden. So sind außer den schon erwähnten Dreki „Drachen“ und Ormr inn langi „Lange Schlange“ Namen wie Alft „Schwan“, Falki „Falke“ oder Gammr „Greif“ belegt, daneben aber auch Namen, die eindeutig auf die Geschwindigkeit abzielen, wie Fifa „Pfeil“ oder Härknifr „Rasiermesser“. Noch mehr über den mentalitätsgeschichtlichen Platz der Schiffe teilen uns aber die viel zahlreicheren poetischen Umschreibungen (Kenningar) mit, denen auch die Überschrift dieses Kapitels entnommen ist. Diese stark visuell geprägten Vergleiche zeigen das Schiff übrigens nicht nur als schnelles Kriegsschiff, sondern können sich auch auf Lastschiffe, ja sogar auf das Überlandziehen der Schiffe beziehen, wie súðfreyr „Plankenochse“ oder hlunnbjörn „Bär der Rollen“. Die meisten Umschreibungen indes vergleichen das Schiff mit Pferden, Vögeln, Hunden oder Wölfen. Namen wie faxi byrjar „Windpferd“, ulfr elfar „Wolf der Flüsse“ und vargr hafs „Wolf des Meers“ rekurrieren eindeutig nicht nur auf die Nützlichkeit und Unabdingbarkeit, sondern auch auf die Schönheit der Schiffe. Daß man zur Wikingerzeit auch bereit war, in diese Schönheit etwas zu investieren, zeigen die Vergoldungen am Bug, das reiche Schnitzwerk der Stevenbretter, die vergoldeten Standarten und die geschnitzten Drachenund Tierköpfe als Stevenaufsatz ebenso wie die schon erwähnten farbigen und verzierten Segel. Die Wikinger waren stolz auf ihre Schiffe, und sie hatten auch allen Grund, auf diese wesentlichste technische Errungenschaft der Skandinavier im Mittelalter stolz zu sein. Das Wikingerschiff hatte den Skandinaviern unbekannte Horizonte erschlossen und der Welt vor Augen geführt, daß mit den Skandinaviern zu rechnen ist. 47
IV. Plünderer als Siedler, Geächtete als Entdecker, Händler als Staatengründer – Die Stoßrichtungen wikingischer Expansion 1. Plünderer als Siedler: Die skandinavische Expansion nach Südwesten Wenn wir der traditionellen Geschichtsschreibung und ihren mittelalterlichen Vorbildern folgen wollen, dann gebührt der skandinavischen Expansion nach Südwesten in chronologischer Hinsicht der Vorrang. Den ersten Überfall auf ein englisches Kloster im Jahre 793 wertete der Verfasser des AngloSaxon Chronicle (Handschrift D, The Worcester Chronicle, abgeschlossen 1130) als eines von mehreren Vorzeichen (portenta) für den Tod König Offas und Papst Hadrians I. im darauffolgenden Jahr (eigtl. 795): 793 In diesem Jahr erschienen schlimme Vorzeichen über Northumbria und versetzten die Menschen in Schrecken. Sie bestanden aus starken Wirbelwinden und Blitzen, und feuerspeiende Drachen sah man durch die Luft fliegen. Diesen Vorzeichen folgte eine große Hungersnot und ein wenig später im selben Jahr, am 8. Juni, verheerten die Überfälle der Heiden Gottes Kirche in Lindisfarne durch Plünderung und Mord. 794 In diesem Jahr starben Papst Adrian und König 0ffa. Aber schon früher waren offenbar skandinavische Angriffe auf England vorgenommen worden. An anderer Stelle nämlich wird berichtet, daß König Offa von Mercia (gest. 796) bereits im Jahre 792 seine Küstenverteidigung gegen Raubüberfälle verstärkt hatte. Auch die tragische Geschichte von der Erschlagung des königlichen Vogts Beaduheard in Dorchester um 789 durch Norweger aus Hordaland (AngloSaxon Chronicle s. a. 789; Chronicon /Ethelweardi III, 1) belegt, daß es schon früher sowohl Handelsbeziehungen als auch Überfälle gegeben hatte. Folgt man den Chroniken, dann 48
wollte der besagte Vogt die auf drei Schiffen eingelaufenen Norweger – im Text werden sie als Dänen bezeichnet –, die er für Händler hielt, in die Stadt führen, wurde jedoch von ihnen erschlagen. Ob die Norweger wirklich auf Handel aus waren und Beaduheard womöglich im Streit ermordeten oder ob sie sich von vornherein mit räuberischen Absichten an Land begeben hatten, wissen wir allerdings nicht. Im Frankenreich setzten die Überfälle erst später ein. Nachdem es bis 820 vor allem an der friesischen Küste nur vereinzelt zu Plünderungen gekommen war, nahmen die Raubzüge seit 834/5 an Intensität und Frequenz deutlich zu. Was die Zahl dieser Überfälle und ihre einzelnen Ziele betrifft, so weichen die Annalen und Chroniken geringfügig voneinander ab, aber eine Auflistung aller belegten Wikingerüberfälle wäre eine ermüdende Übung. Von ungleich größerem Interesse dürfte dagegen, vor dem Hintergrund der Entwicklungen während der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, die Vorgehensweise der skandinavischen Plünderer sein, wie sie sich sowohl in England und Irland als auch im Frankenreich herauszubilden begann. Im Jahre 834 plünderte eine Flotte von Piraten skandinavischer Herkunft die Stadt Nantes an der Loire; dabei kamen gleichermaßen Kleriker wie Laien ums Leben, und die Eindringlinge raubten alles Wertvolle an privaten Habseligkeiten und Kirchenschätzen. Allerdings dürfte die Versorgung mit Lebensmitteln in der Stadt für das Invasionsheer nicht ausgereicht haben, da es sich dann den ländlichen Gebieten südlich der Loire zuwandte und dort plünderte und brandschatzte. Dann, so die Annales Bertiniani zu diesem Jahr, zogen sie sich auf die Insel (wohl die Île de Noirmoutier, allenfalls auch die Île d’Yeu) zurück, „holten dann vom Festland ihre Häuser und ließen sich dort an festen Wohnsitzen nieder“. Ähnliche Niederlassungen sind für die frühe Wikingerzeit auch auf anderen Inseln in Frankreich und England belegt: Thanet und Sheppey in der Themsemündung, Oissel oder Jeufosse in der Seinemündung, die 11e de Groix in der Bretagne, vor der Camargue an der Rhônemündung, Walcheren in der Scheidemündung, ja selbst die Insel Qubtil (heute Isla Menor) 49
in der Mündung des Guadalquivir war für einige heiße Wochen des Jahres 844 ein Basislager für den Angriff auf Sevilla. Natürlich waren solche Inseln, wie im letzten Fall, ideale Ausgangspunkte für Raubzüge in die Umgebung; daneben gibt es aber noch eine Reihe anderer Faktoren, welche die Insellager so bedeutsam machen. Für Skandinavier, die schon seit der frühen Bronzezeit das Schiff als das natürliche Verkehrsmittel und somit die Wasserstraßen als die eigentlichen Kommunikationswege betrachteten, war es naheliegend und wohl auch notwendig, sich gerade dort niederzulassen, wo eine wasserreiche Umgebung maximale Bewegungsfreiheit gewährte, und zwar sowohl als Basis für Angriffe als auch für eventuelle Rückzüge. Hinzu tritt ein psychologisches Element: Der von der Insel aus nach allen Himmelsrichtungen hin gut überschaubare Horizont versprach für die Anlage einer Siedlung offenbar größere Sicherheit als ein Küstenort mit einem unbekannten und auf jeden Fall ungedeckten Hinterland. Schließlich und endlich waren die großen Flüsse wichtige Handelswege und die Möglichkeiten für Piraterie in kleinerem Maßstabe durch das Abfangen von Handels- oder Transportschiffen natürlich ausgezeichnet, was eine zweifellos notwendige Maßnahme für das Überwintern auch kleinerer Heeresteile auf solchen Inseln war. Die Inseln in der Fremde waren aber wohl mehr als nur Teil eines taktischen Konzepts; Inseln übten auf die von Inseln in Norwegen und Dänemark stammenden Wikinger schon seit der Frühzeit ihrer Raubzüge eine geradezu magische Anziehungskraft aus. Die ersten Überfälle in England (Lindisfarne) und Irland (Inismurray and Inisbofin) richteten sich gegen Inselklöster, auch die immer wieder geplünderte Handelsstadt Dorestad war auf einer Insel gelegen. Die Insel Man wurde zu einem der Hauptstützpunkte der Wikinger in Westengland und Irland, und überhaupt ziehen sich Lager auf Inseln wie ein roter Faden durch die Annalen. 863 gelangen die Wikinger auf dem Rhein bis zu einer Insel vor Neuss, wo sie allerdings von König Lothar blockiert werden, bis sie geraume Zeit später und sogar ohne Verluste wieder abziehen. Beim 50
ersten Angriff auf Paris im Jahre 845 werden die Truppen Karls des Kahlen auf einer Seite der Seine aufgerieben, während die Wikinger 111 Gefangene vor den Augen der hilflosen Franken auf der Seineinsel hängen. Die verschiedenen Winterlager auf französischen Inseln zwischen 835 und 859 wurden bereits genannt. Auch in späterer Zeit bilden Inseln ein zentrales Thema in der wikingischen Geschichte: Als die Wikinger 991 bei Maldon, wie 857 schon Björn Eisenseite auf Oissel und Rorik 863 bei Neuss, von einem einheimischen Heer auf einer Insel gestellt werden, werfen sie in Verhandlungen mit der gegnerischen Seite ein, daß ein fairer Kampf so nicht möglich sei. Fairer-, wenngleich unklugerweise gewährt ihnen der englische Anführer, ein ealdorman Brihtnoth, freies Geleit bis ans Ufer, worauf er und seine Truppe von den Wikingern ausradiert werden. Geradezu zur fixen Idee entwickelte sich das Streben nach freiem Zugang zu einer Insel, als Paris 885/7 über 12 Monate lang von den Wikingern belagert wurde, um freie Fahrt Seineaufwärts zu erzwingen. Selbst nachdem die Dänen schließlich die Brücken eingerissen hatten, war der Kampf noch nicht zu Ende: zu sehr war offensichtlich die französische Stadt auf der Seineinsel ein Symbol dafür, daß die falsche Seite im Besitz einer Insel war! Die Möglichkeit, Inseln als Stützpunkte und schließlich als nahezu permanente Winterlager zu nutzen, hat allerdings auch mit einer spezifischen Konstruktionseigenschaft der skandinavischen Schiffe zu tun, die ihres flachen Kiels halber nicht ausschließlich auf natürliche und künstliche Häfen angewiesen waren. Diese Unabhängigkeit von Häfen war also nicht nur ein entscheidender Faktor in der wikingischen Taktik des Überraschungsangriffs in Küstenregionen, sondern bildete zusätzlich eine wichtige Voraussetzung für die Anfänge der wikingischen Kolonisation. Ursprünglich waren alle Plünderfahrten ein sommerlicher Nebenerwerb, wie Jones es so ansprechend formulierte: Víking was seasonal employment: the winter did not lend itself so well to war and travel, whether by sea or land. So 51
a man went home with his earnings to his parents, wife, and children, and if he was a bondi or a bondi’s son saw to the roof, scratched the boar’s back, whittled a toy sword, begat a new baby, and waited on the next call to service. But to stay abroad for the winter, as now in France and in 850 for the first time in England, gave víking a new emphasis. If one winter, why not two, and if two why not three? The winters were warmer down south, the seas never froze, the land was good, and was there to be taken. Why go back home at all? (Jones 1973, 211 f.) Tatsächlich bildeten die Überwinterungen auf Noirmoutier und auf den Themseinseln Thanet und Sheppey einen Wendepunkt der Wikingerzeit, selbst wenn sich die Skandinavier spätestens seit 820 in Irland niedergelassen hatten und dort immer neue Versuche zur Etablierung eines skandinavischen Königreiches um Dublin unternahmen. In Frankreich und England markieren die Überwinterungen den allmählichen Übergang von den Plünderfahrten zum Eroberungskrieg, und vom Eroberungskrieg zu permanenter Siedlung. Aus diesen Eroberungszügen gingen insgesamt drei skandinavische Reiche hervor: das irische um Dublin, das englische Danelag, und, am erfolgreichsten und dauerhaftesten, das normannische Herzogtum Normandie. Irland In Irland wird der erste belegbare Überfall auf Lambey (nördl. von Dublin) ins Jahr 795 datiert, als auch die Inselklöster Inismurray und Inisbofin vor Nordwestirland geplündert wurden. Spätestens 813 wird der äußerste Südwesten der Insel von Wikingern heimgesucht. Im Jahr 840 wird Irland von einem gewissen Turgeis (Turgesius = Thorgeir?) überfallen, der sich einen Bürgerkrieg in Ulster zunutze macht, um das religiöse und weltliche Zentrum Armagh im Norden der Insel zu erobern. Angeblich soll er dort heidnische Opfer dargebracht haben (jedenfalls laut Cogadh Gaedbel re Gallaibh, um 1100). Turgeis errichtet eine Art von skandinavischer Herr52
schaft in Nord- und Ostirland, wird aber 845 durch den König von Meath gefangengenommen und ertränkt. Um 850 landet in Irland eine dänische Flotte, die ein Jahr später die norwegische Befestigung in Dublin erobert. Der für die Geschichte Irlands so charakteristische Kampf zwischen Norwegern und Dänen setzt sich 853 fort, als eine neue norwegische Flotte unter dem Kommando des Königssohnes Olaf (auch wenn nicht der häufig damit identifizierte Olaf der Weiße) und seines Bruders Ivar (ebenfalls kaum Ivar der Knochenlose der dänischen Sage) eintrifft und nun ihrerseits die Dänen aus Dublin vertreibt. Olaf regiert jedenfalls für einige Zeit in Irland, kehrt dann aber nach Norwegen zurück, während Ivar als Statthalter auf der grünen Insel verbleibt. Ab 856/7 finden wir Olaf wieder in Irland, bis er 871 abermals nach Norwegen zurückfährt und dort schließlich in einer Schlacht fällt. In der Folge avanciert Ivar zum „rex Nordmannorum totius Hiberniae et Britanniae“, also zum König aller Skandinavier in Irland und Nordwest-England und wohl auch der Isle of Man, in jenen Gebieten also, die zu jener Zeit noch dem Königreich Dublin zugerechnet wurden. Vom ständig schwelenden Streit zwischen dem dänischen Königreich von Deira in Northumbria und der norwegischen Herrschaft in Dublin profitierend, gelang es dem irischen König von Leinster, Cearb hall, im Jahre 902, die Stadt Dublin einzunehmen. Erst 921 konnte der Däne Sigtrygg Dublin zurückerobern und König Njall erschlagen. Die folgenden Jahrzehnte bis 980 waren in Irland hauptsächlich durch die unkoordinierten Plünderungszüge kleinerer Flotten einerseits, aber auch durch eine gewisse Stabilität des wikingischen Königreichs Dublin andererseits gekennzeichnet, das zwischen ca. 950 und 980 von Olaf Sigtryggson regiert wurde. 980 jedoch verlor das wikingische Reich von Dublin in der Schlacht von Tara endgültig seine Unabhängigkeit an den König von Meath, Mäel Sechnaill II, und in der berühmten Schlacht von Clontarf 1016 traten die Wikinger zwar noch als Akteure in Erscheinung, standen aber entweder in Diensten des siegreichen Königs Brian von Munster, der aber ums Leben kam, oder aber in größerer 53
Zahl auf Seiten des Heeres von Leinster. Vergeblich hatten die hier kämpfenden Wikinger aus Norwegen, der Insel Man und den Orkney-Inseln gehofft, bei einem Sieg wieder Fuß in Irland fassen zu können. Bis Dublin 1070 von den Engländern und Normannen erobert wurde, blieben die Wikinger eine wohlintegrierte, aber politisch zweitrangige Bevölkerungsgruppe in Irland. Schottland und Isle of Man Obwohl die Hebriden ebenso wie die Orkneys und Shetlands in erster Linie Ziel der atlantischen Besiedlung seitens der Norweger waren, zeigen die Überfälle auf die winzige Klosterinsel Iona in den Jahren 795, 802 und 806 – 807 wurde das Kloster in das irische Keils verlegt –, daß auch die westschottischen Inseln vorerst wie die ganzen britischen Inseln den Plünderungen skandinavischer, hier besonders aber norwegischer Wikinger ausgesetzt waren. Auf der Insel Uist finden sich sogar archäologische Belege für einen gewaltsamen Konflikt, andere Inseln dagegen haben in ihren Ortsnamen die Erinnerung an die Eroberungszüge der Wikinger bewahrt: alle Buchten und fruchtbaren Küstenlagen tragen seither skandinavische Namen, während die älteren keltischen Namen auf das Innen- und Hochland der Inseln beschränkt sind, woraus sich unschwer das Schicksal der vorwikingischen keltischen Bevölkerung ablesen läßt. Besonders zahlreich war die skandinavische Bevölkerung auf den Hebriden und in Caithness – dem äußersten nordöstlichen Zipfel von Schottland – allerdings nicht, da sie sich auf die Küstenzonen beschränkte: ein weiterer Beleg für die Tatsache, daß die wikingerzeitlichen Skandinavier auch hier nicht Land um jeden Preis suchten, sondern nur Land unter besseren oder allenfalls gleichwertigen Bedingungen wie in der Heimat zu besiedeln gedachten. Für die Isle of Man existieren vor einer im 13. Jahrhundert verfaßten lateinischen Chronik, die allerdings erst mit dem Jahr 1066 anhebt, keine schriftlichen Quellen. Skandinavische Gräber aus dem späten 8. Jahrhundert weisen aber darauf hin, daß die wikingischen Plünderungen etwa zeitgleich mit 54
denen in Schottland, England und Irland einsetzten. Die Isle of Man wurde wie keine andere Insel südlich der Orkneys vollständig skandinavisiert: praktisch alle Ortsnamen sind skandinavischer Herkunft. Die Insel weist darüber hinaus eine große Anzahl skandinavischer Gräber auf, und die berühmten Steinkreuze aus dem 10. Jahrhundert verraten auch, daß die schon relativ früh – also Mitte des 10. Jahrhunderts – christianisierte wikingische Bevölkerung Mans christliche und skandinavische Kunstelemente elegant zu verbinden wußte. England Auch in England ist die Zeit von den ersten Überfällen vor 793 an durch reine Beutezüge gekennzeichnet, bis 850-865 mit den Überwinterungen, zunächst auf Thanet, dann auf Sheppey, eine neue Phase der wikingischen Eroberungen in England begann. Seit dieser Zeit scheinen sich immer wieder kleinere Wikingergruppen zu einem größeren Heer vereinigt zu haben, jenem midi here der angelsächsischen Quellen, das etwa zwischen 865 und 892 die zweite Phase der skandinavischen Landnahme in England durch innerenglische Heerzüge, Friedensschlüsse mit den englischen Königreichen und Kolonisation kennzeichnet. Da die englischen Gesetze jede Gruppe über 35 Mann als here bezeichneten, dürfte auch das midi here kaum jemals 2-3000 Mann überstiegen haben. Schon 866 wurde York in Northumbria erobert; nach 870 aber konzentrierten sich die Züge des midi here auf Wessex. In den Jahren 872^ wurde Mercia erobert, doch nach dem Winterlager in Repton (873-4) teilte sich das große Heer. Während die eine Abteilung 875-6 ganz Northumbria unterwarf und unter den Gefolgsleuten ihres Anführers Halfdan aufteilte, eroberte die andere Heeresgruppe unter den Häuptlingen Guthrum, Oscetel und Anwend bis 877 die letzten Reste von Wessex und Mercia vollständig und teilte auch dort das Land unter den Wikingern auf. Zwar verlor Guthrum 878 eine Schlacht gegen den geflohenen König Alfred von Wessex und mußte sich taufen lassen, doch wurden einer überlieferten Vereinbarung zufolge die Gebiete im Jahre 886 endgültig zwischen Alfred 55
Karte 1: Die englischen Königreiche zum Beginn der Wikingerzeit um 800 und die Grenze des Danelags um 900.
