MARTIN CAIDIN
und die weiße Hexe
Roman Deutsch von Bettina Zeller
GOLDMANN
Eine Jahrhunderte alte Karte von unschätz...
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MARTIN CAIDIN
und die weiße Hexe
Roman Deutsch von Bettina Zeller
GOLDMANN
Eine Jahrhunderte alte Karte von unschätzbarem Wert ist verschwunden. Auf ihr soll der Weg zu einem sagenhaften antiken Goldschatz verzeichnet sein, in dem magische Münzen aus den ersten Tagen der Christenheit vermutet werden. Als Indiana von dieser Karte erfährt, steht sein Entschluß fest: Zusammen mit seiner Kollegin, der Archäologin Gale Parker, macht er sich auf die Suche nach dem legendären Schatz. Doch die beiden sind nicht die einzigen. Ein skrupelloser und macht besessener Verbrecher nimmt die Verfolgung auf und jagt sie über den gesamten Erdball. Er ahnt nicht, daß Indiana Jones über Waffen verfügt, denen kein Gegner gewachsen sein kann: die magischen Kräfte der weißen Hexe vom Glauben der Wicca und das sagenumwobene Schwert des weisen Merlin...
Scan by Keimchen
Bereits erschienen Rob MacGregor Indiana Jones und der letzte Kreuzzug (9678) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und die Gefiederte Schlange (9722) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Schiff der Götter (9723) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Gold von El Dorado (9725) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Schwert des Dschingis Khan (9726) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das verschwundene Volk (41028) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Geheimnis der Osterinseln (41052) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Erbe von Avalon (41144) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Labyrinth des Horus (41145) • Rob MacGregor Indiana Jones und das Orakel von Delphi (42328) • Rob MacGregor Indiana Jones und der Tanz der Giganten (42329) • Rob MacGregor Indiana Jones und die Herren der toten Stadt (42330) • Rob MacGregor Indiana Jones und das Geheimnis der Arche Noah (42824) • Rob MacGregor Indiana Jones und das Vermächtnis des Einhorns (43052) • Rob MacGregor Indiana Jones und die Macht aus dem Dunkel (43162) • Martin Caidin Indiana Jones und die Hyänen des Himmels (43163) • Martin Caidin Indiana Jones und die weiße Hexe (43534) • Max McCoy Indiana Jones und der Stein der Weisen (43535) • Max McCoy Indiana Jones und die Brut des Sauriers (35301) Indiana Jones Sammelbande Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Schwert des Dschingis Khan/Indiana Jones und das Geheimnis der Osterinseln (11608) - Rob MacGregor Indiana Jones und der Tanz der Giganten/Indiana Jones und das Orakel von Delphi (13172) Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und die Gefiederte Schlange/Indiana Jones und das Gold von El Dorado (13194) Weitere Bande sind in Vorbereitung
EINS Dreitausend Fuß hoch über den zerklüfteten Furchen und den dichten Wäldern des New Forest in Südengland legte Gale Parker die Hand auf die Drosselklappe des kleinen Übungsflugzeuges. Der Wind bauschte ihr leuchtendrotes Haar auf. Das leise Motorengeräusch und der weich über die Flügel und durch die Leitungen pfeifende Wind ließ eine Unterhaltung zwischen den beiden Cockpits zu. Indiana Jones, den die unerwartete Stille nach dem lauten Motorenlärm, den er in dieser Höhe als selbstverständlich vorauszusetzen gelernt hatte, beunruhigte, warf seiner rotmähnigen Lehrerin einen irritierten Blick zu, als sie sich zu ihm umdrehte. Bevor sie etwas sagen konnte, schlug er mit der Faust auf die Cockpitpolsterung. »Schalte ihn wieder ein!« rief er ihr zu. Er beobachtete, wie die Flugzeugspitze unter den Horizont absackte, als sie zu einem Gleitflug nach unten ansetzten. Das gefiel ihm überhaupt nicht. Er wollte den Motor hören, seine Vibrationen spüren, die Abgase riechen. All das verschaffte ihm ein Gefühl von Sicherheit, während diese Ruhe ihn in Angst versetzte. Gale schenkte ihm ein Lächeln. »Kein Grund zur Beunruhigung, Indy!« rief sie nach hinten. »Ich muß dir was sagen.« »Unterhalte dich mit mir, wenn wir festen Boden unter den Füßen haben!« brüllte er zurück. Mit weit aufgerissenen Augen sah er, wie die Baumwipfel bedrohlich näher kamen, wie das Flugzeug auf den Wald zuhielt. »Das ist deine erste Unterrichtsstunde!« rief sie nach hinten. Ein Flügel neigte sich zur Seite. Indy klammerte sich so fest, bis die Knöchel an seinen Händen weiß hervortraten. Mit einer lässigen Handbewegung brachte Gale das Flugzeug wieder in die Horizontale zurück. »Bist du sicher, daß du dich für fliegerische Kunststücke begeisterst?« fragte sie ihn, wobei der Wind ihre Stimme dämpfte.
»Ja,ja «, rief er. »Aber ich möchte jetzt keine Zeit verschwenden. Um Gottes willen, schalte endlich wieder den Motor ein!« »Der läuft doch, der läuft doch, Indy«, rügte sie ihn. »Im Leerlauf. Das ist etwas, was du ebenfalls lernen mußt. Es wäre mir lieber, wir würden ganz sacht beginnen!« »Nichts als Worte!« rief er laut. »Hör auf, wie eine Frau zu reden, und fang endlich an, wie ein Pilot zu fliegen.« Als sie lächelte, strahlten ihre weißen Zähne in der Nachmittagssonne. »Wie du willst, Schätzchen!« erwiderte sie gutgelaunt. Sie richtete den Blick wieder nach vorn und drehte sich dann noch mal zu ihm um. »Vergiß nicht, Indy, leg deine Hände auf die Steuerruder und mach alles wie ich. Verstanden?« Er umklammerte das Ruder und stellte beide Füße auf die Ruderpedale. »In Ordnung.« »Mach mir alles nach, aber komm mir auf keinen Fall in die Quere, indem du eigenmächtig handelst!« »Das werde ich nicht tun, verdammt noch mal«, rief er empört. »Jetzt flieg schon.« Der Ruderknauf unter seiner linken Hand bewegte sich langsam nach vorn. Mit minimaler Verzögerung erwachte der Motor lautstark zum Leben, und die Flugzeugnase richtete sich wieder gerade aus. Ihre Stimme wurde zu ihm nach hinten getragen. »Alles okay, mein Lieber! Siehst du? Ich halte meine Versprechen immer!« Die Flugzeugnase fiel steil ab. Sie schienen schnurstracks auf die Baumwipfel zuzuhalten. Der Wind heulte in seinen Ohren. Hatte sie den Verstand verloren? Was hatte sie jetzt wieder vor? Das Ruder in seiner rechten Hand wurde so stark zurückgerissen, daß ihm ein stechender Schmerz durchs Handgelenk jagte. Ehe er sich versah, verschwanden die Bäume aus seinem Sichtfeld. Jetzt waren nur noch der blaue Himmel und die weißen Wolken zu sehen. Er hatte das Gefühl, als hätte sich urplötzlich ein Elefant mit seinem breiten Hinterteil auf seiner Brust, seinem Kopf und seinen
Armen niedergelassen. Seine Füße waren von bleierner Schwere, als Gale zu einem engen Looping ansetzte. Das Flugzeug rauschte nach oben, immer und immer weiter. Durch den Aufstieg drückte die Zentrifugalkraft ihn tief in seinen Sitz. Ihm fiel die Kinnlade runter. Tränensäcke bildeten sich plötzlich unter seinen Augen. Und dann ließ der Druck schlagartig nach. Er hing mit dem Kopf nach unten. Jetzt mußte er jeden Augenblick aus dem Flugzeug fallen! Aber das tat er nicht. Der Sicherheitsgurt um seine Taille, das Gurtgeschirr an seinen Schultern hielten seinem Gewicht stand, sonst wäre er bestimmt aus dem Flugzeug gepurzelt. Sein Magen regte sich, ihm wurde ganz mulmig. Auf einmal verstummte das Motorengeräusch wieder, das Ruder wanderte nach vorn, dann wieder zurück, und der Wind toste lärmend, als sie in weitem Bogen nach unten fielen. Indy hatte einen Kloß im Hals. Er versuchte, sich auf die Bedienung der Kontrollen zu konzentrieren. Er biß die Zähne zusammen, nachdem er sich eben entschlossen hatte, den besten Schüler zu mimen, den der Rotschopf jemals gehabt hatte. Sie kehrten in den Horizontalflug zurück. Gale betätigte das Ruder, während er sich vom Motorlärm beruhigen ließ. Kaum hatte er sich gefangen, spürte er, wie das linke Ruderpedal ohne Vorwarnung hinuntergedrückt wurde. Das rechte Pedal hob sich, schob sein Bein zurück, sein Knie hoch, und im gleichen Moment schlug das Ruder hart gegen seinen Körper. Gale ließ das Übungsflugzeug eine wilde Spirale beschreiben. Die Maschine drehte kurz hintereinander mehrere Kreise. Der Horizont verschwamm dabei zu einer zitternden Linie. Mit rasender Geschwindigkeit zischten Himmel, Wolken und Bäume an Indys Blick vorbei. Er hatte keine Ahnung, wo er war und was er tat. Gale setzte zu einer zweiten Spirale an, ehe sie das Flugzeug in die Waagerechte zurückbrachte. Dann schaltete sie den Motor in den Leerlauf, drehte den Kopf und blickte ihm in die Augen. »Wie geht es dir, Schätzchen?« rief sie ihm zu.
Er schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der sich in seinem Mund breitgemacht hatte, und spürte, wie sein Herz laut pochte. Vor Schreck hatte er sich auf die Zunge gebissen, die nun leicht blutete. Gezwungenermaßen rang er sich ein Lächeln ab. Doch Gale hatte die Gabe, die Zeichen lesen zu können. Indys Haifischgrinsen ließ eher auf einen Mann in Todesangst schließen als auf jemanden, der die Situation genoß. Er meinte, das Wort Hammerkopf gehört zu haben, bevor das anschwellende Brummen ihre Stimme übertönte. »Hammerkopf?« Was hatte ein Haifisch mit all dem zu tun? »Uhhh.« Entgeistert registrierte er, wie ihm dieser Ton über die Lippen kam, als sie das Ruder hochriß und sie wieder nach oben schössen, und »Wir sind zu langsam!« brüllte er unsinnigerweise gegen den lauten Wind und den Motorenlärm an. Das Flugzeug zog in einer geraden Linie nach oben, als wäre es am Propeller aufgehängt. Als die Geschwindigkeit nachließ, spürte er das Vibrieren und Zittern, und da wußte er, daß sie die Kontrolle über die Maschine verloren hatten. Der ganze Rumpf erschauderte, und dann wich das linke Ruderpedal unter seinem Fuß abrupt zurück. Das Flugzeug beschrieb einen Halbkreis, den man im Fachjargon Hammerkopfmanöver nannte. Gale sorgte dafür, daß das Flugzeug steil aufstieg und ebenso steil abfiel, und brachte es dann in eine Lage, in der sich die Tragflügel vertikal zum Boden stellten. Sie setzte zu einer Art ruckartigem Salto an, drehte bei, wirbelte die Maschine herum, zog das Ding wieder steil nach oben, reduzierte die Geschwindigkeit drastisch und trat mit voller Wucht aufs linke Ruderpedal. Die Well spielte verrückt, als sie ins Trudeln gerieten. Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Trotz des wehenden roten Haarschopfes und der sich drehenden Propellerflügel konnte er erkennen, daß die Erde sich blitzschnell um die eigene Achse drehte, während sie direkt darauf zuhielten. Aber das konnte doch gar nicht sein! Er zwang sich zu denken, was ihm wegen all der
Watte in seinem Kopf ziemlich schwerfiel. Entsetzt bemerkte er, daß sein Magen in Aufruhr war, und er sagte sich immer wieder, daß es sich bei den Bildern vor seinen Augen nur um eine optische Täuschung handeln konnte. Nicht die Erde drehte sich um ihre eigene Achse, sondern sie. Gale trat auf das rechte Ruderpedal, schob das Handruder vor, woraufhin die Drehbewegung schlagartig aufhörte. Dabei schlug Indy mit dem Kopf gegen die Cockpitwand. Endlich wieder in der Horizontalen! Als Gale sich zu Indy umdrehte, sah sie, daß er ganz grün im Gesicht war. Diese Reaktion war ihr nicht unbekannt. » Oh, nein!« rief sie laut und machte sich sofort an den Kontrollen zu schaffen - gerade noch so rechtzeitig, daß Indy den Kopf über den Rand halten konnte, um die Welt unter ihnen an der Mahlzeit teilhaben zu lassen, die er vor dem Flug zu sich genommen hatte. Er fühlte sich hundeelend. Während er nach einem Taschentuch suchte, hatte er das Gefühl, daß er sabberte. Sein Magen hatte sich noch nicht beruhigt. Er glaubte zu schielen. Aber nachdem er sich erbrochen hatte, fühlte er sich schon wesentlich besser, und Er mußte sich wieder übergeben. Er lehnte sich weit über Bord, würgte und hustete und schämte sich insgeheim. Eigentlich war sein Magen schon leer, aber sein Körper spielte immer noch verrückt. Und dann hing er wie ein ausgewrungenes Handtuch auf seinem Sitz und starrte auf den dichten Wald unter ihnen. Sie kreisten immer noch über dem New Forest. Trotz des Schleiers vor seinen Augen erkannte er die Gebäude des kleinen Dorfes St. Brendan Glen. Allmählich kehrten seine fünf Sinne wieder zurück. Aber irgendetwas stimmte dort unten überhaupt nicht. In dem Augenblick, wo sich sein Unwohlsein legte, sein Magen sich beruhigte, begann sein Verstand wieder zu arbeiten. Lichtblitze zuckten mitten im Wald auf, rote Flammen züngelten an den Baumstämmen hoch. Ungläubig blickte er nach unten. Die Baumwipfel schwankten wie bei einem Erdbeben. Das dort unten war Caitlin St. Brendans
Heimat. Ihr Dorf ... Explosionen und sich schnell ausbreitende Flammen rasten über den Ort. Mit der Faust hämmerte Indy auf den Metallrumpf des Flugzeuges. Gale drehte sich um und grinste ihn an. Als sie seinen besorgten Gesichtsausdruck sah, veränderte sich ihre Miene. So laut es ging, rief er ihr zu: »Reduziere die Geschwindigkeit!« Sie kam seiner Aufforderung, ohne eine Frage zu stellen, nach. Er zeigte nach unten. »Caitlin!« rief er. »Gale, sieh doch nach unten! Das sind Explosionen!« Dicke Rauchschwaden hingen über den Bäumen. »Oh, nein«, murmelte Gale. »Wir müssen sofort dorthin!« schrie sie Indy zu. »Halt dich fest, Indy! Wir werden in zehn Minuten landen!« Zum ersten Mal hatte er nichts gegen ihre Flugkunst einzuwenden. Mit Vollgas hielt sie auf das grasbewachsene Rollfeld auf der Salisbury Plain zu. Die Verzweiflung, die in ihrer Stimme mitgeschwungen hatte, war ihm nicht entgangen. Dort unten im vom dichten Wald geschützten St.-Brendan-Tal lebten Gales älteste und engste Freunde. Allen voran Caitlin, die ihr mehr als eine Freundin war und näher als eine Schwester stand. Die beiden Frauen waren Seelenverwandte. Irgendetwas Grauenvolles ereignete sich dort unten zwischen diesen Bäumen. Indy kannte sich mit den Detonationen explosiver Sprengstoffe und den darauf folgenden Erschütterungen sehr gut aus. Instinktiv wußte er, daß der abgeschiedene Weiler aus unerklärlichem Grund von unbekannten Angreifern attackiert wurde. Indy zog den Kopf ein. Der Wind pfiff während des rücksichtslosen und gefährlichen Abstiegs ohrenbetäubend laut. Ein tiefer Seufzer kam ihm über die Lippen. Monatelang hatte er sich darauf gefreut, den Pflichten, die er der Anstellung an zwei Universitäten zu verdanken hatte, entfliehen zu können. Nur widerwillig hatten ihm Princeton und die Universität von London ein paar Tage Urlaub bewilligt, und nun, wo er gerade einmal ein paar Stunden ausgespannt hatte, wußte er tief in seinem Herzen, daß das, was sich dort unten im New Forest
zutrug, die Ruhe, die sich gerade eingestellt hatte, unwiederbringlich zerstören würde. Ihn beschlich die Vorahnung, daß er sich in Zukunft noch nach der Abgeschiedenheit der Lehrsäle sehnen würde. Normalerweise führte Indy ein Leben inmitten efeubewachsener Wände, ein Dasein, das wenig mit dem eines Forschers und reiselustigen Archäologen zu tun hatte, dessen Wohlergehen und Überleben oftmals von seiner Kenntnis lokaler Gepflogenheiten und Sprachen, von seiner schnellen Auffassungsgabe und dem körperlichen Training eines Mannes abhing, der Berge besteigen und auf Langlaufskiern einsame und arktische Weiten überwinden konnte. Sein anderes, wesentlich abenteuerlustigeres Leben hatte er zum Großteil der Gabe zu verdanken, hervorragend mit seiner Peitsche und seiner Webley, Kaliber .44, umgehen zu können, die er immer dann einzusetzen gezwungen war, wenn der drohende Tod sein Begleiter war. Aber in der akademischen Welt war er Professor Henry Jones, der an der Princeton-Universität mittelalterliche Literatur lehrte, ein großgewachsener Mann, der Anzüge aus grobem Tweed bevorzugte, ein Bücherwurm, der seine Studenten eulenhaft über den Metallrand seiner Brille anschielte. Diese Studenten und die Fakultät in Princeton wußten nie, ob Professor Jones gemäß dem Stundenplan auftauchte, um die jungen Menschen, die ihn sehnsüchtig erwarteten, zu unterrichten. Princeton unterhielt eine besondere Beziehung zu Sir William Pencroft, dem barschen und an den Rollstuhl gefesselten Direktor der Archäologieabteilung an der Londoner Universität. Diese Verbindung erlaubte es Pencroft, in Princeton anzurufen und um Professor Jones' Dienste zu bitten, wann immer eine Feldforschung in unwirtlichen Gegenden in Planung war. Jones' bemerkenswerte Fähigkeiten auf dem Feld alter Sprachen waren in der Welt der archäologischen Studien weithin bekannt. Mit einer fast beiläufigen Lässigkeit tauchte er in die Vergangenheit ein, weshalb er sich zwischen uralten Ruinen ebenso heimisch fühlte wie in einem der Lehrsäle. Durch seine
Forschung und Ausgrabungen hatte er Europa, die Vereinigten Staaten, die Diamantminen in Südafrika und sogar verschiedene asiatische Kulturen besucht und kennengelernt, die anderen Ethnographen immer noch fremd waren. Was das betraf, war Professor Jones, der draußen unter dem Namen Indiana Jones bekannt war, ein Name, den er seiner Berufsbezeichnung vorzog, so etwas wie ein zeitreisender Detektiv. Alte Sprachen, Artefakte, längst vergessene Städte erwachten vor seinen Augen zu neuem Leben, und gerade wegen dieser Fähigkeit schätzte Sir William ihn als unersetzlich ein. Aber Indy konnte nicht gleichzeitig überall sein. In den letzten Jahren hatte er immer wieder den Versuch unternommen, fliegen zu lernen. Wenn er diese Fähigkeit besaß, stand ihm die Möglichkeit zur Verfügung, Entfernungen schneller überwinden zu können, neue Sichtweisen zu eröffnen und lange, zähe Stunden einzusparen, die er normalerweise auf dem Landweg verlor. Bei seinem letzten Abenteuer hatte er sich an die Fersen einer kriminellen Vereinigung gehängt, die ökonomische, militärische und industrielle Macht erlangen wollte. Was dazu geführt hatte, daß er nicht nur Europa und Nordamerika, sondern auch den Atlantischen Ozean in einem häßlichen dreimotorigen Biest von einem Flugzeug überquert hatte. Die Zeit, die er in der Ford Trimotor verbracht, und die Gelegenheiten, bei denen er die Gewalt über das Flugzeug gehabt hatte, hatten ihn nur in seiner Absicht bestärkt, selbst Pilot zu werden. Deshalb flog er nun in einer Höhe von ein paar tausend Fuß über den dicht bewaldeten Landstrich des New Forest in Südengland und landete auf der Salisbury Plain. Natürlich hatte er nicht mal im Traum daran gedacht, daß sein Lehrer eine Frau sein würde! Auf der anderen Seite setzte er großes Vertrauen in den feurigen Rotschopf. Sehr jung, noch als Teenager, hatte sie das Fliegen gelernt und konnte mit jeder Maschine - angefangen von einem kleinen Sportflugzeug bis hin zu einer großen Luftfrachtmaschine - umgehen, die vom Boden abhob. Während ihres letzten Abenteuers, das ein Fehlschlag gewesen war und sich auf verschiedenen Kontinenten abgespielt hatte, war Gale Parker in vieler Hinsicht
seine Partnerin geworden. Das war außergewöhnlich für einen Mann wie Indy, der es eigentlich vorzog, auf eigene Faust zu agieren, ohne sich um andere Menschen kümmern und sorgen zu müssen. Doch je mehr Zeit er mit dieser bemerkenswert kühnen und selbständigen Frau verbrachte, desto größer wurde sein Respekt für sie. Sie waren sich zufällig im New Forest über den Weg gelaufen. Indy suchte dort nach alten Ruinen. Sie war auf der Jagd und nur mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Ein leichtes Rascheln in den Bäumen ließ sie schneller, als er es für möglich gehalten hatte, auf dem Absatz herumwirbeln. Dann löste sich ein Bolzen, und das Tier fiel mit einem Metallstift im Kopf um. Als es sich dann unvermutet wieder aufrichtete, hatte es Indy mit seiner Peitsche kampfunfähig gemacht. Unter Gales Pfeilen war es schließlich verendet. Sie faszinierte ihn. Sorgsam studierte er ihre Gesichtszüge und überraschte sie mit einer Frage. »Wie heißen Sie -« »Gale Parker.« »Das ist nicht Ihr Name«, erwiderte er kühl. »Ach nein?« Ihre Augenbraue wanderte nach oben,- sie neigte den Kopf und betrachtete den Fremden, den sie vom ersten Augenblick an gut leiden konnte. Dieser Mann hatte etwas Besonderes an sich, eine gewisse Selbstsicherheit, die sich in jeder seiner Bewegungen bemerkbar machte. Und seine Augen! Sie schienen nichts zu übersehen, nicht mal in jenem Sekundenbruchteil, in dem sie einander kritisch beäugten. Sie bohrten sich wissend in sie. »Dann sagen Sie mir, Fremder -« »Jones, Indiana Jones.« »Wirklich ein eigenwilliger Name.« »Aber längst nicht so eigenwillig wie Ihrer.« Er lachte. »Warum«, fragte sie langsam, »stellen Sie meinen Namen in Frage?« »Weil er englisch ist, und in Ihren Adern fließt Blut, das nicht aus diesem Land stammt.«
»Sie sind sehr aufmerksam.« Er zuckte mit den Achseln, wartete. Über sich selbst staunend, antwortete sie ihm. »Ich bin Mirna Abi Khalil. Das ist der Name meines Vaters.« »Beduine?« »Ein Herrscher. Entstammt einem jahrhundertealten Geschlecht.« Wieder betrachtete er sie in aller Ruhe. »Aber Ihre Mutter -« »Sybil Saunders.« Mit dem Arm beschrieb sie einen weiten Kreis. »Das hier ist ihre Heimat, und auch ihr Geschlecht hat mehr als tausend Jahre überdauert, hier im New Forest. Sie stammt von den frühen Wicca ab.« Neugierig schaute sie ihm ins Gesicht und wartete darauf, daß sich darin seine Gedanken widerspiegelten. Sie entdeckte Wissen und Respekt. Er nickte bedächtig. »Eine alte Religion«, sagte er. »Dann ist es bestimmt Ihre Mutter gewesen, die veranlaßt hat, daß Sie sich den Namen Gale Parker nehmen.« »Die Familie einer Hexe ist in der heutigen Welt mit gewissen Problemen konfrontiert.« »Dem stimme ich zu«, sagte er. Er schaute sich um. »Und der New Forest ist Ihre Heimat?« »Ich bin hier aufgewachsen, habe aber vier Jahre in Deutschland bei meinen Cousins gelebt. Das war eine harte Schule. Ich habe das Segelfliegen und mehrere Sprachen gelernt. Mit achtzehn bin ich nach Hause zurückgekehrt. Hierher, in meine wahre Heimat. Die meiner Familie.« »Sie leben nicht in den Wäldern«, behauptete er, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Nicht?« Sie grinste höhnisch. »Hätten Sie dann vielleicht die Freundlichkeit, mir zu sagen, wo ich lebe?« »Dort, wo Ihre Freunde sind, wo Sie nicht auf Behaglichkeit verzichten müssen, wo es wunderbares Essen gibt und Sie im Einvernehmen mit der Natur leben und« - er hielt inne und fixierte sie - »mit dem, was jenseits dessen liegt,
was andere sehen.« »Sie gehen nicht gerade behutsam vor.« »Warum auch?« erwiderte er gelassen. »Dazu besteht überhaupt kein Grund. Ich verstehe. Ich bin schon mal hier gewesen. Mit den Roma -« »Die zeigen an Fremden wenig Interesse«, gab sie zu bedenken. »Ich sagte, ich bin bei ihnen gewesen, habe an ihren Lagerfeuern gesessen, ihre Namen erfahren, ihre Freundschaft genossen.« »Bemerkenswert für -« Da riß sie die Augen weit auf und bohrte ihren Finger in Indys Brust. »Ich kenne Sie!« Sie korrigierte ihre Aussage mit einem unvermuteten Kopfschütteln, woraufhin ihr rotes Haar sich wie ein feiner Nebel über ihr Gesicht legte. »Ich meine, ich habe von Ihnen gehört. Sie sind dieser Professor aus Amerika -« Wieder schüttelte sie den Kopf, als fiele es ihr schwer, ihren eigenen Vermutungen Glauben zu schenken. »Sie waren bei den Riesen in Stonehenge.« »Ja.« »Nachdem, was ich gehört habe, haben Sie sich nicht, ich meine, hat sich Ihre Anwesenheit nicht negativ auf den Tanz der Hundert Jahre ausgewirkt.« »Da haben Sie recht. Ich hatte keinen negativen Einfluß«, antwortete er leicht gekränkt. »Und ja, ich wurde schließlich akzeptiert.« »Dann müssen wir uns unbedingt die Hand geben!« Sie reichten sich die Hände. »Ich werde Ihnen mit dem Wildschwein helfen», bot er an. »Sie möchten mit mir essen?« »Aber sicher«, erwiderte er. »Es wäre mir eine große Ehre.« »Dann essen wir hier«, verkündete sie. »Sehen Sie sich um, Indiana Jones. Die Dämmerung setzt ein. Und Nebel, der uns die Rückkehr unendlich erschweren würde. Wenn es erst mal dunkel ist, werden die Dornbüsche unsere Kleider in Fetzen reißen. Nein, wir werden uns an dem Tier gütlich halten, ein Feuer machen und essen, wie das die Menschen hier vor tausend, nein, fünftausend Jahren gemacht haben.« Ihr Lächeln strahlte eine Wärme aus, die
sich wohltuend gegen die Kühle der einsetzenden Nacht abhob. »Ich verspreche Ihnen ein herzhaftes und köstliches Mahl.« Zum Dank für ihre Gastfreundschaft verbeugte er sich und legte dann seinen Rucksack ab. »Ich reise gut vorbereitet«, sagte er. »Was heißt das?« Er plazierte einen Salz- und Pfeffersteuer auf einem Ledertuch. »Rotwein und ein Laib Brot«, zählte er auf. »Und etwas Käse, falls Ihnen der Sinn danach steht.« »Ein wahres Festessen«, rief sie erfreut und klatschte in die Hände. »Wundervoll.« Seine Hand fiel auf das Holster. Schneller als ihr Blick folgen konnte, hielt er die Webley in der Hand und hatte den Hahn gespannt. »Was wollen Sie erschießen, mein amerikanischer Freund?« »Ich habe gehört, wie sich etwas im Gebüsch bewegt hat.« Er zeigte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. »Falls das der Partner dieses Wildschweins ist, könnten wir verletzt werden, bevor wir Zeit zum Reagieren haben.« »Danke«, erwiderte sie ungewöhnlich ruhig. »Aber dazu besteht kein Grund. Was Sie gehört haben, das Rascheln in den Bäumen, wurde zweifelsohne von denen produziert, die unsere Beute mit uns teilen möchten.« »Wer ist das?« Ihr Lachen klang wie das Läuten silberner Glocken. »Natürlich das Volk der Waldnacht. Wir haben es uns zur Angewohnheit werden lassen, mit ihnen zu teilen. Stecken Sie Ihre Waffe weg. Das sind Freunde. Außerdem, das, was Sie gehört haben, war das Zerteilen des Wildschweins. Aber sie werden das beste Fleisch für uns übriglassen.« »Das Volk der Waldnacht?« wiederholte er und musterte ungläubig ihr Gesicht. »Kennt man sie auch unter der Bezeichnung Kleines Volk?« »Vielleicht.«
»Sie sind auch so eine Art Kobold, Gale Parker.« »Würden Sie bitte ein Feuer machen? ... Sie stellen wirklich viele Fragen!« Es gab kein Mahl, das besser schmeckte. Der Geschmack des Wildschweins wurde durch die Gewürze und den Wein, den er immer auf solche Erkundungsstreifzüge mitnahm, nur noch hervorgehoben. Nachdem sie aufgegessen hatten, sammelte Gale Farnblätter und Moos. »Wir werden heute nacht hier schlafen. Die Augen werden Sie nicht mehr lange offenhalten können, mein neuer Freund, und dann werden Sie tief und fest schlafen.« »Was macht Sie so sicher?« fragte er mit einem Gähnen. Er war müde. »Der Zauber, was sonst.« Ihm fiel es schwer, die Augen nicht zu schließen. »Zauber?« »Sie sind akzeptiert worden. Wir haben nichts zu fürchten. Das Kleine Volk wird dafür sorgen, daß uns nichts zustößt.« »Das ist doch läch...« Indy erwachte in einem Meer aus dahin treibendem, goldenem Nebel. Blinzelnd versuchte er sich daran zu erinnern, wo er war. Weiches Moos war ihm ein komfortables Kissen gewesen. Langsam setzte er sich auf und sah das helle Glühen der aufsteigenden Sonne durch die Bäume fallen. Gale saß an einen Felsen gelehnt und beobachtete ihn. Ihr Lächeln war in seinen Augen der schönste Morgengruß, den er sich vorstellen konnte. Später marschierten sie durch den New Forest zu einem pittoresken kleinen Dorf, das dem Aussehen nach fernab der modernen Zivilisation existierte. Jeder schien Gale zu kennen, nickte oder winkte ihr freundlich zu. Sie führte Indy in eine kleine Bäckerei, wo sie ofenwarme Hefestückchen und zwei große Tassen Kaffee bestellten. In den darauffolgenden Tagen beeindruckte diese junge Frau ihn immer mehr. Hinter der beherzten Jägerin, der er im Wald begegnet war, trat eine Persönlichkeit mit wendigem Geist und einem beachtlichen Potential an Fähigkeiten hervor. In Geologie kannte sie sich hervorragend aus. Sie kannte
den Namen, die Geschichte und die Heimat jeder Pflanze, jedes Busches und jedes Baumes, den sie sahen. Seine augenfällige Überraschung belustigte sie. »Wenn man in diesem Wald aufwächst, dann lernt man all das schon von Kindesbeinen an. Es wird einem zur zweiten Natur. Man lernt, sich vom Land zu ernähren, und daß der Wald es gut mit einem meint, wenn man sich ihm gegenüber entsprechend verhält.« »Meinen Sie damit auch das Kleine Volk?« sagte er, halb im Spaß. Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Ja.« »Wie nennen Sie sie?« wollte er erfahren. »Oh, es gibt auf der Welt unzählige Namen für sie«, sagte sie leichthin. »Elfen, Gnome, Zwerge -« »Troglodyten haben Sie nicht aufgeführt.« »Ach, das sind doch die Bösen.« Sie grinste. »Die gemeinen Bewohner der dunklen Wälder.« »Sie scheinen nicht an deren Existenz zu glauben.« »Ich bin bisher keinem von ihnen begegnet.« Diese Antwort mußte ihm genügen - mehr bekam er über dieses Thema nicht aus ihr heraus. Wenn sie vom Bergsteigen, von ihren geologischen Expeditionen, vom Fliegen und der Jagd sprach - sie hatte auch mehr als sechzig Fallschirmsprünge hinter sich gebracht -, mußte er sich unweigerlich eingestehen, was für eine talentierte und besondere Person diese Gale Parker war. Man hatte ihn mehr oder weniger dazu überredet, Institutionen wie dem amerikanischen und englischen Abwehrdienst bei der Verfolgung einer international zusammengesetzten Gruppe unter die Arme zu greifen, die nach Machtzuwachs strebte und deshalb Unmassen von finanziellem und militärischem Einfluß akkumulierte. Dabei handelte es sich um eine Gruppe, die kaltblütig tötete und Regierungen verschiedener Länder zum Narren hielt, indem sie so tat, als habe sie in einer südafrikanischen Goldmine eine geheimnisvolle Pyramide gefunden, auf der alte und unbekannte Keilinschriften eingraviert waren und die allem Anschein nach viele tausend oder sogar Millionen Jahre alt war. Diese Pyramide, die möglicherweise die Geheimnisse
einer alten, außerirdischen Zivilisation barg und den Sprung in die wissenschaftliche Zukunft erlaubte, wurde für sage und schreibe eine Milliarde Dollar angeboten. Und da kam Indy ins Spiel. Sowohl die amerikanische als auch die englische Regierung bemühten sich um eine Zusammenarbeit mit ihm, um die mysteriösen und vielleicht außerirdischen Keilschriftgravuren zu entziffern. Je tiefer Indy in die Verstrickungen dieser internationalen Intrige und in dieses Machtspiel, das von rücksichtslosen Mordanschlägen geprägt war, eintauchte, desto stärker wurde sein Bedürfnis nach der Schnelligkeit, der Vielfältigkeit und Feuerkraft einer Maschine, die fliegen, landen und fast überall abheben konnte. Die Untersuchung der anscheinend alten Gravuren führte ihn in eine Reihe unglaublich gefährlicher, lebensbedrohender Konfrontationen, bei denen Gale Indy als zuverlässige Partnerin zur Seite stand. Nachdem das Unterfangen zu Ende gebracht war, wußten die beiden, daß sie ein erstklassiges Team waren. Sie vertrauten einander blind. Das einzige, was noch an Indy nagte, war die Tatsache, daß er immer noch nicht in der Lage war, ein Flugzeug zu steuern. Er konnte jedes Fahrzeug lenken, kleine Boote und große Schiffe steuern, die steilsten Berghänge hochklettern - aber ein Flugzeug fliegen konnte er nicht. Wann immer sich eine günstige Gelegenheit bot, kam irgendetwas - manchmal sogar ein paar Schurken, die ihm nach dem Leben trachteten - dazwischen. Nachdem einige Zeit vergangen war und dieses mißliche Abenteuer weit hinter ihnen lag, waren er und Gale nach England zurückgekehrt. Sie hatten sich vorgenommen, daß die junge Pilotin ihm Flugunterricht erteilen sollte, damit er den Pilotenschein ablegen konnte. Sie waren von der Salisbury Plain aus gestartet. Indy hatte ein Cottage gemietet. Gale hatte sich vorgenommen, ihm so viel wie möglich beizubringen, sieben Tage lang, nonstop, eine Art Crashkurs. Das war genau die Methode, mit der Indy alle neuen Herausforderungen in Angriff nahm. Nun, nach der ersten Unterrichtsstunde, nachdem er darauf bestanden hatte,
daß Gale mit ihrem kleinen Übungsflugzeug Kunststücke in der Luft aufführte, war es ihm blitzschnell gelungen, im Gesicht grün zu werden, sich zu erbrechen und dann ... Dann hatte er die aufsteigenden Flammen gesehen, den Rauch, der über den Baumkronen von St. Brendan Glen im New Forest aufstieg. Wo Gales Mutter und engste Freunde lebten. Gale steuerte die Übungsmaschine auf die Grasrollbahn, drosselte die Geschwindigkeit und landete in Windrichtung. Die Landung war hart. Das Flugzeug holperte über die Unebenheiten. Sie rollten bis zum entgegengesetzten Ende der Landebahn, wo Indy seinen Sportwagen geparkt hatte. Als sie mit Tränen in den Augen aus dem Cockpit kletterte, war Indy leicht irritiert. So hatte er sie noch nie gesehen. »Sie sind tot«, brachte sie heraus. »Meine Familie ... Freunde ... tot.« »Woher willst du das wissen?« fragte er mit gespielter Ruhe. Sie atmete tief durch und wischte sich mit dem Ärmel ihres Fliegeranzuges die Tränen von den Wangen, ehe sie die rechte Hand auf ihr Herz legte. »Wenn so etwas wie das hier ... passiert«, antwortete sie mit brüchiger Stimme, »spüren wir es hier drinnen. Wie den Stich eines Messers.« Sie umklammerte seinen Arm. »Bitte, Indy. Mach schnell.«
ZWEI Mit Vollgas und quietschenden Reifen preschte Indy über die Kieszufahrt auf die Hauptstraße, die nach Westen führte. Stumm und mit leerem Blick saß Gale neben ihm und kämpfte standhaft gegen den psychischen Schmerz an. Indy mußte sich nicht lange gedulden, bis sein Bentley BG 400 die Höchstgeschwindigkeit erreichte. Sein Wagen war ein modifiziertes Cabriolet mit einem kraftvollen Achtzylindermotor, 220 Pferdestärken und hohen Drehzahlen. Aus diesen Gründen war der Bentley hervorragend geeignet für die kurvenreichen und schmalen englischen Straßen. Ungefähr zwanzig Meilen lang fuhr er über eine asphaltierte Bundesstraße; dann setzte Gale sich auf und zeigte auf eine vor ihnen liegende Abzweigung. »Bieg nach rechts ab, Indy«, dirigierte sie ihn. Er nahm den Fuß vom Gaspedal und schaltete in einen niedrigeren Gang. Der Weg, den sie ihm gezeigt hatte, war mehr ein Feldweg als eine Straße. Die Äste großer Bäume neigten sich tief herab. Er wollte ihre Entscheidung schon in Zweifel ziehen, erinnerte sich dann aber, daß sie einen Großteil ihres Lebens in diesem Landstrich verbracht hatte. So bog er ohne zu murren ab, zog wegen der herunterhängenden Zweige den Kopf ein und warf einen Blick in den Rückspiegel. Indys Augen weiteten sich. Der Straßenabschnitt hinter ihnen, der Abschnitt, den sie gerade eben noch befahren hatten, mit all seinen Biegungen und Hügeln und Senken, war verschwunden! Die Staubwolken, die der hochmotorisierte Wagen aufwirbelte, verschwanden urplötzlich, als würden sie von einer unsichtbaren Hand weggewedelt. Wieder warf er einen Blick in den Rückspiegel. Nichts änderte sich an dem, was er sah.
»Gale, erzähl mir von dieser Straße«, bat er seine Beifahrerin. Bedächtig hob sie den Kopf, schaute nach hinten, zuckte mit den Achseln und blickte wieder nach vorn. »Diese Straße ist nicht für jedermann«, rückte sie schließlich mit der Sprache heraus. »Das leuchtet wirklich ein.« Sein Sarkasmus war nicht zu überhören. »Ich will damit sagen, daß nur bestimmte Personen diese Straße sehen können. Normalerweise würdest du sie bestimmt nicht sehen.« Sie schürzte die Lippen, überlegte angestrengt. »Aber auf der anderen Seite wärst du vielleicht doch in der Lage, sie zu sehen. Wenn man bedenkt, wer und was du bist und wie nah du allem Ungewöhnlichen gekommen bist.« »Ich sehe sie gut genug, um darauf fahren zu können!« »Ja, weil ich bei dir bin. Anderenfalls hättest du die Abzweigung niemals gesehen.« »Aber sie verschwindet hinter uns, beim Fahren. Als ob sie sich aufrollen würde.« Er warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Und du weißt, daß das unmöglich ist.« »Ja. Aber das ist eben eine magische Straße.« »Eine magische Straße«, wiederholte er tonlos. Was kommt als nächstes, fragte er sich. Eine Horde Zwerge, verkleidet als Straßenband, die Dudelsack bläst? »Ich will damit sagen, daß sie nur von den Menschen, die im Wald leben, benutzt wird. In Wirklichkeit ist das ein Weg für Pferdekutschen.« Schleudernd bogen sie um eine scharfe Kurve. Fast hätte Indy sich auf die Zunge gebissen. »Das will ich dir gern glauben«, grunzte er. »Aber was verleiht ihr das Magische? « »Weil nur bestimmte Menschen sie sehen können. So ist das schon seit vielen hundert Jahren. In den alten Überlieferungen heißt es, daß sie von Zauberern und Königen genommen wurde, die sich vor Banditen und Räubern schützen mußten.« »Das ist nett«, sagte er. »Überlieferungen. Märchen. Aber du hast mir keine
Antwort auf meine Frage gegeben. Wie kommt es, daß sie hinter uns verschwindet?« »Ach, jetzt verstehe ich, was du meinst. Sie verschwindet natürlich nicht. Sie ist immer noch da. Siehst du?« »Nein.« Kopfschüttelnd blickte sie zu ihm hinüber. »Indy, du müßtest das eigentlich begreifen. Wo du doch Wissenschaftlerbist.« »Erklär es mir genauer.« »Gibt es nicht Dinge im Leben, von denen wir wissen, daß sie existieren, die wir aber mit bloßem Auge nicht sehen können? Die Luft, die uns umgibt, sehen wir nicht. Radiowellen auch nicht. Und dann gibt es noch Trugbilder. Reflektionen von Dingen, die viele Meilen weit weg sind und die schimmernd auf dem Boden stehen oder am Himmel schweben. Man kann sogar mit einem Fotoapparat Bilder davon machen, aber sie existieren nicht. Es scheint nur so. Die Straße liegt immer noch hinter uns, aber man braucht ein besonderes Sehvermögen, um sie sehen zu können. Das Licht bricht sich oder beugt sich, deshalb sieht derjenige, der sie sehen möchte, nur etwas, wenn sich das Licht bricht. Ansonsten sieht er Bäume und Büsche, aber« - sie zuckte mit den Achseln und steckte die Hände mit den Handflächen nach oben weit von sich - »keine Straße. Ergibt das einen Sinn für dich?« »Seltsamerweise, ja.« »Wirklich?« Seine Antwort schien sie zu überraschen. »Sicher. Genauso, wie wenn man einen Fisch unter Wasser betrachtet und selbst über der Wasseroberfläche steht. Das Wasser bricht das Licht, verändert die Position der Strahlen. Der Fisch ist nicht dort, wo man ihn sieht. Sondern verschoben, wenn man es mal so ausdrücken möchte, aber das ist nur ein Trick, der die Augen zum Narren hält. Eine Art Verzerrung.« »Wie bei einem Prisma?« schlug sie vor. »Darauf kannst du wetten. Ich verstehe allerdings immer noch nicht,
warum ich die Straße nicht sehen kann, weil ich nicht weiß, wie du - oder sonst wer - das Licht bricht.« »Oh, das ist einfach. Das ist Zauberei. Magie, weißt du?« »Woher soll ich das wissen?« »Von all den Menschen, die außerhalb des New Forest leben, bist du, Indiana Jones, der einzige Mann, der mir jemals über den Weg gelaufen ist, der es wissen könnte. Es ist... es ist... nun« - sie suchte nach den passenden Worten - »wie wenn sich die Sonne grün verfärbt.« »Ein Sonnenaufgang, durch dichten Nebel gesehen«, antwortete er schnell. »Oder wenn der Mond sich vor die Sonne schiebt. Die Sonne scheint immer noch, aber du kannst sie nicht sehen.« »Das ist Schulphysik«, erwiderte er. »Wo kommt die Magie ins Spiel? Und wo der Zauberer?« »Wer hat in jener Nacht im Wald das Wildschwein zerteilt?« »Du hast behauptet, es wäre das Kleine Volk«, antwortete er schnell. »War es denn nicht so?« »Ich weiß es nicht, Gale. Ich habe dort niemanden gesehen.« »Dann weißt du nicht, daß es das Kleine Volk gewesen ist, oder?« »Nun, hm, eigentlich nicht, aber -« Zum ersten Mal seit ihrer hektischen Landung mit der Übungsmaschine umspielte so etwas wie ein Lächeln ihren Mund. »Nun denn, jetzt fällt mir nichts mehr ein, was ich dir sagen könnte.« Sie schaute nach vorn. »O Indy, bitte, fahr langsamer. Wir kommen an einen Fluß.« »Wir überqueren eine Brücke?« »Keine Brücke.« »Was dann? Ein Floß? Oder gibt es eine seichte Stelle, wo wir den Fluß überqueren können?« »Kein Floß, und niemand weiß, wie tief der Fluß ist.« »Vielleicht fliegen wir einfach darüber hinweg«, witzelte er. Die Unterhaltung irritierte ihn zunehmend.
Wieder ein Lächeln von ihr. »Du wirst schon sehen.« Indy trat auf die Bremse, ohne ein Geheimnis aus seiner Verwunderung zu machen. »Du spielst Wortspiele«, beklagte er sich. »Falls dort ein Fluß ist und er tief ist und du von mir erwartest, daß ich ins Wasser rausche, erwarte ich von dir konkretere Antworten als die, die du mir bislang gegeben hast.« Sie musterte sein Gesicht. Er begriff, was in dem Kopf mit dem karottenroten Haar vorging. Die tödlichen Gefahren, denen sie ausgesetzt gewesen waren, die vielen Male, wo einer dem anderen das Leben gerettet hatte. Das Vertrauen, das sie einander entgegenbrachten Offensichtlich konnte sie seine Gedanken lesen. »Vertraust du mir, Indy?« »Stell keine absurden Fragen. Wir reden hier von meinem Leben.« »Dann fahr zu«, drängte sie ihn. »Dort in die Wasserschneisen.« »Ein Bentley ist kein Kajak«, erwiderte er fast mürrisch. Und trotzdem schaltete er in einen anderen Gang, drückte den Fuß aufs Gaspedal und startete voll durch. Sie rollten einen sanften Abhang hinunter. Durch die Bäume schimmerte blaues Wasser. Der Fluß und Völlig überraschend streifte ihn eine eiskalte Brise. Ihm kam es so vor, als hätte ihn jemand in einen riesigen Gefrierschrank gesteckt. Er blickte zu Gale hinüber. Rauhreif auf ihrem Haar! Rauhreif? Vor wenigen Minuten war es noch warm und behaglich gewesen und dann plötzlich ... Er spürte seine Ohren. Sie schmerzten in der Kälte des Fahrtwindes. Seine Nase. Die Windschutzscheibe war mit Frost überzogen. Hier war es wie in der Arktis! Dann ... der Fluß. Geradeaus. Nein ... kein Wasser. Das konnte doch nicht wahr sein ... und dennoch war es so. In den wenigen Sekunden, wo er den Fluß im Blickfeld hatte, sie den Abhang hinunterfuhren, hatte das Wasser eine andere Farbe angenommen, war verblaßt zum farblosen Schimmer von Eis. Der Bentley schoß über die Eisfläche, kam ins Rutschen und Schleudern.
Gerade als er registrierte, daß er die Kontrolle verlor, erreichten sie die andere Uferböschung. Die Reifen hafteten wieder. Er gab Gas und bog um eine Kurve. Nur eine Minute später waren seine Ohren und seine Nase feucht vom aufgetauten Rauhreif, und Wassertropfen perlten an der Windschutzscheibe ab. »Wieder das Kleine Volk?« brüllte er gegen den Motorlärm und den heulenden Wind an. »Ja!« rief sie zurück. »Genau wie das Licht, das sich bricht. Sie haben die Wärme der Sonne abgestellt.« »Das ist unmöglich!« brüllte er. »Ich weiß!« erwiderte sie lachend. Gegen ihr ansteckendes Gelächter konnte er nichts machen. Und auch nichts gegen die Art und Weise, wie sie Zauberei und Magie akzeptierte, als wären sie so normal wie Blumen oder Sonnenschein. Außerdem wußte er, daß es besser war, wenn er sich nur aufs Fahren konzentrierte und sich nicht noch den Kopf zerbrach. Zu blöd, murmelte er in sich hinein, daß sie mit all ihren Zauberkünsten keine moderne Straße aus diesem gräßlichen Holperweg machen können. Was nichts daran änderte, daß er für den Nebel, das gebrochene Licht, den Sonnenschein und das Kleine Volk, das er nicht sehen konnte, mit dem Gale aber eine warmherzige und freundschaftliche Beziehung unterhielt, dankbar war. Denn während dieser kurzen Momente, wo ihre wilde Fahrt von unergründlicher Magie bestimmt war, gelang es Gale, die Niedergeschlagenheit und Furcht, die sie tief in ihrem Innern spürte, abzustreifen. Wieder hörte er sie lachen, und als sie verstummte, wußte er instinktiv, daß er das lange Zeit nicht mehr hören würde. Ja, er spürte ihre Trauer. Hin und wieder warf er Gale einen kurzen Blick zu, erkannte die Anteilnahme, die sich in ihren Gesichtszügen widerspiegelte. Je näher sie St. Brendan Glen kamen, desto deutlicher trat ihre Stimmung hervor. Er sah, wie sie erschauderte, als
schieße eine Welle des Schmerzes durch ihren Körper. Blut tropfte aus ihrem Mundwinkel. Sie hatte sich unbewußt auf die Lippe gebissen. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. »Gale, wie lange noch?« »Etwa zwanzig Minuten.« »Bist du in Ordnung, Mädchen?« Ihre Antwort überraschte ihn. »Nein.« Während dieser Momente versuchte er, sich an alles, was er über St. Brendan Glen wußte, zu erinnern. Er war schon einmal dort gewesen, allerdings mitten in der Nacht, zusammen mit Gale, die ihn damals über die Hauptstraße dirigiert hatte, die an dem dichten Wald und dem rauhen Terrain vorbeiführte. Außerdem hatte er im Lauf seiner Studien und während der vielen Jahre, in denen er diesen Teil von England bereist hatte, selbst ein paar Informationen zusammengetragen. Gerade den Süden von England liebte er über alles. Diese Landschaft begeisterte das Auge des Betrachters. Sie war sehr hügelig, teilweise sogar steil, und die Erde barg Erinnerungen an Völker, Kulturen und Religionen, die es längst nicht mehr gab. Dieser Landstrich war Zehntausende von Jahren ein blutiges Schlachtfeld gewesen, auf dem Männer zu Pferde, mit Schwertern und Äxten bewaffnet, im Kampf starben. Die martialischen Steinmonumente in Stonehenge hatten etwas Magisches an sich. Arthur und seine Ritter hatten hier gelebt und geliebt. Indy mußte an Camelot denken. An Utherpendragon und an Merlin, an Excalibur und Caliburn. An die Dame im See ... wie sich Mythen und Tatsachen, Überlieferungen und Realität ineinander verwoben zu etwas, das man hier unter dem Begriff ›Mother of Britain‹ zusammenfaßte. Für einen Fremden war es kein leichtes Unterfangen, eine Linie zwischen dem zu ziehen, was schlicht hartes Gestein und was ein phantastischer Berg war. Was immer hier existierte, existierte wenigstens tausend Jahre länger als Indys Heimat, die erst vor dreihundert Jahren gegründet worden war. Und was immer es war, das hier in allen Ecken und Winkeln zu spüren war, es
widersetzte sich der Wissenschaft, führte die Logik hinters Licht, bohrte sich einem ins Herz und sang vom Leben und der Liebe und der Tradition. Seit langem hegte Indy den Wunsch, hier im New Forest vom inneren Zirkel akzeptiert zu werden. Das war schon schwierig für einen Engländer und unmöglich für einen Mann, der kaum eine Stufe über den ungehobelten englischen Entdeckern stand, die vor einigen hundert Jahren ein seltsames und fernes Land namens Amerika kolonisiert hatten. Indy mußte lachen - über sich selbst. Was hätte er darum gegeben, den Geruch des Todes vertreiben zu können, den stechenden Schmerz auszulöschen, der für Gale immer unerträglicher wurde, je näher sie dem Glen kamen. »L-langsam, Indy.« Es kostete Gale einige Mühe, diese Worte über die Lippen zu bringen. Sie war kurz davor, zusammenzubrechen. »Es wäre besser«, flüsterte sie, »wenn wir die Linie überschreiten und den Kreis betreten.« In der nächsten Haarnadelkurve reduzierte Indy die Geschwindigkeit. Ein riesiger Baumstamm blockierte die Straße. Indy mußte die Bremse voll durchtreten. Durch die abgebrochenen Äste sah er, wie er und Gale von stechenden Augen beobachtet wurden. Sie erhob sich vom Beifahrersitz und blickte geradewegs in diese Augen, ehe sie sich wieder setzte. Als Indy erneut den Baumstamm betrachtete, der ihnen den Weg versperrte, begann er sich vor seinen Augen aufzulösen. Und plötzlich war er nicht mehr da. Ohne auf Gales Aufforderung zum Weiterfahren zu warten, legte er den Gang ein. Sie bogen erneut um eine Kurve. Und auf einmal hatte er den Eindruck, über ein Feld zu fahren, durch eine Art Kraftfeld. Was immer es sein mochte, ein leises Kribbeln lief über seinen Körper. Ihm standen die Haare auf seinen Armen und in seinem Nacken zu Berge. Selbst seine Zähne schienen auf diese Vibration zu reagieren, die er nicht orten konnte. Und dann war alles vorbei, und da wußte er, daß sie auf der anderen Seite dessen waren, was Gale >Kreis<
genannt hatte. Endlich war er in St. Brendan Glen angekommen. Alles um ihn herum war Tod und Schrecken.
DREI St. Brendan Glen war seit mehr als tausend Jahren eine magische Enklave. Die Cottages waren aus dem Hartholz des Waldes gefertigt und von Natursteinmauern umgeben, die den gewaltigen Stürmen trotzten. Die Häuser waren auf Hängen erbaut, schmiegten sich in Talsenken und auf sanfte Anhöhen. Insgesamt ergab sich der Eindruck eines Märchenlandes, das wie unter der Hand eines Zauberers entstanden war. Rauch stieg aus Kaminen aus, Wege aus Stein und Holzbalken schlängelten sich durch Blumenbeete von betörender Farbenpracht. Ganz in der Nähe zeichnete sich eine große Halle ab, die nach Indys Meinung seltsamerweise an einen alten Versammlungsort der Wikinger erinnerte. Die Bewohner des Tals beackerten das Land, ritten prachtvolle Pferde und hielten sich Ziegen-, Schaf- und Rinderherden. Es gab zahllose Hunde und eine Unmenge von anderen Haustieren. Riesige irische Wolfshunde waren zu Hütern abgerichtet worden, die Frauen und Kinder bewachten und beschützten. Der Glen war ein Überbleibsel aus der Vergangenheit, das sich problemlos in die technologische Entwicklung der Gegenwart eingepaßt hatte, obwohl die Anzeichen der modernen Zivilisation so versteckt waren, daß man sie fast nicht wahrnahm. Hier nutzte man die Elektrizität, aber die Stromleitungen waren für das Auge unsichtbar tief in der Erde verlegt, damit sie den Anblick der herrlichen Natur nicht störten. Und hier im New Forest lebte die St.-Brendan-Familie, Anhänger der
Wicca-Religion, ganz abgeschieden und im Einvernehmen mit der Magie, die sie als Teil der Erde und der Natur begriffen. Hier glaubte man immer noch an die alten Überlieferungen und richtete das Leben nach ihnen aus. Dieser Landstrich schien einer Zeit entsprungen, die nur wenig mit dem England zu tun hatte, das hinter dem Wald lag. Und dann kamen die ›Eindringlinge‹. Schon vom Übungsflugzeug aus hatte Indy deren Handschrift erkennen können. Die aufsteigenden Flammen, die gewaltigen Erschütterungen hatten die im Wald lebende Gemeinschaft aus ihrer Ruhe gerissen. Seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Dieses Stück Land, das im Einklang mit der Natur und der Geschichte war, war überfallen worden. Die Massenvernichtung trug alle Züge vergangener Schlachten. Die Leichen von Männern, Frauen und Kindern waren überall verstreut. Mit verdrehten Gliedmaßen lagen sie in dunkelroten Blutlachen. Jeder, der nur leicht oder gar nicht verletzt war, kam denen zu Hilfe, die schlimmer dran waren. Dicke Rauschschwaden stiegen von den noch brennenden Häusern auf. Das Knistern der in Flammen stehenden Bäume war nicht zu überhören. Blutüberströmte und verwundete Menschen hatten Reihen gebildet und reichten Eimer mit Flußwasser weiter, um zu verhindern, daß das Feuer sich noch weiter ausbreitete. Gale hatte Indy gebeten, im Wagen zu bleiben. Nur wenige Leute kannten sein Gesicht. Zorn hing in der Luft. Aber Indy fand es unerträglich, nur Zuschauer zu bleiben, und stellte sich in die Reihe, die Wasser in Kübeln einen Hügel hochreichte. Die Menschen links und rechts von ihm musterten kurz sein Gesicht. Ohne Fragen zu stellen. Er bot seine Hilfe an und war damit kein Fremder mehr für sie. Als die Feuer gelöscht waren, begab er sich zu den Verwundeten, wandte seine Erste-Hilfe-Kenntnisse an und trug die Schwerverletzten auf Bahren in das Gemeindehaus oben auf dem Hügel. Stunden vergingen. Genug Zeit, um die Vergangenheit mit der
niederschmetternden Gegenwart vergleichen zu können. Bislang war Indy noch nie im St.-Brendan-Tal gewesen, aber er hatte dennoch von seiner Existenz inmitten des undurchdringlichen Waldes gewußt. Wenn man sich mit Stonehenge und den mystischen und religiösen Verbindungen zur Vergangenheit auseinandersetzte, erfuhr man zwangsläufig auch von diesem Tal. Stonehenge, wo riesige Steine im Kreis aufgestellt worden waren, was auch heutigen Wissenschaftlern Rätsel aufgab, warf einen Zauber auf die Salisbury Plain und all ihre Ansiedlungen. Und der weltbekannte Steinkreis auf der Spitze des Stonehenge-Hügels war nur einer von vielen alten Versammlungsstätten, wo sich über Tausende von Jahren hinweg Männer und Frauen eingefunden und den Lauf der Planeten und Gestirne mit einer Genauigkeit berechnet hatten, die vom jetzigen Standpunkt aus nicht nachvollziehbar war. Diese Steine gab es nicht nur in der Salisbury Plain, sondern überall auf den britischen Inseln. Und das waren viel mehr als nur Hunderte von Pfund schwere Felsbrocken: Ihre Struktur, ihre Form, ja, das ganze Arrangement setzte sich zu einem erstaunlichen geometrischen Muster zusammen, von dem aus eigenartige, aber mächtige Energien ins umliegende Land strömten. Kein Platz glich dem anderen. Die Steine - zwanzig, manchmal sogar vierzig Fuß hoch - standen auf hartem Boden, reckten sich gen Himmel, Monolithen gleich, und bildeten den Mittelpunkt im Leben der Menschen vergangener Zeiten. Andere Steine glichen riesigen Speeren, die man tief in die Erde gerammt hatte. Rudstone in Rudston und Devil's Arrows bei Boroughbridge in Yorkshire waren von einer unbekannten und unvorstellbaren Kraft aufgerichtet worden. Noch heute brauchte man Hochleistungsmaschinen und viele hundert Männer, um diese Steinmassen zu bewegen. Indy hatte am eigenen Leib erfahren, daß die Geschichten über die Energien, die an diesen heiligen Stätten zusammentrafen, der Wahrheit entsprachen. Aber die Wahrheit war dennoch verwirrend, denn der Versuch, diese
Energie mit wissenschaftlichen Instrumenten zu messen, erwies sich als kompletter Fehlschlag. Weder elektrostatische, magnetische noch sonstige Ursprünge konnten nachgewiesen werden. Nur diese besonderen und eigenartig geformten Steine blieben übrig. Andere Geräte suchten das ultraviolette und das infrarote Spektrum ab. Nichts. Kein Ergebnis. Vielleicht
hatte er es ja mit Energie zu tun, die es nur in der Phantasie gab. Aber konnte die Einbildungskraft eine physikalische Kraft aufbieten? Vielleicht war sie ja nicht mit Instrumenten meßbar, sondern möglicherweise eine potente Medizin, wenn sie in und über den menschlichen Körper fuhr. Indy hatte nichts unversucht gelassen, hinter das Geheimnis des mündlich überlieferten Wissens hinsichtlich der Energie zu gelangen, die im abgeschiedenen Zirkel von Stonehenge weitergegeben wurde. Seine Bemühungen mündeten in eine frustrierende Periode der Suche nach Schatten oder Geistern von dem, was einmal gewesen war oder gewesen sein könnte - falls es überhaupt existiert hatte. Er hatte dicke Buchbände über Merlin studiert, der Stonehenge Chorea Gigantum nannte. Im Lauf der Zeit wurde dieser Ort auch unter der Bezeichnung ›Ring der Giganten‹ bekannt oder als ›Tanz der Giganten‹, ein Begriff, der stärker auf die Energien in diesem großartigen Steinkreis hindeutete. Laut dem altehrwürdigen Schriftgelehrten, der langsam und mit großer Sorgfalt die Berichte niederschrieb, waren die großartigen Steine gemäß einer alten und längst vergessenen Formel aufgestellt worden. Doch damit noch nicht genug. Indy schloß aus den Niederschriften, daß es einen einfachen und dennoch brillanten astronomischen Kalender gab, der bis auf den Bruchteil einer Sekunde das Jahr festlegte. Das war der sichtbare und augenfällige Zweck dieser Steingiganten. Aber Merlin - ach, wenn er sich doch nur der Existenz und der Macht dieses bemerkenswerten Zauberers sicher sein könnte! Merlin hatte gefordert, daß die gewaltigen Steinmassen in Stonehenge so positioniert wurden, daß sie als ein Instrument sichtbarer Macht erschienen. Dieses Instrument spielte auf diesen Energien genau wie ein Katzendarmbogen auf den Saiten einer Baßviola und produzierte einen tiefen, dumpfen und doch melodischen Ton, der mit keinem anderen Instrument erzielt werden konnte.