im Südwesten und den Skandinaviern im Nordosten aufgeteilt (siehe Karte 1). Eine zweite große, dänische Armee begann 892/3 Süd- und Westengland heimzusuchen, doch scheiterte sie am militä56
rischen Geschick König Alfreds und löste sich im Jahre 896 auf. Als Alfred der Große 899 schließlich starb, hatte er nicht nur der wikingischen Expansion Einhalt geboten, sondern auch damit begonnen, die Grenze zum Danelag durch eine Kette von Verteidigungsanlagen, den sogenannten burhs, zu sichern. Die vierte Phase der Wikingerzeit in England, die Rückeroberung des Danelags, begann im Jahre 902 unter Alfreds Sohn Edward und war 918 weitgehend abgeschlosssen; 920 schließlich wurde Edward als König Northumbrias anerkannt. Allerdings wechselte in Northumbria die Krone noch wiederholt zwischen skandinavischen und englischen Königen, bis 954 der vorläufig letzte Wikingerkönig, Erik Blutaxt, verbannt wurde und kurz darauf in der Schlacht von Stainmoor ums Leben kam. Die nun folgende Phase neuerlicher Wikingerangriffe gegen England richtete sich nicht in erster Linie gegen die skandinavisch besiedelten Gebiete des Danelag, sondern vorrangig gegen Wales und die englische Westküste. Ab 980 nahm die Intensität dieser Überfälle zu. Spätestens seit 992 wird jedoch deutlich, so beispielsweise in der Schlacht von Maldon (Anglo-Saxon Chronicle, s. a. 992; Battle of Maldon, fragmentarisch, bald nach der Schlacht verfaßt), deren siegreicher wikingischer Protagonist Olaf wohl mit Olaf Tryggvason identisch ist, daß es sich bei diesen Zügen nunmehr um ganz gezielte, konzertierte Eroberungszüge des Norwegers Olaf Tryggvason und des Dänenkönigs Svein Gabelbart handelte, die mit der Verdrossenheit der Engländer mit ihrem König Ethelred the Unready („dem Unberatenen“) spekulierten. Doch nach einer Zahlung von 22 000 Pfund Silber im Jahre 992 und 16000 Pfund Silber im Jahre 994 löste sich die Allianz der beiden skandinavischen Könige auf, und Olaf kehrte endgültig nach Norwegen zurück. Wessex jedoch wird auch in den Folgejahren von der dänischen Flotte heimgesucht und verheert. So findet sich Ethelred schließlich im Jahre 1001 zur Entrichtung von 24000 Pfund Silber als Danegild bereit. Als der schlecht beratene König aber im darauffolgenden Jahr ein Massaker unter den alteingesessenen Skan57
dinaviern provoziert, nutzte dies König Svein Gabelbart in den Jahren 1003-5 und 1006-7 zu massiven Vergeltungsfeldzügen, bis er von Ethelred 36000 Pfund Silber als Preis für den Frieden bekam. Zwischen 1009 und 1012 folgt ein neuerlicher dänischer Ansturm, der 1012 in einem Rekordlösegeld von 48 000 Pfund Silber gipfelt und England reif für die Annahme eines dänischen Königs macht. Weihnachten 1013 wird Svein Gabelbart nach einem relativ kurzen Zug durch ganz England in der Tat König des besiegten Reiches, stirbt aber schon am 3. Februar 1014. Es bleibt seinem Sohn Knut vergönnt, England nach Ethelreds Tod (1015) nunmehr vollständig zu unterwerfen. Nachdem 1018/9 Knuts Bruder Harald, der nach Sveins Tod König von Dänemark geworden war, ebenfalls verstarb, gelangte er auch in den Besitz der dänischen Krone. Im Jahre 1028 wird ihm schließlich sogar das Königreich Norwegen zuteil. Knut der Große war damit rex totius Angliae et Dennemarchiae et Norregiae et partis Suavorum und wohl der mächtigste skandinavische König in der Geschichte. Nach seinem Tod (am 12. Nov. 1033) wurde Knut wie ein Heiliger verehrt, hatte er sich zeit seines Lebens doch nicht nur als ein kluger Politiker und weiser Gesetzgeber, sondern auch als Förderer der Kirche erwiesen. Knut hinterließ zwar drei Söhne, die allerdings innerhalb von nur neun Jahren allesamt verstarben. So wurde nach Harald Hasenfuß’ Tod Edward, Sohn Ethelreds, zum englischen König ausgerufen. Zwar wurde noch am 6. Januar 1066 nach Edwards Tod mit Harald Godwinsson ein Skandinavier König von England, aber obwohl es ihm bei Stamford Bridge gelang, die Ansprüche des norwegischen Königs Haralds des Harten auf England endgültig abzuwehren, fiel er selbst bei Hastings gegen die normannische Invasionsarmee im Oktober desselben Jahres. Damit hörte England auf, in politischer Hinsicht ein skandinavisches Königreich zu sein. Die Ortsnamen, weniger intensiv die Personennamen und sprachlichen Reste im Dialekt von Yorkshire, legen aber noch heute Zeugnis ab von der einstigen Ausdehnung des Danelags vor über 1000 Jahren. 58
Frankenreich Auch auf dem europäischen Festland kam es bereits Ende des 8. Jahrhunderts zu den ersten Überfällen durch Wikinger. Noch in der Zeit nach dem Tode Karls des Großen 814 aber blieb es bis etwa 840 trotz zunehmender Aktivitäten der skandinavischen Seeräuber im wesentlichen bei isolierten Angriffen auf Friesland und Nordfrankreich. Friesland wird bis 820 erst nur vereinzelt, ab 834/5 jedoch immer massierter von Angriffen heimgesucht. 834 wird Dorestad, obwohl durch Wasser, Palisaden und eine karolingische Burg geschützt, geschliffen und auch während der folgenden Jahre immer wieder attackiert, bis 864 Sturmfluten die ganze Gegend unter Wasser setzen und den Flußlauf des Rheins verändern. Das zwar weiter entfernte, aber reiche und von großen Flüssen durchzogene Nord- und Westfrankreich bot aber noch ein viel besseres Ziel für die Raubzüge der Skandinavier. Ab 842 dürfte es hier bereits zu Überwinterungen gekommen sein. Die politische Schwäche des Frankenreiches, insbesondere nach der Absetzung Ludwigs des Frommen durch seine Söhne im Jahre 833, schuf günstige Voraussetzungen für die Wikingereinfälle, und ab 841 operierten üblicherweise mindestens zwei Wikingerflotten in Frankreich, eine auf der Seine, die andere auf der Loire. Im Jahr 845 wurde Paris das erste Mal geplündert, und Karl der Kahle zahlte dem Wikingerführer Ragnar noch dazu 7000 Pfund Silber, damit er die Seine verließ. Die Plünderungen setzten sich über das ganze Jahrhundert hinweg fort, ohne daß die Skandinavier aber größere Siedlungen anlegten, abgesehen von einigen Basislagern auf den der Küste vorgelagerten Inseln. Nach dem Tode Karls des Kahlen im Jahre 877 nahmen die Wikingerüberfälle sogar noch zu, und auch Karl der Dicke (reg. 885-888) versuchte sich der Plünderungen durch immer neue, wenn am Ende auch wirkungslose Zahlungen von Danegeld zu erwehren. Als er nach fast einjähriger Belagerung die Stadt Paris nur mit Hilfe eines Lösegeldes entsetzen konnte, wurde Karl von den Franken abgesetzt. Odo von Neustrien und Arnulf von Austrien scheinen die Abwehr der Wikinger erstmals effizienter gestaltet zu ha59
ben, denn ab 900 werden von den Chronisten kaum noch Aktivitäten wikingischer Heere erwähnt. Mag sein, daß die Landesverteidigung dadurch verbessert wurde, daß Otto, vielleicht auch erst Karl der Einfältige (reg. 897-923), sie in die Hände dienstwilliger Wikinger legte. Denn 911 hören wir davon, daß dem Wikinger Rollo Teile der Normandie für seine Leistungen bei der Abwehr der Feinde zugesprochen wurden. Noch im darauffolgenden Jahr ließ sich Rollo taufen, eroberte bis 933 die gesamte Normandie und errichtete dort eine Herrschaft, die zu Anfang des 10. Jahrhunderts (1006?) durch die Verleihung der Herzogswürde an seinen Enkel Richard II. dauerhaften Bestand gewinnen sollte. Demgegenüber hatte die Eroberung der Bretagne seit 914 nur bis zum Jahre 936 Bestand. Mit der Entstehung der Grafschaft Normandie, dem nachmaligen Herzogtum, ging auch die Wikingerzeit in Frankreich zu Ende. Die Reichsbestrebungen, wie sie die Skandinavier unter Knut zu Beginn des 10. Jahrhunderts in England verfolgten, suchten die Normannen, zwar schon deutlich romanisiert, aber noch immer mit wikingischem Tatendrang, nun auch in Süditalien und auf Sizilien zu verwirklichen. Hier, an den Gestaden des Mittelmeeres, sollte bis zum 12. Jahrhundert nach Knuts eher kurzlebigem Großreich im Norden der größte normannische Herrschaftsraum entstehen. Die Eroberung Englands durch den Normannen Wilhelm 1066 (1070 durch die Unterwerfung Irlands abgeschlossen) zeigt zumindest im Rückblick, daß die Belehnung Rollos durch Karl den Einfältigen und die daraus folgende ethnische Verbindung der Skandinavier mit den Westfranken politisch gesehen der wohl folgenschwerste Schritt der Wikingerzeit war. Überdies hat sich gezeigt, daß es nicht die Inseln waren, auf denen die Wikinger ihre nachhaltigsten Erfolge erzielen konnten. Erst dort, wo sie sich von den Inseln lösten und das untereinander aufgeteilte Land zu bewirtschaften begannen, wie etwa ab 876 in Northumbria oder nach 911 in der Normandie, konnte so etwas wie ein wenigstens semipermanentes politisches Gebilde entstehen. Die Inseln waren die Stärke der 60
Plünderer, das Ackerland hingegen die Stärke der Staatengründer. 2. Geächtete als Entdecker: Die wikingische Expansion nach Nordwesten Die nordatlantischen Inselgruppen Bereits im frühen 9. Jahrhundert dürften die Färöer, die dem skandinavischen Festland nächstgelegene atlantische Inselgruppe, besiedelt worden sein, wenn die im 13. Jahrhundert verfaßte Fasreyinga saga auch erst ab ca. 900, also unter der Regierung Harald Schönhaars, von norwegischen Siedlern berichtet. Lange zuvor jedoch hatten schon irische Mönche die Abgeschiedenheit dieser Inselgruppen zu schätzen gewußt, und Alkuin schreibt um 825, daß sich bereits Jahre zuvor Iren auf den „Schafsinseln“ niedergelassen hätten. Die aus der Wikingerzeit überlieferten Namen auf den Färöer sind in der Tat teilweise keltisch, doch dürfte dies weniger über die irischen Mönche als vielmehr über den Weg aussagen, den die skandinavischen Siedler nahmen. Für die Shetlands und Orkneys dürfte die Chronologie der Ereignisse ähnlich anzusetzen sein. Allerdings berichtet die lateinische Historia Norvegiae, daß die Orkneys nicht auf friedlichem Wege besiedelt, sondern im Kampf mit der Urbevölkerung erobert worden seien. Ob diese ältere Stammbevölkerung nun piktisch oder keltisch war, darüber läßt sich nur spekulieren. Weniger friedlich ging die wikingerzeitliche Landnahme auch auf den Hebriden und in Westschottland vor sich. An den Ortsnamen kann man noch heute ablesen, wie die ansässige keltische Bevölkerung in das unwirtlichere Hinterland und Hochland zurückgedrängt wurde, während die geschützten Buchten und fruchtbaren Küstenstreifen von den Skandinaviern in Besitz genommen wurden. Trotzdem scheint es auf den Hebriden zu einer Vermischung zwischen der einheimischkeltischen Bevölkerung und den Zuwanderern gekommen zu sein. Diese Vermischung ist sicherlich mit ein Grund dafür, daß auf den Orkneys und dann auch auf Island ein 61
Karte 2: Die wikingische Expansion im Nordatlantik
nicht unbeträchtliches, keltisches ethnisches Element zu finden ist, das in der mittelalterlichen Historiographie zwar kaum jemals angesprochen wird, aber namenskundlich deutlich greifbar bleibt. Auch die ab Ende des 8. Jahrhunderts gegen Irland geführten Raubzüge müssen schon durch die Beute an Sklaven keltisches Blut auf die neubesiedelten Gebiete in der Nordsee gebracht haben. 62
Island Am offensichtlichsten ist diese ethnische Durchmischung in Island, wo uns die mittelalterlichen Quellen allerdings nur selten von Kelten unter den Siedlern berichten. Das mag nicht zuletzt daran gelegen haben, daß sie ja als Sklaven ins Land gekommen waren und sozial damit keine literaturfähige Rolle spielten. Die frühe isländische Historiographie schildert die Besiedlung der Insel ausschließlich als norwegische Auswanderungsbewegung, die ab 870, z. T. auch über die Färöer, die Shetlands oder Orkneys erfolgte. Als angeblicher Grund für diese Auswanderung werden wiederholt die Reichseinigungsbestrebungen Harald Schönhaars in den Jahrzehnten vor 900 ins Feld geführt. Diese hätten zur Folge gehabt, daß einerseits die freiheitsliebenden Männer lieber das Land verlassen wollten, als sich der Macht eines Königs zu beugen, während andererseits viele seiner Gegner, die in den Kämpfen gegen Harald unterlegen waren, geächtet wurden und ihren Besitz verloren, wenn sie nicht bereit waren, sich ihm zu unterwerfen. Viele unter denen, die vor Harald die Flucht ergriffen, setzten sich auf die nordatlantischen Inselgruppen oder eben nach Island ab, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen. Folgt man der isländischen Historiographie des Mittelalters, dann wäre Island zwischen 850 und 860 zuerst von einem zu den Hebriden segelnden norwegischen Wikinger namens Naddoör entdeckt worden. Andere Quellen sprechen hingegen von einem Schweden, Garðar Svavarson, oder von einem Norweger mit Namen Floki Vilgerðarson (alle drei Namen erscheinen in verschiedenen Fassungen der Landnámabók). Die um 1125 entstandene Íslendingabók des Ari Thorgilsson erwähnt jedoch keinen der drei, sondern schreibt die Entdekkung – gemeint ist aber wohl eher die früheste Besiedlung – dem Norweger Ingolfr Arnarson um oder bald nach 870 zu. Genauer müßte man selbst bei diesem historischen Ansatz von einer Wiederentdeckung sprechen, zumal die Isländer wußten, daß schon geraume Zeit vor ihnen irische Mönche auf Island ein Einsiedlerleben geführt hatten. Der Name der Papeyar (Inseln der Papar, Mönche) im Südosten Islands weist noch auf diese 63
Mönche hin (Pálsson 1997). Die kargen Angaben der Íslendingabók werden in der Landnámabók und später in zahlreichen Sagas immer wieder aufgegriffen und variiert, gewinnen aber dadurch nur für den Wikingermythos an Bedeutung, nicht aber für die tatsächliche Besiedlungsgeschichte Islands. Jüngste archäologische Ausgrabungen scheinen nämlich darauf hinzudeuten, daß die skandinavische Besiedlung zumindest in Herjólfsdalur auf Heimaey, der größten der Vestmannaeyjar im Südwesten Islands, womöglich schon ein Jahrhundert vor der offiziellen Entdeckung begonnen haben könnte (Margret Hermannsdóttir 1989; dagegen Adolf Friðriksson 1994). Mit der 930 erfolgten Gründung des Althing, einer gesetzgebenden und -sprechenden Versammlung, gilt die Besiedlung Islands als abgeschlossen. Als Gesetz akzeptierte man das sogenannte Gesetz des Úlfljótr, der im Auftrag des Althing nach Norwegen gereist war und von dort eine Adaption des Gulathing-Gesetzes mitgebracht hatte. Das Althing bestand im Prinzip aus der Versammlung aller freien Männer. Ihm oblagen die Gesetzgebung und Rechtsprechung. Die eigentliche Macht aber lag in der Hand von 36 (ab 965: 39, ab 1005 noch einigen weiteren) Goden, die in ihren Distrikten Macht und Reichtum repräsentierten, sodaß man für das Island der Freistaatzeit (also bis 1262/4) eher von einer Oligarchie als von einer Republik sprechen kann. Nach einer Reihe erfolgloser Missionierungsversuche seit den 80er Jahren des 10. Jahrhunderts kam es um das Jahr 1000 (oder 999) anläßlich des Althings zu einer Konfrontation zwischen Christen und Heiden, welche durch die freiwillige Annahme des Christentums durch den heidnischen Gesetzessprecher Thorgeir beendet wurde. Um ihnen die Annahme des neuen Bekenntnisses zu erleichtern, gestand man den Bekehrten in den ersten Jahren das Festhalten an einigen überlieferten Bräuchen und Gewohnheiten zu. Hierzu gehörte die Kindesaussetzung ebenso wie der Genuß von Pferdefleisch und die Erlaubnis, im privaten Rahmen auch weiterhin heidnische Opfer veranstalten zu dürfen (Íslendingabók, Kap. 7). Außerdem konnten sich die Isländer in warmem Wasser tau64
fen lassen, zur Zeit der völligen submersio beim Taufritus keine geringe Annehmlichkeit. Island war damit nach Dänemark das zweite, vollständig und offiziell christianisierte skandinavische Land. Island hatte ziemlich genau im chronologischen Rahmen der Wikingerzeit die Wandlung von einer dünnbesiedelten, gesetzlosen Wildnis zu einem mittelalterlichen, christlich organisierten und intensiv mit der eigenen Geschichte beschäftigten Staat durchgemacht. Daß die isländische Historiographie aber überhaupt erst gegen Ende des 11. Jahrhunderts einsetzte, und daß die lateinische dann bald von einer volkssprachlichen Geschichtsschreibung verdrängt wurde, die sich in erster Linie auf mündliche Augenzeugenberichte und orale Traditionen über mehrere Generationen berufen muß, macht die altisländische Literatur besonders anfällig für ein bereits frühes Einsetzen des Wikingermythos. Dem stand für die Wikingerzeit allenfalls die Hagiographie entgegen, die sich aber als ein noch weniger verläßliches Medium der Überlieferung erweist. Gerade die mittelalterliche isländische Literatur hat demnach mit ihrer einseitigen Glorifizierung der freistaatlichen Verhältnisse während der Wikingerzeit bzw. der noch weiter zurückliegenden norwegischen Vorfahren einer Verbreitung des Wikingermythos Vorschub geleistet. Später, in der Neuzeit, hat dann die irreführende Verwendung der altisländischen Literatur als historischer Quelle nachhaltig auf das Bild von der Wikingerzeit eingewirkt. Grönland Im Gegensatz zu Island – das Naddoðr ursprünglich als Snaeland „Schneeland“, der zweite angebliche Entdecker Garðar etwas unbescheiden als Garðarsholm „Insel des Garðar“ und schließlich Floki recht zutreffend als Island benannt hatten – hatte der Norweger Eirík der Rote, als er Grönland entdeckte, die Insel bewußt mit dem attraktiven Namen „Grün-Land“ belegt, um die Emigration dorthin zu fördern. Eirík war offenbar ein notorischer Totschläger, der zuerst in Norwegen und dann zweimal auch in Island geächtet wurde, und mußte Island 982 verlassen, als der Boden für ihn 65
zu heiß wurde. Da er auch in Norwegen geächtet war, und Irland nach der verlorenen Schlacht von Tara wohl kein sonderlich attraktives Ziel für Skandinavier war, wandte sich Eirík nach Westen, wo etwa 50 Jahre zuvor ein vom Sturm abgetriebener Norweger namens Gunnbjörn Ulf-Krakason Land gesichtet haben wollte, und fand Grönland in der angegebenen Richtung. Drei Sommer lang erkundete er die Gegend, die man später als Ostsiedlung bezeichnen sollte, etwas nordwestlich der grönländischen Südspitze, kehrte dann nach Island zurück und berichtete von seinen Entdeckungen. 986 brach er mit 25 Schiffen nach Grönland auf, von denen angeblich nur 14 sicher die Ostsiedlung – oder zumindest den vereinbarten Treffpunkt – erreichten. Eirík errichtete in Brattahlið am Eiríksfjorð (heute: Qagssiarssuk unweit von Julianehäb) einen Hof. Etwa 10 Jahre später scheint die besiedelbare Fläche offenbar erschöpft gewesen zu sein, so daß man neue Siedlungsflächen suchte und fand, und zwar weiter nordnordwestlich, wo man die sogenannte Westsiedlung (heute um Godthåb) gründete. Insgesamt dürfte die skandinavische Bevölkerung Grönlands kaum 3000 Personen überschritten haben, wobei die Ostsiedlung aus etwa 190, die Westsiedlung aus lediglich 90 Höfen bestand. Nach der Christianisierung Islands ging man auch in Grönland daran, Kirchen und Klöster zu errichten. Bis ins 13. und 14. Jahrhundert entstanden in der Westsiedlung vier, in der Ostsiedlung sogar 12 Kirchen, in Garöar (heute Igaliko) wurden eine Kathedrale sowie je ein Männer- und ein Frauenkloster erbaut. Bei Erkundungsfahrten entlang der Westküste Grönlands stießen die Siedler weit nach Norden vor, wie ein 1824 entdeckter Runenstein knapp unter 73° nördlicher Breite bestätigt. Auf dem Weg dorthin lagen die norðrsetr („Nord-Almen“), wo die Grönländer Jagd und Fischfang zur Aufbesserung ihrer täglichen Nahrung betrieben. Daß der so bezeichnete Küstenstreifen tatsächlich als setr („Alm“) im engeren Sinn, also als Sommerweide, genutzt wurde, ist allerdings nicht gesichert und angesichts der großen Entfernung von der Westsiedlung (700-900 km) wohl auch unwahrscheinlich. Wie der altnordi66
sehe Königsspiegel aus dem 13. Jahrhundert berichtet, unternahmen die Grönländer auch Expeditionen aufs Inlandeis, um mögliche bewohnbare Gegenden zu finden, aber vergeblich. Nicht von ungefähr bezeichneten sie daher das Innere Grönlands und die Ostküste als óbyggðir (Einöden, unbewohnbares Land), und das, obwohl Grönland bis ins 17. Jahrhundert als Teil Nordeuropas aufgefaßt wurde, der durch eine Landbrücke mit dem Kontinent verbunden sei, wie noch eine Karte Bischof Sigurður Stefánssons aus dem späten 16. Jahrhundert zeigt. Der Königsspiegel will sogar glauben machen, daß man in Grönland auf Rentiere mit norwegischen Ohrmarken getroffen sei. Eine geographische Handschrift enthält die Nachricht, daß ein Mann namens Geitar-Hallr von Grönland mit einer Ziege, von deren Milch er sich ernährt habe, bis nach Norwegen gewandert sei. Dies ist auch das geographische Bild der wissenschaftlichen geographischen Literatur in Island und Norwegen im 12. und 13. Jahrhundert, aber ansonsten sind unsere literarischen Quellen für die Besiedlung Grönlands wenig verläßlich und können glücklicherweise durch die archäologischen Untersuchungen der Siedlung korrigiert werden. Die Existenz einer jährlichen Verbindung nach Grönland durch ein Schiff des Bergenser Bischofs ist bis ca. 1369 bezeugt. Die Westsiedlung wird 1342 das letzte Mal erwähnt, 1377 erhält die Ostsiedlung ihren letzten Bischof, Mitte des 16. Jahrhunderts lebten keine Skandinavier mehr auf Grönland. Der Grund des Aussterbens dieser wikingerzeitlichen Kolonie dürfte wohl in Faktoren wie Klimaverschlechterung, Krankheit und Inzucht zu suchen sein. Die isländischen Annalen hingegen schrieben den Untergang der Kolonie den Angriffen der skrælingar – der Eskimos – zu und strickten auf diese Weise weiter am späteren Wikingermythos. Helluland, Markland, Vinland Wie schon bei Island und Grönland, so geht auch die erste Sichtung des amerikanischen Kontinents durch mittelalterliche Europäer auf einen Zufall zurück. Laut Grænlendinga saga segelte ein Isländer namens Bjarni Herjolfsson nach 67
Grönland, wurde aber durch einen Sturm nach Südwesten abgedrängt, wobei er auf dem Rückweg nach Grönland noch zweimal Land im Westen sichtete, bevor er drei Tage nach der letzten Landsicht wieder Grönland erreichte. Das Geschilderte muß sich bald nach 986 zugetragen haben, doch sollten noch 15 Jahre verstreichen, bevor die Beschreibung der bewaldeten, flachen Küste Anlaß zu einer systematischen Erkundung gab. Leif Eiríksson (Sohn Eiríks des Roten) kaufte Bjarnis Schiff und segelte damit nach Südwesten, wo er zunächst auf steiniges und unwirtliches Land, das er Helluland („Steinland“) nannte, später dann auf eine bewaldete Küste – vielleicht das von Bjarni gesichtete Land ? – stieß, welcher er den Namen Markland („Waldland“) gab. Zwei Tage später sichteten die Seefahrer üppigeres Land, das mit Wiesen und Wäldern und angeblich sogar mit wildem Wein bewachsen war, weshalb es auch den Namen Vinland erhalten habe. Leif überwinterte an einem nach ihm Leifsbuðir genannten Ort (der Name deutet auf eine nur provisorische Wohnstatt) und war damit der erste Skandinavier auf amerikanischem Boden, er kehrte aber schon im folgenden Frühjahr zurück, um von seinen Entdeckungen zu berichten. Die nächste Expedition wurde von Leifs Bruder Thorvald angeführt, der sogar Leifs Wohnort in Vinland wiederfand und dort, nach Erkundungstouren ins Hinterland, ebenfalls überwinterte. Im darauffolgenden Sommer kam es erstmals zu Auseinandersetzungen mit einheimischen skrælingar (eigtl. Eskimos; in Wahrheit dürfte es sich um Algonkin-Indianer gehandelt haben), wobei Thorvald durch einen Pfeil ums Leben kam und in Vinland begraben wurde. Erst etliche Zeit später (vor 1021?) rüstete der Isländer Thorfinn Karlsefni von Grönland aus eine neuerliche Expedition nach Vinland mit dem ausdrücklichen Ziel der Kolonisation aus. Nach internen Zwistigkeiten und Kämpfen mit den skrælingar kehrten die Teilnehmer jedoch drei Jahre später wieder von ihrer Fahrt zurück, und auch eine weitere Expedition endete ähnlich. Damit war in den 20er Jahren des 11. Jahrhunderts der Versuch einer skandinavischen Besiedlung der amerikanischen Küste beendet.