Jede Energie folgt einem bestimmten Muster, schloß Indy. Egal, ob sie von einer Dampfmaschine, einer Trompete oder sonst etwas stammt. Unsichtbare Energie konnte nicht leichtfertig als Zauberei abgetan werden. Radiowellen waren genauso wirklich wie Wind oder Sonnenschein. Beruhte die Energie der großen Steine, die mit unglaublicher Sorgfalt auf Befehl von Merlin aufgestellt worden waren, auf dem Muster von Radiowellen? Indy bastelte sich eine Art Antenne, um eine bestimmte Radiofrequenz empfangen zu können. Das Ding sollte zuerst auf die Frequenz reagieren und dann deren Quelle orten. Als Strom setzte er seine eigene Körperenergie ein. Schließlich ist der menschliche Körper eine biologischelektrische Maschine. Das läßt sich beweisen, indem man das Ende einer Antenne festhält, die zu einem Radiogerät gehört. Auf der Stelle wird der Empfang stärker, das Signal klarer. Weil der menschliche Körper zur Antenne wird. Indy baute einen Rahmen, der Brust und Rücken umspannte, mit einer Antennenschleife, die über seine ausgestreckten Arme zum Kopf lief. Dieses seltsame Ding zu tragen, machte ihn unsicher. Mit diesem Ding sehe ich doch wie ein Vollidiot aus, klagte er stumm. Nachdem er sich innerlich mit seinem Aussehen abgefunden hatte, kletterte er über eine Leiter auf einen hohen, oben abgeflachten Felsen in Stonehenge. Er fühlte sich immer noch etwas komisch, bis er sich zu drehen begann. Sein Körper und das Gerät fungierten als riesige, schleifenförmige Antenne. Der Eindruck, sich zum Narren zu machen, erlosch, als ein elektrischer Schlag durch seinen Körper fuhr, vom Kopf direkt hinunter zu den Sohlen seiner Schuhe. Mit aufgerissenem Mund vollführte er die Drehung und stellte erstaunt fest, daß kleine elektrische Ladungen, Zungen bläulichen Feuers, um seinen Mund tanzten. Durchs Einatmen bildeten sich winzige elektrostatische Felder, die stark genug waren, um einen Vorgang zu bewirken, der dem Bürsten eines Katzenfells gleichkam. Er wäre beinahe hingefallen, schloß blitzschnell den Mund und schmeckte das ozonähnliche
Brennen der Elektrizität, ehe er reglos stehenblieb. Nicht weil er das wollte. Nein, er verharrte gezwungenermaßen in dieser Position. Hitze stieg in seinen Beinen auf, hoch in den Rumpf. Er sah, daß ihn ein weißes Licht umgab. Dann hörte er es donnern. Und eine unsichtbare Hand schien ihn umzustoßen. Mit wirbelnden Armen und Beinen floh er von dem Stein und krachte mit voller Wucht auf den Boden. Meistens konnte Indy sich darauf verlassen, daß ihm das Glück zur Seite stand, und so war es auch diesmal. Er fiel seitlich. Die selbstgebastelte Antenne gab unter seinem Gewicht nach und faltete sich langsam zusammen, dämpfte somit den Aufprall ab und schützte seinen Körper und seine Gliedmaßen. Mal abgesehen von ein paar blauen Flecken, Kratzern im Gesicht, verbrannten Lippen und versengten Körperhärchen, überstand er das Experiment unbeschadet. Aber von da an stellte er das Wissen des teuflischen Merlin niemals mehr in Frage. Zweifellos hatte dieser kluge Kopf das Äquivalent eines leistungsfähigen Kondensators erfunden, ein batterieähnliches Gerät, das auch in den Augen heutiger Wissenschaftler immer noch unbekannte Energien lud und in der Lage war, sie in bedrohlicher Menge wieder abzugeben. Aber im Augenblick schien Stonehenge auf der anderen Seite des Planeten zu liegen. Indy war blutverkrustet und schlammbespritzt. Seine Kleider waren durchnäßt und verschwitzt, seine Hände aufgerissen und seine Muskeln müde von der stundenlangen Hilfe. Gale hatte er nach ihrer gemeinsamen Ankunft nicht mehr zu Gesicht bekommen, aber er ging davon aus, daß sie schon auftauchen würde, wenn Zeit und Umstände es zuließen. Die Schmerzensschreie der Verwundeten waren verstummt. Das Knistern der Flammen ebenfalls. Mit der einsetzenden Nacht wurden die Rauchschwaden dünner. Hie und da flackerte Licht auf, das von Laternen und Fackeln stammte, mit denen die Dorfbewohner der Dunkelheit
trotzten. Und dann roch er den Stechginster, ein natürlicher Duft, der stärker war als der Geruch des Blutes und der Tiere und Menschen, deren Leben ein so abruptes Ende gesetzt worden war. Natürlich hing noch der Gestank des Schießpulvers in der Luft, ein eigenartiger Duft, der ihn immer an die U-Bahn oder große Bahnhöfe erinnerte. Underground, korrigierte er sich. So nennt man das hier. Alle anderen Gerüche wurden von dem des Stechginsters überlagert. Diese Sitte war ihm aus der Zeit, die er bei den Roma verbracht hatte, bekannt. Diese Leute verbrannten Stechginsterzweige des Geruchs wegen in Kaminen oder in offenen Feuerstellen. Dem Stechginster haftete das strenge Aroma eines ätherischen Öls an. Wohltuend legte sich der Duft über die Ansiedlung. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Er entsann sich, wie die Roma, die Zigeuner, die im New Forest lebten, mit dem Geruch des Stechginsters ihr Abendessen fingen. Sie suchten Fasane in den Bäumen und entzündeten Stechginsterbäume. Was für den Menschen angenehm roch, war für das Federvieh eine tödliche Droge. Ein richtiger Zug und sie fielen wie übergewichtige, des Fliegens nicht mächtige Hühner von den Ästen. Weil er in diesem Augenblick ans Essen denken mußte, wurde ihm übel. Er ging zu einem großen Baumstamm, lehnte sich an die Rinde und verharrte in einem Zustand zwischen Wachsein und Traum, ehe er einschlief. Als er aufwachte, kniete Gale mit einem silbernen Becher vor ihm. »Trink, Indy«, forderte sie ihn sanft auf. Er nahm den Becher. Das Silber fühlte sich kalt an. Nach dem ersten Schluck wußte er, daß er vergärten Wacholdersaft trank, der außerhalb des New Forest kaum bekannt war. Er klärte den Geist und schärfte die Sinne. In einem Zug trank er das köstliche Gebräu aus und gab Gale den Becher zurück, ehe er sich den Mund mit dem Ärmel abwischen wollte. Doch dann hielt er mitten in der Bewegung inne.
Etwas rechts hinter Gale zeichnete sich schwarz die Gestalt einer Frau gegen den Feuerschein ab. Ihr Gesicht lag im Schatten. Gleich auf den ersten Blick wußte er, daß das niemand anders als Caitlin St. Brendan sein konnte. Tochter von Kerrie und Athena St. Brendan, Nachfahren einer Familie, die seit mehr als tausend Jahren in diesem Tal regierte. Außerdem war sie Gales älteste Freundin und stand ihr näher, als eine Schwester es jemals könnte. Langsam stand Indy auf. Caitlins Gegenwart wirkte sich fast wie eine physische Gewalt auf ihn aus. Er spürte, daß ihm niemals zuvor eine vergleichbare Frau, eine vergleichbare Persönlichkeit begegnet war. Breitbeinig stand sie vor ihm und kämpfte tapfer gegen die Schmerzen an. Ihr Körper war von Wunden überzogen. Ihre Lederkleidung war an vielen Stellen aufgerissen oder aufgeschlitzt. Darunter wurden Wunden sichtbar, die vor kurzem noch geblutet hatten. Seltsamerweise wußte er, daß ein Großteil des verkrusteten Blutes nicht von ihren Verletzungen stammte. Das große Schwert, das sie in den Händen hielt und dessen Spitze dicht über dem Boden schwang, sprach für sich selbst. Sein Blick wanderte von der Frau zum Schwert. Indy ahnte, daß er eine Waffe erblickte, die einer Legende entsprungen war. Falls er sich nicht täuschte, ruhte sein Blick auf dem sagenumwobenen Schwert des Feuers. Caliburn. Selbst jetzt schien das außer Frage zu stehen. Die strahlende Klinge reflektierte das Licht und barg in sich einen Schein, der direkt aus dem Metall zu dringen schien. Der Anblick dieser Waffe, die er selbst so viele Jahre gesucht atte, um ihre Existenz beweisen zu können, verschlug ihm die Sprache. Er hatte Glastonbury und Avalon durchforstet, war über die Felder geirrt, auf denen Arthur, falls die Überlieferungen wahr waren, gekämpft und grausame Schlachten für sich entschieden hatte. Indy hatte Abteien und Kathedralen durchstöbert, die Hallen berühmter Ritter, die heiligen Zusammenkünfte von Stonehenge und viele andere Orte, an denen die
Vergangenheit spürbar war. Die Geschichten, die sich um das Schwert rankten, waren so verführerisch, daß er immer weitersuchen mußte, auch wenn er bereit war, das vielbeschworene Schwert als Teil eines Märchens abzutun. Jetzt erst studierte er das Gesicht der Frau, die die Waffe hielt. Merkwürdigerweise kam ihm kurz das Bild einer Cherokee-Indianerin in den Sinn. Der Feuerschein akzentuierte ihre hohen Wangenknochen. Sie war der Inbegriff von Schönheit und Macht. Weder ihre breiten Schultern noch die kräftigen Hände, die das Schwert umfaßten, konnten die Grazie und Weiblichkeit schmälern, die auf Indy einen so starken Eindruck ausübten. Rabenschwarzes Haar und schlanke Finger, die gleichzeitig von enormer Kraft kündeten. Und ihre Halsmuskeln, die ebenfalls im Lichtschein des Feuers zu erkennen waren, unterstrichen ihren athletischen, muskulösen Körperbau. Ihre Augen funkelten, vermittelten ihm den Eindruck, daß ihr nichts entging. Auch sie musterte Indy eine ganze Weile. Dabei blieb ihm genug Zeit, aus ihrem Gesicht Stärke und Schmerz herauszulesen. Ihre Lederkleidung erregte sein Interesse. Eigentlich dürfte diese Frau nicht mehr stehen, geschweige denn laufen können, schloß er rasch. Falls er sich nicht täuschte, war Caitlin in dem Kampf, der hier stattgefunden hatte, schwer verletzt worden. Die Schlitze in ihrer Kleidung stammten von Klingen, die auch ihrem Körper Schaden zugefügt hatten. Und da waren noch runde Brandlöcher zu sehen. An diesen Stellen war sie von Kugeln getroffen worden. Aber wie kam es dann, daß sie noch aufrecht stehen konnte? Da mußte er wieder an das Schwert denken. Die Legenden erwähnten nicht nur, daß Caliburn das Schwert des Feuers war, eine Klinge, die Merlin mit einem mächtigen Zauber belegt hatte. Einen Moment lang gelang es ihm, seine kritische Betrachtungsweise abzulegen, sich ganz und gar auf die Mythen und Überlieferungen einzulassen. Hier vor ihm stand eine Frau, die so oft
verwundet worden war, daß sie eigentlich tot sein müßte. Und dennoch war sie hier, hatte sich vor ihm aufgebaut und brachte ihn dazu, die Geschichten, die sich um Caliburn rankten, wörtlich zu nehmen. Die Scheide! Das war des Rätsels Lösung. Falls etwas an den Überlieferungen dran war, dann das. Aber er hatte hier schon so viel gesehen, was die Grenzen der Realität verschwimmen ließ. Obwohl er sich Mühe gab, seine Gedankenflut einzudämmen, mußte er immer wieder an die Scheide denken. Er wollte schon etwas sagen, hielt sich dann aber zurück und ging im Geist die Informationen durch, die ihm zur Verfügung standen. Laut der Überlieferung konnte die Scheide jede Wunde heilen, die sie berührte. Ihre heilenden Kräfte -ob man sie nun als Zauberei oder Placebo werten mochte, zählte nicht - setzten auf der Stelle ein. Und später, ermahnte er sich. Gale schien die Gedanken, die durch seinen Kopf jagten, nachvollziehen zu können. Anscheinend bekam sie sogar mit, wie er sie beiseite schob. Sie setzte sich hin; Caitlin folgte ihrem Beispiel. Vielleicht waren sie ja bereit, ihm die geheimnisvollen Vorgänge zu erläutern. »Es sind mindestens dreißig Menschen gestorben«, sagte Gale unvermittelt. »Niedergemetzelt, kaltblütig ermordet.« »Und weitere fünfzig sind verletzt«, fügte Caitlin hinzu. Trotz der Verletzungen und des emotionalen Traumas, das die zwangsläufig erleiden mußte, klang ihre Stimme fest. Und etwas gedämpft, als bedürfe es nicht mehr als ihrer Anwesenheit und ihrer Worte, um dem Gesagten Gehör zu verschaffen. »Wer?« fragte Indy einsilbig. »Wir sind uns dessen nicht sicher«, sagte Caitlin. Und nach einer kurzen Pause: »Noch nicht. Aber wir werden herauskriegen, wer sie sind, und dann werden wir sie aufspüren.« Mit einer ausholenden Handbewegung zeigte Indy auf die sie umgebende Verwüstung. »Diese Leute haben hochexplosiven Sprengstoff mitgebracht.
Zumindest das kann man mit Sicherheit sagen.« Er setzte sich neben Caitlin auf den Boden. Stolz und mit geradem Rücken saß sie im Schneidersitz da. »Wir haben es aus dem Flugzeug beobachtet. Die Flammen und die Schockwellen der Explosionen«, fuhr Indy fort. »Es war nicht zu übersehen, was sich hier unten abspielt.« »Sie waren - sind«, sagte Gale zögernd, »Söldner. Sie wußten, wo dieser Glen liegt, wer hier war. Sie haben alles sorgfältig geplant, sie gingen wie ...» » Sie gingen wie Profis vor?« beendete Indy den Satz für sie. »Ja«, sagte Caitlin. »Trainiert, geschult, rücksichtslos.« »Bitte, fahren Sie fort«, forderte Indy sie auf. »Was sie getan haben«, führte Caitlin, die Worte sorgsam wählend, fort, »war kalkuliert, sehr methodisch und brutal. Sie hatten nur ein Ziel im Auge. Sie kamen in motorisierten Fahrzeugen. Wie viele es gewesen sind, wissen wir nicht. Auf einmal waren sie hier, mitten unter uns, und zwar schneller, als wir es überhaupt begriffen.« »Aber -« Indy wandte sich an Gale. »Als wir hierherfuhren, über die Straßen, die verschwanden, ich meine -« »Das war erst später, Indy«, erklärte Gale. »Und früher? Hier ist schon seit Ewigkeiten niemandem Schaden zugefügt worden. Jedenfalls nicht, solange ich mich entsinnen kann. Nach dem Angriff, nun« - sie zuckte mit den Achseln - »habt ihr nicht ein Sprichwort für so was?« Indy nickte. »Ja, das haben wir. ›Es macht wenig Sinn, die Scheunentür zu schließen, nachdem das Pferd abgehauen ist.‹ « Indy blickte Caitlin an. »Sie stürmten ohne Vorwarnung herein und eröffneten das Feuer?« »Ja. Verwendeten Sprengstoff. Genug, um damit Häuser zu zerstören, Menschen zu töten, alles in Brand zu setzen. Die Wucht des Angriffs ... demoralisierte unsere Leute, bevor sie wußten, wie ihnen geschah. Und dann -« »Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche«, platzte Indy heraus. »Wie viele
sind es gewesen?« »Vielleicht zwanzig. Nach den Explosionen töteten und verletzten sie meine Leute nicht grundlos. Sie handelten sehr überlegt. Sie mordeten, um den Kampfgeist der Menschen hier zu brechen, die sich schon mit Pfeil und Bogen zur Wehr setzten. Diese Waffen sind nicht so primitiv, wie es den Anschein haben mag. Einer unserer Pfeile kann drei Männern das Leben kosten. Aber da war es schon zu spät. Sie schlachteten unsere besten Kämpfer nieder und töteten dann mehrere Frauen und Kinder. Und dann hielten sie den anderen Kindern Messer an die Kehle. Sie lachten. Sie drohten, die Kinder zu töten, falls wir nicht tun, was sie verlangen. Und schließlich war es zu spät. Wir waren viel zu schockiert und entsetzt von ihrem Verhalten, um die alten Zauberkünste einzusetzen.« Hatte er irgend etwas übersehen? Indy schaute zu Gale hinüber. »Sie, wer waren sie?« »Ich bin nicht hier gewesen.« Gale gab die Frage an Caitlin weiter. »Ihre Gesichter waren böse, aber sie waren mir allesamt fremd«, kam als Antwort. Die Erinnerungen an das Geschehene ließ ihre Augen auflodern. Unbewußt verstärkte sich der Griff nach der Waffe. »Wie ich schon sagte, das waren Profis. Sie arbeiteten perfekt zusammen. Und sie wußten, wo sie das kriegten, was sie suchten.« Ihre letzten Worte ließen Indy aufhorchen. Wer immer dieser Gruppe angehörte, was immer sie waren, sie waren hierhergekommen, bis an die Zähne bewaffnet, bereit, zu töten oder die Menschen so sehr zu quälen, daß der Tod einer Erlösung gleichkam. Bevor Indy Caitlin weitere Fragen stellen konnte, stand sie auf. Sie bewegte sich wie eine Großkatze. »Ich muß gehen. Ich werde gebraucht.« Sie blickte zum Himmel hoch, als könnte sie trotz der Dunkelheit die umliegenden Berge und Bäume sehen. »Außerdem ist jemand in der Nähe.« Indy war perplex. »Wahrscheinlich die Polizei«, sagte Gale.
»Wir sollten uns verhüllen«, fügte Caitlin hinzu. »Dann wird niemand in der Lage sein, zu uns zu stoßen.« Indy stand ebenfalls auf und gestikulierte wild. »Caitlin, das könnte sich als großer Fehler erweisen.« Sie betrachtete ihn mit einem skeptischen Gesichtsausdruck. »Sie kennen uns kaum und dennoch nehmen Sie sich die Freiheit heraus, solche eindeutigen Kommentare abzugeben«, bemerkte sie vorsichtig. Da wußte Indy, daß er sich auf gefährliches Terrain begeben hatte. Diese Frau kochte vor Wut und Schmerz und verspürte das unbändige Bedürfnis zuzuschlagen. Auf einmal fand er, daß er diesem sagenumwobenen Schwert viel zu nah war. »Ich weiß«, sagte er. »Ich möchte Ihnen sagen, daß ich die Polizei, die Behörden, nicht besser leiden kann als Sie, Caitlin. Aber Sie können das, was sich heute hier ereignet hat, nicht geheimhalten. Die Explosionen, das Feuer. Ihre Freunde, die den Tod gefunden haben. Und außerdem, wie viele von den Angreifern haben Sie und Ihre Freunde erledigt?« »Neun.« »Sie können sie nicht so ohne weiteres verschwinden lassen. Jedenfalls nicht ohne Gerüchte, die bestimmt nicht so schnell verstummen werden.« Indy warf Gale einen Blick zu; sie nickte. Er durfte fortfahren. »Und außerdem habe ich eigene Kontakte an den richtigen Stellen. Ganz oben, Caitlin. Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß sie mehr über die Personen wissen, die Sie angegriffen haben, als Sie sich vorstellen können.« Mit den Augen einer Kobra fixierte sie ihn. »Können Sie ihre Namen in Erfahrung bringen?« »Das kann ich nicht versprechen. Ich kann Ihnen nur mein Wort darauf geben, daß ich mein Bestes tun werde«, erwiderte er ruhig. »Falls jemand dazu in der Lage ist, dann Indy«, mischte Gale sich ein. Caitlin trat näher, bis sie direkt vor Indy stand. Noch niemals hatte er
solche Augen gesehen. Diese Frau sprühte vor Leben, war von einer Aura umgeben, die sie wie ein Lichtschein einrahmte. »Warum sollten Sie das tun?« fragte sie. Ihre Stimme klang auffällig distanziert. Indy hielt ihrem forschenden Blick stand. Das war eine gute Frage, eine berechtigte Frage. Warum sollte er das tun? »Ich weiß nicht, wieso«, antwortete er wahrheitsgetreu. »Ich weiß nur, daß ich es tun werde.« Dann langsam begriff er sein Verlangen, ihr zu helfen. Sie war all das, was er auf seinen Reisen quer über den Erdball gefunden hatte. Sie vereinigte alle erhabenen Frauengestalten der Geschichte. Die Königinnen und Führerinnen, Prinzessinnen und Priesterinnen. Wo immer er gewesen war, in Tempeln und Pyramiden, in Grüften und Schlössern, auf Schlachtfeldern, auf denen Nationen erobert wurden, all das vereinigte sich hier in diesem unglaublichen menschlichen Wesen. Sich nun abzuwenden hieße, sich von allem abzuwenden, wofür er stand. Nicht einmal diese Erklärung machte in seinen Augen richtig Sinn, aber Indy wußte, er wußte einfach, daß er die Verpflichtung zum Beistand hatte. Gale stellte sich neben ihn, legte beide Hände auf seinen Arm. Auch das mußte Caitlin ein Zeichen sein. Sie hielt keine Rede, stellte keine weiteren Fragen. »Danke«, sagte sie mit einer knappen Verbeugung, ehe sie sich umwandte und sich in den dunklen Schatten zwischen den Lagerfeuern verlor. »Weißt du, was gerade eben passiert ist?« fragte Gale Indy. »Bei Gott, das weiß ich nicht«, antwortete er schärfer, als er beabsichtigt hatte. Während Caitlin vor ihm gestanden hatte, war er wie erstarrt gewesen, eingebettet in einen Energiefluß. Hieroglyphen und Keilschriften und andere Sprachen von Lehm- und Steingravuren flüsterten ihm etwas ins Ohr, schwirrten ihm durch den Kopf. »Du bist zum Teil von uns gemacht worden. Von uns allen hier«, antwortete Gale ihm. »Laß mich dir etwas sagen, Indiana Jones. So etwas habe ich noch
nie gesehen. Niemals. Es ist, als ob...« Sie suchte nach Worten. »Als ob ihr beide euch seit Hunderten von Jahren kennen würdet. Als ob ihr vor langer, langer Zeit Bruder und Schwester gewesen seid, die sich nun, nach dieser Trennung, wiedergefunden haben.« Indy wandte sich zu ihr um. »Wann hast du dich in eine Romantikerin verwandelt?« Gale lächelte und hätte fast ein Geheimnis preisgegeben, doch stattdessen hielt sie den Mund. Indy ließ den Blick durch das Tal streifen. »Bevor die Behörden hier eintreffen, solltest du mich lieber einweihen in das, was sich zugetragen hat. Und zwar in alles«, betonte er nachdrücklich. »Ach, es ist... scheußlich«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Du kannst später zusammenbrechen, Gale«, wies er sie barsch zurecht. »Jetzt, in diesem Augenblick, brauche ich Informationen von dir.« Gale nickte verständnisvoll und atmete tief durch. »Sie haben Athena gefoltert. Caitlins Mutter ...«
VIER Im Schein des Lagerfeuers sah Indy die Tränen, die langsam Gales Wange hinunterliefen. Dieser Anblick traf ihn mit einer Wucht, die beinah körperlich zu spüren war. Auf der anderen Seite der Welt waren er und diese Frau zusammen geflogen, gefahren, gesegelt und hatten so manche Gefahr miteinander überstanden. Nicht ein einziges Mal hatte Gale Parker auch nur für eine Sekunde schwach gewirkt. Immer war sie hart gewesen, als habe man sie wie Stahl im Feuer geschmiedet. Und nun, ganz überraschend, sah es so aus, als hätten die Worte über Caitlins Mutter die Wirkung eines Messers, das ihr ins Herz gerammt wurde. Ohne zu überlegen, legte Indy eine Hand auf die ihre. »Heh, hör auf, Karottenkopf«, flüsterte er mit sanfter Stimme. »Falls es dir zuviel ist, werde ich -« Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus den Augen und sog bibbernd Luft ein. »Ich bin gleich wieder in Ordnung, Indy.« In dem Lächeln, das sie sich abrang, lag große Trauer. »Man weiß ja nie, wann diese Gemetzel einem unter die Haut gehen. Athena war ... nun ja, so etwas wie eine zweite Mutter für mich.« Sie setzte sich aufrecht hin, und Indy sah, wie die Kraft in ihren Körper und Geist zurückfloß. »Ich bin gleich wieder okay, Indy.« Er nickte und dachte an die Frage, die ihn fortlaufend beschäftigte. Er wußte auch, daß sie besser über den Schmerz und den Verlust dieser geliebten Menschen hinwegkam, wenn es ihm gelang, sie mit seinen Fragen und ihren Antworten von den Qualen abzulenken. »Du sagtest, daß sie, diese Männer, Athena folterten. Aus welchem Grund? Und woher wußten sie, wer sie war?« Gale schüttelte den Kopf. »Das kann ich dir nicht beantworten. Ich kann dir nur sagen, was sich hier abgespielt hat.«
»Dann fang von vorn an. Nach dem, was ich gehört und gesehen habe, sind diese Leute in Fahrzeugen gekommen. Hierhergefahren. Offensichtlich wußten sie genau, wohin sie wollten, sie kannten ihr Ziel. Sie wußten außerdem, wie wichtig es war, ganz überraschend zuzuschlagen. Nur so konnten sie sichergehen, daß niemand eine Verteidigung aufbaut. Liege ich soweit richtig?« »Ja. Caitlin hat dir schon erzählt, was passiert ist. Zuerst haben sie einfach so drauflos getötet. Um die Menschen so sehr zu erschrecken, daß sie sich nicht wehren konnten.« »Aber es ist ihnen nicht gelungen?« »Nein. Ein paar Leute waren nicht zu sehen, als die Schießerei begann. Sie kamen aus den Wäldern angelaufen. Als sie die Explosionen hörten und das Feuer sahen, rannten sie, so schnell sie konnten. Sie sind auf der Jagd gewesen, mit langen Speeren, Schwertern, mit Pfeil und Bogen. Genau wie ihre Vorfahren früher auf die Jagd gingen. Selbst als die ... die ...« »Invasoren - nenn sie, wie du willst. Fahr fort.« »Selbst als sie unsere Leute erschossen, kämpften die Jäger mit den Bogen gegen sie. Sie sind sehr gut und tödlich. Sie setzten einige der Angreifer schachmatt. Aber gegen die Gewehre, gegen automatische Waffen konnten sie nicht viel ausrichten. Und die Invasoren teilten sich in zwei Gruppen. Ihr Anführer, wer immer das gewesen sein mag, führte eine kleine Gruppe in die große Halle. Irgendwoher wußte er, daß Caitlin und ihre Eltern dort waren. Aber zu diesem Zeitpunkt wußten Caitlin und ein paar andere schon, was sich abspielte. Sie ließen die Männer in die Halle treten, und dann schlugen sie zurück, von der Seite. Sie hielten sich hinter hohen Vorsprüngen im Raum versteckt.« Bevor Gale fortfuhr, trank sie ihr Glas Wein aus, das die ganze Zeit über neben ihr gestanden hatte. »Caitlin knöpfte sich den Anführer vor. Mit ihrem Schwert. Sie eröffneten das Feuer auf sie. Von dem, was ich erfahren habe, hat sie wenigstens vier Männer niedergestreckt.«
Mit einer Handbewegung unterbrach Indy sie. »Warte mal. Du sagtest, sie schössen auf Caitlin.« Gale nickte. »Und sie trafen sie auch?« »Ja.« »Mit Gewehren? Mit Gewehrkugeln?« »Ja. Sie wurde auch von zwei Männern angegriffen, die ebenfalls Schwerter besaßen. Und sie wurde schwer verwundet.« »Gale, was du sagst, ist unmöglich. Ich habe mich gerade mit Caitlin unterhalten. Sie hatte genug Löcher in ihren Kleidungsstücken, um gegen ein Dutzend Männer gekämpft zu haben. Und trotzdem läuft sie umher, als ob nichts gewesen sei.« »Ich weiß, aber -« »Nein, lassen wir das einen Moment beiseite. Hat der Kampf aufgehört, nachdem diese Gruppe in die Halle geprescht ist?« »Ja. Aber nun schnappten sich die Männer draußen mehrere Kinder. Hielten ihnen Messer an die Kehle. Warnten Caitlin und alle anderen, daß sie die Kinder töten würden, falls unsere Leute nicht nachgaben und das Kämpfen einstellten.« Gale schluckte schwer, bemühte sich weiterzusprechen. »Und dann?« »In der Halle. Sie hielten Athena fest. Caitlins Mutter. Ein Mann, Caitlin erinnert sich, daß ihn jemand beim Namen genannt hat. Er hieß Scruggs, glaube ich, aber ich bin mir nicht sicher. Er lachte. Während zwei Männer Athena festhielten, näherte er sich ihr. Mit einem Krummsäbel. Er -« Indy wartete, bis sie weitersprach. »Er schnitt ihr ein Ohr ab.« Wie erstarrt saß Indy da und lauschte ihren schrecklichen Ausführungen. »Er warf Kerrie, Caitlins Vater, das Ohr hin. Drohte ihm, ihr einen Finger nach dem anderen abzuschneiden, und dann das andere Ohr und die
Nase. Kerrie riß sich los. Stürmte auf Scruggs zu. Sie packten ihn und schnitten ihm die Achillessehne durch, damit er nicht mehr laufen konnte. Und dann forderten sie, daß er ihnen gab, weshalb sie gekommen waren. Falls er das nicht tat, würden sie seine Frau in Stücke schneiden.« Gale durchzuckte ein Schauer. »Kerrie blieb keine andere Wahl.« »Und wo war Caitlin währenddessen?« »Sie war auf einen Sparren geklettert, auf einen der dicken Holzbalken in der Halle. Aber sie konnte nichts machen. Zu viele Männer, zu viele Gewehre. Sie hätten sofort auf sie geschossen. Ein paar Männer waren mit Maschinenpistolen ausgestattet. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich ihre Gesichter einzuprägen, sich an alles mögliche zu erinnern, damit sie später gegen sie vorgehen konnte.« Indy schwieg für ein paar Minuten. Diese Pause war für Gale eine Erleichterung; nun konnte auch sie sich in die Stummheit flüchten und ihre Fassung wiedererlangen, während sie versuchte, das schreckliche Ereignis einigermaßen zu verarbeiten. Auf einmal kam Indy auf eine Idee. »Diese Männer ... diese Schützen ... hinter was waren sie her? Warum sind sie zu euch gekommen? Was ist so wichtig, daß sie derartig brutal vorgehen und wie wahnsinnig töten? Hierbei geht es nicht um irgendeinen Kleinkram. Ihnen mußte von Anfang an klar gewesen sein, daß die Regierung von dieser Sache Wind kriegt. Daß die Regierung alle Geschütze auffährt, die besten Leute abstellt. Scotland Yard wird sich garantiert mit dieser Angelegenheit beschäftigen.« Er hielt inne und blickte Gale in die Augen. »Hinter was sind die hergewesen? Und haben sie bekommen, was sie wollten!« Gale starrte auf den Boden. »Was war es? Juwelen? Diamanten?
»Das ... das muß dir Caitlin sagen«, murmelte sie. »Du plauderst hier doch keine Familiengeheimnisse aus!« rief Indy aufgebracht. »Du kannst nicht länger schweigen. Wenn die Polizei eintrifft, werden sie diese Ansiedlung auf den Kopf stellen und das Unterste nach oben kehren, es sei denn, ihr arbeitet mit ihnen zusammen. Begreifst du denn nicht, Gale? Ungefähr dreißig Leute sind tot, und -« »Genug, genug«, brüllte sie ihn an. Indy stand auf. »Möchtest du hierbleiben oder mich begleiten?« Sie riß die Augen auf, hob protestierend eine Hand. »Du verläßt uns? Nachdem, was du Caitlin gesagt hast?« »Nachdem, was ich Caitlin gesagt habe, ja«, schimpfte er. »Das hier läßt mich an Schattenboxen denken. Jeder spricht in Halbsätzen. Ich sagte, ich würde helfen, so gut ich kann. Aber ich kann niemandem helfen, wenn man mich blind in der Gegend herumtappen läßt.« »Ich -« »Komm mit oder bleib! Was willst du?« fragte er sie. »Es nützt doch nichts, wenn ich mich mit der Polizei herumschlage. Ich werde mich wie ein Dummkopf anhören, und wenn es schon so kommen muß, dann bringe ich das auch noch allein fertig. Das letzte, was ich gebrauchen kann, ist solche Hilfe.« Sie entgegnete nichts. Enttäuscht schüttelte Indy den Kopf und marschierte zu seinem Wagen hinüber. Er schaute nicht zurück, hörte aber schließlich, daß ihm eine Frau hinterherlief. Er blieb stehen. Gale stand neben ihm und hielt ihn am Arm fest. »Laß uns Spazierengehen. Weg... vom Geruch des Blutes. Dann fällt mir das Sprechen auch leichter. Du hast ja recht. Du mußt es erfahren. Ja, ich glaube sogar, daß Caitlin es dir sagen wird.« Er nickte. Sie schlugen einen Weg ein, der durch einen Wald auf einen nahe gelegenen Hügel führte.
»Sie waren hinter der Karte her«, platzte sie mit der Sprache heraus. »Gale, bitte. Kannst du dich nicht genauer artikulieren?« »Tut mir leid. Es ist nur so, daß ich noch nie mit jemandem darüber gesprochen habe. Seit mehr als fünfzig Jahren ist Caitlins Familie die Hüterin dieser Karte. Falls ich mich recht entsinne, ist darauf ein Vermögen in Gold eingezeichnet. Größtenteils ungemünzt. Aber auch alte Goldstatuen und Figurinen. Anscheinend stammen sie von längst untergegangenen Zivilisationen oder Kulturen, und sie sind von unschätzbarem Wert.« Sie drehte sich zu Indy um. »Das ist nicht alles. Es sind auch Münzen dabei. Münzen aus dem alten Rom, aus dem Heiligen Land, von anderen Orten.« »Hast du je darüber nachgedacht«, wandte er ein, »daß dieser Schatz mehrere hundert Millionen Dollar wert sein könnte?« »Ja doch, ich weiß.« »Diese Statuen. Sind sie bekannt? Ich meine, bei Leuten, die in Museen arbeiten oder so?« »Sie sind bekannt, aber kaum jemand hat sie zu Gesicht bekommen. Ich glaube, sie sind Teil einer Sammlung von irgendwo hier in England. Und die Münzen, nun, ich habe etwas über eine Sondervereinbarung gehört, die vor langer Zeit zwischen unserer Regierung und dem Vatikan getroffen wurde. Ich kann dir nicht sagen, ob alles, was ich dir jetzt erzähle, hundertprozentig stimmt, aber es kommt in etwa hin.« »Und aus dieser Karte kann man das Versteck herauslesen?« »Ja. Ob sie alt ist oder ob die Markierungen immer noch zutreffen, weiß ich allerdings nicht.« »Und wo? Das Gold, der Schatz, wie immer man es nennen will, wo soll es denn versteckt sein?« »Das ist ja das Verrückte an dieser Geschichte, Indy.«
»Was ist verrückt daran? Erzähl es mir.« »Es befindet sich nicht hier. Nicht in England, will ich damit sagen.« »Wo dann?« »Ich glaube, irgendwo in deinem Land.« Er erstarrte. »In Amerika?« »Ich glaube es zumindest. Du mußt dich an Caitlin oder ihren Vater wenden, wenn du weitere Informationen möchtest.« »Du hast recht. Das ist verrückt. Warum sollte ein Vermögen aus ungemünztem Gold, Statuen und Münzen nach Amerika geschickt worden sein? Und wann?« »Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß.« »Ich würde liebend gern erfahren, welche Rolle der Vatikan hierbei spielt.« »Ich kann dir nicht weiterhelfen, Indy.« Ihr Tonfall klang flehend. »Ich weiß einfach nicht mehr.« »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht so drängen«, entschuldigte er sich. Er verlangte zuviel von ihr. Sie hatte an einem Tag mehr als genug durchgemacht. Andere Frauen wären längst zusammengebrochen. »Ich werde warten, bis ich mich mit Caitlin unterhalten kann. Oder ihrem Vater.« »Aber ich kann dir nicht versprechen, daß sie dir mehr verraten werden.« »Du brauchst mir nichts zu versprechen, Gale. Schon gar nicht, wenn es andere Menschen betrifft. Aber ich würde meinen letzten Dollar darauf verwetten, daß sie mich einweihen werden. Denn nur dann kann ich ihnen wirklich helfen.« »Caitlin wird dich brauchen.« »Hast du nicht gesagt, daß die Invasoren vorhatten, Athena zu töten, falls ihr Mann nicht die Karte rausrückt?« »Ja.« »Ich wette zwei zu eins, daß sie ein zweites Exemplar besitzen. Ich weiß, daß es so ist.«
»Wieso bist du dir da so sicher?« »Diese Menschen hier sind sehr intelligent. Sie sind zum Überleben geboren. Und sie haben schließlich die letzten tausend Jahre hier, in diesem Tal, überlebt. Armeen sind durch diese Wälder marschiert, haben Schlösser und Festungen dem Erdboden gleichgemacht, Kirchen, ganze Städte. Aber St. Brendan gibt es immer noch.« »Wenigstens das, was davon übrig geblieben ist«, schimpfte sie erzürnt und wandte dann schnell den Kopf ab. »Indy, dort drüben.« Sie zeigte mit dem Finger auf den Dorfrand. Indy konnte die Scheinwerfer herannahender Autos erkennen. Es waren vier oder fünf Fahrzeuge. »Die Polizei. Wir gehen besser wieder in die große Halle.« Jeweils vier Polizisten stiegen aus den fünf Fahrzeugen. Und ein Einsatzleiter und ein Detektiv. Ungläubig starrten sie auf die Verwüstung, die noch brennenden, zerstörten Häuser. Der Anblick der neun Leichen, die mit Pfeilen oder durch Armbrüste oder mit Schwertern getötet worden waren, schockierte sie so sehr, daß es ihnen die Sprache verschlug. Als man sie in die große Halle führte, in der die Leichen von dreißig Männern, Frauen und Kindern in ordentlichen Reihen aufgebahrt und mit weißem Baumwollstoff oder Seide bedeckt worden waren, begriffen sie, daß sie alle Hände voll zu tun hatten. Langsam schritten sie an den mehr als fünfzig Verwundeten vorbei, an Kindern mit leerem, verständnislosem Blick. » Das ist ein verfluchter Krieg«, verkündete der Einsatzleiter unnötigerweise. »Melden Sie sich umgehend telefonisch in London. So wie es aussieht, werden wir etwa zwanzig Krankenwagen brauchen. Falls ihnen nicht genug zur Verfügung stehen, sollen sie auch ein oder zwei Lastwagen mitschicken. Den Toten wird es nichts mehr ausmachen, in was für einem Fahrzeug sie transportiert werden.« Sie unterhielten sich kurz mit Kerrie St. Brendan. Er teilte
ihnen eine Kurzfassung der Ereignisse mit. Der Mann war viel zu wütend und zu sehr damit beschäftigt, sich um seine Frau zu kümmern, als daß er viel darauf gegeben hätte, die Fragen einer Horde irritierter »Bullen mit funkelnden Plaketten« zu beantworten, die sich eifrig Notizen machten. »Wenden Sie sich an meine Tochter«, fuhr er den Gruppenleiter an. »Mit Ihrem sinnlosen Geschwätz schaden Sie meiner Frau nur.« »Sinnloses Geschwätz, hm?« wandte sich der Einsatzleiter erbost an Caitlin. »Er nennt diesen brutalen Mord sinnloses Geschwätz?« »Nein, so meint er das nicht. Er kann nur nichts mit Ihnen anfangen«, sagte Caitlin. Sie saß auf einem großen Stein vor dem Eingang zur Halle. Indy und Gale standen neben ihr, als die Polizisten herbeigelaufen kamen. Caitlin hatte ihnen nicht viel zu sagen. Den plötzlichen Überfall schilderte sie ihnen jedoch ausführlich. »Wer waren die Angreifer?« Sie zuckte mit den Achseln. »Mörder.« »Was wollten die? Warum haben sie Sie und Ihre Leute so brutal überfallen?« Caitlin zeigte auf die neun am Boden liegenden Leichen. »Fragen Sie sie.« »Das kann ich aber leider nicht, Miss. Sie sind tot, verdammt noch mal.« »Was Sie nicht sagen«, erwiderte sie sarkastisch. »Mir geht es da nicht anders als Ihnen. Auch ich tappe im dunkeln.« »Wir werden morgen einen umfangreichen Bericht machen, Miss.« »Wie Sie wollen.« »Wir werden alle befragen müssen.« »Das dürfen Sie nicht tun.« »Und wieso nicht?« »Fast vierzig unserer Leute sind gestorben. Die Kinder befinden sich im Schockzustand, und«, sagte sie in einem Ton, den der Polizist nicht gewöhnt war, »Sie werden die Kleinen nicht behelligen. Sie brauchen Zeit, damit ihre Seelen heilen können.«
»Nun, Sie haben ja gehört, daß wir Kranken- und Lastwagen geordert haben. Wir werden die Toten abtransportieren müssen. Es tut mir leid, daß ich so vorgehen muß, aber, tja, Sie wissen ja, so verlangen es die Polizeivorschriften.« »Nehmen Sie den Abfall mit.« Sie zeigte auf die toten Angreifer. »Unsere Toten werden wir selbst begraben. Hier, tief in den Wäldern.« »Aber wir müssen sie auch mitnehmen.« »Das werden Sie nicht tun.« »Ich möchte Ihnen nicht das Leben schwermachen, Miss. Wir können es auf morgen verschieben, wenn Ihnen das lieber wäre.« Caitlin stand unerwarteterweise auf. Gale war klar, daß ihre Freundin plötzlich auf eine Idee gekommen war. »Na gut. Der Abfall wird in den Lastwagen abtransportiert. Oder in Müllwagen, das ist mir gleich. Unsere Leute werden in den Krankenwagen weggebracht. Sie werden sie mit Respekt behandeln und sie nicht der Würde berauben, auf die sie einen Anspruch haben.« Daß sich Caitlin auf einmal so kooperativ zeigte, erleichterte den Polizisten ungemein. »Ich respektiere Ihre Trauer. Und ich möchte mich für Ihre Zusammenarbeit bedanken«, sagte er so freundlich, wie es ihm möglich war. »Tun Sie, was Sie tun müssen«, sagte Caitlin. »Es ist nicht von Belang. Und es wird Ihnen nichts nützen.« Ehe der Mann etwas auf ihre geheimnisvollen Abschiedsworte erwiderten konnte, war sie schon verschwunden. Die Krankenwagen und der Laster trafen ein. Die Polizei hob die leblosen Körper der Angreifer in den Lastwagen, als ginge es darum, Mehlsäcke zu verladen. Den Toten aus dem
Glen erwiesen sie Respekt; diese Leichen wurden auf die Krankenwagen verteilt. Indy und Gale hielten sich im Abseits und beobachteten das Treiben der Polizisten. »Ich kann nicht glauben, daß Caitlin sich so verhalten hat«, rückte er nach einiger Zeit mit der Sprache heraus. »Was kannst du nicht glauben?« fragte sie ihn. »Daß sie so urplötzlich nachgegeben hat. Zuerst weigerte sie sich, daß eure Toten weggebracht werden. Und dann -gerade so, als betätigte jemand einen Lichtschalter - ändert sie auf einmal ihre Meinung.« »Das hat sie nicht getan, Indy.« »Einer von uns tickt nicht richtig, Gale.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind beide bei Sinnen. Vertrau mir. Vertrau Caitlin. Und hab Geduld. Du wirst schon bald verstehen, was ich meine.« »Na gut.« Die Fahrzeuge brachen nach London auf, eins nach dem anderen. Die roten Rückleuchten des Konvois blitzten durchs Unterholz. »Es wäre besser, wenn wir uns auch bald auf den Weg machen würden«, schlug Indy vor. »Es sei denn, du möchtest hier bei Caitlin und ihrer Familie bleiben.« Gale schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte mit dir gehen. Du wirst Fragen haben, und vielleicht kann ich ein paar Lücken schließen. Aber, Indy, macht es dir was aus, noch eine Weile zu warten?« »Wieso, gibt es noch was zu tun?« »Nein, im Moment nicht, aber später. Vielleicht in ein, zwei Stunden. Du wirst schon sehen.« »Du hast keine Lust, mir zu sagen, worum es sich dreht?« »Lieber nicht«, sagte sie. »Ich versuche nicht, die Geheimnisvolle zu spielen, Indy. Aber es wäre viel besser, wenn du mit eigenen Augen siehst, was passiert, als wenn du's nur vom Hörensagen mitkriegst.«
Ihre Worte machten ihn neugierig. Sie meinte es ernst. Er nickte. »Okay, ich kann die Zeit brauchen. Könntest du mich zu den Personen führen, die den Angreifern am nächsten gekommen sind? Zu denen, die sie sprechen gehört haben, die gesehen haben, wie sie reagierten?« »In Ordnung. Laß uns bei den Höhlen anfangen. Dorthin hat man die Verletzten geschafft. Dort mischen die Alten Kräuter und Tinkturen, die Heilung verschaffen.« »Ärzte?« »Wir haben hier keine Ärzte, Indy. Hatten wir noch nie. Wenn man die Geheimnisse des Waldes kennt, sorgt er für einen.« Obwohl er das Wort ›Hexe‹ hier im St. Brendan Glen kein einziges Mal gehört hatte, genügten ein paar Minuten in den großen Höhlen unter den zerklüfteten Hügeln, die das Tal abschirmten, um jeden Zweifel auszulöschen. Er befand sich in einer der Hochburgen von Wicca, einer alten Religion und in vieler Hinsicht auch so etwas wie der Lebensstil dieser Menschen. Erwachsene und Kinder, viele schwer verwundet, lagen auf sauberen, in feste Bettrahmen gepreßten Strohmatten. Überall waren junge und alte Frauen damit beschäftigt, über siedende Kessel zu wachen, die über offenen Feuerstellen hingen. Darin köchelten Pflanzen und Kräuter vor sich hin, die Indy fremd waren, aber ganz offensichtlich zu einer Art Medizin verarbeitet wurden. Er hörte ein Kind vor Schmerz aufschreien. Sofort liefen zwei Frauen zu seinem Bettchen. Eine Frau schmierte eine grüne Paste auf die offene Wunde, während die andere einen silbernen Becher mit einem Opiat aus zerriebenen Beeren und Pflanzen brachte, die überall im Tal wuchsen, und ihn dem Kind an die Lippen hielt. Innerhalb weniger Minuten gingen die Schmerzensschreie in leises Wimmern über, und der Ausdruck des Schmerzes verschwand aus dem Antlitz des Kindes.
»Du bist eine Hexe«, sagte Indy zu Gale, als sie durch die unterirdischen Gänge von einer Höhle zur nächsten liefen. Seine Worte waren weder als Frage noch als Anschuldigung gemeint, sondern nur die Bestätigung einer Tatsache. »Wicca ist mir nicht ganz unbekannt. Ich kenne mich sogar mit den Kelten und Druiden aus und mit ihren Nachkommen, aber es ist das erste Mal, daß ich so tief in eine Religion eintauche. Glaube, Fanatismus vermischen sich normalerweise. Aber hier ist es anders. Es ist irgendwie natürlich.« »Ich bin sicher, daß du alles, was ich dir sage, schon von deinen Studien kennst. Manchmal muß ich mir ins Gedächtnis rufen, daß du ein weltweit angesehener Professor bist, Indy. Jemand, der für seine Forschung über das Altertum und Mittelalter geschätzt wird. Nicht nur hier in England, sondern auf der ganzen Welt.« »Laß dich von dem, was du gehört hast, nicht zu sehr beeindrucken«, protestierte er milde. »Von dem, was ich höre?« Sie lachte. »Indy, ich habe dich bei der Arbeit gesehen, erinnerst du dich? Ich habe gesehen, wie du Gravuren und seltsame Schriften entziffert hast, die andere, überaus gelehrte Männer vor den Kopf gestoßen haben. Du könntest ebensogut einem Londoner Club angehören. Ich sehe dich schon vor mir: Mit einer Pfeife zwischen den Zähnen und einem Drink in einer Hand liest du eine alte Schriftrolle mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie eine eben erst erschienene Zeitschrift!« »Ich wünsche, ich hätte mir gerade Notizen gemacht. Gütiger Gott, Miss Parker, das ist die beste Beschreibung von mir, die ich je gehört habe.« Beim Gehen umfaßte sie seinen Arm mit beiden Händen. »Schieß los, Indy. Stell deine Fragen. Ich werde mir alle Mühe geben, um dir die richtigen Antworten zu geben.« »All das hier.« Er gestikulierte wild mit seinem freien Arm. »Ist das immer so gewesen?« Sie schüttelte den Kopf. »Fast niemand, der nicht unserer Religion angehört,
begreift, was wir sind, woher wir kommen. Es gibt eine Unmenge von Büchern, die -« »Vergiß die Bücher. Erzähl mir, was du während deiner Kindheit aufgeschnappt hast. Das ist das Leben«, betonte Indy. »Nicht die Notizen von jemandem, der gerade dabei ist, eine Theorie aufzustellen.« »Du weißt, daß unsere Religion älter als das Christentum ist?« »Ja.« »Ich halte es für einen Fehler, die Anfangszeit dessen, was wir heute Wicca nennen, als Religion anzusehen. Im Grunde genommen waren es okkulte Riten.« »Und im Okkultismus geht es vor allem um das Unbekannte«, fügte er hinzu. »Ich verwende da deine Worte. Schließlich bist du hier aufgewachsen, hast hier gelebt. Und darum gehört Wicca zu deinem Alltag«, sagte er und dachte schon über die nächste Frage nach. »Was bedeutet Wicca, dieser Lebensstil« - mit einer weitausholenden Geste wies er auf St. Brendan Glen und den New Forest - »dir als Individuum? Ich spiele hier nicht nur den Neugierigen, Gale. Vielleicht kannst du mir mehr über die historischen und archäologischen Gegebenheiten sagen, als ich aus allen offiziellen Berichten jemals rauslesen könnte.« Gale grinste ihn an. »Ich weiß genau, was du meinst, Professor«, scherzte sie locker. »Wenn ich in der Londoner Tageszeitung etwas über uns lese, bin ich mir nie sicher, über wen sie da eigentlich schreiben.« Sie gingen weiter geradeaus, bogen dann nach rechts ab und folgten einem von Fackeln erleuchteten, ansteigenden Pfad, ehe sie wieder nach oben stiegen, durch eine Öffnung, die von Passanten gern übersehen wurde. Sie standen auf einem Berg, von dem aus man einen herrlichen Blick auf den Glen hatte. »Da liegt es«, sagte sie leise, während sie die hellen Fackeln und Lagerfeuer betrachteten. Von hier oben aus konnte man nicht sehen, welche schrecklichen Ereignisse sich erst vor kurzem dort unten im Tal
zugetragen hatten. Da der Wind aus einer anderen Richtung blies, konnten sie oben auf dem Hügel nicht mal den säuerlichen Geruch der zerstörten Gebäude riechen. »Vor Tausenden von Jahren, niemand weiß genau, wann«, begann sie zögernd, »erkannten Führer von Ansiedlungen und Weilern, die sich zum Schutz gegen die Elemente und marodierende Banden zusammengetan hatten, daß sie nur sehr wenig über die Welt wußten, die sie umgab. Was wir heute Wicca nennen, hat seinen Ursprung in vielen Ländern Europas. Und streng genommen kann man es nicht als Religion ansehen.« Er nickte. »So wie ich es verstehe, war Wicca eigentlich der Versuch, die Wahrheit des Lebens zu erfassen und diese Erkenntnis dann als eine Art Leitlinie zu benutzen. Handle weise und nicht blind.« »Sehr schön ausgedrückt, Indy. Man erkannte, daß gewisse Individuen bestimmte Fähigkeiten oder einen ausgeprägten Instinkt hatten. Insofern war es weise, daß diese Person für alle anderen in der Gruppe eine Wahl oder Entscheidung traf. Und es zeigte sich, daß sich ihr Rat für die Zukunft und auf lange Sicht als am besten für alle erwies. Wicca herrscht nicht, sondern führt. Die, die folgen möchten, tun es. Alle anderen haben die Freiheit, das zu tun, was sie wollen.« »Dann ist diese Religion also nicht organisiert gewesen?« »Stimmt. Unglücklicherweise gab es auch damals schon selbstsüchtige und gierige Menschen, genau wie heute.« Gale seufzte. »Und sie waren es auch, die die Fähigkeit, die Zukunft vorhersagen zu können, ausnutzten, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Wicca, das ursprünglich die Suche nach Wissen gewesen ist, verwandelte sich in Zauberei und verkehrte sich somit in das, wogegen Wicca eintrat. Die Menschen, die ihre Zauberkraft ausnutzten, wurden als gemein und rücksichtslos angesehen, und als ihre ständig wachsende Macht nicht mehr anders erklärt werden konnte, wurde behauptet, sie hätten einen Pakt mit den Dämonen und Teufeln geschlossen.« »Wodurch sie mit der Kirche konfrontiert wurden, die ihren
Machtbereich ausdehnte«, fügte Indy hinzu. »Und Wicca, das nichts mit Zauberei am Hut hatte, wurde über einen Kamm geschoren«, sagte Gale, deren Stimme plötzlich etwas schärfer klang. »Damals begann die Jagd nach allen Hexen, nach guten und nach schlechten. Zwischen Wicca, das sich zu einer sanften und nützlichen Religion entwickelt hatte und zu einem Lebensstil, und den anderen, die sich der Zauberkünste bedienten, um ohne Gewissen und ohne Moral zu agieren, wurde kein Unterschied mehr gemacht.« Dieser Gedanke erzürnte sie sehr. »Und dann ging es mit der Unterdrückung erst richtig los.« »In ihrer schlimmsten Ausführung, der spanischen Inquisition«, merkte Indy sachlich an. »Die Inquisitoren haben davon finanziell profitiert. Gold, Juwelen, Häuser, Ländereien. Frauen wurden entführt und in Bordelle verfrachtet, in die Sklaverei. Menschen mußten grausame Folterqualen ertragen, wurden getötet. Die Verdorbenheit regierte.« »Zusammengefaßt heißt das, daß Hexen gejagt und verdammt wurden, damit andere an die Macht kamen«, sagte Indy. »Das alte Spiel um Macht.« »Und so gingen unsere Vorfahren, meine Vorfahren -« »In den Untergrund«, beendete Indy den Satz an ihrer Stelle. »Hör mal, Gale, du lieferst mir einen sehr netten Prolog, aber ich möchte mehr über das Persönliche erfahren, über das hier, über den Glen.« Sie nickte zustimmend. »In Ordnung, dann will ich dir mal erklären, was Wicca für uns als Religion bedeutet. Wir glauben an ein höchstes Wesen. Welchen Namen du diesem Wesen geben willst, ist nicht von Bedeutung. Nenn es Gottheit. Keiner von uns, nicht einmal die Alten, hält sich für weise genug, wirklich zu verstehen, was das sein könnte.« »Okay, ich kann das grobe Bild erkennen. Aber ihr setzt euch auch mit der Natur auseinander und -« »Nein, so kann man das nicht betrachten, Indy. Wir setzen uns nicht mit der Natur auseinander. Wir sind Teil der Natur und füllen diese Rolle aktiv
aus." »Jetzt kommen wir endlich zum Kernpunkt«, verkündete Indy voller Zufriedenheit. »Was willst du damit sagen?« »Ich werde dir mit einer Frage antworten. Wie gelingt es euch, die Akzeptanz eines höheren Wesens mit dem Zauber unter einen Hut zu bringen, den ich schon erlebt habe? Mit Straßen, die aus dem Blauen auftauchen und wieder verschwinden? Mit dem Kleinen Volk, das anscheinend für uns das Abendessen zubereitet? Mit Wasser, das sich von einer Sekunde auf die andere zu Eis verwandelt und dann wieder in Wasser. Mit Nebel, der aufkommt, obwohl die Meteorologen sagen, daß es an diesem Tag keinen Nebel geben kann. Das verstehe ich unter Zauberei. Wie könnt ihr sowohl einer Religion angehören als auch Zauberer sein? Das paßt einfach nicht zusammen.« Gale fixierte ihn. Schließlich mußte sie grinsen und schüttelte den Kopf. »So brillant, so talentiert und doch so blind. Armer Indy! Du hast dich von den Lügen der modernen Welt verwirren lassen.« »Was in Dreiteufelsnamen redest du da?« fuhr er auf. »Indy, wo steht geschrieben, daß der Glaube an ein erhabenes Wesen, das größer ist als wir, als wir alle, der Zauberei und Magie im Wege steht?« »Gott, ich ...» Er verstummte. Sie hatte ihn überlistet. »Diese Dinge passen so gut zusammen wie Licht und Dunkelheit, wie Tag und Nacht. Das sind absolut krasse Gegensätze und gehören doch zusammen, bedingen sich gegenseitig.« »Ja, das weiß ich auch. Aber das, was ich hier erlebt habe, widerspricht den physikalischen Gesetzen, auf deren Grundlage diese Welt funktioniert.« »Nein, eben nicht. Dein Problem ist, daß du nicht sehen gelernt hast. Du hältst deine Instinkte im Zaum und kannst darum nicht fühlen. Solange dir nichts anderes als dieses Wort ›unmöglich‹ im Kopf rumgeistert, wirst du der Magie gegenüber immer blind sein, der Magie, die genauso real ist wie die
unsichtbaren Wunder deiner Welt.« »Oh?« »Du klingst wie ein Rebhuhn. Aber« - sie brach in schallendes Gelächter aus - »wenn du die Lippen so schürzt, siehst du wie ein Fisch aus.« »Sehr witzig.« »Ja, finde ich auch.« »Welche unsichtbaren Wunder in meiner, unserer Welt meinst du?« »Erinnerst du dich daran, wie du auf diesen großen Felsen in Stonehenge gestiegen bist? Mit dieser verrückten Antenne, die du dir um den Körper geschnallt hast?« Er schnitt eine Grimasse. »Ja, das tue ich. Daran hatte ich eine halbe Woche zu knabbern.« »Was für eine Energie war das, die dich vom Stein geworfen hat?« Er musterte sie unwillig. »Ich, ähm -« »Du weißt es nicht.« »Nein, ich weiß es nicht. Du etwa?« »Ich weiß nur, daß es sich um Erdenergie handelt und der Stein so etwas wie ein Brennpunkt ist. Genau wie bei einem Magnet, um den sich die Kompaßnadel dreht. Du siehst die magnetische Anziehung doch auch nicht, aber kannst die Auswirkung erkennen. Man kann die magnetische Anziehung nicht mal fühlen. Es sei denn«, fügte sie hinzu, »sie wird so stark, daß sie eine Wirkung auf das Eisen in deinem Blut ausübt. Dann fühlst du dich ganz komisch und seltsam, weil du nicht begreifst, was mit dir passiert.« »Und dein Volk kann also diese Erdenergie anzapfen?« Gale zuckte mit den Schultern. »Wenn du eine bessere Erklärung hast, Indy, schlage ich mich sofort auf deine Seite.« »Warum halten die Menschen das, was Hexen tun, für übernatürlich?« »Diese Frage kannst du dir selbst beantworten.« »Ja. Wie bei sich brechendem Licht, wo man das, was vor einem liegt, sieht,
als befände es sich auf der Seite.« »Du bist derjenige, der mit der Lichtbrechung gekommen ist. Damit, daß man einen Fisch unter Wasser sieht und er gar nicht dort ist, wo man ihn sieht. Wir nutzen doch nur, was die Natur uns zur Verfügung stellt.« »Aber sicher. Das ist keine große Sache. Nachdem man tausend Jahre lang studiert hat.« »Niemand behauptet, es sei einfach oder schnell zu erlernen.« »Dann besteht eure Zauberei also aus einer Möglichkeit, die Erdenergien zu nutzen, die der Rest der Welt - die ungeübte Welt - nicht sehen und nicht verstehen kann?« »O nein, Professor Jones, komm mir nicht so! Ich werde nicht zulassen, daß du das, was wir tun, mit deinen Wortspielereien abtust und kategorisierst.« »Aber wie würdest du es denn dann nennen?« »Es ist Zauberei. Aber das ist doch nur ein Begriff, Indy. Wir nutzen natürliche Energien und übernatürliche Kräfte. Sieh doch mal, natürlich ist das, was die Welt erkennt. Was bekannt, vertraut ist. Alles, was nicht bekannt ist, jagt den Menschen eine Heidenangst ein, und dann legen sie es in der Schublade mit der Aufschrift Magie ab. Stell dir doch mal vor, daß du ein paar Jahrhunderte in der Zeit mit einem Grammophon zurückreist und du den Stachel eines Kaktus auf eine Schellackscheibe legst, und das ganze Ding dreht sich, und Stimmen und Musik sind zu hören. Wie würdest du das den Menschen aus jener Zeit erklären? Es ist Magie! Zauberei! Sie wissen nichts von Eisenfedern, die sich in dieser Zauberkiste befinden. Und auch nichts von Elektrizität, die sie weder sehen noch sich vorstellen können. In ihren Augen bist du ein großer Zauberer, der Menschen und Musik eingefangen und sie in diese flache Scheibe gebannt hat.« »Langsam beschleicht mich das Gefühl« - er grinste -, »daß diese rothaarige Dame aus den Wäldern dem Professor Unterricht erteilt.« »Ach, Indy, es ist manchmal einfach sehr frustrierend! Unser Geheimnis
besteht darin, daß wir uns natürliche Energien zunutze machen, die andere Menschen nicht kennen, und wir sie mit dem vermischen, was den Leuten vertraut ist. Sicher können wir zaubern, aber ich kann nicht in der Luft schweben, und ich verfüge nicht über telepathische Fähigkeiten. Aber ich kann bestimmte Dinge hören und sehen, und du kannst das nicht. Genau wie diese alten Schriftzeichen, die du lesen kannst wie deine Muttersprache. Mir geben sie Rätsel auf.« »Du siehst meine Fähigkeiten in einem zu rosigen Licht. Das ist nichts anderes als Training, Erfahrung, Wissen -« »Du hast gerade Magie beschrieben!« »Interessanter Standpunkt«, murmelte er. »Ach komm, sei nicht so grummelig«, rügte sie ihn. »Schau dir all die unsichtbaren Kräfte an, die du verstehst, und die von Menschen genutzt werden, obwohl man sie mit bloßem Auge nicht sehen kann.« »Wie wäre es mit ein paar Beispielen?« »Kein Problem, Besserwisser. Infrarotstrahlen. Ultraviolette Strahlen. Radiowellen. Magnetismus. Töne, die Hunde hören können, wir aber nicht. Die Erdanziehungskraft, Beschleunigung, das Gesetz der Schwerkraft - reicht das für den Anfang?« »An dir ist mehr dran, als ich zu Anfang vermutet habe«, lautete sein ernstgemeintes Lob. »Laß mich noch etwas hinzufügen.« »O bitte. Nur zu. Es ist ganz nett, zur Abwechslung mal Schüler sein zu dürfen.« Sein Kommentar brachte sie zum Lachen. »Wie viele Sinne hat der Mensch? Was sagen die Lehrer darüber ihren Schülern?« »Fünf, lautet die Antwort.« »Richtig. Aber warum erzählen wir den Knirpsen nichts vom Gleichgewichtssinn?« »Ein Punkt für dich. Sehr gut gemacht.«
»Und das Gefühl für Zeit, den richtigen Zeitpunkt, für Rhythmus, für Vergangenheit und Zukunft, für Wahrheit und Ehre -« »Ich weiß, worauf du anspielst. Falls ich dich richtig verstanden habe, engen wir den Geist in einem sehr frühen Stadium ein.« Sie lächelte selbstzufrieden, wie eine Katze, die gerade einen Vogel verspeist hat. »Und wie kam es, daß du dich nicht hast einschränken lassen? Was hat dir erlaubt, in die Vergangenheit und die vielen Wunder sehen zu können, während die meisten Menschen dort nur Staub und Verfall vermuten?« Er zuckte mit den Achseln. »Wird höchstwahrscheinlich daran liegen, daß ich ein Einzelgänger bin.« »Da hast du recht. Du bist ein Einzelgänger. Und genau das sind wir auch. Daraus besteht unser Zauber. Sehen, voraussehen, Einsicht haben, akzeptieren.« »Und wie steht es mit dem Kleinen Volk?« wollte er plötzlich wissen. »Das habe ich niemals zu Gesicht bekommen.« Ihre Antwort verblüffte ihn. »Aber... du sprichst über sie, über das, was sie tun, du sagst, du kannst sie lachen hören -« »Ich kann den Wind hören, aber sehen kann ich ihn nicht«, lautete ihre entwaffnende Antwort. »Dann akzeptierst du also ihre Existenz. Obwohl du nicht sicher weißt, daß sie hier im Wald leben und die Dinge tun, die sie tun.« »Was tut dein Schatten?« »Wie bitte?« »Wenn du in der Sonne stehst, wirfst du einen Schatten. Auch im Mondschein, im elektrischen Licht, sogar wenn es blitzt. Aber, und das ist die Preisfrage, gibt es einen Schatten? Kannst du ihn fangen? Hast du Macht über ihn, kannst du ihn beeinflussen?« »Natürlich nicht.« »Dann ist er für dich nicht von Nutzen, oder?« »Nein, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn.«
»Das Kleine Volk, die Feen, Elfen, all die Wesen, die wir unter diese Namen fassen, weißt du, wie die in meinen Augen sind, Indy?« »Nein, aber ich würde es gern erfahren.« »Wie das Flugzeug, in dem wir heute geflogen sind.« »Ach ja?« »Ja, es fliegt, weil etwas fehlt. Diese Dinge muß man lernen, wenn man gut fliegen möchte. Oberhalb der Tragflächen herrscht ein geringerer Luftdruck. Der Unterschied ist minimal. Aber unter den Tragflächen ist normaler Luftdruck. Der Unterschied zwischen dem normalen Luftdruck unten und dem verminderten oben, nun, Indy, das ist das Geheimnis des Fliegens. Etwas, das du nicht sehen kannst, das weniger ist, als es sein sollte, etwas, das fehlt, und Wunder über Wunder - wir fliegen.« »Wenn es ums Fliegen und Beherrschen der Lüfte geht, muß ich passen. In diesem Metier bin ich mehr als grün hinter den Ohren.« »Ich habe das Kleine Volk nie zu Gesicht bekommen, Indy. Aber ich habe Schatten durch die Büsche flitzen sehen. Ich habe Lichter im Dunkeln brennen gesehen. Und das genügt mir als Beweis. Wenn man wirklich aufnahmebereit ist und sich dem öffnet, was wir nicht mit den Augen sehen können, passiert etwas. Dann ist es so, als würdest du eins mit der Natur.« Ihr plötzliches Lachen klang wie Musik. »Das ist unser Zauber. Die Magie des Fliegens. Wir haben weniger als das, was wir haben, wenn das Flugzeug am Boden ist, und nur deshalb können wir aufsteigen. Ist das nicht wunderbar?« »Du bist wunderbar.« »Und du auch, Professor«, gab sie mit gespielt ernster Miene zurück. »Du leidest aber manchmal unter Gedächtnisschwund und dem Unvermögen, dich erinnern zu können.« Ihre unerwartete Bemerkung stimmte ihn nachdenklich. »Madame«, antwortete er im selben Tonfall, »im Augenblick bin ich Ihnen gegenüber im Nachteil.«
»Ich verstehe nicht, Professor, wie Sie das, was in Ihrer Welt unsichtbar ist, sehen und zu Ihrem Vorteil nutzen können - und uns auf der anderen Seite für Zauberer und Magier halten.« Sie hatte sehr schnell gesprochen und mußte nun erst mal tief durchatmen. »Und - wozu macht dich das? Zu einem Zauberer, der sieht, was anderen Menschen um ihn herum nicht auffällt?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin nur geschult und weiß deshalb, wonach ich Ausschau halten muß.« » Und du verfügst über die Fähigkeit, das, was dich umgibt, in Beziehung zu setzen, um das ganze Bild sehen zu können.« »Ich gebe auf«, rief er und riß die Arme in die Höhe. »Ich werde die Existenz des Kleinen Volkes akzeptieren und das sich brechende Licht, obwohl ich weder das eine noch das andere sehen kann.« »Das, Professor, ist der erste Schritt zum wahren Lernen.« »Wer ist hier eigentlich der Lehrer, du oder ich ?« fragte er sie. »Falls ich mich nicht täusche, gibt es eine alte Redewendung, die mir hier angebracht erscheint, Indy. ›Und ein kleines Kind wird sie führen.‹« Er räusperte sich lautstark. »Na, du entsprichst aber nicht ganz diesem Bild. Ich -« Gale drehte sich unvermittelt um und zeigte mit dem Finger auf den Wald. »Oh, sieh doch! Indy, siehst du sie?« Er blickte in die Richtung, in die sie zeigte. In einiger Entfernung flackerte der Schein vieler Lichter. Auch hinter den Bäumen und im Gebüsch tanzten helle Funken. »Sind das -« Sie wußte, was er sie fragen wollte. »Nein. Diese Lichter stammen von der ganz und gar normalen, irdischen Welt. Das ist die Polizei, sie kehren zurück. Sie sind im Kreis gefahren, sind den Straßen gefolgt, die sie sehen, wahrnehmen können.« Gale grinste zufrieden in sich hinein. »Ich könnte mir denken, daß sie ziemlich frustriert sind.« Er griff nach ihrer Hand. »Laß uns dort hinuntergehen. Das möchte ich
nun wirklich zu gern selbst erfahren.«
FÜNF »Dieser Ort ist doch tatsächlich verhext!« Der Fahrer des ersten Wagens stand steifbeinig und mit zornrotem Gesicht auf der Straße. Sein dicker Seehundsschnauzer tanzte synchron zu den Zuckungen seiner Wangenmuskeln. »Jetzt fahren wir geschlagene zwei Stunden für nichts und wieder nichts über diese Straßen, und wann immer wir abbiegen, sind wir wieder genau dort, wo wir losgefahren sind!« Mit dem Zeigefinger zeigte er anklagend auf Caitlin. Sie hatte sich ihrer Lederkleidung entledigt und ihr blut- und dreckverkrustetes Gesicht gewaschen. Wie sie so stumm dastand, hätte sie einer anderen Zeit entsprungen sein können. Sie war einer Jägerin, die von einer alten Kriegerfamilie abstammte, wie aus dem Gesicht geschnitten. »Verhext?« fragte sie mit schneidender Stimme. Ihr Schwert hing an einem dicken Ledergürtel. Der Blick des Polizisten wanderte von ihrem Gesicht zur Waffe und wieder zurück. »Und außerdem leuchtet mir überhaupt nicht ein, warum Sie mit diesem überdimensionierten Zahnstocher in der Gegend herumlaufen, Miss!« Ihre Stimme war nun nicht mehr schneidend, sondern eisig. »Das Schwert geht Sie nichts an. Sie befinden sich auf Privatbesitz. Wir leben und jagen auf diesem Land. Jetzt zurück zu Ihrem Problem. Warum sind Sie zurückgekehrt?« »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt!« rief der Polizist aufgebracht. »Diese Gegend, dieser verdammte Wald, alles ist verhext! Kein Weg führt hinaus!« »Brüllen Sie mich nicht an«, wies Caitlin ihn zurecht. »Sie beleidigen
unsere Gastfreundschaft.« Das Gesicht des Polizisten lief dunkelrot an. Man konnte spüren, wie schwer es ihm fiel, sich zu beherrschen und weitere Wutausbrüche zu unterdrücken. »Dafür möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen«, preßte er jedes einzelne Wort zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich nehme Ihre Entschuldigung an«, entgegnete Caitlin. Indy beugte sich zu Gale hinüber. »Sie spielt mit ihm, wie die Katze mit der Maus«, flüsterte er. »Schh. Es kommt gleich noch besser.« »Ich möchte Sie in aller Höflichkeit um Ihre Mithilfe bitten«, sagte der Polizist. »Um den Weg zu finden, der von hier wegführt. Seit Stunden fahren wir durch diesen Nebel, der aus dem Nichts zu kommen scheint, und wenn er sich endlich auflöst, ändert sich die Straße vor uns, und wir wissen nicht, wo wir uns befinden. Natürlich wissen wir, wo wir jetzt sind, aber ich könnte Ihnen nicht sagen, wie es kommt, daß wir wieder hier gelandet sind.« Auf seine Ausführungen ging Caitlin nicht ein. »Dann wollen Sie uns also verlassen. Falls Sie sich erinnern, mein Herr, habe ich Ihnen im voraus gesagt, daß Ihr Tun Ihnen nichts nützen wird.« Er trat einen Schritt zurück, nickte dann und senkte die Lider. »Ich entsinne mich sehr wohl, Miss. Das alles kommt mir höchst eigenartig vor.« »Vielleicht. Sie brauchen nur das zu tun, worum wir Sie gebeten haben, und schon können Sie ohne Probleme von hier verschwinden.« »Und was würde das sein?« »Lassen Sie unsere Toten hier«, antwortete Caitlin emotionslos. »Das kann ich nicht tun, Miss. Man erwartet von mir, daß -« »Wir verschwenden nur unsere Zeit. Falls Sie nicht tun können, worum wir Sie bitten, sollten Sie abfahren. Aber ich kann Ihnen garantieren, daß Sie wieder hier landen werden. « »Sie meinen«, fragte der Mann besorgt, »daß wir nicht aus diesem
verfluchten Wald rausfinden werden, falls wir Ihre Toten nicht dalassen?« »Eine Antwort erübrigt sich.« »Das ist sehr ungewöhnlich.« Er zitterte vor Wut. Caitlin schwieg. Ein anderer Fahrer trat zu dem Polizisten. »Constable Harrison, darf ich mich dazu äußern?« »Sprechen Sie!« »Diese Frau spricht die Wahrheit, Harrison. Falls wir ihre Bitte nicht erfüllen, werden wir diese Straßen abklappern, bis wir alt und grau sind.« »Das ist doch verrückt!« brüllte Harrison. »Verrückt oder nicht, so ist es nun mal.« »Er spricht die Wahrheit«, sagte Caitlin. »Und falls wir so weitermachen«, merkte der zweite Fahrer noch an, »werden wir bald kein Benzin mehr haben. Und ich sehe hier keine Zapfsäulen, um unsere Fahrzeuge neu aufzutanken.« Constable Harrisons Schnurrbart tanzte wieder. »Scotland Yard wird sich dieser Sache annehmen«, drohte er schließlich. »Scotland Yard interessiert mich nicht«, schmetterte Caitlin seinen Einwand ab. »Nun, sie werden -« »Harrison!« Der zweite Fahrer war kurz davor, aus der Haut zu fahren. »Tun Sie, was die Frau sagt!« Hinter Harrison ertönte das Geschrei der entnervten Polizisten. Der Constable drehte sich zu den anderen Fahrern und Helfern um, die sich um die Krankenwagen und den Laster geschart hatten. Die Männer streckten die geballten Fäuste in die Höhe. »Setzen Sie sich in Bewegung, Constable!« rief ein stämmiger Mann. »So wahr mir Gott helfe, wir werden tun, was die Frau sagt, und die Toten hier zurücklassen. Dann können sie von mir aus hier verrotten.« Harrison drehte sich wieder zu Caitlin um. Als er ihr in die tiefen,
eindringlichen Augen blickte, beschlich ihn das Gefühl, dem zornigen Blick eines Wolfes standhalten zu müssen. Was ihn veranlaßte, sich erneut zu seinen Männern umzudrehen. »Na gut! Ihr habt gehört, was sie will! Holt die Leichen ihrer Leute raus, und zwar mit der entsprechenden Vorsicht.« Dieser letzte Blick in Caitlins Augen schien den Mann völlig demoralisiert zu haben. »Wohin können wir die, ähm ...« Caitlin zeigte auf ein Grasstück. »Dorthin.« »Diese Frau kann mit wenigen Worten mehr sagen als alle anderen Leute, die ich bislang kennengelernt habe«, wisperte Indy Gale ins Ohr. »Wenn sie jemanden so anschaut wie diesen Constable«, schloß Gale, »reicht das auch.« Keine zwanzig Minuten später lagen dreißig in Leinen und Seide gehüllte Leichen sauber aufgereiht auf dem Gras. Constable Harrison wandte sich an Caitlin. Er setzte seine Kopfbedeckung ab und fingerte unsicher daran herum. Bevor er etwas sagen konnte, zeigte Caitlin auf den ersten Polizeiwagen in der Kolonne. »Sie dürfen jetzt gehen.« »Wird es diesmal keine Schwierigkeiten geben, Miss? Ich meine, wenn wir aus dem Wald fahren wollen. Können wir zu unseren Familien zurückkehren?« Caitlin gab sich ganz kühl. »Gehen Sie, jetzt.« Er ging zu seinem Wagen. Seine Kollegen und Helfer stiegen in ihre Fahrzeuge. Zwei Minuten später verschwanden die roten Rücklichter zwischen den Bäumen. Menschen strömten aus den Häusern, die dem Feuer nicht zum Opfer gefallen waren. Diejenigen, die kein Dach mehr über dem Kopf hatten und in nächster Zeit in den Höhlen leben mußten und sich schon um die Verwundeten kümmerten, versammelten sich ebenfalls auf der Grasweide, wo die Toten aufgebahrt lagen. Indy spürte ihren Schmerz mit jeder Faser seines Körpers. Mittlerweile »empfing« er das Leid und die Trauer, die diese
Menschen peinigten. Je mehr er sich ihnen zugehörig fühlte, desto deutlicher konnte er ihre Gefühlsregungen nachempfinden. Für ihn war das heute nacht kein Ort zum Bleiben. »Gale, es ist an der Zeit, daß ich gehe«, sagte er der Frau an seiner Seite. »Ich weiß, daß ich hier willkommen bin, aber heute nacht ist nicht der richtige Zeitpunkt, um hier zubleiben.« »Ich werde dich begleiten.« Ihre Antwort überraschte ihn. »Heute nacht? Jetzt? Ich dachte, du würdest bleiben... nun, du weißt schon«, brachte er den Satz lahm zu Ende, den Blick auf die Toten gerichtet. »Caitlin möchte, daß ich heute nacht bei dir bleibe. Ich finde diesen Vorschlag gut. Es gibt so vieles, das wir durchsprechen müssen, Indy. Außerdem, ich ...« Sie beendete den Satz nicht. »Was wolltest du sagen?« »Die Gefahr ist noch nicht vorbei.« Wieder zögerte sie. »Sie umgibt dich, Indy. Es ist fast so, als seist du in einem dunklen Nebel, der dich einhüllt.» Es gelang ihm nicht, ein Lächeln zu unterdrücken. »Und du willst mich beschützen?« Ihre Augen blitzten zornig auf. »Ja, und zwar mehr, als du dir vorstellen kannst«, erwiderte sie hitzig. »Ich kann Dinge gefühlsmäßig wahrnehmen, die dir niemals auffallen würden. So gut du sein magst, du hast noch keine Augen am Hinterkopf. Indy, du stehst mir nah, bist mir wichtig, aber es gibt Zeiten, wo selbst jemand wie du Hilfe nötig hat.« »Wie du willst«, sagte er. Er wartete, während sie zu Caitlin ging. Die zwei Frauen umarmten sich leidenschaftlich, traten dann zurück und schauten sich tief in die Augen. Indy beobachtete sie aus der Nähe. Sie hatten kein Wort gewechselt. Gale kehrte zu ihm zurück. »Ich muß ein paar Sachen aus der Halle holen. Wir werden uns beim Wagen treffen. Caitlin wünscht dir eine gute Nacht und hofft, dich bald wiederzusehen. Sehr bald.«
Er hatte sich vorgenommen, keine weiteren Fragen zu stellen. So begab er sich zu seinem Bentley und wartete. Nach ein paar Minuten stieß Gale zu ihm. Sie hatte einen großen schwarzen Lederrucksack über die Schulter geworfen. Seinem Blick wich sie aus. Indy sah, daß sie weinte. Da wußte er, daß er den Mund halten mußte. Die Fahrt durch den New Forest verlief ohne Probleme. Manchmal stießen sie auf Nebel, aber das lag an der sich verändernden Temperatur und der Feuchtigkeit, die dampfend vom Erdreich aufstieg. Längs der Straße tauchten Lichttupfer auf, die vom Scheinwerferlicht herrührten, das sich in den Augen des Rotwilds, der Hasen und Füchse widerspiegelte. Gale verhielt sich während der Fahrt stumm. Indy respektierte ihr Schweigen. Irgend etwas verstärkte ihre vorhandene Depression. Währenddessen mußte er sich mit einem anderen Problem herumschlagen. Gale übte eine fast körperlich spürbare Wirkung auf ihn aus. Seit er mit der Magie im New Forest und den Bewohnern des Glen konfrontiert gewesen war, registrierte er eine beunruhigende Empfindsamkeit gegenüber den Stimmungen und Gefühlen der Menschen, die ihm nahestanden. Nach einer ganzen Weile war es ihm nicht mehr möglich, nichts zu sagen, aber bevor ihm ein Wort über die Lippen kam, fuhren sie einen Berg hoch. Der Ausblick hinter der Bergkuppe verschlug ihm die Sprache. Urplötzlich waren die Bäume verschwunden, und ehe er sich versah, befuhr er die Autobahn nach London. Nachdem sie den New Forest hinter sich gelassen hatten war es Gale möglich, aus den Untiefen der düsteren Introspektion aufzutauchen. Indy warf ihr einen fragenden Blick zu. »Vielleicht würde es dir guttun, wenn du mit mir darüber sprichst.« »Es geht mir jetzt besser. Die letzte Stunde war sehr schlimm für mich ... Ich habe, nun, empfangen, falls du weißt, was ich meine.« »Gale, willst du mir damit sagen, daß du eine Botschaft empfangen hast?