Die Eiríks saga rauða berichtet in einer stark abweichenden Darstellung der Ereignisse von lediglich zwei Expeditionen, wobei die Entdeckung Amerikas Leif Eiríksson zugeschrieben wird. Die zweite Expedition unter Thorvald und Thorfinn Karlsefni mit drei Schiffen, 160 Personen und zahlreicher Ausrüstung, habe sich auf eine Taktik der kleinen Schritte verlegt. Über die grönländische Westsiedlung erreichten die Schiffe zunächst Bjarney („Bäreninsel“), von dort segelte man in zwei Tagen Richtung Süden nach Helluland und in weiteren zwei Tagen nach Markland. Auf ihrem Weg nach Süden streifte die Expedition, bevor sie Vinland erreichte, noch ein Kap, dem sie den Namen Kjalarnes („Kiel-Landzunge“) gab, sowie die weiten und unwirtlichen Furöustrandir („Wunderstrände“). Laut Eiríks saga führte diese Expedition jedoch nicht nach Leifsbuðir, sondern resultierte in der Anlage zweier Siedlungen namens Straumfjord und Hop. Auch diese Saga schreibt den Mißerfolg des Besiedlungsversuchs im wesentlichen den Kämpfen mit den skrælingar zu, wobei die Frage nach der Identität der skrælingar weniger an der Beschreibung der Sagas – klein, schwarzhaarig, häßlich – als an der Identifikation der neuentdeckten Küstengebiete hängt. Es herrscht heute weitgehend Einigkeit darüber, daß die genannten Gebiete zwar nicht mit letzter Sicherheit zu identifizieren sind, daß aber eine Gleichsetzung von Helluland mit Baffinland, von Markland mit Labrador und Vinlands mit Neufundland am wahrscheinlichsten ist. Die mehr als zweifelhaften wilden Trauben in Vinland müssen dann jedoch entweder als Euphemismen wie im Falle der Namengebung Grönlands oder als spätere Interpolationen erklärt werden. Andererseits führen die Versuche, Vinland mit Maine, Rhode Island oder gar Massachusetts zu identifizieren, wohl noch mehr in die Irre, zumal die enormen Distanzen zu diesen Gebieten mit den Angaben beider Sagas völlig unvereinbar sind. Es läßt sich wohl nur schwer beweisen, daß die Ausgrabungen von Helge und Anne Ingstad in L’Anse-aux-Meadows im nördlichen Neufundland (Ingstad 1969) mit Leifsbuðir identisch sind. Was wir jedoch mit an Sicherheit grenzender 69
Wahrscheinlichkeit annehmen dürfen, ist, daß es sich um eine skandinavische Siedlung handelt. Dafür sprechen neben den Hausformen eine Reihe von Artefakten, etwa eine Specksteinlampe isländischen Typs, eine Specksteinspinnwirtel und besonders eine bronzene skandinavische Ringnadel, nicht zuletzt aber die C-14 Datierung der Siedlung auf die Jahre kurz vor oder nach 1000. Läßt man die zweifellos phantasievollen, wenn auch auf mündlicher Tradition beruhenden Schilderungen der erst 300 Jahre nach den Ereignissen entstandenen Vinlandsagas beiseite, so bleiben uns außer den Ausgrabungen von L’Anse-aux-Meadows doch noch eine ganze Reihe von Erwähnungen der Vinlandexpeditionen in schriftlichen Quellen unterschiedlicher Provenienz, die zeigen, wie sehr die transatlantischen Entdeckungen Teil des skandinavischen Weltbilds waren. Dieses bis ins 18. Jahrhundert gültige Weltbild aber erweist die in Amerika(!) aufgetauchte berühmtberüchtigte, angeblich aus dem Mittelalter stammende Vinlandkarte, die den Beweis für die skandinavische Entdeckung Amerikas erbringen sollte, als Fälschung, da sie Grönland als Insel darstellt. Abgesehen davon wurde mittels chemischer Analysen festgestellt, daß einige Bestandteile der Tinte erst seit dem 20. Jahrhundert fabriziert werden. (Es sei nur darauf hingewiesen, daß sich auch alle anderen sog. „Wikingerfunde“ in Nordamerika außerhalb von Grönland und Neufundland als Fälschungen entpuppt haben: Neben der Vinlandkarte sind dies der 1898 gefundene Runenstein von Kensington in Minnesota, der bald nach 1650 erbaute Turm von Newport auf Rhode Island, sowie eine ganze Reihe von Waffen und Inschriften, die entweder überhaupt nicht skandinavisch sind, oder erst in der Neuzeit Amerika erreicht haben; zusammengestellt zuletzt bei Linderoth-Wallace 1991). Zusammenfassend kann man festhalten, daß die wikingerzeitliche Expansion nach Nordamerika auf Grund archäologischer und schriftlicher Quellen heute als unumstößlich angesehen werden kann; die Angaben über die genaue Lage der namentlich genannten Siedlungen, die Zahl und Art der Expeditionen und die Gründe für das Ende der Kolonisations70
versuche hingegen sind wohl Teil eines schon im Mittelalter geformten Wikingermythos, auf dem dann so berühmte Darstellungen wie Christian Kroghs Gemälde „Leif Eriksson entdeckt Amerika“ (1893) beruhen. 3. Händler als Staatengründer: Die wikingische Expansion nach Osten Wikinger, Waräger, Rus’ Wenn von der skandinavischen Ostexpansion, die vorwiegend, aber nicht ausschließlich von den Schweden getragen wurde, die Rede ist, spricht man üblicherweise nicht von Wikingern, sondern in Übereinstimmung mit den zeitgenössischen Quellen von Warägern und Rus’. Das hat einerseits damit zu tun, daß die Ostexpansion nicht in erster Linie durch Piraterie charakterisiert war, das Wort vikingr („Seeräuber“) demnach unangebracht wäre, andererseits mit Bezeichnungen für die Skandinavier in slawischen und arabischen Quellen, wobei slawisch Rus’ und Varjagi/Varjazu griechisch Rhos und Varangoi/Baraggoi sowie arabisch Rus’ und Varank entsprechen. Im Arabischen finden übrigens beide Bezeichnungen für Gruppen der Saqliba „(Nord)-Europäer“ Verwendung. Die Herkunft des Namens Rus’, der sowohl als Bezeichnung der Skandinavier auf dem Gebiet des heutigen Rußland als auch ihres Territoriums zwischen finnischem Meerbusen, Ladoga-, Onegasee und Schwarzem Meer fungiert, ist bislang nicht einhellig geklärt. Die traditionelle Deutung stellt Rus’ zu finnisch ruotsi (Schweden), was wiederum (in Anlehnung an altnord. róðr „das Rudern“) die Bezeichnung für die auf Wasserwegen rudernden Skandinavier gewesen wäre (vgl. altschwed. róþkarlar „Ruderer, Schiffsbesatzung“). Womöglich besteht überhaupt ein direkter Zusammenhang mit der schwedischen Provinz Roslagen (altschwed. rǀþlag: Pritsak 1981, S. 5 ff.). Eine andere, wenn auch wenig wahrscheinliche Erklärung bezieht den Namen der Rus’ auf den iranischen Volksstamm der Roxolanen, dessen Namen die Skandinavier auf das besiedelte Gebiet übertragen hätten. Eine dritte Inter71
Karte 3: Wege und Siedlungen der Waräger und Rus’ in Osteuropa
pretation sieht in dem Wort Rus’ eine slawische Bezeichnung für germanische Stämme, die sich in der Bedeutung „rothaarige Männer“ ursprünglich auf die Goten, später auf die Skandinavier bezogen habe (Boyer 1994, S. 156ff.). Daß es sich bei den Rus’ aber in jedem Fall um Skandinavier gehandelt haben muß, bestätigen neben den slawischen, byzantinischen und arabischen Quellen selbst die fränkischen Annales Bertiniani, die nämlich für das Jahr 839 eine byzantinische Gesandtschaft an Ludwig den Frommen in Ingelheim erwähnen. Einige der Mitglieder dieser diplomatischen Abordnung bezeichneten sich dabei selbst als Rhos und zum Volk der Sveones (also der Schweden) gehörig. 72
Auffällig ist allerdings, daß die skandinavischen Quellen diese Bezeichnung nicht nennen, dafür aber den Terminus Waräger (altnord. væringjar), wobei jedoch fast durchweg die Warägergarde in Byzanz gemeint gewesen sein dürfte. In allen Quellen östlicher Provenienz sind mit „Waräger“ die Skandinavier im weitesten Sinne gemeint, der Ausdruck entspricht also dem „Normanni“ der westeuropäischen lateinischen Überlieferung. Der Name könnte auf altnord. vár („Eid, Gelübde“) beruhen und bezeichnete somit Männer, die sich gegenseitige Hilfe geschworen hatten, was wohl auf eine gildeähnliche Struktur der Fahrgemeinschaft (altnord. félagr) deutet (Panieri 1995). Es sei noch erwähnt, daß der Terminus Waräger immer nur die Personen, nie ein Gebiet bezeichnete, obwohl in altnordischen Quellen vereinzelt von væringjaseta die Rede ist, womit entweder skandinavische (Handels-?(Niederlassungen im byzantinischen Reich oder auch Lager der Warägergarde benannt werden konnten. Handel und Staatengründung in der Rus’ Die Geschichte der skandinavischen Ostexpansion beginnt nicht erst mit der Wikingerzeit, sondern geht auf eine bis in die Bronzezeit zurückreichende Tradition zurück und beruht auf den intensiven Handelsbeziehungen Schwedens mit den Gegenden Osteuropas im Dreieck zwischen Finnischem Meerbusen, Schwarzem und Kaspischem Meer (siehe Karte 3). Die Handelsrouten in dem bezeichneten Gebiet werden sowohl in altslawischen als auch in griechischen Quellen erwähnt. In der Nestorchronik (nach 1100) beispielsweise werden sie wie folgt beschrieben: Ein Handelsweg verbindet die Waräger mit den Griechen. Bei den Griechen beginnend folgt dieser Weg dem Dnjepr, von dem eine Schleppstelle zur Lowat führt. Der Lowat folgend, wird der Ilmensee erreicht. Der Fluß Wolchow fließt aus diesem See und in den Nevosee (= Ladogasee). Die Mündung dieses Sees (= die Neva) mündet in das Meer der Waräger (= Finnischer Meerbusen). 73
Ebenfalls von Bedeutung ist die Beschreibung der russischen Wasserwege in dem De administrando Imperio betitelten außenpolitischen Kommentar des byzantinischen Kaisers Konstantinos VII. Porphyrogennetos aus der Zeit um 950. Darin werden nicht nur die Handelsfahrten der Rus’ von Kiew nach Süden beschrieben, sondern auch die Namen von sieben Stromschnellen des Dnjepr in ihren slawischen und skandinavischen Formen angeführt: Den Handel in der Rus’ schildert der byzantinische Kaiser übrigens ziemlich detailliert: Handelsschiffe von Nowgorod kommen im Frühjahr nach Kiew, wo auch die dortigen Rus’ im Winter ihre Tributzahlungen einkassieren. Spätestens im April finden sich alle in Kiew ein, das auf hohen Klippen über dem Fluß liegt. Das Frühjahrshochwasser hebt den Flußspiegel um über 5 Meter, von April bis Juni hingegen ist der Fluß unpassierbar. Mittlerweile werden die Güter aus Einbäumen in slawische Schiffe umgeladen und alles für die Reise vorbereitet. Mit dem letzten Hochwasser bewegt sich die ganze Flotte über die 70 km lange Stromschnellenstrecke flußabwärts. Nur bei Hochwassser kann man über die Felsen gelangen. An einer Stelle müssen die Schiffe auf einer Strecke von 10 km geschleppt werden, wobei auch Sklaven zum Einsatz kommen. Vorsicht ist den slawischen Petscheneggen gegenüber geboten, die übrigens 972 einige Erfolge errangen, den Kiewer Fürsten Svyatoslav überfielen und aus seinem Schädel eine hübsche Trinkschale machten. Nach den Stromschnellen kommen sie schließlich nach Berezany am Schwarzen Meer, das sie in Richtung Byzanz überqueren; doch noch im selben Herbst kehren sie zurück. Die Darstellung der Staatenbildung im Bereich des heutigen Rußland und die Rolle, welche dabei die Skandinavier spielten – die sogenannte Warägerfrage –, ist seit langem Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zwischen den sog. Normannisten und den Anti-Normannisten. Schon seit 1749 wird darüber diskutiert, ob nun Skandinavier oder Slawen die ersten Staatengründer waren (Pritsak 1981, S.3ff.). 74
Die Normannisten gehen im wesentlichen davon aus, daß der Begriff Rus’ für die wikingerzeitlichen Bewohner des heutigen Rußland skandinavischen Ursprungs ist und es auch Skandinavier waren, denen die ersten Staatengebilde am IImensee und dann entlang des Dnjepr ihren Ursprung verdanken. Sie berufen sich dabei auf zeitgenössische Quellen wie etwa die Annales Bertiniani, die russische Nestorchronik (eigtl. Povest’ vremennych let = „Geschichte der vergangenen Jahre“) und die bereits zitierte Abhandlung De administrando Imperio des byzantinischen Kaisers Konstantinos VII. Porphyrogennetos. All diese Texte bezeugen die ethnische und sprachliche Zugehörigkeit der Rus’ zu den Skandinaviern. Die Anti-Normannisten halten dem entgegen, daß die Rus’ ursprünglich ein slawischer Stamm aus der Gegend um Kiew gewesen seien. Ferner erklären sie, daß die in westlichen Quellen erwähnten Rus’ schwedischer Herkunft lediglich Skandinavier in slawischen Diensten gewesen wären, und daß das archäologische Material kaum für die Anwesenheit einer größeren Zahl von Skandinaviern spräche. Der letzte Stand dieser Diskussion läßt sich nach den neuesten archäologischen Ergebnissen in dem Satz zusammenzufassen, daß die Skandinavier zwar vielleicht nicht direkt verantwortlich für die Entstehung staatlicher Gebilde auf dem Gebiet der Rus’ waren, aber dabei eine gewisse Rolle gespielt haben. Einige Probleme bereitet vor allem die slawische Hauptquelle, die erwähnte Nestorchronik, welche mit einem zeitlichen Abstand von rund 200-250 Jahren nach älteren Vorstufen kurz nach 1100 verfaßt wurde und die skandinavische Landnahme im Osten folgendermaßen beschreibt: Die Waräger seien 859, von jenseits des Meeres kommend, in die Siedlungsgebiete der Slawen eingefallen und hätten sie sich tributpflichtig gemacht. Bereits 862 jedoch hätten sich diese slawischen Stämme, die Slovenen und Krivicen, gegen die Waräger erhoben und sie verjagt. Da sie sich aber auf keinen gemeinsamen Herrscher einigen konnten, wären die Slawen zu den Skandinaviern gefahren und hätten sie gebeten, bei ihnen zu herrschen: 75
„Unser Land ist groß und reich, aber es gibt keine Ordnung in ihm; kommt, um Fürst zu sein und über uns zu herrschen.“ So wurden drei Brüder samt ihrem Gefolge bei den Rus’ ausgewählt und zogen dorthin. Rurik hieß der älteste und ließ sich in Nowgorod nieder [...] An diesen Orten sind die Waräger neu, denn die ersten Bewohner von Nowgorod waren die Slovenen, von Polock die Krivicen, von Rostov die Merja, von Beloozero die Ves’ und von Murom die Muroma. Über alle herrschte nun Rurik. So unhistorisch diese Schilderung auch immer sein mag, so zeigt sie doch, daß die Bewohner der Rus’ im 11. und 12. Jahrhundert Wert darauf legten, von Slawen und von Skandinaviern abzustammen, und die skandinavische Herrschaft mit dem Wunsch der Untertanen zu legitimieren. Bemerkenswert ist ferner die Betonung der Städtegründungen an den großen Flüssen durch Skandinavier. Einer abweichenden Fassung der Nestorchronik (im Codex Hypatianus) zufolge hätten erst die Waräger durch Rurik die Städte AltLadoga am Ladogasee und Nowgorod unweit der Mündung des Ilmensees gegründet. Weiter heißt es dort, daß zwei skandinavische Brüder die – damals immerhin schon existierende – Stadt Kiew am Dnjepr in ihren Besitz genommen hätten. Nowgorod war tatsächlich bis zu einem gewissen Grad eine Neugründung, auch wenn der Handelsplatz Gorodisce am gegenüberliegenden Ufer schon lange vorher existierte. Der Streit zwischen Normannisten und Anti-Normannisten dreht sich nicht zuletzt um die Frage nach der philologischen Herkunft des Wortes Rus’, das in historischer Zeit eindeutig die beiden Reiche von Nowgorod (altnord. Hólmgarðr „Inselstadt“) und Kiew (altnord. Kænugarðr, „Stadt der Kænir = Kiewer“) bezeichnet. Sicher ist jedenfalls, daß das Gebiet der Rus’ in skandinavischen Quellen des Mittelalters durchweg als SvíðÞióð in mikla (Groß-Schweden) bezeichnet wird und damit als schwedisches Kolonisations- und Expansionsgebiet gekennzeichnet ist, so wie im Mittelmeer die griechische Kolonie Sizilien als „Groß76
Griechenland“ bezeichnet werden konnte. Daneben findet sich auch noch die weniger geographisch als politisch geprägte Bezeichnung Garðanki, die entweder auf dieses „Reich der Städte“ oder direkt auf die Namen der Orte Hólmgarðr, Kaenugarðr und Mikligarðr (= Byzanz) zurückgeht. Dabei unterscheiden die skandinavischen Quellen jedoch zwischen zwei „Reichen“, nämlich dem um Hólmgarðr und jenem um Kamugarðr, sodaß Garðariki einen Oberbegriff für beide „Reiche“ bildet und damit etwa jenes Gebiet der Rus’ umfaßt, aus dem schließlich Rußland hervorgehen sollte. Eine kritische Bestandsaufnahme der literarischen und archäologischen Quellen läßt so etwas wie eine Synthese der beiden Haltungen in der Warägerfrage möglich erscheinen: Die literarischen Zeugnisse (auch der Araber) sind eindeutig; die Rus’ sind mit Sicherheit als Skandinavier anzusprechen, die sich im 9. und 10. Jahrhundert in Osteuropa niederließen. Das Reich dieser Rus’ hatte sein politisches Zentrum in Kiew, und die Skandinavier spielten am Hofe der dortigen Fürsten eine wichtige Rolle, nicht zuletzt deshalb, weil die ersten Herrscher ebenfalls Skandinavier waren (vgl. ihre Namen in der Nestorchronik: Rurik = Hrorek, Oleg = Helge, Igor = Ingvar, Olga = Helga). Erst im 10. Jahrhundert wird das Geschlecht und mit ihm auch das Reich zusehends slawisiert, wobei die Bezeichnung Rus’ als Gebietsname jedoch erhalten bleibt. Andererseits ist, ähnlich wie bei der hier nur kurz zu erwähnenden schwedischen Expansion ins Baltikum, die Funddichte skandinavischer Funde deutlich geringer als die des slawischen Bevölkerungsanteils. Selbst in der Umgebung des Ladogasees machen die mit Sicherheit als skandinavisch zu bezeichnenden Gräber weniger als 10% aus (Stalsberg 1982). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß viele der Fundgegenstände aus einem eher ländlich geprägten Kontext stammen und daher für die schwedische Expansion nur wenig Relevanz besitzen. Außerdem hat die rasche Vermischung von skandinavischen, finnischen und slawischen Bevölkerungsanteilen und die Vermischung der Kulturen zur Folge, daß nur ein kleiner Teil der Funde als dezidiert skandinavisch ange77
sprochen werden kann. Addiert man hierzu indes die Funde skandinavischen Typs, aber russischer Provenienz, oder solche Grabfunde mit gemischten Elementen, dann liegt der Anteil der skandinavischen Funde deutlich höher. Eine vorsichtige, wenn auch noch keineswegs durchgängig akzeptierte Kompromißformel könnte daher lauten, daß die Skandinavier eine nicht unwesentliche, aber vielleicht auch nicht unbedingt dominante Rolle bei der Staatenbildung im Bereich der Rus’ gespielt haben. Die Belege sprechen dagegen, daß sich die schwedischen Waräger die schon bestehenden Siedlungen gewaltsam erobert hätten. Zwar sind in den Aufzeichnungen des arabischen Geographen al-Masudi vereinzelte Plünderungszüge und selbst Seeräuberei auf dem Kaspischen Meer durch Waräger dokumentiert, doch dürften die russischen Seen und Flüsse für reine Wikingerzüge kaum geeignet gewesen sein. Erstens war das Land zwischen den Flüssen wohl zu dünn besiedelt, um größere Verbände ernähren zu können, zweitens dürften die Portagen etwa bei der Umgehung von Stromschnellen, bei denen die Schiffe über Land gezogen werden mußten, die Wege für mögliche Gegenangriffe anfällig gemacht haben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind die – laut archäologischer Funde wohlhabenden und gut ausgerüsteten – Skandinavier im Osten in erster Linie als Händler ins Land gekommen, und konnten sich auf Grund ihrer Finanzkraft bald einen beträchtlichen sozialen Einfluß sichern. Die ökonomische Macht brachte die Einwanderer – und auf Grund des hohen Frauenanteils müssen wir wohl von Einwanderern und nicht nur temporär tätigen Händlern sprechen – auch zu politischer Macht, aber im Gegensatz zu England oder der Normandie strebten die Skandinavier in der Rus’ anscheinend nie nach Landbesitz, um hier Landwirtschaft zu betreiben. Ihre Tätigkeit scheint sich auf den Handel in städtischen Zentren entlang der großen Flußläufe konzentriert zu haben, wobei der Aufbau der Handelsstationen ebenso wie der dabei abfallende Profit skandinavische Domäne gewesen sein dürfte. Dazu kommen vor allem ab dem 10. Jahrhundert wie an78
dernorts in Europa Skandinavier als Söldner in fürstlichen Diensten. Dieser Aspekt skandinavischer Expansion darf jedoch weder von den Plünderungszügen noch von den Handelsaktivitäten isoliert werden, zumal durchaus vorstellbar ist, daß ein und derselbe Skandinavier im Verlaufe seines Lebens in der Rus’ einmal in jedem der erwähnten drei Bereiche tätig war. Die Warägergarde in Byzanz, von der gleich noch zu reden sein wird, legt auf besonders eindrucksvolle Weise Zeugnis ab von der Rolle des Söldnerdienstes im Personenverkehr von Skandinavien nach Südosten. Auf diese Weise gewinnt auch die herausgehobene Stellung der Schweden in den politischen und diplomatischen Ämtern der Rus’, wie sie zeitgenössische westeuropäische und arabische Quellen schildern, zunehmend an Deutlichkeit: Angesichts solcher Verquickung von militärischem und ökonomischem Einfluß konnten die slawischen Fürsten die Einwanderer einfach nicht umgehen; zudem mag die Kenntnis germanischer Sprachen von großer Bedeutung für die Auswahl von Gesandten gewesen sein. Außer für Aldeigjuborg und Nowgorod, wo wir neben Kiew mit warägischen Fürsten rechnen müssen, wurde also der schwedische Einfluß im Gebiet der Rus’ eher durch ökonomische Infiltration als durch militärische Aggression erweitert. Der militärische Aspekt beschränkt sich vorwiegend auf Söldnerdienste, und dann in slawischem, nicht skandinavischem Sold. Wie aber die archäologischen Funde bislang ohnehin zu zeigen scheinen – wobei hier besonders die ethnische Durchmischung einzelner Gräberfelder anzuführen wäre, war das Gebiet der Rus’ durch schwedisch-slavisch-finnische Koexistenz und nicht durch Rivalität gekennzeichnet. Die Warägergarde in Byzanz Die schon erwähnte Stelle aus den Annales Bertiniani zum Jahre 839 ist der älteste Beleg für Skandinavier in byzantinischen Diensten. Die Kontakte zwischen den Rus’ und Byzanz sind auch im weiteren Verlauf des 9. Jahrhunderts nie abgerissen. Für die Jahre 860 und 907 sind Angriffe der Rus’ auf Byzanz überliefert, die in den byzantinischen Quellen nur am 79
Rande bzw. gar nicht erwähnt, in der Nestorchronik dafür umso ausführlicher geschildert werden. Solche militärischen Erfolge des oströmischen Kaisers mögen die Attraktivität des Dienstes im byzantinischen Sold durchaus gesteigert haben, auch für Söldner aus den Rus’ (Blöndal 1978, S. 37ff.). Aus dem 10. Jahrhundert liegt uns eine ganze Anzahl von byzantinischen Belegen dafür vor, daß aus der Rus’ stammende Söldner an Feldzügen in Dalmatien, auf Sizilien, Kreta und Zypern bis nach Syrien beteiligt waren. Bischof Liutprand von Cremona, Gesandter Ottos I. an den oströmischen Kaiser Nicephorus, hat für die Jahre 948-50 und 968/9 eine detailreiche Schilderung von Byzanz hinterlassen, und auch er erwähnt die Rus’ in byzantinischen Diensten, die er im übrigen explizit als Skandinavier bezeichnet: „Die Rus’ (Rusios), die wir mit anderem Namen Nordmannen (Nordmannos) nennen.“ Im letzten Jahrzehnt des 10. Jahrhunderts dürften unter Basileios IL (976-1025) die zahlreichen Skandinavier in seinen Diensten zu einer geschlossenen Truppe als Teil der Palastwache vereinigt worden sein. Auslösendes Moment war wohl die Erhebung des Bardas Phokas in Kleinasien in den Jahren 988/89. Der Fürst von Kiew, Vladimir, kam dem bedrängten Kaiser mit 6000 Kriegern aus der Rus’ zu Hilfe, von denen wahrscheinlich viele in byzantinische Dienste übernommen wurden und somit den Kern der Warägergarde der oströmischen Kaiser bildeten. Die warägische Truppe bildete zwar nur einen Teil der Palastgarde, war aber unter Basileios mit Sicherheit diejenige Einheit mit dem höchsten Prestige. In den Jahren 1017 und 1018 kämpften im Dienste Ostroms stehende Waräger auf der Apenninenhalbinsel sogar gegen Normannen, die sich im Sold süditalienischer Städte verdingten, wobei es aber dem byzantinischen General Basil Boioannes gelang, Bari und Trani zurückzuerobern und etliche Normannen gefangenzunehmen. Obgleich die Warägergarde unmittelbar nach Basileios’ Tod nicht in den Quellen belegt ist, scheint sie dennoch fortbestanden zu haben, denn neun Jahre später verzeichnet sie ihren wohl berühmtesten Neuzugang: Zwischen 1034 und 1042 diente der spätere norwegische 80
König Harald der Harte in der Warägergarde. Spätestens ab Mitte des 11. Jahrhunderts wurden auch Franken und Engländer in die Garde aufgenommen, letztere unter der Bezeichnung Inglinoi besonders nach der Schlacht von Hastings. Bereits anläßlich der Palastrevolution von 981 wird darüber hinaus noch eine von der Warägergarde getrennte Truppe von Deutschen erwähnt. Um 1103 erhielt die Garde angeblich Nachwuchs aus dem Gefolge König Sigurðr Jórsalafaris, als dieser nach seinem Besuch in Byzanz auf dem Landweg nach Skandinavien zurückzukehren beabsichtigte und seine Schiffe dem Kaiser Alexius schenkte. Trotz dieser Verstärkung (Blöndal 1978, S. 122-166) kann der Anteil der Waräger wohl kaum jemals mehr als wenige tausend Mann betragen haben. Mit der Eroberung von Byzanz durch die Venetianer im Jahre 1204 war schließlich auch das Ende der Warägergarde gekommen, einer Truppe, die als symptomatisch für die wikingerzeitliche Bereitschaft stehen kann, die eigene Kampfkraft gegen Bezahlung in den Sold ausländischer Potentaten zu stellen. Noch während des 10. Jahrhunderts war es gelegentlich zu Konfrontationen zwischen dem Kiewer Fürsten Igor und dem byzantinischen Kaiser (941 und 944) gekommen. Am Ende der Auseinandersetzung von 944 stand ein Vertrag zwischen Rus’ und Byzanz, wie er schon 911 geschlossen worden war, nur daß die Bedingungen für die Kaufleute aus der Rus’ diesmal weniger günstig ausfielen. Ein letzter Angriff der Rus’ auf Byzanz im Jahre 1043 endete wie frühere Attacken mit dem Verlust der Invasionsflotte – für den vermutlich das „griechische Feuer“ der Byzantiner verantwortlich war, das gegen Schiffe sehr wirksam gewesen zu sein scheint. Diesmal dürften die Rus’-Fürsten endlich Klarheit über die wahren Kräfteverhältnisse zwischen Byzanz und Kiew gewonnen haben, da wir seither nichts mehr über kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den beiden Herrschaftsgebieten vernehmen. Expeditionen und Fernhandel Das Gebiet der Rus’ bildete für die Skandinavier das Sprungbrett auf dem Weg nach Osten, und Byzanz war dabei nur ei81
nes von mehreren Zielen, wenn auch ein sehr attraktives. Von Harald dem Harten erfahren wir in den späten 30er und frühen 40er Jahren des 11. Jahrhunderts, daß er als Befehlshaber in der Warägergarde Feldzüge nach Sizilien, Bulgarien und Kleinasien unternahm und dabei bis nach Jerusalem kam. Schon 912/913 hatte eine Flotte des Kiewer Rus’-Fürsten Igor (reg. 912-945) das Kaspische Meer befahren und dem arabischen Emirat an der Südküste eine Niederlage zugefügt, die sich aber allem Anschein nach nicht negativ auf das Verhältnis zwischen Rus’ und Arabern ausgewirkt hat. Eine andere Expedition führte ihn in den südlichen Kaukasus (944). Igors Nachfolger Svyatoslav (reg. 945-972), der erste Kiewer Fürst mit slawischem Namen, unternahm ebenfalls Feldzüge bis an die Küsten des Kaspischen Meeres (971/72). Die in der Nowgoroder und Kiewer Rus’ siedelnden Skandinavier drangen aber keineswegs nur in kriegerischer Absicht nach Osten vor. Offensichtlich versuchten sie, den Fernhandel mit den Arabern an Byzanz vorbei auszubauen. Auch die Kontakte mit den Chasaren, einem zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer lebenden Steppenvolk, waren immerhin so intensiv, daß sie nicht nur durch zahlreiche archäologische Funde bezeugt sind, sondern sich sogar in der Tracht der Kiewer Rus’ und der Bewohner des schwedischen Birka niedergeschlagen haben. Auf dem Weg über jene Gebiete östlich der Rus’ – und nicht etwa über das Mittelmeer – dürften Seide und Silber aus Asien nach Skandinavien gelangt sein, während arabische Quellen über die Einfuhr von skandinavischem Honig, von Pelzen, Jagdfalken und Walroßzahn berichten. Zumindest eine größere Asien-Expedition, die um das Jahr 1041 direkt von Skandinavien aus und nicht von den Rus’ unternommen wurde, ist durch eine ganze Reihe von Runensteinen aus Södermannland, Uppland und Östergötland in Schweden belegt. Sie alle künden vom Scheitern der Expedition unter der Leitung eines gewissen Yngvar, der zu Handelszwecken nach „Serkland“ vordrang.