Telepathisch?« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Empathisch. Sehr stark. Keine Worte, keine Botschaften, sondern Wissen.« »Empathisch«, wiederholte er. »Ich will dich ja nicht drängen, aber -« Ihre Worte trafen ihn wie der Schlag einer Faust. »Athena ... Caitlins Mutter ... Sie wird heute nacht sterben.« Indy gefror das Blut in den Adern. Seine Muskeln zuckten unkontrolliert. »Woher... wie willst du das wissen?« Er sprach ganz langsam, wählte seine Worte mit Bedacht. »Das weiß man überall im Glen, Indy«, antwortete Gale unglaublich gelassen. »Ist ungefähr wie eine Schallwelle die sich ausdehnt. Athena hat viele, viele Jahre die Rolle der Alten Mutter ausgefüllt. Jeder spürt, was in ihr vorgeht.« »Aber du sagtest, sie wird sterben. Und nicht, daß sie schon tot ist.« »Ja. Ihre Wunden waren viel tiefer, als man angenommen hat. Als ich bei ihr war, sah ich, wie blaß sie geworden ist. Und das liegt nicht nur daran, daß sie verletzt ist. Nein, sie hat sich innere Blutungen zugezogen. Ich habe sie lange genug untersucht, um zu wissen, daß ihr Magen perforiert ist. Es besteht keine Hoffnung mehr, daß -« Indy trat auf die Bremse, woraufhin der Bentley mit quietschenden Reifen und dem Gestank von verbranntem Gummi ins Schlingern kam. »Zum Teufel noch mal, es gibt keine Hoffnung!« machte er seinem Zorn Luft. »Vielleicht können wir sie noch in ein Krankenhaus schaffen. Wir könnten umkehren und sie in die Notaufnahme bringen. Für eine Bluttransfusion sorgen! Man wird sie operieren. Warum legen denn alle die Hände in den Schoß, anstatt etwas zu unternehmen?« »Hier geht es nicht darum aufzugeben, Indy.« Wieder sprach sie mit dieser unfaßlichen Ruhe. »Es ist ihre Entscheidung. Oder die Entscheidung, die für sie getroffen wurde. Sie besitzt die Gabe der Voraussicht.« »Willst du mir erzählen, daß sie das zweite Gesicht hat? Daß sie in die
Zukunft sehen kann? Und dort ihren eigenen Tod sieht?« »Ja.« »Aber -« »Indy, die Medizinmänner der Indianerstämme in deiner Heimat machen seit Jahrhunderten genau das gleiche.« »Ich weiß ganz genau, wie es ist, wenn man nur noch die Dunkelheit vor Augen hat«, gab er wütend zurück. »Ich habe es in Indien, in Tibet, in Haiti gesehen ...aber man kann sich dagegen zur Wehr setzen und das Schicksal ändern.« Gale seufzte, den Blick stur nach vorn gerichtet. »Ich weiß, daß es nicht leicht zu verstehen ist, und ich gebe mir wirklich alle Mühe, es dir klarzumachen. Das ist Athenas Entscheidung. Was immer sie vor sich sieht, ihre Zukunft, ist offenbar keine bessere Wahl, als heute nacht... zu sterben.« »Ich kapiere es einfach nicht«, sagte er. Er umklammerte das Lenkrad und schaute mit leerem Blick in die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos, die kurzzeitig die Nacht erhellten. »Sie erleidet keine Schmerzen. Sie hat keine Angst. Außerdem ist Athena zweiundneunzig Jahre alt. Würdest du mit ihr streiten?« »Sie ist zweiundneunzig? Ich hätte sie nicht mal auf sechzig geschätzt!« Ein flüchtiges Lächeln streifte Gales Gesicht. »Bitte fahr weiter, Indy. Je weiter ich vom Glen wegkomme, desto weniger werde ich fühlen, zumal sie ihre Entscheidung getroffen hat.« Er legte den Gang ein, gab Gas und rauschte in die Nacht. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Es bestand keine Notwendigkeit, Gales Hand zu halten oder für sie den Babysitter zu spielen. Sie war wesentlich stärker, als er geglaubt hatte. Und außerdem war es höchste Zeit, ein paar knallharte Fragen zu stellen und die dazugehörigen Antworten einzufordern. »Gale, ich habe den Eindruck, in das, was sich heute ereignet hat, persönlich stark verwickelt zu sein. Meinst du, ich hätte nicht gesehen, wie die Bullen mein Autokennzeichen notiert haben? Und detaillierte
Beschreibungen von uns beiden gemacht haben? Etwa vierzig Leute sind tot, noch mehr verwundet, und die ganze Sache wird sich nicht einfach so in Wohlgefallen auflösen. Es wird eine Untersuchung geben, und wir beide stecken mittendrin.« »Ja, ich denke, du hast recht.« »Tu das nicht so einfach ab. Mir ist es vollkommen ernst. Einmal abgesehen von dieser Metzelei, gibt es noch diese Karte. Irgendwo liegt ein Schatz im Wert von mehreren hundert Millionen Dollar oder Pfund Sterling versteckt, und dieser Schatz hat selbstverständlich mit alldem zu tun.« »Und mehr.« Er warf ihr einen Blick von der Seite zu. »Was meinst du mit mehr?« »Caitlins Mutter. Wenn Athena von uns gegangen ist, muß Caitlin ihren Tod rächen. Das hat sie mit ihrem Blut geschworen.« »Sie muß erst mal in Erfahrung bringen, wer dahinter steckt, bevor sie jemanden oder etwas rächen kann.« »Caitlin wird es schon rausfinden. Und sie wird ihn aufspüren. Sie wird nicht aufhören mit ihrer Suche, bevor er mit dem Leben bezahlt hat. So lauten die Regeln.« »Die alten Regeln sind im Moment für mich nicht von Belang. Es wäre mir lieber, wir würden uns auf den Kernpunkt konzentrieren.« »Na schön.« »Bevor ich dir darlege, was ich heute abend in Erfahrung gebracht habe -« Gale drehte sich zu ihm um und starrte ihn an. »Du hast eine Spur?« »Später, verflucht noch mal!« Er biß die Zähne zusammen. Die alten Regeln und das Kleine Volk setzten ihm langsam ganz schön zu. Indy war es gewohnt, sich an Tatsachen zu halten. Heute hingegen hatte er sich den ganzen lieben langen Tag wie auf einem Karussell gefühlt. »Würdest du mir bitte meine Fragen beantworten?« Sie fiel in sich zusammen. »Schieß los.« »Ich habe mich ungefähr mit einem Dutzend Leute unterhalten«, begann er.
»Draußen und auch unten in den Höhlen. Hab sie gefragt, ob sie gehört haben, daß sich die Angreifer miteinander unterhalten oder mit Namen angesprochen haben. Und ob sie die Sprache erkannt haben. Eins ist sicher. Es waren keine Engländer, keine Amerikaner und keine Kanadier. Die meisten deiner Leute glauben, Russisch erkannt zu haben. Selbstverständlich besteht die Möglichkeit, daß es sich um Polnisch oder Ungarisch gehandelt hat. Bei all dem Geschrei und Gewehrfeuer und der Angst, die umging, ist es nicht schwer, eine dieser Sprachen mit einer anderen zu verwechseln. Aber sie hörten eindeutig eine osteuropäische Sprache. Und sie hörten Französisch. Eine Person schwor sogar, Befehle in Deutsch gehört zu haben.« Gale richtete sich wieder auf. »Und hilft uns das weiter?« »Aber sicher«, betonte Indy. »Da zeigt sich ein Muster, und ich halte es für verdammt intelligent. Diese Gruppe unterhält sich in verschiedenen Sprachen, um ihre Gegner zu verwirren. Ich habe mich außerdem mit ein paar Polizisten unterhalten, die die Leichen der neun getöteten Angreifer aufgesammelt haben. Aus ihren Kleidern waren alle Etiketten, Markennamen etc. herausgeschnitten. Keiner der Männer trug ein Schmuckstück. Aber auf einem Körper war eine eigenartige Tätowierung. Ein Barrakuda.« »Wir werden die Roma fragen«, schlug Gale vor. »Wenn sich jemand mit Symbolen auskennt, dann die Zigeuner.« »In Ordnung, das überlasse ich dir.« »Ich kümmere mich gleich morgen früh darum.« »Gut«, fuhr Indy nun etwas gemächlicher fort. »Hör mal, Gale, diese Sache hat System. Die Karte, hinter der sie her waren. Wie haben sie herausgekriegt, daß sie bei euch aufbewahrt wurde? Woher wußten sie überhaupt davon? Und woher wußten sie eigentlich, wo sie suchen mußten, nachdem sie in den Glen eingedrungen waren? All diese Puzzleteilchen müssen wir zusammensetzen.« »Und wir müssen in Erfahrung bringen, wohin sie danach gegangen sind«, fügte Gale hinzu. »Ich hoffe wirklich, daß du Caitlin dazu bringen kannst, daß wir einen Blick auf die andere Karte werfen dürfen. Ich weiß, daß es eine zweite Karte
gibt. Und dann werden wir wissen, wohin diese Leute unterwegs sind.« »Dorthin wird auch Caitlin gehen. Es ist, wie ich vorhin sagte. Wer immer am Tod ihrer Mutter die Schuld trägt, muß durch Caitlins Schwert sterben. Durch ihre Hand.« »Das Schwert, das sie trägt... « Er sprach nicht weiter. Gale studierte ihn neugierig. »Ja?« »Falls die alten Legenden wahr sind, und davon bin ich mehr denn je überzeugt, dann kann dieses Schwert von niemandem anderen als Merlin geschmiedet worden sein.« »Meinst du, es ist Excalibur?« »Inzwischen«, meinte Indy, »bin ich bereit zu akzeptieren, daß St. Brendan Glen ursprünglich Avalen war. Oh, ich weiß, Avalon wird von den meisten Historikern in Glastonbury vermutet, und man geht davon aus, daß es eine Insel war, weil der Ort manchmal von Wasser umgeben war. Aber es ist nicht und war nie eine wunderbare, abgeschiedene Insel. Das Wasser, das Avalon in Glastonbury umgab, war mehr ein Sumpf als ein See. Englische Geschichtswissenschaftler haben eine romantische Ader, und sie attackieren einen hysterisch, falls man sich erdreistet, ihre Version der Geschichte von König Arthur und Merlin und jenen grobschlächtigen Rittern in Zweifel zu ziehen, die im Lauf der Zeit als hingebungsvolle und anständige Gentlemen angesehen wurden. In Wahrheit sind die Ritter eher Banditen zu Pferde und Vergewaltiger lieblicher junger Frauen gewesen.« »Oh, du hast aber eine schlechte Meinung von den Traditionen, die wir so hochhalten!« »Überhaupt nicht!« entgegnete Indy. »Ich habe nichts gegen die Wahrheit. Wenn sie von großen englischen Rittern und Kriegern kündet, die England verlassen haben und auf Kreuzzüge gegangen sind. Sie haben ihre Farben und Banner wie eine Rüstung getragen. Und die Rüstungen, die sie trugen, haben sie in der Hitze des Heiligen Landes fast umgebracht, genauso wie die Einheimischen in ihren losen Kutten, die schnelle Pferde ritten.«
Er lachte. »Na gut, Karottenkopf, Excalibur ist das Zeremonienschwert. Vielleicht hat es tatsächlich in einem riesigen Felsen gesteckt. Und möglicherweise hat der junge Arthur es herausgerissen, weil die Heiligen ihm wohlgesonnen waren. Es gibt ja so viele schöne Märchen aus dieser Zeit. Nur ist Caitlins Schwert nicht Excalibur. Aber im Laufe der Jahre und durch die zahlreichen Geschichten, die sich um die Ritter der Tafelrunde ranken, mit all den Zauberern und Drachen und schönen Mädchen, wurden Excalibur und Caliburn ein und dasselbe Schwert. Anfangs war es Excalibur, und dann änderte sich der Name. Und das paßte ja auch so gut. Das ist der nette Schachzug eines adlernasigen Bibliothekars, dem nichts Besseres eingefallen ist. Uh-huh. Caliburn ist das Kampfschwert, das einzig wahre Schwert, und ich kenne die dazugehörigen Legenden. Während es geschmiedet wurde, stand Merlin neben dem Schmied. Er sorgte dafür, daß das Feuer im Schmiedeofen heller brannte, er murmelte Zitate und andere Sprüche. Darin war er ja besonders gut. Na ja, jedenfalls stieß er irgendwann mal auf neue Metalle, auf Legierungen, und er mischte sie mit dem Eisen des Schwertes, und das war dann aus Stahl und somit mehr als ein normales Schwert. Die Klinge aus dem Feuer, die Unbesiegbare. Eine magische Waffe - weil Merlin in die Klinge all seine Macht und seinen Zauber einfließen ließ.« Indy atmete durch. »Wahrscheinlich ist der alte Kerl darum so gestorben, wie er gestorben ist. Schwach, geschunden -« »Erzähl mir mehr über Caliburn«, drängte Gale ihn. »Du weißt schon alles, was es darüber zu wissen gibt. Caitlin konnte die vier Männer töten, die ihre Eltern angriffen. Weil sie die Klinge des Feuers hatte.« »Aber du interessierst dich gar nicht für Caliburn, nicht wahr?« Er warf Gale einen strengen Blick zu. »Geben Sie der Dame eine Zigarre. Sie schlüpft langsam aus ihrem Kokon.« »Hör auf, mit mir deine Spielchen zu spielen. Fang lieber an, mir deine
knallharten Fragen zu stellen.« »Gut. Danke. Warum ist Caitlin noch am Leben?« »Ich habe befürchtet, daß du mich das fragen wirst.« »Und nun?« »Aber das weißt du doch schon. Wenn du über Caliburn Bescheid weißt ...« »Ich weiß eben nichts. Aber ich gestehe, daß ich Vermutungen habe.« »Bitte, sprich weiter.« »Die Scheide. Falls die Überlieferungen wahr sind. Und in fast allen Legenden, Geschichten und Balladen werden die magischen Kräfte dieser Scheide erwähnt. Da heißt es, daß die Scheide ihre magische Kraft Merlin zu verdanken hat. Er hat dafür gesorgt, daß jede Wunde heilt, die in Berührung mit der Scheide kommt.« Gale schien seinen Ausführungen nur mit einem Ohr zu folgen. »Was du sagst, ist wahr«, verriet sie. »Ich habe genug Wunden gesehen - wir beide haben genug gesehen - um zu wissen, daß Caitlin längst gestorben sein müßte. Ihre Verletzungen hätten für mehrere Tode gereicht.« »Ja.« Mehr war Gale nicht zu entlocken. Vielleicht hoffte sie mit ihrer Einsilbigkeit zu erreichen, daß Indy die Fragerei einstellte. »Aber sie ist nicht tot. Trotz der zahllosen tödlichen Wunden.« »Stimmt.« »Die Scheide, die sie trägt, ist nicht die, die Merlin hergestellt hat, oder?« Er hörte sie seufzen. »Nein. Das ist sie nicht.« »Was ist mit der Scheide passiert, die innerhalb weniger Minuten Wunden heilt?« »Ich dachte, du hättest dir längst deinen Reim darauf gemacht.« »Gale, du hörst dich fast antagonistisch an.« »Ach, Indy, das bin ich nicht.« Sie blickte ihn mit einem gequälten Gesichtsausdruck an. »Es ist nur so, daß ich mein ganzes Leben lang niemals über diese Dinge gesprochen habe.«
»Bis jetzt.« Sie nickte. »Wo ist die Scheide, Gale? Die, in der die Lebenskraft steckt?« »Sie trägt sie.« »Du hast gerade zugegeben, daß das nicht die ist, die sie trägt, nicht die, die ich gesehen habe, und -« »Die ursprüngliche Scheide war mit mehren Schichten von feinstem Wildleder überzogen. Kürschner haben monatelang daran gearbeitet. Caitlin wußte, daß sie eines Tages schwer verletzt werden würde, daß sie nicht in der Lage sein würde, an die Scheide heranzukommen, um sie auf ihre Wunden zu legen. Darum tauchten sie und ihre Mutter die Scheide vorsichtig in eine Lösung, die Athena zubereitet hatte. Sie lösten die Schichten voneinander. Das Leder war sehr dünn, aber unglaublich haltbar. Dann -« »Laß mich raten.« »Bitte.« »Dann nähten sie es in eine Art Körperpanzer ein. In etwas, das Caitlin unter ihren Kleidern trägt, direkt auf der Haut.« »Ja.« Indy stieß einen Pfiff aus, eine einzelne, langgezogene Note. »Brillant. Absolut brillant. Falls das Leder von der Scheide die Wirkung hat, die ihm in der Werbung nachgesagt wird -« »Was für eine seltsame Art, etwas mit magischen Kräften zu beschreiben!« »Falls es so wirkt, wird Caitlin immer geschützt sein. Dann kann man ihr diese Wunden zufügen, und sie heilen auf der Stelle wieder.« »Es ist in etwa so.« »Wo ist der Haken?« »Die Scheide stellt ihre heilenden Kräfte nur der Person zur Verfügung, die mit dem Schwert kämpft. Mit Caliburn.« »Das ist es also«, rief Indy aufgeregt. »Darum bist du dir so sicher, daß Athena heute nacht sterben wird. Das ist des Rätsels Lösung. Aus diesem
Grund wurde die Scheide oder der Körperpanzer nicht eingesetzt, um Athena zu heilen. Bei ihr funktioniert es nicht!« »Ja!« Es kostete Gale einige Mühe, dieses eine Wort über die Lippen zu bringen. Eine Weile lang saßen sie schweigend im Auto. Für Gale hatte der Nachtwind ungefähr die Wirkung einer warmen Decke. Währenddessen spielte Indy im Geist die verschiedenen Möglichkeiten durch und versuchte sich auszumalen, was die Zukunft für sie bereithielt. Er wußte, daß er bis zum Hals in diesem Wirrwarr festsaß und daß es Gale nicht anders erging. Während der Stunden, die er im Glen verbracht hatte, war ihm ein Polizist aufgefallen, der sich in den Schatten versteckte und Fotos von den Menschen dort machte. Er hatte zuviel Zeit damit verbracht, Fotos von ihm und Gale und Caitlin aufzunehmen. Indy hätte hundert Dollar gewettet, daß er ein von der Gegenpartei angeheuerter Spion war, der in St. Brendan Glen zurückgeblieben war. Das paßte einfach. Misch dich unter die Polizei, schieß ein Foto von jedem, der dort ist und nicht ins Bild paßt - von jemandem wie Indy. Inzwischen wurden die Aufnahmen garantiert schon sorgsam studiert. Es war höchste Zeit, die eigenen Sinne zu schärfen, sich gegen Schwierigkeiten zu wappnen, die hinter der nächstbesten Ecke lauern konnten. Aber etwas nagte immer noch an ihm. »Gale, möchtest du dich weiter unterhalten?« Sie war schon fest eingeschlafen, setzte sich aber auf, sog die Nachtluft in ihre Lungen und betrachtete die an ihnen vorbeirasenden Fahrzeuge. »Na gut, Indy.« »Ein Puzzleteil fehlt noch.« »Nur eins? Na prima. Ich fühle mich, als stapfe ich mit verbundenen Augen durch ein Minenfeld.« Er lachte. »Es ist nicht ganz so gefährlich.« Er hielt inne, um nach den
richtigen Worten zu suchen. »Sieh mal, Gale, es gibt in der Wissenschaft eine goldene Regel - du kriegst nichts umsonst. Es muß einfach eine Energiequelle für all das geben, was passiert, ob es sich um Zauberei, Magie oder sonstwas handelt. Manchmal können wir die Natur dieser Energiequelle nicht sehen oder verstehen, aber in der Regel kommt sie immer zur Anwendung.« »Dem kann ich nicht widersprechen, Indy. Das heißt, falls ich kapiere, worauf du hinauswillst.« »Magie, wie alles andere auch, muß einen Preis bezahlen, um zu funktionieren.« »Einen Preis in Form von Energie, meinst du.« »Genau«, sagte er. »Selbst wenn wir sie dem Planeten selbst abzapfen. Wie diese Energie, die geballt in Stonehenge vorhanden ist. Das ist keine Zauberei. Es gibt die unterschiedlichsten Strahlungen. Die Erdkruste ist ständig in Bewegung und produziert enorme magnetische und elektrostatische Kräfte. Insofern kann man diese Energie abzapfen, aber nur, wenn man weiß, wie das geht. Aus diesem Grund glaube ich auch an die Kraft, die in dem Schwert Caliburn steckt. Und deshalb kann ich die heilenden Kräfte der Scheide akzeptieren, die Caitlin nun an ihrem Körper trägt.« Sie wußte genau, welche Frage er ihr stellen würde. »Und nun möchtest du erfahren, wie diese Energie von ihrer Quelle abgezapft wird«, brachte sie vorsichtig an, »und wie sie in das Schwert und den Körperpanzer gelangt.« »Besser hätte ich es nicht ausdrücken können«, sagte er voller Bewunderung. »Gehe ich recht in der Annahme, daß du auf etwas Bestimmtes hinaus möchtest, auch wenn du meine Antwort noch nicht kennst?« »Du kriegst die zweite Zigarre.« »Dann laß dich nicht von mir aufhalten. Falls du richtig liegst, werde ich es dich auf der Stelle wissen lassen.« Wieder betrachtete er sie von der Seite. Und wieder blickte Gale stur
geradeaus, als ginge es ihr darum, Indys Blick auszuweichen und nichts zu verraten. Indy schöpfte Luft. »Ich habe es gesehen. Kerrie - das ist doch der Name ihres Vaters? - nun gut, Kerrie trug es.« Er machte eine Pause. »Das Zepter.« Gale nickte. »Du bist auf dem richtigen Weg.« »Die Edelsteine außen sind nichts anderes als Zierde«, fuhr er gedankenverloren fort. »Ich habe schon Hunderte von Zeptern aus allen Erdteilen gesehen. Haitianische Voodoo-Ruten, von amerikanischen Indianern bearbeitete Stöcke. Zepter von Königen und Königinnen und Pharaonen. Die meisten dienen ausschließlich einem Zweck: Sie sind dazu da, dem Volk Ehrfurcht einzuflößen. Repräsentationsmittel. Aber hin und wieder bin ich auf ein Zepter gestoßen, das Energie bündeln oder fokussieren konnte oder beides.« »Wann gab es die?« »Lange, bevor ich und Sie, meine Dame, auf der Bildfläche erschienen sind. Es ist eines der am besten gehüteten Geheimnisse in der archäologischen Welt, daß die Menschen schon vor viertausend Jahren, möglicherweise sogar noch früher, elektrische Batterien gekannt haben.« Gale machte eine halbe Drehung auf dem Beifahrersitz und starrte Indy erstaunt an. »Wie bitte?« »Du hast richtig gehört. Elektrische Batterien. Die Babylonier, Syrer, alten Perser und noch andere kannten dieses Hilfsmittel. Sieh mal, Gale, sie konnten mittels Elektrolyse Silber und Gold auf Statuen und Figurinen auftragen. Ich habe gesehen, wie das funktioniert. Man barg sie aus Grabstätten und Sarkophagen, die nach einem Zeitraum von viertausend Jahren zum ersten Mal geöffnet wurden. Und diese Statuen sind eindeutig durch Elektrolyse versilbert oder vergoldet worden. Also mit Elektrizität. In einem ägyptischen Museum werden jetzt Teile dieser Batterien ausgestellt. Wir haben Ingenieuren den Auftrag gegeben, sich diese Teile anzuschauen und den Versuch zu unternehmen, solch eine Batterie nachzubauen. Mit Kupfer, Blei -
was auch immer. Und obwohl sie nur mit uraltem Werkzeug und Materialien gearbeitet haben, haben sie es geschafft. Haben Batterien gebaut, die man vor ewig langer Zeit hätte herstellen können.« »Und du bist davon überzeugt, daß auch Kerries Zepter so funktioniert?« »Du würdest einen lausigen Pokerspieler abgeben, Gale. Mit einem Augenzwinkern verrätst du die Karten, die du auf der Hand hältst. Du weißt, daß Kerries Zepter so beschaffen ist! Und du weißt ebenfalls, daß das Zepter, wie ich schon sagte, nur da ist, um Eindruck zu schinden. Was sich drinnen befindet, das ist für mich von Interesse.« »Du überraschst mich.« »Wieso? Ich nehme doch nur die Fakten und mache mir meinen Reim drauf. Ich habe glühende Edelsteine gesehen. Aber ich kaufe nicht gleich jedes Zaubermittelchen, das in einem kleinstädtischen Eisenwarenladen angepriesen wird. Das Ding muß eine Batterie haben, und ich gehe davon aus, daß sie im Innern verborgen ist. Diese Batterie liefert die Energie. Nun fungieren die Edelsteine als Energiespeicher. Genau wie das, was mir in Stonehenge widerfahren ist. Die Energie gibt es, sie ist real. Die Erde strahlt sie ab. Zu lernen, sie zu nutzen, daraus besteht der Trick. Und ich bin davon überzeugt, daß Merlin dazu in der Lage war. Er war eher ein einfallsreicher Ingenieur als ein Zauberer. Unglücklicherweise scheint er die meisten seiner so genannten Formeln mit ins Grab genommen zu haben. In meinen Augen hat es Merlin tatsächlich gegeben. Ich halte ihn für ein unglaubliches Genie, für einen der klügsten Köpfe der Geschichte, und er wußte doch ganz genau, warum er nicht jedem verriet, daß er sich ganz alltägliche, gewöhnliche Kräfte zunutze machte. Indem er den Zauberer mimte, und das zu einer Zeit, wo die Menschen noch an Drachen glaubten, hatte dieser Mann leichtes Spiel. Wer hätte damals gewagt, ihn als etwas anderes als einen Magier zu sehen? In der heutigen Welt wäre er bestimmt ein erstklassiger Hochstapler.« »Und wie erklärst du das sich brechende Licht? Den Nebel und Dunst? All das?«
»Ich habe keine Ahnung, wie das funktioniert. Aber es kann sich nur um den großartigen Einsatz natürlicher Energie handeln. Anders kann ich es mir nicht erklären. Und es ist brillant.« »Aber keine Zauberei?« »Das würde ich so nicht sagen«, protestierte Indy. »Ich kann einen Teil der Vorgänge verstehen. Aber den Rest? Da tappe ich natürlich immer noch im dunkeln.« Gale grinste verschmitzt. »Gut.« »Wieso findest du das gut?« »Weil all diese Dinge mehr mit Magie als mit Wissenschaft zu tun haben.« »Ich würde darauf wetten, daß der Körperpanzer, den Caitlin trägt, nicht nur aus Leder besteht. Darf ich die Vermutung äußern, daß man vielleicht Goldfäden eingewebt hat? Oder Silberfäden? Denn Silber ist ein potenterer elektrischer Leiter als Quecksilber. Das ist nur mal so ein Beispiel.« Gale sagte nichts. Das konnte sie auch nicht, denn sie krümmte sich vor Schmerzen. Indy streckte die Hand nach ihr aus. »Gale ... kann ich dir irgendwie helfen?« Sie schüttelte den Kopf. »Athena ... sie stirbt. Bring mich nach Hause, Indy. Bitte. Jetzt.«
SECHS Indy lauschte dem sanften Läuten der Standuhr in seiner Londoner Wohnung, die im fünften Stockwerk eines Wohnhauses lag. Vier Uhr früh. Er studierte seine Notizen und historischen Berichte und trank dabei eine Tasse Kaffee nach der anderen. Merlin und Avalen und König Arthur schwirrten ihm durch den Kopf, vermischten sich mit Bildern der strahlenden Klinge von Caliburn und den mythischen Geschichten über die Ritter der Tafelrunde. Fakten und Fiktion schienen bei den Geschichten um Arthur austauschbar zu sein. Aber eine Sache kristallisierte sich ganz deutlich heraus. In den vielen englischen und französischen Versionen wurden dem Schwert Caliburn und seiner Scheide immer die erstaunlichsten Eigenschaften nachgesagt. Excalibur war eindeutig eine poetische Erfindung von höchstem Rang. Die Geschichte, in der Arthur das magische Schwert aus einem Felsen zieht, war zweifellos ein probates Mittel, um Lücken in der Jugend Arthurs zu füllen, da es ansonsten wenig über diese Zeit zu berichten gab. Trotz seiner königlichen Eltern verlief seine Kindheit völlig unspektakulär. Um eine Brücke zwischen dem ganz normalen Jungen zu dem Führer aller Ritter zu schlagen, taugte die Erfindung des Zauberschwerts, das nur der »echte und wahre« König aus dem verzauberten Stein ziehen konnte. Die Zauberei hatte sich mehrmals als äußerst zweckdienlich erwiesen. Das war volksnahes Drama in höchster Vollendung. Da gab es Merlin, der sich des Aberglaubens bediente, ungebildete Ritter, und die Reichen und Hochwohlgeborenen dürstete es nach einem Beweis, daß König Arthur, wenn schon nicht gottähnlich, so doch ein von Gott erwählter Herrscher war. Außerdem wurde einem damals als Ritter Zugang zu beträchtlichem Reichtum garantiert, was zu jener Zeit ein nicht zu unterschätzender Vorteil war. Im Namen des Königs konnte man rauben, stehlen, plündern, verletzen und jeden -
nur so zum Spaß - versklaven. Die Schreiber, Poeten und fahrenden Sänger, die in jener Zeit die Heimsuchung der Dorfbewohner durch die Ritter aufzeichneten, sorgten akribisch dafür, daß nicht ein Fünkchen Wahrheit in ihre Erzählungen und Liedertexte einfloß, sonst wären sie auf der Stelle von der Obrigkeit geköpft worden. Aber dieser Zauberer, dieser Merlin, war mehr als ein Meistermagier. Er konnte den Menschen Furcht einjagen und sie hypnotisieren, in Staunen versetzen und terrorisieren. Um dieses Ziel zu erreichen, mußte er seinen Worten Taten folgen lassen. All seine sogenannten Zaubertränke und -pulver waren nichts im Vergleich zu dem Schwert Caliburn und dessen Scheide. Alles deutete auf die natürlichen Energien, die die Menschen im New Forest zu sammeln und zu nutzen gelernt hatten. Indys Erfahrung auf dem Felsen in Stonehenge war eine ähnliche. Mit der närrischerweise selbstangefertigten und am Körper getragenen Antenne hatte er unsichtbare Energien gesammelt, was ein Fehler gewesen war. Schließlich testete man ja auch nicht die Wirkung einer Sonnenschutzcreme, indem man sich in ein Lagerfeuer warf. Merlin zauberte das Schwert Caliburn nicht wie einen weißen Hasen aus einem schwarzen Zylinder. Das war kompletter Unsinn. Der Zauber des Schwertes war real, auch wenn Indy verstandesmäßig nicht nachvollziehen konnte, wie er das angestellt hatte. Ein Hinweis auf sein Tun lieferte ihm das Energiefeld, das ihn in Stonehenge vom Felsen geworfen hatte. Falls Merlin gewußt hatte, wie man diese Energie einfängt, und es ihm gelungen war, die Kraft in die Klinge des Schwertes einfließen zu lassen, nun, dann ergab auf einmal alles einen Sinn. Leider waren die Geheimnisse nicht der Vergangenheit zu entlocken. Es sei denn, schoß es ihm plötzlich durch den Kopf, es gab eine Kraft, die im Zepter verborgen lag. Die Energie, die in diesem Zepter gefangen war und von dort wieder abgegeben wurde, konnte in Verbindung zum Schwert stehen. Vielleicht handelte es sich um so etwas wie eine Sendestation. Wissenschaftler waren schließlich auch auf die Idee
gekommen, ein kräftiges Radiosignal zu einem entfernten Punkt zu senden und in die empfangende Antenne oder Station Energie fließen zu lassen. Bestand dann nicht auch die Möglichkeit, daß Merlin sich dieses Prinzips bedient hatte? In Gedanken kehrte Indy zu seinen Unterhaltungen mit Gale zurück. »Ich würde meinen letzten Dollar darauf verwetten«, hatte er ihr verraten, »daß Merlin die Fähigkeit besessen hat, natürliche Erdenergien zu manipulieren, und zwar so, daß es für den Normalbürger jener Zeit wie Zauberei aussah. Falls im Zepter eine Energiequelle versteckt war, etwas, das sie speichern konnte, wie zum Beispiel eine Batterie, dann funktioniert dieser Trick. Denk doch nur an eine Taschenlampe. Wenn man sie einschaltet, hat man einen Lichtstrahl, der von einer dicht gewickelten Rolle aus Metall und Chemikalien kommt. Gespeicherte Energie lautet das Zauberwort.« Er war davon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein, um das Geheimnis des mächtigen Schwerts zu entschlüsseln, aber die heilenden Kräfte der Scheide stellten ihn vor ein unlösbares Rätsel. Handelte es sich dabei vielleicht nur um eine Form von besonders starkem Glauben, der sozusagen Berge versetzen konnte? Die Macht des Glaubens war viel schwieriger nachzuvollziehen als Zauberei. Indy hatte genug Erfahrung mit dem Voodoo afrikanischer und haitianischer Stämme gemacht, um zu wissen, daß der ›Glaube‹ den Verstand von Menschen paralysieren und ihre Körper verstümmeln konnte. Das ging sogar so weit, daß die Menschen zu Tode geängstigt wurden. Die viel beschworene Macht der bösen Geister. War es nicht im Bereich des Möglichen, daß dieses Prinzip auch andersherum funktionierte? Daß man damit heilen anstatt verletzen konnte? Es war nicht von der Hand zu weisen, daß Caitlin durch etwas am Leben gehalten wurde, obwohl sie Wunden davongetragen hatte, an denen andere gestorben wären. Ob es sich dabei um Glauben oder Magie handelte, wußte er jetzt noch nicht zu entscheiden. Aber was immer es auch sein mochte, Caitlin lebte, und das, obwohl sie eigentlich tot sein müßte.
Er schob die für ihn unlösbaren Rätsel erst mal beiseite. Es gab wichtigere Dinge, die ihn und Gale betrafen. Darüber mußte er sich Gedanken machen. Auf leisen Sohlen schlich er zur Schlafzimmertür, öffnete sie einen Spaltbreit und versicherte sich, daß Gale tief und fest schlief. Er schloß die Tür und kehrte zum Wohnzimmersofa zurück. Er konnte einfach nicht schlafen, weil er wußte, daß die Gruppe, die den Glen heimtückisch überfallen hatte, alles unternehmen würde, um in den Besitz der geheimen Karte zu gelangen. Und das bedeutete, daß sie hinter Gale und ihm her waren. Die Polizei konnte ihnen nicht ausreichend Schutz gewähren. Jedenfalls jetzt noch nicht. Sie hatten noch genug damit zu tun, den Angriff auf Gales Dorf, die rücksichtslosen Morde zu klären. Die von Menschen begangen worden waren, die unterschiedliche Sprachen beherrschten, die keinerlei Identifikation bei sich trugen, die wie eine Maschine operierten. Diese Gruppe war zweifellos hervorragend geführt. Sie wußte, was sie wollte, und war bereit, alles zu tun, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Sein Instinkt und seine Erfahrungen als Archäologe sollten ihm in diesem Fall doch von Nutzen sein. Es ging um Münzen. Münzen im besten Zustand aus den Anfängen des Christentums. Was für ein unglaublicher Schatz das war! Und woher stammte das Gold? Welchem Zweck diente es? Wer hatte es ursprünglich zusammengetragen? Und wieso war der Vatikan in solch eine nebulöse Affäre verstrickt? Mit einer verwirrenden Fülle von Gedanken und Rätseln im Kopf, die ihn den ganzen Abend lang beschäftigt hatten, schlief Indy endlich ein. Sie seilten sich an dünnen Stricken vom Dach ab. Zwei Männer in schwarzer Kleidung, schwarzen Turnschuhen, Wollmützen. Ganz im Stil der gefürchteten Ninja, der berüchtigten japanischen Mörderbande. Sich am Seil herablassend, stießen sie sich von der Hausmauer ab, um dann wie schwere Gewichte an den Enden langer Ketten durchs Wohnzimmerfenster zu springen.
Indy hatte noch nicht mal richtig die Augen aufgeschlagen, als der erste Mann ihm schon beide Knie auf die Brust drückte. Indy riß die Augen auf, als die Luft pfeifend aus seinen Lungen zischte. Wie ein gestrandeter Fisch schnappte er nach Luft. Man hatte ihn abrupt aus dem wohlverdienten Schlaf gerissen. Und nun war er so benommen, daß er nur mitbekam, wie jemand auf ihn eindrosch, als verwechsle er ihn mit einem großen Sandsack in einer Boxhalle. Innerhalb weniger Sekunden war er hellwach. Wann immer er versuchte, sein Gleichgewicht zu halten, warfen sich die beiden Männer mit voller Wucht auf ihn. Er begriff, daß da absolute Profis über ihn herfielen. Zwei Fäuste packten sein Haar und rissen seinen Kopf so weit nach hinten, bis es krachte. Verzweifelt versuchte er wegzurutschen, aber der zweite Mann verdrehte ihm den Knöchel, drückte ihm das Knie in den Magen und schlug im nächsten Moment mit der geballten Faust auf Indys Gurgel. Weißsiedender Schmerz schoß ihm in den Kopf. Seine Luftröhre fühlte sich an, als hätte sie jemand mit einem Metallrohr bearbeitet. Selbst als Handknöchel auf seinen Adamsapfel donnerten, wußte er noch, was seine Gegner taten. Er hatte nicht genug Luft, um nach Gale rufen zu können oder um genug Lärm zu machen, in der Hoffnung, daß ihn jemand hörte und die Polizei benachrichtigte. Da ihm physische Gewalt nicht fremd war, kannte er Techniken, die ihn die Schläge, die er abbekam, leichter ertragen ließen. Zuallererst mußte er dafür sorgen, daß Luft in seine Lungen gelangte. Er hatte keine Ahnung, ob ihn zwei oder sechs Männer bearbeiteten. Es gelang ihm, einmal tief durchzuatmen und dann wild um sich zu schlagen. Sein Fuß traf blind den Brustkorb des einen Mannes. Er hörte, daß der andere vor Schmerz aufschrie, und für einen Moment ließen die Schläge etwas nach. Aber der Mann hinter der Couch, der sich mit beiden Händen in seinem Haarschopf festkrallte, zog Indy nach hinten über den Sofarücken. Trotz seiner Schmerzen begriff Indy, was sie taten: Sie achteten darauf, daß ihm das Atmen schwerfiel, damit er
sich so sehr darauf konzentrieren mußte, daß er seine Hände nicht zu seiner Verteidigung einsetzen konnte. Dann landete Indy wieder auf der Couch. Einen Augenblick lang spürte er keine frontalen Schläge. Er rollte sich auf die Seite und dann auf den Bauch. Verbarg das Gesicht im Polster des Sofas. So waren seine Augen, seine Nase, sein Mund und Hals geschützt. Aber da hing er schon in der Luft. Einer zog an seinen Füßen, der andere schnappte ihn am Gürtel. Zusammen hievten sie ihn hinter die Couch und fielen dort wie Wahnsinnige über ihn her. Wieder fiel ihm auf, wie professionell sie vorgingen. Sie malträtierten seinen Körper, fügten ihm Schmerzen zu, ohne ihn blutig zu schlagen. Hoffnung flackerte in ihm auf. Sie sind nicht gekommen, um zu töten ... sie sind hinter Informationen her. Sobald sie aufhören, mich wie einen Sandsack zu behandeln, werden sie ihren Zug machen. Halte dich bereit, Indy, halte dich bereit... Die beiden Männer rissen ihn abrupt hoch und schleuderten ihn mit dem Rücken und mit voller Wucht gegen die nächste Wand. Ein Mann bog ihm das Handgelenk schmerzvoll ganz nach hinten, damit Indy keine unberechenbaren Bewegungen durchführen konnte. Dabei war es gar nicht so, daß Indy die Absicht hatte, diese Typen auf die Palme zu bringen, zumal ihm jetzt einer der beiden den Lauf seiner Knarre ins Gesicht hielt. Zuerst riß er ihm mit der Waffe die Unterlippe auf, ehe er sie ihm in ein Nasenloch schob. Ich könnte schwören, daß ich eine ziemlich beschissene Figur mache, wie ich so daliege ... Das idiotische Bild geisterte ihm im Kopf herum. Vor lauter Lachen wäre er beinah erstickt. In den Ohren der Männer, die ihn fertigmachten, klang sein Lachen wie heiseres Husten. Das Geräusch beruhigte sie. Sie entspannten sich. Diese Gelegenheit ergriff Indy beim Schöpf. Er schnappte nach Luft, hustete wieder, ließ Spucke aus seinem Mund fließen und seine Gliedmaßen baumeln, als ob kein Leben in ihnen sei. Nun hielten seine Angreifer fast zweihundert Pfund leblose Masse in Händen. Das ist nicht einfach
durchzuhalten, und schon gar nicht, wenn einer der beiden dem Opfer noch die Waffe an die Nase drücken muß. Er hörte, wie der eine Mann dem anderen einen Befehl zurief. Indy wußte nicht sicher, welcher Sprache sie sich bedienten, aber in seinen Ohren klang sie mitteleuropäisch. Er verstand genug, um zu wissen, worum es ging. Dem zweiten Mann wurde aufgetragen, ihn hochzuhalten. Auf einmal kam ihm seine Lage schon viel besser vor. Sie drückten ihn an eine Wand, rammten ihm die schwere Waffe unter die Nase. Sein Körper schmerzte von den vielen Schlägen, die er abgekriegt hatte. Aber jetzt, wo einer der Kerle dafür sorgte, daß er nicht umkippte, und der andere damit beschäftigt war, die Waffe zu halten, konnten sie wohl schlecht weiter auf Indy einschlagen. Dann begann der Chef, auf Englisch zu sprechen. Seine Stimme klang wie das Zischen einer geborstenen Pipeline. Der andere Mann hielt sein Gesicht direkt vor Indys und spuckte ihn beim Sprechen an. »Professor Henry Jones.« Es war offensichtlich, daß der maskierte Eindringling ihn wissen lassen wollte, wer er war. Indy kam endlich wieder zu Atem. Klug wie er war, entspannte er sich, so gut es ging, damit etwas Kraft in seinen geschundenen Körper zurückfloß. Gleichzeitig versuchte er, das, was er erfahren hatte, zusammenzufassen und auszuwerten. Sie wußten, wo er wohnte. Sie wußten auch, wer er war. Sie kamen durch sein Fenster, weil er seine Wohnungstür von innen verrammelt hatte. Man mußte kein Weltraumforscher sein, um zu begreifen, daß das hier weder ein gesellschaftlicher Besuch noch ein schlichter Raubüberfall war. Ihm war aufgefallen, daß in der Art und Weise, wie der Mann das Wort ›Professor‹ ausgesprochen hatte, so etwas wie Ablehnung mitgeschwungen hatte. Woraus er doch nur schließen konnte, daß der Mann, der ihn mit einer Waffe bedrohte, jeden, der als Professor, Lehrer oder sonstwie im Lehrbetrieb einen Posten innehatte, als schwächlich und unterlegen
betrachtete. Genau diesen Umstand mußte Indy zu seinen Gunsten nutzen. »J-ja, Sir«, stammelte er mit zittriger Stimme. Der Mann lachte erfreut. »Da haben wir es hier also mit einem Schwächling zu tun«, verkündete er gutgelaunt seinem Kameraden. »Mit diesem Würstchen werde ich allein fertig. Geh und such die Frau«, ordnete er an. »Erzählen Sie mir von der Frau, die sich Caitlin nennt«, forderte er in einem Ton, der Bestrafung versprach, falls Indy sich weigerte, Auskunft zu geben. »Die Hexe. In welcher Verbindung stehen Sie zu ihr?« »Ich - ich kenne sie nicht. Sie ist die Freundin einer -« »Sie sprechen von der mit dem feuerroten Haar«, bezog sich der Mann auf Gale. »J-ja«, stammelte Indy. »Wurm! Wir wissen, daß es eine zweite Karte gibt! Und Sie werden mir schleunigst verraten, wo wir sie finden können, sonst -« Aus dem Schlafzimmer rief sein Kamerad. »Sie ist nicht hier! Die Frau ist verschwunden!« »Idiot!« schnauzte der Mann bei Indy. »Sieh auf dem Fenstersims nach! Wirf einen Blick auf den Fenstersims!« Der Mann drehte sich um. Das Fenster stand offen. Die Vorhänge flatterten im Nachtwind. Er rannte ans Fenster, kletterte auf Knien auf den Sims und schaute nach links. Nichts! Leer! Gerade noch rechtzeitig drehte er den Kopf in die andere Richtung. Er sah, wie sich Gales Fuß mit rasanter Geschwindigkeit seinem Hals näherte. Und ihn mit voller Gewalt traf. Mit der Hand fuhr er an seine Kehle. Er hustete. Blut sickerte durch seine Finger. Dieser Moment genügte Gale völlig. Wie eine bedrohliche Kobra kam sie auf ihn zugeschossen, streckte die linke Hand aus, hielt sich mit der anderen an der Hauswand fest und schlug ihm mit dem Handrücken - so fest es nur ging - hinten ins Genick. Sofort nahm er die Hände hinunter. Er war im
Begriff, die Balance zu verlieren, und es fiel ihm schwer, sich auf dem schmalen Sims zu halten. Gale stand nun mit dem Rücken zur Wand und schlug ihm mit dem Fuß auf die Hinterseite des Kopfes. Unter ohrenbetäubendem Schrei fiel er vom Fenstersims in den sicheren Tod, der fünf Stockwerke weiter unten auf dem Gehweg seiner harrte. Im Wohnzimmer riß der Mann mit der Wollmütze den Kopf herum, als er den Schrei hörte. In einer fremdländisch klingenden Sprache fluchend, schlug er Indy den Pistolengriff auf den Kopf. Indy gelang es gerade noch, den Kopf zur Seite zu drehen. So tat der Schlag weniger weh. Er gab vor, schwer getroffen worden zu sein, und brach hilflos auf dem Boden zusammen. Der Mann mit der Waffe stürmte um die Couch. Eine Sekunde später war Indy auf den Beinen, rannte zur Garderobe auf der anderen Seite des Zimmers und dann ins angrenzende Schlafzimmer. Gale stand wie angewurzelt auf dem hohen Fenstersims, während der Mann mit der Wollmütze sie mit der Pistole in Schach hielt. »Sie sind wirklich dumm«, höhnte er selbstsicher. »Sie hätten Ahmed zuerst die Kehle durchschneiden sollen.« Er spannte langsam den Hahn. Mit großen Augen verfolgte Gale, wie der Kopf ihres Gegenübers gewaltsam nach hinten gerissen wurde. Sie hörte das knallende Geräusch von Indys Peitsche. Das geflochtene Leder wickelte sich um den Hals des Mannes, und Indy riß mit aller Kraft daran. Der Schütze ging zu Boden und verlor dabei seine Waffe. Indy zerrte den wild fuchtelnden Mann ins Wohnzimmer zurück. Inzwischen war Gale vom Fenstersims ins Zimmer gesprungen und folgte den beiden. Fassungslos sah sie zu, wie Indy die Peitsche losriß. Wer immer der Eindringling war, er verfügte über eine Menge Kraft und war anscheinend entschlossen, weiterzukämpfen, bis zum bitteren Ende durchzuhalten. Behend kam er auf die Beine und stürmte mit geballten Fäusten auf Indy zu. Der wiederum lächelte. Ein Zischen kündete vom Einsatz der Peitsche.
Kaum hatte Gale das ihr vertraute Geräusch wahrgenommen, riß das Ende dem Mann schon die Wange auf. Er taumelte nach hinten. Die Peitsche schnellte erneut durch die Luft. Blut trat aus einer Wunde auf der anderen Backe. Beim dritten Mal riß die Peitsche ihm die Haut am Genick auf. »Indy! Bring ihn nicht um!« rief Gale. »Oh, das habe ich nicht vor«, erwiderte Indy lächelnd. »Ich möchte es ihm nur mit gleicher Münze heimzahlen.« Wieder riß die Haut des anderen. Indy kam betont langsam auf ihn zu. Und hörte, wie jemand an die Wohnungstür klopfte. Mit Fäusten auf sie einhämmerte und dabei laut schrie. »Aufmachen da drinnen! Hier ist die Polizei!« Der Eindringling schaute sich um. In seinen Augen lag ein irrer Blick. Gale stellte sich hinter ihn und riß ihm die Wollmaske vom Kopf. Blut schoß hervor. Indy lächelte süffisant. »Weißt du was?« fragte er unerhört gelassen. »Das ist unser Fotograf aus dem Glen, erinnerst du dich?« Sie hörten die Tür splittern. »Und wenn sie herausfinden, daß sie einen Verräter in ihrer Mitte hatten, nun ...« Indy beendete den Satz absichtlich nicht. Wenn es etwas gibt, das ein Polizist haßt - ganz egal, aus welchem Land er stammt oder was für eine Uniform er trägt - dann einen Bullen, der sich schmieren läßt. Der Mann machte große Augen. Seine Furcht steigerte sich von Sekunde zu Sekunde. Mit einem markerschütternden Heulen drehte er sich um und lief an Gale vorbei zum Fenster. »Indy, halte ihn auf!« kreischte sie. Die Bullenpeitsche machte ein Geräusch, das sich wie ein Pistolenschuß anhörte. In diesem Moment krachte die Tür auf, und eine Horde Polizisten stürmte in die Wohnung. Gerade noch rechtzeitig, um den schwarz gekleideten Eindringling aus dem Fenster in den Tod springen zu sehen.
»Beweg dich nicht!« Gale rieb Indy eine übelriechende Paste auf die
Kopfwunde, die von dem Pistolengriff stammte. »Du machst mich wahnsinnig mit deinem ewigen Gezappel!« »Ach ja, das tut mir aber leid«, knurrte Indy. »Was ist das für ein ätzendes Zeug, mit dem du mich eincremst?« »Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, daß das Fledermausdung, Kamelspucke, Molchaugen und Krabbeninnereien sind?« »Nein!« »Nun, dann liegst du richtig. Es ist eine Mixtur aus Kräutern, Wurzeln, Blättern und Flechten. Man muß alles eine genau vorgeschriebene Zeitlang kochen lassen, auf einem Holzfeuer, der Kessel muß aus geschmiedetem Eisen sein, und die Person, die die Mischung herstellt, muß -« Indy unterbrach sie, indem er die Hand hochhielt. »Muß eine Hexe sein, könnte ich wetten.« »Wieder richtig geraten. Hast du mal einen Blick in den Spiegel geworfen? Deine blauen Flecken haben blaue Flecken, und - Indy, du sollst dich doch nicht rühren!« »Leichter gesagt als getan«, grummelte er. »Was kommt als nächstes? Kommst du mir mit dieser abgedroschenen Redewendung: ›Dir tut es mehr weh als mir‹ ? « Sie brach in schallendes Gelächter aus. »Nicht ganz. Diese beiden wußten, was sie taten. Falls es mir nicht gelingt, dieses - wie du es nennst übelriechende Zeug auf die Stellen aufzutragen, wo sie dich gehauen und getreten haben -« »Vergiß die Schläge nicht. Ich glaube, einer von denen hatte einen Schlagring an.« »Wie auch immer.« Zartfühlend strich sie ihm mit den Fingerspitzen über Brust und Schultern und verteilte die heilende Creme, doch auf einmal hielt sie mitten in der Bewegung inne. Ich muß mich in acht nehmen, redete sie sich ins Gewissen. Das ist nicht der passende Zeitpunkt, um in Gefühlen zu schwelgen ...
Schnell begann sie zu sprechen. »Du bist sehr flink, wenn es darum geht, dir Geschichten auszudenken, Professor Jones«, sagte sie mit gespielter Höflichkeit. »Daß du den Polizisten diese Skarabäengemmen gezeigt hast, war wirklich clever.« »Warum sind diese Personen hier eingedrungen?« hatte der Polizist ihn gefragt. »›Er hat mich als Sandsack benutzt und wollte dich erschießen‹«, erinnerte Gale sich an Indys Geschichte. »›Gütiger Gott, Constable‹ «, äffte sie Indy nach, »›sie sind hinter dem hier hergewesen. Sehen Sie diese Skarabäen. Die sind ein Vermögen wert, ja, das sind sie.‹« »Wie ich dir schon mal sagte«, erwiderte er, »reise ich gut vorbereitet.« Sie griff nach den funkelnden Juwelen auf dem Tisch. »Die sehen teuer aus. Was sind sie in Wirklichkeit wert?« »Die, die du hältst? Das ist Modeschmuck. Fälschungen. Für ihren Preis kriegt man ein gutes Mittagessen.« »Sie alle zusammen?« Sie hob vier weitere Stücke hoch. »Nein. Eine davon taugt gut und gern als Lösegeld für einen König.« »Welche?« »Die grüne.« »Sie ist großartig.« Sie legte die Stücke weg. »Na gut. Für die Nacht haben wir ja glücklicherweise diese improvisierte Haustür. War ziemlich klug von dem Superintendent, eine der Schlafzimmertüren dafür zweckzuentfremden.« Sie schüttelte ein paar Kissen auf. »Liegst du bequem?« »Ja, mal abgesehen von den Hunderten von Springteufeln, die meinen Körper bearbeiten.« »Schlaf, Indy. Schlaf.« »Was?« Sie legte ihm die Hand über die Augen. Aus einem kleinen Säckchen in ihrer Hand strömte der Hauch eines seltenen und kostbaren Pulvers.