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Waräger und Rus’ in zeitgenössischen arabischen Quellen Im Zuge ihrer Ostexpansion kamen die Skandinavier auch mit den Arabern, dem zur Wikingerzeit kulturell und zivilisatorisch am weitesten entwickelten Volk der alten Welt, in Berührung. Das Kalifat Bagdad hatte seine kulturelle Hochblüte im 9. und 10. Jahrhundert erlebt, und so scheint in diesem Zusammenhang durchaus interessant, welche Meinung die Araber von den Skandinaviern hatten (gesammelt bei Birkeland 1954). Besonders umfangreich sind die Beschreibungen der Rus’, mit denen die Araber naturgemäß den meisten Kontakt hatten, obwohl arabische Reisende und Diplomaten sogar bis nach Haithabu an der Mündung der Schlei kamen und darüber schriftliche Nachrichten hinterließen und der maghrebinische Diplomat al-Ghazal auf einer Mission 845/6 bis nach Irland kam (Allen 1960). Eine Beschreibung der Rus’ ist von dem Araber Ahmad Ibn Fadian überliefert, der 921/922 mit einer Gesandtschaft des Kalifen von Bagdad zu den Wolga-Bulgaren kam. Ahmad schildert in seinen Aufzeichnungen, wie die Rus’ mit den Bulgaren Handel treiben. Daran, daß er die Rus’ den Skandinaviern zuordnete, kann kein Zweifel bestehen, da er sie „als groß wie die Dattelpalmen und rothaarig“ beschreibt. Die eingehendste Darstellung Skandinaviens stammt von al-Idrisi aus Ceuta, der 1154 am Hofe König Rogers II. in Palermo ein geographisches Handbuch verfaßte, in dem auch Skandinavien vom Don über Finnmarken bis zu den Färöern behandelt wird. Der Abschnitt über die Rus’ folgt zunächst der zitierten Stelle von al-Ishtari, teilt aber noch mit, daß die Araber von den Kiewer Rus’ Felle und Blei kauften. Auch erwähnt er verschiedene Bräuche der Rus’, etwa daß sie ihre Toten verbrannten und ihre Barte „wie Pferdemähnen“ zu Zöpfen flochten. Obwohl al-Idrisi berichtet, daß die Rus’ am Kaspischen Meer unentwegt Krieg mit ihren Nachbarn führen, und auch der Geograph al-Masudi (gest. 956) von Kriegen der Rus’ auf dem Kaspischen Meer mit den Anrainervölkern schreibt, beschäftigen sich die arabischen Quellen ansonsten nahezu ausschließlich mit den merkantilen Aktivitäten der Rus’. Ein 83
Grund hierfür mag darin liegen, daß selbst die Kiewer Rus’ keine gemeinsamen Grenzen mit arabischen Völkern hatten. Auf der anderen Seite könnte diese auffällig einseitige Art der Berichterstattung aber auch darauf hindeuten, daß die Rus’ im Osten nach außen eben mehr als Volk von Kaufleuten und Händlern als von Kriegern in Erscheinung traten. Ein persischer Reisender, Ibn Horradadbeh, schildert die Rus’ um 844 als Händler, die Sklaven, Biberfelle sowie andere Pelze und Schwerter exportierten, und Ibn Hauqal berichtet um 977 von den Rus’, daß sie mit Honig, Wachs und Pelzwerk, auch Blei und Quecksilber handelten. Alle Autoren aber sind sich einig, daß die Rus’ in Städten leben, die durch dichte Wälder voneinander getrennt sind und daß die Flüsse, Seen und Meere Osteuropas die einzigen Verkehrs- und Handelswege darstellen. Details entnehmen wir dem nach 922 verfaßten Reisebuch des Ibn Rustah, der von Pelzen als der wichtigsten Handelsware der Rus’ spricht, dazu aber erwähnt, daß sie sich in barem Silber bezahlen ließen und damit Lebensmittel von den Slawen erwürben, da sie keine Landwirtschaft betrieben und somit auch keine Dörfer hätten, sondern nur in Städten lebten. Für Kriegs- und Handelszüge benützten sie ausschließlich das Schiff. Auch legten die Rus’ großen Wert auf gute Kleidung. Selbst die Männer schmückten sich mit goldenen Armreifen, sie seien sauber und äußerst gastfreundlich. Bemerkenswert ist die Erwähnung ihrer Tapferkeit und ihres geschlossenen Auftretens Feinden gegenüber – das wohl mit den gildeartigen Fahrgemeinschaften zusammenhängen dürfte –, ferner der komplizierten Austragung von Rechtshändeln untereinander. Daneben beschäftigt sich Ibn Rustah auch mit ihrer Gewohnheit, die vornehmeren Toten mit ihren Frauen und reicher Gerätschaft in hausartigen Grabkammern beizusetzen. Seine Schilderung der Rus’ fällt im allgemeinen äußerst positiv aus, doch die Bemerkung, daß bei ihnen kein Mann das Haus zur Notdurft verlasse, ohne daß ihn zwei Freunde mit gezogenen Schwertern begleiteten, um ihn vor Überfällen zu schützen, wirft ein eigentümliches Streiflicht auf das städtische Leben in der Kiewer Rus’ um 900. 84
Selbstverständlich finden sich in arabischen Texten auch kritische Aussagen über die Rus’. Im Gegensatz etwa zu Ibn Rustah beschreibt Ibn Fadian die Rus’ als reichlich schmutzig. Auch sind etliche Araber von den freizügigen Sexualgewohnheiten der Rus’, die in aller Öffentlichkeit, ja selbst im Beisein von Gästen Verkehr mit ihren Sklavinnen hätten, fasziniert und abgestoßen zugleich. Dennoch ist als Summe der arabischen Meinungen über die Rus’ festzustellen, daß ihnen die Bewohner dieser Region als akzeptierte, wohlhabende, wenn auch nicht unbedingt kultivierte, auf jeden Fall aber tapfere und effiziente Handelspartner galten.
V. Alltag und Feste – Alltagsleben und materielle Kultur in der Wikingerzeit Ein hervorstechendes Element des gegenwärtigen Wikingerbooms ist die Verbindung von „Wikinger“ und „Fest“ zu „Wikingerfesten“, wenn nicht gar „Wikingerfestivals“. Dahinter verbergen sich recht offensichtlich in aller Regel Märkte mit einer Vielzahl „wikingischer“ Artefakte und Gebrauchsgegenstände, Veranstaltungen musikalischer und theatralischer Natur – darunter fällt beispielsweise auch die Inszenierung von Schlachten –, mehr oder minder authentisches „wikingisches“ Essen wie Brotfladen, gebratene Fleischstücke bzw. jedes erdenkliche Getränk, solange es nur in Hörnern serviert wird. Die Segeltour auf nachgebauten Wikingerschiffen gehört dabei sicherlich ebenso zum Programm solcher Veranstaltungen wie der Gedankenaustausch zwischen Gleichgesinnten, nämlich den an der Wikingerzeit in irgendeiner Weise Interessierten. Offenbar schafft sich unsere Kultur in Ermangelung eines den Jahresablauf früherer Epochen strukturierenden christlichen „Festkalenders“ säkulare Anlässe zum Feiern, beispielsweise indem man die Feste verklärter Epochen der Vergangenheit wieder aufleben läßt. Die hochtechnisierte Gesellschaft unserer Tage nährt die Sehnsucht der Menschen nach einer angeblich unbefangeneren Lebenswelt, der man sich durch Rollenspiele wie die zuvor erwähnten zu nähern versucht. Durch ihre spezifische Mischung aus Alltagsleben (= Handel), Extremsituation (= Kampf/-spiel) und Fest (= Unterhaltung) erwecken die Wikingerfeste bei ihren Besuchern das Gefühl, es habe eine wikingerzeitliche Festkultur gegeben, die sich noch dazu ähnlich abgespielt habe wie ihr modernes Gegenstück. In der Tat scheinen wir eine Menge über wikingerzeitliche Festkultur zu wissen, auch wenn viele der ausführlicheren Quellen – wie üblich – deutlich hochmittelalterliche Züge tragen, sodaß in ihnen ein höfisches Element nie völlig auszuschließen ist. Dennoch können wir wohl davon ausgehen, daß 86
gerade bei der relativ ungebrochenen Kontinuität der Sozialformen im ländlichen, also nur punktuell von höfischen Einflüssen betroffenen Skandinavien, auch eine Kontinuität der Festkultur vom 9. zum 13. Jahrhundert und vielleicht sogar darüber hinaus bestanden haben kann. Vor allem arabischen Augenzeugen hatten es die Feste der wikingerzeitlichen Skandinavier angetan. So berichtet etwa der maghrebinische Reisende al-Tartushi aus dem Kalifat Cordoba um 950 über die Stadt Haithabu (aus dem Reisebuch des al-Qazwiini): Sie halten ein Fest, bei dem sie sich zu Ehren ihres Gottes versammeln und essen und trinken. Jeder, der ein Tier als Opfer schlachtet, hat ein Holzgestell vor seiner Haustüre und hängt das Opfertier dort auf, ob es nun Ochse oder Widder, Geißbock oder Eber ist, damit die Leute wissen, daß er ein Opfer zu Ehren seines Gottes abhält. Gemeinsam mit der um 922 entstandenen, von dem Araber Ibn Fadian verfaßten Beschreibung einer Begräbnisfeier bei den Rus’ (vgl. unten Kap. 8) ist dies die älteste Schilderung eines skandinavischen Festes, die wir kennen. Trotz ihrer Kürze enthält sie eine Reihe von Elementen, die wir auch aus späteren Darstellungen kennen: Opferfeiern zu Ehren eines Gottes, bei dem männliche Tiere geschlachtet werden, und bei denen in erster Linie gegessen und getrunken wird. Leider verliert der Verfasser kein Wort über die Stellung des Festes in der Gliederung des Jahresrhythmus. In der Sagaliteratur findet man zahlreiche Beschreibungen von Festen, wenn auch aus der Perspektive des 13. oder 14. Jahrhunderts, die aber in ihrem Ablauf, sieht man einmal vom Aspekt des heidnischen Opfers bzw. vereinzelten höfischen Einflüssen ab, nicht wesentlich von wikingerzeitlichen Feiern abweichen dürften. Da die Texte aber keine distanzierte Schilderung eines Gastmahls liefern, sondern sie im funktionalisierten Kontext des Handlungsablaufs schildern, ergibt sich aus verschiedenen Elementen ein facettenreiches Bild. Weitgehend unverändert und vielfach belegt ist dabei die 87
Sitzordnung im Langhaus: Im sogenannten Hochsitz der Hausherr, ihm zunächst seine ranghöchsten Vertrauten oder Freunde bis zu den Enden der Tische an den Hausenden, wo die rangniedrigsten Haushaltsmitglieder saßen. Gäste saßen gegenüber auf der anderen Seite des Langfeuers, wiederum der ranghöchste in der Mitte gegenüber dem Hausherren, die anderen links und rechts die Bank entlang. Durch diese Sitzordnung sollte die Wertschätzung, die ein Gast genießt, zum Ausdruck gebracht werden. Während der Mahlzeit wurden vorübergehend Tische vor die Bänke gestellt, von denen, wie im Mittelalter üblich, mit Fingern und Messern gegessen wurde. Auch wurden Molkeprodukte wie das isländische skyr ebenso wie Suppen – bei Festen zum Teil als Vorspeise? – direkt aus der Schüssel getrunken, da Löffel noch selten waren. Zu Gesottenem und am Spieß geröstetem Fleisch gab es Brot, Fisch und Getreidebreie; Vogeleier, deren oft mit Gefahr verbundenes Sammeln auf den Atlantikinseln überlebenswichtig war, bildeten dagegen eher eine Alltagsnahrung. Wildfrüchte (darunter wilde Äpfel), Beeren und Nüsse dienten zur Ergänzung der Grundnahrung. Hülsenfrüchte hatten in Nordeuropa eine vergleichsweise geringe Bedeutung, Eiweiß wurde in erster Linie in Form von Fisch (besonders Hering) verzehrt, der selbst in Großstädten wie Haithabu nach Auskunft der Funde das wichtigste Grundnahrungsmittel darstellte. An Fleisch wurde vornehmlich Schweinefleisch verzehrt, dann erst Rindfleisch, während Schafe und Geflügel offenbar weniger beliebt waren. Wild spielte demgegenüber eine nur ganz geringe Rolle. Nach der Mahlzeit wurden die Tische wieder entfernt, bevor als Höhepunkt jeder wikingerzeitlichen Festivität das ernstliche Trinken begann. Getrunken wurde dabei vor allem aus Hörnern oder, wie archäologische Funde dokumentieren, auch aus gläsernen Sturzbechern ausländischer Provenienz, und zwar hauptsächlich selbstgebrautes Bier, viel seltener importierter oder erbeuteter Wein, wobei man sich notwendigerweise am Geschmack der mittelalterlichen Westeuropäer orientierte, bei denen süße oder sogar gewürzte Weine in ho88
her Gunst standen. Daneben sind an einheimischen Produkten Beerenweine und Met, d.h. Honigwein, zu erwähnen, der zwar in Mythologie und Dichtung eine große Rolle spielt, aber kaum in wirklich großen Mengen produziert werden konnte und damit zu einem der Götter würdigen Luxusgut wurde. Daß die Trinkfestigkeit auch schon damals wesentlicher Bestandteil sozialen Ansehens war, geht aus zahlreichen literarischen Quellen hervor. Daß manchmal beinahe bis zur Bewußtlosigkeit getrunken wurde, belegen nicht nur die Sagas, sondern auch zeitgenössische lateinische Texte. Das Ende eines Trinkwettstreits, wie sie in den hochmittelalterlichen Sagas häufiger belegt sind, beschreibt die Egils saga (Kap. 71) in allen Details: Dann wurde Bier hereingetragen, und das war zu Hause gebraut und sehr stark. Bald gab es ein Einzeltrinken, und da sollte immer ein Mann allein jedesmal ein Trinkhorn leeren; dabei gab man besonders acht auf Egil und seine Gefährten, sie sollten so kräftig wie möglich trinken. Egil trank zuerst eine lange Weile fest und hielt sich nicht zurück [...] Da waren auch alle, die drinnen waren, sehr betrunken; aber bei jedem vollen Horn, das Armod trank, sagte er: ,Ich trinke dir zu, Egil’, und die Hausleute tranken Egils Fahrtgenossen zu [...] Egil sagte da seinen Fahrtgenossen, sie sollten nicht mehr weiter trinken, er aber trank für sie alles, was sie nicht auf andere Weise beseitigen konnten. Egil fand nun, daß er es so nicht mehr bewältigen würde; da stand er auf und ging quer durch den Raum, dorthin wo Armod saß; er faßte ihn mit den Händen bei den Schultern und drückte ihn gegen die Pfosten an der Rückseite seines Sitzes. Dann erbrach sich Egil gewaltig und spie Armod alles ins Gesicht, in die Augen und in die Nase und in den Mund, es rann ihm über die Brust herunter, und Armod verlor fast den Atem, und als er wieder Luft bekam, mußte auch er gewaltig speien. [...] Egil sagt: ,Man soll mir deshalb keine Vorwürfe machen; ich mache es so, wie es auch der Bauer macht – er hat auch mit aller Kraft gespieen, 89
nicht weniger als ich.’ Dann ging Egil zu seinem Platz und setzte sich nieder und bat, ihm zu trinken zu geben. Unter Alkoholeinfluß kam es dann zu verschiedenen Arten der Abendunterhaltung. Großer Beliebtheit erfreuten sich gegenseitige Spott- oder Prahl-Verse, aber auch weniger zivilisierte Vergnügungen, wie zum Beispiel das Werfen von abgenagten Knochen, Ringkämpfe und selbst Wettessen gehörten neben dem Wettrinken zu den festen Bestandteilen rauherer Unterhaltung. Gerade bei den längerandauernden Julfesten ist aber auch von anderen, eher sportlichen Wettkämpfen die Rede. Dazu gehörte neben Ringen, Wettschwimmen und Wettlauf auch der Steinwurf. Für Island werden wiederholt Pferdekämpfe erwähnt sowie eine Art von Schlagballspiel auf dem Eis, das, wenn es nach den Berichten der Sagas geht, mitunter in Rauferei, ja selbst Totschlag ausarten konnte. Sowohl als Sportgeräte wie auch als Fortbewegungsmittel fanden Schlittschuhe und Skier Verwendung. Die Schlittschuhe wurden aus geschärften Mittelfußknochen („Eisbein“) von Rindern oder Pferden gefertigt und mittels einer einfachen Bindung, die an einer Bohrung und eingesetzten Pflöckchen befestigt wurde, an den Schuhen festgemacht. Die Skier wiederum waren in der Form den heutigen durchaus nicht unähnlich, aber über 2 m lang, vorne aufgebogen und aus Kiefernholz; die Bindung wurde an zwei waagrecht durch die Mitte des Skis getriebenen Löchern befestigt. Körperliche Ertüchtigung stand bei den Wikingern in so hohem Ansehen, daß es auch für einen König nicht unter seiner Würde war, sich mit den eigenen Kriegern in Wettschwimmen und Wettauchen zu messen. Von König Olaf Tryggvason wird voller Bewunderung berichtet, daß er, während seine Männer ruderten, außenbords über die Riemen seines Schiffes laufen konnte (Heimskringla, Óláfs saga Tryggvasonar, Kap. 85), auch wenn dies heute keine sonderlich königlichen Sportarten scheinen mögen. Friedlichere Unterhaltungen waren aber sicherlich häufiger an der Tagesordnung, auch wenn sie als weniger spektakulär 90
kaum Erwähnung in der Literatur finden. Aber die Funde der äußerst kunstvollen Schachfiguren aus Walroßzahn von der Hebrideninsel Lewis (12. Jahrhundert) und von Spielbrettern für ein uns heute nicht mehr genau nachvollziehbares Brettspiel (namens hneftafl) sowie Mühlebretter (10. Jahrhundert) zeigen, wie beliebt Brettspiele waren. Zusätzlich zu Spielsteinen aus Bernstein, Glas oder Horn hat man auch Spielwürfel aus Elfenbein gefunden, die unseren heute bekannten Würfeln entsprechen. So gut wie gar nichts wissen wir hingegen über die Musik der Wikingerzeit. Als sicher kann allenfalls die Existenz von Tänzen gelten, wobei aber die Ringtänze zu balladenartigen Gesängen in Anlehnung an zentraleuropäische Vorbilder erst im 12, Jahrhundert aufkamen. An Musikinstrumenten waren in Skandinavien zweilöchrige Flöten aus Seeadlerknochen (gefunden in Haithabu und Birka) sowie die Leier bekannt. Wie verbreitet sie unter den Wikingern waren, ist allerdings eine andere Frage. Zu den beliebtesten Formen der Unterhaltung gehörte in der Wikingerzeit ohne Zweifel der Vortrag von Gedichten und das Erzählen von Geschichten (darüber mehr in Kap. 7 unten). Auch scheinen Rätselfragen in gebundener und freier Form verbreitet gewesen zu sein, von denen viele später Eingang in die Dichtung gefunden haben. Könige ließen sich mit Skaldenliedern zerstreuen, kannten aber offenbar auch Vergnügungen der simpleren Art. So wird von Olaf dem Heiligen berichtet, daß er einmal sonntags mit seinem Messer gedankenverloren an einem Stöckchen schnitzte, was sein Page wegen der dadurch gebrochenen Sonntagsruhe mit den Worten „Montag ist morgen, Herr“ quittiert haben soll. Das Schnitzen von Spielzeugen – es haben sich hölzerne Modellboote, Miniaturwaffen und Spielzeugtiere erhalten – und Gebrauchsgegenständen diente im Alltag zweifellos als Ersatz für andere Arten des Zeitvertreibs, und die erwähnte Rüge zeigt, wie nahe hier Unterhaltung und nützliche Arbeit nebeneinanderlagen. In den Schnitzereien ist uns übrigens – wie sonst nur im Schmuckhandwerk – der hohe Form91
wille der Wikingerzeit überliefert: die geschnitzten Betten, Schlitten, Stühle des Osebergfundes legen beredt Zeugnis ab vom hohen Stand der Holzschnitzkunst, wie sie sich auch auf Kirchentüren, Schiffssteven und in den Hochsitzpfeilern der Höfe wiederfand. Von großformatigen Schnitzereien als Wandschmuck, die ganze mythologische Szenen wiedergeben konnten, hören wir in der Laxdoela saga (Kap. 29) unter Bezugnahme auf den Hof des Olaf Pfau in Hjarðarholt auf Island. Neben solchen Schnitzereien wurden auch Behänge und Teppiche als Dekoration der Häuser verwendet, was bei den Grassodenhäusern auf den atlantischen Inseln wohl noch wichtiger war als bei den Bohlenbauten. Reste von kleinen, aber mit überaus detailreichen Darstellungen versehenen Textilien hat man in Norwegen gefunden, was zeigt, wie ausgeprägt auch bei den heimgefertigten Textilien – Webstühle dürfte es in jedem größeren Hof gegeben haben – der Formwille war. Das typische Langhaus der Wikingerzeit ist ursprünglich aus dem eisenzeitlichen Hallenhaus hervorgegangen und zeichnet sich durch einen langgestreckten Zentralraum mit in der Mitte verlaufendem Langfeuer aus. Den Wänden sind über die gesamte Länge niedrige Holzpodeste vorgelagert, die sowohl als Sitzgelegenheiten wie auch als Nachtlager dienten. Nur bei größeren, alleinstehenden Bauernhöfen finden sich vereinzelt Nebenräume als Schlafkammer des Hausherren, als Räume zur Milchverarbeitung oder auch Abtritte. Die Hauskonstruktionen selbst unterscheiden sich je nach Region. In Skandinavien handelte es sich bei den meisten Häusern wohl um reine Holzbauten, wobei die Balkenrahmen mit waagrechten Brettern oder Bohlen zu Wänden verschalt wurden. In waldärmeren Gegenden wurde eine andere Methode der Wandherstellung gewählt. Die fehlenden Bretter wurden hier durch Flechtwerk ersetzt, dessen senkrechte Steher mit Ruten umflochten und schließlich mit Lehm beworfen wurden. Solche Häuser hat man sowohl im wikingerzeitlichen York (Jorvik) als auch in Dublin (Dyflinnaborg) und Nowgorod (Hólmgarðr) gefunden. In Hedeby bei Schleswig (Hait92
habu) fanden sich neben Holzhäusern auch Flechtwerkkonstruktionen. Auf den atlantischen Inseln von den Orkneys bis nach Grönland war dagegen der fast ausschließlich aus Grassoden auf Steinfundamenten errichtete Langhaustyp vorherrschend, dessen einzige Holzteile die Dachkonstruktion und die Tragepfeiler waren, während das eigentliche Dach ganz aus Rasenziegeln bestand. Sowohl die städtischen Häuser (die etwa in Haithabu nie 15 X4,5 m überstiegen) als auch die Langhäuser der Bauernhöfe (die mitunter länger sein konnten) dienten als Wohnund Schlafraum, ein Ende bisweilen als Viehstall, aber auf jeden Fall auch als Arbeitsraum. In den städtischen Siedlungen, deren Wirtschaftsleben von handwerklicher Tätigkeit und Handel geprägt war, wurden im übrigen keine separaten Werkstätten gefunden, auch wenn die einzelnen Handwerke wie im späteren Mittelalter sich in bestimmten Straßen konzentrierten. Unabhängig von ihrer tatsächlichen Größe wurden die städtischen Häuser ebenso wie die Bauernhöfe als garðr „Hof“ bezeichnet, wovon sich die Bezeichnung garðr/ garðar für Stadt ableitet. Die reichsten Ausgrabungsfunde für wikingerzeitliches Handwerk stammen auf Grund der Haltbarkeit der Rohmaterialien von den lederverarbeitenden, metallverarbeitenden und hornverarbeitenden Gewerben. Die Metallverarbeitung umspannte die ganze Bandbreite von der Waffenproduktion bis zu äußerst filigranen Gold- und Silberschmiedearbeiten, die zum Teil die Kenntnis des Drahtwalzens und die Möglichkeit zur Erzeugung sehr hoher Brenntemperaturen £iir Schmelzprozesse voraussetzten. Stilistische Gemeinsamkeiten zwischen dänischem und schwedischem Schmuck belegen auch die internationalen Verbindungen der wikingerzeitlichen Künstler und Handwerker. Die internationalen Einflüsse und die offenbar ausreichend vorhandenen Edelmetalle als Zeugnisse des Reichtums reichen aber nicht als Erklärung für die hochstehende wikingerzeitliche Goldschmiedekunst aus, auch nicht für die prachtvollen Schnitzereien. Neben der reichlichen Zeit, welche sowohl 93