Hexenpulver. Eine Sekunde später schlief er tief und fest.
SIEBEN Indy schwebte auf einem See aus grauem Schaum. Er kam sich schwerelos vor, wie eine kleine Feder. Er schlief fest. Ein tiefes baßlastiges Stöhnen ließ den Schaum erzittern. Nun fühlte er nassen Sand neben sich. Er lag an einem Strand, an dem sich die hohen Wellen der einsetzenden Flut brachen. Wellen strichen über seinen Körper und zogen sich zurück, bis sein Körper nicht mehr im Wasser lag. Und dann traf ihn die nächste Welle. Wieder grauer Schaum. Er färbte sich heller im Takt zum Schlagen der Wellen. Ist das nicht verrückt? Wo bin ich denn? Er zwang sich, die Augen zu öffnen. Wieder Verwirrung. Wenn er den grauen Schaum sehen konnte, wie konnten dann seine Augen geschlossen sein? Unendlich langsam, aber beharrlich zog sich sein Unterbewußtsein zurück, während er sich langsam aus dem festen Griff des Tief schlaf s befreite. Im nächsten Moment explodierte der Schaum geräuschlos, ohne äußere Einwirkung. Er betrachtete das hohe Fenster seines Studios, durch das die gleißende Sonne mit schmerzhafter Intensität fiel. Er schloß die Augen und drehte sich leise stöhnend auf der Couch um. Wieder zwang er sich, die Augen zu öffnen. Mit dem Sehvermögen begann auch sein Verstand wieder zu funktionieren. Gestern abend ... der Kampf, die Schläge, die er eingesteckt hatte. Gale hatte ihm diese seltsame Paste auf die Wunden gerieben. Er entsann sich, wie müde er gewesen war, daß er wegen der stechenden Schmerzen nicht hatte einschlafen können. Wegen der Schmerzen, die ihm die beiden Eindringlinge zugefügt hatten. Dann Das war es gewesen. Gale hatte ihm die Hand über die Augen gelegt. In diesem Augenblick war die Wirklichkeit verstummt. Und er war in einen
nicht enden wollenden Schlaf gesunken. Er sah Gale. An der Tür. Sie unterhielt sich mit ein paar Männern im Flur. Eine Stimme erkannte er sofort. Wieder stöhnte Indy auf und schwang seine Beine über den Sofarand. Irgendwo zwischen seinen Ohren hämmerte ein kleiner Troll wie verrückt auf einen Baumstamm ein. Ein großer Mann im Trenchcoat und mit einem perfekt gestutzten kleinen Schnauzbärtchen schritt durchs Zimmer und baute sich vor dem Sofa auf. Indys Blick glitt von den auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhen zu den ordentlichen Bügelfalten der Hose und zum unvermeidlichen Trenchcoat. Über dem Schnauzbart und den hellen, intelligenten Augen lauerte eine alte und abgewetzte Kopfbedeckung aus Tweed. »Sieh einer an«, begrüßte der Mann ihn laut. »Da tauchst du ganz unerwartet auf, und trotzdem ist es mir eine Freude, dich nach so kurzer Zeit wiederzusehen, Henry!« »Laß den Mist!« knurrte Indy Inspector Thomas Treadwell, erster Mann beim MI5, dem militärischen Abwehrdienst Großbritanniens, an. Er richtete seinen Blick auf Gale, die hinter Treadwell stand und seinen beiden Begleitern anbot, Platz zu nehmen. Indy ignorierte sie. Der Troll in seinem Kopf setzte seine Arbeit enthusiastisch fort. Jeder Schlag mündete in unaussprechliche Schmerzen. »Gale? Falls du noch einen Hauch Mitmenschlichkeit verspürst, könntest du mir dann bitte Kaffee bringen?« jammerte Indy. Treadwell drehte sich zu Gale um und nahm die Mütze vom Kopf. »Miss Parker, Sie sehen einfach wunderbar aus -« »Nimm dich in acht«, riet Indy ihr. »Er will was. Wo ist der Kaffee?« »Kommt gleich. Ist schon fertig und wartet nur darauf, getrunken zu werden«, antwortete sie eilig. »Schwarz, wie immer?« »Laß die Fragerei. Bring mir einfach -« Aber Gale war schon verschwunden. Fast auf der Stelle kehrte sie mit einem großen Becher dampfenden Kaffees zurück. Wäre der Becher noch etwas größer gewesen,
hätte Indy darin baden können. Er hielt ihn mit beiden Händen. Daß sie unaufhörlich zitterten, überraschte ihn. Der erste Schluck ging runter wie Öl. Wundervoll... Nachdem er die Hälfte getrunken hatte, packte der kleine Troll seine Axt ein und machte sich auf den Heimweg. »Ich glaube, ich werde leben«, murmelte Indy. »Muffins?« fragte Gale ihn. Heute morgen war sie ausgesucht frisch und gutgelaunt. »Toast? Eier? Haferbrei?« »Mehr Kaffee. Bring doch gleich die Kanne.« »Ich würde gern eine Tasse Tee trinken, Miss Parker, falls es Ihnen keine Umstände macht«, machte Treadwell sich bemerkbar. Aus einer Zimmerecke holte er einen Stuhl und setzte sich direkt vor Indys Nase. »Du hast recht, Indy. Er ist zu freundlich.« Sie schenkte Treadwell ein Lächeln. »Der Tee kommt gleich.« Indy warf Treadwell einen finsteren Blick zu. Jemand, der die Unterhaltung der beiden belauschte und nicht wußte, wie tief und eng ihre Freundschaft war, mußte annehmen, daß sich die beiden Männer auf den Tod nicht ausstehen konnten. »Na, woher wußte ich nur, daß ich heute morgen dein Fladengesicht sehen würde?« erkundigte sich Indy. »Der Chef wollte, daß man dich bei Morgengrauen ins Hauptquartier schleppt«, antwortete Treadwell leise. »Und du hast bei ihm ein Wort für mich eingelegt?« »Aber sicher doch.« »Du kannst deinem Chef sagen, daß er sich sonst wohin scheren soll«, knurrte Indy. »Tja, nun, er hat sicherlich Grund genug, um -« »Halt, halt«, unterbrach Indy ihn. Als er die Position änderte, verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse, so schmerzte ihn die Bewegung. »Diese Sache in St. Brendan. Ich hatte nichts damit zu tun. Ich bin erst dort
eingetroffen, als schon alles vorbei war.« »Ich weiß. Du warst während des Überfalls in einem Flugzeug direkt über dem Dorf.« »Woher weißt du das?« Treadwell antwortete nicht gleich, weil Gale ihm eine Tasse Tee brachte und Indy Kaffee nachschenkte. »Möchten Sie sich nicht zu uns setzen?« fragte der Inspector sie höflich. Gale nickte und setzte sich zu Indy auf die Couch. »Erst einmal, möchte ich sagen«, begann Treadwell und ging damit auf Indys Nachfrage ein, »hätte jedes Flugzeug, das in jenem Moment über dem Dorf kreiste, Teil des gegnerischen Angriffs sein können.« »Ja, hätte schon, ist aber nicht so gewesen. Ich gehe davon aus, daß du schon über meinen Flugunterricht in Kenntnis gesetzt worden bist.« »Und du brauchst wirklich Unterricht«, kam die Antwort. »Soweit ich richtig informiert bin, sind dir die, ähm, Kotzbeutel ausgegangen.« Indy schaute Gale an. »Du hast ihm davon erzählt?« Sie nickte. »Leute, die eifrig damit beschäftigt sind, sich zu erbrechen, haben ein perfektes Alibi, daß sie nicht in -« »Verzeihen Sie die Unterbrechung, Gale«, machte Treadwell sich wieder bemerkbar. »Wir wissen, wie nah Sie den Menschen in St. Brendan Glen stehen.« Gale senkte den Blick und nickte. »Was hat deine Besucher von gestern nacht auf dich aufmerksam gemacht, Indy?« fragte Treadwell auf einmal gar nicht mehr umgänglich, sondern überaus geschäftsmäßig. Der Nebel in Indys Kopf verzog sich schlagartig. Er studierte die Männer, die auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers Platz genommen hatten. Besonders den einen der beiden. Gedrungen, kräftig, dabei erstklassig gekleidet und mit einer gewissen weltmännischen Gelassenheit ausgestattet. Er verfügte über all die Anzeichen eines Spezialagenten. Indy zeigte
auf ihn. »Wer ist er?« richtete er sich an Treadwell. »Roberto«, antwortete sein Gegenüber. »Bitte, setzen Sie sich zu uns.« »Sehr angenehm, Professor Jones«, sagte der Mann. Sein Englisch klang fast ein bißchen zu perfekt für einen Ausländer. »Lassen Sie mich raten«, bat Indy. »Sie sind aus Italien. Und das heißt in diesem Fall, daß Sie für den Vatikan arbeiten.« »Roberto Matteo Di Palma, Sir«, stellte der Mann sich vor. »Italienische Geheimpolizei. Ich stamme aus Arce, südlich von Rom.« »Wir haben ihn gebeten, sich unserer Gruppe anzuschließen«, erläuterte Treadwell. »Und du hast mir immer noch nicht meine Frage beantwortet. Was wollten die beiden Männer von gestern nacht?« » Habt ihr sie schon identifiziert?« fragte er Treadwell, anstatt ihm eine Antwort zu geben. »Nur einen. Die Polizei kannte ihn. Deswegen ist die ganze Sache auch ein wenig vertrackt, weißt du. Er war ein Constable.« »Und außerdem ein Ringer«, verriet Indy und lehnte sich zurück. »Ich könnte darauf schwören, daß er schon seit ein paar Jahren bei der Polizei ist, und er -« »War. Vergangenheit«, erinnerte Treadwell ihn. »Er brauchte Geld, und da haben ihn ein paar Leute angeheuert, um für sie die Augen und Ohren aufzusperren, innerhalb der Polizei. Er war auch noch Fotograf. Um ehrlich zu sein, er war gestern schwer damit beschäftigt, von mir und Gale Aufnahmen zu machen. Und von allen anderen.« Treadwell nickte nachdenklich. »So ist er also auf euch gekommen. Und herauszukriegen, wo du lebst, ist keine schwere Aufgabe. Schließlich arbeitest du ja an der Universität von London. Aber hinter was waren sie her?« »Frag Gale. Das kann sie besser beantworten als ich.« Sie blickten zu ihr hinüber. »Hinter der zweiten Karte«, antwortete sie
schlicht. »Sie wollten wissen, wo sie ist. Und falls wir es nicht gewußt hätten, hätten sie uns umgebracht.« »Und sie waren dicht davor, ihr Ziel zu erreichen«, fügte Indy hinzu. »Entschuldigung«, sagte Di Palma betont ruhig. »Diese Karte. Geht es dabei um das Gold?« »Wau, Junge«, platzte Indy heraus. »Wir haben noch kein Sterbenswörtchen über Gold verloren. Sie hingegen schon. Gefällt mir gar nicht, wenn ich nicht im Vorteil bin.« »Ich nehme doch stark an, daß Sie vom dem Gold wissen«, konterte Di Palma. »Sicher doch«, gab Indy zu. »Aber ich weiß erst seit gestern Bescheid. Scheint mir, daß Sie schon ein bißchen länger eingeweiht sind.« Di Palma blickte Treadwell an. Der britische Agent zuckte mit den Achseln. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß er schnell von Begriff ist.« »Würden Sie mir erlauben, Ihnen ein paar Fragen zu stellen, ehe ich Ihnen antworte?« erkundigte sich Di Palma. Indy stellte seinen leeren Kaffeebecher auf den Beistelltisch zu seiner Linken. Zuerst studierte er den Italiener genau und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Ich denke, Sie haben etwas Wichtiges nicht begriffen, Di Palma. Ich habe mit dieser ganzen verrückten Angelegenheit nichts zu tun. Gestern bin ich zum ersten Mal in St. Brendan Glen gewesen. Ich wußte nichts über Gold, über eine Karte oder über diese Männer, die wie Wahnsinnige um sich geschossen haben. Ich weiß allerdings, daß ich gestern abend als Sandsack mißbraucht worden bin. Und daß sich nun eine Gruppe internationaler und verdeckter Ermittler in meiner Wohnung aufhält. Ich habe nicht das geringste Bedürfnis, mich Ihnen anzuschließen.« »Es tut mir sehr leid, das zu hören«, entgegnete Di Palma. »Das kann ich leider nicht ändern«, sagte Indy. »Thomas?« Treadwell wandte sich an Gale.
»Wieso sind Sie hier?« wollte sie wissen. »Das liegt doch auf der Hand. Diese Wohnung wurde überfallen, durchs Fenster, von Männern, die sich an Seilen vom Dach herabließen. Eindeutig Profis. Sie, ähm, bearbeiteten unseren guten Professor, versuchten, Sie zu töten, und waren hinter einer zweiten Karte her, auf der ein Vermögen in Gold eingezeichnet ist. Beide Männer sind nun tot, und wir müssen erfahren, daß einer von ihnen wahrscheinlich von derselben Gruppe bestochen wurde, die gestern eine verheerende Verwüstung in St. Brendan Glen angerichtet hat. Erst heute morgen habe ich erfahren, daß sie dort in den Besitz einer Karte gelangt sind, indem sie die Alte Mutter des Glen gefoltert haben und - entschuldigen Sie, Gale - gedroht haben, Kindern die Kehle aufzuschlitzen, falls sie sie nicht rausrücken. Was darauf schließen läßt, daß sie eine Menge über diese Karte wußten, bevor sie im Glen aufgetaucht sind.« Treadwell nickte Indy zu. »Liege ich soweit richtig?« »Du stehst gerade am Mikrofon. Hör jetzt nicht auf«, murmelte Indy. »Hierbei handelt es sich nicht um einen ordinären Raubüberfall oder eine ganz gewöhnliche Gruppe Krimineller«, stellte Treadwell mit ernster Miene fest. Er hielt eine Zigarette hoch und blickte Gale fragend an. »Stört es Sie?« Sie schüttelte den Kopf. »Keineswegs.« Treadwell zündete sie an. »Jede Gruppe, die über so viele Fahrzeuge und Personen verfügt, die schwer bewaffnet sind, repräsentiert eine große Organisation. Was Macht bedeutet, politischen Einfluß, den richtigen finanziellen Background und - vieles mehr. Ich kann mir denken, daß Sie sich nun ein Bild machen können.« Indy klatschte laut in die Hände, was ziemlich sarkastisch wirkte. »Sehr gut«, sagte er und bleckte die Zähne. »Für solch ein Benehmen gibt es keine Veranlassung«, sagte Treadwell brüsk. »Dann hau doch ab, dann brauchst du dich damit nicht länger
abzugeben«, bot Indy ihm an. »Würdest du jetzt bitte aufhören?« forderte Treadwell ihn auf. »Tut mir leid, alter Kumpel. Mein Kopf macht mich wahnsinnig.« »Thomas?« fragte Gale nun. »Was wollen Sie von uns? Ich meine, warum statten Sie uns so einen hochoffiziellen Besuch ab?« »Nun, das dürfte doch klar sein. Überall liegen Leichen herum und -« »Laß das, sonst schlafen wir noch vor deinen Augen ein, Tom«, unterbrach Indy ihn. »Dafür brauchst du doch nicht die vielen Leute mitzuschleppen. Und schon gar nicht einen Spion vom italienischen Geheimdienst -« »Einen Spezialagenten, falls es Ihnen nichts ausmacht«, gab Di Palma streng zurück. »Einen Spion«, fuhr Indy fort, »aus Italien, und dann hast du noch diese drei Schläger mitgebracht -« »Schläger?« »Ach, komm schon. Gangster. Gauner. Typen fürs Grobe. Schläger.« »Sie gehören unserer Abteilung an, Indy«, protestierte Treadwell. »Für besondere Operationen.« »Richtig. Und meine Großtante Millie ist in Wirklichkeit Königin Victoria.« »Und aus welchem Grund sollte ich«, fragte Treadwell, der nun offensichtlich eingeschnappt war, »diese Typen fürs Grobe mitbringen, wie du es so abwertend genannt hast?« »Erstens, weil du auf der Suche nach besserer Gesellschaft bist«, scherzte Indy. »Oder weil sie einen frevelhaften Background und ruchlose Verbindungen haben, was nur heißen kann, daß du hoffst, daß sie vielleicht jemanden erkennen, mit dem deine Leute nichts anzufangen wissen.« »Gibst du mir mal ein Beispiel?« drängte Treadwell ihn. Indy zuckte mit den Achseln. »Ach, komm schon, Tom! Du würdest alles tun, um jemanden aus dieser Organisation, hinter der du her bist, zu entlarven.«
»Entlarven? Das verstehe ich nicht«, sagte Di Palma. »Identifizieren«, klärte Gale ihn umgehend auf. »Und wieso«, fragte Indy und zeigte auf einen der drei Männer, die ihm gegenübersaßen, »hast du auch noch einen Zaubermann mitgebracht?« Treadwell setzte eine Unschuldsmiene auf. »Wen meinst du denn?« »Erinnere mich daran, daß ich nie mit dir pokern darf.« Indy zeigte auf die betreffende Person. »Dein Mann zur Linken. Er ist aus Jamaika oder Haiti, würde ich mal vermuten.« Gale schaute zu dem Mann hinüber. Als sie dem milchkaffeebraunen Mann in die Augen blickte, lief ihr ein Schauer den Rücken hinunter. Er war groß und dünn, sein Schädel glänzte wie eine polierte Billardkugel, und seine tiefliegenden Augen waren von dunklen Schatten umrahmt. Er lächelte sie an. Dieses Lächeln sprach Bände, gab ihr aber vor allem zu verstehen, daß er jemand war, der Dinge sah, die ›normale Menschen‹ nicht sehen konnten. »Er ist aus Haiti«, sagte Treadwell schließlich. »Und?« »Ich weiß, daß das etwas weit hergeholt ist, aber -« Treadwell verstummte und blickte den Haitianer an, der zustimmend nickte. Indy konnte nicht entscheiden, ob er die Erlaubnis zum Weitersprechen gab. »Ich werde den Satz für Sie beenden«, meldete Gale sich zu Wort. »Er hat das Zweite Gesicht.« Ihre Einschätzung stachelte Indys Neugier an. Er betrachtete den großen Fremden. »Ich bin Jones. Und wie heißen Sie ... ?« »Antoine LeDuc. Es wäre mir recht, wenn Sie mich Tony nennen würden.« »Das Zweite Gesicht, richtig?« LeDuc zuckte mit den Achseln. »So sagt man.« »Können Sie sich einen Reim auf dieses Durcheinander machen? Uns sagen, hinter was für Leuten Pokerface Treadwell her ist? Und wissen Sie eventuell noch mehr?«
LeDuc erhob sich in aller Ruhe, wie eine Antenne, die langsam ausfuhr. »Jetzt, wo ich schon mal hier bin und einen Teil Ihrer Erinnerungen fühlen kann, ist es mir gelungen, eine Verbindung herzustellen. Leider ist sie noch etwas schwammig. Miss Parker, Ma´am, dürfte ich Ihnen die Hand auf die Stirn legen?« Gale schaute zu Indy hinüber, dessen Gesichtsausdruck ihr nichts verriet. Das hier war nicht seine Entscheidung. Sie wertete sein Schweigen als Zustimmung. Hätte er eine Gefahr vermutet, hätte er sich garantiert zu Wort gemeldet. Sie antwortete LeDuc mit einem Nicken und setzte sich in einen Sessel. Er ging zu ihr und stellte sich hinter sie. Seine Hand mit den manikürten Nägeln und den langen, feingliedrigen Fingern legte sich auf ihre Stirn. Es erstaunte sie, wie kühl seine Berührung war. LeDuc stand einfach nur da, ohne ein Wort zu sagen, ehe er sich an Treadwell wandte. »Sie kennen den Mann, den Sie suchen.« »Was?« riefen Treadwell, Indy und Di Palma gleichzeitig. »Es ist derselbe Mann, den wir gesucht haben.« LeDuc musterte die Gesichter der Männer, die ihn fassungslos anstarrten. »Es besteht eine gewisse Verwirrung, was dem Umstand zuzuschreiben ist, daß dieser Mann sich drei Namen zugelegt hat. Eine ganze Weile lang ging meine Regierung davon aus, es mit drei verschiedenen Männern zu tun zu haben. Sie kauften sich in den Drogenhandel in den Westindies ein. Auch in Mittel- und Südamerika. Mein Volk, die Haitianer, sind arm, darum war es ein Leichtes, sie anzuheuern. Als sie feststellten, daß sie kaum mehr als Sklavenarbeiter auf dem Feld waren, die Pflanzen anbauten, aus denen Drogen hergestellt werden konnten, war es für viele leider schon zu spät. Sie starben an Fieber, durch Schläge, verhungerten elend, und als sie zu schwach waren, um zu arbeiten, wurden sie einfach erschossen und den Haien zum Fraß vorgeworfen.« »Die Namen«, sagte Indy ruhig. In Wirklichkeit kochte er innerlich vor Zorn, auch wenn es bislang für die anderen noch nicht augenfällig war.
»Was ich durch Miss Parker fühle«, fuhr LeDuc fort, »sind unterschiedliche Namen. Aber nur eine Person. Ich beginne also mit dem Namen des Mannes, der den Angriff auf den Glen geleitet hat.« Er schloß die Augen, um sich zu konzentrieren. Dann hoben sich seine Lider, und er schaute Treadwell direkt in die Augen. »Der Name lautet Warren Christopher.« Indy, Treadwell und Di Palma tauschten Blicke aus. Indy schüttelte den Kopf. »Damit kann ich leider nichts anfangen.« Di Palma zuckte mit den Achseln. »Englischer Name«, sagte er schließlich. »Und der Kerl ist seit sechs Jahren tot«, verkündete Treadwell wütend. »Tony, was soll das alles ?« LeDuc zuckte nicht mit der Wimper. »Ich kann mich nicht entsinnen«, sagte er vorsichtig, »ein Wort darüber verloren zu haben, ob die Person tot oder am Leben ist. Aber so lautet der Name.« »Was sagst du dazu?« wollte Indy von Treadwell wissen. »Christopher war ein internationaler Waffenhändler. Wir sind eine ganze Weile hinter ihm her gewesen. Schließlich haben wir ihn in Afrika erwischt. Er war gerade im Begriff, den Deutschen schwere Waffen zu verkaufen. Als unsere Leute ihn einzukesseln versuchten, brachten ihn die Deutschen« - er betonte diese Worte besonders - »um die Ecke. Wenn er tot war, konnte er schließlich nicht verraten, wer seine Kunden waren.« Treadwell bohrte LeDuc mit dem Finger in die Brust. »Den nächsten Namen, bitte. Offenbar haben die Leute, die sich im Waffen- und Mordgeschäft bewähren, einen Hang dazu, sich ähnlich klingende Namen zu geben, oder -« LeDuc ließ ihn nicht ausreden. Mit einem Lächeln auf den Lippen sagte er: »Konstantin LeBlanc Cordas.« Treadwell hieb mit der Faust auf den Tisch. »Nun kommen wir endlich weiter!«
»Ich dachte, du hättest gesagt, daß Cordas - oder Halvar Griffin, wie er sich damals nannte - tot sei«, sagte Indy zu Treadwell. »Das war die Information, die wir erhalten haben. Die Information war falsch. Er hat nicht nur überlebt, sondern hat seine Organisation wieder aufgebaut.« »Dann paßt ja auf einmal alles zusammen«, äußerte Indy seine Gedanken. Er blickte zu Gale und LeDuc hinüber. Der große Mann nahm seine Hand von ihrer Stirn. »Sie haben uns zwei Namen genannt«, rechnete Indy zusammen. »Sie haben den dritten beigesteuert. Halvar Griffin», antwortete LeDuc. »Sie meinen«, meldete Di Palma sich zu Wort, »daß diese drei Personen, Cordas, Griffin und Christopher in Wahrheit ein und dieselbe Person sind?« »Sieht ganz so aus«, sagte Indy und lehnte sich zurück. Treadwell nickte zustimmend. Indy schnippte mit den Fingern. »Wir haben gestern abend einen Namen gehört«, berichtete er Treadwell. »Von dem Typ, der mich mit dem Pistolengriff bearbeitet und sich dann lieber aus dem Fenster geworfen hat, anstatt verhaftet zu werden. Er verriet Gale den Namen des Mannes, den sie fallen gelassen hat.« »Fallen gelassen. Ich habe schon etwas mehr gemacht«, wehrte Gale sich. »Na, wie auch immer, es läuft auf dasselbe hinaus«, schmetterte Indy ihren Einwand ab. »Der Punkt ist, er nannte ihn Ahmed. Sagt dir das etwas?« Treadwell machte sich eine Notiz. »Im Moment nicht. Aber ich werde ihn von meinen Leuten unter die Lupe nehmen lassen.« Er ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen. »Noch andere Namen auf Lager?« Gale meldete sich mit einem Handzeichen. »Scruggs«, verkündete sie. »Wo ist Ihnen dieser Name zu Ohren gekommen?« fragte Treadwell wie aus der Pistole geschossen. »Ich habe ihn nicht gehört. Doch während der Glen angegriffen wurde,
haben ein paar meiner Leute diesen Namen aufgeschnappt. Sie haben ihn Indy gegenüber erwähnt.« »Und was bedeutet das?« erkundigte Indy sich. Treadwell klappte sein Notizbuch zu, griff nach einem Stuhl und setzte sich. Der Name, den er gerade erfahren hatte, stimmte ihn nicht gerade froh. »Aber sicher doch. Das ist einer der gemeinsten Halsabschneider in der Unterwelt. Man kennt ihn unter dem Namen John Scruggs. Arbeitet von Anfang an für Cordas.« Treadwell seufzte unglücklich auf. »Ein völlig amoralischer Killer. Scruggs ist nicht sein echter Name, aber er hat einen maltesischen Paß, der auf diesen Namen ausgestellt ist. Wir wissen, daß er im Besitz mehrerer gefälschter Ausweise ist, natürlich mit verschiedenen Namen. Von Geburt her ist er Spanier. Valdez Morato.« »Ich kenne ihn«, fügte Di Palma schnell hinzu. »Er verkauft Kinder in die Sklaverei.« Di Palma schnitt eine Grimasse. »Das ist selbstverständlich nur eines der vielen Verbrechen, die er begeht. Dieser Mann genießt es, Menschen zu töten.« Indy stand auf und streckte sich. »Nun, das ist also die Lage der Dinge. War nett, dich zu sehen, Thomas. Richte Scotland Yard herzliche Grüße aus.« Er schaute sich im Zimmer um. »Was, du bist immer noch da? Verschwinde und jag die bösen Buben.« »Als Komiker taugst du nicht«, konterte Treadwell. »Hör mal, Indy, und das gilt auch für Sie, Miss Parker, wir stehen vor einer undurchdringlichen Mauer. Überall leere Flecken. Wir müssen unbedingt nach St. Brendan Glen und den ganzen Ort, jeden Millimeter durchkämmen. Alles könnte sich für uns als nützlich erweisen.« Indy schaute aus dem Fenster. »Dann geh doch! Wenn du hier bleibst und dir den Mund fusselig redest, wirst du bestimmt keine Hinweise finden, bestimmt niemanden erwischen.« »Ich möchte auch noch mit Miss Caitlin über die Karte sprechen. Wir
wissen jetzt Bescheid. Es gibt eine Karte, die ihr Vater heimlich angefertigt hat. Inzwischen weiß ich auch, daß mit Hilfe dieser Karte eine enorme Menge Gold aufgespürt werden kann und daß sich diese Karte seit vielen Jahren im Besitz der St.-Brendan-Familie befindet. Und ich weiß, daß Cordas mittlerweile das Original hat und -« »Warte, warte«, protestierte Indy. »Was soll das, Tom? Gale hat deinen Leuten schon erzählt, daß Kerrie St. Brendan den Schurken, die den Glen überfallen haben, die Karte ausgehändigt hat, um das Leben seiner Frau und der Kinder zu schonen. Der alte Mann wußte nicht, mit wem er es zu tun hatte, und in dem Augenblick war das auch nicht von Interesse. Er tauschte eine Karte gegen das Leben seiner Frau und der Kinder. Natürlich hat er sie rausgerückt!« »Ich gebe niemandem die Schuld, Indy«, entgegnete Treadwell. »Die Karte ist nicht vollständig.« Alle Köpfe drehten sich in Gales Richtung. Ihre Worte schienen die Männer wie ein Schlag getroffen zu haben. »Was soll das nun wieder heißen?« fragte Indy. »Genau das, was ich gerade gesagt habe, mein Lieber. Die Karte ist nicht komplett. Vielleicht führt sie Cordas oder sonst wen zu dem Ort, wo sich das Gold befinden könnte. Vielleicht aber auch nicht.« »Sie scheinen ja eine Menge darüber zu wissen«, resümierte Treadwell interessiert. »Darf ich fragen, wie Sie an diese Information gelangt sind?« »Caitlin und ich sind wie Schwestern aufgewachsen. Seit vielen Jahren wird sie darauf vorbereitet, die Führung des Glen zu übernehmen, wenn ihre Eltern sterben. Während des Unterrichts war ich häufig anwesend.«. »Für einen Augenblick«, warf Treadwell nachdenklich ein, »möchte ich nicht über das Gold sprechen. Auch wenn es Ihnen komisch vorkommen mag. Mich interessiert die Karte.« »Ehrlich?« höhnte Indy. Treadwell ging nicht auf den Seitenhieb ein. »Miss Parker, wie ist die
Familie St. Brendan in den Besitz der Karte gelangt?« Gale zögerte mit der Antwort. »Sie werden mir nicht glauben, was ich zu sagen habe.« »Stellen Sie mich auf die Probe. Bitte«, drängte Treadwell sie. »Ungefähr vor fünfzig, sechzig Jahren wurde sie in den Glen gebracht, um fortan dort aufbewahrt zu werden«, begann Gale. »Das leuchtet mir nicht ein«, sagte Treadwell. »Warum sollte sie jemand in den Glen bringen, wo man sie doch in den Tresoren der Bank von England hätte aufbewahren können?« »Da haben Sie vermutlich recht«, erwiderte Gale. »Sie haben mir eine Frage gestellt, ich habe sie beantwortet. Wieso man den Glen dafür ausgesucht hat, leuchtet mir ein. Von Banktresoren weiß ich fast überhaupt nichts.« »Würden Sie mir sagen, warum der Glen einem Tresor vorgezogen wurde?« »Ich sagte schon, Sie werden mir nicht glauben.« »Würden Sie ... « »Manchmal« - Gale zögerte - »nun, manchmal ist es eben nicht möglich, zum Glen zu gelangen. Und wenn man nicht dorthinkommt, kann man auch nichts von dort stehlen.« »Cordas und seinen Leuten ist es aber gelungen.« »Ich weiß. Die St. Brendans wurden nicht gewarnt, daß sie kommen. Es ist, wie Indy sagt, Thomas. Hinterher weiß man es immer besser.« Treadwell brachte das Gespräch auf die Karte zurück. »Sie sagten, die Karte sei nicht vollständig. Was meinen Sie damit?« »Auf der Karte sind keine Namen verzeichnet. Nur Oberflächen, Berge und Täler und so. Das Land, wohin das Gold gebracht wurde, wo es heute zu finden ist, muß erst identifiziert werden, bevor die Karte für den Betrachter von Wert ist.« »Und wo mag dieses Land liegen?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Gale. »Wer weiß das?« »Kerrie St. Brendan, Caitlins Vater. Und ich könnte mir denken, daß sie es auch weiß.« »Vielen Dank«, sagte Treadwell ungewöhnlich warmherzig. »Darf ich Sie um Ihre weitere Mitarbeit bitten? Ihre Leute sind vielleicht eher bereit, uns zu helfen, wenn wir dort zusammen auftauchen.« Gale zuckte mit den Schultern. »Ich kann nicht für sie sprechen.« »Das verstehe ich.« Treadwells Miene verdüsterte sich. »Ich hoffe, ich muß Sie nicht daran erinnern, daß dieser Cordas in den Glen zurückkehren wird, falls es ihm nicht gelingt, die Karte zu entziffern. Und dann werden er und seine Mörderbande wesentlich härter vorgehen als letztes Mal.« »Davor haben wir keine Angst«, behauptete Gale. »Sie können nicht dorthin zurück. Nicht nach dem, was geschehen ist. Sie können niemals dorthin zurückkehren.« »Können Sie mir sagen, wieso nicht?« »Er wird dir nicht glauben, Gale«, mischte Indy sich ein. »Warum nicht?« herrschte Treadwell Indy barsch an. Indy grinste. »Hier geht es um Zauberei«, antwortete er. »Das ist wohl kaum der richtige Moment für deinen eigenwilligen Humor, Indy.« »Das war mein Ernst.« Treadwell ließ die Angelegenheit auf sich beruhen. »Ich muß mich mit den St. Brendans unterhalten. Und ich hoffe inständig, daß Sie uns begleiten werden.« »Ich werde mit Ihnen fahren«, räumte Gale ein. »Aber ich kann Ihnen nur helfen, falls Caitlin es erlaubt. Außerdem fürchtet sie sich nicht vor Cordas' Rückkehr. Im Gegenteil, sie wird ihn suchen. Um ihre Mutter zu rächen.« »Und wie stellt sie sich das vor?« »Cordas muß durch das Schwert sterben.«
Treadwell schüttelte nachdenklich den Kopf. »Befinden wir uns in einer Art Zeitmaschine? Mir kommt es so vor, als sprängen wir permanent zwischen der Gegenwart und einer längst vergangenen Epoche hin und her.« Gale lächelte, ohne etwas darauf zu erwidern. »In Ordnung, Gale. Aber Sie werden uns doch begleiten?« fragte Treadwell noch mal. Sie nickte. »Ja, das werde ich. Ich möchte, daß auch Indy mitkommt. Nur wird es Ihnen nicht gelingen, den Glen zu finden. Es sei denn, Caitlin läßt Sie rein.« » Sie erstaunen mich, Miss Parker. Darf ich Ihnen verraten, daß ich in dieser Gegend aufgewachsen bin? Ich kenne dort jede Ecke. Ich werde den Glen unter aller Garantie finden.« »Nimm dich lieber vor dem Zauber in acht«, sagte Indy. »Ich finde dich immer noch nicht komisch«, murrte Treadwell.
ACHT Fast zwanzig Minuten lang stand Indy unter der dampfenden Dusche. Das warme Wasser verschaffte den malträtierten und geschundenen Muskeln Linderung. Er wußte, daß Treadwell, Di Palma und LeDuc mit wachsender Ungeduld auf ihn warteten. Aber soweit es ihn betraf, konnten sie warten, bis sie schwarz wurden. Er hatte nicht um ihren Besuch gebeten. Schließlich hatte er kein Verbrechen begangen, sondern sich nur verteidigt, woran kein Zweifel bestand. Nicht mal Treadwell wagte es, dieses Thema anzusprechen. Und er verspürte nicht die geringste Lust, sich an dieser polizeilichen Untersuchung zu beteiligen. Diese Leute taten ihr Bestes, um ihn dazu zu überreden, sie auf der Jagd quer über den Erdball nach Kriminellen erster Güte zu unterstützen, und davon hatte er die Nase gestrichen voll. Indy reichte es vollkommen, die Geheimnisse vergangener Epochen zu lösen. Das war schon anstrengend genug. Er suchte staubige Relikte und vergrabene Sarkophage und entdeckte die Wunder und Eigenheiten alter Kulturen und Zivilisationen. Mehr Faszination brauchte er in seinem Leben nicht. Und eins gefiel ihm ganz besonders an mumifizierten Göttern aus der Vergangenheit: Sie waren großartige Gesprächspartner. Sie unterhielten sich ausschließlich in der stummen Sprache der Geschichte und behelligten ihn nicht mit dem unsinnigen Geschwafel der Lebenden. Außerdem war er hungrig, und Gale bewirkte in der Küche Wunder. Er hatte schon vom Fleisch und dem im New Forest heimischen Gemüse gekostet, das sie für ihn zubereitet hatte. Und in dieser Londoner Küche war sie ebensogut wie im Wald. Er zog frische Hosen, seine alten,
zuverlässigen und eingetragenen Stiefel und ein grobes Wildlederhemd an. Kurz spielte er mit dem Gedanken, seine Webley umzuschnallen, fand den Augenblick aber unpassend. Bedauerlicherweise fiel es ihm schwer, alte Gewohnheiten abzulegen. Deswegen schnallte er seine Peitsche an den Gürtelkarabiner. Im Glen hatte die Peitsche nur wenig Aufmerksamkeit erregt. In den Stiefelschaft schob er ein langes, dünnes Messer, das ihm eher bei seiner Arbeit und beim Jagen von Kleintier von Nutzen war als bei Zweibeinern, die sich in Klamotten hüllten. Er zögerte. Man wußte ja nie, was auf einen zukam, wenn man den Wahnsinn der letzten beiden Tage als Maßstab nehmen wollte. Er tat alles, um sich aus dem Schlamassel rauszuhalten, aber es waren mächtige Kräfte am Werk, die alles daran setzten, ihn in die Sache reinzuziehen. Niemals würde er Gale im Stich lassen, soviel war sicher. Wenn zwei Menschen einander das Leben retteten und dabei ohne zu zögern das eigene aufs Spiel setzten, entstand ein Band, das keiner Worte oder Erklärungen bedurfte. Er brauchte keine gedruckte Botschaft, um zu begreifen, unter welch starkem Druck die Frau stand, die ihm als Freundin so nahe war. Der Verlust Athenas nahm sie emotional sehr mit. Und auch der Tod der Kinder und Erwachsenen, die im Dorf ums Leben gekommen waren. Noch vor wenigen Stunden hatte sie um ihr Leben gekämpft, und nun wurde sie von Scotland Yard, von einem italienischen Geheimagenten und einem Voodoo-Priester aus Haiti mit Fragen bombardiert. Darüber hinaus wußte er, daß Gale sich wegen Caitlins Entschlossenheit Sorgen machte. Zumal ihre engste Freundin geschworen hatte, Konstantin Cordas aufzuspüren und seinem Leben mit dem Schwert des Zauberers ein Ende zu setzen. Das Schwert... Indy wußte nicht, ob er die Klinge des Feuers und die Scheide des Zauberers, die Caitlin nun als Panzer trug, bewundern oder verdammen sollte. Je länger er darüber nachdachte, desto verlockender erschien ihm die Idee, Gale sich selbst zu überlassen. Schließlich war sie eine scharfsinnige,
reaktionsschnelle, brillante, fähige und sehr gefährliche Frau, wenn ihre Eigenschaften gefordert wurden. Auch bevor Indy in ihr Leben getreten war, war sie mehr als gut zurechtgekommen. Caitlin und Gale, dazu der Geist des alten Magiers Merlin, waren ein bemerkenswertes Duo. Aber das Schwert und alles, was damit in Zusammenhang stand, übte auf Indy eine Anziehungskraft aus, die er nur schwerlich ignorieren konnte. Niemand hatte die Frage gestellt, die Indy die ganze Zeit im Kopf herumging. Wie war das Schwert König Arthurs, das von dem legendären Merlin geschmiedet worden war, in den Besitz des St.-Brendan-Klans gekommen? Welche Erklärung gab es dafür, daß St. Brendan Glen mit Glastonbury in Verbindung stand, mit Avalen, dem runden Tisch und dem abgelegten Eid? Wie kam es, daß Caliburn schließlich in Caitlins Besitz landete? Und wem hatte es zuvor gehört? Und vor ihrem Vater? Und vor seinem Vater? Wie bleierne Gewichte an den Fesseln verfolgten ihn diese Fragen. Er konnte seiner eigenen Neugier nicht widerstehen, der aufregenden Suche nach Antworten, die die treibende Kraft in seinem Leben war. Aus diesen Gründen mußte er Gale begleiten, ihr zur Seite stehen. Darum mußte er an ihrer Stelle kämpfen, in einer Welt, die von internationalen Intrigen dominiert wurde. Aber nicht, ohne zuvor zu frühstücken! Als er aus dem Schlafzimmer trat, warteten Treadwell, Di Palma und LeDuc mit ungeduldigen Mienen. LeDuc wollte sich schon erheben, aber Indy grinste nur und hielt eine Hand hoch. »Immer mit der Ruhe, meine Herren. Ein Wagen läuft nicht ohne Kraftstoff, und ich auch nicht. Ich muß was essen, bevor ich in die Gänge komme. Möchte jemand Kaffee oder Tee?« Alle drei schüttelten den Kopf. »Wir haben schon gegessen«, erklärte Treadwell. »Nur zu, Indy. Wir werden warten.« Indy verbeugte sich spaßeshalber. »Danke, Eure Lordschaft!«
Treadwell konnte nicht anders, er mußte lachen, setzte sich wieder und zündete sich eine Zigarette an. Indy und Gale aßen ganz gemütlich in der Frühstücksecke. »Du stellst ihre Geduld auf die Probe«, flüsterte sie. »Uh-huh. Großartiger Hering.« »Indy?« Er strich Marmelade auf den Muffin. »Mmmmpf?« »Ich weiß, daß du das für mich tust. Aber es ist nicht deine Sache, Indy. Du kannst einfach gehen. Ich würde es verstehen.« Er war kurz davor, ihr Angebot zu akzeptieren. Stattdessen biß er von seinem Muffin ab, kostete vom Hering und den Eiern und griff nach seiner Kaffeetasse. »Ughrumph. Das möchte ich doch um keinen Preis der Welt verpassen.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Du hörst dich wie ein Wasserbüffel an«, fand Gale und rümpfte die Nase. »Uh-huh.« Auf ihre Bemerkung ging er nicht ein. »Darf ich davon ausgehen, daß Caitlin sich heute morgen mit der Lichtbrechung beschäftigen wird?« Lächelnd nickte Gale. »Das allein ist es wert, so früh auf den Beinen zu sein«, sagte Indy, eher er sich wieder den Mund vollstopfte. »Wann mußt du zurück an die Universität?« Er hielt mitten im Kauen inne. »Du hast recht. Eigentlich hätte ich mich gestern bei dem guten alten Pencroft melden sollen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich wette zwei zu eins, daß Treadwell sich schon darum gekümmert hat. Mach dir deshalb keine Gedanken.« »Indy, ich mische mich ja nicht gern ein, aber -« Doch er hatte seinen Stuhl schon zurückgeschoben und sah die Männer an, die auf ihn warteten. »Auf die Beine, Kameraden. Laßt uns verschwinden.« Als sie zum dritten Mal an demselben krumm gewachsenen Baum an der
schmalen Straße vorbeikamen, brach Indy in lautes Gelächter aus. Nicht wegen des Baums, sondern wegen der verwirrten und irritierten Mienen der drei Männer, mit denen er und Gale den leistungsstarken Geländewagen von Scotland Yard teilten. Als sie zum zweiten Mal an dem Baum vorbeigekommen waren, hatte Treadwell auf die Bremse getreten und so dafür gesorgt, daß der schwere Wagen über die Kieselsteine schlitterte. Er war ausgestiegen, hatte sich unter einen tiefhängenden Ast gestellt. Mit zuckenden Gesichtsmuskeln markierte er den Ast mit seinem Taschenmesser. Wortlos kehrte er ins Auto zurück, legte den Gang ein, worauf das Hinterteil des Fahrzeugs ins Schlingern kam und der Wagen seitlich wegrutschte. Er dreht einen weiten Kreis und riß erstaunt den Mund auf. Weißer Dunst kroch von einem kleinen Hügel zu seiner Rechten über die Straße. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Geschwindigkeit zu reduzieren. Schließlich konnte er sich nur noch zentimeterweise vorwärtsbewegen. Atemlos schimpfte er vor sich hin. »Das ist unmöglich«, preßte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Mein ganzes Leben lang bin ich durch diesen Landstrich gefahren! Und es hat niemals Nebel gegeben, der kommt und geht. Was soll das überhaupt? Sogar die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit sind auf einem Niveau, wo es eigentlich keinen Nebel geben dürfte. Und auch keinen von den Flüssen aufsteigenden Dunst. Aber immer und immer wieder geraten wir in diesen verflixten Nebel, und dann weiß ich plötzlich überhaupt nicht mehr, wo wir sind und wo wir gewesen waren oder -« »Ich habe es dir ja gesagt«, sagte Indy, der ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. »Du hast mir was gesagt?« »Daß das hier passieren würde.« »Ich weiß, ich weiß, aber warum? Und wie? Das ergibt doch alles keinen Sinn!«
Indy streckte die Hand aus und tätschelte dem gewöhnlich nicht zu erschütternden Treadwell kameradschaftlich die Schulter. »Ich weiß doch, daß das keinen Sinn ergibt, Thomas. Darum habe ich ja gesagt, daß es sich um Zauberei handelt.« »Das kann doch nicht dein Ernst sein.« »O doch, so ist es.« »Indy, du bist Wissenschaftler! Und dann kommst du mir jetzt mit Zauberei?« »Uh-huh.« »Das ist einfach lächerlich!« »Dieser Nebel auch, richtig?« »Selbstverständlich, das weiß ich auch, aber dennoch -« »Dann steckst du also in lächerlichem Nebel fest.« Langsam rollten sie auf eine scharfe Kurve zu. Die vordere Stoßstange strich an den Büschen entlang, die die Straße säumten. Auf einmal trat Treadwell so hart auf die Bremse, daß alle Insassen ruckartig nach vorn geschleudert wurden. »Mein Gott.« Ganz langsam kamen Treadwell die Worte über die Lippen. Direkt vor ihm hing der Ast, den er mit seinem Taschenmesser markiert hatte. »Indy, ich bleibe so ruhig, wie es nur irgend möglich ist. Jetzt habe ich den eindeutigen Beweis. Es ist schlichtweg unmöglich, an einem Punkt zu sein, wo wir schon dreimal vorher gewesen sind.« »Da hast du ganz recht«, stimmte Indy leichthin zu. Di Palma schaute sich um. »Die alten Leutchen in den Bergen, die reden auch immer von so einem seltsamen Nebel. Diese Nebel sind nicht normal.« Er erschauderte. »Es heißt, daß die Geister in den hohen Bergen, in einer Höhe, wo nicht mal mehr Bergziegen zu finden sind, diese Nebel ganz nach ihrem Willen beeinflussen können.« Treadwell warf Di Palma einen vielsagenden Blick zu. »Wir befinden uns hier nicht in der italienischen Bergwelt. Und was Ihre Ziegen machen, ist mir
scheißegal.« Antoine LeDuc stieg aus dem Wagen. Er sog die Luft ein, drehte sich im Kreis und machte große Augen. »Tony!« rief Indy. »Benutzen Sie das Amulett. Das, das Sie unterm Hemd tragen.« Die anderen schauten ihn fragend an. »Es ist ein Amulett. Ein echtes. Es hilft Tony.« »Was ist das?« fragte Treadwell. »Per de Lance. Eine der tödlichsten Vipernarten, die bekannt ist. Ihr Gift hat die Wucht einer vierundvierziger Kugel, die man zwischen die Augen verpaßt kriegt.« Indy lachte. »Ach, die Schlange lebt natürlich nicht. Sie ist seit vielen Jahren tot. Tony hat das Skelett zu einer Kette verarbeiten lassen. Und wann immer er sich mit fremdartigen Energien konfrontiert sieht, vibriert es.« Mit seinem Blick durchbohrte LeDuc Indy. »Zauberei«, sagte er langsam, aber mit fester und vertrauenerweckender Stimme. »Das ist die Macht der Magie, Professor Jones!« Zu LeDucs Erstaunen pflichtete Indy ihm beherzt bei. »Da haben Sie ganz recht«, sagte er geduldig. »Ich habe mir die größte Mühe gegeben, Thomas vorzuwarnen. Gale ebenfalls. Jetzt kann er es endlich am eigenen Leib erfahren.« »Miss Parker, wer ist hierfür verantwortlich?« wollte Treadwell erfahren. »Falls jemand die Verantwortung trägt«, erwiderte sie freundlich, »muß ja auch etwas passiert sein. Und was ist denn passiert, Thomas?« »Wir hängen auf einem verdammten Karussell fest. Das passiert meiner Meinung nach!« »Aber Sie behaupteten, daß das unmöglich sei!« »Das nehme ich zurück! Ich gestehe, daß ich nicht begreife, was sich hier abspielt, aber ich kann nicht leugnen, daß wir gerade zum dritten Mal an diesem verflixten Baum vorbeigefahren sind, der hier vor meiner Nase
steht.« »Indy hat Ihnen gesagt, daß es so kommen würde. Ich auch. Das ist der Zauber der Menschen, die hier im Wald leben.« Treadwell preßte die Lippen so fest zusammen, daß sie weiß anliefen. »Sprechen Sie von Caitlin?« »Möglicherweise.« »Wie ...« Treadwell riß die Arme hoch und betrachtete den Wald. »Wie soll sie das anstellen?« »Sie spricht mit dem Wind. Zu den Bäumen und Bächen. Und sie tun, worum sie sie bittet.« »Warten Sie, warten Sie«, unterbrach Di Palma sie hektisch. »Professor Jones, woher wußten Sie von dem Schlangenskelett? Und von dem, wozu es fähig ist?« »Ich werde diese Frage beantworten«, sagte LeDuc ernst. »Er weiß das, weil er mein Volk in seinen Dörfern und Häusern besucht hat. Er weiß Bescheid, weil er durch den Staub der Geschichte spaziert ist. Er weiß es, weil er allem Neuen gegenüber offen ist.« »Er weiß es«, fuhr Indy fort, »weil er - ich - den Umriß des Schlangenskeletts gesehen habe, das sich unter Tonys Hemd abzeichnet. Und weil ich ein bißchen darüber weiß, wie solche Energie sich auf den Träger auswirkt... nun ... « Indy hob die Schultern. »Das ist alles.« »Indy, laß mich dir in aller Ruhe und Ernsthaftigkeit eine Frage stellen, bitte?« Indy nickte Treadwell zu. »Wie kommt es, daß wir immer wieder am selben Fleck landen, wo wir doch unterschiedliche Abzweigungen nehmen?« »Das zu erklären ist nicht einfach.« »Versuch es bitte.« »Kennst du dich mit topographischer Mathematik aus, Tom?« »Ein bißchen schon.«
Di Palma, LeDuc und Gale verfielen in Schweigen, um Indys Ausführungen zu lauschen,. »Na gut. Du mußt aber die meisten deiner Vorstellungen von der Realität, an denen du so sehr hängst, außer acht lassen können«, warnte Indy ihn. »Das ist schon für mich erledigt worden«, erwiderte Treadwell mit säuerlicher Miene. »Wie zum Beispiel diese verflixte Straße.« »Nun, dann stell dir mal vor, wir könnten die Zeit verändern -« »Die Zeit?« »Zeit und Raum. Ich bin kein Physiker, aber nach dem, was die wichtigsten Köpfe sagen, sind Zeit und Raum in Wirklichkeit eins, oder sie verhalten sich zumindest gleich. Das geht über meinen Verstand hinaus, aber sie betonen, daß man Lebewesen nicht nur in drei Dimensionen sehen kann. Ich meine, Höhe, Breite und Tiefe.« »In Ordnung.« »Man muß eine vierte Dimension hinzufügen. Das ist gar nicht so kompliziert, wie es sich anhört. Ich spreche von der Zeit. Wir bewegen uns konstant vorwärts, von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft. Diese Theorie dürfte dir doch keine Probleme bereiten?« »Nein, ich stimme deiner Ausführung zu«, sagte Treadwell. »Aber man kann sich in der Zeit nicht vorwärts bewegen, es sei denn, es gibt einen Ort, an den man sich begeben kann -« »Die drei Dimensionen«, warf Treadwell ein. »Richtig. Also vergiß mal diese netten Bezeichnungen und Ausdrücke. Stell dir einen Tag nach dem anderen vor. Die ganze Zeit über bewegen wir uns in den drei physikalischen Dimensionen. Wir gehen nach links, rechts, vorwärts, rückwärts. Wir gehen rein und raus, ganz wie bei einem Gebäude. Und schließlich verlassen wir die zweidimensionale Welt -« »Das Flachland«, platzte Gale heraus. Indy lachte. »Diese Bezeichnung ist ebenso treffend wie jede andere. Flachland wäre in dem Fall der Ort, wo es nur zwei Dimensionen gibt. Dort
lebt jeder auf einer planen Ebene. Aber sie kommen nie hoch. Hoch wird die dritte Dimension, genau wie in unserer Welt. Aber da man nicht zur gleichen Zeit an zwei Orten sein kann, muß man - um ein Beispiel zu nennen - die Uhr von zehn auf elf stellen. Das ist dann die vierte Dimension. Nun kannst du zurückkehren zu den Orten, wo du zuvor gewesen bist, aber du kannst nicht zu dieser Zeit zurückkehren. Kannst du mir noch folgen?« »Kommt mir alles etwas nebulös vor, aber es ist schon okay«, sagte Treadwell und nickte. »Na gut. Jetzt nimm mal diese Straße. Stell sie dir als langen Papierstreifen vor. Oder als einen Teppichläufer. Papier funktioniert besser, weil du diesen Streifen in der Hand halten kannst. Jetzt hör gut zu, weil wir dir ein erstklassiges Beispiel liefern werden.« »Ich bin ganz Ohr. Fahr fort.« »Wie viele Seiten hat ein Papierstreifen, Tom? Vergiß die Ränder, mich interessieren nur die Seiten.« »Das ist doch einfach. Natürlich zwei. Die Unter- und die Oberseite.« Nun war Indy in seinem Element. Auf diese Sache war er im Lauf seiner Studien immer wieder gestoßen, sogar schon bei den ältesten Mathematikern. Das verlieh der Redewendung >Es gibt nichts Neues unter der Sonne- erst richtig Sinn. »In Ordnung. Falls du beide Enden miteinander verbindest, was hast du dann?« »Einen Kreis«, antwortete Treadwell wie aus der Pistole geschossen. »Mit wie vielen Seiten?« »Genau wie vorher. Nur würde man sie jetzt nicht mehr Ober- und Unterseite nennen. Jetzt nennt man es wohl eher das Kreisinnere und äußere.« »Falls du mit einem Bleistift im Innenkreis eine Linie ziehst, ganz herum, bis der Bleistift wieder dorthin zurückkehrt, wo er ursprünglich angesetzt hat, was hättest du dann?«
»Gott, das ist doch glasklar«, meinte Treadwell. »Du hast eine Bleistiftlinie, die dem Innenkreis folgt. Dem Papierstreifen, der jetzt einen Kreis bildet.« »Aber auf der Außenseite hast du den Kreis nicht?« »Natürlich nicht! Jedenfalls nicht, solange du den Bleistift innen gegen das Papier hältst.« »Das beweist also, daß der Papierstreifen zwei Seiten hat, richtig?« »Indy, worauf zum Teufel willst du hinaus? Du weißt doch, daß es so ist!« »Ja, schon gut, Tom. Jetzt laß uns mal annehmen, wir hätten einen zweiten Streifen Papier, von genau derselben Länge. Bevor wir die Enden miteinander verbinden, mit einem Klebestreifen oder Klebstoff, drehen wir ein Ende um die Hälfte, bevor wir den Kreis schließen. Folgst du mir noch, mein Freund?« »Ja, warte mal. Ich habe ein großes Notizbuch im Wagen.« Er riß ein Blatt Papier heraus und trennte einen dreißig Zentimeter langen Streifen ab. »Wie du siehst, Indy, drehe ich den Streifen an einem Ende um hundertundachtzig Grad, richtig?« »Richtig. Hast du einen Klebestreifen, um die Enden zusammenzuführen? « »Nein, aber Pflaster, das dürfte auch gehen.« »Na, dann mach mal.« Treadwell hielt fragend den Papierstreifen hoch. »Und was nun?« »Leg ihn auf dein Notizbuch. Und führ den Bleistift an der Innenseite entlang. Ganz langsam und gerade, bis zum Anfang zurück, bis die Linie sich zu einem Kreis schließt.« Sie sahen zu, wie Treadwell Indys Anweisungen ausführte. Als er fertig war, hielt er den Papierstreifen hoch und betrachtete ihn. Ihm fiel die Kinnlade runter. Die Bleistiftlinie verlief innen und außen an dem Papierstreifen entlang, ganz herum. »Das ist unmöglich«, flüsterte Treadwell andächtig. »Warum?« fragte Indy. »Weil ich den Bleistift die ganze Zeit auf dem Papier gelassen habe, und
trotzdem erscheint auf beiden Seiten eine Linie ...« Seine Stimme wurde immer leiser, bis sie nur noch ein Flüstern war. »Tom, er hat nur eine Seite«, bekräftigte Indy. »Das ist einfach nicht möglich«, erwiderte Treadwell halsstarrig. Indy zuckte mit den Achseln. »Es hat keinen Sinn, mit dir zu streiten. Aber du hältst den Beweis in Händen, daß du -und mir fällt keine bessere Beschreibung dafür ein - auf diese Weise in eine andere Dimension gelangst. Sieh doch, Tom, das ist längst nicht so weit hergeholt, wie es scheint. Bauern und manche Fabriken benutzen diesen Möbiusstreifen seit vielen Jahren. Sie nehmen einen Keilriemen, der normalerweise lang und flach ist und von einem Motor in Bewegung gesetzt wird, um ein anderes Gerät und Maschinenteil anzutreiben. Nur daß dieser Riemen geschmiert werden muß. Wenn man den Standardriemen verwendet, muß man ihn normalerweise an der Innen- und Außenseite schmieren.« »Natürlich«, stimmte Treadwell zu. »Aber der Bauer oder Maschinist dreht den Riemen an einem Ende um hundertundachtzig Grad und verbindet ihn wieder, was dazu führt, daß er den Pinsel mit der Schmiere nur an die Oberseite halten muß. Und den Rest kannst du dir ja denken.« Treadwell beäugte den Möbiusstreifen in seiner Hand. »Wenn das so funktioniert wie das hier, müßte der Riemen auf beiden Seiten geschmiert sein.« »Nein!« rief Indy verzweifelt. »Du begreifst es immer noch nicht. Er wird nicht auf beiden Seiten geschmiert sein, denn man hat ihn verdreht. Dadurch ist eine neue Dimension entstanden: der Riemen hat nur eine Seite!« »Ich kann's nicht fassen«, murmelte Treadwell. »Wie auch immer«, sagte Indy zu ihm. »Verstehst du jetzt langsam, warum du nicht von dieser Straße kommst? Sie dreht sich immer wieder zurück und endet dort, wo sie angefangen hat.« Treadwell wandte sich an Gale. »Ist es das, was Sie mir sagen wollten?«
Sie nickte. »Ja.« »Und wie kommen wir dann von dieser Straße, die nach nirgendwo führt? Ich muß mich um jeden Preis mit Miss St. Brendan unterhalten.« »Sich unterhalten oder den Pflichten eines Inspectors von Scotland Yard genügen?« Treadwell seufzte. »Miss Parker, ich gebe Ihnen mein Wort. Ich werde mit Bedacht vorgehen und den nötigen Respekt walten lassen. Ich hege nicht den Wunsch, mich mit Schwarzer Magie -« Er hatte nicht die Möglichkeit, den Satz zu beenden. Ganz plötzlich loderten Wut und Zorn in Gales Augen auf. »Verwenden Sie niemals wieder diese Bezeichnung, wenn Sie vom Glen sprechen.« Ihre Stimme war ein empörtes Zischen. »Behalten Sie Ihre dummen Vorurteile für sich! Hier ist nichts schwarz, einmal abgesehen von Ihren eigenen engen Grenzen!« Wie vor den Kopf geschlagen hielt Treadwell beide Hände hoch. Schnell setzte er zu einer Entschuldigung an. »Miss P- - Gale«, sagte er. »Ich wollte Sie nicht beleidigen. Verzeihen Sie mir. Ich weiß nicht mehr, was ich von all dem halten soll, dieser ... dieser seltsamen Straße, die wieder zum Ursprung zurückkehrt, von dem Streifen Papier... ach, ich weiß auch nicht. Ich weiß allerdings, daß dieselbe Religion hier seit -« »Lassen Sie es gut sein«, erwiderte Gale mißmutig. »Ich nehme Ihre Entschuldigung an. Möchten Sie nun weiterfahren?« »Bitte.« »Dann fahren Sie weiter. Der Weg ist nun frei.« »Aber - ich meine, wie können -« »Wollen Sie plaudern oder fahren, Thomas? Entscheiden Sie sich!« »Ich werde den Wagen starten«, sagte er. Kurz darauf erreichten sie eine Weggabelung. Treadwell reduzierte die Geschwindigkeit. »An diese Stelle kann ich mich nicht erinnern«, merkte er vorsichtig an. »Biegen Sie nach links ab«, wies Gale ihn an. »Auf die Straße, die Sie
vorhin nicht gesehen haben.« »Lassen Sie Ihre Waffen im Wagen.« Gale blickte jeden der Männer einzeln an. Ohne ein Wort der Erwiderung zog Indy das lange Messer aus dem Stiefel und legte es auf den Autositz. Äußerst widerwillig holte Treadwell seinen Revolver aus dem Schulterholster und plazierte ihn behutsam neben dem Messer. Dann drehten sie sich gemeinsam zu Di Palma um. Er bedachte sie mit einem nichtssagenden Blick. »Roberto, so machen Sie schon«, ordnete Treadwell an. Di Palma stöhnte. Ein kleiner Derringer hatte in einem Fußholster gesteckt. Dann schob er den rechten Jackenärmel hoch, wo eine zweite Waffe verstaut war. Wortlos schnallte er die Waffe ab. Derringer und Handfeuerwaffe legte er auf den Boden des Wagens, ehe er neugierig zu LeDuc hinübersah. Schmale Klingen waren an seinen Unterarmen und seiner rechten Fessel angebracht. Eine vierte in einer Bauchscheide und eine fünfte in einem flachen Futter auf dem Rücken, direkt unter dem Genick. Er hielt beide Hände hoch und legte dann die Handflächen aufeinander. Blitzschnell schnappte sich Indy LeDucs Handgelenk und drehte die Unterseite nach oben. »Das ist aber eine nette Tätowierung«, merkte er an und ließ das Handgelenk los. LeDuc nickte, ohne die Hand zu bewegen. »Haben Sie die schon mal gesehen?« fragte er. »Nein, hab ich nicht«, erwiderte Indy tonlos, jedoch todernst. »Aber als der Glen angegriffen wurde, sah einer der Männer einen tätowierten Barrakuda auf dem Arm eines Angreifers.« Er machte eine Pause, damit die anderen die Information verdauen konnten. »Genau wie Ihrer.« LeDuc nickte langsam. »Dann haben sie zweifellos herausgefunden, wo einige der Männer rekrutiert worden sind.« »Wie? Wo?« beeilte sich Treadwell zu fragen. »Es ist nicht der Ton Ton«, erklärte LeDuc. »Aber es gibt eine Gruppe, die sich aus Haitianern, Jamaikanern und anderen Inselbewohnern
zusammensetzt. Eine Mischung aus den unterschiedlichsten Menschen und Sprachen. Hauptsächlich Französisch, Spanisch, Englisch. Ihre Namen sind nirgendwo schriftlich festgehalten. Sie haben Nummern, die bekannt sind. Und alle haben eine Tätowierung des picuda, der blitzschnell tötet und schneller verschwindet, als das Auge sehen kann.« Di Palma sog jedes Wort in sich auf. »Ist das eine politische Gruppe?« LeDuc lachte heiser. »Nur, wenn Geld mit im Spiel ist. Das sind Söldner. Fast alle von ihnen haben eine Strafakte. Wegen Drogen- und Waffenhandel, Prostitution, Versklavung von Kindern, Einschleusen illegaler Zuwanderer, Auftragsmorden. Sie haben auf den Inseln ihr eigenes Banken-System aufgebaut. Rücksichtslos und ohne Gewissen verkaufen sie ihre Loyalität dem, der am höchsten bietet.« LeDuc rieb sich das Kinn. »Aber ich habe bisher noch nie gehört, daß sie sich so weit von den Inseln entfernt haben.« »Und Sie tragen auch diese Tätowierung«, bemerkte Indy mit gespielter Ruhe. LeDuc stimmte zu. »Viele Angehörige unserer von der Regierung ins Leben gerufenen Sicherheitskräfte tragen sie. Nur deshalb konnten wir überleben. Bedenken Sie, es gibt keine Namen. Nur Nummern. Wenn es uns gelingt, ein paar dieser kriminellen Elemente auszuschalten, versuchen wir, sie durch eigene Leute zu ersetzen. Auf diese Weise lernen wir die Organisation von innen kennen. Und zwar nur so!« »Eine Sache stört mich«, sagte Indy. LeDuc wartete schweigend. »Eigentlich zwei. Der erste Mann fiel aus meiner Wohnung« - er zeigte auf Gale - »das haben wir der Dame hier zu verdanken. Der zweite Mann, der ihm folgte, nannte den ersten Ahmed.« LeDuc konnte damit offensichtlich nichts anfangen. »Sie wechseln ihre Namen so oft wie ihre Hemden. Und was ist die zweite Sache, Professor?«
»Ich hatte Kontakt zu vielen fanatischen Gruppen auf der ganzen Welt. Angefangen von arabischen Mördern bis hin zu hinduistischen Eiferern und Leuten, die Schlangen anbeten. Vielleicht fürchten Söldner den Tod nicht, aber sie begehen garantiert keinen Selbstmord, um einer Gefangennahme zu entgehen. Und genau das tat dieser Kerl.« »Falls man ihn gefaßt und er etwas über seine Gruppe verraten hätte«, erläuterte LeDuc mit steinernem Gesicht, »hätte das ebenfalls seinen Tod zur Folge gehabt. Der Gruppe nicht die Treue zu halten bedeutet, für den Verrat mit einem langsamen und qualvollen Tod bestraft zu werden. Lange, bevor das Ende naht, flehen und betteln diese Verräter um die Gnade des schnellen Tods.« »Dann«, warf Treadwell ein, »könnte ein Mann mit so einer Tätowierung ein Angehöriger dieser Söldnertruppe sein oder - man höre und staune - einer von Ihren Leuten. Und wir sind nicht in der Lage, den Unterschied zu erkennen. Was nur heißen kann, daß wir jeden mit einer Barrakuda-Tätowierung als gefährlichen Gegner betrachten müssen.« LeDuc reagierte gleichmütig. »So ist es nun mal mit der Strömung der Meere. Man springt ins kalte Wasser und geht ein Risiko ein.« Di Palma machte eine Handbewegung, die verriet, wie unglücklich ihn die Lage machte. »Das heißt doch nichts anderes, als daß wir es mit Männern ohne Gewissen zu tun haben.« Wieder reagierte LeDuc gelassen. »Es ist nicht an Ihnen, so etwas zu beurteilen. Oder haben sie etwa nichts über die europäischen Eroberer gelesen, die über Jahrhunderte hinweg andere Länder unterjocht haben?« »Heh!« rief Indy plötzlich. »Laßt das, Leute! Wir sind hier, weil wir um diese Möglichkeit gebeten haben und sie uns gewährt wurde. Ich würde Ihnen raten, das, womit wir es zu tun haben, zu akzeptieren und uns unseren Gastgebern gegenüber höflich zu verhalten.« Gale drückte ihm zum Zeichen ihrer Dankbarkeit die Hand. Treadwell nickte eifrig. »Gut gesagt, Indy. Wir haben überreagiert.« Er wandte sich an
Gale. »Würden Sie bitte vorangehen?« Gale entfernte sich vom Wagen. »Folgen Sie mir bitte«, sagte sie und marschierte langsam den Hügel zur großen Halle hoch. Voller Eleganz erhob sich Caitlin St. Brendan von einem riesigen Thron am anderen Ende des langen, ovalen Tisches, dessen polierte Platte den Feuerschein reflektierte. Für die Gäste waren zusätzliche Stühle um den Tisch gruppiert worden. Aber im ersten Moment standen sie einfach nur sprachlos da und sogen die Schönheit und Macht der vor ihnen stehenden Frau in sich auf. »Ich heiße Sie willkommen«, sagte Caitlin, deren Stimme ein Echo in dem weitläufigen Raum produzierte. Entlang der Wände loderten Flammen unter herunterhängenden Kesseln. Vom Tisch etwas zurückgesetzt lauerten Männer und Frauen, mit Schwertern, Armbrüsten und Äxten bewaffnet, ohne einen Ton von sich zu geben. Schräg hinter Caitlin wartete eine kleine Gruppe Menschen, die im Glen lebten. Ihre Aufgabe war es, die Besucher mit Essen und Trinken zu versorgen. »Bitte«, lud Caitlin sie mit einer Handbewegung ein, »nehmen Sie Platz.« Sie kamen ihrer Aufforderung nach. Gale setzte sich in die Nähe ihrer Freundin, Di Palma und LeDuc auf die eine Seite des Tisches, Indy und Treadwell ihnen gegenüber auf die andere Seite. Caitlin drehte sich nach hinten und hob den Arm. Sofort traten Männer, Frauen und Kinder an den Tisch. Sie trugen große Holzplatten mit geröstetem Wildschwein auf, Früchte, runde Brotlaibe und Käse. Wein in Holzkrügen wurde vor die Besucher auf den Tisch gestellt. Caitlin saß ganz locker da, obwohl alle Blicke auf ihr ruhten. Indy bemerkte, daß sie neue Lederkleidung angezogen und sich ein altes Symbol, ein Kreuz und einen Kreis, um den Hals gehängt hatte. Ihr langes dunkles Haar fiel auf die Schultern herab. Sie war, das fiel ihm erst heute richtig auf, eine erstaunliche Frau. Ihre Züge waren kraftvoll und reizend zugleich. Auf der
rechten Armlehne lag das Schwert Caliburn. »Essen und trinken Sie, soviel Sie möchten«, verkündete ihre wohlklingende Stimme. »Und unterhalten Sie sich miteinander, falls Sie den Wunsch verspüren. Doch das Thema, das Ihr Interesse erregt hat, werden wir erst besprechen, wenn mein Vater zu uns stößt. Er ist im Augenblick in der Gebetskammer und wird danach zu uns kommen.« Indy genoß den Augenblick und die Situation. Es war beinah so, als wären sie tausend Jahre in der Zeit zurückgereist. Die große Halle zeigte den Einfluß der Wikinger, der zwar sehr subtil, aber dennoch augenfällig war. An den oberen Hälften der Wände hingen ausgestopfte und präparierte Köpfe von Bären, Wildschweinen, Füchsen, Wölfen und anderen Tieren, was der Szene unten in der Halle einen atavistischen Anstrich verlieh. Von einem der Köpfe konnte er den Blick allerdings nicht abwenden. Ein Pferd ... Nein! Doch. Ein Pferd mit einem einzelnen, gedrehten Hörn, das aus der Stirn sprang. Ein Einhorn. Die anderen folgten seinem Blick. Mit weit geöffnetem Mund stierte Treadwell nach oben. Es kostete ihn einige Mühe, den Mund wieder zu schließen. »Miss St. Brendan?« wandte er sich mit zittriger Stimme an Caitlin. »Ja?« Sie hörte sich wie eine Priesterin an, die sich mit einem Kind unterhielt, das zufällig in eine heilige Stätte eingedrungen war. »Würden Sie ...« Treadwell zögerte und hob dann langsam den Arm, um auf das gehörnte Tier zu zeigen. »Ist das ... ist das echt?« fragte er. »Ja.« »Ein Einhorn?« »So scheint es, Sir. Wieso sind Sie so überrascht, Mr. Treadwell?« Daß sie seinen Namen kannte, verblüffte ihn noch mehr. Sie waren einander nicht vorgestellt worden, aber es bestand durchaus die Möglichkeit, daß Gale oder Indy ihr seinen Namen verraten hatten. Andererseits hatten sie dazu gar keine Zeit gehabt ... Er beschloß, sich darüber keine weiteren
Gedanken zu machen. »Ich bin überrascht, Madam. Und das ist sicherlich eher eine Untertreibung«, fügte er hinzu. »Es war mir nicht bewußt, daß ein Einhorn ein echtes Tier ist.« »Ich kann es nicht glauben!« rief Di Palma. »Meine Herren«, meldete Gale sich zu Wort. »Wenn es einen Narwal gibt, mit einem einzigen langen Schwert, warum soll es dann nicht auch ein Einhorn geben?« Di Palma drehte sich zu ihr um. »Aber bisher hat noch niemand ein lebendiges Einhorn zu Gesicht bekommen!« »Und Sie, Sir, kennen Sie jemanden, der ein echtes Mammut gesehen hat? Einen Dinosaurier? Und dennoch glauben Sie, daß diese Tiere existiert haben, oder?« »Ja, aber -« »Dieses Tier«, mischte Caitlin sich in die Unterhaltung ein, »ist keine Trophäe. Diese Gattung hat lange Zeit im New Forest gelebt. Das Tier, dessen Kopf hier an der Wand hängt, hängt schon seit über vierhundert Jahren hier. Wie Sie habe auch ich noch nie ein lebendiges Einhorn zu Gesicht bekommen, aber ich möchte Ihnen versichern, daß es sie gegeben hat.« In diesem Moment trat ihr Vater Kerrie in die große Halle. Alle erhoben sich, um den Patriarchen des Glen zu begrüßen. Mit einer Geste forderte er sie auf, wieder Platz zu nehmen, ehe er sich selbst unter Schmerzen in einen Sessel an der Seite seiner Tochter setzte Er nahm einen Kelch mit parfümiertem Wein entgegen, schüttelte aber den Kopf, als man ihm Essen auftragen wollte. Er begnügte sich damit, hin und wieder einen Schluck zu trinken und seinen Gästen beim Essen zuzusehen. Treadwells Ungeduld war fast greifbar. Nach einer Weile wandte er sich an Gale, die seiner stummen Bitte nachkam, daß jemand den Grund für ihr Kommen ansprechen sollte. Sie wiederum schaute Caitlin an, die sofort begriff, was ihre Freundin ihr sagen wollte.
»Mr. Treadwell, Sie sind hier als offizieller Abgesandter von Scotland Yard. Gehören die beiden Herren, die Sie begleiten, zu Ihnen?« »Ja«, antwortete er schnell. »Was können wir für Sie tun?« Treadwell verschwendete keine Zeit damit, die Ereignisse, die zu seinem Besuch geführt hatten, nochmals wiederzugeben. Er sagte, daß sie der Überzeugung waren, daß trotz der vielen unterschiedlichen Namen, auf die sie gestoßen waren, Konstantin LeBlanc Cordas der Drahtzieher dieser Gruppe war, und daß dieser Mann bei allen Polizeibehörden in der Welt wegen seines schlechten Rufs verhaßt war. »Wir haben in Zusammenarbeit mit den anderen Behörden eine Suche initiiert, um diesen Mann aufzuspüren.« »Und wenn Sie ihn finden, falls Sie ihn und seine Verbrecher finden, werden sie ihn unter Arrest stellen? Ihn festnehmen?« Indy beobachtete sie und lauschte ihren Worten. Caitlin setzte alles daran, ihren Zorn im Zaum zu halten. »Selbstverständlich. Wir, ähm, möchten ihn und seine Leute natürlich fassen, bevor er das Gold findet, das offenbar auf der Karte eingezeichnet ist, die von hier gestohlen wurde -« »Gestohlen wurde, indem sie töteten und uns erpreßten«, beendete Caitlin den Satz für ihn. »Und dann werden Sie dieses Untier ins Gefängnis werfen«, rief sie nun mit unverhohlener Empörung, »und werden ihn mit Hilfe Ihrer grotesken Gesetze verurteilen, ihn in Haft nehmen, ihn füttern, sich um ihn kümmern, ihn medizinisch versorgen und nicht beweisen können, daß er schuldig ist. Wir haben schließlich nicht sein Gesicht gesehen.« »Aber -« »Und dann wird er wieder freikommen«, fügte Caitlin mit schneidender Stimme hinzu. Sie studierte Treadwell. Schweigen machte sich in der Halle breit. »Sie müssen tun, was Sie tun müssen«, fuhr sie fort. »Aber damit Sie sich nicht mit unnötigen Fragen den Kopf zermartern müssen, möchte ich
Ihnen sagen, daß ich diesen Mann suchen und« - sie betonte dieses Wort sehr - »und auf ihn unsere alten Gesetze anwenden werde, die Vergeltung fordern.« »Sie haben die Absicht, ihn zu töten«, sagte Treadwell. »Die Gerechtigkeit verlangt nach diesem Schritt. Der Mord an meiner Mutter verlangt es.« Treadwell beugte sich vor. Mit großer Sorgfalt wählte er seine Worte. »Falls das, was ich zu sagen habe, Sie beleidigt, dann möchte ich mich schon im voraus dafür entschuldigen. Das ist nicht mein Anliegen. Aber ich bin nicht -« »Sprechen Sie einfach«, unterbrach Caitlin ihn. »Worte sind Federn im Vergleich zu dem, was sich hier ereignet hat.« »Dann nehme ich Ihre Erlaubnis an und werde ganz unverblümt sprechen.« Treadwell machte eine Pause. Caitlin nickte. Ihr Vater wirkte zunehmend abwesend. Er verhielt sich so, als ob alles schon entschieden sei und diese Unterhaltung nur etwas Aufschub bedeutete. »Sie sprechen von Rache«, fuhr Treadwell fort. »Sie haben gelobt, mit dem Schwert Vergeltung zu suchen. Falls Sie das tun werden, begehen auch Sie ein Verbrechen. Solch ein Vorgehen bringt beiden Parteien nichts ein, und -« »Nur nach Ihren Gesetzen nicht«, erhielt er kalt zur Antwort. »Vergeltung in Form von Mord ist nach britischem Gesetz immer noch Mord«, formulierte Treadwell vorsichtig. »Falls er auf britischem Boden stattfindet.« »Verzeihen Sie. Ich möchte nicht predigen, Miss St. Brendan, aber ich kann einfach nicht darüber hinwegsehen, daß -« »Betrachten Sie es als Entschädigung«, meldete sich schließlich Kerrie St. Brendan zu Wort. »Sie sind Polizist. Sie stehen für Gesetz und Ordnung. Aber das hat nichts mit den Menschen hier im Glen zu tun. Wir haben viele Tote begraben. Meine Frau ist für immer von uns gegangen.«
Caitlin legte die Hand auf den Arm ihres Vaters, ehe sie Treadwell tief in die Augen blickte. »Sie selbst haben zugegeben, unsere Art nicht zu verstehen. Und darum möchte ich sie Ihnen einmal erklären.« Sie hielt das Schwert hoch und stand auf. Schneller als ihre Augen folgen konnten, hatte Caitlin die Klinge aus der Scheide gezogen. Sowohl der Schein der offenen Feuerstellen als auch das dem Schwert innewohnende Licht strahlte durch die große Halle. »Das hier ist Caliburn. Das einzige und wahre Schwert Merlins. Stellen Sie mir keine Fragen. Jetzt nicht, in Zukunft nicht. Ich möchte Ihnen etwas erklären, vielleicht können Sie es verstehen. Es ist verboten, dieses Schwert zu verwenden, um etwas oder jemanden zu rächen. Verboten und tödlich für den Träger. Man darf es nur benutzen, um etwas Falsches wieder zu berichtigen, um sich zu verteidigen, um Entschädigung zu fordern, und genauso werde ich dieses Schwert einsetzen. Aber es wird niemals« - sagte sie mit schneidender Stimme und schob die Klinge in die Scheide zurück »verwendet werden, nur um zu töten. Nach Ihren Gesetzen wird es Notwehr sein. Man wird mich angreifen. Und ich werde mich verteidigen. Ich werde unsere alten Gesetze befolgen und Ihre modernen.« Ihre Hand strich über das Heft. »In diesem Metall«, sagte sie leise, »lebt Merlins Geist. Diesem Geist bin ich verpflichtet. Und diesem Geist folge und gehorche ich.« Sie nahm wieder Platz. Treadwell hatte es die Sprache verschlagen. Er blickte zu Gale hinüber, die nicht reagierte. Dann zu Di Palma und LeDuc. Sie waren genauso verblüfft wie er. Schließlich bekam er Indys Aufmerksamkeit. »Du verstehst es«, sagte der Inspector langsam. Indy nickte. »Und du hast mir nichts davon erzählt«, beklagte Treadwell sich. »Es war nicht an mir, dir etwas davon zu erzählen«, beeilte sich Indy, ihm zu antworten. »Die Zeit wird langsam knapp.« Alle Köpfe drehten sich in Caitlins
Richtung. Sie trank ihren Wein aus. »Es wird spät. Stellen Sie die Fragen, auf die Sie Antworten haben möchten, und dann ist es an der Zeit, daß Sie sich auf den Weg machen. Wenn sich erstmal der Nebel über das Tal legt, ist der Glen undurchdringbar, bis ich der Pflicht meines Schwertes Genüge geleistet habe«, sagte sie ihnen. »Das Gold«, meldete Treadwell sich geistesgegenwärtig zu Wort. »Das Gold, das auf der Karte eingezeichnet ist. Seit wann befinden Sie und Ihre Leute sich im Besitz dieser Karte?« Caitlins Antworten brachten einen manchmal zur Raserei. »Noch vor meiner Geburt wurde sie in unsere Obhut gegeben«, sagte sie. »Sie wurde an meinen Vater von seinem Vater weitergegeben und davor von dessen Vater an ihn. Jetzt ist sie in meiner Obhut. Mehr weiß ich Ihnen über die Karte nicht zu sagen. Wer sie angefertigt hat, wer sie zu uns gebracht hat, weiß ich nicht. Wir sollen sie aufbewahren, soviel ist sicher. Aber das war wohl eine närrische Idee, zumal dieser Wahnsinnige, der uns angegriffen hat, wußte, wo er sie suchen mußte.« »Ich habe die Kopie gesehen«, sagte Treadwell. »Was ist mit dem Gold? Können Sie mir sagen, wieviel es gibt? Wo es liegt? Und-« Caitlin bot der Flut von Worten mit erhobener Hand Einhalt. »Das Gold schert uns wenig. Mein Interesse gilt der Karte, weil Cordas sich an sie halten muß, falls er finden will, was er so verzweifelt sucht. Und auf dieser Suche wird er eine Spur hinterlassen, der ich folgen kann.« Treadwell wußte, wann er aufhören mußte. Er spürte Caitlins Ungeduld. Sie konnte es nicht erwarten, daß Treadwell und seine Leute sich endlich auf den Weg machten, das war nicht zu übersehen. Er wandte sich an Gale. »Werden Sie sie begleiten?« Gale zuckte mit den Achseln, ohne ihm eine Antwort zu geben. »Indy, was ist mit dir?« fragte Treadwell seinen Freund. Caitlin sprach, bevor er antworten konnte. »Er wird seine eigene Entscheidung treffen, wenn es an der Zeit ist.«
Treadwell war verwirrt. »Ich verstehe nicht ganz«, murmelte er. »Jones ist anders«, erwiderte sie. »Er ist nicht wie Sie. Er weiß um die Weisheit der Vergangenheit. Er hat den Tanz der Giganten miterlebt. Er steigt auf alte Monolithen und in Gräber und spürt die Verwandtschaft, die Jahrhunderte, die die Zeit überdauert. Er respektiert die Vergangenheit und kann lesen und verstehen, was alle anderen, auch Sie, vor den Kopf stößt. Und was noch viel entscheidender ist: Diese Frau« - Caitlin zeigte auf Gale »die meine Schwester ist, vertraut ihm. Das tue ich nun auch. Er achtet uns, wir achten ihn. Und er kämpft für das, woran er glaubt.« Caitlin richtete den Blick nach oben, als könne sie den Sternenhimmel durch das Dach der Halle sehen. »Es ist an der Zeit, daß Sie gehen. Gale wird Sie durch den Nebel der Zeit führen. Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme. Versuchen Sie nicht, wieder hierher zurückzukommen. Das wird Ihnen nicht gelingen, es sei denn, die Zeit ist reif. Und wann das sein wird, werden wir bestimmen.« Treadwell stand langsam auf. »Ich verstehe. Und ich möchte mich bei Ihnen, Ihrem Vater und Ihren Leuten für die uns gegenüber erwiesene Höflichkeit bedanken.« Er hielt kurz inne und zupfte sich gedankenverloren am Kinn. Das war eine alte Angewohnheit von ihm. »Und die Straßen... Ich verstehe. Die Straßen gleichen der Schlange, die ihren Schwanz in den Mund nimmt. Man bewegt sich im Kreis und kommt nirgendwo an.« Caitlin nickte bewundernd. »Sie lernen schnell, Mister Treadwell. Ich bin beeindruckt.« Treadwell verbeugte sich vor ihr. Und dann machten sie sich auf den Weg. Hinter ihnen brach sich das Licht. Nebel kroch die Hügel ins Tal hinunter, und St. Brendan Glen verbarg sich vor der Außenwelt.
NEUN Der gute alte Pencroft - Sir William Pencroft, Direktor der ArchäologieFakultät an der Londoner Universität - musterte Treadwell mit unverhohlener Feindseligkeit. Schon zweimal hatte Pencroft den Versuch unternommen, seinen Zorn am Inspector von Scotland Yard abzureagieren, aber beide Male hatten ihm seine geschwächten Lungen den Dienst versagt. Er mußte fast unablässig husten. Die Krankenschwester, die sich um ihn kümmerte, hielt ein weißes Leinentaschentuch an seine Lippen und preßte die Hand auf seinen Brustkorb, um den Schmerz zu lindern. Mit unbändiger Kraft, die aus der Wut über sich selbst resultierte, schob Pencroft das Taschentuch unter die Decke, die auf seinem Schoß lag. Aber nicht rasch genug, um die roten Flecken vor den anderen zu verbergen. Pencroft lehnte sich zurück, atmete tief durch und wartete ungeduldig, bis er wieder sprechen konnte. Er gestikulierte mit einer Hand, woraufhin die Schwester umgehend den Rollstuhl in eine andere Position brachte. Mit dem Rücken zur Gruppe tupfte der alte Mann das Blut am Mund ab und schluckte eilends eine Tablette mit Wasser hinunter, deren Wirkung fast sofort einsetzte, geradeso, als habe der Mann, dessen Haut von der Farbe und Struktur her altem Pergament glich, reines Oxygen inhaliert. Wieder drehte sich der Rollstuhl. Pencroft hob eine zitternde Hand und zeigte mit seinem krummen Zeigefinger auf Treadwell. »Thomas, Sie sind für diese Institution zu einem hartnäckigen Störfaktor geworden«, sagte er mit einer Stimme, die wie Schmirgelpapier klang. »Und entschuldigen Sie sich nicht. Sagen Sie nicht, daß es Ihnen leid tut. Wenn es so wäre, wären Sie nicht hier, würden Sie nicht meine Terminplanung durcheinanderbringen und dafür sorgen, daß in den Lehrräumen Gerüchte ausgetauscht werden.« »Aber es tut mir tatsächlich leid«, bekräftigte Treadwell. An Pencroft hatte der Inspector einen Narren gefressen. Dieses Gefühl beruhte auf
Gegenseitigkeit, aber wenn es um universitäre Angelegenheiten ging, kannte Pencroft kein Erbarmen. »Wenn diese Sache nicht so ungewöhnlich dringend wäre -« »Wann immer Sie mir einen Besuch abstatten, liegen handfeste Gründe vor«, erwiderte Pencroft sarkastisch. »Ich frage mich seit jeher, wie Scotland Yard auf die Idee verfallen ist, daß von der Regierung angeordnetes Herumschnüffeln wichtiger ist als Ausbildung und Forschung.« »Diese Angelegenheit ist von größerer Wichtigkeit als die täglichen Aufgaben, die Scotland Yard und« - Treadwell verdrehte die Augen - »diese ehrwürdigen Hallen, die in Efeu ersticken, zu bewältigen haben.« »Ah, wir sind heute also ein bißchen streitsüchtig, nicht wahr?« Pencroft lächelte. Es gab nur wenige Dinge, die dem Mann, den die Studenten den alten Meister der Archäologie nannten, mehr erfreuten, als ein Wortduell mit einem Gegenüber, das ihm ebenbürtig war. Auf der anderen Seite des Konferenztisches verfolgten Indy und die anderen das Wortgefecht begeistert. Indy hatte schon vor langer Zeit seinen Frieden mit Pencrofts verbalen Attacken gemacht. Ein »ungeschlachter Kultursnob mit einem äußerst feinen Gespür für alte Sprachen und Keilschriften, dem es unglücklicherweise an Manieren und elterlichen Vorbildern mangelte«, war Pencrofts Lieblingsbeschreibung für Indy. Trotz dieser harschen Worte verband die beiden Männer ein durch nichts zu trübender gegenseitiger Respekt. Indy hielt es für angebracht, sich an diesem Punkt in die Unterhaltung einzumischen. »Hören Sie ihn an, Sir William«, beteiligte Indy sich an dem Gespräch. »Falls Sie richtig hinschauen, werden Sie bemerken, daß sich Thomas´ Gesichtszüge geändert haben.« Pencroft beäugte Treadwell. »Er sieht genauso gewöhnlich und langweilig wie immer aus. Nein, nicht ganz. Das Alter macht ihn krank.« Dann wandte er sich an Indy. »Was, in Dreiteufelsnamen, soll das ganze Geschwätz?«
»Er sieht griechischer als früher aus«, antwortete Indy. »Ihre Bemerkung ist weder komisch noch einfallsreich«, schimpfte Pencroft. »Jetzt lassen Sie mal Ihre dummen Spielchen und -« »Sir?« Pencroft war es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden, wenn er gerade dabei war, Beleidigungen auszuteilen. Mit einem einzigen Wort gelang es Treadwell, ihn sozusagen aus der Bahn zu werfen. Diesen Moment der Verblüffung wußte Pencroft allerdings zu nutzen. »Ja, ja? Brauchen Sie die Erlaubnis, um aufs Klo zu gehen?« Er bog sich vor Lachen über seine Unverschämtheiten. Treadwell seufzte auf. Nein, er wußte, wo sich die Herrentoilette befand, und er brauchte den Raum nicht zu verlassen. Aber der fast mumifizierte Wissenschaftler im Rollstuhl war heute mal wieder in Höchstform. Und das war gut so, denn Treadwell war auf das hundertprozentige Verständnis und die Zusammenarbeit mit Pencroft angewiesen. Er dachte nicht im Traum daran, das Zimmer zu verlassen, ehe er sich Pencrofts Mithilfe versichert hatte. »Es gibt etwas von enormer Wichtigkeit, über das ich mit Ihnen sprechen muß«, begann Treadwell. Pencroft wandte sich an Indy. »Ich weiß, was Sie meinen, Professor Jones. Unser Freund von Scotland Yard hat tatsächlich etwas Griechisches in seinen Zügen.« »Worüber, zum Teufel noch mal, plappert ihr beide fortlaufend?« herrschte Treadwell die beiden ungeduldig an. Pencroft grinste. »Impertinent, nicht wahr?« »Nun, Sie kennen doch das alte Sprichwort, Sir William«, fügte Indy mit regloser Miene hinzu. »Trau nie einem Griechen, der Geschenke bringt.« Treadwell hätte Indy am liebsten vor Freude in die Arme geschlossen. Das war ein ganz hervorragender Schachzug gewesen, um die Unterhaltung zu eröffnen. Mit diesem Köder fiel es ihnen bestimmt leichter, Pencroft etwas abzutrotzen, was in seinen Augen auf eine Störung des universitären Ablaufs
hinauslief. Pencrofts Miene verriet ihnen, was in ihm vorging. Er zerbrach sich den Kopf, ob etwas, das für die Universität von Wert oder Nutzen sein konnte, von einer Bastion wie Scotland Yard kommen konnte, die für ihn nichts anderes als die Keimzelle institutionalisierter Schnüffelei war. Und genau auf diese Reaktion hatte Treadwell spekuliert. »Das Geschenk zeigt sich in Form eines Geheimnisses, Sir William«, beeilte er sich zu sagen. »Das gehört zu Ihren Talenten, Thomas«, erwiderte der alte Herr in sanfterem Tonfall. »Gold.« Die buschigen Augenbrauen wanderten nach oben. »Ich nehme an, Sie spielen auf das Edelmetall an?« »Ja.« Treadwell beschloß, Pencroft die Führung des Gesprächs zu überlassen. Schließlich hatte er den Köder geschluckt. Solch eine Gelegenheit würde Pencroft sich nie und nimmer entgehen lassen. Sein Charakter gebot ihm, mehr über die Sache zu erfahren. »In welcher Form, wenn ich fragen darf?« erkundigte Pencroft sich. »Über die Menge können wir nicht genau Auskunft geben, aber wir gehen davon aus, daß sie beträchtlich ist.« Nun war es Treadwell vergönnt, wieder den Scotland Yard Inspector zu mimen. »In Barren. Sehr wertvoll, ähm, Genaueres wissen wir nicht, aber vor sechzig bis achtzig Jahren belief sich der Wert auf eine Summe von achtzig Millionen Pfund.« Indy stieß einen leisen Pfiff aus. »Bist du sicher, Tom? Das wären ja vierhundert Millionen Dollar gewesen, und das vor sechzig oder siebzig Jahren. Heute würde das in etwa einem Wert von einer halben Milliarde gleichkommen.« »Und das ist nur der Wert des ungemünzten Goldes«, fuhr Treadwell, die Sachlichkeit in Person, fort. Er öffnete seine Aktentasche, legte einen Schnellhefter vor sich auf den Tisch und tippte darauf. »Es gibt auch noch Münzen. Falls wir uns auf unsere Informationsquellen verlassen dürfen, sind
sie aus reinem Gold geprägt. Woher sie stammen, ist fraglich. Aber darunter befinden sich in jedem Falle Münzen aus dem alten Rom. Das könnte den Wert noch steigern, weil der ursprüngliche Wert nichts ist im Vergleich zu dem historischen Wert, der unseres Erachtens unbezahlbar sein dürfte.« »Na, das war ja eine hübsche Rede«, sagte Pencroft leise. »Hat irgendwie den Anstrich historischer Fiktion.« »Das ist nicht der Fall«, gab Treadwell zur Antwort. »Nein, eine Karte wurde gefunden, auf der offenbar bestimmte geographische Details eingetragen sind, die den Fundort betreffen., Das heißt, jeder der im Besitz dieser Karte ist, kann den Schatz bergen.« Pencroft grunzte höhnisch. »Ich glaube kein Wort von dem, was Sie sagen. Und auch nicht an diese Karte. Sie sagen, es handelt sich um eine Kopie? Das ist doch alles nur Unfug! Eine Karte ohne Namen. Klingt mir ganz nach einer handfesten Sackgasse. Was kann man damit schon anfangen? Gerade Sie, Thomas, könnten doch wirklich mit einer plausibleren Geschichte aufwarten.« Damit hatte er Gales Zorn auf sich gezogen. Sie war schon im Begriff, sich von ihrem Platz zu erheben. Wie konnte er es wagen, Treadwells Worte anzuzweifeln, wie konnte er die Existenz der Karte anzweifeln und damit das, wofür sie stand? Damit beleidigte er in ihren Augen die St.-BrendanFamilie. Bevor sie etwas sagen konnte, legte Indy ihr die Hand auf den Arm. Sie drehte sich zu ihm um. Für einen Moment lang studierte sie sein Gesicht. Mit den Augen flehte er sie an, sich wieder zu setzen und kein Wort zu verlieren. Dann hatte er also noch eine Karte im Ärmel. Entweder das, oder - sie hätte fast laut aufgelacht - Sir William Pencroft zog eine Nummer ab, die im krassen Widerspruch zu seinem Alter und der ihm nachgesagten Senilität stand. Roberto Di Palma beugte sich vor und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. Sein Wangenmuskel hatte, während Pencroft sich über Treadwell lustig gemacht hatte, die ganze Zeit über heftig gezuckt. »Darf ich
etwas sagen?« fragte er Pencroft höflich. »Sie sind ja offensichtlich schon dabei«, lautete Pencrofts eisige Antwort. Aber der italienische Agent ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen. »Ich bin als Vertreter Seiner Heiligkeit hier. Ich spreche für den Vatikan.« »Das hat Castilano früher auch getan«, erinnerte Pencroft sich. »Und wenn ich richtig unterrichtet bin - kann er dieser Aufgabe nicht mehr nachkommen. Es sei denn, er spricht aus dem Grab zu uns.« »Er spricht sehr wohl, aber nicht aus dem Grab«, verriet Di Palma. »Und das bereitet ihm große Schwierigkeiten, denn der betreffende Herr muß immer noch Hauttransplantationen und andere chirurgische Eingriffe über sich ergehen lassen.« Treadwell wirbelte auf seinem Stuhl herum. »Filipo ... ist am Leben?« »Ja.« »Aber ... in jedem Bericht, den wir erhalten haben, stand, daß er bei der Explosion in Stücke gerissen worden ist -« Di Palma hielt die Hand hoch. »Er lebt. Genau wie Cordas. Aber er wird noch mindestens ein Jahr im Krankenhaus ausharren müssen.« »Warten Sie einen Augenblick.« Sie alle drehten ihre Köpfe Pencroft zu, der Di Palma fixierte. »Sie haben diesen Namen erwähnt. Cordas. Was hat er mit alldem zu tun? Es hieß doch, er sei tot.« Pencroft lehnte sich zurück und verschränkte die Finger unter dem Kinn. Und beantwortete seine Frage selbst. »Aber wenn Filipo Castilano überlebt hat, dann ...« Er zuckte mit den Achseln. »Was hat Cordas mit alldem zu tun?« »Lassen Sie mich das erklären«, schlug Treadwell vor. Er schilderte den Angriff auf St. Brendan Glen, das zügellose Morden, den Diebstahl der Karte. Und daß Caitlin St. Brendan geschworen hatte, den Mörder ihrer Mutter aufzuspüren. Widersprüchliche Gefühle spiegelten sich in Pencrofts Zügen. Er schaute zu Gale hinüber. »Caitlin ... Ihr Vater ist Kerrie. Dann sind Sie bestimmt -
natürlich. Die heilige Schwesternschaft. Sie und Caitlin.« Stocksteif saß Gale auf ihrem Stuhl. »Sir William, Sie überraschen mich mit Ihrem Wissen.« »Überschätzen Sie mich nicht, meine Liebe. Kerrie St. Brendan und ich waren zusammen bei den Royal Marines. Sechs Jahre lang, um genau zu sein. Nachdem ich verwundet wurde, verrieten mir die fähigsten Ärzte Englands, daß ich nie wieder würde gehen können. Eine Kugel hatte mich am Rückgrat getroffen. Scheußlich. Ich konnte mich nicht fortbewegen. Kerrie brachte mich in den Glen im New Forest. Dort verbrachte ich zwei Jahre. Sie verabreichten mir Unmengen von Kräutern und zwangen mich zu eigenwilligen Übungen. Dann, als ich gerade mal stehen konnte, stolpern war noch nicht drin, gaben sie mir dieses großartige Schwert.« Mit leuchtenden Augen erinnerte er sich an die Jahre, die so weit zurücklagen. Indy machte sich daran, die einzelnen Puzzleteilchen zusammenzusetzen, die Pencroft ihnen in den Schoß geworfen hatte. »Sir William«, sagte er. »Darf ich fortfahren?« »Womit fortfahren?« fragte Pencroft. Indy lächelte. »Ihnen und den anderen zu erzählen, was dann mit Ihnen geschah. Wie Sie die Fähigkeit zu gehen wiedererlangt haben.« »Professor Jones, Sie sind entweder verrückt oder ein Mensch, der Gedanken lesen kann. Vielleicht sogar beides, aber verrückt gefällt mir besser. Woher wollen Sie denn wissen -« Er schüttelte den Kopf. Indy blickte sich im Zimmer um. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. »Sie sagten, Sie konnten stehen, aber nicht gehen.« »Ja, das sagte ich«, fauchte Pencroft. »Und Sie übten mit dem Schwert. Schlugen damit auf Holz, auf Strohpuppen ein. Kämpften zum Training gegen Menschen. Anfänglich ganz langsam und vorsichtig.« Pencroft war die Kinnlade heruntergefallen. Er wollte etwas sagen, verkniff es sich aber.
»Die Scheide des Schwertes. Sie trugen die Scheide.« In-dys Bemerkungen waren knapp gehalten. »Die Scheide ... Sie sind Rechtshänder. Die Scheide war links an Ihrem Gürtel befestigt. Und schließlich konnten Sie wieder Ihr linkes Bein bewegen.« Pencroft hatte es fast die Sprache verschlagen. »Fahren Sie fort, fahren Sie fort«, flüsterte er. »Sie verstärkten das Training. Man riet Ihnen, alle Muskeln zu kräftigen. Ihren linken Arm öfter einzusetzen. Und dann trugen Sie die Scheide auf der rechten Seite und hielten das Schwert in der linken Hand. Und weil Sie so verfuhren und die Scheide auf der anderen Seite trugen, konnten Sie schließlich auch das rechte Bein wieder bewegen.« Indy schöpfte Luft. »Und von da an konnten Sie wieder so gut gehen wie früher. Ja, Sie konnten sogar wieder rennen.« Alle im Raum schwiegen. Es dauerte eine Weile, bis Pencroft sich äußerte. Seine Stimmung machte deutlich, daß Indy niemals wieder von dem Schwert und der geheimnisvollen Genesung des Sir William Pencroft sprechen durfte. Aber von da an verzichtete der alte Herr darauf, die Berichte über das Gold und die Karte, die den Besitzer zum Versteck führte, in Zweifel zu ziehen. Ohne daß sie ein weiteres Wort darüber verloren, begriff Pencroft, daß sowohl Indy als auch Gale um das Geheimnis von Caliburn und dessen Scheide wußten. Aus Furcht, für unzurechnungsfähig erklärt zu werden, hatte Pencroft dieses Geheimnis ein Leben lang gehütet. Und auch heute verspürte er nicht das Bedürfnis, daß jemand etwas von diesem Teil seiner Vergangenheit erfuhr. Es war höchste Zeit, sich dem Grund für das Erscheinen seiner Besucher zu widmen. Wieder beäugte Pencroft die Menschen, die sich in seinem Büro versammelt hatten. Roberto Di Palma war ihm bekannt. Das war keine große Kunst. Er war Geheimagent und bewegte sich in den höchsten Regierungskreisen Italiens. Darüber hinaus war er Mitglied der berühmt-
berüchtigten Sechshundert des Vatikans, einer Gruppe von Männern und Frauen, die als Agenten der Kirche fungierten und - falls nötig - als ihre Söldner. Niemand bestätigte die Existenz dieser Gruppe, aber dennoch gab es sie, wie all die anderen zahllosen Geheimbünde und fanatischen Vereinigungen auf dieser Welt. Welchen Unterschied machte es da, ob es noch einen mehr gab. Als Pencroft den Haitianer betrachtete, rissen alte Wunden auf. Er konnte einfach nicht verstehen, daß - Und dann fiel es ihm auf. Er entdeckte das Halsband, das LeDuc trug. Lange bevor das Alter und die müden Knochen ihn zwangen, sich nur noch in den Räumen der Universität aufzuhalten, war Pencroft so etwas wie eine frühere Ausgabe von Professor Jones gewesen, ein Mann, der in die geheimen Zirkel und Orden der Welt eindrang. Er hatte nicht nur geheime Stammesriten und Zeremonien beobachtet, sondern sich auch den unterschiedlichsten Gruppen angeschlossen, wenn die Möglichkeit sich bot. Und während solch einer Gelegenheit hatte er eine dieser Ketten gesehen. In Haiti, vor vielen Jahrzehnten. Ein Hexendoktor hatte ihm eines dieser Dinger um den Hals gelegt. Bevor die Nacht der Dämmerung wich, spürte er während eines Marsches durch den Dschungel Vibrationen in seinen Halsmuskeln und Sehnen. Urplötzlich schloß sich die Halskette zusammen, ein Vorgang, der ihm Schmerzen bereitete und zu einer Art physischem Schock führte, der ihn zurückwarf. Gerade noch rechtzeitig, wie sich herausstellte, denn eine Schlange kreuzte seinen Weg. Falls dieser LeDuc Treadwells privatem Kreis angehörte, dann füllte er bestimmt die Rolle einer Art menschlichen Alarmanlage aus. Und falls die Suche nach dem Gold sie auf gefährliches Terrain führte, war er vielleicht derjenige, der ihr Überleben sichern konnte. Seltsam, schoß es Pencroft durch den Kopf. Ein Lächeln verstärkte die Furchen und Falten in seinem Gesicht. Ich habe dieses Spiel doch auch mal gespielt. Und ich weiß mehr über das Gold als sie alle zusammen.
Der alte Mann gab der Schwester ein Zeichen. »Sublevel vier«, trug er ihr laut genug auf, daß die anderen es hören konnten. »Im Keller.« Er drehte sich zu seinen Gästen um. »Folgen Sie mir«, verkündete er. Seine Betreuerin schob ihn vorsichtig die vielen Rampen hinunter, die ins vierte Kellergeschoß führten. Vor vielen Jahren, in einem anderen Zeitalter, in einer anderen Zeit, als in Amerika geschossen, gebrandschatzt und getötet wurde, hatte man heimlich Gold und Juwelen im Wert von hunderten Millionen Pfund in dieses Land geschafft, in das seine Gäste bald aufbrechen würden.
Stumm sahen sie mit an, wie Pencroft sich in seinem Rollstuhl nach vorn beugte und sich an der Safekombination zu schaffen machte. Sie hörten das Drehen der Metallscheibe und das Klicken der Stahlbolzen, die langsam zurückfuhren. Die Tür war zu schwer, als daß der geschwächte Pencroft sie öffnen konnte. Er wandte sich an Indy. »Professor Jones, falls es Ihnen nichts ausmacht, könnten Sie mir zur Hand gehen? Reichen Sie mir die Metallkiste vom mittleren Regal und legen Sie sie auf den Tisch hinter mir.« Er drehte den Rollstuhl. »Bitte nehmen Sie doch am Tisch Platz. Martha, schließen Sie die Tür dieses Raumes.« Am Tisch sitzend, beobachteten sie, wie Pencroft vergilbte Dokumente aus der Metallkiste nahm. Er legte sie ordentlich vor sich auf der Tischplatte aus, ließ eine Hand auf den Papieren ruhen und nahm sich die Zeit, jeden einzelnen von ihnen sorgfältig zu studieren. »Meine Herren, Miss Parker, ich möchte Sie bitten, das, was Sie jetzt hier erfahren werden, mit niemandem außerhalb dieses Raumes zu besprechen. Mr. Di Palma, Mr. Le-Duc, obwohl ich über Ihren Hintergrund nicht ausreichend informiert bin, genügt mir die Tatsache, daß Mr. Treadwell Sie mitgebracht hat, als Garantie.« Beide Männer nickten zustimmend.
Pencroft schöpfte Atem. »Dann will ich gleich auf den Kernpunkt zu sprechen kommen. Die Geschichte, die Sie über das versteckte Gold gehört haben, entspricht der Wahrheit.« Sanft klopfte er mit der Hand auf die Papiere. »Das hier ist die Dokumentation, die vollzählige Auflistung der Goldbarren und« - nun streifte sein Blick Di Palma - »der Münzen, an denen der Vatikan ein so reges Interesse zeigt. Um Ihre Neugierde zu befriedigen, möchte ich Ihnen verraten, daß das Gold lange Zeit hier in dieser Kammer aufbewahrt wurde.« Einmal abgesehen von Pencrofts Ausführungen, war in dem Kellerraum nur das Schnaufen der andächtig lauschenden Besucher zu hören, die an den Lippen des alten Mannes hingen. »Die Goldbarren gehörten größtenteils zwei Gruppen. Eine davon ist das Museum Council von Großbritannien, die sich ihren Anteil mit unserer Regierung teilte. Meiner Meinung nach liegt es auf der Hand, daß die Bank von England als Ratgeber und Repräsentant gegenüber dem internationalen Bankenverbund auftrat. All das hat im Augenblick keine große Bedeutung, aber ich finde, daß Sie darüber informiert sein sollten, um zu verstehen, wo das Gold und die Münzen entdeckt wurden, ehe sie, ähm, gestohlen wurden. Das dürfte wohl der passende Ausdruck dafür sein.« »Gestohlen?« wiederholte Di Palma. »Im weitesten Sinne«, erwiderte Pencroft. »Ich glaube nicht, daß ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Treadwell. »Um genauer zu sein, das Gold wurde erpreßt, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Ein besseres Wort fällt mir leider gerade nicht ein.« »Stammte es von hier?« fragte Treadwell. »Ich meine, aus diesem Raum, oder wurde es in einem Museum ausgestellt?« Pencroft schüttelte bedächtig den Kopf. Er begann zu husten. Seine Zuhörer warteten geduldig, während ihm seine Krankenschwester etwas Hustensirup verabreichte. Er tupfte seinen Mund ab. »Verzeihen Sie. Das Alter fordert seinen Tribut. Ich muß mich so knapp wie möglich fassen.«
»Im Jahr 1863, also vor Sechsundsechzig Jahren, hatte England schwer unter dem Krieg zu leiden, der in den Vereinigten Staaten ausgetragen wurde.« Er lächelte Indy zu. »Sie werden mir hoffentlich verzeihen, daß ich den Ausdruck ›Bürgerkrieg‹ verwende für das, was so oft als Krieg zwischen den Staaten bezeichnet wurde.« »Oder«, warf Indy ein, »Yankee-Aggression.« »Die Union errichtete eine undurchdringliche Blockade der Südstaatenhäfen und sorgte mit zahlreichen Schlachten dafür, daß die konföderierten Staaten nicht in der Lage waren, ihre Baumwolle über den Atlantik zu verschiffen, die in den Baumwollspinnereien dieses Landes weiterverarbeitet wurde. England machte eine wirtschaftliche Depression durch. Überall wurden Spinnereien geschlossen, weil es an Material für die Verarbeitung fehlte. Die Rezession hing wie eine dunkle Wolke über unserem Land.« »Zu jener Zeit gelang es Vertretern von Präsident Jefferson Davis, die Blockade der Union zu durchbrechen und mit uns in Kontakt zu treten. Sie trafen sich heimlich mit unserer Regierung und handelten eine Vereinbarung aus, die sowohl für England als auch die amerikanischen Konföderierten vorteilhaft war. England willigte ein, den Krieg finanziell zu unterstützen. So einfach ist das gewesen. Wir belieferten die Konföderierten nicht nur mit dringend benötigten Vorräten und Waffen, sondern auch mit ausreichend Geld. Auf diese Weise konnten Davis und seine Leute von anderen Regierungen das kaufen, was sie zum Sieg über den Norden brauchten.« »Sie wissen sicherlich, daß konföderiertes Geld auf dem Weltmarkt nicht akzeptiert wurde. Die einzige Währung, die der Konföderation das sicherte, worauf sie angewiesen war, war Gold. Im Gegenzug wollte Großbritannien eine Flotte Kriegsschiffe und Frachter in die Häfen der Vereinigten Staaten senden - nachdem der Süden seine militärische Struktur gefestigt hatte - und Baumwolle in großen Mengen nach England überführen. Diese Vereinbarung
beinhaltete Exklusivrechte, die England gewährt wurden. Hatte sich die Konföderation durchgesetzt, sollten nur wir Baumwolle aus Amerika kaufen dürfen. Die Vereinigten Staaten hätten sich in zwei Nationen aufgespalten, und wir hätten in der Folge den Welthandel, was Textilien betraf, beherrscht. Das war der Plan.« »Und darum wurden das Gold, das ungemünzte Gold und die Münzen Pencroft blickte wieder zu Di Palma hinüber - »heimlich von diesem Museum in einen Hafen an der Westküste Englands gebracht, in ein Gebiet, das der Öffentlichkeit nicht zugänglich war und die meiste Zeit über schwer bewacht wurde. Um ehrlich zu sein, die Regierung sorgte dafür, daß das Gebiet abgesperrt wurde. Alle Straßen wurden blockiert, Einheiten bewaffneter Schützen mit Hunden hielten auf den Bergen Wache und kleine, aber schnelle Kriegsschiffe patrouillierten vor der Küste.« »Sir«, unternahm Indy den Versuch, Pencrofts Erzählung zu unterbrechen. Er wußte ganz genau, wie gefährlich das lange Sprechen für die Lungen des alten Herrn war. Pencroft erlaubte ihm, den Faden aufzunehmen. »Gab es einen Hinweis darauf, daß Mr. Lincolns Agenten, beziehungsweise die Union, von der Vereinbarung Wind bekommen hatten?« wollte Indy erfahren. Pencroft lächelte. »Was ihr Spionagesystem anbelangte, waren die Yankees mehr als ausgeschlafen. Sie wußten natürlich, daß etwas im Gang war -« »Warten Sie! Jetzt erinnere ich mich«, mischte Treadwell sich plötzlich in die Unterhaltung ein. »Das ist in den Berichten der Admiralität nachzulesen. Ein Schiff unter niederländischer Flagge ging in Flammen auf, nachdem es aus diesem so stark bewachten Hafen ausgelaufen war. Sie schickten noch einen Notruf. Schossen sogar mit Kanonen, um auf sich aufmerksam zu machen.« Di Palma lachte laut, aber ohne Humor. »Und die Briten sind zweifellos zu Hilfe geeilt. Auch wir sind über einige dieser Ereignisse informiert.« »Was ist so ungewöhnlich an einem niederländischen Schiff in Not?«
fragte Gale. »Ach, Madame!« Di Palma verdrehte die Augen. »Die Flagge war niederländisch, na gut. Aber als die Retter, die nichts anderes wollten, als Leben zu retten und dafür den Lohn einzustreichen, das Schiff erreichten, was, glauben Sie, haben sie da vorgefunden? Sicherlich eine niederländische Flagge. Aber« - er machte eine theatralische Geste - »ich bin mir sicher, daß sie feststellen mußten, daß die Besatzung aus Amerika stammte. Und daß der Rauch aus einem riesigen Kessel kam, in dem benzingetränkte Lappen verbrannt wurden. Buchstäblich viel Rauch um nichts. Es bestand keinerlei Gefahr. Nie.« Seufzend lehnte er sich zurück. »Die gleiche Nummer haben wir des öfteren mit den Franzosen und Spaniern abgezogen. Das ist ein altes Spiel.« »Aber in diesem Fall«, fuhr Treadwell an seiner Stelle fort, »sind unsere Leute drauf gegangen. Ein isolierter Hafen an unserer Atlantikküste, und von diesem Hafen geht eine Streitmacht aus, die so stark ist, daß unsere Deckung auffliegt, wie die Amerikaner gern sagen.« Kichernd kehrte Pencrofts Blick zu Indy zurück. »Frage beantwortet?« Indy nickte. »Also bevor das Gold England verließ -« »In einem Kriegsschiff, von Kriegsschiffen umgeben«, beendete Pencroft den Satz für ihn. »Und umgeben von kleineren Booten, die einen schützenden Ring bildeten.« »Die Marine der Union hätte also ausreichend Zeit gehabt«, sinnierte Indy, »gegen die britische Marine vorzugehen?« Pencroft murrte. »Wir glauben nicht, daß das im Bereich des Möglichen gewesen wäre.« »Warum nicht?« fragte Gale. »Ein Angriff auf eine so formidable Streitmacht«, gab Pencroft zu bedenken, »hätte eine ebenso gewaltige Streitmacht auf Seiten der Yankees erforderlich gemacht. Und das wäre ein Akt unverhohlener Aggression gewesen. Zu viele Regierungsführer in London wünschten sich so ein Szenario von Herzen.
Besiegt den Norden durch eine Allianz mit den Konföderierten, sichert die konstante Belieferung der Textilindustrie und helft der Konföderation, den Norden zu besetzen und die Industrie und die Rohstoffe zu plündern.« Wieder zwang ihn sein Husten, innezuhalten und mit dem Taschentuch die roten Tupfen vom Mund zu wischen. »Die Geschichte verfügt manchmal über einen ihr ganz eigenen Sinn für Humor. Wir verlieren die Kolonien an die unter Washington kämpfenden Rebellen, und dann versuchen wir, den Norden zu einem Kampf zu bewegen, in dem wir uns auf die Seite der Südstaaten schlagen.« »Und was geschah mit dem Gold?« wollte Di Palma wissen. »Das, mein lieber Freund«, erwiderte Pencroft, »ist eine Frage, auf die es seit dem Jahre 1863 keine Antwort gegeben hat.« » Sie wollen damit sagen, daß ... das ungemünzte Gold und die Münzen einfach verschwanden!« »Falls ich das sagen darf, so einfach ist das nicht gewesen.« Pencroft zuckte ratlos mit den Achseln. »Doch die Antwort lautet, wir wissen es nicht.« Er wandte sich an Gale Parker. »Ist Ihnen jemals die Karte unter die Augen gekommen, um die sich unser Gespräch die ganze Zeit dreht - ich meine, vor längerer Zeit, nicht erst in den letzten Tagen?« fragte er. Gale schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich weiß auch nicht, wie dieser Cordas etwas über die Karte in Erfahrung gebracht hat. Oder wo sie während der vergangenen Jahre aufbewahrt wurde.« Indy deutete auf die auf dem Tisch liegenden Dokumente. »Sir William, ist das eine Aufstellung des Goldes?« Pencroft schob die Papiere in die Mitte des Tisches. »Werfen Sie einen Blick darauf, falls es Sie interessiert.« Treadwell blieb sitzen. »Diese Papiere sind doch nur Dokumente der Vergangenheit. Was jetzt zählt, ist Cordas. Falls es ihm gelingt, die Karte zu entschlüsseln, können wir getrost davon ausgehen, daß er sich sofort daranmachen wird, das Gold aufzuspüren.«
»Aber er braucht eine Menge Leute, um das, was er finden wird, von Ort und Stelle zu schaffen. Wir sprechen schließlich von Tonnen von Gold«, gab Indy zu bedenken. »Einmal abgesehen von den Münzen«, warf Di Palma ein. »Sie sind unbezahlbar.« »Also, dann müssen wir Cordas finden«, sagte Indy laut. »Alles andere zählt nicht. Hier haben wir die Bestätigung, daß das Gold existiert. Daß es aus England weggebracht wurde, daß es auf dem Weg nach Amerika war und dann -« Er warf die Arme hoch. »Puff. Aus und vorbei!« »Und Cordas ist ebenfalls verschwunden«, fügte Treadwell hinzu. »Und Caitlin«, flüsterte Gale. Alle Köpfe im Raum wandten sich ihr zu. »Was?« Mehr Worte brachte der überraschte Treadwell nicht über die Lippen. »Sie meinen damit Kerrie St. Brendans Kind?« fragte Pencroft. »Kein Kind. Eine Frau. Eine Kriegerin«, antwortete Gale mit ernster Miene. »Selbstverständlich.« Pencrofts Stimme war kaum zu verstehen. »Der Schwur des Glen. Sozusagen die Vergeltung für ein Leben eines Mitgliedes ihres Klans.« Seine Miene verriet Besorgnis und Trauer. »Ich fürchte um ihr Leben«, sagte er zu Gale. »Fürchten Sie um Cordas´ Leben«, riet Gale ihm. »Das«, mischte Treadwell sich ein, »ist eine kaum zu bewältigende Aufgabe.« »Sie kennen Caitlin nicht«, erwiderte Gale. »Dann muß ich sie finden«, meinte Indy und zog damit die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. »Und wieso gerade Sie?« wunderte Pencroft sich. »Das ist nicht Ihre Sache. Sie sind hier, um zu lehren!« »Ich weiß nicht, warum, Sir«, sagte Indy, ebenso verblüfft über sich selbst wie die anderen. Alle, mit Ausnahme von Gale, dachte er, ohne seine
Vermutung zu äußern. »Irgendwie scheine ich zu alldem nicht viel zu sagen zu haben. Es ist geradeso, als ob ich von ihr angezogen würde. Hören Sie, Sir Pencroft, falls die vage Möglichkeit besteht, daß sie Cordas finden wird, und ich vielleicht dabei bin -« »Ware das unsere einzige Chance, wieder in den Besitz der Münzen zu kommen?« schloß Di Palma sichtlich erregt. »Es würde der Bank von England auch nicht gerade schaden, wenn sie das ungemünzte Gold zurückerhielte«, sagte Treadwell, wobei er an Pencroft dachte. »Und diese Universität würde in dem Fall bestimmt berühmt dafür werden, daß sie das ermöglicht hat.« »Und uns zu Idioten abstempeln, falls Indy umkommt, während er eine Mörderbande verfolgt, ist es nicht so?« schnaubte Pencroft wütend. Indy seufzte. »Dann werde ich meine Stelle aufgeben, Sir William. Auf diese Weise verhindere ich, daß die Universität Schaden trägt.« »Oder Ruhm erfährt«, beeilte Treadwell sich anzumerken. »Und der Vatikan wäre Ihnen bestimmt mehr als dankbar«, bot Di Palma an. Pencroft faltete die Hände im Schoß. »Indy?« Nur selten sprach er Professor Henry Jones so an. »Haben Sie sich das reiflich überlegt?« »Ja, Sir. Möglicherweise bin ich ein Dummkopf -« »Daran besteht kein Zweifel«, sagte Pencroft kalt. »Wir verschwenden hier unsere Zeit«, sagte Indy zu Gale. »Wir müssen Caitlin begleiten, weil -« »Sie ist schon weg«, informierte Gale ihn. Schweigen machte sich breit. Keinem war wohl in seiner Haut. Indy trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Wohin?« »Hinter Cordas her.« »Das habe ich mir schon gedacht«, verriet er ihr. »Aber wann?« »Indy, ich kann dir nur sagen, daß sie Cordas folgt. Und daß keiner von uns sie erkennen wird. Sie ist eine Meisterin, was Verkleidung betrifft. Und
du hast schon mitbekommen, über welche Kräfte sie verfügt.« Treadwell sprang von seinem Stuhl auf. »Du verschwendest deine Zeit.« Dann wandte er sich an Pencroft. »Sir, ich möchte mich entschuldigen. Und mich bei Ihnen bedanken, auch im Namen von Scotland Yard, für die Unterstützung, die Sie uns heute abend gewährt haben.« »Sie sind ein Lügner, Thomas. Ich habe Ihnen nichts, aber auch gar nichts verraten, was Sie nicht eh schon wußten.« Treadwell wandte sich nun an Indy und Gale. »Ich schlage vor, daß ihr mich begleitet.« Dann, an Di Palma gewandt: »Ich wäre Ihnen und LeDuc sehr verbunden, wenn Sie in Ihr Hotel zurückkehren würden, damit ich mich später mit Ihnen in Verbindung setzen kann.« Beide Männer nickten. Zusammen mit Indy und Gale verabschiedete Treadwell sich. Als sie weg waren, richtete Di Palma eine Frage an Pencroft. »Wissen Sie, wohin sie unterwegs sind?« Der alte Mann lachte trocken. Ein heimtückisches Lächeln umspielte seinen Mund. »Aber sicher doch.« »Und wohin sind sie unterwegs, Sir?« Pencroft schlug sich aufs Knie. »Sie sind doch der Geheimagent, mein Freund. Sie werden das schon rausfinden.«
ZEHN Indy streckte Gale die Hand hin. Sie wechselten kein Wort. Im Lauf der Jahre hatten sie gelernt, die Stimmungen und Bedürfnisse des anderen an der Miene und Körpersprache abzulesen. Gale nickte. Einen Augenblick lang zögerte sie und ließ zum zweiten Mal ihren Blick durch den höhlenartigen Raum schweifen, in dem sie, Indy, Treadwell und eine unbewaffnete Gruppe Männer und Frauen sich versammelt hatten. Daß diese Gesichter ohne Namen erstklassig ausgebildete Profis aus den hohen Rängen des MI5 waren, dem militärischen Abschirmdienst Großbritanniens, ahnte Gale. Der Raum hatte offenbar die Fähigkeit, alle Geräusche zu dämpfen. In so einem großen Saal hallte normalerweise jedes Wort, jede Bewegung wider. Aber die Wände und die Decke schluckten Geräusche wie ein lebendiges Wesen, das gierig jeden Ton fraß, der sich hier breitmachte. Außerhalb dieses kryptographischen Bereichs des MI5 konnte kein Wort von dem verstanden werden, was hier gesprochen wurde. Besonders die Fenster entlang der Wände faszinierten Gale. Es bedurfte eines scharfen Auges, um zu erkennen, daß die Fenster nicht echt waren. Sie bestanden zwar aus Holzrahmen, Metall und Glas, aber man konnte nicht durch sie hindurchsehen. Gale erkannte den Schwindel, denn sie verfügte über die Augen einer Jägerin. Nun streckte Indy seine Hand aus. Es gab nur eine Sache, die Indy hier von ihr verlangen konnte, darum bestand keine Notwendigkeit, darüber ein Wort zu verlieren. Sie griff in ihre Lederjacke, öffnete eine Innentasche und zog ein gefaltetes ledernes Pergament heraus, das sie seit Tagen bei sich trug. Indy breitete das Pergament auf dem Tisch unter den
großen Lampen aus. Treadwell gab seinen Leuten ein Zeichen. »Treten Sie näher, meine Damen und Herren«, bat er sie. »Ich weiß sehr wohl, daß Sie schon Bescheid wissen«, sagte Indy, »aber ich möchte trotzdem noch mal erwähnen, daß auf dieser Karte keine Namen, keine Koordinaten eingetragen sind.« »Bemerkenswertes Rätsel«, rief ein Mann. »Ja, das ist es. Ihre Aufgabe ist einfach. Treadwell hält Sie für die Besten Ihres Berufsstandes. Sie müssen also nur die Oberflächenmerkmale, die Küste, die Flüsse, wie auch immer, erkennen und einem Land oder Gebiet zuordnen.« »Ist das alles?« fragte jemand ungläubig. »Es dürfte leichter sein, im Dunkeln ein Puzzle zusammenzusetzen, als dieser Aufgabe gerecht zu werden, Sir.« »Indy streckte sich. »Das ist nicht so schwierig, wie es auf den ersten Blick hin aussehen mag.« »Ach nein?« riefen ein paar von Treadwells Leuten laut. »Keine Namen, keine Städte, nichts, nur diese Linien.« »Hören Sie, ich bin kein Kartograph«, merkte Indy schnell an. »Aber ich habe etwas Erfahrung mit Karten und Tabellen. Das lernt man, wenn man sich mit Ausgrabungen beschäftigt.« Er beugte sich vor und zeichnete mit dem Finger eine Linie auf der Karte nach. »Aber hier gibt es Hinweise. Das hier ist ganz offensichtlich eine Küste.« Er tippte auf das Pergament. »Die Karte sagt uns nicht, wo Norden und Süden liegen, darum kann man nur raten. Aber ich finde, wir dürfen getrost annehmen, daß derjenige, der die Karte erstellt hat, sich an die Regeln gehalten und Norden nach oben gelegt hat.« »Nun, Sir«, wandte ein Mann ein, »falls das so ist, haben wir es hier mit einer Westküste zu tun.« »Wo immer die liegen mag«, murmelte jemand anderer. »Na gut, wir haben also eine Küste, und zwar eine Westküste. Was noch?«
»Was können Sie uns noch verraten, Sir?« Indy schaute auf und grinste. »Falls ich Ihnen sagen würde, daß sie in den Vereinigten Staaten liegt, würde Ihnen das weiterhelfen?« Treadwell widerstrebte Indys Schlußfolgerung. »Das weißt du nicht, Indy, und -« »Nein, warte mal, Tom«, unterbrach Indy ihn. »Das hier sind die besten Kartographen Englands, nicht wahr?« Jemand lachte. »Hoho.« »Könnte diese Küste irgendwo auf den Britischen Inseln zu finden sein?« Die Männer beugten sich vor und unterhielten sich miteinander. Ein kurzgewachsener Mann mit Stoppelbart stand auf und sah Indy an. »Auf gar keinen Fall, Sir. Das ist weder in Schottland noch Irland oder sonstwo im Vereinigten Königreich. Da bin ich mir sicher.« Indy schaute sich um. »Gibt es Einwände?« Sie schüttelten den Kopf. »Na gut, dann wollen wir mal annehmen, daß es die Vereinigten Staaten sind und das Jahr, in dem die Karte angefertigt wurde, liegt irgendwo zwischen 1863 und 1870.« Jemand stieß einen langen leisen Pfiff aus. »Mr. Treadwell, Sir, will dieser Yankee uns zum Narren halten, daß er hier mit dieser Karte auftaucht?« Treadwell lachte. »Meine Herren, es ist ihm todernst. Aber ich weiß, was Sie meinen.« Nun wandte er sich an Indy. »Küstenlinien verändern sich in einem Zeitraum von fünfzig bis sechzig Jahren. Wie auch Flüsse ihren Verlauf ändern.« Indy nickte. »Aber so sehr doch auch wieder nicht. Hilft es Ihnen weiter, meine Herren, wenn ich vorschlage, daß Sie sich erstmal den Süden der Vereinigten Staaten ansehen? Bringt Sie das weiter?« »Das werden wir noch sehen«, erwiderte jemand. »Nun, Sie haben einen bestimmten Zeitraum, eine ungefähre Vorstellung der Region und« - Indy kratzte sich gedankenverloren am Kinn, ehe er fortfuhr. »Und vor diesem Gebiet entlang der Küste, hm, muß es große
Wassertiefen geben, etwa dreißig bis sechzig Meilen vom Festland entfernt. Es muß nicht unbedingt einen Hafen geben, aber man müßte draußen mit einem Schiff vor Anker gehen können und noch genug Platz haben für kleinere Boote, die Fracht an Land transportieren.« »Sie kennen nicht zufälligerweise den Namen von einem oder zwei dieser Boote, oder?« Die Frage war nicht sonderlich komisch. Indy lachte trotzdem. »Heute nicht.« Dann wurde er wieder ernst. »Tom, weißt du, er hat recht. In der Admiralität müßten doch alle Schiffsnamen registriert sein, und wir können -« »Ich bin dir um einiges voraus, mein Freund. Wir werden diese Berichte jede Minute kriegen. Es wird einige Zeit dauern, aber ich denke, wir sind auf der richtigen Spur.« Treadwell wandte sich an seine Männer. »Zerbrechen Sie sich die Köpfe, meine Herren. Was immer Sie rausfinden werden, hinterlassen Sie bitte sofort Nachricht in meinem Büro. Tag und Nacht.« Sie fuhren zu Treadwells Lieblingspub in London. Das war ein Treffpunkt für diejenigen, die gutes Essen, gutes Bier und ein Höchstmaß an Privatsphäre suchten. Hogsbreath Inn stand auf einem großen, an Ketten baumelnden Schild, auf dem ein besonders häßliches Wildschwein zu sehen war. Neben dem großen Barraum hatte der Pub auch noch einige Privatzimmer, die nur über einen entlegenen langen Flur zu erreichen waren. Willy Consers war der Besitzer des Pubs, und er betrieb es länger, als Treadwell sich erinnern konnte. Der Mann genoß die Patronage des Yards. Vor Gericht hatte sich das schon des öfteren als Vorteil erwiesen, vor allem, wenn einer seiner Gäste zu große Mengen Bier getrunken und dann über einen anderen Gast hergefallen war, ehe die patrouillierenden Bobbies in die Kneipe schauten und den Streit schlichteten. Consers begrüßte Treadwell wortlos, sah, daß der Inspector eine Augenbraue hochzog, und führte ihn und seine beiden Begleiter umgehend den Flur hinunter und eine enge Treppe hoch in einen abgeschiedenen
zweiten Speisesaal. »Ich werde euch gleich Molly schicken«, versprach er und ging weg. »Molly ist seine Frau«, erklärte Treadwell, während er es sich in einem gepolsterten Sessel bequem machte. »Sehr diskret und dabei schwerhörig.« Sie warteten, bis man ihnen Krüge mit Bier und Shepherd´s Pie servierte. Dann schloß Treadwell die Tür von innen ab. »Wir können nun in aller Ruhe speisen und die Einzelheiten durchsprechen«, sagte er. »Ich bin hungrig wie ein Wolf«, gestand er ihnen und machte sich über sein Essen her. Gale und Indy folgten seinem Beispiel. Nach dem Essen schob Treadwell seinen Sessel vom Tisch weg und zog ein Pfeife heraus. »Stört es Sie, wenn ich rauche?« fragte er Gale. »Keineswegs. Nur zu.« Der Kneipenbesuch war eine angenehme Abwechslung. Von einer Rauchwolke eingenebelt, studierte Treadwell Gale. »Ich brauche als erstes eine Bestätigung, daß sich Caitlin St. Brendan tatsächlich auf den Weg gemacht hat.« »Das hat sie«, sagte Gale. »Wohin ist sie gegangen?« »Das weiß ich nicht. Noch nicht«, antwortete sie. »Aber wenn Caitlin soweit ist, wird sie es mich wissen lassen.« »Meine nächste Frage mag Ihnen ja ein wenig neugierig vorkommen, aber wird sie - ähm - ihre besonderen Talente einsetzen, um -« Gale brach in Gelächter aus. »Das hat nichts mit Zauberei zu tun, Thomas. Und auch nicht mit Telepathie. So talentiert sind wir nun auch wieder nicht. Aber auch Hexen - und es gibt sie auf der ganzen Welt - müssen miteinander in Verbindung treten. Es kann nicht schaden zu wissen, was sich in den verschiedenen Ländern tut. Und außerdem gibt es im Glen einen leistungsstarken Kurzwellensender. Wenn die Notwendigkeit besteht, sensible Informationen auszutauschen, verwenden die Personen, die diese Sender bedienen, eine der alten Sprachen. Jeder, der reinhört, hört nur
sinnloses Gebrabbel.« »Äußerst klug, ja wirklich«, sagte Treadwell anerkennend. »Und welche Mittel der Informationsübertragung stehen Ihnen noch zur Verfügung?« »In bestimmten Gegenden Brieftauben.« »Toll.« »Kuriere. Und auch Telegramme, natürlich verschlüsselt. Es gibt dort draußen in der Welt eine Menge Magie, Thomas. Nichtsdestotrotz nutzen wir die modernsten elektronischen Geräte, die es auf dem Markt gibt.« »Das sehe ich«, sagte Treadwell. »Mir ist aufgefallen, daß Sie das Telefon nicht erwähnt haben.« Gale lachte. »Das behalte ich Indy vor. Er kann es nicht ausstehen, wenn bei ihm mitten in der Nacht Tauben ans Fenster klopfen.« »Du und Gale, ihr habt sicherlich vor, Caitlin zu folgen. Das nehme ich wenigstens an, aber ich möchte es von euch persönlich hören.« Indy nickte. »Aus all den Gründen, die du schon gehört hast, Thomas.« »Wir können miteinander Verbindung halten und zwar auf die Weise, wie wir es damals gemacht haben, während dieser wilden Verfolgung der Scheiben und des riesigen Zeppelins. Ich meine damit, transatlantische Telegramme und Kurzwellenübermittlungen, die direkt an mein Büro weitergeleitet werden.« »An welches? An das beim MI5 oder beim Yard?« »Die Leute kennen mich als Inspector von Scotland Yard. Soviel ist mal sicher. Aber alles geht durch die Kanäle des MI5. Und falls die Nachricht heikel ist, wird sie dort für mich verwahrt, sozusagen. Anderenfalls wird sie umgehend in den Yard gebracht, wo ich, wie du gerade gesagt hast, auch ein Büro habe.« »Ich werde dich melken müssen, Tom. Ich brauche deine Kontakte, vielleicht sogar Druck von Seiten der Regierung. Und Geld. Wir wissen nicht, womit wir es zu tun kriegen, und darum wissen wir auch noch nicht, was und wieviel wir brauchen werden.«
»Ich werde euch für den Anfang einen beachtlichen Kreditbrief bei der Bank von England besorgen«, versprach Treadwell. »Und verschlüsselte Zahlenkodes, damit man euch, wann immer ihr es braucht, Geld überweisen kann. Und Indy, ich kann euch am besten unterstützen, wenn ich jeden Tag über euer Tun informiert werde.« Indy zuckte mit den Achseln. » Ich werde mich darum bemühen.« Er setzte sich aufrecht hin und beugte sich über den Tisch. »Eine Frage, Thomas.« »Ich stehe dir zu Diensten.« »Nach alldem, was geschehen ist, und nach dem, was du gesehen und erlebt hast, sag mir, ob du die Magie inzwischen als real ansiehst?« Dem Inspector kam ein humorloses Lachen über die Lippen. Er kratzte seine Pfeife aus, zündete sie wieder an und blies eine Rauchwolke in die Luft. »Erst vor kurzem bin ich an einem Ort gewesen«, begann er langsam, »wo die Menschen die Zeit oder das, was wir Zeit nennen, manipulieren, als handle es sich dabei um eine Substanz, die sie in jede ihnen wohlgefällige Form bringen könnten. Und das bringt einen normalen Mann schon etwas aus der Fassung, wenn ich das mal so sagen darf.« »Und wenn du eins bist«, erwiderte Indy grinsend, »dann doch wohl normal.« »In meinem Beruf ist das eine Notwendigkeit«, konterte Treadwell schlagfertig. »Und dennoch bin ich gezwungen, die Realität dessen, was ich erlebe, gegen meine Skepsis aufzuwiegen. Das Konzept Zeit verstehe ich im Grunde genommen nicht wirklich. Ich weiß nicht, ob das überhaupt jemand tut. Aber ich weiß, daß man mit bestimmten Kräften oder Energien arbeiten, sie sich zunutze machen kann, auch wenn man sie nicht begreift.« »Wie beispielsweise Erdanziehungskraft?« schlug Gale vor. »Ganz genau. Wir wissen, was sie bewirkt, wir sind in der Lage, ihre Auswirkung und Kraft zu messen, aber - entschuldigen Sie, falls ich
großspurig klinge«, sagte Treadwell mit ernster Miene, »keiner weiß, was Erdanziehungskraft ist.« »Ein Punkt für dich«, lobte Indy ihn. »Die Astrophysiker in Princeton unterhalten sich liebend gern über die Schwerkraft, aber nach einiger Zeit sitzen sie nur noch da und brüllen sich gegenseitig an.« »Nun, laß uns wieder über den Glen sprechen. Ich habe dir gesagt, daß ich einen Großteil meiner Kindheit und Jugend in der Salisbury Plain verbracht habe. Ich bin des öfteren im New Forest auf die Jagd gegangen, habe Freundschaft mit den Romas geschlossen. Orte wie Stonehenge waren Spielplätze für mich. Man könnte das jugendliche Überschwenglichkeit nennen. Und dann konnte ich mit eigenen Augen beobachten, was diese ungewöhnliche junge Frau, Caitlin, tat... na, du bist ja dabeigewesen. Straßen, die immer wieder an ihren Ausgangspunkt zurückkehrten. Seltsame Kräfte, die ihrer Ansicht nach völlig normale Erdenergien sind, die man wie Dampf oder Elektrizität manipulieren kann.« Wieder machte er eine Pause, um seine Pfeife anzuzünden, die er beim Reden wie einen Taktstock bewegte. »Und nun komme ich auf das Schwert, das sie trägt. Seit jeher bin ich ein fanatischer Anhänger unserer Legenden gewesen, habe die Geschichten über König Arthur und Sir Galahad und Merlin verschlungen, über all diese Personen in Ritterrüstungen, die Beschwörungsformeln murmelten. Und Zaubersprüche. Und ich schwöre, daß das Schwert, das sie trägt, einem Mythos, einer Legende entstammt -« »Und der Folklore und der Geschichte«, beeilte sich Gale zu sagen. »Nun«, fuhr Treadwell seufzend fort, »ich bin nicht länger in der Position, mich dagegen wehren zu können. Ich habe das Gefühl, daß mir Dinge entgangen sind, die ich eigentlich schon als Kleinkind hätte wissen müssen. Der Punkt ist, daß ich Excalibur für ein nützliches Märchen halte, das erfunden wurde, damit das echte Schwert, Caliburn, in den Hintergrund tritt. Caliburn, das Kampfschwert. Diese Männer damals haben allem einen Namen gegeben, auf der Suche nach spirituellem Wert. Sie gaben ihren Schwertern
Namen, ihren Schilden und Pferden, sogar ihren Helmen. Das verlieh ihnen Kraft und Zutrauen. Und wer bin ich, daß ich Caliburn als ganz normales Schwert abtun dürfte? Vielleicht verfügt es tatsächlich über magische Kräfte? Kurzum, meine Freunde, die Welt, die ich als real angesehen und in der ich mich wohl gefühlt habe, ist in ihrem Fundament schwer erschüttert worden. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.« »Glauben Sie an Caitlin«, schlug Gale vor. Treadwell studierte sie eindringlich, als ginge es ihm darum, in ihren Worten und ihrem Antlitz die Wahrheit zu entdecken. »Dann wird sie also in jedem Fall Cordas verfolgen.« »Ganz bestimmt. Und sie wird ihn so lange provozieren, bis er versucht, sie zu töten«, sagte Gale. »Was nicht allzu schwierig sein dürfte«, fügte Indy hinzu. »Cordas wird sie, ohne mit der Wimper zu zucken, abschlachten wie einen Hund. Ein Mord mehr kratzt diesen Mann nicht.« Gales Lippen verwandelten sich in eine dünne harte Linie. »Das wird ihm möglicherweise schwerer fallen, als er annimmt.« Indy nickte zustimmend, ohne ein Wort zu verlieren. Was Thomas Treadwell wunderte. Er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn die Menschen, die er zu schützen suchte, ihn absichtlich im dunkeln tappen ließen.