Handelsfahrten und Landwirtschaft in den langen Wintermonaten für künstlerische Betätigung freisetzten, war es aber auch ein ausgeprägter Formwille, eine Lust am „Design“, die die Wikingerzeit prägte: auch Alltagsgegenstände, wie Äxte, Schlitten, Schiffe wurden reich verziert, und der Hang zu Prunk und Schmuck fiel selbst den arabischen Reisenden, die mit den Rus’ in Berührung kamen, wiederholt als erwähnenswert auf (s. oben Kap. 4c). Zu den am häufigsten erhaltenen wikingerzeitlichen Schmuckgegenständen zählen silberne Armreifen, die auch als Bruchsilber verwendet wurden, d.h. man konnte das Silber entsprechend seinem Gewicht als Zahlungsmittel verwenden, indem man Stücke der spiralförmigen Armringe abkniff. Häufiger aber noch als solche Ringe sind Funde von Fibeln, deren Form und Stil Auskunft geben über die Kleidungsgewohnheiten und Moden der einzelnen Regionen Nordeuropas, da sie notwendiger Bestandteil jeder Frauentracht waren. Zwei dieser schalenförmigen, meist stark dekorierten Spangen verschlossen die Rockträger vor den Schultern, eine weitere schloß den umhangartigen Übermantel vor der Brust. Fibeln finden sich als Standardinventar in Frauengräbern, aber auch in Schatzfunden. Die Kleidung selbst dagegen ist erwartungsgemäß fast stets zu Staub zerfallen. Nur selten gelingen so glückliche Funde von Textilien wie in den Gräbern von Birka in Schweden oder im Hafen von Haithabu, wo man auf Kleiderreste und Stoffbündel gestoßen ist. Trotzdem erlauben gerade die Fibeln und die überaus seltenen Knöpfe Aussagen über die Kleidung der Wikingerzeit. So trugen die Frauen über einem bodenlangen Leinenhemd einen Kittel, dessen zwei Träger vorne an den Schultern mit dem Vorderteil verbunden waren. Als Mantel hatten sie einen einfachen Umhang, wie ihn auch die Männer trugen, der ebenfalls mit einer Fibel über der rechten Schulter befestigt wurde, um die rechte Hand frei zu haben. Die einfachste Männertracht besteht aus langen Hosen und einem weiten langen Hemd, das durch einen Gürtel gerafft war. Darüber zogen die wohlhabenden Bewohner von Birka geknöpfte oder übereinanderge94
schlagene Jacken. Die Hosen wurden teilweise unten mit Wickelgamaschen um die Unterschenkel geschnürt, teilweise – nach orientalischem Vorbild – als mehrfarbige Pluderhosen gearbeitet, zu denen ebenfalls Wickelgamaschen getragen worden sein dürften, da Stiefel selten und dünne lederne Halbschuhe oder halbhohe Schuhe für Männer wie Frauen die Regel waren. Neben teuren Fellkappen dienten auch vielfarbige Schnürkappen als Kopfbedeckung zu besonderen Anlässen, während im Alltag einfache Lederkappen getragen wurden. Lederkappen und Lederjacken scheinen für die Krieger der Wikingerzeit oft den einzigen Schutz dargestellt zu haben, und es ist häufig auf das offenbar nur geringe Schutzbedürfnis wikingerzeitlicher Krieger hingewiesen worden. In der Tat sind Funde etwa der angeblich so typischen, wikingerzeitlichen Helme mit konischer Form, Nasenschutz und Augenumrandung außerordentlich selten. Der einzige vollständig erhaltene Helm dieser Art stammt aus Gjermundbu in Norwegen. Charakteristisch sind für die Wikinger wohl eher die normannischen Helme in konischer oder halbkugeliger Form mit einfachem Nasenschutz gewesen, sofern der einzelne Kämpfer nicht überhaupt nur lederne Kappen, allenfalls vielleicht mit rippenartiger Metallverstärkung, trug. Einfache konische Helme, wie sie bei Gorodisce am Wolchow (gegenüber von Nowgorod) und Gniozdovo am Dnjepr (bei Smolensk) gefunden wurden, sind eher als Stahlhauben zu bezeichnen und lassen orientalische Einflüsse erkennen. Die aufwendig dekorierten vendelzeitlichen Helme mit dekorierten Schläfenstücken, erhöhtem und figurenverzierten Mittelgrat und Wangenschutz sind für die Wikingerzeit jedenfalls nicht mehr belegt. Auf Reste von Kettenhemden ist man nur vereinzelt gestoßen; mit ihnen suchten sich, da es sich meist um kostbare Beutestücke aus dem Süden handelte, vornehmlich die reicheren Krieger im Einsatz zu schützen, während sich die meisten anderen mit Lederjacken oder gepolsterten Wolljacken begnügen mußten. Jedenfalls waren die durchwegs knielangen Kettenhemden der Normannen, wie sie auf dem Teppich von Bayeux zu erken95
nen sind, kaum sehr verbreitet. Den eigentlichen Schutz bildeten für die Kämpfer ihre aus leichten Hölzern gefertigten Schilde, deren Griffband durch die sehr häufig erhaltenen metallenen Schildbuckel geschützt war, meist das einzige, was von den Schilden geblieben ist. Im Gegensatz zu den länglichen, nach unten hin spitz zulaufenden Schilden der Normannen (die sich aber im 12. Jahrhundert anscheinend auch in Skandinavien durchsetzten) waren die typischen Wikingerschilde kreisrund, häufig auch farbig bemalt, wie die schwarzgelb gestreiften Schilde von ca. 1 m Durchmesser im Gokstadfund belegen. Die wohl wichtigste und kostbarste Waffe eines Wikingers, die aber sicherlich nicht jeder Krieger führte, war das Schwert, wie sich auch daran zeigt, daß ihm gelegentlich Eigennamen beigelegt wurden, etwa Leggbítr „Fußbeißer“ oder Sköfnungr „das Polierte“. Neben dem zweischneidigen Schwert kannten die Wikinger auch einschneidige Kurzschwerter oder Kampfmesser (sax), die besonders für den Nahkampf geeignet waren. Die langstielige Streitaxt und die Lanze mit langer Spitze, die als Ausrüstungsgegenstände offenbar sehr verbreitet waren, wurden sowohl als Wurf- als auch als Nahkampfwaffe verwendet. Wenn Olaf der Heilige seine Axt Hei benannte – nach der nordischen Todesgöttin –, dann zeigt dies die Bedeutung, die selbst ein König seiner Streitaxt beimaß. Zu den Waffen der Wikinger gehörten ferner Pfeil und Bogen, die zwar archäologisch weniger leicht nachweisbar sind, in den überlieferten Kampfbeschreibungen allerdings wiederholt erwähnt werden. Die im Kampf eingesetzten Pferde scheint man in der Wikingerzeit noch gar nicht geschützt zu haben. Irgendwelche Gegenstände, die darauf hindeuten könnten, wurden bislang jedenfalls nicht gefunden, obwohl das Pferd nachweislich eine wichtige Rolle spielte. Die fränkischen Chroniken erwähnen wiederholt berittene Scharen von Skandinaviern, die die Städte abseits des Rheins gebrandschatzt hätten, wiewohl nicht sicher ist, ob die Wikinger jemals Pferde mit auf ihre Schiffe nahmen, um nach der Landung mobiler zu sein. Die techni96
sehe Möglichkeit hätte zumindest bestanden. Wagen und Karren waren dagegen ausschließlich als reines Arbeitsgerät für schwere Lasten oder im landwirtschaftlichen Betrieb einerseits bzw. als Prunk- und Grabfahrzeuge andererseits im Einsatz. Der im Oseberggrab entdeckte vierrädrige Wagen war zwar kein Grabwagen, wie ihn etwa keltische Fürsten verwendeten, wird aber aufgrund seiner reichen Verzierungen sogar als möglicher Kultwagen angesehen. Karren, also zweirädrige Wagen, waren deutlich häufiger als vierrädrige Wagen, doch hat man auch letztere, mit einer Ladekapazität von bis zu über einer Tonne, in Haithabu gefunden. Ein seltsamer Fund sind die im Boden erhaltenen Radspuren eines Bauern, den der Tod auf seinem Karren ereilt haben dürfte; offenbar hatte er versucht, mit seinem zweirädrigen Karren vor einem heraufziehenden Sandsturm noch schnell quer über sein gerade frischgepflügtes Feld in sein Haus bei Lindholm in Jutland zu gelangen. Es dürfte ihm nichts genützt haben, denn der Sturm bedeckte das Feld und seinen Hof metertief mit Sand. Nachdem die Sandschicht abgetragen war, waren die alten Pflugund Radspuren aus jener Zeit noch klar zu erkennen. Nicht nur Sandstürme und Sturmfluten gefährdeten das tägliche Leben des wikingerzeitlichen Bauern. Auch der ganz normale Alltag war angesichts der vielen Unwägbarkeiten einer landwirtschaftlichen Subsistenzwirtschaft vom Kampf um das Überleben geprägt. Die Erträge aus Viehzucht und Getreideanbau mußten immer auch durch den Fischfang sowie das Sammeln von Vogeleiern und Beeren ergänzt werden. Je weiter nördlich, desto geringer wurde der Anteil an – speicherbarem – Getreide in der täglichen Mahlzeit, und eine desto größere Rolle spielten daher Fisch und Milchprodukte, wobei aber sowohl der Fischfang als auch die Rinderzucht von guten Sommern abhängig waren. Bereits kleinere Klimaschwankungen, mehrere kühle oder regnerische Sommer hintereinander konnten das Einbringen einer ausreichenden Menge Heu als Winterfutter für die Tiere verhindern und zu Hungersnöten führen. Denn bei Notschlachtungen im Herbst waren die Möglichkeiten zur Aufbewahrung von Fleisch be97
schränkt. Hinzu kam, daß bei weniger Rindern auch weniger Milch als Rohstoff für Milchprodukte anfiel. Dies traf vor allem, auf die Siedler auf den atlantischen Inseln, Island und Grönland zu, die weitgehend auf sich selbst gestellt waren. Hier lebten in der sozialen Einheit der Großfamilie nicht nur mehrere Generationen, sondern auch alle Unfreien, oft genug sogar die Tiere mit unter einem Dach. Das Jahr war durch den saisonalen Rhythmus der Landwirtschaft, die kurzen Sommer für Schiffsreisen und den Thingbesuch, sowie die in den Quellen gut belegten Herbstund Julfeste gegliedert. Hochzeiten verlegte man nach Auskunft der isländischen Sagas mit Vorliebe in den Herbst, da dann am ehesten ausreichend Nahrungsmittel und frischgeschlachtetes Fleisch vorhanden waren. In der intensiven Arbeit der Sommermonate, in den langen Nächten des Winters und im oft hungrigen Warten auf den Frühling spielten die Festzeiten, rein zeitlich gesehen, nur eine geringe Rolle. Dennoch überstieg die soziale Bedeutung etwa der Julfeste eindeutig unsere heutige, eher gedämpfte Erwartung an Feste: die Atmosphäre einer Welt, in der das Fest die Ausnahme und einen einsamen Höhepunkt im sozialen und materiellen Wohlbefinden des Jahreskreises bildet, vermögen unsere heutigen historisierenden Festimitationen wohl kaum mehr zu vermitteln.
VI. Eine Welt nur für Männer? Die Gesellschaftsordnung der Wikingerzeit Männer und Frauen Der heutige Wikingermythos sieht die Wikinger in erster Linie als Männer, sei es als Krieger, als Seefahrer oder als Siedler. Das uns geläufige „heldische Lebensgefühl“ der Wikingerzeit legt eine an Machismo grenzende Verehrung von üblicherweise als männlich apostrophierten Eigenschaften nahe. Auch die solidesten wissenschaftlichen Darstellungen können sich dieser Versuchung nicht entziehen: „The Norðmenn or Nordmanni, despite southern witness and the image-making of their own artists, were, one almost apologizes for saying, first and foremost men.“ (Jones 1973, S. 2) Auf den Schiffen jener beutegierigen Wikinger, die zu ihren ersten Überfällen nach Friesland oder England aufbrachen, befanden sich wohl tatsächlich ausschließlich Männer, und von Frauen auf Wikingerzügen hören wir indirekt erst Mitte des 9. Jahrhunderts, als die ersten Skandinavier in Frankreich zu überwintern beginnen. Aber auch wenn sich das Gros der Kämpfer aus jüngeren Söhnen kinderreicher Familien zusammengesetzt haben mag, wie uns die Begründungen einiger zeitgenössischer Quellen glauben machen wollen (vgl. oben Kap. 1), so ist als Resultat der Plünderfahrten – ebenso wie auch der Handelsfahrten in den Osten – zahlreicher männlicher Skandinavier eine noch größere Zahl von Frauen und Müttern zu sehen, die während der monatelangen Abwesenheit ihrer Männer die Wirtschaft von Höfen jeder Größenordnung zu übernehmen hatten. Dazu kam, daß die zahlreichen auf Heerzügen gefallenen Männer zweifellos auch Witwen in schwierigen sozialen Verhältnissen zurückließen. Selbst eine zahlreiche Nachkommenschaft, wie sie die verschiedentlich für das wikingerzeitliche Skandinavien postulierte Mehrehe förderte, war angesichts der hohen Kindersterblichkeit keine Garantie für die soziale Absicherung gerade der Frauen. Deswegen sind Tausende von schwedischen Runen99
steinen, die man den Verstorbenen setzte, wohl zugleich auch als Dokumente über den Erbgang zu lesen, da in vielen Fällen die überlebende Frau als Auftraggeberin eines solchen Steins für ihren in der Fremde gefallenen Mann verzeichnet wird. Ein besonders komplexes Beispiel bietet der Runenstein von Hillersjö in Uppland aus dem 11. Jahrhundert: Geirmund heiratete Geirlaug, als sie ein Mädchen war, sie hatten einen Sohn, bevor Geirmund ertrank und der Sohn starb. Dann heiratete sie Gudrik, und sie hatten Kinder, aber nur ein Mädchen überlebte, sie hieß Inga. Die heiratete Ragnfast von Snottsta, dann starb dieser und ihr Sohn starb und Inga beerbte ihren Sohn. Dann heiratete sie Eirik [der dürfte auch gestorben sein]. Sie starb da, und Geirlaug beerbte da ihre Tochter Inga. Der Skalde Thorbjörn ritzte die Runen. Aus den insgesamt vier Ehen Geirlaugs und ihrer Tochter Inga war also kein einziger Nachkomme übriggeblieben, weshalb Geirlaug ihre einzig überlebende Tochter aus zweiter Ehe, Inga, beerbte, nachdem diese wiederum das Erbe ihres einzigen Sohnes aus erster Ehe angetreten hatte. Wenn man einmal den tragischen Hintergrund der Inschrift beiseite läßt, dann kann man an diesem steinernen Zeugen aus längst vergangenen Tagen auf eindrucksvolle Weise ablesen, wie sehr das soziale Gefüge der Wikingerzeit von den Frauen abhängig war, deren Söhne und Männer mitunter jahrelang von ihren Höfen abwesend waren und nur zu oft überhaupt nicht mehr dorthin zurückkehren sollten, und die somit die gesamte Arbeit und Verwaltung eines Hofes zu bestreiten hatten. Die Runensteine sind nahezu die einzigen erhaltenen Zeugnisse, aus denen wir etwas über die normale soziale Stellung der Frau innerhalb des wikingerzeitlichen Skandinavien in Erfahrung bringen können. Ansonsten finden sich eher für Frauen an den extremen Enden des sozialen Gefüges, Königinnen und Sklavinnen, in den Quellen verstreute Nachrichten. Das am üppigsten ausgestattete uns bekannte Grab der nordischen Wikingerzeit ist das einer Frau. Im Grabhügel von 100
Oseberg wurde eine Königin beigesetzt, deren Reichtum und Macht nicht nur in der Größe ihres Grabhügels und den zahlreichen wertvollen Grabbeigaben wie Schiff, Boote, Wagen, Schlitten, Tiere und Nahrungsmittel, zum Ausdruck kommen, sondern auch dadurch, daß man ihr eine Begleiterin mit auf die letzte Reise gegeben hat, wie es auch sonst in skandinavischen Gräbern des 1. Jahrtausends vereinzelt vorkommt. Allerdings wissen wir nicht, wer von den beiden Leichen Asa, die zweite Frau eines Königs Gudröd, war, ob sie die junge oder die alte Frau war, die man im Schiff bestattet fand. Eine andere, dänische Königin erwähnt der maghrebinische Dichter und Diplomat al-Ghazal (gest. 860). Gerade die arabischen Augenzeugen interessierten sich sehr für die Frauen der Nordeuropäer, angeblich wegen der im Vergleich zu arabischen Ländern selbstbewußten Rolle, die sie in ihrer Gesellschaft spielten. al-Ghazal beschreibt eine Reise nach Dänemark (erhalten in der Literaturanthologie des Ibn Dihya), wo er im Laufe einer Mission zu einem König auch die Königin kennenlernt und schließlich angeblich sogar eine Affäre mit ihr beginnt, die seine diesbezüglichen Bedenken damit ausräumt, daß sie ihn auslacht und ihm klarlegt, daß die Frauen in Skandinavien nur aus freien Stücken bei ihren Männern blieben und diese jederzeit verlassen könnten. In dieser romantischen Erzählung ist sicherlich ein kräftiges Maß an Wunschdenken des Arabers enthalten, dennoch ist unbestritten, daß die nordischen Frauen in Relation zur arabischen Welt eine größere Unabhängigkeit genossen. Die arabischen Quellen sind diesbezüglich überhaupt mit einiger Vorsicht zu genießen, da die Reisenden offenbar von den laxeren skandinavischen Sexualgewohnheiten überrascht waren und daher leicht zu Übertreibungen neigten. Dazu gehören wohl auch die etwas drastischen Schilderungen des Ibn Fadian über den König der Rus’, der sich 40 Sklavenmädchen als Beischläferinnen hielt, oder über jene Kaufleute, die in öffentlichen Gebäuden vor den Augen der Kundschaft ihre Sklavinnen beschliefen. Repräsentativ für die Stellung der Frau im wikingerzeitlichen Skandinavien sind Schilderungen wie die vorgenannten 101
jedenfalls nicht, sondern können allenfalls als Schlaglichter auf das Verhalten von Männern in Sklavenhaltergesellschaften betrachtet werden, gesehen durch die Augen von Reisenden aus einer sexuell repressiveren Gesellschaftsordnung wie dem Islam. Ähnliches gilt für Beschreibungen der zu diesem Zeitpunkt ja schon lange christianisierten Iren, die ebenfalls schockiert anmerkten, daß sich die Wikinger der Vielweiberei hingaben. Dies entspricht auch den schon oben (Kap. 1) erwähnten Angaben des Normannenhistorikers Dudo, der die Zeugung einer zahlreichen Nachkommenschaft auf die sexuelle Unersättlichkeit der Norweger zurückführte. Adam von Bremen (IV, 21) berichtet auch für die Schweden von Maßlosigkeit und Vielweiberei, andererseits auch von der Todesstrafe für Vergewaltiger und noch an anderer Stelle (IV, 6) hebt er den Vorbildcharakter eines dänischen Gesetzes hervor, nach dem Ehebrecherinnen auf der Stelle verkauft würden. Aussagen und Berichte wie diese machen deutlich, daß die Institution der Vielweiberei ebenso wie eine gewisse Unabhängigkeit der Frau – wir kennen die auch einseitige Ehescheidung durch die Frau dann später noch aus den isländischen Quellen – wenig mit sexueller Permissivität zu tun hat. Tatsächlich dürfte die Mehrehe, wie bereits erwähnt (Kap. 1 oben), in erster Linie der Sicherung einer zahlreichen Nachkommenschaft gedient haben, um die Familie sozial abzusichern, ihrerseits aber vielleicht wieder zur Entstehung der Wikingerzüge selbst beigetragen haben. Daß sich die Ehe bei den Wikingern dennoch einer hohen Wertschätzung erfreute, bestätigen neben den Gesetzen zu ihrem Schutze auch etliche erhaltene Doppelgräber. Ob man im heidnischen Nordeuropa das Sutti, d.h. die Witwenverbrennung praktizierte, ist indes fraglich. Verbürgt hingegen ist, und zwar nicht nur durch die Schilderung eines Begräbnisses der Rus’ bei Ibn Fadian (vgl. unten Kap. 8), sondern auch durch zahlreiche Grabfunde wie das erwähnte reiche Oseberggrab, daß dem oder der Toten des öfteren Sklaven mit ins Jenseits gegeben wurden. Die Stellung der Frau in der Ehe wird, allerdings erst um 1300 und vor dem Hintergrund einer seit langem christiani102
sierten isländischen Gesellschaft, durch eine Stelle in der Njáls saga (Kap. 77) exemplifiziert: In diesem Moment sprang Thorbrand Thorleiksson auf die Mauer und durchschlug Gunnars Bogensehne. [...] Er sprach zu Hallgerd: ,Gib mir zwei von Deinen Haarsträhnen, und dreh sie mir mit meiner Mutter zu einer Bogensehne.’ ,Liegt Dir etwas daran?’ sagte sie. ,Mein Leben hängt daran’, sagte er, ,denn sie werden mich nie überwinden, solange ich meinen Bogen habe.’ ,Dann werde ich Dich jetzt’, sagte sie, ,an die Ohrfeige erinnern, [die du mir einmal gegeben hast], und es schert mich nicht, ob Du Dich länger oder kürzer wehren kannst.’ Zwar findet man in den Sagas des 13. Jahrhunderts regelmäßig Belege für die Unabhängigkeit der isländischen Frauen in der Wikingerzeit wie diesen, doch wird sie von den Autoren meist negativ besetzt, was üblicherweise dem Einfluß des Christentums zugeschrieben wird. Es wurde schon erwähnt, daß auf den wikingischen Plünderungsfahrten im engeren Sinn kaum Frauen mitgereist sind. Erst mit den Überwinterungen ab der Mitte des 9. Jahrhunderts wird in den fränkischen Annalen auch von Frauen in den wikingischen Heeren berichtet, über deren Rolle wir jedoch nichts erfahren. Für die Rus’ geben uns wenigstens die Gräber eine bessere Auskunft: von den sicher skandinavischen Gräbern, die man bisher ausgegraben hat, sind etwas mehr als die Hälfte Frauengräber, was den hohen Frauenanteil in diesem skandinavischen Expansionsgebiet belegt. Für ihre Rolle in dieser Kolonialgesellschaft ist dabei bezeichnend, daß von den für die Gräber von Händlern typischen Waagen und Gewichten als Grabbeigaben 20% in Frauengräbern gefunden wurden, daß also offensichtlich Frauen auch im Handel selbst eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. Innerhalb Skandinaviens muß man für die soziale Rolle der Frau offenbar mit großen regionalen und zeitlichen Unterschieden rechnen: im vendelzeitlichen, also vorwikingerzeitlichen schwedischen Uppland kann man in Valsgärde in einem 103
über 300 Jahre lang belegten Grabfeld feststellen, daß die Bootsgräber über den ganzen Zeitraum den Männern vorbehalten waren, die meist karger ausgestatteten Brandgräber den Frauen; aber unweit davon, in Tuna, verhält es sich umgekehrt: hier liegen viele Männer in eher ärmlichen Brandgräbern, daneben finden sich aber zahlreiche Generationen von reichen Frauen-Bootgräbern. Offenbar waren also die Bootsgräber auf eine Herrschaftslinie eines Distrikts beschränkt, und diese konnte anscheinend dem Patriarchat oder dem Matriarchat folgen. Insgesamt sind die Auskünfte der Quellen über die Stellung der Frau höchst unbefriedigend. Zwar gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Veröffentlichungen, die sich mit den Frauen der Wikingerzeit beschäftigen, doch haben auch sie keine endgültige Klarheit über die Rolle der Geschlechter im wikingerzeitlichen Skandinavien gewinnen können. Zu widersprüchlich sind die wenigen überlieferten Aussagen über Rechte und Einflußreichtum der Frau.
VII. Politische Propaganda, Heldenlieder und Götterdichtung – Skaldendichtung und Eddalieder als Literatur der Wikingerzeit Bis vor wenigen Jahrzehnten noch stand gemeinsam mit mittelalterlicher deutscher Literatur auch die Lektüre von Auszügen „aus der Edda“ auf dem Lehrplan deutscher Gymnasien. Dabei ist die Edda nur eines von zahlreichen Werken der skandinavischen Literatur, welche die deutsche Literaturwissenschaft für sich zu vereinnahmen drohte. Allerdings war es nicht die Germanistik allein, die so verfuhr. Auch die englische und amerikanische Anglistik zählt die altnordischen Werke zu ihren Themen. Welcher Beliebtheit sich die altisländische Literatur im angelsächsischen Bereich erfreut, kann allein schon daran abgelesen werden, daß Sagaübersetzungen Auflagen in Bestsellerhöhe verzeichnen. Die Eddalieder dagegen werden in die großen Sprachen und selbst in andere Kulturkreise immer wieder neu übertragen. Bei alledem sollte aber nicht vergessen werden, daß die oft leichthin als Literatur der Wikingerzeit angesprochenen altnordischen Helden- und Götterlieder der Lieder-Edda erst Ende des 13. Jahrhunderts, also lange nach der Wikingerzeit, zu Pergament gebracht wurden. Auch die Lieder der Skalden sind erst damals oder sogar noch später aufgezeichnet worden, und es ist seit langem erwiesen, daß die Mehrzahl der Strophen, die in den mittelalterlichen Handschriften wikingerzeitlichen Personen in den Mund gelegt werden, keinen höheren Authentizitätsgrad haben als die Monologe der Shakespearschen Dramen. Gleichwohl wäre es verfehlt, im Rahmen der Literatur von Fälschungen zu sprechen, da der Echtheitsanspruch des Publikums im 13. Jahrhundert nicht mit den Maßstäben der modernen Philologie gemessen werden darf. Auch die Eddalieder sind in vielen Fällen erst lange nach Ende der Wikingerzeit entstanden, so z.B. etliche der Götterlieder 200 bis 300 Jahre nach der Christianisierung, motiviert durch ein tiefes, aber gelehrtes Interesse für die heidnische Vorzeit. 105
Wenn also ein offenbar beträchtlicher Teil der überlieferten Texte unecht ist, die schriftliche Fixierung der altnordischen Literatur sogar erst 2-4 Jahrhunderte nach der Wikingerzeit einsetzte, dann stellt sich damit selbstverständlich die Frage: Gibt es so etwas wie eine wikingerzeitliche Literatur, bzw. was ist davon überhaupt erhalten geblieben? Wenn die Wikingerzeit, was im übrigen niemand bestreitet, vor der Christianisierung auch eine buchlose Kultur war, schrift- oder literaturlos war sie deswegen noch lange nicht. Noch dazu überspannte die wikingerzeitliche Kultur durch eine gemeinsame Sprache, die üblicherweise als dönsk tunga (eigtl. „Dänische Sprache“) bezeichnet wurde und zwischen 800-1200 keine allzugroßen Veränderungen erlebte, einen Sprachraum, der von Skandinavien über die atlantischen Inselgruppen der Färöer, Shetlands und Orkneys, die Hebriden, Irland, die Isle of Man, Island und Grönland bis in Teile Schottlands, Englands und der Normandie reichte. Auf diese Weise konnten sich die Skandinavier bis zur Eroberung Englands im Jahre 1066 innerhalb eines großen geographischen Raumes ohne Probleme verständigen. Schon lange vor der Wikingerzeit verwendeten die Skandinavier, wie auch die anderen germanischen Stämme, die Runenschrift, ohne daß man sie deshalb aber als Gebrauchsschrift im heutigen Sinne auffassen kann. Die Runen waren nach dem Vorbild griechischer, etrurischer und römischer Alphabete schon um die Zeitenwende entstanden und bis zum 5. Jahrhundert hatte sich ein recht einheitliches Runenalphabet von 24 Zeichen entwickelt, das nach den ersten 6 Zeichen dieser Runenreihe als (älteres) Futhark bezeichnet wird. Kurz vor Beginn der Wikingerzeit begann sich dieses Runenalphabet in Richtung einer Vereinfachung zu verändern und resultierte in dem aus nur 16 Zeichen bestehenden sogenannten jüngeren Futhark. Jede Rune repräsentiert nicht nur ein Schrift-, sondern zugleich auch ein Symbolzeichen, das im Namen der betreffenden Rune teilweise wiedergegeben wird. Zu Beginn des ersten Jahrtausends stand zumeist noch der Symbolcharakter der einzelnen Zeichen im Vordergrund und reli106
giöse wie magische Inschriften sind hier häufig. Später nahm die Bedeutung der Runen als Schrift mit Dokumentationscharakter allmählich zu, wie die meisten wikingerzeitlichen Runensteine erkennen lassen. Vom 11. bis 14. Jahrhundert fungierte das Runenalphabet schließlich als Gebrauchsschrift, die häufig auch für lateinische Texte Verwendung fand. Runensteine bestehen meist aus besonders plazierten, oft behauenen Findlingen, seltener aus natürlichen Felsplatten. In Norwegen gibt es etwa 60 wikingerzeitliche Runensteine, in Dänemark ca. 200, in Schweden sind es die meisten der 3000 erhaltenen Runeninschriften, während die etwa 70 isländischen und 75 grönländischen Inschriften allesamt auf losen Gegenständen wie Knochen und Stäbchen gefunden wurden. Die am weitesten nördlich gefundene Inschrift befindet sich auf der Insel Kingigtorssuaq, knapp unter dem 73. Breitengrad an der Westküste Grönlands. Die umfangreichste Ritzung auf einem Stein ist die auf dem Rökstein (nach 800), welcher in 768 Runen einen Text bringt, dessen Bedeutung noch immer nicht völlig geklärt ist. Sicher ist nur, daß es sich in erster Linie um einen Gedenkstein für einen Gefallenen handelt. Gedenksteine wie dieser waren aber nicht nur Ausdruck von Pietät, sondern stellten auch Rechtsdokumente dar, auf denen die Erbfolge fixiert wurde. Auffällig dabei ist die große Zahl solcher Steine, die von Frauen gesetzt worden sind (s. oben Kap. 6). Zahlreiche Runensteine sind Grabsteine, die oft durch den Thorshammer oder das Kreuz auf die Religion des Verstorbenen hinweisen. Als Dokument für die Bekehrung der Dänen zum christlichen Glauben (765) dagegen wurde der große Stein von Jelling in Jutland errichtet. Weniger bedeutsam, aber um so typischer für den Runengebrauch sind die (allerdings nachwikingerzeitlichen) 29 Graffiti im Megalithgrab von Maeshowe auf Mainland/Orkney, deren Inhalt recht banal ist. Auch die südlichsten erhaltenen Runeninschriften in der Hagia Sophia in Konstantinopel und auf dem Löwen von Piräus (heute in Venedig) aus der Wikingerzeit sind Graffiti, denen wir jedoch wenig mehr als den Namen ihres Verfassers entnehmen können. 107
Frühe Runeninschriften (so auf dem Goldhorn von Gallehus, um 400 n. Chr.) belegen, daß die wichtigste Einheit altskandinavischer Dichtung, die stabende Langzeile, bereits lange vor dem Mittelalter bekannt und in Gebrauch war. Während der Wikingerzeit kam es dann zur Ausbildung komplizierter Vers- und Strophenformen, die offenbar ebenfalls auf eine alte Tradition zurückblicken konnten. Träger dieser Dichtung waren die Skalden, reisende Hofdichter, die sich zeitweilig oder auch länger bestimmten Fürsten anschlössen, um deren Taten in gebundener Dichtung zu verewigen. Noch im 9. und 10. Jahrhundert waren die Skalden bisweilen auch Norweger, später durchweg Isländer. Der erste namentlich bekannte Skalde, der später zum (Halb-)Gott erhobene Bragi Boddason, lebte im 9. Jahrhundert und hielt sich an den Königshöfen von Norwegen und Schweden auf. Bei ihm ist das typische Versmaß des skaldischen Preisliedes, das Drottkvsett (etwa: „Herrenton“), noch nicht so komplex ausgeführt wie bei späteren Skalden. Dennoch wäre es verfehlt, in Bragi etwa den Begründer des Dróttkvæstt sehen zu wollen. Die Qualität der Dróttkvsettgedichte wurde von den Zeitgenossen nach ihrer Länge und dem Schwierigkeitsgrad der verwendeten Versmaße beurteilt. Für ihre Arbeit wurden die Skalden mit Zugehörigkeit zum königlichen Gefolge und besonderen Geschenken entlohnt. Manche von ihnen verblieben mitunter recht lange am Hofe eines bestimmten Fürsten, wie etwa Sighvatr Þórðarson, der Olaf dem Heiligen ca. 15 Jahre lang als Skalde und Diplomat gedient hat und mehrere Gedichte auf den König, auch nach dessen Tod 1030, verfaßte, obwohl der König der Skaldendichtung – wegen der für ihn damit verbundenen heidnischen Konnotationen – gar nicht sonderlich positiv gegenüberstand. Dagegen hatte der heidnische Jarl Hakon von Hlaðir in den 80er-Jahren des 10. Jahrhunderts die politische Propagandafunktion der Skaldendichtung erfaßt und scharte eine ganze Reihe von – angeblich neun – isländischen Skalden um sich, deren Vorliebe für die heidnische Religion gegenüber dem langsam vordringenden Christentum er sich zunutze machte, 108
um sich als Herrscher von der alten Götter Gnaden besingen zu lassen. Als Skalden bezeichnete man aber auch alle anderen Dichter, die gebundene Strophen verfaßten, auch wenn sie sich dabei nicht mit dem Fürstenpreis beschäftigten. Diese Dichtung umfaßte Gelegenheitsgedichte, Spott- und Schmähstrophen ebenso wie Liebesgedichte auf bestimmte Personen. Der Großteil der erhaltenen Skaldendichtung stammt aus Island, wo auch Frauen als Dichterinnen (skáldmær) belegt sind und wo die Skaldendichtung bis ins Spätmittelalter weiterblühte. Während der Wikingerzeit existierte die Skaldendichtung ausschließlich in mündlicher Form und wurde mündlich tradiert. Die schriftliche Überlieferung dieser Gedichte setzt erst mit dem 13. Jahrhundert ein. Zweifellos sind viele der überlieferten Strophen, die vermeintlich aus der Wikingerzeit stammen, Fälschungen oder Nachempfindungen einer späteren Zeit, oft genug wohl der Sagaschreiber des 13. Jahrhunderts selbst. Viele Gedichte sind jedoch sicherlich echt und stellen somit, sieht man einmal von den Runensteinen ab, unsere einzigen wirklich authentischen zeitgenössischen skandinavischen Dokumente aus der Wikingerzeit dar. Man sollte daher auch der alten, aber wenig zweckdienlichen Unterscheidung in Skaldendichtung und Eddadichtung nicht zuviel Gewicht zumessen, denn gerade einige der üblicherweise keiner der beiden Gruppen im engeren Sinn zugezählten Heldenlieder auf Helden der Wikingerzeit geben ein beredtes Zeugnis vom literarischen Leben dieser Epoche, wobei aber auch hier zu bedenken ist, daß sich nicht alle wirklich als zeitgenössische Quellen für die Wikingerzeit eignen; so sind etwa das Krókslied aus der Hálfs saga, Ragnars Sterbelied, die sog. Krákumál („Lied der Kraka“), sowie Örvar-Odds Sterbelied wohl alle erst im 12. Jahrhundert in Island entstanden; sie geben uns aber wenigstens ein gutes Bild von der Vorstellung der Wikingerzeit als heroisch-kämpferischer Zeit im Zeitalter der Renaissance des 12. Jahrhunderts, als die alten Themen in Island wieder an Interesse gewannen und damit zu einer weiteren Blüte des Wikingermythos führten. 109
Eindeutig älter ist dagegen das Haraldskvæði (auch Hrafnsmál), ein kurz nach der Schlacht am Hafrsfjord im Jahre 372 von dem Isländer Thorbjörn hornklofi auf König Harald Schönhaar verfaßtes Preislied, das Harald als großzügigen Herrscher beschreibt (Str. 16): Schwer beschenkt sind die Helden, die Schach spielen an Haralds Hof. Sie werden reich mit Geld und Schwertern beschenkt, mit hunnischem Metall und Sklavenmädchen aus dem Osten. Das war es offenbar, was sich Skalden und Krieger von einem erfolgreichen Heerführer versprachen, wobei in einer weiteren Strophe (Str. 19) noch die empfangenen (bzw. erträumten) Geschenke aufgelistet werden: Goldring, rote Lederkappen mit bunten Streifen, silberverzierte Schwerter, Ringpanzer, vergoldete Schildriemen, verzierte Helme und Armreifen. Für das Bild der Wikingerzeit in der zeitgenössischen Dichtung sei als weiteres Beispiel noch ein anderes, ursprünglich wohl recht umfangreiches Lied genannt, nämlich die Bjarkamál, von der sich leider nur sieben verstreute Strophen sowie eine lateinische Übersetzung des Saxo Grammaticus (in seinen Gesta Danorum, um 1170) erhalten haben. Das Gedicht wurde angeblich (so die Óláfs saga helga) im Jahre 1030 vor der Schlacht bei Stiklastaöir von Pormóðr Kólbrúnarskáld als Aufforderung zu Heroismus und Gefolgschaftstreue vorgetragen. Folgt man wiederum der Hrólfs saga kraka, dann ist die Erzählung vom Tode des heldenhaften Hrölf als der eigentliche Bezugsrahmen der Bjarkamál anzusehen. In der Tat wird Hrólf in dem Gedicht erwähnt, wenn auch vielleicht nur als Rekurs auf einen gegen Ende der Wikingerzeit schon sagenhaften Helden. Auch ein anderes wikingerzeitliches Heldenlied, als Starkads Sterbelied bekannt, ist nur in lateinischer Fassung bei Saxo (Gesta Danorum VIII, S. 269ff.) überliefert. Ebenso wie in der Bjarkamál geht es in dem Gedicht um Sieg, Ruhm und Lohn, aber auch um eine regelrechte Verachtung des Friedens: 110
Mir aber, acht’ ich, bei meiner Geburt hat beschieden das Schicksal Kriege zu suchen, im Kriege zu sterben, den Kampf zu erwecken, Stets in den Waffen zu wachen, ein Leben im Blute zu führen. Ruhelos hab’ ich im Lager gelebt; stets hasst’ ich den Frieden; Unter den Fahnen des Mars, mit steter Gefahr für das Leben Bin ich ins Alter gedrungen; ich kannte die Furcht nicht; zu kämpfen War mir ein Ruhm und zu feiern ein Schimpf; im Gemetzel zu stehen Galt mir für treffliches Werk und von Kampfe zu Kampfe zu schreiten. Dazu paßt auch die in der Haraldskvæði (Str. 6) dem König Harald angedichtete Verachtung des guten, friedlichen Lebens. Solche Aussagen stehen natürlich genau in Widerspruch mit der oben aus der selben Haraldskvæði zitierten Wunschvorstellung der Krieger, aber hier haben wir es eben mit einer überhöhten Stilisierung des heldischen Lebensideals zu tun, das nur auf den Ausnahme-Herrscher oder -Helden Anwendung finden kann. Daraus Folgerungen für das reale Leben der Wikingerzeit ableiten zu wollen, wäre gänzlich verfehlt, doch reflektiert diese Art der Dichtung immerhin das Selbstverständnis ihrer Zeit (wie ich sie in Kap. 1 habe zeigen wollen). Neben der gebundenen Dichtung, die lediglich fragmentarisch erhalten ist, hat es zweifellos auch eine Prosaliteratur gegeben, wenn auch ebenfalls nur in mündlicher Form. Etwaige Hinweise darauf, daß sich die Skandinavier bereits vor der Christianisierung die Buchkultur, die sie in England, Irland und im Frankenreich kennengelernt haben mußten, für die Zwecke ihrer eigenen Literatur angeeignet hätten, gibt es jedenfalls nicht. Selbst die für das mittelalterliche Westskan111
dinavien dann so typische Großform der Saga dürfte sich erst später am Beispiel der lateinischen Vita entwickelt haben, sodaß die in der älteren Forschung teilweise angenommene Komposition von Sagas schon im Island der Wikingerzeit und ihre mündliche Tradierung in dieser Form bis in die Zeit ihrer Aufzeichnung im 13. Jahrhundert heute durchwegs abgelehnt wird. Nichtsdestoweniger müssen die Ereignisse des 9.-11. Jahrhunderts den Saga Verfassern und Historikern des 13. Jahrhunderts noch in irgendeiner anderen Form als nur der gebundenen Dichtung zugänglich gewesen sein. Man geht heute davon aus, daß sich die Autoren auf Texte wie Genealogien, Kurzviten, Anekdoten, Kurzerzählungen und einzelne Mythenerzählungen stützen konnten, die neben anderen einfachen Formen wie Märchen, Rätsel oder Sprichwörtern sicherlich auch schon in der Wikingerzeit immer eine Rolle gespielt haben. Diese „Geschichten aus der Wikingerzeit“ wurden mündlich tradiert und haben in vielen der Fornaldarsögur („Vorzeitsagas“), die sich mit der Wikingerzeit oder einer schon vorausgehenden, fiktiven Vorzeit befassen, nicht als historische Berichte, sondern als Namen und sich darum rankende Anekdoten sowie in typisch wikingerzeitlichem sozialen Verhalten einen fernen literarischen Niederschlag gefunden: Seeschlachten, heroische Taten, Blutsbrüderschaft und Männerfreundschaft, und immer wieder wechselnde Loyalitäten zeichnen ein historisch keineswegs genaues, aber stimmungsreiches Bild dieser Vergangenheit. Die Aufbereitung dieser wikingischen Vergangenheit, die wohl zur ältesten Schicht literarischer Tätigkeit des isländischen Hochmittelalters gehört - wie uns die Schilderung einer Hochzeit von Reykahólar in Island am 29. Juli 1119 verrät, bei der schon eine Saga über Wikinger und Berserker vorgetragen worden sein soll –, hat einen wesentlichen Anteil am Wikingermythos der Neuzeit. Erst jetzt nämlich faßte man diese Erzählungen, die im Mittelalter noch der Unterhaltung dienten, als historisch auf.