Indy begann seine Wohnung so herzurichten, daß sie in Zukunft einbruchssicherer war. Jedes Fenster bekam ein Gitter aus Eisenstangen, so daß jemand, der versuchte, sich an einem Seil durchs Fenster zu schwingen, nicht weit kam. Seine Wohnung hatte nur eine Tür, die zum Flur hinausging. Indy installierte eine Alarmanlage. Falls jemand die Tür öffnete, wenn sie eingeschaltet war, ertönte sofort eine laute Klingel. Auf dem Boden neben dem Sofa lag die Webley. Er mußte also nur den Arm
fallen lassen, die Waffe packen und auf die Tür zielen. Dann warf er zur Kontrolle einen Blick in Gales - sein - Schlafzimmer, schloß die Tür hinter sich und machte es sich auf der Couch bequem. Doch der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen. Er mußte unablässig daran denken, daß Caitlins Schwert und Körperpanzer über Erdenergien verfügten, die direkt vom Planeten stammten. Aber wie das alles vonstatten gehen sollte, war ihm nach wie vor ein Rätsel, das er noch nicht ganz gelöst hatte. Das Transfermedium, mit dem die Energie von der Erde in das Schwert und den Körperpanzer geleitet wurde, kannte er nicht. Der Schlüssel lag in dem, was Gale ihm gesagt hatte. Im Geist ging er ihre Bemerkungen durch. Zuerst hatte sie mit der Antwort gezögert, was zur Folge hatte, daß ihre Worte ihn noch mehr überraschten. »Ich verstehe ja selbst nicht ganz«, verriet sie ihm, »wie das Zepter funktioniert. Ich meine, es ist sehr alt. Und doch hat es eine Batterie. Ich habe sie gesehen. Aber« - verunsichert runzelte sie die Stirn - »das Zepter wurde schon viele hundert Jahre vor der Erfindung von Batterien benutzt. Heute wäre es natürlich kein Problem für Kerrie, das Ding mit gespeicherter Elektrizität zu betreiben. Zumal Kerrie Ingenieur ist.« »Wie hat die Batterie ausgesehen?« fragte er sie. »Ungefähr wie eine rechteckige Schachtel. Falls ich mich recht entsinne, erwähnte er mal, daß es sich um eine Trockenzellbatterie handelt.« Indy nickte. »Das heißt, es ist eine Säurebatterie. Sie sind ziemlich unhandlich und schwer, aber sie funktionieren. Wo hat Kerrie sie untergebracht?« »Er brachte das Zepter auf einem Stab an. Ich vermutete schon immer, daß es ein elektrisches System geben muß.« »Ich nehme mal an«, behauptete Indy, »daß der Stab aus zwei Schichten gemacht ist. Der Kern besteht aus Holz, um das Kerrie dünnen Draht gewickelt hat, den er mit der Batterie und den Kristallen verbunden hat. Auf diese Weise hat er seine Antenne installiert.« Gale konnte sich nur noch wundern. »Wo hast du so viel über Funkgeräte
und diesen elektrischen Kram gelernt?« »Bei der Feldforschung war ich auf Funkgeräte angewiesen. Dort stolpert man nicht alle paar hundert Meter über ein Telefon.« Er mußte lachen. »Und man muß wissen, wie man diese Dinger repariert, falls man sich darauf verlassen möchte.« Indy zuckte mit den Achseln. »Aber ich lernte mehr, als ich zu Anfang angenommen hatte. Ich habe auch herausgefunden, daß die Menschen schon im Altertum über Elektrizität verfügten, längst bevor die moderne Welt von so etwas geträumt hatte. Nur deshalb habe ich mir zusammengereimt, was man vor ein paar hundert Jahren mit Caitlins Zepter gemacht hat. Verstehst du nicht? Falls die Menschen vor und zu Merlins Zeiten schon Batterien gekannt haben, fügen sich Merlins Zauberkünste nahtlos in die bekannten Gesetze der Energiegewinnung ein.« »Wenn mir jemand anderer als du mit dieser These käme ...« Sie beendete den Satz nicht. »Heh, das ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Einen Großteil meines Wissens habe ich einem Mann namens Jack Silverstein zu verdanken. Jack war sowohl Erfinder als auch Forscher oder Naturwissenschaftler. Wenn man heutzutage die Geschichte der Elektrizität liest, um zu erfahren, wie alles angefangen hat, stößt man auf Namen wie Edison und Tesla. Erst vor knapp dreißig Jahren hat Edison eine funktionsfähige Glühbirne erfunden.« »Wann bist du oder dein Freund zum ersten Mal in eurer Forschung auf diese Energie gestoßen?« »Vor mehr als zweitausend Jahren. Wir haben nachgewiesen, daß 226 vor Christus bei den Parthern, die am Ufer des Kaspischen Meers gelebt haben, täglich Elektrizität eingesetzt wurde.« »Du sprichst von einer Zeit, die vor der Geburt Christi liegt!« »Jahrhunderte davor«, bestätigte er. »Hast du mal was über einen Mann namens Wilhelm Kroner gehört?« Gale schüttelte den Kopf. »Kroner besichtigte die Ruinen der Parther und stolperte über etwas, das
wie Einzelteile einer Trockenbatterie aussah. Er beauftragte ein paar Ingenieure, die Teile zusammenzusetzen. Und sie bauten eine Batterie, die genau der Zusammensetzung der alten entsprach, und siehe da, sie funktionierte. Mit der Elektrizität gelang es ihnen, ihre Statuen zu versilbern und ihre Juwelen zu vergolden.« »Das ist erstaunlich«, rief sie begeistert. »Das ist längst nicht alles. Ungefähr vierhundert Jahre früher gab es auch schon Elektrizität. Den Beweis fanden wir in altgriechischen Schriften. In den Geschichten Miletus, also etwa 600 vor Christus, wird ein elektrisches Gerät beschrieben. Damals glaubten wir, daß da die Schallgrenze erreicht war, daß es davor nichts gegeben habe, meine ich, aber weit gefehlt! Wie sich herausstellte, bauten ägyptische Priester ein paar leistungsstarke elektrische Generatoren für ihre Tempel. Damit konnten sie ihre Gefolgsleute bei der Stange halten. Der Durchschnittsmensch von damals glaubte selbstverständlich, daß die Priester in direktem Kontakt mit den Gottheiten standen.« »Wie lange ist das her?« »Dreitausend Jahre. Ich bin selbst in den Ruinen gewesen. Konnte kaum glauben, was man dort gefunden hat. Elektrische Kabel für ihre Altare, handbetriebene Generatoren. Es gab sogar Kulis -« »Was?« »Untergebene, Diener. Sie wurden hinter den Wänden versteckt und waren wie verrückt am Schuften, um Strom zu produzieren. Die Leitungen liefen zu den Altaren, wo ein Priester einen isolierten Stab hielt. Die staunende Masse glaubte natürlich an überirdische Macht. Wenn die Priester es darauf anlegten, der Menge Angst einzujagen, zeigten sie mit ihren Stäben auf die Köpfe der Leute und ein paar kriegten einen elektrischen Schlag ab. Funken stoben, es gab eine Explosion, es stank nach Ozon, und irgendein armer Bauer wurde in einen qualmenden Leichnam verwandelt.« Gale nickte langsam. »Ja, seltsamerweise sehe ich die Verbindung zu
Merlin«, sagte sie und schaute Indy an. »Wie das?« »Nun, in den Geschichten erfährt man von den unterschiedlichen Maßnahmen, mit denen Merlin seine Feinde vertrieben hat. Manchmal zeigte er mit dem Finger auf eine dieser armen Kreaturen, sang etwas, das niemand verstand, und dann wurde der arme Mann vom Schlag getroffen. Jetzt weiß ich, daß es sich um den klugen Einsatz von Elektrizität handelte. Bestimmt hatte Merlin etwas im Ärmel, aus dem Energie rauskam. Falls dieses Ding an einen der Generatoren angeschlossen war, wie die alten Ägypter sie hatten, klingt das doch ziemlich schlüssig.« »Und«, fügte Indy hinzu, »es sah immer so aus, als sei er der Meister über Blitz und Donner. In Wahrheit benutzte er natürlich das Zepter.« »Ich habe keine Ahnung, wie das funktionieren sollte.« »Energie umgibt uns immer, überall. Die Strahlung der Sonne ist allgegenwärtig. Wir können sie nicht direkt spüren, sie auch nicht ausmachen, es sei denn, wir bauen eine Antenne, die diese Strahlen empfängt. Sie nimmt die Elektrizität aus der Luft, wenn ich das mal so sagen darf, und bündelt sie. Merlin besaß einen Stab mit wertvollen Steinen. Kerrie hatte einen Stab mit Steinen und Kristallen. Kristalle braucht man für die maximale Nutzung. Aber was immer man auch verwendet, man braucht auf jeden Fall eine Antenne, um die Energie einzufangen, und dann leitet man sie um, und es sieht so aus, als käme sie aus dem Zepter. Leider kann man sich nicht immer darauf verlassen, Energie aus der Luft filtern zu können. Darum muß man sie speichern. Und das macht man mit der Batterie.« »Und das, was Kerrie hat, muß so funktionieren wie das, was du gerade beschrieben hast?« »Sicher. Er verwendet eine Batterie, die nur ein Volt hat. Eine Blei-ZinkVerbindung, einen Karbonstift und Schmiere dazwischen. Technisch gesehen ist das mit einem Elektrolyt vergleichbar, bei dem die Säure durch
den Strom ersetzt wird.« Indy schnippte mit den Fingern. »Natürlich! Kerries Kondensator befindet sich im Zepter. Ein Mittel, mit dem man Energie sammeln kann, bis man genug hat, um eine riesige Menge abzugeben. Man sammelt so viel Energie, daß die Entladung einem Blitz gleichkommt.« Gale schüttelte langsam den Kopf. »Das alles hört sich so kompliziert an. Ich meine, Ägypter und Parther und Merlin-« »Und nun Kerrie und Caitlin«, beendete Indy den Satz an ihrer Stelle. »Aber da gibt es noch diese allerletzte Frage, die bisher keiner von uns beiden beantwortet hat, Indy.« Er wartete, daß sie weitersprach. »Da ist noch der Körperpanzer«, rief sie ihm ins Gedächtnis zurück. »Diesen Zauber können wir uns nicht erklären.« »Das weiß ich auch«, gab er zu. »Ich weiß nur, daß es funktioniert und daß nichts von dem Wissen, das ich über die Jahre hinweg zusammengetragen habe, mir hilft, dieses Geheimnis zu lüften.« Er zuckte mit den Achseln. »Mit Zauberei kenne ich mich eben nicht aus.« Auf einmal wurde er ganz ernst. »Aber laß mich dir eins sagen. Körperpanzer hin oder her, eine schwere Gewehrkugel mitten ins Herz oder ins Gehirn wird Caitlin töten. Und zwar sofort. Sie ist nicht unverletzbar. Falls sie das glaubt, wird sie schneller dafür bezahlen müssen, als ihr lieb sein dürfte. Denn dann wird sie Risiken eingehen, was mehr als dumm ist.« Gale nickte nachdenklich. Sie sorgte sich um Caitlins Zukunft. »Ich weiß«, flüsterte sie schließlich.
ELF Was in Dreiteufelsnamen ... Indy erwachte langsam aus tiefem Schlaf. Instinktiv ließ er die rechte Hand zu Boden fallen und griff nach dem schweren Webley-Revolver. Es dauerte ein paar Minuten, ehe er begriff, daß das Klopfen, das durch die Wohnung hallte, von der Wohnungstür herrührte. Mit der Waffe in der Hand sprang er vom Sofa auf und näherte sich der Tür seitlich. Was war da los? Stand das Gebäude in Flammen, gab es einen Notfall - war es Treadwell, der gegen die Tür hämmerte? Die Stimme seines Freundes ertönte. »Mach auf, du Idiot! Mach auf, sage ich! Ich bin es, Thomas!« Indy hörte, wie die Schlafzimmertür hinter ihm aufging. Als er den Kopf drehte, stand Gale im Schlafanzug im Türrahmen. In den Händen hielt sie ihre Armbrust. Er gab ihr ein Zeichen, daß sie bleiben sollte, wo sie war, und sprach durch die Tür. »Thomas!« »Mach auf, verflucht noch mal!« »Wer ist bei dir?« »Nur Roberto.« Indy schloß die Tür auf und trat einen Schritt zurück. Treadwell und Di Palma kamen herein, blieben aber angesichts der Webley, die Indy in seinem Hosenbund verstaute, wie angewurzelt stehen. Er schloß die Tür und verriegelte sie. »Wie immer auf Besuch eingestellt«, merkte Treadwell höhnisch an. »Es ist vier Uhr dreißig morgens, Thomas.« »Ach ja? Ohne dich wüßte ich nicht, wie spät es ist. Ich weiß, Indy, ich weiß.
Wir sind noch gar nicht im Bett gewesen.« Gale lief in die Küche, um Kaffee und Wasser für Tee aufzusetzen. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, saßen die drei Männer an einem runden Tisch. »Gale, ich möchte, daß Sie sich zu uns setzen«, sagte Treadwell. Mit einem Kopfnicken nahm sie Platz und nippte an ihrem Becher Tee. Treadwell rieb sich die Augen. »Wir glauben zu wissen, wohin Cordas gehen wird«, verkündete er. »Und ich wollte die Neuigkeit nicht am Telefon weitergeben, weil mir das zu riskant erschien.« Indy hielt sich mit Kritik zurück. Ohne triftigen Grund wäre Treadwell garantiert nicht zu dieser unchristlichen Stunde bei ihm erschienen. »Wir haben in Erfahrung gebracht«, fuhr Treadwell müde fort, »daß Cordas und eine kleine Gruppe Leute offensichtlich auf dem Weg nach Hamburg sind. Wir haben die Passagierlisten jeder Fähre, jedes privaten Bootes und jedes Flugzeuges, das den Kanal überquert, kontrolliert. Cordas und seine Leute haben eine französische Maschine gechartert. Glücklicherweise ist der Zoll informiert worden, sonst hätten wir nicht davon Wind bekommen.« »Wie viele?« »Acht in Cordas´ Gruppe. Sind problemlos durch den Zoll gekommen. Fliegen nach Orly. Dort herrscht am Morgen reger Reiseverkehr, so daß man mit Leichtigkeit im Getümmel untertauchen kann.« »Hat euch der Zoll verraten, wo die Pässe herstammen?« fragte Indy. »Oh, aber sicher. Aus Frankreich. Aber ich bin mir ziemlich sicher«, merkte Treadwell an, »daß sie sich die Pässe von überall besorgen können.« »Und haben Sie auch etwas über Caitlin gehört?« erkundigte Gale sich. Treadwell schüttelte den Kopf. »Kein Wort.« Indy studierte das Gesicht seines Freundes. »Du hast noch mehr auf Lager.« Der Inspector trank erst einen Schluck Tee, ehe er weitersprach. »Sie verwenden Kodes. Buchstaben und Zahlen. Weil wir alle Telefonleitungen
abgehört und die Gespräche aufgezeichnet haben, ist es uns gelungen, folgende Nachricht abzufangen: sieben, zwei, eins, ZL. Wir arbeiten selbstverständlich daran. Vielleicht muß man nur die Zahlen und Buchstaben verdrehen, vielleicht aber handelt es sich auch um einen vorgefertigten Kode. Verifizierung der Kommunikation oder eine Bestätigung, daß alles planmäßig verläuft, irgend etwas in der Art.« Di Palma trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Was im Augenblick etwas verwirrend ist, ist die Wahl Hamburgs. Die Karte, die Miss Parker uns gegeben hat, passt nicht zum Küstenverlauf Deutschlands. Und schon gar nicht zu Hamburg.« »Hamburg halte ich für sinnvoll«, fand Indy. »Würden Sie mir das bitte näher erläutern?« bat Di Palma ihn. »Dort gibt es einen Einschiffungshafen«, sagte Indy. »Das ist uns natürlich auch in den Sinn gekommen«, sagte Treadwell. »Das Problem ist, daß es überall Ausgänge gibt. Werden sie mit einem Dampfschiff in Hamburg ankommen? Oder mit dem Zug? Oder nehmen sie eine umständliche Flugroute von Orly aus - nun, das wissen wir eben nicht.« »Drei Männer buchten einen Flug von London nach Rom«, berichtete Di Palma. »Auch sie verwendeten den Kode sieben, zwei, eins, ZL. Thomas ist davon überzeugt, daß es sich dabei um eine falsche Fährte handelt. Und ich sehe keinen vernünftigen Grund, der gegen seine Vermutung spricht.« »Nach meiner Erfahrung mit Mr. Cordas«, merkte Indy an, »stoßt ihr wahrscheinlich auf ein Dutzend Leute, die durch ganz Europa reisen und den Kode benutzen, der euch Magenschmerzen bereitet.« »Nun, falls wir unsere Erfahrung als Maßstab nehmen«, entgegnete Treadwell säuerlich, »ist es gut möglich, daß er uns zum Narren hält. Oder Miss St. Brendan. Cordas achtet immer darauf, daß er alles über das Gebiet weiß, in dem er zuschlägt. Falls er die Geschichte der Bewohner des Glens kennt, und ich gehe davon aus, daß es so ist, dann weiß er auch, daß diese
junge Frau ihn verfolgen wird, koste es, was es wolle.« »Und er hinterläßt eventuell eine Spur für sie, der sie folgen kann«, schlußfolgerte Indy unglücklich. Er warf Gale einen Blick von der Seite zu. »Diese Möglichkeit darf man nicht außer acht lassen. Cordas ist ein Mann, der sich über einen ebenbürtigen Gegner freut.« »Aber er wird mehr kriegen, als er erwartet«, warf Gale hitzig ein. »Mir wäre es lieber, wir würden ihn zuerst in die Finger kriegen«, sagte Treadwell in einem Tonfall, der ihnen verriet, was er von dieser jungen Frau hielt, die es mit einer skrupellosen Mörderbande aufnehmen wollte. »Und falls Sie mir das Folgende nicht übelnehmen -« Abrupt sprang Indy auf und umklammerte Treadwells Arm. »Dieser Kode ... laß ihn mich nochmal hören.« Er schrieb ihn sich auf: sieben, zwei, eins, ZL. Wiederholte ihn immer und immer wieder. Schrieb ihn rückwärts auf. Warf den Bleistift auf den Tisch und begann, im Zimmer auf und ab zu marschieren. »Ich weiß nicht, warum es so lange dauerte, um etwas derartig Offensichtliches rauszufinden«, schimpfte er. »Cordas spielt tatsächlich mit uns. Da kann ich Symbole und alte Sprachen übersetzen, Kodes und Keilschriften, aber das auf der Hand Liegende sehe ich nicht gleich. Ich komme mir wie ein Trottel vor.« »Wovon sprichst du?« fragte Treadwell. »Dieser Kode! Der ist so einfach zu entschlüsseln«, ärgerte sich Indy. »Cordas macht es uns so einfach, damit wir nicht sehen, was wir vor Augen haben.« Di Palma schüttelte den Kopf. »Ich muß zugeben, ich steige genausowenig durch wie Thomas.« Indy hielt inne, kehrte an den Tisch zurück und stützte sich mit geballten Händen auf der Tischplatte auf. »Cordas und seine Leute gehen nicht nach Osten«, betonte er. »Sie gehen nach Westen.« »Darf ich dich daran erinnern, daß Hamburg östlich von hier liegt?« sagte
Treadwell. »Sicher, so ist es, aber das ist falscher Alarm«, entgegnete Indy prompt. »Diese Goldladung, während des Bürgerkrieges, war doch für den Südwesten der Vereinigten Staaten bestimmt, richtig?« »Ja.« »Und alles weist darauf hin, daß das Gold auch dort angekommen ist, richtig?« »In etwa, ja. Aber du weißt doch schon«, fuhr Treadwell fort, »daß unsere Information hinsichtlich des Zielortes im besten Fall vage ist. Und außerdem, Indy, falls Cordas beabsichtigt, den Atlantik zu überqueren und dorthin zu gehen, wohin die Lieferung geschickt wurde, muß er in Richtung Westen reisen.« »Manchmal«, sagte Indy mit einem breiten Grinsen, »ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten der längere Weg.« »Mußt du jetzt mitten in der Nacht noch so einen Unsinn von dir geben und uns mit Rätseln auf die Nerven fallen?« Treadwell wirkte einigermaßen irritiert. »Das ist kein Rätsel«, erwiderte Indy. »Sieh mal, dieser Kode. Was kriegt man, wenn man die Reihenfolge umdreht?« »Na, ganz einfach, LZ, eins zwei, sieben.« »Das verrät mir, daß sie auf dem Weg nach Friedrichshafen sind«, sagte Indy. »Aber Hamburg ist der größte Einschiffungshafen ...« Treadwells Stimme verhallte. Indy lachte. »Na, da ist dir wohl gerade ein Licht aufgegangen, oder?« »Gütiger Gott, ja.« »Immer diese Spielchen«, beschwerte Di Palma sich bei Gale. »Geht das bei den beiden immer so?« Gale nickte. »Ja, immer. Aber es gibt auch immer einen Grund dafür.« »Begreifst du es denn immer noch nicht?« fragte Indy Gale.
»Nein.« »Der Kode ist überhaupt kein Kode, sondern eine Bezeichnung. LZ, eins, zwei, sieben. Das ist die Bezeichnung für den ›Graf Zeppelin‹ -« »Du meinst -« »Aber klar doch! Ein kommerzielles Luftschiff überquert den Ozean viel schneller als ein herkömmliches Schiff.« Er ging zum Telefon hinüber. »Ihr könnt euch doch noch einen Moment gedulden, oder?« Er telefonierte etwa fünf Minuten, hängte dann auf und kehrte an den Tisch zurück. »In Friedrichshafen gibt es einen Vierundzwanzig-Stunden-Service für Reisende. Ihr müßt wissen, daß LZ die Bezeichnung für die ZeppelinTransport-Gesellschaft ist, und eins siebenundzwanzig ist die offizielle Firmenbezeichnung für das Luftschiff, das wir unter dem Namen >Graf Zeppelin« kennen. Dieses Luftschiff hat den Ozean schon mehrmals überquert, und nun wird es gerade für einen Sonderflug vorbereitet. Wird nach Amerika fliegen und zwar diesmal über den Nordpol. Irgendeine geographische Gesellschaft möchte während des Fluges Fotos machen und ein paar Filme drehen. Sie kombinieren also eine Expedition mit einem Charterflug. Habe ich nicht gesagt, daß Cordas für uns eine Spur hinterlassen wird, der wir folgen können?« »Ja, ja?« Di Palma hing an Indys Lippen. »Nun«, sagte Indy und genoß den Augenblick, »Cordas steht mit seinem Namen auf der Passagierliste.« »Nicht zu fassen«, meinte Treadwell. Indy lehnte sich zurück. »Der Zeppelin startet in zwei Tagen, Thomas. Das heißt, du mußt dich sofort darum kümmern, daß für Gale und mich Plätze gebucht werden. Das muß in den nächsten paar Stunden über die Bühne gegangen sein. Falls nötig, soll die britische Regierung für den entsprechenden Druck sorgen. Hauptsache, wir sind an Bord, wenn das Ding abhebt.« Indy lächelte. »Es sei denn, du möchtest, daß Cordas ein, zwei Wochen vor
uns in den Vereinigten Staaten eintrifft.« »Ich werde mein Bestes geben.« »Das reicht nicht. Wir müssen auf diesem Schiff sein. Oh, und buche für uns zwei Plätze in einer Maschine nach Friedrichshafen.« »Für wann?« »Für heute nachmittag. Steh endlich auf, Thomas. Mach dich an die Arbeit.«
ZWÖLF Der Regen, der schwer auf das Deck der Frachtfähre prasselte, die den Kanal überquerte, schlug Indy ins Gesicht. Er drehte sich zur Seite, zog seinen alten Hut tiefer in die Stirn. Eine eisige Salzwasserwoge, vom Schiffsbug aufgeworfen, brach über ihm zusammen. Sein Blick hing am schwachen Schein der gelben Glühbirne in der Kajüte. Gale stand neben ihm, hielt ihr Gesicht in Wind und Regen und erfreute sich an dem wilden Sturm, der über das Wasser fegte. »Genießt du es?« brüllte Indy gegen den heulenden Wind an, gegen das an den Schiffsrumpf schlagende Wasser, gegen die laut dröhnenden Motoren im Bauch des Schiffes. Ein paar Minuten lang zitterte das Schiff so stark, als würde es gleich bersten. Gale wandte sich zu ihm. »Es ist ganz wunderbar!« rief sie erfreut wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal auf offener See ist. »Du bist verrückt!« lautete Indys Antwort. Ihm war schlecht, und er hatte das Gefühl, als habe man ihm den Kopf mit Watte ausgestopft. Geistesgegenwärtig griff er nach der Reling, als das Schiff sich beängstigend zur Seite neigte. Als er zum Kabinenfenster hochschaute, konnte er Treadwell hinter dem Glas erkennen. Sein Freund saß bequem in einem Sessel, hatte die Beine übereinander geschlagen und rauchte in aller Seelenruhe seine Pfeife. Vorsichtig bewegte Indy sich an der Reling entlang. Salzwasser umspülte seine Füße. Er schob die Schwingtür auf und mußte sich seitlich abstützen, als sie aufging. Treadwell und ein paar Männer der Belegschaft beobachteten amüsiert, wie Indy durch die Tür gepoltert kam und sich mit völlig
durchweichten Klamotten in einen Sessel fallen ließ. »Erinnere mich daran«, sagte er mit einem Knurren, »daß ich dich mit bloßen Händen erwürgen muß, falls wir diese Wahnsinnsfahrt überleben sollten.« Treadwell salutierte mit der Pfeife in der Hand. »Lernst also heute zum ersten Mal das Leben eines Seemanns kennen, wie? Ein Segelschiff ist ein wahres Wunder, Professor.« »Nur daß das hier kein Segelschiff ist«, erwiderte Indy mürrisch und klammerte sich an den Armlehnen fest, als die Fähre sich aufbäumte wie ein Wasserbüffel, der im Treibsand zu versinken drohte. »Das hier ist ein Haufen Metallschrott. Hätte schon vor Jahren zerlegt und entsorgt werden sollen. Aber nein, das Ding läuft noch aus dem Hafen aus.« »Jetzt machen Sie aber mal halblang!« warf Björn McManus laut ein. »Das ist mein geliebtes Schiffchen, über das Sie da herziehen, Kumpel!« »Sie finden dieses alte Ungetüm niedlich?« fragte Indy verständnislos nach. Heute war er nicht in Stimmung für höfliche Umgangsformen. Der geplante Flug von London nach Paris war gestrichen worden, als sie reisefertig waren. Keiner von ihnen hatte einen Gedanken ans Wetter verschwendet, und als sie aus dem Wohnhaus traten, wütete in der Stadt ein schlimmer Sturm. Da hatten sie auf dem Absatz kehrtgemacht und wieder Indy s Wohnung aufgesucht. Treadwell rief den Flughafen an. » Wir können nicht starten«, erklärte man ihm. »Tut mir leid, Sir. Die Front, die sich da nähert, läßt keinen Flugverkehr zu. Und in Frankreich ist die Wetterlage ähnlich.« Was nichts anderes bedeutete, als daß sie den stürmischen Kanal auf einer Fähre überqueren mußten. Die normalen Passagierschiffe stellten den Transport wegen des Unwetters ebenfalls ein. Es bedurfte des Einflusses von Scotland Yard, um Björn McManus aus seinem warmen Bett zu werfen und seine Mannschaft zu überreden, Gale und Indy nach Cherbourg zu bringen. Als sie von einem Londoner Dock loslegten, bei strömendem
Regen, tiefhängenden Wolken und orkanartigen Böen, rückte Treadwell mit der Sprache heraus. »Auf dem Festland wird Fliegen ebenfalls unmöglich sein, fürchte ich. Ich habe mit einigen unserer wichtigsten Leute in Frankreich gesprochen, und sie werden dafür sorgen, daß ein Wagen auf euch wartet. Von dort aus geht es auf direktem Weg nach Paris. Und von dort aus mit dem Zug weiter nach Deutschland. Plätze sind reserviert worden. Wenn alles gutgeht, müßtet ihr ein paar Stunden vor dem Abflug des Graf Zeppelin in Friedrichshafen eintreffen.« Sie hatten noch nicht mal die Themse verlassen, da bereute Indy seine Entscheidung schon, sich auf Treadwells neue Planung einzulassen. Jeder an Bord der Brisbane - auf diesen Namen war diese verrottete Kanalfähre getauft - war unerträglich gut gelaunt. »Natürlich sind sie guter Stimmung«, erklärte Treadwell Indy, als der ihn fragte, wieso die Mannschaft mit einem Lächeln auf den Lippen durch dieses Unwetter fuhr. »Sie kriegen den dreifachen Lohn, und das für die Hin- und Rückfahrt.« »Ich wäre lieber geflogen«, meckerte Indy. »Bei diesem Wetter?« rief Treadwell. »Sicher. Dann wäre mir nur eine Stunde lang schlecht gewesen, während ich mich nun die ganze verfluchte Nacht beschissen fühlen werde!« Treadwell lachte. »Du wirst es schon überleben, Kumpel!« Entgegen seiner Erwartungen traf Indy lebendig in Cherbourg ein. Und er schaffte es sogar, die letzte Mahlzeit bei sich zu behalten. Im Hafen verabschiedeten sie sich von Treadwell, ehe sie in ein altes Taxi stiegen, das von einem Franzosen gesteuert wurde, der nach Knoblauch und Brandy stank und wie ein Wahnsinniger völlig rücksichtslos über die regennassen Straßen brauste. Aber wenigstens fand Indy nun die Zeit, die Einzelheiten ihres bevorstehenden Fluges zu studieren. Er schaltete das Licht im Wagen an, woraufhin der Fahrer sich sofort lautstark schimpfend beschwerte. » Falls das Licht Sie stört, schließen Sie doch einfach die Augen!« riet Indy
dem murrenden alten Mann. »Ich werde mich darum kümmern«, flüsterte Gale Indy ins Ohr, griff in ihre Tasche, holte einen Flachmann heraus, schraubte den Deckel ab und reichte ihn dem Fahrer. Wortlos nahm er einen tiefen Zug, murmelte ein ›Merci‹ und nahm noch einen Schluck. »Versuchst du uns umzubringen?« fragte Indy Gale fassungslos. »Ich kenne diesen Menschenschlag sehr gut. Er trinkt Cognac. Und außerdem hat er schon so viel intus, daß das auch keinen Unterschied mehr machen wird.« »Falls wir gegen einen Baum fahren und sterben, komme ich zurück, um dich noch im Tod zu verdammen«, versprach Indy ihr. »Großartig«, erwiderte sie. »Jetzt laß uns endlich mal die Papiere durchgehen, und zwar bevor wir den Bahnhof erreichen. Wäre nicht gerade sinnvoll, wenn wir dort noch unsere richtigen Namen verwenden, oder was meinst du?« Indy nickte. »Na gut. Dann laß uns anfangen. Zuerst die Pässe.« Gale holte sie aus ihrer Handtasche. »Sind beide in England ausgestellt«, fiel Indy auf. »Richtig. Und die Adresse deiner Wohnung ist eingetragen. Treadwell meinte, daß es gut möglich sei, daß das überprüft wird.« »Aber die Namen stimmen nicht«, gab Indy zu bedenken. »Doch, jetzt schon«, versicherte Gale ihm. »Es war ziemlich klug von Thomas, dir meinen Nachnamen zu verpassen. So mußten sie nur deinen Nachnamen ändern und meine Adresse. Und schon paßt alles hervorragend zusammen.« »Henry Parker«, las Indy laut. »Hört sich komisch an.« »Mir gefällt es«, sagte sie. »Jones ist wesentlich distinguierter«, zog Indy sie auf. »Aber auf eine recht gewöhnliche Art«, erwiderte sie. »Machen wir jetzt weiter?« Auf sein Nicken hin klappte sie die falschen Führerscheine auf. »Und hier haben wir sogar eine Clubmitgliedschaft für uns beide im
Hogsbreath Inn. Und deinen Arbeitsausweis von den London Municipal Services.« »Und welche Tätigkeit führe ich dort aus?« »Du bist Zoowärter. Du machst die Käfige sauber.« Sie konnte sich vor Lachen kaum mehr halten. »Prima!« Sein Sarkasmus war nicht zu überhören. »Und was arbeitest du?« »Ich bin Wildhüterin.« »Na, das paßt ja«, meinte er. »Was muß ich sonst noch wissen?« »Oh, unterschiedliche Clubs«, sagte sie, während sie die Unterlagen durchblätterte und sie aufteilte. »Alles paßt toll zusammen, Indy. Thomas ist sehr gründlich vorgegangen, das muß man ihm lassen.« »Hat er an deinen Pilotenschein gedacht?« Sie hielt die entsprechenden Papiere hoch. »England, Frankreich und die Vereinigten Staaten.« »Gründlich, stimmt. Wie sieht es mit deiner Schulbildung aus?« »Middlesex. Dort war ich tatsächlich auf der Schule. Es bestand keine Veranlassung, das zu ändern.« »Und ich?« »Du, Mr. Parker, bist in San Diego in Kalifornien auf die Universität gegangen. Das erklärt deinen Akzent und deinen schrecklichen Kleidungsstil. Nachdem du dich auf Viehzucht spezialisiert hast, hast du auf einer Farm in Texas gearbeitet. Dir nimmt man sogar ab«, sagte sie, nachdem sie ihn genauer inspiziert hatte, »daß du Cowboy gewesen bist. Zumindest erklärt das deine Peitsche. Im Jahre 1926 hast du angefangen, im Londoner Zoo zu arbeiten. Deine Akte zeigt, daß du viel gereist bist, weil du für den Zoo seltene Tiere besorgt hast.« Indy lehnte sich zurück. »Er scheint sich um alles gekümmert zu haben. Sag mir, Wie lange sind wir verheiratet? Wenn ich das so sagen darf?« »Seit sieben Jahren.«
»Wie alt warst du, als wir geheiratet haben? Nach den hier aufgeführten Daten?« »Siebzehn. So um den Dreh.« Der Fahrer beäugte sie kritisch im Rückspiegel. »Na, Sie stehen wohl auf Frühreife«, machte er sich über Indy lustig. Indy und Gale tauschten Blicke aus. »Anscheinend haben wir unterwegs den betrunkenen Franzosen verloren und dafür einen Engländer aufgegabelt«, sagte Indy und griff nach hinten unter seine Lederjacke. Ehe er sich versah, spürte der Fahrer etwas Kaltes und Hartes im Genick. »Fahren Sie rechts ran. Langsam, ganz vorsichtig«, befahl Indy ihm. »Die kleinste unkontrollierte Bewegung und bei Ihnen gehen die Lichter aus, mein Freund.« »Dazu besteht keine Veranlassung, Kumpel«, sagte der Fahrer in perfektem Englisch. »Außerdem weiß ich, womit Sie mich in Schach halten. Schmeiser, .25er Kaliber, sechs Schuß Munition, Kupferummantelung und unter dem Kupfer Scolopendra-Staub. Interessant, was ich alles weiß, nicht wahr?« »Sie sind im Vorteil«, sagte Indy. »Entweder sind Sie ein Hellseher, oder -« »Sie haben´s schon erraten, nicht wahr, Professor Jones?« »Sprechen Sie nur weiter«, antwortete Indy kühl. »Nicht schwer zu erraten. Es stört Sie hoffentlich nicht, wenn ich weiterfahre, oder? Die Uhr tickt, Sie wissen schon. Ich weiß, was Sie in der Hand halten, und ich weiß von dem Holster hinten an Ihrem Gürtel, und daß ein netter Herr namens Sir Thomas Treadwell Ihnen das Ding besorgt hat. Haben Sie immer noch Zweifel daran, daß wir für dieselbe Institution arbeiten?« Indy entspannte sich und verstaute die Schmeiser im Holster. »Nein«, bekannte er, »keine Zweifel mehr. Wie heißen Sie?« »Auf der Taxizulassung steht Jacques Voltaire. Doch zu Hause kennt man mich unter dem Namen John Pennington.«
»Und wieso dieses dumme Katz-und-Maus-Spiel, John?« »Nun, Sir, so war es am einfachsten rauszufinden, wie Sie und die Dame miteinander und mit der Situation zurechtkommen. Von einem betrunkenen Franzosen am Steuer läßt sich niemand beirren. Als ich genug gehört hatte, war es an der Zeit, Sie zu warnen. Bevor Sie in Paris im Bahnhof verschwinden.« »Vor was warnen?« wollte Gale wissen. »Die Automatik muß der Herr bei mir zurücklassen.« »Und wieso sollte ich das tun?« »Sie können Sie nicht mitnehmen, Sir. Jedenfalls nicht ohne eine Sondererlaubnis der Franzosen. Und die möchten Sie nicht beantragen, weil das zu große Aufmerksamkeit auf Sie lenkt. Falls Sie mit der Waffe erwischt werden, Sir, müssen Sie mit Schwierigkeiten rechnen. Außerdem können sie nichts Explosives mit an Bord der ›Graf Zeppelin‹ nehmen. Keine Waffen, keine Feuerzeuge, keine Streichhölzer. Nichts dergleichen, Sir. Man wird Ihnen sogar statikfreie Hausschuhe aushändigen, wenn Sie an Bord gehen. Ihnen beiden. Falls die eine Waffe wie die Schmeiser in ihrem Gepäck finden - und das wird kontrolliert, das kann ich Ihnen versichernwerden Sie sofort aus dem Zeppelin geführt und enden im nächstbesten Gefängnis. Ich weiß auch von der Webley, Prof - ich meine, Mr. Parker, tut mir leid, Sir. Wenn Sie in den Staaten landen, werden Sie mit allem Notwendigen versorgt. Mr. Treadwell hat sich um diese Dinge gekümmert. Hat die Erlaubnis vom Secret Service eingeholt, oder wie immer man die Organisation dort drüben nennt.« Indy legte das Holster samt Schmeiser ab und reichte es Pennington nach vorn. »Das haben Sie gut gemacht, Pennington.« »Danke, Sir. Ach ja, ich werde so lange bei Ihnen bleiben, bis Sie in Paris Ihre Plätze im Zug eingenommen haben.« Da meldete sich Gale zu Wort. »Mr. Pennington, darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Nein, keinesfalls, Miss.« »Wissen Sie irgend etwas über jemanden namens Cordas?« »Ja. Ma´am. Er ist schon im Zeppelin-Hotel abgestiegen. Er wird zur gleichen Zeit wie Sie an Bord gehen, wie alle anderen auch.« »Sie scheinen aber auch alles zu wissen, Mr. Pennington. Vielleicht können Sie mir verraten, warum wir, obwohl wir so viel über Cordas wissen, ihn nicht vorher abfangen und dafür sorgen, daß sich die deutsche Polizei seiner annimmt?« »Hat doch keinen Sinn, den Mann unter Arrest zu stellen, Ma'am. Ohne Beweise kann man ihn höchstens ein, zwei Tage festhalten. Seine Anwälte haben ihn im Handumdrehen wieder rausgeholt.« Indy nickte. »Stimmt.« »Gibt es«, fragte Gale, »Neuigkeiten über eine Frau mit dem Namen Caitlin St. Brendan?« »Ich weiß, wen Sie meinen, Ma'am. Die ist unsichtbar. Wie vom Erdboden verschwunden.« »Danke, Mr. Pennington.« »Gern geschehen, Miss - Missus Parker.« »An Mrs. bin ich noch nicht gewöhnt.« Gale lachte. »John, sind die Deutschen immer so paranoid mit Waffen, wenn man einen Zeppelin besteigt?« wollte Indy gern wissen. »Professor, sind Sie scharf auf Waffen an Bord eines Luftschiffs, das zehn Stockwerke hoch ist, mehr als zwei Straßenblocks lang und mit Hydrogengas und blauem Treibstoff gefüllt ist?« »Blau!« wiederholte Indy. »Ja, Sir. Hydrogengas in siebzehn Gasbehältern und blauer Treibstoff, der ist mit Propangas vergleichbar. Damit werden die fünf Triebwerke oder Motoren des Luftschiffs versorgt. Bitte verzeihen Sie mir, falls ich mich zu plump ausdrücke, aber Sie reisen an Bord der größten Bombe, die jemals in den Himmel aufgestiegen ist.«
»Prima«, lautete Indys Kommentar.
DREIZEHN Zusammen mit einem uniformierten Besatzungsmitglied kam Indy aus dem Büro der Zeppelin-Gesellschaft. »Wir haben Glück«, verriet er Gale. »Uns bleiben noch ein paar Stunden, ehe die Passagiere an Bord gehen, und der Flugkapitän hat uns freundlicherweise die Erlaubnis erteilt, an einer Führung durch den Zeppelin teilzunehmen.« »Ganz toll«, rief sie mit strahlenden Augen. »Das hier ist Fritz Kasner«, stellte Indy ihr das Besatzungsmitglied vor. Der Deutsche nickte kurz. »Würden Sie mir bitte folgen?« Er führte sie vom Passagierterminal zu einem Versorgungsgebäude. Kaum hatten sie es betreten, deutete er auf eine Bank. »Bitte, entledigen Sie sich aller Dinge, die brenn- oder entflammbar sind. Streichhölzer, Feuerzeuge und ähnliches sind an Bord nicht erlaubt.« »Wir haben nichts Derartiges bei uns«, sagte Indy. »Danke. Und nun diese, falls es Ihnen nichts ausmacht.« Er händigte ihnen zwei Paar weiche turnschuhähnliche Schuhe aus. »Das ist ganz spezielles Schuhwerk. Wenn man diese Schuhe im Zeppelin trägt, entsteht keine statische Elektrizität. Da wir Hydrogen beim Start einsetzen, müssen wir gewisse Sicherheitsvorkehrungen einhalten.« Sie tauschten die Schuhe aus und stiegen kurz darauf hinter Kasner eine Metalleiter zu einer Art Brücke hoch. Rechts und links davon waren Stricke befestigt, an denen man sich im Notfall festhalten konnte. Die Brücke führte zum Bauch des Zeppelins. Vom Anblick des enorm langen und dicken Schiffskörpers überwältigt, blieben sie mit offenem Mund stehen. Riesige Ringe waren im Schiff zu erkennen,- Eisenträger und Stützkreuze hielten es
an Ort und Stelle. »Kommt mir vor, als stünde ich in einer Kathedrale«, sagte Gale voller Ehrfurcht. Man merkte Kasner an, daß er sich über ihre Bemerkung freute. »Vielen Dank. Unsere Mannschaft denkt genau wie Sie. In unseren Augen ist der Graf nicht einfach ein Luftschiff. Nein, für uns atmet er, lebt er, wie ein großer Wal, der am Himmel entlangzieht.« Er zeigte nach oben. »Sehen Sie diese Zellen? Es gibt siebzehn Stück davon; sie sind mit Hydrogen gefüllt und blauem Treibstoff, den wir für die fünf Motoren brauchen, die uns durch die Luft befördern.« »Mr. Kasner«, sagte Gale, ohne den Blick von der imposanten Form zu nehmen. »Wieviel wiegt dieses Schiff denn eigentlich?« »Können Sie sich vorstellen, Madam, daß es nur einunddreißig Tonnen wiegt?« Kasner genoß es, ihnen das Schiff zu beschreiben, auf das er ungeheuer stolz war. »Das Metall ist eine extrem leichte Duralumium-Legierung. Aluminium und Kupfer und andere Metalle. Hat nur einen Bruchteil des Gewichts von Stahl, ist aber genau so halt- und belastbar.« Eine leichte Brise strich über den Graf Zeppelin. In diesem Moment schienen die gerundeten Formen des Luftschiffs zu ›atmen‹. Indy deutete auf die sanft wogenden Seiten und Decken des Luftschiffes. »Das Ding bewegt sich seltsam«, fiel ihm auf. »Wie dünn ist die Duraluminiumhaut?« »Ach, Herr Parker, das ist nicht Duraluminium, sondern Baumwolle. Schließlich ist der Zeppelin fast achthundert Fuß lang und mit Baumwolle überzogen. Aber mit was für einer Baumwolle! Hervorragende Qualität. Natürlich außerordentlich strapazierfähig und mit zahllosen Schichten spezieller Farbe überstrichen. Macht den Stoff wasserdicht. Und er hält den heftigsten Winden stand. Davon haben wir uns natürlich selbst überzeugt. Wir sind durch Stürme geflogen.« »Von außen«, sagte Indy, »ist er silbern und sieht wie Metall aus.« »Ja, ja«, stimmte Kasner zu. »Die silberne Farbe reflektiert das
Sonnenlicht. Kennen Sie die physikalischen Gesetze der Hitze, Sir? Wenn zuviel Sonne darauf strahlt, dehnt sich das Hydrogengas aus, und wir fliegen höher, als es dem Kapitän gefällt. Das Silber sorgt gewissermaßen dafür, daß die Sonnenstrahlen auf ein erträgliches Maß reduziert werden.« »Ich bin beeindruckt«, gestand Indy. »So, wie der Graf das Licht reflektiert, nun -« »Sie sind ein sehr aufmerksamer Beobachter, Sir«, schnitt Kasner ihm das Wort ab. »Ich war einer der Männer, die geholfen haben, die Außenhaut mit Schleifpapier zu bearbeiten.« Indy tat so, als begreife er die Welt nicht mehr. Er zog jedes Register, um ihren Führer zufriedenzustellen. Das erwies sich später möglicherweise als hilfreich. »Sie haben das ganze Schiff mit Schleifpapier bearbeitet?« »Ja, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Keine Hubbel, keine winzigen Erhöhungen, damit der Graf ganz sanft durch die Luft gleiten kann. Geradeso, als ob er aus Seide wäre.« Indy drehte sich um und inspizierte das Herz des Luftschiffes. »Bestehen diese großen Säcke auch aus Baumwolle?« Kasner lachte amüsiert. »Das wäre nicht besonders klug, Sir«, beeilte er sich zu sagen. »All diese Zellen - manche Leute nennen sie auch Säcke sind aus Rindermägen gefertigt und mit der Struktur des Zeppelins verbunden. Sehen Sie, Herr Parker, wie die vollen Zellen dagegen drücken? So hebt das Luftschiff ab, mit dieser Kraft.« »Sie erwähnten gerade Rindermägen?« wiederholte Indy, als hielte er diese Idee für versponnen. »Ja, Sir. Wie Sie sehen, gibt es siebzehn Zellen, und jede dieser Zellen besteht gewissermaßen aus den Mägen von fünf zigtausend Ochsen.« Indy heftete den Blick auf die Gaszellen. »Das heißt, achthundertundfünfzigtausend Rinder mußten ihre Mägen für diese Zellen hergeben?« »Ja! Das ist wirklich eine Leistung, meinen Sie nicht?«
»Na, da muß es ja ein großes Barbecue gegeben haben«, murmelte Indy. »Ich verstehe nicht, Sir.« »Ein Barbecue! Ein großes Festessen mit viel Fleisch. Wie das Oktoberfest.« »O ja, natürlich!« Kasner lachte bis über beide Ohren. »Ja, ein sehr großes Fest.« Gale verspürte den Drang, das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen. »Wie viele Motoren, Herr Kasner?« »Das sind Maybachs, Madam. Fünf mit Propellern. Das ist wahrlich eine bemerkenswerte Ingenieursleistung. Jeder Motor hat seine eigene Gondel. Auf diese Weise kann unsere Mannschaft sie sogar während des Fluges reparieren, falls das nötig sein sollte.« Das Läuten der Glocken ließ Kasner verstummen. »Es tut mir leid, Sir, Madam. Jetzt sind die Passagiere aufgerufen. Sie können demnächst an Bord gehen. Wir müssen zurückkehren. Ich werde Sie dorthin bringen, wo die anderen warten.«
Sie schlössen sich den Passagieren an, die zur Gondel hochstiegen. Sie alle würden dort die nächsten Tage verbringen. Indy war nicht gerade sonderlich davon begeistert, in einer riesigen Maschine, bestehend aus fast einer Million Rindermägen, einen riesigen Ozean zu überqueren, zumal der Graf Zeppelin durch ein hochexplosives Gas vom Boden abhob und die Motoren nicht gerade mit weniger gefährlichem Brennstoff betrieben wurden. Aber es gab keine andere Reisemöglichkeit. Cordas würde an Bord sein. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, wo Caitlin St. Brendan sich aufhielt, aber Indy würde seinen letzten Dollar verwetten, daß sie in Cordas' Nähe war, ganz egal, wohin er unterwegs war. Darüber hinaus bot dieser Flug einfach die schnellste Möglichkeit, den Ozean zu überqueren. Und das, obwohl sie die Wahnsinnsstrecke über die Polarregion nahmen, wo mechanische Probleme oder ein Versagen eines oder mehrerer Motoren direkt in den kalten Tod des Eismeeres führte. Oder zu einem Leben in der
abgeschiedenen Einöde der Arktis. Seine Abneigung legte sich etwas, als er durch die ungefähr hundert Fuß lange und zwanzig Fuß breite Passagiergondel ging. Die Gondel war wesentlich komfortabler als diese lauten, klappernden, übelriechenden, vibrierenden Flugzeuge, die er sonst kannte. Der luxuriös ausgestattete Speisesaal und das Wohnzimmer beeindruckten ihn tief. Es gab sogar eine Kapelle und Tanzfläche! Ein Steward führte sie in ihr Abteil. »Kabine sechs, Sir, Madam«, verkündete er mit einer höflichen Verbeugung. »Ihr Gepäck wartet schon auf Sie.« Kabine sechs war im Vergleich zu geräumigen Hotelzimmern ein wenig beengt, aber dennoch bequem und mit allem Notwendigen ausgestattet. Es gab zwei Bettennischen mit seitlich fixierten Stangen, für den Fall, daß sie durch Turbulenzen flogen. Rutschfester Bodenbelag und einen Wandschrank. Der Graf verfügte alles in allem über zehn Kabinen. Am Ende des Flurs lagen die Waschräume und Toiletten. »Indy, sieh mal«, rief Gale ihn herbei. Sie zeigte ihm eine Karte der westlichen Hemisphäre. »Man hat unsere Flugroute eingetragen. Das ist einfach wunderbar!« Zusammen folgten sie der durchbrochenen Linie, die ihre Flugroute markierte. Gale machte kein Hehl aus ihrer Aufregung. »Indy, so sieh doch! Wir werden Dänemark überqueren, dann entlang der Küste nach Finnland fliegen. Dort bin ich noch nie gewesen! Und dann kommen wir noch über Schweden und Norwegen -« »Direkt auf die Jan-Mayen-Insel«, las er. »Das ist wahrscheinlich nur ein Navigationsfixpunkt«, verriet sie ihm. »Später machen wir einen Bogen nach Südwesten. Und wir werden Island und Grönland passieren.« »Meinst du, wir kommen auch über die Eisdecke?« fragte er sie. »In Grönland?« Sie schüttelte den Kopf. »Ach nein. Die Eisdecke ist zehntausend Fuß hoch. Viel zu hoch für den Zeppelin. Aber es wird toll sein,
sie dort aus der Ferne zu sehen, meinst du nicht?« »Uh-huh.« »Deine Begeisterung hält sich ja in Grenzen.« Er tippte auf die Karte. »Das hier ist Kanada«, verriet er ihr. »Wenn dieser Gasbeutel endlich wieder über festem Boden ist, dann werde ich enthusiastisch sein. Wenn ich nach unten schauen und Bären und Wölfe und Elche sehen kann, werde ich glücklich sein. Und genieß du nur die Wale und Eisberge, okay?« »Du bist das, was ihr Amerikaner einen Spielverderber nennt, Indy. Du wirst es lieben, wenn wir erst mal in der Luft sind. Das verspreche ich dir.«
VIERZEHN Alles kam so, wie es zuvor versprochen worden war. Die durch die großen Fenster starrenden Passagiere sahen zu, wie Hunderte von Mitarbeitern der Flughafencrew sich an die reißfesten Leinen hängten, von denen ein Teil an der hundert Fuß langen Gondel befestigt waren. Sie sorgten dafür, daß das Luftschiff am Boden blieb, während sie es ganz aus dem Hangar rausbugsierten. »Das ist hier ja wie im Zirkus«, lautete Indys Kommentar. »Aber ich muß zugeben, daß diese Leute was draufhaben. Sie führen jede Handbewegung ganz präzise aus, ohne die geringste Zeit zu verschwenden.« »Hast du von den Teutonen etwas anderes erwartet?« erwiderte sie. »Nein«, gab er zu. »Die haben sogar an die Blaskapelle gedacht, die dort unten ihr Humptata zum Besten gibt.« Sie lehnte sich vor, um besser sehen zu können. »Wir sind aus dem Hangar draußen«, rief sie hocherfreut. »Jetzt werden wir gleich die Glocken und das Pfeifen hören.« Er zog die Augenbraue hoch und blickte sie an. »Die Glocken und das Pfeifen?« »Spitz deine Ohren. Du wirst es gleich hören -« Eine Glocke schnitt ihr das Wort ab. Sie mußte lachen. »Auf unsere deutschen Freunde kann man sich eben verlassen. Die verhalten sich an Bord dieses Luftschiffes genauso wie auf einem Schiff, das übers Meer fährt. Glocken und Pfeifen anstelle von Elektrizität. Jeder hört es, weiß, was es bedeutet. Und je weniger Elektrizität sie unter den Hydrogenzellen benutzen, desto besser. Wenn jemand aus dem Kontrollraum mit jemandem im Mannschaftsraum
sprechen möchte, dann telefonieren sie nicht, sondern funken.« »Finde ich nicht dumm«, stimmte er zu. Er schaute sich um. »Das heißt, sie haben alles im Griff, oder?« »Richtig. Hörst du? Jetzt werden die Motoren eingeschaltet.« Sie spürten die Vibrationen, die von den Maybachs mit den großen Propellern verursacht wurden. Nachdem die Motoren einmal liefen, legte sich das Zittern wieder etwas. Nun klang es eher wie ein angenehmes Summen, das einen nicht weiter belästigte. Die Mannschaft unten drehte den großen Schiffskörper, richtete die Nase des Zeppelins in Windrichtung aus. Die Motoren drehten sich schneller, die ›Graf Zeppelin‹ bewegte sich langsam vorwärts. Und dann ließen die vielen Männer alle gleichzeitig die Seile los. Die Motoren übernahmen die Kontrolle. Der Zeppelin war frei. »Sie werden genug Geschwindigkeit beibehalten, um langsam aufzusteigen«, plapperte Gale munter weiter. »Behalte den Boden im Auge. Sonst kriegst du nicht mit, wie wir hochgehen.« Indy war richtig überrascht. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Er spürte nicht im mindesten, daß sie vom Boden abhoben. Ganz im Gegenteil, das Luftschiff schien in der Luft stillzustehen, während die Erde langsam unter ihnen wegsackte. »Das ist unglaublich.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich befinde mich in einem Luftschiff, das mehrere Straßenblocks lang ist, und es ist stromlinienförmig, und es ist zehn Stockwerke hoch, und trotzdem heben wir ab.« Am Fenster stehend, spürte er das Dröhnen der Motoren durch den Fußboden. Es war ihm immer noch unbegreiflich. Die Gebäude wurden von Minute zu Minute kleiner. Dann, in einer Höhe von zweitausend Fuß, beendete der Zeppelin seinen Aufstieg und begann den Flug in Richtung Dänemark. Gale zupfte ihn am Ärmel. »Indy, weilst du noch unter uns?«
Er drehte ihr den Kopf zu. In seinen Zügen spiegelte sich Zufriedenheit. »Eine Weile, nur eine Weile lang, war ich tatsächlich in der Lage, alles zu vergessen, was in letzter Zeit um mich herum geschehen ist.« »Ich weiß, was du meinst«, sagte sie leise, woraufhin ihm wieder einfiel, daß diese Frau eine erfahrene und fähige Pilotin war. Gale seufzte. »Es ist an der Zeit, wieder in die reale Welt zurückzukehren«, flüsterte sie. Es fiel ihr schwer, sich von der atemberaubenden Aussicht abzuwenden. »Gibt es bald Abendessen?« »Ja, so ist es, und« - sie schob ihm den Arm unter - »das Abendessen im Graf Zeppelin ist immer formell. Ach ja, unser Steward meinte, daß das Wiener Schnitzel fabelhaft ist.« »Du hängst an mir wie eine ertrinkende Ratte«, bemerkte er. »Aber sicher.« Sie lächelte und trat näher. »Vergiß nicht, Mister Parker, jedermann sollte uns für ein frisch verliebtes Paar halten.« Im Speisesaal hatten sie einen Tisch am Aussichtsfenster. Unter ihnen lag der Ozean, über ihnen der Himmel. Der Anblick Gales, die heute ein Abendkleid trug, hatte Indy die Sprache verschlagen. Sie war wunderschön. Ihr rotes Haar leuchtete, als finge es das Abendrot ein. Sie beobachtete ihn schweigend, ehe sie wieder mit der Gabel in ihrem Salat herumstocherte. Die gedämpfte Unterhaltung der anderen Passagiere und das Dröhnen der Motoren sorgten dafür, daß sie sich ungestört unterhalten konnten. »Hast du eine Ahnung, wo Caitlin steckt?« fragte sie ihn leise. Indy schüttelte den Kopf. »Ich war gerade im Begriff, dir dieselbe Frage zu stellen. Du und sie, die Schwesternschaft. Du spürst ihre Gegenwart, selbst wenn du sie nicht sehen kannst. Funktioniert das hier auch?« »Ja, das tut es.« Ihre Augenlider flatterten, dann öffneten sie sich ganz. »Sie ist mit uns an Bord dieses Schiffes. Ich weiß allerdings nicht, wo«, fügte sie leicht frustriert hinzu.
»Wie du schon sagtest, sie ist eine Meisterin, was Verkleidung betrifft«, sagte Indy. »Und dann ist da noch Cordas. Er ist ebenfalls hier. Er ist mir noch nicht unter die Augen gekommen, aber er steht auf der Passagierliste. Was ich wirklich liebend gern erfahren möchte, ist, wie viele Schlägertypen er mitgebracht hat.« Gale war überrascht. »Du scheinst dir seinetwegen kein Kopfzerbrechen zu machen.« »Tu ich auch nicht. Jedenfalls jetzt noch nicht. Wir können nicht abhauen, er auch nicht, und niemand ist im Besitz von Waffen, nicht mal die Mannschaft.« Er zuckte mit den Schultern. »Also, was soll´s.« »Ich bin der Ansicht, daß er uns keines Blickes würdigen wird, Indy.« Gale blickte sich um und machte eine ausladende Handbewegung. »Neutrales Territorium.« »Für uns«, murmelte er. »Aber Caitlin wird sich ihm an die Fersen heften. Und bis dahin müssen wir gezwungenermaßen abwarten.« »Ich weiß«, stimmte sie ihm zu. »Und das paßt mir gar nicht. Ich möchte die Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen.« Indy hörte ihr nicht zu. Sein Blick fixierte einen Punkt auf der anderen Seite des Speisesaals. Dann lächelte er ihr zu. »Dreh nicht den Kopf«, flüsterte er. »Der Mann, der direkt hinter dir sitzt, auf der anderen Seite des Saals. Rothaarig und mit einem Bart. Sieht wie ein Wikinger aus.« »Du kennst ihn?« »Das ist Cordas. Er grinst mir zu, als ob ich schon an seinem Köder zappeln würde.« »Was!« »Dreh dich nicht um! Du wirst ihn schon noch früh genug zu Gesicht kriegen.« Gales Muskeln versteiften sich unbewußt. »Indy.« Sie sprach ganz langsam, preßte jedes einzelne Wort zwischen den Zähnen heraus. »Wir können nicht hier sitzen bleiben, während er -«
»Denk nach«, befahl er ihr. »Was würdest du tun? Dich vor ihm aufbauen? Hast du Beweise dafür, daß er etwas mit dem Gemetzel im Glen zu tun hatte?« »Nein, aber -« »Was willst du dann machen? Ihn bei Kapitän Eckener anschwärzen? Schließlich hat er die Macht, jedermann hinter Gitter zu bringen. Aber falls er dich um Belege bittet für deine Behauptungen und du sie ihm nicht geben kannst, wirst du dich zum Narren machen.« »Indy, glaubst du, daß Cordas seine Hände im Spiel hatte? Im Glen?« »Absolut. Alles deutet darauf hin. Aber wir werden uns gedulden müssen, bis wir einen Beweis dafür haben. Erst dann können wir ihn damit konfrontieren. Ihn herausfordern. Gale, hat nicht genau das Caitlin zu Treadwell gesagt? Hat sie nicht versprochen, erst anzugreifen, wenn man sie dazu zwingt?« Gales Miene hatte sich verdüstert. »Ja«, sagte sie mit einem Kopfnicken. »Tja, dann können wir nur rumsitzen und warten, was passiert.« Er zeigte auf ihren Teller. »Iß doch weiter.« »Ich bin nicht hungrig«, erwiderte sie verdrossen. »Na, ich schon«, sagte er absichtlich fröhlich und widmete sich seinem Menü. »Morgen früh werden wir eine Menge Energie benötigen. Es wäre klüger, wenn du etwas essen würdest.« »Oh! Was haben wir denn vor?« »Ich habe kurz mit dem Navigationsoffizier gesprochen, Karl Jaeger heißt der Mann. Ich möchte mich hier auf dem Schiff noch mal umsehen, und zwar so lange wir noch in der Luft sind. Jaeger hat sich schon mit Eckener in Verbindung gesetzt. Wir kriegen also eine zweite Führung. Wie es aussieht, hat Treadwell extrem gute Beziehungen zu der ZeppelinLuftschiffgesellschaft.« Beim Sprechen wedelte er mit der Gabel. »Und man weiß ja nie, wie wichtig es ist, das Territorium zu kennen.« Dem Anschein nach waren ihre Lebensgeister wieder erwacht. »Das klingt
ganz nach dem Mann, den ich kenne.« Der Morgen erstrahlte in atemberaubender Schönheit. Golden leuchtend setzte die Dämmerung am fernen Horizont ein. Der Zeppelin flog in einer Höhe von tausend Fuß über dem Meeresspiegel. Das Wasser glühte pinkfarben, während die Eisberge strahlendgelb glitzerten. Indy stand neben Gale und bestaunte durch die Fenster die sich unvermutet schnell ändernden Lichtverhältnisse. Selbst hier in der Führergondel schienen die Motoren sich auf den neuen Tag einzustellen. Ihr Dröhnen war überall zu hören und zu spüren. Kurt Jaeger beugte sich vor. Mit den Händen stützte er sich auf den Haltestangen an den Aussichtsfenstern ab, ehe er sich an Gale und Indy wandte. »Das ist wunderschön«, sprach er ihre Gedanken laut aus. »Nun, sind Sie bereit? Darf ich Ihnen jetzt diese wunderbare Maschine zeigen?« »Bitte, gehen Sie voran«, bat Gale in warmherzigem Ton. »Diese Führergondel ist«, erklärte Jaeger, »quasi das Herz und die Seele des Zeppelins. Diese Räder und Ketten« - er zeigte auf die Kontrollen - »erlauben uns, das Schiff in der Luft zu manövrieren. In einer großen Maschine wie dieser hier muß jede Bewegung im voraus und detailliert geplant werden. Also ganz anders als in einem Flugzeug. Hier muß alles ganz langsam vonstatten gehen, und die Mannschaft vergißt nie, daß wir allein durch die Ausdehnung des Gases aufsteigen können.« Er deutete auf eine Luke, hinter der sich ein Kartenraum verbarg, wo die Mannschaft Wetterberichte und Karten aufbewahrte. »Am besten können wir selbstverständlich in einer klaren Nacht navigieren«, erläuterte Jaeger. »Weil wir unsere Geschwindigkeit so genau kontrollieren und wir uns verhältnismäßig langsam fortbewegen. Die Sterne und Planeten erlauben uns eine ganz präzise Routenplanung.« Sie folgten ihm in den Funkraum, von dem aus die Kommunikation im Luftschiff gesteuert wurde. Längs der beiden Seiten waren riesige Funkgeräte
aufgebaut. »Kurzwellen bieten die größte Reichweite. Wir benutzen den Morse-Kode.« »Und der Schiffskörper«, fragte Indy neugierig wie immer, »fungiert als Antenne für niedrige Frequenzen?« »Ja, genau so ist das, Herr Parker. Natürlich können wir uns auch ganz normal unterhalten. Entlang unserer Route haben wir mit vielen Stationen gesprochen, sowohl mit denen auf Schiffen als auch mit denen auf den Inseln, über die wir geflogen sind.« »Von hier aus«, meinte Indy und studierte die Funkgeräte, »könnten Sie auch mit jemandem in Japan, das ziemlich weit entfernt ist, Kontakt aufnehmen?« Indys Frage überraschte Gale. Sie versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. Schließlich kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, daß er immer einen triftigen Grund hatte, wenn er so seltsame Dinge fragte. Jaegers Miene verriet Zweifel. »Das hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Sie sprechen schließlich von einem Land auf der anderen Seite der Welt. Die Bedingungen müßten auf jeden Fall perfekt sein, und trotzdem bestünde der Kontakt sicherlich nur wenige Minuten.« »Nun, lassen Sie uns mal annehmen, Sie wollten von hier aus, von diesem Punkt aus, Kontakt mit Japan aufnehmen. Wie würden Sie das anstellen?« drängte Indy ihn. »Am besten wäre es, wenn wir eine Nachricht zu der nächsten Inselstation senden und um eine Weiterschaltung bitten. Das kann Minuten, aber auch Stunden dauern. Möchten Sie jemandem eine Nachricht in Japan übermitteln, Herr Parker? Ich würde mich sehr gern darum kümmern, falls das der Fall sein sollte.« Indy hielt die Hand hoch. »Nein, vielen herzlichen Dank. Meine Neugier wurde durch einen der anderen Passagiere entfacht. Durch diesen Japaner, der ein Zeremoniengewand trägt. Vielleicht muß er einmal auf diese Möglichkeit zurückgreifen.«
»Ja, ich weiß, wen Sie meinen. Das ist Toshio Kanamake. Soweit ich weiß, ist er Priester. Aber mehr kann ich schon nicht mehr über ihn sagen.« Ein Mannschaftsmitglied näherte sich ihnen. Jaeger entschuldigte sich mit dem Versprechen, gleich wieder zu ihnen zurückzukehren. Indy und Gale traten näher ans Fenster, wo die Motorengeräusche lauter waren, so daß man ihr Gespräch nicht belauschen konnte. »Seit wann interessierst du dich so sehr für diesen Japaner?« fragte sie ihn sofort. »Weil er nicht echt ist. Das ist eine Verkleidung«, erwiderte Indy. Er beugte sich hinunter, als inspiziere er ein Funkgerät. »Das ist Caitlin«, flüsterte er. »Was?« »Sprich leise, Karottenkopf. Ich habe einige Zeit in Japan verbracht. In diesen Zeremoniengewändern kann sich niemand so elegant und leichtfüßig bewegen. Das ist sie, ich schwöre es. Die Haare, Hautfarbe, der Bart ... Sie hat sich Mühe gegeben, das muß man ihr lassen. Doch gestern abend bin ich endlich dahintergestiegen.« »Aber warum hat sie diese aufsehenerregende Kleidung gewählt?« »Das ist doch perfekt. Sie kann darunter ihr Schwert tragen.« Als Jaeger wieder zu ihnen trat, drehte Indy sich schnell um. »Herr Parker? Frau Parker? Ich würde jetzt gern fortfahren.«
Nun besichtigten sie zum zweiten Mal den riesigen Schiffsrumpf des Luftschiffs. Doch heute wirkte alles ganz anders auf sie. Der riesige Zeppelin lebte geradezu. Majestätisch schwebte er durch die Luft, begleitet von dem Motorenlärm, den sich stetig ändernden Winden und dem sanften Schaukeln der Gondel. Jetzt, wo die Sonne durch die Baumwolle drang, wirkte der Graf zum ersten Mal wie ein funkelnder Technologiepark. Beim ersten Besuch hatten sie das Empfinden gehabt, sich in einer Kathedrale aufzuhalten, aber heute hatten sie eher den Eindruck, in einer überdimensionalen unterirdischen Höhle zu stehen.
Hinter Jaeger gingen sie über die Duraluminiumstege, stiegen die Leitern hoch, die sie bis ganz oben unter die Zeppelindecke brachten. Dort gab es Luken, über die man nach draußen gelangen konnte. Indy stellte sich vor, wie ein Mann draußen auf dem Rumpf saß und ein silbernes Luftschiff ritt, das achthundert Fuß lang war und sich wie von Zauberhand angetrieben fortbewegte. Und genau hier war die Mannschaft des Schiffes untergebracht. Hier gab es Kabinen, Lagerräume für die Fracht, für Lebensmittel und Wasser. Und Wasch- und Arbeitsräume für die Männer, die sich um die Motoren kümmerten. Ein tiefer Summton schwoll an, als Jaeger sie in den Generatorenraum führte. Die brummende, arbeitende Maschinerie beeindruckte sie. »Hier drinnen ist selbstverständlich alles isoliert, frei von statischen Entladungen. Hier sind wir vom Rest der Welt isoliert.« Jaeger grinste. »Diesen Raum nennen wir den Arbeitsplatz des Teufels. Was immer mit dem Zeppelin passiert hat hier seinen Ursprung.« »Der Herzschlag«, sagte Indy zu dem deutschen Offizier. »Wunderbar«, rief Jaeger begeistert. »Besser hätte ich es nicht ausdrücken können.« Sie gingen weiter, besichtigten jeden Winkel, stiegen durch Luken und Leitern hoch. Männer in einer Höhe von hundert Fuß über ihnen unterhielten sich miteinander. Der Singsang menschlicher Stimmen vermischte sich mit dem Dröhnen des Antriebs. Jaeger gab ihnen mit einem Zeichen zu verstehen, daß sie nun in die Passagierräume zurückkehren mußten. »Gleich wird das Frühstück serviert«, verriet er mit einem Lächeln. »Und unser Chefkoch wird verärgert sein, falls Sie meinetwegen eine seiner leckeren Mahlzeiten auslassen. Er ist sehr stolz auf seine Fähigkeiten. Und außerdem werden Sie während des Frühstücks noch mit einem erstklassigen Blick auf den ersten großen Eisberg verwöhnt.» »Und auch auf Wale?« fragte Gale.
Jaeger lachte. Er war der perfekte Führer. »Ja, Frau Parker. Ich verspreche Ihnen, daß Sie auch Wale zu Gesicht bekommen werden.«
FÜNFZEHN Unter einer gigantischen Zeitbombe zu hängen, die mit Hydrogen gefüllt war und über eine bitterkalte See hinwegflog, stellte Gales Geduld auf eine schwere Probe. Schlechtgelaunt blickte sie aus dem Aussichtsfenster. »Wie lange willst du hier noch untätig wie ein Möbelstück herumsitzen?« explodierte sie schließlich. »Und all das, während ein Mörder frei herumläuft, uns freundlich zunickt und angrinst? Er grinst uns an!« »Aber was macht das schon?« erwiderte Indy gelassen. »Das tut uns nicht weh - und Caitlin auch nicht, um ehrlich zu sein.« Woraufhin Gale wieder in mißmutiges Schweigen verfiel. Indy hatte alle Mühe, seine eigene Ungeduld, die sich von Stunde zu Stunde steigerte, in den Griff zu bekommen. Er wußte genau, wie Gale sich fühlte. Aber alles hing nun vom richtigen Zeitpunkt ab. Hier ging es nicht nur darum, Cordas für seine Verbrechen zu bestrafen. Indy war der festen Überzeugung, daß Vergeltung allein um der Vergeltung willen nichts mit Gerechtigkeit zu tun hatte. Sie durften das Gesetz nicht in die eigenen Hände nehmen, weil sie sich dann nicht von gewöhnlichen Kriminellen unterschieden. Je länger er über diese Situation nachdachte, desto besser konnte er Gales Verzweiflung und Zorn nachempfinden. Gale und Indy befanden sich nun auf der rechten Seite des Grafen, die nach Norden zeigte. Sie hatten Dänemark passiert, die Ostsee, Finnland und Norwegen, waren an der Jan-Mayen-Insel vorbeigekommen und beschrieben nun einen weiten Bogen über die Straße von Dänemark. Während sie direkt auf Kap Farewell an der Südspitze Grönlands zuhielten, lag Island zu ihrer Linken, Grönland zu ihrer Rechten.
Eisberge, treibende Inseln von leuchtendem Weiß, waren unter ihnen aufgetaucht. Gale stützte das Kinn auf den Handflächen ab, schob die trüben Gedanken beiseite und ließ sich auf die Wunder ein, die sich unter ihr auftaten. Die Sonne, nun ein blasser und ferner Stern, hing tief am Horizont. Sie flogen über eine vollkommen ruhige See, auf der keine Welle zu sehen war, es sei denn, einer der großen Wale tauchte auf, um Luft zu holen. Dann spritzte eine Fontäne auf, die sogleich vom Wind weggetragen wurde. Am späten Nachmittag gesellte sich Jaeger zu ihnen. Er zeigte nach Norden. »Diese kleinen Wölkchen dort oben. Sehen Sie sie?« Ungefähr eine Meile über ihnen waren Zirruswolken zu erkennen. Auch ohne Jaegers Erklärung wußte Gale, was sie zu bedeuten hatten. »Wir dürfen wohl mit einer näher ziehenden Front rechnen«, sagte sie. »Wie weit ist sie noch weg?« »Fünfzig, vielleicht sechzig Meilen«, antwortete er mit ernster Miene. »Ich brauche Ihnen nicht zu verheimlichen, womit wir es meiner Einschätzung nach zu tun kriegen werden. Das ist eine Sturmfront, die sich uns mit großer Geschwindigkeit nähert.« »Wir werden also hineingeraten?« fragte Indy. Gale und Jaeger nickten gleichzeitig. »Ich fürchte, ja, Sir. Und das Thermometer fällt beängstigend schnell. Irgendwann im Laufe der Nacht werden wir mehr wissen.« Er zuckte mit den Achseln. »Leider gibt es hier im Norden nicht viele Stationen, die uns Informationen übermitteln können.« Er versuchte, sie mit einem freundlichen Lächeln zu beruhigen. »Aber heute abend wartet ein erstklassiges Mahl auf Sie. Ich hoffe, Sie werden es genießen.« In ihrer Kabine gab Gale Indy einen klugen Rat. »Verzichte auf schicke Klamotten. Es wird beträchtlich kälter, darauf kannst du dich verlassen.« »Das ist mir auch schon aufgefallen«, erwiderte er. »Und diese Kabinen sind nicht beheizbar«, fügte sie zur Aufmunterung hinzu.
»Ich weiß. Meine Gänsehaut klärt mich über solche Dinge auf.« »Bist du hungrig, Indy?« Er grinste. »Immer.« »Dann laß uns essen gehen«, schlug sie vor. »Oh, damit ich es nicht vergesse. Wir werden heute abend mit einem amerikanischen Kapitän den Tisch teilen. Er ist Wissenschaftler. Er hat diese Reise angetreten, um Informationen zu sammeln, was das Fliegen in nördlichen Regionen betrifft.« Indy holte seine Lieblingslederjacke aus dem Wandschrank. »Halte dich an deinen Rat. Zieh dich an. Pack dich warm ein. Ich warte in der Lounge auf dich.« Das Abendessen hielt Jaegers überschwenglicher Beschreibung stand oder übertraf sie sogar noch. Das Gefühl, ohne spürbare Anstrengung über einen weiten Ozean zu fliegen, während man in einer üppig ausgestatteten Lounge, die vor Luxus nur so strotzte, zu Abend aß und das bei einer Geschwindigkeit von achtzig Meilen pro Stunde, war so überwältigend, daß man es keine Minute vergaß. Leider wurde das besondere Spektakel durch die Ausläufer oder Vorboten der von Norden heraufziehenden Sturmfront etwas getrübt. Die ›Graf Zeppelin‹ zitterte im böigen Wind. Sie merkten, wie das Luftschiff aufstieg und in Luftlöcher absackte, um sich dann - Minuten später - wieder in die Normallage einzupendeln. Die Mannschaft war bemüht, die bevorstehenden Unannehmlichkeiten mit allen Mitteln zu lindern. Zum Abendessen wurde den Passagieren eine beachtliche Anzahl an Weinen offeriert. Es gab frisches Obst und ein Sorbet, Shrimps- und Hummerhäppchen, brutzelnde Lammkotletts, eine Auswahl an Gemüsen und Kartoffeln, geräucherten Lachs und vier Sorten Kaviar. Funkelndes Porzellan aus Bayern prangte auf den Tischen. Und kein Weinglas blieb leer. Zum Nachtisch wurden Kuchen aus einem Dutzend verschiedener Nationen angeboten. Und der Zeppelin zitterte von Minute zu Minute stärker. Indy studierte die Mannschaft. Das Lächeln des Stewards wirkte gekünstelt.
Die wachsende Anspannung wurde zusehends spürbar. Nicht das Gefühl von Furcht oder Sorge beherrschte den Abend, sondern die Entschlossenheit, das Luftschiff gegen die aufziehende Gewalt zu wappnen, wie ihm voller Zufriedenheit auffiel. Fast widerwillig verabschiedete sich das gute Wetter und dieser wunderschöne tiefe Ozean des Himmels, der ihnen bislang eine bequeme und ruhige Reise gewährleistet hatte. Inzwischen mußte der Zeppelin dem gewaltigen Druck standhalten , der gegen den Schiffsrumpf drängte. In der Lounge waren eigenartige Geräusche zu hören. Kapitän Richard Pruett hob den Blick, als könne er in die Ferne sehen. »Das ist der Graf, der schwer atmet«, merkte er mit einer Gelassenheit an, die Indy angenehm auffiel. »Ja, das stimmt«, antwortete Gale auf seinen Kommentar und gab ganz beiläufig ihr Wissen über die Flugkräfte preis. »Die äußere Hülle. Würde sie nicht über diese Elastizität verfügen, würde das Material sofort reißen. Aber so ...« Sie verspürte nicht die Lust, den Gedankengang zu Ende zu führen. Indy beugte sich vor. »Mir fehlt es an Mrs. Parkers Zuversicht, was dieses Monstrum anbelangt, das auf der einen Seite so mächtig, auf der anderen so empfindlich wirkt. Wird es tatsächlich einem Sturm standhalten, frage ich mich. Aber Ihnen gelingt es, meine Zuversicht zu bestärken«, verriet er Pruett. Der Kapitän lachte. »Lassen Sie's mich mal so ausdrücken. Es könnte schon noch ganz schön heftig werden, ehe wir den Sturm hinter uns haben, aber das ist das beste Luftschiff, das jemals gebaut wurde. Glücklicherweise muß ein Schiff wie dieses nicht im Herzen des Sturms ausharren und dem Kampf der Elemente trotzen. Kapitän Eckener ist der erfahrenste Luftschiffkapitän der Welt. Wir werden in die Winde eintauchen, uns von ihnen treiben lassen, falls er glaubt, daß er damit den Luftdruck auf dieses Monstrum, wie Sie es nennen, vermindern kann.« Indy hielt sein Weinglas hoch und toastete stumm dem Kapitän und ›Mrs.
Parker‹ zu. Nach dem Essen verstärkte sich das Zittern des Schiffes, das unter dem Luftdruck aufstöhnte. Sie sahen, wie sich die dunkle Sturmfront am westlichen und nördlichen Horizont vor die untergehende Sonne schob. Heute mußten sie auf das beeindruckende Abendrot verzichten. Die ungewohnte Schattierung des Himmels befremdete die Passagiere mehr als der heftige Wind und die dicken Wolken, Die Menschen verließen ihre Tische, begaben sich in ihre Kabinen und kehrten, in Pelzmäntel gehüllt, mit Handschuhen, Kappen und schweren Stiefeln bekleidet, zurück. Die Unterhaltungen wurden immer spärlicher. Mit großen Augen beobachteten die Menschen, wie die Mannschaft alle möglichen Gegenstände festband und verstaute. Kapitän Pruett wandte den Blick von den Stewards ab, die gerade damit beschäftigt waren, Tische und Stühle zu fixieren. »Komme mir wie auf einem Schiff zur See vor«, meinte er. »Schotten hoch, um sich vor dem aufziehenden Sturm zu schützen.« »Das ist das erste Mal, daß Sie dieses Wort verwenden«, sagte Indy. »Sturm, meine ich.« »Tut mir leid, das war keine Absicht. Ich habe den Himmel eine Zeitlang im Auge behalten. Und mich vorhin mit unserem Freund Jaeger unterhalten. Wir haben darüber diskutiert, was dieses Durcheinander in der Atmosphäre ausgelöst hat. Über Nordkanada liegt ein riesiges Tiefdruckgebiet. Dahinter, in den arktischen Regionen, Hochdruck. Und Sie kennen ja bestimmt die alte Redewendung. Die Natur verabscheut ein Vakuum. Hochdruckgebiete ziehen immer irgendwo Tiefdruckgebiete nach sich. Also drängt der Hochdruck aus der Arktis runter, und das Tief, das über uns hängt, wartet nur darauf, Regen abzulassen. Da es Druck aus dem Norden kriegt, ist der Luftdruck nicht mehr stabil, und deshalb haben wir es jetzt mit dieser Situation zu tun.« Als ginge es der Natur darum, einen Beweis für Pruetts Theorie zu liefern, schlug kräftiger Wind gegen den Zeppelin. Er vollführte kleine Pirouetten; Pruett grinste. »Genau wie ein altes Segelschiff, das bei schlechtem Wetter
stöhnt und ächzt. Ich mag diese Geräusche irgendwie.« »Wie interessant«, gab Indy mit regloser Miene zurück. Er mochte diese Geräusche überhaupt nicht leiden. Vor langer Zeit, als er als Junge in einem alten klapprigen Ford über eine unbefestigte Straße gebraust war, hatte er Geräusche gehört, die denen von heute ganz ähnlich gewesen waren. Mit dem Unterschied, daß der Ford kurze Zeit darauf endgültig zusammengebrochen war. Die Kühlung hatte versagt, der Keilriemen war gerissen, der Motor hatte den Geist aufgegeben, und schließlich war das Getriebe mit lautem Knall auf der Straße gelandet. Alles, was sich bewegte und gleichzeitig ächzte und stöhnte, fand Indy relativ beunruhigend. Innerhalb einer Stunde regnete es in Strömen. Das Abendessen lag längst hinter ihnen. Die Passagiere hatten sich warm eingehüllt, es sich in ihren Sesseln bequem gemacht und hatten alle Mühe zu verhindern, daß der Kaffee aus ihren Tassen schwappte. Der eisige Regen, der gegen die Fenster trommelte, machte ein beunruhigendes Geräusch. Aus dem Bauch des Zeppelins drang ein nicht näher zu bestimmender Lärm zu ihnen hoch. »Das«, klärte Pruett sie in aller Seelenruhe auf, »gefällt mir wiederum gar nicht.« Er rückte näher an Gale und Indy heran. »Die Temperatur ist erbärmlich. Tiefer fallen kann sie gar nicht. Der Regen, den wir gegen die Fenster schlagen hören, friert draußen am Luftschiff fest. Und ich denke, Sie wissen, was das bedeutet.« Er lehnte sich zurück, ohne seine Warnung weiter auszuführen. Doch Gale wußte, worauf er anspielte, während Indy im dunkeln tappte. Aber es dauerte nicht lange, bis er sich einen Reim darauf gemacht hatte. Eisiger Regen fror auf der Oberfläche des Rumpfes fest, und somit bildete sich eine Eisschicht auf der Baumwolle des Zeppelins. Eis verstärkt das Gewicht, das Gewicht reduziert die Auftriebskraft, und der Ozean ist für meinen Geschmack eh schon viel zu nah ... In diesem Moment hörten sie, wie die effizienten und starken Maybach-Motoren ihre Leistung steigerten, wie die Propeller sich schneller drehten, um mit dem zusätzlichen
Gewicht des Eises fertig zu werden. »Jetzt wird es langsam spannend.« Mit einem breiten Grinsen im Gesicht stand Kapitän Pruett auf. »Ich werde mich in meine Kabine zurückziehen. Ach ja, ich wollte Ihnen noch sagen, ich habe das gemeinsame Abendessen sehr genossen, Mr. und Mrs. Parker.« »Wir auch«, sagte Gale fröhlich. »Sind wir nicht alle nette, soziale Menschen?« warf Indy stirnrunzelnd ein. »Versuchst du, deine Besorgnis wegen des Sturms vor mir zu verheimlichen?« Sie legte die Hand auf seinen Arm. »Darauf kannst du Gift nehmen«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Indy lachte. »Na, dann bin ich wenigstens nicht allein. Kommst du dir auch wie ein Feigling vor?« »Ja.« Sie rückte näher an Indy heran. »Wenn wir in einem Flugzeug säßen, mit richtigen Tragflächen und allem, würde ich mich gleich viel besser fühlen, und -« Sie hielt inne, als sie Kurt Jaeger näher kommen sah. Er verbeugte sich knapp und händigte Indy einen versiegelten Umschlag aus. »Das hier ist für Sie, Mr. Parker. Wurde gerade eben telegrafisch, beziehungsweise per Funk übermittelt. Von nun an sind die Kommunikationsmöglichkeiten stillgelegt.« Indy hielt den Umschlag in der Hand. Öffnen wollte er ihn erst, wenn sie allein waren. »Ich danke Ihnen, Mr. Jaeger.« Wieder verbeugte Jaeger sich. »Halten Sie sich gut fest, meine Freunde. Falls Sie mich nun entschuldigen, die Pflicht ruf t.« »Aber sicher«, meinte Gale, wie immer die Freundlichkeit in Person. Jaeger lächelte. »Ich sehe Sie dann wieder, wenn die Sonne scheint«, sagte er und verabschiedete sich. »Das hoffe ich auch«, murmelte Indy Gale zu. Der Zeppelin zitterte inzwischen wie ein nasser Hund.
SECHZEHN Indy schloß die Kabinentür hinter ihnen ab. Gale legte sich in ihre Koje und sah zu, wie er den Umschlag öffnete und den Inhalt überflog. »Der Absender ist Sherwood.« »Sherwood?« fragte sie ungläubig. »Der Wald. Die Nachricht stammt offenkundig von Treadwell. Ist nicht einfach, sie laut vorzulesen. Ich meine, sie klingt leicht durchgeknallt. Lies sie nachher selbst.« Sie wartete ungeduldig, nicht ohne zu bemerken, daß sich die Falten auf seiner Stirn vertieften. Hin und wieder schmunzelte er, stockte oder mimte den Pokerspieler, der nichts preisgab. Schließlich reichte er ihr das Papier. PFERD NUN HINTER KARREN. STOP. BESTÄTIGE PYRAMIDENKONFIGURATION JOHNNY NIMMT ROUTE NEUNZEHN. STOP. GELBES TUCH KINGSLEY SÜD GEBET ST. JOHN ERLÖSUNG TOTER MANN. STOP. ALTE GRAUE MÄHRE IST TOT. STOP. FOLGT SEMINOLENGEI-STER JAGT ZUG SECHZEHN OHREN VIELE. STOP. ENDE. Sie hielt das Papier von sich, als könne sie dessen Inhalt leichter verstehen, wenn sie es aus einiger Entfernung betrachtete. »Indy, mich beschleicht das Gefühl, eher Sanskrit verstehen zu können als dieses Durcheinander.« Er mußte lachen. »Okay, laß mich dir helfen. Die erste Zeile lautet ›Pferd nun hinter Karren. Stop‹.« »Und das heißt was?« »Das sagt uns, daß gewisse Dinge durcheinander sind, daß wir eine blinde Spur verfolgen und wieder zurück auf den ursprünglichen Kurs müssen.«
Weil der Kabinenlautsprecher anging, sagte er nichts weiter. »An alle Passagiere. An alle Passagiere. Kapitän Eckener bittet Sie darum, sich umgehend in der Lounge einzufinden. Bitte begeben Sie sich sofort in die Lounge. Vielen Dank.« Indy faltete das Blatt Papier zusammen und steckte es in die Jackentasche. »Dann wird das hier eben warten müssen. Laß uns gehen.« Als sie die Kabine verließen, wurde die Nachricht noch in anderen Sprachen übertragen. Einigen Passagieren sah man ihre Angst an. Der Wind schüttelte den Zeppelin heftig durch. Manchmal zeigte die Luftschiffnase in einem steilen Winkel nach oben, und die Mannschaft hatte große Mühe, den Zeppelin wieder in die Normallage zurückzubringen. Es fiel allen schwer, das Gleichgewicht zu halten, und ein paar Passagiere, denen inzwischen übel war, brauchten Hilfe. Die Menschen klammerten sich an die vertikalen Streben in der Lounge oder setzten sich in am Boden festgeschraubte Sessel und hielten sich an den Armlehnen fest. Kapitän Eckener kam aus der Kontrollgondel in die Lounge. Seine Uniform saß perfekt. Er strahlte Ruhe und Zuversicht aus. Zu ihrer Überraschung baute er sich breitbeinig vor ihnen auf, ohne sich festzuhalten. Das Wackeln schien ihm nichts auszumachen. Nachdem er fast sein ganzes Leben auf stürmischer See, in Ballonen und Zeppelinen zugebracht hatte, verfügte er über eine beachtliche Körperbeherrschung. »Meine Damen und Herren, danke, daß Sie erschienen sind. Ich werde Ihre Zeit nicht lange beanspruchen. Aber ich finde, Sie haben ein Recht darauf zu erfahren, womit wir es zu tun haben. Zuerst möchte ich Ihnen versichern, daß keine Gefahr besteht. Ich halte es für außerordentlich wichtig, daß Sie das begreifen. Die ›Graf Zeppelin‹ wurde so entworfen und gebaut, daß sie jedem erdenklichen Sturm standhalten kann. Ich denke, Sie wissen, daß wir den besten Stahl verwendet haben, den es gibt, obwohl er sehr leicht ist. Unsere Mannschaft ist erfahren. Aber es besteht durchaus die Möglichkeit, daß wir auf starke Auf- und Abwinde stoßen werden, was dazu führen kann, daß
der Zeppelin aus der Balance gerät. Doch kein noch so steiler Aufstieg, kein noch so jähes Absacken sind für uns gefährlich. Bitte behalten Sie das, was ich Ihnen gerade gesagt habe, in Erinnerung. Bis wir uns wieder bei Ihnen melden, möchte ich Sie auffordern, in Ihren Kabinen zu bleiben, wo Sie sich besser gegen das Unwetter wappnen können. Wir hoffen, das Ärgste in wenigen Stunden hinter uns zu haben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.« Kurz darauf erschienen drei Stewards, um die Passagiere in ihre jeweiligen Kabinen zu bringen. Indy und Gale folgten ihnen. Sie konnten es nicht erwarten, endlich wieder in ihre Kabine zurückzukehren und Treadwells verschlüsselte Nachricht zu enträtseln. »Wir haben mit dem Tanzen des entflohenen Pferdes begonnen«, wiederholte Gale, »richtig?« »Fast«, schränkte Indy ihre Einschätzung ein. »In der Nachricht stand ›Pferd nun hinter Karren‹.« »Tut mir leid. Das heißt also, daß wir auf der falschen Straße sind.« Indy mußte lachen. »Ich glaube, du meinst, daß wir auf der falschen Fährte sind.« Sie schnitt eine Grimasse. »Wie auch immer, Herr Professor, Sie haben mich jedenfalls verstanden.« Sie zeigte auf das Papier. »Mach weiter.« »Na gut. Der nächste Satz lautet: ›Bestätige Pyramidenkonfiguration Johnny nimmt Route neunzehn.‹« »Das verstehe ich noch weniger«, ärgerte Gale sich. Eine heftige Böe schleuderte sie nach hinten. Sie spürten ganz genau, wie die Nase des Luftschiffs nach oben gedrückt wurde. Gale verdrehte die Augen. »Herr, gib mir Tragflächen«, flehte sie. »Tut mir leid, Indy. Fahr bitte fort.» »Nun, Treadwell spricht hier von einer Art dreieckigen Route, die das Gold seiner Meinung nach genommen hat. Eine Pyramide hat drei Seiten. Darauf folgt ›Johnny nimmt Route‹. Das deutet auf eine Route hin, die
während des amerikanischen Bürgerkriegs von den konföderierten Streitkräften benutzt wurde. Die Soldaten des Südens waren unter der Bezeichnung Johnny Rebel bekannt.« »Und was bedeutet die Neunzehn?« »Treadwell verläßt sich darauf, daß wir in der Lage sind, das rauszukriegen. Er wählte diese Zahl, weil er hofft, daß wir rauskriegen, was zuerst passierte.« »Indy, ich kann dir nicht mehr folgen«, beschwerte sie sich zu recht. »Immer mit der Ruhe, Karottenköpfchen. Sieh mal, die Zahl, die wir alle kennen und die zu passen scheint, ist das Jahr 1864.« »Wie kommst du darauf?« »Rechne die einzelnen Zahlen zusammen. Dann kommt neunzehn heraus, und wir wissen ja, wann Krieg war. Ungefähr zu dieser Zeit wurde das Gold per Schiff in die Südstaaten gebracht.« Sie schüttelte den Kopf. »O ja, ich verstehe. Aber nur«, fügte sie eilig hinzu, »weil du es mir erklärt hast. Und wofür steht ›gelbes Tuch‹?« »Das springt einem doch geradezu ins Auge, Gale. ›Gelbes Tuch‹ bezieht sich sowohl auf den Stoff als auch auf das Gold. Die Baumwolle sollte nach England verschifft werden - wie wir wissen, sollte sie im Auftrag der Krone von Kriegsschiffen eskortiert werden - und das Gold war als Bezahlung der Konföderierten gedacht. Nun...« Er faltete eine Karte von Nordflorida auf und breitete sie auf der unteren Koje aus. »›Kingsley‹. Das ist eine Plantage in der Nähe von Fraiiklintown und Little Talbot's Island. Von Kingsley aus gehen wir nach Süden und stoßen - o Wunder - auf den St. John's River. Treadwell wählte das Wort ›Gebet‹ nur, um auf das ›St.‹ im Flußnamen hinzudeuten.« »In Ordnung. Jetzt stehe ich also mit dir in diesem Fluß. Und was hilft uns das weiter?« »Das verrät uns der nächste Satz. ›Erlösung toter Mann.‹ Sieh mal.« Sein Finger fuhr an einer Linie südöstlich von Port Jacksonville entlang. »Das
Gold wurde anscheinend hier reingebracht. Diese Schiffe waren beim Löschen der Ladung auf einen tiefen Hafen angewiesen. Von Jacksonville aus sollte es nach Steinhatchee transportiert werden. Und dann auf konföderierte Schiffe geladen und nach New Orleans gebracht werden, was damals für die Streitkräfte der Union außer Reichweite lag.« »Aber ... Steinhatchee steht doch nicht in der Nachricht. Wie kannst du -« »Du hast recht«, unterbrach er sie. »Das steht nicht in der Nachricht, und darum müssen wir noch einen Blick auf die Karte werfen. Schau mal, Gale. Steinhatchee liegt an der Golfküste Floridas. Direkt in der Dead Man's Bay. Das ist das Lösungswort. ›Dead Man‹ sagt mir, daß die Menschen, die an diesem Projekt beteiligt waren, gestorben sind, wahrscheinlich während einer Schlacht.« »Und nun kommen wir zum Pferd«, rief sie dazwischen. »Stammt dieser Abschnitt nicht aus einem Lied?« »Nicht direkt. In dem Lied geht es um eine alte graue Mähre, die nicht mehr ist, was sie mal war. In der Nachricht steht: ›Alte graue Mähre ist tot.‹ Das spielt ganz direkt auf einen Landtransport an. Damals wurde fast alles mit dem Zug oder mit Pferdekarren befördert. ›Graue Mähre‹ ist offensichtlich eine Anspielung auf ein Pferd oder mehrere Pferde, und »tot« bedeutet, daß ein Großteil der Leute im Kampf gestorben ist.« Ein langanhaltendes Beben, das deutlich zu spüren war, riß Indy aus seinen Schlußfolgerungen. Das Luftschiff zitterte so stark, daß ihnen alles vor den Augen verschwamm. Aus einer nahe gelegenen Kabine drang unüberhörbar ein Angstschrei. Gale zuckte mit den Achseln. »Solange wir noch in der Luft sind, könntest du die Nachricht fertig entschlüsseln? Meine Neugierde kennt keine - uups.« Ein weiteres Beben ließ sie straucheln, doch Indy packte sie am Arm und hielt sie. »Weißt du, was für eine Schlacht das gewesen sein soll?« fragte sie prompt. »Nun, zu jener Zeit töteten die Seminolen-Indianer die Bleichgesichter. Und
sie hatten guten Grund, sowohl die konföderierte Armee als auch die Truppen der Union zu hassen -« »Wen?« »Die Weißen.« »Oh.« »In ihren Augen waren sie Invasoren, die in ihr Territorium eingedrungen waren und töteten und ihre Pferde stahlen. Daraufhin besorgten sich die Rebellen Maulesel. Und ein Mauleselzug bestand aus schweren Wagen, die von jeweils acht Tieren gezogen wurden. Das war ziemlich gute Arbeit von Treadwell.« »Heißt das, daß sich sechzehn Ohren auf einen Wagen mit acht Mauleseln bezieht? Acht Tiere, sechzehn Ohren?« »Richtig. Jetzt laß uns den ganzen Satz zusammensetzen. ›Folgt Seminolengeister jagt Zug sechzehn Ohren viele‹.« »Wer sind - wer waren - die Geister?« »Die Seminolen. Indianische Fährtensucher konnten sich wie Gespenster durch das dickste Gestrüpp arbeiten. Sie folgten den Mauleselfährten, auch wenn sie mehrere Meilen lang waren. Niemand sah sie, niemand hörte sie, bis sie angriffen. Treadwell will uns also sagen, daß wir auch den Weg, den die Maultiere und die Indianer genommen haben, einschlagen müssen.« Sie ließ den Blick über die Karte schweifen und stellte sich auf das Auf und Ab des Luftschiffes ein. »Ich bin tief beeindruckt. Das bin ich wirklich, Indy. Bisher wußten wir nicht, wohin wir unterwegs sind, und nun haben wir eine Karte, Flüsse, Wege und historische Markierungen, an die wir uns halten können. Du bist gut, Professor.« Er schaute ihr in die Augen. »Du bist auch ziemlich gut. Wenn du nicht bei mir wärst, würde ich wegen des ganzen Bebens und Zitterns in diesem Luftschiff vor Angst durchdrehen.« »Und du hast keine so große Angst, weil ich bei dir bin?« »Darauf kannst du dich verlassen. Im Augenblick bin ich vollkommen auf dich angewiesen und auf das, was du mir rätst.«
»Gut. Wenn es schon so ist, dann würde ich vorschlagen, daß wir diesen Sturm in der Lounge ertragen. Ich kann es nicht ausstehen, in einer kleinen Kabine zu sitzen, wenn um mich herum alles schwankt und bebt und ich nicht sehen kann, was vorgeht. In der Lounge gibt es diese großen Fenster. Und falls alles auseinanderbricht und wir runterfallen, möchte ich gern sehen, was und wie es passiert, damit ich eventuell etwas tun kann, um uns zu retten.« Die nächste Stunde verbrachten sie damit zu überleben, sich an den Armlehnen ihrer Sessel festzuhalten, sich mit den Beinen an Pfosten abzustützen. Der Zeppelin führte allerlei Pirouetten durch, sackte in tiefe Luftlöcher, drehte sich im Kreis und folgte dem Diktat des Windes, der gegen das große Schiff drückte. »Sie machen es richtig!« rief Gale Indy zu. »Du meinst, dieses ewige Auf und Ab?« »Genau. Eckener versucht, die Flughöhe in etwa auszugleichen. Wenn er die Höhe um jeden Preis halten wollte, würden die Motoren heißlaufen, was das ganze Schiff in Gefahr brächte. Dir mag es hier zwar wie in einer Achterbahn vorkommen, aber sie setzen alles daran, den Druck auf das Schiff so niedrig wie möglich zu halten. Ich finde es ganz prima, wie sie uns durch den Sturm manövrieren.« »Und was ist mit dem Eis?« fragte Indy, ohne den Blick vom großen Panoramafenster zu nehmen. Die Temperatur in der Lounge war niedrig. An den Fensterrahmen bildete sich Eis. Er konnte sich ungefähr vorstellen, wie schlimm die Vereisung oben auf dem Zeppelin sein mußte. »Könnte viel schlimmer sein«, klärte Gale ihn auf. »Weißt du, was sie probieren?« »Sicher! Sie sorgen dafür, daß wir diesen Sturm überleben.« »Das auch. Aber sie suchen auch warme Luftströmungen. Auf diese Weise kann das Eis gleich wieder schmelzen. Und manchmal macht ein
Höhenunterschied von ein paar hundert Fuß eine Menge aus. Bringt einen sogar über den Gefrierpunkt.« Wieder streifte den Zeppelin eine Luftdruckwelle. Diesmal war die Auswirkung wesentlich beängstigender. Unsichtbare Windböen donnerten wie meterhohe Wellen an einem Strand gegen den Schiffskörper, der erschauderte. Ab und an ließ der Wind nach. Dann regnete es, und manchmal konnte man sogar den Mond sehen. Die ›Graf Zeppelin‹ glich einem großen Wal am Himmelszelt, der wehrlos hin und her geworfen wurde. Die Mannschaft hatte alle Hände voll zu tun, um das Schiff trotz des Sturms in der Geraden zu halten. Blitze zuckten durch die Wolken und Regenwände. Wie gebannt verfolgte Indy das Schauspiel vor dem Panoramafenster. Blitze und Hydrogengas, was für eine Kombination! Gale wußte in seinem Gesicht zu lesen. »Die Blitze stellen keine Gefahr dar, Indy.« »Wieso nicht?« fragte er. »Das Schiff ist so konstruiert worden, daß elektrische Entladungen durch es hindurch gehen, ohne Schaden anzurichten. Die Elektrizität fließt von einer Seite des Schiffes zur anderen und -« »Sieh dir diese blauen Flammen an den Fenstern an! Muß man sich deswegen keine Sorgen machen?« Sie folgte seinem Blick. Es wunderte sie nicht, daß Indy beunruhigt war. Der Anblick der züngelnden blauen Flammen sah beängstigend aus. »Statische Entladungen«, erklärte sie. »Dann und wann sind die uns umgebenden Wolken aufgeladen, und diese Ladung geben sie an uns weiter oder ab. Dieses Schiff bündelt diese Entladungen sozusagen, und dann sehen wir diese blauen Flammen. Indy, die habe ich schon hundert Mal in Flugzeugen gesehen! Wenn ein gewisses Quantum gesammelt worden ist, gibt das Schiff sie ab.« »Gibt sie ab?« Fasziniert beobachtete er, wie ein elektrischer Miniatursturm draußen vor den großen Fenstern wütete. »Ja, das Schiff gibt sie ab«, betonte sie noch mal. »Manchmal sogar auch in
Form eines Blitzes. Das gab es schon ein paarmal in Flugzeugen. Eine elektrische Ladung baut sich auf, und wir fliegen zwischen zwei Wolken durch, und die Ladungen ergänzen sich zu Plus und Minus und wumm! Wir produzieren einen -« BANG! Indy gefror das Blut in den Adern. Zuerst flackerte Elektrizität auf, dann erstrahlte ein blauweißes Feuer. Keine Sekunde später donnerte es. Der Donnerschlag hallte durch den Rumpf des Zeppelins. »Das wäre nun wirklich nicht notwendig gewesen«, sagte er zu Gale. »Eine einfache Erklärung hätte auch gereicht.« Gale lachte hocherfreut. »Heute lieferst du den Beweis dafür, daß du über Galgenhumor verfügst.« »Danke.« Er schnitt eine Grimasse. Langsam legte sich das Surren in seinen Ohren. Er drehte den Kopf und stierte in die andere Richtung. Gale folgte seinem Blick. Der ›japanische Mann‹ im Zeremoniengewand wanderte, ohne nach links oder rechts zu schauen, durch die Lounge, schnurstracks auf die mannshohe Luke zu, die ins Schiffsinnere führte. Aufgeregt packte Gale Indy am Arm. »Indy ... sie ist es!« »Ich weiß«, beeilte er sich zu sagen. Er stand auf und hielt sich am Tisch fest, weil der Zeppelin gerade wieder einmal absackte. »Bleib hier. Ich werde mal nachsehen, was sie vorhat.« Gale blickte Indy hinterher, bis sich die Luke hinter seinem Rücken schloß. Eine Weile lang saß sie hochgradig nervös herum, ehe das Warten nicht mehr auszuhalten war und sie ihm nachgehen mußte. Gerade als sie die Luke erreichte, öffnete sie sich und Indy kam heraus. »Sie lief eine Gangway entlang und kletterte dann eine Leiter hoch. Irgendwie habe ich ein komisches Gefühl im Magen. Caitlin bewegte sich auf eine Art und Weise, daß der Eindruck entstand, sie wisse, wohin sie gehen müsse. Und als ob sie hinter jemandem her sei.« »Und wir beide wissen selbstverständlich, wer dieser Jemand ist«, sagte Gale.
»Indy, wir müssen ihr folgen. Vielleicht braucht sie unsere Hilfe.« Kaum gesagt, setzte Gale sich schon in Bewegung. Indy gelang es gerade noch, sie am Arm festzuhalten. »Zuerst in die Kabine.« »Du hast recht. Laß uns gehen. Schnell, Indy, beeil dich.« In der Kabine öffneten sie ihre Koffer. Gale setzte die Einzelteile einer kleinen, aber höchst effektiven Armbrust mit federgezündeten Pfeilen zusammen. Und schob einen flexiblen Schlagstock aus gedrehten Metallschnüren in ihren Hosenbund. Diese Waffe kannte Indy. Durch die kleinste Handbewegung vergrößerte sich das Ding zu einer Art Stab, mit dem man auf einen potentiellen Gegner einschlagen konnte. Indy hängte sich die Peitsche an den Gürtel, machte die Tür auf, und zusammen liefen sie den Gang hinunter. Kurz darauf schlössen sie die Lukentür hinter sich. Der Anblick des kathedralenartig anmutenden Luftschiffes ließ sie kurz innehalten. Die ›Graf Zeppelin‹ schien sich unter Schmerzen zu winden. Die Außenhülle pulsierte unter dem Ansturm der Luftmassen. Donner ertönte und hallte wider wie das kontinuierliche Krachen' gigantischer Kesselpauken. Über ihren Köpfen und seitlich von ihnen tanzten unheimliche Lichter und Schatten. Sie begaben sich in die Mitte des Schiffes, erklommen Sprosse um Sprosse eine Leiter und mußten sich hin und wieder an den Stützen und Geländern festhalten. Manchmal, wenn sich Eisplatten lösten und tosend an der Außenfläche des Luftschiffes hinabrutschten, waren sie gezwungen stehenzubleiben. Das tiefe Brummen der Duraluminiumstützen und Ringe, die sich unter den Luftmassen bogen und krümmten, ließ Indy die Luft anhalten. Hoch über ihnen tanzten die Funken statischer Entladungen und leuchteten in einem geisterhaft blauen Licht auf. Indy schmeckte den scharfen Geschmack des Ozons, mit dem die Luft angereichert war. Noch niemals in seinem bisherigen Leben hatte er sich so hilflos gefühlt. »Indy! Hier entlang! Beeil dich!« Er sah, wie Gale sich mit einer Hand an einer Verstrebung festhielt und mit der anderen nach oben zeigte. Blitze
zuckten. Ihr Lichtschein erhellte für einen Sekundenbruchteil das Schiffsinnere. Als der nächste Blitz die Dunkelheit zerriß, sah er etwas, das ihm das Blut in den Adern auf eine Temperatur fallen ließ, die den seitlich am Luftschiff herunterbrechenden Eisplatten entsprach. Drei Männer standen auf einem Metallsteg. Licht reflektierte von den langen, funkelnden Klingen in ihren Händen. Ihnen gegenüber lauerte ein einzelner Gegner, Caitlin St. Brendan. Sie hatte sich ihrer schweren japanischen Robe entledigt, hatte den großen Hut und die dunkle Perücke abgeworfen. Breitbeinig lehnte sie an einer Stütze, um die ruckartigen Bewegungen des Zeppelins abzufangen. Das ehrwürdige Schwert Caliburn, das sie aus der Scheide gezogen hatte, sandte ein rotes Licht durch den Schiffsrumpf. Auf dem schmalen Steg blieb ihren Gegnern nichts anderes übrig, als sie nacheinander anzugreifen. Für die bevorstehende Auseinandersetzung mit Konstantin Cordas hatte sie den besten aller möglichen Schauplätze gewählt. Indy und Gale beeilten sich, die nächste Leiter hochzuklettern. Mit gezückten Schwertern machte der erste Mann einen Satz in Caitlins Richtung. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte Indy das makabre Schauspiel. Caitlin bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Offenbar hatte sie nicht vor, dem Angriff auszuweichen. Die Klinge bohrte sich in ihren Arm. Blut spritzte aus der Wunde.
SIEBZEHN Indy holte tief Luft. Zu sehen, wie die Klinge in Caitlins Fleisch fuhr, schmerzte ihn. Wieder blitzte es. Im Lichtschein sah er, daß Caitlin von dem roten Nebel ihres eigenen Blutes eingerahmt wurde. Noch mit Klettern beschäftigt, begriff er, wieso sie sich so verhielt. Caitlin hatte es ihm ja erst vor wenigen Tagen erklärt. Egal, wie schlimm man ihr oder ihrer Familie zugesetzt hatte, es war ihr nicht möglich, den Kampf selbst zu eröffnen. Den ersten Schlag mußte der Gegner machen. Die unbeschreibliche Kraft, die in Caliburn steckte, das Erbe des sagenumwobenen Merlin, kam nur zum Zuge, wenn Caitlin das Schwert zu ihrer Verteidigung einsetzte. Bislang hielt sie sich an die altehrwürdigen Regeln. Indy zog sich an den Drahtschnüren, die die Leiter sicherten, hoch. Caitlin stand den drei Widersachern gegenüber. Jeder einzelne war ihr ein ebenbürtiger Gegner. Jeder von ihnen war geübt in der Kunst des Tötens. Er hörte, wie Gale hinter ihm die Sprossen hochkletterte. Verzweifelt versuchte sie, zu Caitlin zu gelangen. Aber sie beide waren nicht schnell genug, um einen zweiten Angriff auf Caitlin zu vereiteln. Indy beobachtete, wie einer der Männer seinen Arm hochschwang, wie etwas aufblitzte, wie ein Messer geworfen wurde. Im Lauf der Jahre hatte Indy viele tätliche Auseinandersetzungen miterlebt und in einen Teil von ihnen war er persönlich verwickelt gewesen, was dazu geführt hatte, daß er sich inzwischen ganz gut verteidigen konnte. Aber noch nie hatte er Bewegungen gesehen wie die, die diese Kriegerin aus dem New Forest im Süden von England gerade ausführte. Caitlin agierte ganz subtil.
Aus dieser Entfernung und in dem fahlen Licht, das nur ab und an von einem Blitz durchbrochen wurde, sah es fast so aus, als ob sie sich kaum bewegte. Was sie aber - wie Indy wußte - tun mußte, um den Angriff zu überstehen. Das Messer rauschte auf Caitlin zu ... Ihr Timing war perfekt. Sie wich nicht nach rechts oder links aus, nein, sie beugte sich vor, in Richtung des Messers, das auf sie zugeflogen kam. Ganz langsam zog sie Caliburn hoch, drehte die Klinge etwas, fing mit dem Schwert das Messer ab und schleuderte es in hohem Bogen weg. Immer wieder gegen Hindernisse polternd, fiel das Messer in die Tiefe. Einer der drei Männer begann an einem Stahlkabel hochzuklettern, mit dem er sich über Caitlin schwingen konnte. Von ihrem Platz auf dem Steg konnte sie ihn nicht mehr mit ihrem Schwert erreichen. Während der Mann sich hochhangelte, kamen die beiden anderen auf Caitlin zu, um sie abzulenken. Falls sie an der Stelle blieb, wo sie gerade stand, beschwor sie die Katastrophe geradezu herauf. Aber das letzte, was die beiden bewaffneten Männer von dieser Kriegerin erwarteten, war, daß sie ihnen, ohne mit der Wimper zu zucken, entgegenkam. »Indy -« rief Gale atemlos. Aber sie waren viel zu weit weg, um Caitlin helfen zu können. Immer noch auf der Leiter, mußten sie zusehen, wie Caitlin nach vorn stürmte, stehenblieb, in die Hocke ging und eine Drehung vollführte, bei der Caliburn sein Todeslied anstimmte, als es durch die Luft sauste. Das Schwert wurde von links unten nach rechts oben gezogen und bohrte sich in den Brustkorb des ersten Angreifers. Mit einer tiefen Wunde klappte der Mann wie ein Taschenmesser zusammen. Seine Augen traten aus den Höhlen, ehe er bewußtlos zusammenbrach. Der dritte Mann, nun der letzte verbleibende Gegner auf dem Steg, reagierte blitzschnell und schlug mit seinem Schwert zu. Caitlin schrie auf, als die Klingenspitze zwischen zwei ihrer Rippen drang. Aber nun waren Indy und Gale ganz in ihrer Nähe. »Hilf ihr!« rief Gale. Bevor Indy sie aufhalten konnte, flitzte Gale an
Caitlin vorbei, um hinter dem zusammengebrochenen Gegner in Deckung zu gehen. Der Schwertkämpfer, dessen untere Gesichtshälfte von einem Tuch verdeckt war, lachte laut und holte mit seinem Schwert aus. In diesem Augenblick nahm Gale die Armbrust, die unter ihrer Lederjacke versteckt war, heraus. Gerade als sie den Pfeil einlegte, wurde die ›Graf Zeppelin‹ von einer Luftbewegung durchgeschüttelt und neigte sich zur Seite. Ohne zu überlegen, streckte Gale einen Arm aus, um sich abzustützen. Ihr kleiner, aber tödlicher Pfeil prallte vom Steg ab und fiel in die Tiefe. Gale konnte nicht weiter vorwärts, nicht nach links oder rechts ausweichen. Und auch nicht zurückweichen, weil sie dann aufstehen und über den leblosen Körper hinter ihr steigen mußte. Dazu hatte sie einfach keine Zeit! Stahl blitzte kalt auf, als ihr Angreifer mit dem Schwert auf sie zukam. Sie wußte, daß der Tod unausweichlich war. Da ertönte hinter ihr ein Pistolenschuß! Eine Pistole? Unmöglich! Niemand durfte an Bord dieses Luftschiffes eine Waffe Mit großen Augen verfolgte sie, wie ein langes, dunkles Ding über ihren Kopf hinwegpfiff. Indy! Seine Peitsche! Ihr gelang es gerade noch, den Kopf zu heben, um zu sehen, wie das dicke Leder auf die Klinge traf, sie dem Angreifer aus der Hand riß und ans andere Ende des Stegs schleuderte. Die Peitsche knallte wieder, diesmal sogar noch lauter, durch die Luft. Vor ihren Augen mußte der Mann, der nun entwaffnet war, fassungslos sehen, wie das Leder sein Gesicht aufriß, als wäre es aus Butter. Sein Gebrüll hallte im Schiffsrumpf wider und vermischte sich mit dem Tosen des Sturms, der draußen wütete. Als er geschockt vor Schmerz nach hinten fiel, erinnerte Gale sich an den Mann, der an dem Kabel nach oben geklettert war. Sie kniete sich hin und legte einen Pfeil in die Armbrust. In einer einzigen Bewegung drehte sie sich auf einem Knie und zielte. Der Mann über ihr, der sich mit einer Hand am Kabel festklammerte, hielt ein Wurfmesser in der anderen Hand. Gale drückte ab. Der kleine Pfeil schoß blitzschnell nach oben.
Der Mann wollte noch schreien, brachte aber nur ein gedämpftes, gurgelndes Geräusch heraus, als der Pfeil in seine Kehle drang. Das Wurfmesser loslassend, führte er die Hand an seine Kehle und fiel in den Abgrund. Gale sah zu, wie er mit wedelnden Gliedmaßen auf einen anderen Steg prallte, von dort abprallte, gegen eine Stützverstrebung prallte, durch den dünnen Stoff des Zeppelins schlug und dem sicheren Tod im lauernden Ozean entgegenstürzte. Indy ließ den Mann, den er mit seiner Peitsche zurückgedrängt hatte, nicht aus den Augen. Der Mann versuchte sich mit einer Hand das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Mit der anderen Hand hielt er sich an der Geländerschnur fest. Es war ihm anzusehen, daß er unter starken Schmerzen litt. Indy ließ ihn fürs erste in Ruhe. Im Moment stellte er keine Gefahr dar. Langsam begab er sich nach hinten zu der Stelle, wo Gale neben der blutüberströmten, verwundeten Caitlin kniete. »Indy ...« Gales Stimme versagte. »Sie ist schwer verletzt.« Ein Blick verriet Indy, wie schlimm ihre Verletzungen waren. Erst jetzt begriff er, wie Caitlin die Schüsse, die im Glen auf sie abgegeben worden waren, überlebt hatte. Unter ihrer Kleidung arbeitete das Geheimnis des Körperpanzers, der aus dem Scheidenleder Caliburns gefertigt worden war. Merlins Zauber funktionierte. Vor seinen Augen schlössen sich Wunden, trocknete Blut. Und dennoch war diese Frau so schwer verletzt, daß es eine ganze Weile lang dauerte, bis sie wieder bei Kräften war. »Caitlin«, sagte Indy, dem ihr veschleierter Blick nicht entging. Und genau dieser Blick machte ihm Sorgen. Es war immer noch möglich, daß sie in einen Schockzustand verfiel. Caitlin atmete ein paarmal tief durch und hielt sich dann an Indys Arm fest. »Ich kann Sie hören.« Gale breitete die verknitterte japanische Robe über die Freundin. So konnte sie Caitlin warmhalten, die schrecklichen Wunden und das getrocknete Blut bedecken. »Meinen Sie, Sie schaffen es bis in unsere Kabine?« fragte Indy sie.
Caitlin nickte. »Indy!« rief Gale entsetzt. »Wir können sie nicht dorthin schicken. Sie braucht hier unsere Hilfe, um -« Indy zeigte auf zwei Männer, die sich ihnen auf dem Steg bedrohlich näherten. Es bedurfte keiner weiteren Erklärung. Caitlin mußte den Schauplatz der Auseinandersetzung verlassen, mit oder ohne ihre Hilfe. Keuchend kam sie auf die Beine. »Ich fühle mich schon kräftiger«, verkündete sie tapfer, obwohl er ahnte, unter welchen Schmerzen sie zu leiden hatte. »Sie sind nicht in der Verfassung, um zu kämpfen. Sie brauchen Zeit, sich zu erholen. Gehen Sie jetzt«, drängte Indy. »Gehen Sie langsam, ganz vorsichtig. In unsere Kabine. Los, Caitlin, gehen Sie.« Starke Finger drückten seinen Arm. Ihre Kraft verblüffte ihn. Die meisten Männer hätten die Schläge, die sie erhalten hatte, nicht so weggesteckt. »Ich danke Ihnen«, flüsterte sie, ehe sie die Leiter hinunterkletterte, sich an den Geländerschnüren festhaltend. Die ›Graf Zeppelin‹ schaukelte wie Treibholz auf stürmischer See. »Indy, da kommen noch drei«, warnte Gale ihn. Und sie hatte recht. Vorn waren die beiden verletzten Männer, mit denen sie es gerade eben zu tun gehabt hatten, dahinter drei neue. Er ging davon aus, daß sie nicht alle vor dem Start der ›Graf Zeppelin‹ als Passagiere an Bord gekommen waren. Jedenfalls nicht als direkte Mitglieder von Cordas' Gruppe. Was nur heißen konnte, daß Cordas Mannschaftsmitglieder auf seine Seite gebracht und wie auch immer - dazu überredet hatte, für ihn zu kämpfen. Und das machte die Situation in doppelter Hinsicht gefährlich. Schließlich mußte man davon ausgehen, daß diese Männer Erfahrung darin hatten, sich im Luftschiff zu bewegen, und daß sie sich im Wirrwarr der Gänge und Räume blind zurechtfanden. Das letzte, worauf Indy Lust hatte, war, mit diesen Männern auf deren Territorium zu kämpfen. »Siehst du Waffen?« fragte er Gale.