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VIII. Von heidnischen Wikingern und christlichen Heiligen – Die Religionen der Wikingerzeit 1. Die heidnische Zeit Kaum ein Bereich der wikingerzeitlichen Kultur hat die Forschung so beschäftigt wie die Religion, und selbst außerhalb der Wissenschaft besitzt die germanisch-heidnische Religion des frühmittelalterlichen Skandinavien einen Symbolwert. So sollen es allein in Deutschland die verschiedenen neugermanischen Glaubensgemeinschaften angeblich auf mehrere zehntausend Mitglieder bringen (Haack 1981), in den USA dürften es noch mehr sein. Für sie hat die Rückwendung zur Religion Thors und Odins – oder was auch immer sie dafür halten – und die damit verbundene Abkehr vom christlichen Glauben dieselben Gründe, die für andere das Christentum so attraktiv erscheinen ließen und noch immer erscheinen lassen. Ist das Christentum eine offene, internationale sowie stark zentralistische Glaubenslehre, so ist das Neuheidentum der national gesinnten Kreise stark durch ethnische, nationale und sogar regionale Abgrenzungen charakterisiert. So betrachtet, lassen sich zumindest in Teilen gewisse Analogien zum Heidentum der Wikingerzeit herstellen, das weder ein überregionales Kultzentrum noch eine zentrale Leitungsfunktion kannte. Zwar verfügte Schweden, sofern wir den Berichten der Missionare und Historiographen des 11. Jahrhunderts Glauben schenken dürfen, mit dem großen Tempel in Uppsala über ein bedeutendes Kultzentrum, doch scheint seine religiöse Ausstrahlung auf andere Gebiete in Skandinavien gering und somit den großen christlichen Wallfahrtsorten des Mittelalters nicht vergleichbar gewesen zu sein. Andere Kultzentren befanden sich im dänischen Lejre auf Seeland und zu Beginn der Wikingerzeit wohl auch noch in Gudme auf Fünen (Nielsen/ Randsborg/Thrane 1994). Ansonsten war der Kult stark dezentralisiert und so sehr durch die großfamiliäre Kultfeier am eige113
nen Hof geprägt, daß im Altnordischen das Wort hov sowohl „Bauernhof“ als auch den sich wohl nur im Einzelfall daraus funktional verselbständigten „Tempel“ bedeuten konnte. Andere Tempel werden in Schweden, Norwegen, ja selbst auf Island erwähnt, letztere allerdings erst in den isländischen Sagas des 13. Jahrhunderts, die, wie erwähnt, für die Zustände während der Wikingerzeit nur sehr bedingte Aussagekraft haben. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts, also über 200 Jahre nach der Christianisierung, wurde in Island durch den Gelehrten und Politiker Snorri Sturluson mit der Prosa-Edda erstmals eine systematische Darstellung der heidnischen Religion vorgelegt. Bis heute wissen wir allerdings nicht, wieviel davon für das 9./10. Jahrhundert tatsächlich Gültigkeit beanspruchen kann und wieviel Snorris Phantasie und klassischer Bildung entsprungen ist. Überhaupt wissen wir weniger über die Religion der Wikingerzeit, als es die lange und intensive Forschungsgeschichte vermuten lassen würde. Zwar können die Hauptgottheiten Odin, Thor, Freyr sowie die Göttin Freyja ohne weiteres auch aus anderen Quellen bestätigt werden, und die Mythen um Thor, die vor allem aus seinen Kämpfen mit den Riesen oder der Midgardschlange bestehen, die Bindung des schwedischen Königshauses an Freyr oder die Bedeutung Odins, sind sowohl durch literarische und bildliche Quellen als auch die Ortsnamenforschung belegt. Offen ist freilich nach wie vor die Frage nach der Rolle der zahlreichen zweitrangigen Götter und Halbgötter des heidnischen Pantheons, die Snorri noch anführt. Gleiches muß auch für die Frage nach der Bedeutung der Gottheiten im Leben des einzelnen Menschen und der Art der Verehrung dieser Götter gelten. Zu vielfältig sind die Vermutungen im Hinblick auf die wahre Rolle der Götter und des Heiligen im Leben des Einzelnen, als daß sie hier referiert werden könnten, so daß wir uns im folgenden nur mit den äußeren Zeichen dieses Glaubens beschäftigen wollen, die sich vereinzelt wie Fenster zum Glaubensleben der Wikingerzeit öffnen. Die öffentliche Form der Glaubensausübung war das Opfer (blót), das in der Großfamilie, der Sippe und – als politische 114
Demonstration – auch am Hofe der Fürsten zelebriert wurde. Die Opferfeier bestand nach übereinstimmender Aussage der – allerdings späten – Quellen aus einem Speiseopfer, bei dem das zubereitete Opfertier durch die Anwesenden gemeinsam verzehrt wurde. Gelegentlich überlieferte Trinksprüche, die mit Bier auf die Götter ausgebracht wurden, deuten darüber hinaus auf die Verbindung zu einem Trankopfer hin. Dabei soll nach einer vorausgehenden Weihe der Trinkgefäße je einmal ein Trunk auf die Gottheiten Odin, Njörðr und Freyr ausgebracht worden sein. Auch der sog. „Häuptlingsbecher“ (bragafull; oder etwa zu Ehren eines vornehmen Ahnen?) sowie ein Becher zum Andenken an die Verstorbenen (minni) bildeten Bestandteile dieses Rituals. Opfergruben vor Höfen, wie man sie etwa auf Nordisland in Hofstaðir fand, oder auch Opferbrunnen, wie der von Busene in Dänemark, enthalten Knochen vor allem von Schweinen und Pferden. Das Blut (hlaut) der Opfertiere wurde in Kesseln (hlaut-bollar) aufgefangen und – das gilt zumindest für die ältere germanische Zeit, als man den Göttern gelegentlich auch noch Kriegsgefangene opferte – zum Vorhersagen der Zukunft verwendet; für die Wikingerzeit läßt sich diese Gewohnheit nicht mehr belegen. Die Verwendung des Blutes im Opfer könnte in einer Opfervorschrift (Hávamál 144) mit „färben“ (fá) angegeben sein (nämlich die Götterstatuen? einen Altar oder Opferstein? (hörgr)), sonst wird es wohl auch eine Rolle im Speiseopfer gespielt haben. Von Menschenopfern ist zwar bei Adam von Bremen (ca. 1070) unter Bezugnahme auf ein alle neun Jahre abgehaltenes Opferfest der Schweden am Tempel von Uppsala die Rede, doch gehörte das rituelle Töten von Menschen in der Wikingerzeit, so es überhaupt noch praktiziert wurde, sicher nicht zum Normalfall. Es ist übrigens erstaunlich, wie wenig wir trotz etlicher Erwähnungen des Tempels zu Uppsala über öffentliche Opferfeiern wissen. Mag es daran liegen, daß den christlichen Fremden der Zutritt zu den Opfern verwehrt wurde, oder daß es gar keine „Liturgie“ im strengen Sinne gab? Sicher dürfte nur soviel sein, daß auch bei öffentlichen Feiern das Schlachten eines (üblicherweise männlichen) 115
Tieres, eines Hengstes, Widders, Geißbocks oder Ebers, im Mittelpunkt stand. Sinn und Zweck des Opfers bestanden in der Erhaltung von ár ok fríðr („gutem Ernte-/Jahr und Frieden“), wofür nach heidnischer Vorstellung der König verantwortlich war, der somit bei öffentlichen Opferfeiern eine wichtige Rolle spielte. Es dürfte daher historisch korrekt sein, wenn die norwegischen Häuptlinge ihre Anerkennung des christlichen Königs Hakons des Guten von seiner Bereitschaft abhängig gemacht haben sollen, zuvor wenigstens ein minimales Opfer darzubringen. Da Hakon ihrem Willen jedoch erst Folge leistete, nachdem er den Trank durch ein Kreuzzeichen geweiht hatte, zog er sich mit diesem Kompromiß den Groll aller Beteiligten zu. Über die Opferzeiten erhalten wir nur aus späteren Quellen Kenntnis. Snorri erwähnt in der Ynglinga saga (Kap. 8) ein Herbstopfer für gute Ernte, ein Mittwinteropfer für Fruchtbarkeit sowie ein Frühjahrsopfer für den Sieg. Zumindest im letzten Punkt dürfte Snorri jedoch irren, denn auch das Frühjahrsopfer wird ursprünglich nichts anderes als ein Fruchtbarkeitsopfer gewesen sein. Das Mittwinteropfer, das Julfest, dessen direkter Nachfahre unser Weihnachtsfest ist, war in seinen Anfängen zweifellos ein Totenopfer, wie allein schon die Rolle der Wintersonnenwende für die ältesten Stufen germanischer und vorgermanischer Religion bestätigt. Die bereits erwähnten, auf die Vorfahren ausgebrachten Trankopfer zeigen die Präsenz der Toten im religiösen Leben der Menschen, die jedoch durchaus zwiespältig empfunden wurde. Einerseits gedachte man zwar der Verstorbenen, ihrer Taten und ihres Ruhmes, auf der anderen Seite demonstriert noch der skandinavische Volksglauben des Mittelalters auch die Furcht vor den Toten: Mittwinter ist die Zeit der Wiedergänger und Untoten (draugr), der Dämonen sowie der Wilden Jagd. Diese Furcht vor den Toten hat sich bei den Germanen trotz 1000 Jahren Christentum so nachhaltig festgesetzt, daß Wiedergänger und Gespenster noch heute zum Standardinventar jeder Grusel- und Horrorgeschichte gehören. Dies ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, daß die (wenigstens theoretische) christli116
che Vorstellung von der harmonischen „Gemeinschaft der Lebenden und der Toten“, die Parallelen auch in der vorgermanischen europäischen Megalithkultur aufweist, keine Furcht vor den Toten kennt. Im Gegensatz zur christlichen Vorstellung vom Paradies war das wikingerzeitliche Jenseits kein erfreulicher Ort; Walhall (valhöll, eigtl. „Halle der Gefallenen“) bezeichnete ursprünglich das von Gefallenen übersäte Schlachtfeld, aus dem erst spät und unter Einfluß christlicher Paradiesvorstellungen das wikingische Kriegerparadies des Wikingermythos wird. Hier werden dann die Gefallenen (die sog. einherjar) von Walküren zu ihren Plätzen in Odins herrlicher Halle geleitet, wo sie den ganzen Tag über kämpfen, abends aber wieder lebendig beisammen sitzen, Met trinken und Schweinefleisch essen, um am nächsten Tag das gleiche Spiel wieder von vorne zu beginnen – offenbar bis in alle Ewigkeit. Diese nur allzusehr an heutige Wikingeraufführungen erinnernde Vorstellung wurde in dieser Form überhaupt erst im Hochmittelalter formuliert (Snorri, Gylfaginning, S. 37-40, nach Grímnismál, S. 18-26), doch reichen auch die Wurzeln derartiger Konzepte nicht weiter als bis vor die 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts zurück (Eiríksmál und Eyvinds Hákonarmál). Unsterblich wurde ein Mensch nach wikingerzeitlicher Auffassung nur in der Weitergabe seines Namens an die Nachkommen einerseits – daher der Brauch, Kinder nach ihren Großeltern zu benennen –, bzw. im Fortleben seines Ruhmes andererseits. Dennoch finden sich neben den Wiedergängern noch Spuren eines sehr viel älteren Glaubens an das Fortleben der Toten in ihren Gräbern. Wenn etwa den Alben an bestimmten Hügeln Opfergaben niedergelegt wurden (alfarblót), wenn man bei der Annäherung an Island die Drachenköpfe von den Schiffssteven abnehmen sollte, um die landvættir (Landgeister) nicht zu erschrecken, oder wenn man an gewissen Hügeln nicht mähen sollte, um die darunter lebenden landdísir nicht zu stören, so müssen wir darin sicherlich Reminiszenzen an eine alte Totenverehrung sehen. Obwohl es also den Glauben an eine Unsterblichkeit im christlichen Sinne nicht gab, so lassen die Begräbnisbräuche 117
doch immerhin erkennen, wie sehr in der Wikingerzeit der Tod gleichsam als Aufbruch zu neuen Ufern erachtet wurde. Tatsächlich ist während dieser Zeit auffällig oft der Grabbrauch zu beobachten, Steine in schiffsförmiger Anordnung als Grabmonumente zu errichten, wobei die Größe von 2-50 m reichen konnte. Solche Schiffssetzungen wurden aber gelegentlich auch als Kenotaphe konstruiert, als leere Gräber also, bei denen es sich wohl um Denkmale für in der Ferne Verstorbene gehandelt haben wird. Aber nicht nur in steinernen Schiffen wurden die Toten bestattet, sondern auch in echten, nicht selten wohl ihren eigenen Booten. Tausende solcher bislang ausgegrabenen Schiffs- und Bootsgräber belegen, welch enorme Bedeutung das Schiff im Leben und sogar noch im Sterben eines wikingerzeitlichen Seefahrers besaß. Dies trifft im übrigen keineswegs nur auf Männer zu. Das bereits erwähnte, reichhaltig ausgestattete Oseberggrab, einer der ältesten und wichtigsten archäologischen Funde zur Wikingerzeit, enthielt den Leichnam der Königin Åsa. Åsa wurde gemeinsam mit einer Sklavin bestattet, ein offensichtlich nicht unüblicher Brauch, wie uns der Bericht des arabischen Reisenden Ibn Fadian über das Begräbnis eines Warägerhäuptlings bei den Rus’ an der Wolga aus dem Jahre 922 bestätigt. Er beschreibt, daß dem bis zu seiner Verbrennung in einem Zelt an Bord seines an Land gebrachten Schiffes aufgebahrten, in seinen besten Gewändern auf einem prunkvollen Bett sitzenden Leichnam neben den üblichen Grabbeigaben wie Waffen, Speisen und Haustieren auch ein Sklavenmädchen mit auf die Fahrt ins Jenseits gegeben wird. Die Beschreibung des Arabers enthält auch eine Jenseitsschau des Sklavenmädchens, das vor seiner Erwürgung über einen symbolischen Türrahmen blickt und dort nicht nur seine Verwandten, sondern auch den soeben Verstorbenen in einem Paradies sitzen sieht. Nachdem Scheiterhaufen und Schiff verbrannt sind, wird die Asche in einem Hügel beigesetzt; dies ist auch die zweite Art der wikingerzeitlichen Schiffsbestattung und läßt sich archäologisch durch die eisernen Schiffsnieten als meist einziger Rest in der in Grabhügeln bestatteten Asche nachwei118
sen. Eine dritte Art der Bootsbestattung besteht darin, den Toten an Bord seines brennenden Schiffes aufs Meer hinaussegeln zu lassen. Naturgemäß gibt es für diesen Brauch keine archäologischen Belege, doch hat uns Snorri Sturluson mit seinem zugegebenermaßen mythischen Bericht über Balders Bestattung ein anschauliches Beispiel für solch ein heidnisches Begräbnis hinterlassen (Gylfaginning 48, nach der vom Ende des 10. Jahrhunderts stammenden Husdrápa des Isländers Úlfr Uggason). Auch hier wird Balders Frau Nanna, als sie beim Anblick des toten Gemahls an gebrochenem Herzen stirbt, neben ihren Mann auf den Scheiterhaufen gebettet. Dann wird das brennende Schiff von einer Riesin ins Meer gestoßen. Das Bild des brennenden, aufs Meer hinaussegelnden Totenschiffs hat übrigens auch die Phantasie der Nachwelt häufig beflügelt, und kaum ein Wikingerfilm kommt heute ohne derartige Begräbnisszene aus, auch wenn diese Art des Schiffsbegräbnisses in der Realität wohl nur selten vorkam. In Verbindung mit der Frage nach dem Leben nach dem Tode steht eine weitere Grundfrage der Menschheit, nämlich die nach Anfang und Ende unserer Welt. Auf beides gibt das mythologische Eddalied Völuspá eine Antwort. In diesem Lied, das wohl noch Ende des 10. Jahrhunderts entstanden sein dürfte, vermengen sich altgermanische mythische Vorstellungen mit Elementen aus den Visionen des vordringenden Christentums. Gerade deshalb vermag es uns ein eindrucksvolles Bild vom Weltbild der späten Wikingerzeit zu vermitteln. Am Anfang war das Nichts, d.h. der Abgrund Ginnungagap (nach einer anderen Fassung aber der Urriese Ymir), und in diesem Chaos entsteht aus Hitze und Eis Ymir, wie uns Snorri in seiner Paraphrasierung des Gedichts unter Verwendung weiterer Quellen Anfang des 13. Jahrhunderts in seiner Snorra Edda schildert (Gylfaginning 7); Ymir wurde von der Urkuh Auðumla gesäugt, welche aus dem Eis Buri hervorleckt, von dem alle Götter und schließlich alle Menschen abstammen. Buris Sohn Burr zeugt mit der Riesin Bestla die Götter Odin, Vili und Ve, die Ymir erschlagen und aus ihm 119
die Erde erschaffen. Die ersten Menschen, Ask und Embla, werden aus zwei Baumstämmen geformt. Wohnsitz der Menschen ist Midgard, Heimstatt der Götter Asgard, der dem christlichen Himmel im Laufe der Zeit zunehmend ähnlicher wird. Außerhalb der bewohnten Erde liegt das von Riesen und Ungeheuern bevölkerte Utgard. Zahlreiche mythische Erzählungen, von denen, wie etwa Darstellungen auf Bildsteinen und Schnitzwerken zeigen, die meisten auf die Wikingerzeit zurückgehen, beschäftigen sich mit dem Kampf der Götter, besonders des Donnergottes Thor, mit den Riesen und Ungeheuern. Das schrecklichste dieser Ungeheuer ist die Midgardschlange, die rings um die bewohnte Erde im Meer liegt und noch nach mittelalterlichem deutschen Volksglauben für die Erdbeben verantwortlich ist (Konrad von Megenberg, Buch der Natur, ca. 1350). Durch diese Feinde der Götter und Menschen wird schließlich auch das Ende der Welt, die Ragnarök („Endschicksal der Götter“, später umgedeutet als Ragnarökr „Götterdämmerung“), herbeigeführt werden. Eindrucksvoll schildert die Völuspá den Fimbulwinter, das Verschlingen der Sonne und des Mondes durch die mythischen Wölfe Fenrir und Garmr, den Kampf zwischen Riesen und Göttern und schließlich den alles vernichtenden Weltenbrand. Ein wenig abgemildert wird das düstere Untergangsszenario durch das Heraufziehen einer neuen Welt, deren Beschreibung jedoch stark an die neutestamentliche Schilderung des himmlischen Jerusalem erinnert, was Zweifel an ihrer Echtheit geweckt hat. Doch in diesem Ende steigt eine neue Welt aus dem Feuer der alten hervor, und eine jüngere Generation hoffnungsvoller Götter versammelt sich dort um den aus der Totenwelt Hei zurückgekehrten Balder. Mythische Erzählungen wie diese, allen voran jene, die von Tod, Bestattung und vergeblichen Versuchen zur Wiedererweckung des Gottes Balder erzählen, aber auch der erwähnte Mythos von „Thors Fischfang“, spielten in der wikingerzeitlichen Religion eine wichtige Rolle auch in Bildkunst und Dichtkunst, und ihre Kenntnis war in beiden Fällen als Referenzrahmen wichtig, so wie es auch die Kenntnis bestimmter 120
heroischer Sagen, vor allem aber der Sigurdsage, war. Da wir aber in der systematischen Darstellung der Mythengeschichten auf die viel späteren Prosatexte von Snorri Sturluson und Saxo Grammaticus vom Anfang des 13. Jahrhunderts angewiesen sind, die in ihren Bearbeitungen die älteren Quellen nicht immer richtig interpretieren, stehen wir vor dem Problem, daß die ausführlichen Prosadarstellungen des Hochmittelalters, die skaldischen Gedichte oder die komplexen Bildzeugnisse der gotländischen Grabsteine nicht völlig zur Deckung gebracht werden können. So können wir auf Bildsteinen (wie z. B. auf Lärbro St. Hammars I) zwar die Darstellung von Opferszenen konstatieren, wissen aber nicht, wer oder wem hier geopfert wird. Wir sehen Prozessionen von bewaffneten Männern, die Ringe (oder Kränze?) hochhalten, aber warum? Auch wissen wir nicht, um welches Schiff der nordischen Mythologie es sich bei dem auf den Bildsteinen immer wiederkehrenden (Toten-?)Schiff handelt: um Hringhorni, Balders Totenschiff, oder um das apokalyptische Schiff Naglfar, das zu den Ragnarök die Mächte des Bösen heranführt, oder gar das Götterschiff Freyrs, Skiðblaðnir? Ähnliche Rätsel geben uns auch die dichterischen Quellen auf. So wissen wir etwa von einem des öfteren erwähnten Mythos, Freyjas Halsband Brisingamen betreffend, kaum mehr, als daß die Götter Heimdall und Loki darum gekämpft haben. Dabei sollten wir allerdings nicht außer acht lassen, daß manche Mythen nur regionale Bedeutung besaßen, woraus die Konsequenz zu ziehen ist, daß nicht alle Mythen in allen Bereichen des wikingerzeitlichen Nordens dieselbe Ausformung oder denselben Stellenwert gehabt haben. Wenn solche regionalen Varianten schon bei den Erzählungen über die Hauptgötter zu beobachten sind, um wieviel mehr erst bei der Ausschmückung der „mythologischen Novellen“ und bei der niederen Mythologie. Den Fruchtbarkeitsgott Freyr beispielsweise kennen wir vornehmlich aus Schweden, wo er der Ahnund Schutzherr des schwedischen Königshauses der Ynglinge war. Die schwedischen Ortsnamen bestätigen, daß dort auch die anderen Götter aus der Gruppe der Vanen, also Freyrs 121
Schwester Freyja, sein Vater Njörd sowie der in den Quellen recht blasse Gott Ullr verehrt wurden, wogegen dort der Kult um. Odin oder Thor eine geringere Rolle spielte. Größere Bedeutung dürfte Odin dagegen in der wikingerzeitlichen (und auch der älteren) Religion Dänemarks gehabt haben, während theophore Orts- und Personennamen (wobei wiederum viele Ortsnamen auf Personennamen zurückzuführen sind) in Norwegen und Island mit dem Namen des Gottes Thor gebildet sind. Es mag zwar sein, wie es die neuheidnischen Gefolgsleute der Asatru-Religion(en) unserer Tage gerne darstellen, daß die skandinavische Religion der späten Wikingerzeit vor allem eine Thors-Religion war, und daß der Hammer Mjöllnir ihr Symbol darstellte; aber das Hammeramulett war nur eine späte heidnische Reaktion auf das Vordringen des christlichen Kreuzes als persönliches Amulett – ganz abgesehen davon, daß der „Hammer“ Mjöllnir eigentlich die Axt des alten Donner- und Blitzgottes Thor darstellt, ein Umstand, der aber wohl schon in der Wikingerzeit in Vergessenheit geraten war –, und die Verehrung Thors war sowohl regional als auch sozial beschränkt. Es ist vielmehr so, daß das Bild des Gottes Thor (und auch das wieder in den hochmittelalterlichen Erzählungen!) als aufbrausender und enorm starker, aber auch etwas roher und simpler Kraftmeier des nordischen Pantheons gut zu dem paßt, was wir uns heute als Bild von „den Wikingern“ machen. In diesem Fall hat der moderne Mythos den alten bereits nahezu völlig verdeckt. Auch Freyr läßt sich keineswegs nur auf seine Rolle als Fruchtbarkeitsgott einer bäuerlichen Population reduzieren, fungierte er doch in erster Linie als Gott und Stammvater eines reichen und mächtigen Königshauses (Motz). Es stellt sich also die Frage nach den wahren Fruchtbarkeitsgöttern, denen man für ár ok friðr (ein gutes Ernte-/Jahr und Frieden) Opfer brachte. Nun war dieses Opfer eigentlich ein Königsopfer, was bedeutet, daß die Verbindung von Fruchtbarkeits- und Herrschaftsfunktion nicht nur für Freyr anzunehmen ist. Der König war nämlich neben dem äußeren Frieden auch für gute 122
Ernten verantwortlich, und für den Fall, daß der erwartete Erntesegen ausblieb, konnte selbst ein gekröntes Haupt geopfert werden, wie etwa der schwedische König Dómaldi (Þjóðólfr, Ynglingatal, 5: 9. Jahrhundert; Heimskringla, Ynglinga saga, Kap. 15). Für die Sicherstellung des persönlichen Heils sollte man darüber hinaus auch die Bedeutung von Naturverehrung und Magie nicht vergessen. Das Deponieren von Votivgaben in Quellen und Gewässern ist für das gesamte erste Jahrtausend gut belegt, wobei allerdings nicht immer eindeutig von Niederlegungen solcher Gaben zugunsten bestimmter Götter getrennt werden kann. Zumindest die Heiligkeit der Gewässer ist damit glaubhaft verbürgt, und von einem Baumkult mit der Anbringung von Votivbildern an Bäumen wissen wiederholt christliche Autoren zu berichten. Außerhalb der Religion im engeren Sinn ist für das individuelle Heil des Menschen auch der Bereich der Magie zu berücksichtigen, mit deren Hilfe der Mensch versucht, die lenkenden Mächte durch bestimmte Manipulationen aktiv zu seinen Gunsten zu beeinflussen, so etwa durch Zaubersprüche. Zum Randbereich der Magie zählt dabei das Tragen von schadensabwehrenden oder gesundheitsförderlichen Amuletten, die aus Steinen, Glasperlen oder bestimmten Kräuterkombinationen bestehen konnten. Amulettartig sind ferner kleine Götterstatuetten als Anhänger, die man ihres phallischen Charakters wegen vor allem dem Gott Freyr zuordnet. Als magische Handlung galt auch das Einritzen von Runen in Waffen; die mehrfache Nennung der Tyr-Rune etwa sollte zum Sieg verhelfen. Um einiges komplexer stellen sich demgegenüber zwei andere uns bekannte Formen wikingerzeitlicher Magie dar, nämlich prophetische Sitzungen von Seherinnen einerseits und Schadenszauber andererseits. Seherinnen sind schon für das germanische Altertum belegt, doch hat sich ihr Ansehen in der Wikingerzeit gegenüber früher beträchtlich vermindert. Die Ausübung des seidr, zu dem auch die Prophezeiung zählt, wurde nämlich mittlerweile sogar als schändlich oder wenig123
stens verdächtig angesehen. Dennoch sind uns Beschreibungen solcher Sitzungen mit Seherinnen auch für die heidnische Spätzeit überliefert (Eiríks saga rauða, Kap. 4; weniger ausführlich Gisla saga, Kap. 18), die deutliche Gemeinsamkeiten mit schamanischen Seancen aufweisen. Zaubergestell (seiðhjallr), Zauberstab und Tierverkleidung der Seherin spielten in den Sitzungen ebenso eine Rolle wie das Anstimmen von Zaubergesängen (varðlokkur), mit denen die Seherin ihre Geister zu Hilfe rief. Ein Schadenszauber konnte verschiedene Formen annehmen, wobei wohl das Ritzen von schädigenden Runen oder Runenwörtern zu den gängigsten Praktiken gerechnet werden muß. Runen in Verbindung mit einem Zauberspruch sind auch beim Errichten einer sog. niðstöng (eigtl. „Spottstange“) mit aufgesetztem, gegen das Opfer gerichteten Pferdeschädel belegt (allerdings erst in einer Saga aus dem 13. Jahrhundert, vgl. Egils saga, Kap. 57). Grundsätzlich ist bei nur schlecht belegten, aber ausführlich beschriebenen heidnischen Riten gerade im Bereich der Religion und Magie zu bedenken, daß die Ausbildung des Mythos „Die Wikinger“ schon im skandinavischen Hochmittelalter eingesetzt hat. Das gilt insbesondere für so legendäre Persönlichkeiten wie den Skalden Egill Skallagrímsson, der angeblich schon im Alter von drei Jahren schwer getrunken, gedichtet und mit sechs Jahren die ersten Leute erschlagen haben soll. Schon damals, im Mittelalter, hat man Leute wie Egill zu typischen Wikingerhelden stilisiert, und dazu gehört nun einmal auch seine Ausübung von unheimlichen und – für das christliche Publikum – faszinierend-abstoßenden Praktiken. 2. Erste Kontakte mit dem Christentum und die Phase des Synkretismus Die Wikingerzeit in Skandinavien ist keinesfalls nur durch das Heidentum gekennzeichnet, sondern viel eher noch durch den Übergang vom germanischen Götterglauben zum Christentum, das sich noch vor Ende der Wikingerzeit in fast ganz Skandinavien (mit Ausnahme von Teilen Schwedens und 124
Finnlands) durchsetzen konnte. Wir können dabei mehrere Phasen unterscheiden: 1. Bis zum Beginn des 9. Jahrhunderts war Skandinavien eindeutig heidnisch. 2. Aufgrund sich intensivierender Kontakte nach Irland, England und dem Frankenreich, die zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine längere christliche Tradition zurückblicken konnten, begann um die Mitte des 9. Jahrhunderts die Phase des Synkretismus, die sich durch Glaubensmischung und vielfältige wechselseitige Einflüsse, vor allem vom Christentum zum Heidentum auszeichnete. Sie wurde durch die vereinzelten Missionsversuche der Kirche, wie beispielsweise die des Hl. Ansgar, zwischen 829 und 850 zuerst in Dänemark und dann in Schweden nachhaltig gefördert, obwohl das Christentum in diesem Zeitraum noch nirgendwo in Skandinavien wirklich Fuß fassen konnte. 3. Mit der Christianisierung Dänemarks durch die Taufe Harald Blauzahns um 965 beginnt die Phase der Bekehrung, die in Dänemark bereits im 10. Jahrhundert, auf den atlantischen Inseln, Island und Grönland um 1000 und in Norwegen um 1030 abgeschlossen war, während die Bekehrung der Schweden zum christlichen Glauben noch bis zum Ende des 11. Jahrhunderts dauern sollte. 4. Erst gegen Ende der Wikingerzeit setzte die eigentliche christliche Phase ein. Sie bestand im wesentlichen in der Organisation von Bistümern, dem Aufbau von Pfarren, der Unterweisung in christlicher Doktrin, der Ausbildung einheimischer Priester sowie der Gründung von Klöstern, womit zugleich lateinische Schriftlichkeit und Gelehrsamkeit nach Skandinavien getragen wurden. Die erste Phase, nämlich die heidnische Zeit mit ersten Kontakten mit dem Christentum, war vor allem davon geprägt, daß die wikingerzeitlichen Plünderer aus Skandinavien entdeckten, welch lukratives und nicht zuletzt ungeschütztes Opfer ihrer Angriffe die Klöster und Kirchen darstellten. Vor allem die Abteien, bis dahin von der Gallia bis Irland ungeschützt in oft extremer geographischer Lage wie Inseln und Halbinseln angelegt, waren eine geradezu ideale Beute für die Wikinger. Hier fanden sie nicht nur Nahrungsmittel und Wein, sondern auch Gegenstände, deren materieller Wert auf 125
den ersten Blick zu erkennen war: Kreuze, Kelche, Patenen aus Edelmetallen, Reliquiare, Monstranzen und liturgische Bücher mit Edelsteinen, kostbar bestickte Meßgewänder und Prozessionsfahnen neben Bargeld aus Opferstöcken und Kirchenschätzen. Dabei wußten die Wikinger – zum Glück für die betroffenen Mönche – den wahren Wert des Inhalts der Reliquiare wohl kaum zu schätzen, und die Annalen berichten oft genug davon, daß man einzig die Gebeine der Heiligen habe in Sicherheit bringen können. Die zweite Phase dagegen brachte die Wikinger, ob nun durch Überwinterung oder Landnahme, weibliche Sklaven oder Einheirat in eine angelsächsische oder irische Familie, in Kontakt mit dem christlichen Glaubensgut, mit den Erzählungen aus dem alten und neuen Testament, den Apokryphen und den Legenden der Heiligen. Diese Erzählungen wurden dann vielfach als Versatzstücke der eigenen, mündlichen Literatur verwendet, wo sie auch das wenig systematische Gebäude der einheimischen heidnischen Mythologie beeinflußten. Solche Spuren christlichen Einflusses finden sich beispielsweise wiederholt in den ältesten Eddaliedern, nicht zuletzt aber in der oben besprochenen Völuspá, deren vergleichsweise systematische Darstellung der heidnischen Kosmologie wohl auf christliches Gedankengut zurückgehen dürfte. Seltener fand auf dem umgekehrten Wege heidnisches Gedankengut Eingang in den christlichen Glauben. Zu den wenigen Ausnahmen gehört hierbei zweifellos die bildende Kunst, so etwa in den Darstellungen von Thors Fischfang auf christlichen Kreuzen und Grabplatten (Grabstein von Gosforth, England, 10. Jahrhundert), wo man die heidnische Gottheit als Christusfigur mit dem geköderten Leviathan neu interpretiert hat. In dieser Phase des intensiveren Kontakts vor allem in den Gebieten mit starker Durchmischung von skandinavischer und einheimischer Bevölkerung, wie im englischen Danelag und im irischen Königreich von Dublin, begann auch das Verständnis für die jeweils andere Religion zu wachsen. Dabei dürften es nicht nur die Lehre des Christentums, die faszinierende christliche Liturgie und nicht zuletzt die gute kirchliche Or126
ganisation gewesen sein, die auf die Skandinavier Eindruck machten. Auch ihr relativ geringer religiöser Dogmatismus und das nur schwach ausgeprägte Lehrgebäude des Asenglaubens ließen die heidnischen Wikinger zur nehmenden, die Christen zur gebenden Seite werden. Daneben leistete sicherlich auch das höhere kulturelle Niveau der christlichen Länder und das damit verbundene höhere Sozialprestige der neuen Religion ein Übriges. Deswegen dürfte auch die Bekehrung der in England, der Normandie und Irland siedelnden Skandinavier wesentlich bessere Fortschritte gemacht haben als aufgrund der isolierten Missionsreisen Willibrords (um 700) und Ebos (um 823) in Dänemark, des Hl. Ansgar (830 und 852/4) oder Rimberts in Schweden. Allenfalls in Dänemark verzeichnete die Kirche erste Erfolge. Im Jahre 826 ließ sich König Harald angeblich auf Vermittlung Ansgars, in Wahrheit aber nur unter dem Druck der Realpolitik durch Kaiser Ludwig den Frommen, in Ingelheim bei Mainz mit seinem Gefolge taufen (Adam von Bremen I, 15), was aber ohne dauerhafte Folgen blieb. Lediglich in Haithabu scheint es schon im 9. Jahrhundert eine Kirche und auch Priester gegeben haben. Als aber Ansgar 865 und Rimbert 888 starben, war damit das vorläufige Ende der Mission in Skandinavien erreicht. 3. Die Bekehrung der Skandinavier zum Christentum Erst im 10. Jahrhundert gewann die Mission wieder an Dynamik. Der Glaubensbote Unni missionierte vorerst in Dänemark, 936 dann auch in Birka (nahe Stockholm). Um 966 ließ sich Harald Blauzahn taufen, nachdem es einem Hamburger Missionar namens Poppo gelungen war, erfolgreich eine Feuerprobe zu bestehen. Haralds Sohn Svein Gabelbart eroberte nach der erfolgreichen Konsolidierung Dänemarks – auf ihn dürften u. a. die befestigten Heerlager in Trelleborg, Fyrkat, Odense und Aggersborg sowie Trelleborg auf Schonen zurückgehen – auch England und wurde dort im Jahre 1013 König. Damit verstärkte sich auch der englische Einfluß auf das dänische Christentum, viele Dänen ließen sich in England 127
taufen, und unter Knut d. Großen (1014-1035) kamen weitere englische Bischöfe nach Dänemark. Während Knuts Herrschaft wurden in Dänemark angeblich hunderte von Kirchen gebaut, sodaß mit seinem Tod die Bekehrung als abgeschlossen gelten konnte. Auch die Christianisierung Norwegens hängt wesentlich mit dem Christentum in England zusammen. Schon der Sohn des Reichseinigers Harald Schönhaar, König Hakon der Gute, wurde in England getauft und kehrte um 940 nach Norwegen zurück, um dort die Herrschaft anzutreten und zugleich das Christentum einzuführen, wurde aber zwischen 960 und 965 von einer dänischen Flotte unter dem Sohn Erik Blutaxts, Harald Graumantel, geschlagen. Auch Eriks Söhne waren schon in England Christen geworden und zerstörten hin und wieder heidnische Tempel, aber mehr um den traditionalistischen Flügel unter den Jarlen von Hlaðir zu schwächen denn als positive Leistung zur Förderung des Christentums. Nach dem Tode Harald Graumantels am Limfjord war Jarl Hakon von Hlaöir de facto Herrscher über Westnorwegen, während der dänische König Harald Blauzahn den Ostteil des Landes dominierte. Im Gegensatz zu Harald war Jarl Hakon jedoch ein erklärter Förderer des Heidentums und verlieh ihm vor allem in Westnorwegen neue Impulse. Es war daher für den ehemaligen Wikinger Olaf Tryggvason, der schon während seiner Zeit in England getauft wurde, durchaus auch ein politischer Schachzug, bei seiner Rückkehr nach Norwegen 995 auf das Christentum zu bauen. Er landete mit einigen Priestern und Bischof Sigurd, besiegte Jarl Hakon und ließ in der Folge zahlreiche heidnische Heiligtümer zerstören. In Westnorwegen und in Halogaland (999), wo der Widerstand gegen das Christentum am stärksten war, wandte er auch das Schwert als Instrument der Christianisierung an. Als aber im Jahre 1000 Olaf Tryggvason bei einer Schlacht (im Öresund?) ertrank, wurde Norwegen wieder zwischen Schweden, Dänemark und den Söhnen Hakons, Eirík und Svein von Hlaöir, aufgeteilt. Zwar waren die beiden Jarle ebenfalls Christen, aber nur nominell. Auf diese Weise wurde Tröndelag wieder 128
heidnisch, und auch sonst erlitt das Christentum einen starken Rückschlag. Einen, wenn auch nur indirekten Erfolg hatte Olaf Tryggvasons Missionierung Norwegens allerdings gezeitigt, nämlich die Bekehrung Islands. In seinem Auftrag wurden ab 996 intensivere Missionsversuche unternommen, die er durch handfesten politischen Druck auf die in Norwegen befindlichen Isländer unterstrich. Dies führte auf dem Althing des Jahres 999 zu einer heftigen Diskussion über den neuen Glauben, und im Sommer 1000 zu seiner freiwilligen Annahme durch die Isländer (vgl. oben Kap. 4). Grönland wurde noch im selben Jahr, ebenfalls auf friedlichem Wege, von Island aus bekehrt, während Olaf die Orkneys und Färöer angeblich schon 995 mehr oder weniger gewaltsam zur Annahme des neuen Glaubens gezwungen hatte. Erst mit der Invasion Norwegens durch Olaf den Heiligen ab 1015 setzte dort wieder die Missionsarbeit ein. Auch er hatte, in seiner Karriere als Wikinger, schon um 1013 in Rouen die Taufe empfangen, betrieb die Bekehrung ebenfalls im Rahmen der Reichseinigung und teilweise mit Gewalt, da er seiner christlichen Königsideologie die Anerkennung verschaffen wollte. Unter diesem zweiten Olaf ging die Christianisierung jedoch erstmals über rein formale Aspekte hinaus. Er propagierte christliche Gesetze, respektierte aber die alten Thinge, etablierte Kontakte mit dem Bistum Hamburg-Bremen, baute das unter Olaf Tryggvason gegründete Nidaros (heute: Trondheim) wieder auf, ließ zahlreiche Kirchen errichten und organisierte die Kirche mit Hilfe einer eigenen Gesetzgebung. Als er aber 1030 in der Schlacht von Stiklastaäir gegen seine abtrünnigen Landsleute fiel, war Norwegen längst ein christliches Land geworden, das mit Olaf, Sanctus Olafus rex et martyr, zudem noch einen Heiligen bekommen hatte, der das Land erstmals wirklich zu einer Vorform von nationaler Identität finden ließ. In Schweden zog sich der Bekehrungsprozeß am längsten hin: ein Bischofsstab aus Birka aus der Zeit um 800 war wohl nur ein Beutestück, einzelne christliche Gräber des 9. Jahrhunderts könnten auch von Händlern herrühren. Jedenfalls blieben 129
Ansgars und Rimberts Missionsversuche weitgehend erfolglos. Der erste christliche König Schwedens, Erik der Siegreiche (hin sigrscelli, ca. 957-995), war zwar tolerant, aber erst sein Sohn Olaf Schloßkönig (gest. 1021/2) wurde von Bischof Sigfrid getauft und förderte aktiv die christliche Lehre, sodaß bei seinem Tod vor allem Västergötland den neuen Glauben angenommen hatte und in Skara ein Bischofssitz bestand. Auch sein Sohn Anund-Jakob (gest. 1050) betrieb die weitere Bekehrung des Landes, angeblich unterstützt von Olaf dem Heiligen. Sein Nachfolger Edmund (gest. 1060) setzte einen polnischen Bischof ein, aber schon Stenkil (gest. 1066) orientierte sich wieder am Erzbistum Hamburg-Bremen. Zwischen 1066 und 1081 gab es jedoch unter Blot-Sven eine Rückkehr zum Heidentum und sogar Christenverfolgungen, während derer der Missionsbischof Eskil das Martyrium erlitt. Mit Inge kehrte etwa 1083/4 wieder ein christlicher König an die Macht zurück. Schweden kann ab diesem Zeitpunkt als christianisiert bezeichnet werden, obgleich heidnische Opfer und Tempel noch unter Erik ärsadl um 1120 belegt sind. Je weiter von den weltlichen und kirchlichen Machtzentren des römisch-deutschen Kaisertums in Westeuropa und den alten christlichen Traditionen Englands und Irlands entfernt, desto weniger wichtig war den Machthabern offenbar die Christianisierung, und desto länger dauerte die dritte Phase der wikingerzeitlichen Religionsgeschichte. Dort, wo es um Realpolitik ging, ergriffen vorausschauende Fürsten schon früh den neuen Glauben. Bald nach der Mitte des 10. Jahrhunderts wurden die Dänenkönige Harald Blauzahn und der spätere Norwegerkönig Olaf Tryggvason getauft, aber lange vor ihnen hatte der glücklichste aller Wikingerführer, Rollo, in der Normandie den neuen Glauben angenommen. Dieser ebnete ihm und seinen Landsleuten auf rasche Weise den Weg zu seinem eigenen Herzogtum, und als 1066 in Schwedennoch Christenverfolgungen ausbrachen, machte sein Nachfahre Wilhelm der Bastard gerade England zu einem vorbildlichen christlichen, mittelalterlichen Reich, was zu Recht als das Ende der Wikingerzeit betrachtet werden kann. 130
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Register Aachen 32 Adam von Bremen 9, 14 f., 30, 102, 115,127 Afrika 46 Alfred der Große 55, 57 Alkuin 61 Amerika 7, 27, 37, 45, 69 ff. Anglo-Saxon Chronicle 29, 31, 48 Annales Bertiniani 31, 34, 49, 72, 75, 79 Aquitanien 24 Arnulf von Austrien 59 Bagdad 83 Bayeux 41, 95 Beaduheard 48 Benedikt von St. Maur 35 f. Birka 26, 82, 94, 129 Bjarmaland 17, 46 Björn Eisenseite 34 f., 45, 51 Boulogne 25 Brihtnoth 51 Britannien 16 Byzanz 30, 41, 73 f., 77, 79-82 Dänemark 11, 14, 23, 25, 34, 44 f., 50, 58, 115, 128 Dorestad 34, 59 „Dronningen“ 37 Dublin 52 ff., 92, 126 Dudo von St. Quentin 13 f., 19 f., 32, 35 f., 102 Edda 105, 114, 119 EgilssagaS9, 124 Einhard 29 Eiríks saga rauöa 124 Ella 28 England 9, 13, 17, 22, 24, 27 f., 31, 49 f., 55, 57 f., 60, 99, 106, 125, 127f., 130 Erik Blutaxt 57, 128 Erik der Siegreiche 130 Eskil 130 Ethelred the Unready 57 Färöer 28, 40, 61, 106, 129 Finnland 125 Fcereyinga saga 61
Frankreich 13 f., 17, 28, 31, 49, 52, 59 f., 125 Friesland 13, 16 f., 23 f., 59, 99
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„Gaia“ 37 Gibraltars, 35 f. Gisla saga 124 Godefred 23 Gokstad 39, 44 Gotländische Bildsteine 16 Grönland 17, 44 ff., 65-70, 93, 106 f., 125, 129 Guadalquivir 35 Haithabu 9, 26, 83, 87 f., 92 f., 97, 127 Hakon der Gute 116, 128 Häkon Häkonarson 15 Hakon von Hlaoir 43, 108, 128 Harald Blauzahn 125, 127 f., 130 Harald der Harte (Haraldr harÖTaöi) 9, 27, 36, 58, 81 f., 82 Harald härfagri 43 Harald Klak 23, 25 Harald Schönhaar 15, 61, 63, 110, 128 Haralds saga Sigurdarsonar 27, 36 Harold Godwinson 9, 27 Hästein (Hastingus) 34 f., 45 Hebriden 106 Heimskringla 27, 36, 90, 123 „Helle Ask“ 39 Helluland46, 67 ff. Heruler 18 Historia Norveggiae 61 Hjortspringboot 16, 38 Hjörungavag 43 Hl. Ansgar 125, 127, 130 Horik 23 Hrölfs saga kraka 110 „Hugin“ 37 Ingelheim 25 Inisbofin 50, 52 Inismurray 50, 52 Iona 54 Irland 24 f., 28, 32, 45, 50, 52 f., 55, 60, 62 f., 66, 83, 106, 125 Island 15, 17, 28, 39, 40, 44, 46, 63 ff., 67, 69, 90, 92, 98, 106, 109, 117, 129 Isle of Man 54 f., 106 Italien 17, 45 Ivar der Knochenlose 28, 53 Jerusalem 17 Jómsvikinga saga 20, 22
Jömswikinger 43 Jutland 15, 18, 97, 107 Karl der Einfältige 60 Karl der Große 23 f., 29, 59 Karl der Kahle 24, 31, 34, 51, 59 Kaupang 26 Kiew 74, 76 f., 80 ff., 84 Kimbern 18 Knut der Große 22, 58, 128 Konrad von Megenberg 120 Langobarden 18 Laxdoela saga 92 Liederedda 21, 105, 119 Lindisfarne 9, 48, 50 Iiudprand 30 London 28 Lothar 24, 50 Ludwig der Deutsche 24 Ludwig der Fromme 23 f., 59, 72, 127 Luna 35, 45 Magnus 42 Malcolm 42 Maldon 51, 57 Markland 46, 67 ff. Met 7 Nantes 49 Njäls saga 103 Normandie 106 Norwegen 11, 15, 17, 40, 42, 45 f., 54, 57 f., 65 f., 92, 114, 125, 128 f. Nowgorod 74, 76, 79, 82, 92, 95 Nydamschiff 16, 39 Odo von Neustrien 59 Offa 48 Olaf der Heilige 96, 108, 129 f. Olaf Schloßkönig 130 Olaf Sigtryggson 53 Olaf Tryggvason 57, 90, 128 ff. Olafs saga belga 110 Olafs saga Tryggvasonar 90 Orkneys 11, 28, 45, 54 f., 61, 63, 106 f., 129 Oseberg 44, 92, 97, 101 f., 118 Osebergschiff 37, 42 Papeyar 63 Paris 51, 59 Pippin 24 Þorgerðr Hölgabrúðr 44 Prudentius von Troyes 34 Quentowic 25 Ragnar Loðbrókr 8, 22, 28, 59
Ragnars saga lodbrökar 8, 22, 28 Reginfred 23 Regino von Prüm 32 Keginsmal 21 Rimbert 127 „Roar Ege“ 44 Rollo 34, 60, HO Rom 45 Rorik 33 f., 51 Roskilde 44 Rus’ 71-85, 87, 94, 101 ff., 118 Rußland 21, 71, 74 f., 77 „Saga Siglar“ 37, 44 Saxo Grammaticus 110, 121 Schiff 7, 8, 16, 37 ff., 47, 50, 118 f. Schlacht von Clontarf 25, 53 Schlacht von Stamford Bridge 9, 27 Schottland 28, 54 f., 106 Schweden 11, 71, 73, 76, 107, 113 f., 124, 128 ff. Sevilla 35, 50 Shetlands 11, 28, 45 f., 54, 61, 63, 106 Sigtrygg Seidenbart 25, 53 Sigtuna 26 Siguror Jörsalafari 61, 81 Skuldelev 44 Snorri Sturluson 36, 114, 116f., 119 Solarstein (solarsteinn) 17, 44 Staraja Ladoga 26 Svalbaröi 40, 46 Svein Gabelbart 57 f., 127 Tancred de Hauteville 14 Teutonen 18 Thietmar von Merseburg 28 f. Truso 26 Turgeis 52 Uppsala 113, 115 „Viking“ 37 f. Vinland 44, 46, 67-70 Vita Ansgari 23 Vita Hludovici 23 Völundr34f. Völuspä 119 f., 126 Waräger 21, 25, 71-81, 83 Wikingermythos 7 f., 10, 13, 15, 21, 31, 64 f., 67, 71, 99, 109,112, 117 Wilhelm der Bastard 9, 130 Wilhelm von Jumieges 14 William von Malmesbury 29 Ynglinga saga 116, 123 York 55, 92