Sie schüttelte den Kopf. »Indy, ich verstehe nicht ... ich meine, die anderen hatten Schwerter und Wurfmesser.« »Das waren die Profis. Die hier gehören zur Mannschaft«, beeilte er sich zu sagen. »Sieht mir ganz nach einem Kampf Mann gegen Mann aus. Hast du noch ein paar von diesen Pfeilen?« »Ungefähr ein Dutzend.« »Dann lade mal deine Waffe, Lady. Das Spiel dürfte jede Minute beginnen«, sagte er mit gespielter Gelassenheit. Gale verfügte über ihre kleine, aber tödliche Armbrust, und er hatte seine Peitsche. Womit die Männer, die sich ihnen näherten, kämpfen wollten, wußte er nicht zu sagen. Vielleicht mit Messern? Als Besatzungsmitgliedern der »Graf Zeppelin^ dürfte es ihnen einigermaßen schwerfallen, ihrem Vorgesetzten zu erklären, warum sie Messer mit langen Klingen dabei hatten. Alles, womit man schießen konnte, stand außer Frage. Bestimmt würden sie näher kommen, mit ihnen ringen und dann mit den Messern zustoßen. Indy schaute sich um. Was hätte er darum gegeben, wenn er über den Angreifern hätte sein können? Und gar nicht weit war eine Leiter Und noch etwas anderes. Diese drei Männer wußten über ihn und Gale nur, was sie aus der Passagierliste erfahren hatten. Laut der übten sie die Berufe des Zoowärters und Wildhüters aus. Also leichtes Spiel. So schätzten die anderen sie garantiert ein. Niemand rechnete mit Wagemut und Einfallsreichtum. Nun, Jones, sagte er sich. Ihm war nicht zum Lachen zumute. Ich denke, es ist an der Zeit, den Wagemutigen zu spielen ... Er mußte irgendwie nach oben gelangen. Und schon hatte er eine Idee. Er holte mit der Peitsche aus, deren Ende sich um eine Leitersprosse wickelte, und schwang sich daran in den leeren Raum zwischen dem Steg und der Leiter. Mit der linken Hand griff er nach einer Sprosse und begab sich auf die Leiter, gerade in dem Moment, als einer der Angreifer mit einem Messer in der Hand einen Satz auf ihn zu machte. Was in Indys Augen ein dummer Schritt war. Indy nutzte den Augenblick zu seinem Vorteil. Kaum war der andere in der Luft, trat Indy ihm mit dem Bein in den Brustkorb. Sein Gegner ließ das Messer fallen,
versuchte, sich irgendwo festzuhalten, was glücklicherweise aber nicht funktionierte. Der Mann riß die Augen auf, als er registrierte, daß er nur Luft unter den Füßen hatte. Unter lautem Gebrüll sauste er in die Tiefe. Indy hielt sich an seiner Peitsche fest, die ihm half, das Gleichgewicht zu bewahren. »Gale, komm hier rauf!« rief er. »Komm zu mir auf die Leiter!« Sie brauchte keine zweite Aufforderung. Ehe er sich versah, kletterte sie schon die Sprossen zu ihm hoch. Als er ihren Jackenkragen erwischte, zog er sie nach oben. Mit einem Fuß trat sie auf seine Gürtelschnalle, stellte dann den anderen auf seine Schulter, umfaßte die Sprosse über seinem Kopf, kratzte ihm mit der Schuhsohle das Gesicht auf und kletterte höher, bis sie direkt über ihm war. Hilflos ballten die beiden übrigen Angreifer die Fäuste. Sie berieten sich miteinander und rannten dann zu einer anderen Leiter, ein gutes Stück weiter hinten in dem schwankenden und zitternden Zeppelin. »Sie werden ganz nach oben steigen«, verriet Indy Gale. »Aber wozu -« »Na, ich weiß nicht, aber denen geht es nicht um die gute Aussicht, die man von dort oben hat«, unterbrach er sie. »Sie können auf den Rumpf steigen und dann nach vorn kriechen bis zu der Luke direkt über uns. Falls sie das vorhaben, stecken wir in der Klemme, und genau das dürfte ihre Absicht sein. »Los! Weiter hoch!« Sie nickte, drehte sich um und folgte seinem Vorschlag. Indy blieb dicht hinter ihr. Dann streckte sie die Hand nach oben, um die Luke zu öffnen. Er umfaßte ihre Fessel und stützte sie damit ab. Als die Luke aufging, drang ein Schwall eisiger Luft nach unten. »Das gefällt mir gar nicht«, beschwerte sie sich bei Indy. »Sollen wir allen Ernstes über das Luftschiff laufen?« »Los«, befahl er. »Indy, hier oben bläst der Wind wie irrsinnig ... und die Oberfläche ist vereist. Wir -«
Er packte ihre Fessel, schob sie nach oben und sprach weiter, während sie durch die Luke stieg. »Richtung Heck!« brüllte er gegen den Wind an. »Dort vorn gibt es eine Glaskuppel. Jaeger hat mir von ihr erzählt. Er nutzt sie zur Navigation, orientiert sich dann am Himmel. Dort gibt es Handläufe.« Er griff in seine Jacke. »Hier!« rief er und reichte ihr ein Seil mit Karabinerhaken an beiden Enden. »Befestige den einen an deinem Gürtel und den anderen am Führungsseil.« »Hab verstanden!« schrie sie nach unten. Dann standen sie beide auf dem Zeppelin. Die Welt spielte verrückt, war gleichzeitig wunderschön und beängstigend. Einen Moment lang klammerten sie sich am Führungsseil fest, das an der Außenhaut entlanglief. Als die Nase des riesigen Luftschiffs absackte, spürten sie, wie sie den Boden unter den Füßen verloren. Mit schwankenden Leibern krallten sie sich fest und gaben sich redliche Mühe, sich den abrupten Bewegungen des Schiffes anzupassen. Kalter Wind pfiff ihnen um die Ohren. Durch die aufreißende Wolkendecke sahen sie auf die Sterne und einen riesigen Mond. Der Schiffsrumpf unter ihren Füßen war rutschig vom Eis. Navigationslämpchen und Arbeitslampen, die außen auf dem Rumpf angebracht waren, spendeten ihnen wenigstens so viel Licht, daß sie etwas sehen konnten. Sie warfen einen Blick nach unten, vorbei an dem eisfunkelnden Rumpf. Ganz tief unten schienen weiße Schatten aus einer anderen Dimension vorbeizuziehen. Eisberge reflektierten den Mondschein. Wie Gebilde von Geisterhand sahen sie aus. Kaum sichtbare weiße Flecken tanzten auf dem windgespeitschten Ozean. »Beweg dich!« rief Indy. »Spar dir den Ausblick für später auf.« Sich mit der rechten Hand am Seil festhaltend, streckte Gale die linke der Balance wegen aus. Mit kleinen Schritten rutschte sie dem Heck entgegen, hinüber zur großen Glaskuppel mit dem Geländer. Indy blieb dicht hinter ihr, innerlich darauf eingestellt, ihr zu helfen, falls sie ausrutschte oder stürzte. Hinter seinem Rücken ertönten Stimmen. Ein Besatzungsmitglied
erklomm flink die Leiter und kam auf den Rumpf. Der Mann setzte ihnen mit einem Messer in der Hand nach und hielt sich dabei am Seil fest. Er hob seine Hand, führte sie nach hinten über seine Schulter und warf das Messer in Indys Richtung. Der versuchte, der heranfliegenden Klinge auszuweichen, sich wegzudrehen. Mit einem Fuß verlor er den Halt. Instinktiv setzte er alles daran, das Gleichgewicht wiederzufinden, das Sicherheit gewährende Seil nicht loszulassen. Siedendheißes Feuer breitete sich über den Rippen unterhalb seines linken Arms aus. Er schrie vor Schmerz auf, reagierte aber trotzdem sehr schnell. Das Messer hatte seine Jacke, sein Hemd durchbohrt, war über seine Haut geschürft. Er nahm den rechten Arm hoch, drehte ihn zur Seite und setzte seine Peitsche ein. Wieder war ein Geräusch, einem Pistolenschuß nicht unähnlich, zu hören. Die Peitsche, an der Indy nun mit aller Kraft riß, hatte sich um die Beine seines Verfolgers geschlungen. Es gelang ihm, dem Mann die Füße unter den Beinen wegzuziehen. Für kurze Zeit war er noch in der Lage, sich am Seil festzuhalten, aber dann zog ihn das eigene Gewicht in die Tiefe. Er ließ los. Vom eigenen Schicksal überrascht, rutschte er den vereisten Rumpf hinunter und verschwand in Richtung Ozean. Die beiden Männer, die sich ihnen aus der entgegengesetzten Richtung näherten, waren stehengeblieben, um zu sehen, was mit ihrem Kameraden geschah. Indy rechnete damit, daß sie nun sofort angriffen, Messer warfen oder mit Schwertern in der Hand auf sie zugerannt kamen. Messer wurden nicht gezückt. Nein, ganz im Gegenteil, das Unerwartete trat ein. Der zweite Mann hielt sich mit der rechten Hand am Seil fest und zog dann einen Revolver aus einem Schulterholster. Indy glaubte nicht, was er da sah. Aber nein! Keinem Passagier war es möglich, eine Waffe an Bord des Luftschiffes zu schmuggeln. Aber einem Mannschaftsmitglied - sicher doch. Der Mann lächelte, nahm die Waffe langsam und vorsichtig hoch, stemmte sich gegen den Wind und wappnete sich gegen die Bewegungen des Zeppelins.
Indy hatte das Gefühl, direkt in den Lauf zu starren. Dann versuchte er geistesgegenwärtig, sich vor Gale zu schieben. »Verschwinde von hier«, schrie er. »Schnell! Du kannst es bis zur Leiter schaffen und -« »Keine Bewegung!« Ihre Worte hörten sich seltsam fremd an. »Stütz mich«, wies sie Indy an. Er wußte nicht, was sie vorhatte, aber da sie beide angesichts der Waffe dem sicheren Tod ausgeliefert waren, machte es keinen Sinn, ihr jetzt noch Fragen zu stellen. Er umfaßte ihre Taille und sorgte dafür, daß sie einigermaßen stillhielt. Mondlicht brach durch die vorbeiziehenden Wolken. Im silbernen Lichtschein beobachtete Indy, wie Gale die beiden Männer musterte. Sie legte die Hände an die Schläfen und konzentrierte sich. Ein leises Stöhnen, das ihm beinah entgangen wäre, kam ihr über die Lippen. Er drehte sich zu dem Mann um, der im Begriff war, auf sie zu schießen. Er war nicht mehr da! Ein eisiger Nieselregen ging über die beiden Männer nieder, aus einer Wolke, die parallel zu dem Zeppelin schwebte, als gäbe es keinen Wind, keine andere Bewegung mehr. Indy vernahm ein schauriges Klimpern, geradeso, als stamme es von Tausenden von Kristalltropfen, die an einem Leuchter befestigt waren. Und das Klimpern übertönte den Motorenlärm, das Stöhnen und Ächzen des Schiffes. Die Geräusche der Dinge, die sich im glitzernden Nieselregen in Eis verwandelten ... Dieses Geräusch kannte Indy von einer Expedition während eines bitterkalten Winters nördlich von Finnland. Damals hatten sie mit schneidendem Frost und arktischen Winden zu kämpfen gehabt. Mit einer so intensiven Kälte, daß die Eiskristalle in der Luft entstanden und wie gläserne Schneeflocken zu Boden fielen. Und doch ... spürte er im Moment die Kälte nicht. Wann immer der Sprühregen nachließ, sah er die Gesichter der beiden Männer, die von Schmerz und Furcht erstarrt waren. Ihre Gliedmaßen schienen in dicken Eisblöcken festzustecken. Aber das war eigentlich unmöglich!
Fragend wandte er sich zu Gale um. Ihr Körper bibberte unter einer für ihn nicht nachvollziehbaren Anstrengung. Sie preßte die Knöchel ihrer Hände an die Schläfen. Hätte er sie nicht festgehalten, wäre sie garantiert zusammengeklappt, so sehr mußte sie sich konzentrieren. Er hörte, wie jemand vor Angst aufschrie, doch der Schrei brach mitten im Laut ab. Einer der beiden Männer trat aus dem eisigen Sprühnebel. Sein Körper war steif gefroren. Langsam rutschte er am Luftschiffrumpf hinunter. Indy warf Gale einen flüchtigen Blick zu. Dann betrachtete er den zweiten Mann, den mit der Waffe. Was schwarz gewesen war, war nun von einer silbrigen Eisschicht überzogen. Die Waffe fiel ihm aus der Hand, holperte über den Steg und verschwand in der Tiefe. Kurz darauf fiel ihr Angreifer, der aussah, als habe er in extrem kaltem flüssigen Nitrogen gebadet, vom Schiff in die Leere, aus der es kein Zurück gab. Gales Beine zitterten wie Espenlaub und gaben nach. Indy hielt sie fest. Der Wind toste über den schwankenden Zeppelin hinweg. »H-h-halt mich nur fest... kalt... so kalt«, sagte sie, sich zitternd an ihn schmiegend. Nun waren sie allein auf diesem schwebenden Koloß. Die Kältefront ließ der Zeppelin langsam hinter sich. Der Mond warf ein kaltes und überraschend klares Licht auf das Luftschiff. Indy drückte Gale an sich in der Hoffnung, ihr Zittern lindern zu können. Inzwischen hatte er begriffen, was geschehen war. Gale Parker, die Seelenverwandte von Caitlin St. Brendan, war im Lauf ihrer Kindheit und Jugend immer mit der Zauberei und der Macht des Hexenclans, der mehr als tausend Jahre überdauert hatte, konfrontiert gewesen. »Du hast mir nie verraten«, beklagte er sich vorwurfsvoll bei Gale, »daß du zu so etwas in der Lage bist.« Immer noch bibbernd, blickte sie auf und rang sich ein gequältes, müdes Lächeln ab. »Du hast mich ja auch nie gefragt.«
ACHTZEHN Wie eine Krankenschwester mit langjähriger Erfahrung kümmerte Gale sich um Caitlins Wunden. Indy stand daneben und sah zu. Dann und wann bat Gale ihn um Hilfe. Jeder, der wie Indy eine Menge Zeit in fernen Ländern zugebracht hatte, sich durch Urwälder und dichtes Unterholz vorgearbeitet hatte, der sich Schnitte, blaue Flecken, Kratzer, Insektenstiche und gebrochene Knochen zugezogen hatte, hatte gelernt, ohne Arzt zurechtzukommen. Indy mußte an all die Männer denken, mit denen er unterwegs gewesen war und die erschossen, erstochen, vom Schrapnell getroffen oder vergast worden waren. Caitlin litt, biß aber tapfer die Zähne zusammen und verlor kein Wort über ihren Zustand. Indy half ihr die Kleider auszuziehen, und trat dann höflich zurück und setzte sich in die andere Koje, als Gale behutsam den goldenen Lederpanzer öffnete. Nachdem sie ihn entfernt hatte, drückte sie Teile des Leders vorsichtig auf Caitlins Wunden. Die mutige Kriegerin hielt dem Druck stand, ohne sich zu beklagen. Von all den Wundern, die Indy auf seinen vielen Reisen erlebt hatte, war keines mit dem zu vergleichen, das sich gerade vor seinen Augen offenbarte. Die schlimmsten Blutungen waren durch das Tragen des Körperpanzers schon gestillt worden, durch die Scheide Caliburns. Nun schlössen sich die Schnittwunden und begannen zu heilen, während er zusah. Gale wusch das getrocknete Blut ab. Jede Wunde war von blauen und schwarzen Blutergüssen eingerahmt. Heute wurde er tatsächlich Zeuge von Merlins Zauberkunst. »Wie wurde die Scheide in diesen Körperpanzer gewebt?« fragte Indy schließlich. Er hatte die Geschichte schon mal gehört, wollte sie aber nochmals erzählt bekommen. »Kerrie, ihr Vater, kennt die alten Geheimnisse«, antwortete Gale. »Sie legten die Scheide in einen Kessel mit Öl und anderen Flüssigkeiten, um das Leder von dem darunterliegenden Metall abzulösen. Auf diese Weise
konnte man das Leder mit den Goldfäden langsam abzupfen, ohne Gefahr zu laufen, es zu zerreißen. Dann setzten sich ihre Mutter und ein paar andere ältere Frauen, die ihr zur Hand gingen, an einen alten Webstuhl. Anders kann ich es dir nicht erklären. Der ganze Vorgang hatte viel mit Sich-Vortasten und Gefühl zu tun. Dann nähten sie die einzelnen Streifen mit Goldfäden zusammen. Und fertigten eine Tunika - oder Körperpanzer, ganz wie du willst - an, die ganz genau auf Caitlins Größe und Figur ausgerichtet war. Die zusätzlichen Goldfäden, mit denen die Tunika zusammengenäht wurde, verliehen ihr auch zusätzliche Kraft.« Indy nickte. »Ich weiß, daß sie einen Schock hat. Kann sie uns hören, kann sie verstehen, worüber wir uns gerade unterhalten?« Caitlins Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, verriet ihnen aber, daß sie zu Kräften kam. »Ja.« »Ich muß Ihnen ein paar Dinge sagen, Caitlin. Und ich möchte Sie bitten, deswegen nicht mit mir zu streiten«, bat er sie. »Hier geht es nicht um richtig oder falsch, hier geht es um Erfahrung.« »Ich werde zuhören.« »Egal, was morgen oder in den nächsten Tagen geschehen wird«, begann Indy, »Sie werden sich raushalten müssen.« Caitlin versuchte sich auf einen Ellbogen zu stützen. Der Blick, den sie auf Indy richtete, war düster und mißmutig. Obwohl sie schlimme Schmerzen zu ertragen hatte, gelang es ihr zu sprechen. »Es ist nicht an Ihnen, das zu entscheiden«, sagte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Indy begriff den Wink nicht. »Es ist an mir, Entscheidungen zu fällen«, beschwerte er sich. »Hören Sie mir gut zu, Caitlin.« Irritiert stellte er fest, daß er ihren Tonfall annahm. »Die Autorität, Entscheidungen zu treffen, hat nichts damit zu tun, wer gerade worüber bestimmt«, führte er ernst aus. »Sowohl Gale als auch ich haben unser Leben für Sie aufs Spiel gesetzt. Ein paarmal sind wir dem Tod um Haaresbreite entwischt.« Mit erhobener Hand wies er ihren Einwand ab. »Niemand erwartet Dankbarkeit von Ihnen. Gale ist Ihre
Seelenverwandte. Das hat sie mir gestanden, aber ich wäre auch so dahintergekommen. Sie beide sind durch ein unsichtbares Band, das Band des Lebens, miteinander verbunden.« Er schöpfte Atem und schaute zu Caitlin hinunter, die genug damit zu tun hatte, ihre Schmerzen zu ertragen. »Aber ich gehöre nicht dem Familienstammbaum an, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Ich bin nur hier, weil ich an Sie glaube und an Gale. Einen anderen Grund gibt es nicht. Das Geld interessiert mich nicht. Alte Münzen, ja. Historische Artefakte, ja. Aber selbst die sind nicht wichtig genug, um deshalb bei einem Eissturm über so einen verdammten Hydrogenballon zu kriechen, der über einem Ozean hängt! Und schon gar nicht, wenn unsere Gegner alles daran setzen, uns in Streifen zu schneiden. Nun gut, das haben wir hinter uns gebracht, überstanden. Fürs erste jedenfalls. Aber falls uns jetzt jemand die Hölle heiß macht, sind Sie, meine Dame, nicht stark genug, um sich zu verteidigen. Und uns können Sie schon gar nicht helfen. Im Augenblick ist gerade das Gegenteil der Fall. Lange Rede, kurzer Sinn, wenn Sie verletzt sind, kümmern wir uns um Sie. Wenn wir am Boden liegen und Schmerzen haben, kümmern Sie sich um uns.« Er hielt inne, wohlwissend, daß ihm die ganze Angelegenheit über den Kopf wuchs. »Caitlin, mir geht es im Grunde genommen darum, daß Sie immer noch sterben können. Man kann Sie töten.« Er streckte die Hand aus und lüftete den Rand der Tunika, die Gale unablässig auf ihre Wunden drückte. »Nicht einmal diese großartige Tunika kann Sie retten, wenn Ihnen jemand eine Kugel ins Herz oder in den Kopf schießt. Zauberei hat ihre Grenzen wie alles andere auch. Ob es Ihnen schmeckt oder nicht, Caitlin, wir sitzen in einem Boot. Ich bin auf Ihrer Seite. Aber wenn wir vor der Realität die Augen verschließen, wird uns das nur schaden.« Caitlin gab Gale mit einem Zeichen zu verstehen, daß sie sich aufsetzen wollte und ihre Hilfe brauchte. Mit zusammengebissenen Zähnen ertrug sie die Schmerzen, ohne ein Wort der Klage zu verlieren. Sie schloß die Augen
und atmete tief durch, um wieder klar denken zu können. Als sie die Lider aufschlug, waren ihre Augen klar, war ihr Blick gestochen scharf. »Falls alles, was Sie da sagen, zutrifft«, sagte sie schließlich an Indy gewandt, »dann wird das, was Merlin ausgetüftelt hat, der größten Prüfung unterzogen. Falls ich sterbe, falls ich unterliege, wird jemand anderer mein Schwert und mein Banner übernehmen.« Sie richtete ihren Blick auf Gale. Es bedurfte keiner Worte, um Indy zu sagen, daß Gale ihren Platz, ihre Rolle einnehmen würde, falls sich die Notwendigkeit ergab. »Der Tod meiner Mutter muß gesühnt werden«, fuhr Caitlin leiser fort, »er muß vergolten werden. Es zählt nicht, wie viele ihr Leben lassen müssen, um das zu richten. Cordas muß sterben. Und erst dann wird die Seele meiner Mutter Frieden finden und die ewig währende Ruhe, die ihrer harrt.« Eine Weile lang starrte Indy ins Leere. Und fällte eine Entscheidung. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, eine Diskussion zu beginnen. Caitlin mußte sich ausruhen. Um ihre Wunden war es schlimmer bestellt, als sie wahrhaben mochte. Trotz des ganzen Zaubers vergangener Jahrhunderte brauchte ihr Körper Zeit, um zu gesunden. Auch Caitlin schien das zu begreifen. Indys Worte und das, was sie aus seinem Blick herauslas, brachen ihren Widerstand. »Gale, du weißt, was ich brauche«, sagte sie unvermittelt. Gale nickte und erhob sich. »Ich komme gleich wieder«, sagte sie zu Indy. Sie verließ die Kabine. Ungefähr fünf Minuten später kehrte sie mit einer großen Phiole zurück, die sie unter ihrer Jacke versteckt hatte. Das Gefäß enthielt eine Flüssigkeit, die Indy nicht kannte. Langsam trank Caitlin die Hälfte des Inhaltes aus. Sie nickte Gale zu, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Indy sah, daß sie tief und gleichmäßig atmete. »Schläft sie?« fragte er Gale. »Ihr Zustand geht weit über Schlaf hinaus. Ja, sie schläft, aber sie befindet sich auch in Trance. Die Flüssigkeit wird ihrem Körper erlauben, schneller zu heilen. Mach dir wegen unseres Gesprächs keine Sorgen. Sie kann uns nicht hören«, verriet Gale ihm mit ernster Miene, »und wir haben noch viel zu
besprechen.« Durch den Sturm in der Geschwindigkeit beeinträchtigt und mehr als hundertundsiebzig Meilen vom ursprünglichen Kurs entfernt, kehrte der Graf Zeppelin schwerfällig auf seine eigentliche Route zurück. Die Risse in der Baumwollhaut boten keinen Anlaß zur Sorge. Das Luftschiff hatte schon schlimmere Stürme überstanden: Ein Ruder war ausgefallen, das Duraluminium hatte sich verbogen, die Baumwollhaut hatte einem alten Scheuerlappen geglichen, und doch war die Mannschaft in der Lage gewesen, die Schäden zu reparieren. Der Verlust der Männer machte Indy viel größeres Kopfzerbrechen. Es sah nicht so aus, daß den anderen Mannschaftsmitgliedern oder den diensthabenden Offizieren etwas Ungewöhnliches aufgefallen war. Das war natürlich kompletter Blödsinn. Wer immer die Arbeitspläne der Besatzung verwaltete und mit den Männern zusammenarbeitete, mußte wissen, daß ein paar Männer über Bord gegangen waren. Und an Bord des Luftschiffes liefen immer noch ein paar Männer mit bösen Verletzungen herum. Das ließ sich mit dem Sturm erklären: Sie hatten sich an den Metallverstrebungen gestoßen, waren gegen die arbeitenden Motoren gefallen. Wer immer wußte, was sich hier abgespielt hatte, hatte dafür gesorgt, daß die Passagiere die Verwundeten nicht zu Gesicht bekamen. Und daß Kapitän Eckener ihnen auch nicht über den Weg lief. Ein Besuch von Kurt Jaeger, dem Navigator des Zeppelins, beantwortete Indy eine Menge Fragen. »Ich weiß nicht, ob Sie mitbekommen haben, daß während des Sturms vergangene Nacht ein paar unserer Passagiere krank geworden sind oder sich verletzt haben«, begann er. Jaeger stattete ihnen in ihrer Kabine keinen Besuch ab, um Konversation zu machen oder sich zu vergewissern, ob sich einer von ihnen den Knöchel verstaucht hatte. »Ich muß Sie in einer anderen Angelegenheit um Stillschweigen bitten«, formulierte er vorsichtig. »Wir müssen diese Information vor den
Passagieren geheimhalten, wie Sie gleich verstehen werden.« Indy und Gale tauschten schweigend Blicke aus und kamen stumm überein, daß sie sein Spiel um jeden Preis mitspielten. Jaeger ging weit über die Pflichten seines Zuständigkeitsbereichs hinaus. »Während der Nacht mußten wir schwere Schäden reparieren«, fuhr Jaeger fort. »Das nahm einen sehr tragischen Ausgang. Ein paar unserer Leute fielen von ihren Arbeitsplätzen im Schiffsrumpf. Manche hatten Glück und landeten auf den Stegen oder Verstrebungen, aber ein paar Män-ner durchbrachen im Fall die Hülle des Zeppelins und fanden im eisigen Ozean den Tod.« Daraufhin schwieg Jaeger, doch Indy wußte ganz genau, was er mit dieser Meldung anzufangen hatte. Er war seinem Gegenüber für dessen bedachte Wortwahl dankbar. Indy fragte sich, für wen er in Wirklichkeit arbeitete. Für die Zeppelin-Luftschiffgesellschaft auf gar keinen Fall, soviel war sicher. Schließlich hatte Jaeger ihm und Gale gerade verraten, daß es offiziell keine tätlichen Auseinandersetzungen im Zeppelin gegeben hatte, wenn auch nicht mit diesen Worten. Niemand hatte gegen niemand gekämpft, und keiner, der daran beteiligt gewesen war, wurde namentlich erwähnt. Das Wichtigste daran war, daß nichts darüber in den Logbüchern des Luftschiffs stehen würde. »Herr Jaeger«, platzte Gale plötzlich mit der Sprache heraus, »wissen Sie -« Indy setzte sich urplötzlich in Bewegung und legte Gale die Hand auf den Mund. Instinktiv wehrte sie sich gegen diese Bevormundung, hielt sich dann aber zurück und schwieg. Langsam nahm er die Hand runter. Gale nickte ihm kaum wahrnehmbar zu und gab ihm damit zu verstehen, daß sie ihm nicht in die Quere kommen würde. »Herr Jaeger, vielen Dank für Ihren Besuch. Es ist ...« Er brach ab und versuchte die passenden Worte zu finden. »Es ist sehr beruhigend, die Situation zu kennen und zu wissen, daß das Logbuch sich in solch fähigen Händen befindet.« Jaeger lächelte fadenscheinig. Nun wußte er, daß Indy ihn verstanden hatte. Er verbeugte sich knapp. »Vielen Dank, Mr. Parker. Ich hoffe inständig, daß
Sie die restliche Strecke ohne weitere Unannehmlichkeiten zurücklegen werden. In etwa sechsunddreißig Stunden werden wir in Lakehurst eintreffen. Ich habe ein Telegramm dorthin geschickt. Man wird Sie dort in Empfang nehmen und für Ihren Weitertransport sorgen. Ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Reise.« Und dann drehte er sich um und schloß leise die Tür hinter sich. Gale fixierte die geschlossene Tür und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Zwick mich mal, bitte«, flüsterte sie. »Wieso habe ich den Eindruck, daß unser freundlicher Navigator nicht nur diesen riesigen Gasbeutel durch die Luft steuert?« Indy lehnte sich gegen das Bullauge. »Wie würde sich Merlin wohl ausdrücken?« murmelte er und grinste dann bis über beide Ohren. »Ich denke, daß wir es hier mit einem ganz falschen Fünfer zu tun haben.« Gale verzog das Gesicht. »Indy, das ist ja scheußlich. Sprich bitte so, wie du bist. Merlin würde sich im Grab umdrehen, wenn er dich hören könnte.« »Bei allem nötigen Respekt, ich glaube tatsächlich, daß er das kann«, sagte Indy gutgelaunt. »Wie auch immer, zurück zu dem, was du gerade gesagt hat ... Entweder ist Herr Jaeger auf unserer Seite, und mehr möchte ich dazu gar nicht sagen, oder er arbeitet für beide Seiten. Ich könnte mir denken, daß er einem gewissen Thomas nicht unbekannt sein dürfte. Und das reicht mir.« Er klopfte an das Bullauge. »Wer weiß, ob jemand mithört? Ich denke, wir sollten auf Nummer Sicher gehen und das Thema fallenlassen.« »Ah, der Besucher meinte, daß wir noch sechsunddreißig Stunden Flugzeit vor uns haben. Bis dahin müßte Caitlin wiederhergestellt sein.« Indy warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Das ist ja sagenhaft. Bist du sicher?« »Wäre nicht das erste Mal.« »Ach nein?« »Ich gebe dir mal ein Beispiel. Sie hat eine Affinität Tieren gegenüber. Ist fast
so, als könnte sie sich mit ihnen unterhalten«, entsann Gale sich. »Eines Tages war sie tief im Wald, hatte ihren Jagdbogen dabei und eine Menge Pfeile im Köcher. Ein Bär näherte sich ihr aus dem Unterholz. Was sehr ungewöhnlich ist. Normalerweise warnen sie einen zuerst. So sind Bären nun mal.« »War dieser Bär verwundet?« »Das dachten wir zuerst auch, aber -« Gale schüttelte den Kopf. »Zahnschmerzen. Das Tier muß verrückt vor Schmerz gewesen sein. Es rannte auf sie zu, ohne daß sie den Bären bemerkte. Bevor sie sich zur Wehr setzen konnte, war er schon mit seinen Krallen über sie hergefallen. Er versuchte auch noch, ihr in den Hals zu beißen. Aber da hatte sie schon ihr Jagdmesser gezogen, das, das sie immer dabei hat. Der Bär warf sie um und erwischte ihre Schulter und nicht den Hals. Sie war sich darüber im klaren, daß sie ihn mit dem Messer nicht töten konnte. Er würde ihr zuvorkommen. Caitlin verliert glücklicherweise niemals die Kontrolle. Sie riß das Messer hoch und stemmte es ihm zwischen die Augen. Der Bär fiel gleich hin und versuchte, mit seinen Tatzen das Messer rauszuziehen.« »Und da konnte Caitlin fliehen«, äußerte Indy seine Vermutung. »Nein. Sie würde niemals ein Tier so zurücklassen. Obwohl sie stark blutete und schlimm verletzt war, ging sie dem Bären hinterher. Mit Pfeil und Bogen. Sie zielte und traf ihn ins Herz. Aus der Nähe abgeschossen, hat so ein Pfeil eine enorme Durchschlagskraft. Männer kamen angerannt, sie hatten gehört, wie der Bär brüllte, kurz bevor er sie töten wollte. Sie fanden den toten Bären und Caitlin, die bewußtlos auf dem Tier lag, selbst dem Tod nahe. Klugerweise stoppten sie die Blutungen, betteten sie bequem auf den Boden, und ein Mann rannte in den Glen zurück, um ihren Vater und die Tunika zu holen, die aus der Scheide angefertigt worden war. Sie war kurz davor zu sterben. Eine Weile lang glaubten wir, wir hätten sie verloren. Drei Tage später war Caitlin frisch und munter wie ein Fisch im Wasser. Dem Bären, der sie zu töten versucht hatte, war es also viel dreckiger ergangen als ihr.«
Indy fand das alles höchst merkwürdig. »Wenn es sich um Caitlin dreht, bin ich mittlerweile bereit, fast alles zu glauben.« Er drehte sich um und studierte ein paar Papiere. »Wie auch immer, wir werden die Zeit bis zur Landung nicht verschwenden. Und wir werden Caitlin nicht eine Minute allein lassen. Ich werde veranlassen, daß uns die Mahlzeiten auf die Kabine gebracht werden. Wenn wir von Bord gehen, dann nur zusammen mit den anderen Passagieren.« »Werden wir sie wieder in dieses japanische Gewand stecken?« »Ja. Die anderen sollen dieselbe Person von Bord gehen sehen.« Gale nickte. »Kann ich dir weitere Fragen stellen?« »Nur zu.« »Nach all dem, was du vorhin gesagt hast, Indy, du weißt schon, als du dich mit den Karten und dem verschlüsselten Telegramm beschäftigt hast, nun, ich muß dir gestehen, ich weiß noch immer nicht so richtig, wo das Gold versteckt sein soll.« »Da bist du nicht allein, Gale.« Vor ihr breitete er eine Karte aus. »Laß uns mal Blindekuh spielen. Oder stelle dir vor, wir setzen ein Puzzle zusammen, wo ein paar Teile fehlen. Meiner Meinung nach dürfen wir davon ausgehen, daß das Gold irgendwo zwischen Jacksonville und Steinhatchee transportiert worden ist. Und dann weiß keiner mehr weiter. Niemand kann sagen, wo es abgeblieben ist«, führte er mit einem Achselzucken aus. »Und was ist mit der Eisenbahn? Können wir nicht am Schienenverlauf ablesen, wohin das Gold gebracht wurde?« Fragend schaute sie zu ihm hinüber, aber er war offenbar nicht ihrer Meinung. »Nicht schlecht, Gale. Falls wir mit Vermutungen arbeiten würden, würde ich deine Anregung aufnehmen. Unglücklicherweise gibt es die Bahnlinie« - er tippte auf die Karte - »hier und hier und all die Punkte dazwischen nicht mehr. Nach Kriegsende brauchte der Süden dringend Metall. Darum wurden diese Eisenbahnschienen, wie viele andere auch, abgerissen und in metallverarbeitende Betriebe geschickt, die Werkzeug und andere nützliche
Dinge daraus machten. Wir sprechen von einem fast tropischen Land. Es dauerte nicht lang, bis jeder Hinweis auf die alten Bahnlinien verschwunden war. Schwere Regenfälle, Pferde und schnell wachsendes Unterholz trieben diesen Prozeß voran.« »Und ich könnte mir denken, daß es den Straßen, die von den Maultierkolonnen benutzt wurden, auch nicht anders erging«, merkte Gale an. Indy nickte. »Eine Sackgasse nach der anderen. Aber«, betonte er, »nun greifen wir auf Erfahrung zurück. Jahrelang habe ich nach alten Ruinen gesucht, die lange vor der Zeit, von der wir sprechen, entstanden sind. Es gibt immer Hinweise, und wir werden über sie stolpern, das verspreche ich dir.« »Faszinierend«, sagte sie, aber sie glaubte nicht richtig an das, was er sagte. In ihrer Einbildung sah sie dickes Unterholz, Schlangen, Alligatoren und andere Kreaturen, die sich in einer gottverlassenen Landschaft aufhielten. »Meine Meinung«, fuhr Indy bedächtig fort, »ist, daß das Gold verlorengegangen ist, zurückgelassen oder irgendwo zwischen dem Golf und dem Atlantik vergraben wurde. Und zwar direkt auf oder ganz in der Nähe von einem der Kriegsschauplätze, auf denen in diesem Gebiet gekämpft wurde. Und das heißt wiederum, daß sie fast überall Hinweise hinterlassen haben müssen.« »Und du behauptest, Caitlin und ich würden zaubern?« Sie lehnte sich zurück und seufzte laut. »Dabei sprichst du in Rätseln, die selbst den guten alten Merlin beschämen würden.« Er tätschelte ihre Hand. »Man muß nur wissen, wo und nach was man suchen muß.« »Ist das nicht immer der Fall?« »Zum Donnerwetter, Gale, du denkst nicht nach. Oder, besser gesagt, du denkst zu sehr in den Strukturen von heute. Wohingegen wir eine Art Zeittunnel hinuntergehen müssen, um Antworten zu finden.« Mit seiner Kritik war es ihm gelungen, Gales volle Aufmerksamkeit zu bekommen. »Versuch dir vorzustellen, daß hier ein Krieg stattgefunden hat.
Gerade mal vor siebzig Jahren. Keine Panzer, keine Artillerie, keine Kommunikationsverbindungen, keine Flugzeuge, keine Bomben aus dem Himmel. Nur das rauhe, dreckige und langandauernde Zufügen von Wunden und ein Fleck Land, auf dem so lange getötet wurde, bis die Erde blutgetränkt war. Nun sollten wir mal über die Waffen und all das andere Zeugs nachdenken, das diese Männer damals zurückgelassen haben. Auf diese Weise kriegen wir raus, wo die größten Schlachten stattgefunden haben. Wir müssen uns nur anschauen, was sie zurückgelassen haben.« »Indy, ich gebe mir ja redliche Mühe, aber ich weiß nicht, worauf -« »Zum Beispiel Kanonenkugeln. Archaische, schwere und monströse Dinger. So schwere und plumpe Kriegsmaschinen, daß man sie zurücklassen mußte. Pferde und Maultiere gab es ja fast keine mehr. Sie waren getötet oder gefressen worden oder davongelaufen. Aber die Wagen, nun, das Holz ist inzwischen bestimmt vermodert. Insekten, Sonne, Regen, all diese Dinge sind schuld daran. Aber wir werden nach dem Eisen suchen, das auf die Holzräder genagelt war.« »Eisenringe?« »Richtig. Die schweren Holzräder hatten Eisenringe, die man nach dem Auflegen verkleinerte. So bekam man ein außerordentlich haltbares Rad. Ein Großteil wird selbstverständlich verrostet sein, aber wo so viele Wagen zurückgelassen wurden, na, da sollte es doch auch ein paar Hinweise darauf geben.« »Indy, all das, was du mir gerade erzählt hast, kommen da nicht auch andere Menschen drauf?« wollte sie von ihm wissen. »Ich meine, warum sollten sie nicht schon längst über die Dinge gestolpert sein, die du gerade beschrieben hast?« »Oh, doch, das haben sie auch. Nur haben sie an den völlig falschen Orten danach gesucht. Ich denke, ich denke einfach«, sagte er mit rätselhaftem Lächeln, »daß ich weiß, wo wir mit unserer Suche beginnen müssen.« Gale dachte über seine Worte nach. »Und was ist mit Cordas? Verfügt er
nicht vielleicht über dieselben Informationen?« Indy zuckte mit den Achseln. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Aber ich hoffe darauf. Außerdem muß er alle paar Meter einen Blick über die Schulter werfen, weil er ja weiß, daß Caitlin sich ihm an die Fersen heften wird. Und auch Cordas hat eine Achillesferse.« »Was willst du damit sagen?« »Versuch, so wie er zu denken. Falls er eine Horde schwerbewaffneter Männer, professionelle Killer, verfolgen würde, würde er das allein tun? Nie und nimmer!« Indy lachte. »Er muß damit rechnen, daß Caitlin sich die Unterstützung von Komplizen gesichert hat. Und zwar eine ganze Menge, die alle nur auf das gigantische Ende warten.« »Und in Wahrheit«, stellte Gale schlechtgelaunt fest, »hat sie nur dich und mich.« »Was durchaus genügen könnte«, meinte Indy.
NEUNZEHN Ganz gemächlich segelte die ›Graf Zeppelin‹ über die östlichen Bezirke New Yorks, über Nassau County auf Long Island, hinweg. Die Ankunft hatte Kapitän Eckener mit großer Sorgfalt geplant. Über Long Island South änderte das große Luftschiff seine Route und scherte nach Süden aus. Der Kapitän hatte seine Passagiere aufgefordert, sich auf die rechte Seite der Lounge zu begeben, von wo aus sie einen prächtigen Ausblick auf die beeindruckenden Wolkenkratzer New Yorks hatten. Der Morgen dämmerte. Ein glasklarer, vom abendlichen Regen und leichtem Wind gereinigter Himmel spannte sich über die Stadt. Die Sonne stieg hinter der linken Flanke des Zeppelins auf und ergoß ihr goldenes Licht über die Welt. Auf einmal lag Manhattan unter ihnen. Tausende von Fensterscheiben reflektierten die Sonnenstrahlen. Was eigentlich eine Stadt aus Stahl und Beton war, verwandelte sich in ein Zauberland aus unzähligen Goldtönen. Selbst die langweiligen Betonstützen der hohen Häuser schienen bei Sonnenaufgang zu strahlen. Dann dröhnte der Zeppelin über die nach Süden ausgerichteten Strande von Long Island hinweg, um später die Bucht zu passieren und auf ihr Reiseziel, Lakehurst in New Jersey, zuzuhalten. Lower Manhattan lag nun rechts vom Luftschiff. Der Hudson River schlängelte sich vor ihren Augen nach Norden, und unter dem Luftschiff erwachte der Hafen New Yorks mit Getute und lautem Pfeifen zum Leben. Die Geräusche waren selbst in einer Höhe von tausend Fuß noch zu hören. Schiffe in der Bucht zogen eine Fontäne aufspritzenden Wassers hinter sich her, die Nebelhörner der Ozeandampfer hupten laut. Kleine Flugzeuge, die Werbefahnen hinter sich herzogen, und neugierige Touristen in
Privatflugzeugen kreisten um den Zeppelin. Die Piloten und Passagiere winkten den Gesichtern zu, die hinter den großen Panoramafenstern in der Lounge und in der Kontrollgondel des deutschen Luftschiffs zu erkennen waren. Ganz sanft glitt der Zeppelin auf das große Feld des Flughafens zu. Das riesige Luftschiff runterzubringen war eine knifflige Angelegenheit. Man mußte die Leistung der Motoren genau im Auge behalten und kontrollieren und Ballast in Form von Wasserbeuteln ablassen, wenn die Landung zu schnell vonstatten ging. Die Vertäuung und die Leinen fielen wie bleistiftdünne Schlangen vom Luftschiff. Unten eilten Männer herbei, schnappten sich die Leinen und rissen mit aller Macht an ihnen, bis sie straff gespannt waren. Zusammen gelang es ihnen, das Schiff zu halten. Ein schwerer Lastwagen wartete geduldig, während Hunderte von Männern losgingen, mit Leinen über den Schultern, wie russische Bauern, die die Boote und Schiffe auf der Wolga zogen. Nur wenige Minuten später war die ›Graf Zeppelin‹ gelandet. Die Reise war beendet. Eine Blaskapelle spielte enthusiastisch auf. Tausende von ehrfürchtigen Zuschauern klatschten und jubelten, und Autofahrer drückten fröhlich auf die Hupe. Es hatte den Anschein, als feierten die Menschen die Ankunft dieser Königin der Lüfte. Unter den von Bord gehenden Passagieren war kein Japaner zu erkennen. Statt dessen zeichneten die Kameras der Wochenschau auf, wie Mr. und Mrs. Parker einen betagten, bärtigen Mann, der schwerkrank war und deshalb gestützt werden mußte, zu einer wartenden Limousine führten. In der Limousine warf eine hochgradig erzürnte und aufgeregte Caitlin Indy einen erbosten Blick zu. »Helfen Sie mir, diese übelriechende Schafsmatte vom Gesicht zu nehmen! « Indy grinste frech. »Sofort, Opa!« Er lehnte sich behaglich auf die dick gepolsterte Rückbank der Limousine und mußte immer noch über Caitlins Ärger lachen. Was war denn so
gräßlich an einem kratzigen falschen Bart, an dicken Augenbrauen und einer übelriechenden langen Perücke? Die große Brille, die sie trug, konnte sie auf den Tod nicht ausstehen, und die dicken Polster, die sie um ihren Körper gebunden und unter weiten Hosen versteckt hatte, haßte sie wie die Pest. Amüsiert beobachteten Indy und Gale, wie Caitlin sich ihrer Verkleidung entledigte, nachdem sie minutenlange Schimpftiraden von sich gegeben hatte. »Sie werden nach einem Japaner Ausschau halten!« rief Indy hitzig. »Und das letzte, was wir brauchen können, ist, daß Sie in Ihrem prächtigen Gewand herumspazieren und -« Dabei verschwieg er ihr, daß er eigentlich anderes im Sinn gehabt hatte. »Sie haben gesagt, daß dieser Mann, dieser Jaeger, uns helfen wird«, protestierte Caitlin wütend. »Sicher«, erwiderte Indy, »aber ich habe Gale auch vor der Möglichkeit gewarnt, daß er eventuell für beide Seiten arbeitet.« »Ja, das hat er gesagt«, bekräftigte Gale. »Erklären Sie mir, was Sie damit meinen«, forderte Caitlin ihn auf. »Man bezahlt ihn dafür, daß er einen deutschen Zeppelin navigiert. Und das macht ihn in meinen Augen zu einem kompetenten, wertvollen und wahrscheinlich ziemlich patriotischen Deutschen«, antwortete Indy. »Aber wir wissen auch, daß er Kontakt zu Treadwell hat. Nur, wieso? Arbeitet er tatsächlich für das gute alte England? Das wissen wir nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, was nur heißen kann, daß wir auch nicht wissen, ob er seine Dienste nicht an den höchsten Bieter verkauft. Gut möglich, daß er von Treadwells Leuten bezahlt wird, mit dem zusätzlichen Anreiz, daß er, falls er uns in die Pfanne haut -« Caitlin hob eine Augenbraue. »In die Pfanne haut?« »Falls er uns verrät. Falls er Cordas Leute wissen läßt, wer Sie in Wahrheit sind. Falls er für Treadwell arbeitet, sich aber auch von Cordas bezahlen läßt. Sie können sich nicht sicher sein, daß Sie in dieser Verkleidung gesteckt haben.
Noch viele Fragen bleiben offen. Und ich habe nicht vor, ein Risiko einzugehen, und aus diesem Grund hat uns dieser alte und klapprige Herr begleitet, als wir von Bord gingen.« »Könnte es sein, daß Cordas' Leute uns folgen?« fragte Gale. »Das bezweifle ich«, meinte Indy. »Erstens, schließlich haben drei absolut identische Limousinen gleichzeitig Lakehurst verlassen. Wenn uns jemand folgt, woher soll er wissen, in welchem Wagen wir sitzen? Zweitens, warum sich diese Mühe machen? Wir wissen nicht, was Cordas im Kopf rumgeht. Nur deswegen ziehen wir hier diese Nummer mit dem geheimnisvollen Mann ab.« »Ich weiß nicht, wohin wir fahren«, sagte Caitlin nach einer ganzen Weile, »aber ich werde auf gar keinen Fall in New York bleiben, nur damit das klar ist.« »Das habe ich mir gedacht«, beeilte Indy sich zu sagen. »Sie werden nicht lange bleiben müssen. Wir sind auf dem Weg zu einer sehr privat gelegenen Wohnung mitten im Herzen von Manhattan. Da wird uns niemand finden. Und wir werden auch nur ein oder zwei Tage bleiben.« »Das hört sich meiner Meinung nach gerade so an, als vergessen Sie, wer Cordas ist und was er zu tun beabsichtigt«, erwiderte Caitlin eisig. »Oder wohin er unterwegs ist. Vielleicht verliere ich seine Spur. Ich sehe keinen Grund, hierzubleiben.« »Wir werden seine Fährte nicht verlieren«, versicherte Indy ihr. »Treadwell arbeitet mit den amerikanischen Behörden zusammen und das von Anfang an. Beide Seiten kooperieren uneingeschränkt. Unsere Leute - die Amerikaner - haben sich an Cordas geheftet, gleich nachdem er den Gasballon verlassen hat, mit dem wir aus Deutschland angereist sind. Und sie werden ihn nicht aus den Augen lassen.« Indy veränderte seine Sitzposition. »Wann immer wir wissen möchten, wo Cordas steckt, können wir das in Erfahrung bringen. Der Punkt ist, Caitlin, Sie werden nichts erreichen, wenn Sie versuchen, ihn allein aufzuspüren. Das könnte mehrere Tage in Anspruch nehmen. Er könnte
falsche Fährten auslegen, die dazu führen, daß Sie im Kreis tappen. Und falls er mitkriegt, daß Sie ihn beschatten -« »Mit beschatten meinen Sie, daß ich ihn verfolge?« unterbrach Caitlin ihn. »Tut mir leid. Manchmal bediene ich mich der Umgangssprache«, verriet er ihr. »Ja, wenn er weiß, daß sie ihn verfolgen, wird es ihm leichtfallen, Sie auf die falsche Fährte zu locken, Sie in die Falle laufen zu lassen. Schließlich arbeiten Sie auf einem Territorium, das Ihnen fremd ist.« »Er hat recht, Caitlin«, wandte Gale ein. »Du bist bislang noch nie in den Vereinigten Staaten gewesen, oder?« Caitlin schüttelte den Kopf. »Dann fallen Sie auf wie ein bunter Hund«, fuhr Indy fort. »Nicht nur, weil Sie Britin sind, sondern weil Sie sich wie eine Britin anhören. Ein Blinder mit einem Krückstock könnte Sie als das erkennen, was Sie sind. Und das macht Sie extrem verwundbar.« Caitlin war niemand, der lange Unterhaltungen schätzte. »Wir werden also nicht länger als zwei Tage bleiben?« »Nein.« »Und dann hängen wir uns an Cordas ran?« »Ja.« »Wie lange dauert die Zugfahrt von hier bis zu diesem Ort in Florida, den Cordas aufsuchen wird?« »Mindestens zwei Tage. Ist eine ziemlich anstrengende Fahrt. Ich kann sie niemandem empfehlen.« »Und wie sollen wir dann -« »Wir werden es wie die Vögel machen, wenn es an der Zeit ist abzureisen, Caitlin. Und so werden wir Cordas viel schneller einholen, als er es sich geträumt hat.« Für die nächsten sechsunddreißig Stunden ›verschwanden‹ Indy, Gale und Caitlin von der Bildfläche. Sie begaben sich an einen von Indys
Lieblingsorten in New York, in das American Museum of Natural History, das westlich vom Central Park lag, mitten in Manhattan. Mit dem Kurator des Museums war er beruflich und freundschaftlich verbunden. Das Museum verfügte über einige Privaträume und Konferenzsäle im Keller des Gebäudes, die für Gäste aus aller Welt bereitgehalten wurden. Für die Privatsphäre der Personen, die dort untergebracht wurden, war gesorgt. Indy schickte Thomas Treadwell ein Telegramm, das mit dem Namen Shiloh unterschrieben war, und ihn anwies, die ›Sache in Gang zu bringen‹. Innerhalb einer Stunde wurde Indy durch das Büro des Kurators darüber in Kenntnis gesetzt, daß mehrere Männer zu ihrem unterirdischen Wohnraum geschickt wurden. Weil sie so schnell >durchgelassen< wurden, lag die Vermutung nahe, daß sie Angehörige der amerikanischen und britischen Regierungen waren, unter deren Schirmherrschaft die bevorstehende Operation durchgeführt wurde. Indy hätte fast gelacht, als zwei Männer mit Aktenkoffern und großen Ledertaschen zu ihnen stießen. Seit jeher fragte er sich, wieso Geheim- oder Spezialagenten immer schon aus hundert Metern Entfernung zu erkennen waren. Die Herren trugen dunkelgraue Anzüge, auf Hochglanz polierte Schuhe, ordentlich gebügelte Hemden und Krawatten und hatten akkurat geschnittene Rasiermesserfrisuren. Er zwang sich, den ersten Eindruck zu vergessen. Was wirklich zählte, war das, was sie mitbrachten und zu sagen hatten. »Fred Carruthers, Sir«, stellte der erste Agent sich vor und hielt Indy die Hand hin. »Das hier ist mein Partner, Ron Judson.« Der zweite Mann schüttelte Indys Hand, der wiederum die beiden Frauen vorstellte. Wie eine Raubkatze saß Caitlin zurückgelehnt auf der Couch und folgte jeder Bewegung der beiden Männer. Wieder mußte Indy an sich halten, um nicht in Gelächter auszubrechen. Mit dem aus jeder Pore dringenden Selbstbewußtsein, das anderen Menschen zu verraten schien, wie unbedeutend sie doch waren, brachte Caitlin die beiden Herren
durcheinander. Sie fühlten sich nicht wohl, das merkte man ihnen an. Indy schob diese Gedanken beiseite, um sich der Angelegenheit zu widmen, die sie an diesem Ort zusammengeführt hatte. Er nickte Gale zu, die sofort nach einem Notizblock griff. Sie schlug das Deckblatt hoch und sagte folgende Worte: »Wie steht es mit den Ausweisen?« Carruthers spürte die Ungeduld, die von den anderen ausging. Man mußte ihm zugute halten, daß er auf seine vorbereitete Rede verzichtete, die er auf Anordnung seiner Vorgesetzten eigentlich hätte halten müssen. Er machte seinen Aktenkoffer auf und holte einen Stapel Dokumente heraus. »Sie, Sir«, sagte er zu Indy, »sind von nun an wieder Professor Henry Jones. Wer immer dieser ominöse Mr. Parker gewesen sein soll, für die Zoll- und Einwanderungsbehörde existiert er nicht mehr. Madam, Sie sind wieder Miss Gale Parker.« »Die Ehe war sehr unterhaltsam, auch wenn sie nur von kurzer Dauer war«, neckte sie Indy. Carruthers' Blick schweifte zu Caitlin hinüber. »Und Sie, Madam, sind kein Japaner mehr. Ich muß Ihnen sagen, Miss St. Brendan, daß Sie sich als Schauspielerin hervorragend gemacht haben. Ich habe hier Ihren britischen Ausweis und die amerikanischen Dokumente, die Sie brauchen, solange Sie sich in unserem Land aufhalten.« Er blickte von einem zum anderen. »Nur damit Sie es wissen, Sie alle arbeiten für das American Museum of Natural History und stellen Recherchen für die nächste Ausstellung an.« »Sehr gut gemacht«, lobte Indy Carruthers. »Waffen?« Judson öffnete eine Ledertasche. Carruthers inspizierte die Waffen, die Judson auf dem Tisch ausbreitete, ehe er sich daran machte, Indy einen alten, schweren Revolver auszuhändigen. »Soweit ich weiß, ist das Ihre erste Wahl, was Waffen anbelangt. Eine Webley, Kaliber .455. Einhundert Schuß Munition gehören dazu. Wenn Sie mehr brauchen, sagen Sie es jetzt.« Indy nahm die Webley in die Hand. Ihm war so, als treffe er einen alten
Freund wieder. Konzentriert untersuchte er die Waffe. »Das hier«, sagte er und schaute zu den beiden Männern auf, »ist die feinste Webley, die ich jemals in Händen gehalten habe.« »Sie dürfen sie behalten«, verriet Carruthers ihm. »Und auch dieses spezielle Dokument.« Er gab Indy die behördliche Erlaubnis, die Waffe zu tragen. »Hier habe ich auch noch separate Waffenscheine für Miss Parker und Miss St. Brendan.« »Hören Sie jetzt nur nicht auf«, drängte Indy ihn. »Sie machen das ganz großartig.« »Danke, Sir.« Und er zeigte ihnen eine zweite Handfeuerwaffe. »Da Sie die hier in Deutschland zurücklassen mußten, als Sie an Bord des Luftschiffes gingen ...«, sagte Carruthers und drückte Indy eine Schmeiser, Kaliber .32 Automatik, in die Hand. Judson nahm zwei Gewehre mit Teleskopen heraus. »Ausgezeichnete Jagdgewehre«, fand er. »Von hier aus würde ich sagen, daß sie in England hergestellt wurden«, rief Indy von der gegenüberliegenden Zimmerseite. »Gut geraten, Sir«, sagte Judson. »Das sind .303er. Standard sind acht Schuß Munition im Magazin und ein Extramagazin mit zwanzig Schuß.« Und man händigte ihnen eine Repetier-Pumpgun aus, die ehrfurchtgebietend aussah, ehe Judson sie mit einem halben Dutzend Metallkugeln versorgte. »Granaten«, verriet er ihnen stolz. »Indy!« rief Gale entsetzt aus. »Was, um alles in der Welt, sollen wir denn mit Handgranaten anfangen? Wir ziehen doch nicht in den Krieg, oder?« »O doch, das tun wir«, antwortete Indy ruhig. »Aber die sind nicht zum Töten gedacht.« Beide Frauen beugten sich gespannt vor. Judson ging auf Indys Bemerkung ein. »Das stimmt, Ma'am. Das hier sind Leuchtspurgranaten. Die machen ein Höllenspektakel, aber man kann niemanden mit ihnen töten. Die Granatenhülle ist sehr dünn und zerfällt in
ihre Einzelteile, wenn die Ladung detoniert.« »Damit kann man unliebsame Personen, falls sie hinter uns her sind und mehr und mehr die Oberhand gewinnen, vorübergehend blind machen«, erklärte Indy mit einer Selbstverständlichkeit, als habe er täglich mit solchen Waffen zu tun. »Als ich in Afrika war, hatte ich ein paar von diesen Dingern. Eines Tages - ich war gerade im Kongo und bemühte mich, die Tiere, die dort lebten, nicht aufzuscheuchen - regte sich ein Leopard über meine Anwesenheit auf. Er kam auf mich zugerannt, und ich warf diese Granate in seine Richtung. Ich legte schnell noch die Hände über meine Augen, aber die Raubkatze wußte ja nicht, was geschehen würde, und folgte meinem Beispiel nicht. Das Tier erblindete für ungefähr zwanzig Minuten, aber bis dahin war ich schon über alle Berge. Und er verzog sich freundlicherweise in die entgegengesetzte Richtung.« »Haben Sie gebracht, worum wir gebeten haben?« erkundigte sich Caitlin. »Aber sicher, Ma´am«, antwortete Judson und machte die zweite Ledertasche auf. »Die besten und stärksten Armbrüste, die in diesem Land hergestellt werden. Ihnen wird auffallen, daß die Pfeilspitzen so beschaffen sind, wie Sie es verlangt haben. Dreispitze und eingekerbt wie der Zahn eines Hais.« Gale und Caitlin sprangen auf die Beine und testeten die Armbrüste, um ein Gefühl für sie zu entwickeln. »Ma´am, falls es Sie nicht stört, wenn ich das sage«, wandte Judson sich an Caitlin, »das, was Sie tun, überrascht mich doch sehr.« Caitlin fixierte ihn wortlos. »Ich kann sehr gut mit einer Armbrust umgehen, aber Sie haben das Ding schneller in Position gebracht, als ich es je gesehen habe. Sehr erstaunlich.« »Sie ist eine wahre Annie Oakley«, verkündete Indy. »Eine wer?« fragte Caitlin. »Eine berühmte amerikanische Schützin«, verriet er ihr. »Danke für das Kompliment«, sagte sie. »War da nicht noch ein Transportmittel im Gespräch?« fragte Indy die beiden Agenten. Carruthers nickte. »Ja, Sir«, sagte er mit strahlender Miene. »Es wartet auf
Sie an der Nordwestküste von Port Jacksonville. Und zwar ein Armeelastwagen mit ganz normalem Kennzeichen. Der Fahrzeugschein und die anderen Papiere sind allesamt auf Ihren Namen ausgestellt und liegen im Wagen. Er verfügt über Vierradantrieb. Damit sollten Sie überall durchkommen, mal abgesehen vom Sumpf. Jedenfalls kommt man damit prima durch den von Ihnen anvisierten Landstrich.« Gale studierte die Punkte auf ihrem Notizblock. »Funk?« »Im Wagen, Ma'am. Die Frequenz ist von vornherein so eingestellt, daß unsere Feldaußenposten Ihr Signal empfangen. Ach ja, und wir haben Sie noch mit Nahrungsmittelvorräten, Trinkwasser, Ersatzkanistern mit Benzin und Erste-Hilfe-Kasten ausstaffiert. Für den Notfall. Hoffentlich haben wir alles zusammengetragen, was Sie brauchen.« »Da ist noch eine Sache«, meldete Caitlin sich zu Wort. »Ich brauche ein paar Batterien. Können Sie mir welche besorgen? « Schon hatte Judson Zettel und Stift gezückt. »Welche Sorte, Miss?« »Ich brauche Ein-Volt-Batterien, und zwar mit Säure«, meinte Caitlin. »Kein Problem, Miss. Wie viele?« erkundigte sich Car-ruthers. »Vier, bitte, aber das ist noch nicht alles.« »Bitte fahren Sie fort.« »Die Batterien, die ich für meine Zwecke brauche, dürfen im Durchmesser nicht breiter als sieben Zentimeter und nicht länger als zwanzig Zentimeter sein.« »Entschuldigung, Ma'am«, mischte Judson sich ein. »Ich glaube ganz genau zu wissen, was Sie haben möchten. Sollten diese Batterien oben über zwei Schraubenpole verfügen?« »Ja, das sollten sie.« »Und der Schraubenpol in der Mitte ist positiv, und der zweite, am Rand, ist negativ. Ich kenne diese Dinger, Ma'am. Die äußere Hülle besteht aus einer Blei-Zink-Verbindung, und der Karbonstift liegt quasi in der Mitte und ist im Durchmesser ungefähr achtzehn Millimeter. Dazwischen ist etwas, das wir
hier Schmiere nennen und zum Elektrolyten wird, der auf einer Säurebasis arbeitet.« Alle Augen im Raum waren auf Judson gerichtet. Nach einer Weile brach Carruthers das erstaunte Schweigen. »Woher, zum Donnerwetter noch mal, wissen Sie all das, und woher wollen Sie eigentlich wissen, daß Miss St. Brendan genau solche Batterien haben möchte?« »Aber er hat doch recht!« rief Caitlin aus. »Mir hat es auch die Sprache verschlagen. Sagen Sie, Sir, wieso wissen Sie so gut Bescheid?« »Nun, meine Dame, das ist doch nichts Besonderes. Und auch gar nichts Geheimnisvolles«, erklärte Judson. »Sie müssen wissen, mein Sohn, der spielt mit ferngesteuerten Modellflugzeugen. Und läßt kleine benzinbetriebene Flugzeuge aufsteigen. Sie würden sich wundern, was das für leistungsstarke Maschinchen sind. Und die Batterie, die Sie wünschen, ist genau die Sorte, die wir immer benutzen, um diese Flugzeuge zu starten, verstehen Sie?« Caitlin nickte. »Wirklich sehr bemerkenswert«, sagte sie. »Und man kann sie überall kaufen, die Batterien, meine ich?« »Sie werden Ihnen noch heute abend zugestellt, darauf können Sie sich verlassen.« Indy konnte es kaum erwarten zu sehen, welche Verwendung Caitlin für diese Batterien hatte.
ZWANZIG Caitlin hielt das Zepter hoch, das Indy bis dahin erst einmal zu Gesicht bekommen hatte, damals im Glen, tief in den Wäldern des New Forest. Es war jenes Zepter, das Merlin nach der Legende eigenhändig genutzt hatte, um die mächtigen Energien der Erde und Atmosphäre unter Kontrolle zu bekommen und zu beherrschen. Mit längst vergessenen, wissenschaftlich fundierten Entdeckungen und einer Affinität gegenüber der Natur erklärte Indy sich viele Zauberkunststückchen, die dem alten Magier nachgesagt wurden. »Wie ich schon sagte«, erläuterte Caitlin, »befindet sich das Zepter bereits seit vielen Generationen im Besitz meiner Familie.« An der Unterseite des Zepters machte sie eine Lasche auf und zeigte Indy und Gale einen Hohlraum. Die obere Hälfte, in deren Mitte ein dunkelroter Rubin prangte, konnte abgeschraubt werden. Vor Gales und Indys Augen verstaute Caitlin die Batterie in diesem Hohlraum und verband die beiden Pole dann mit einem dicken Draht aus reinem Gold, ehe sie das Zepter unten und oben schloß. »Wenn ich hier auf den Edelstein drücke« - sie zeigte auf einen seitlich eingefaßten Stein - »schließt die Batterie den Stromkreis und unterhält ein elektrisches Energiefeld. Indy, würden Sie so lieb sein und das Licht in diesem Raum dämpfen?« Er folgte ihrer Bitte und setzte sich dann neben Gale auf die Couch. Nun war es im Kellerappartement so dunkel, daß Caitlin nichts weiter als eine schemenhafte Gestalt war in einer Entfernung von drei Metern. Wegen des gedämpften Lichts konnten sie das Zepter in ihrer Hand kaum erkennen. »Paßt auf und hört gut zu«, wies Caitlin sie an. Merkwürdigerweise hatte Indy den Eindruck, sie würde von ihm wegdriften, wie ein Phantom durch einen fernen Tunnel entweichen. Ihre Stimme klang auf einmal ganz anders und hatte die weichen, dunklen Töne eines Echos. »Das ist der Zauberstab des großartigen Merlin«, rief sie. »Er hat die Macht,
aus der Erde, aus der Luft, die uns umgibt, aus dem Wasser von Strömen, Flüssen und Seen Energie abzuziehen. Das ist das Zepter, die Herrscherin über die Energie.« Indy sah, wie sie mit dem Zepter einen weiten Kreis beschrieb, dann innehielt und ihm das Zepter entgegenstreckte. »Sie möchten seinen Effekt sehen, spüren«, sagte sie zu Indy. Weil es weniger eine Frage als eine Feststellung war, gab es nur eine mögliche Antwort darauf. »Ja«, sagte er leise. »Ihr Verstand wird Sie verlassen«, lautete die angsteinflößende Warnung. »Das wäre nicht das erste Mal«, gab er trocken zurück. Eigentlich paßte seine Reaktion nicht hierher, aber er konnte sie einfach nicht zurückhalten. Gale legte ihre Hand auf seine. Er wußte, daß sie ihm damit beistehen wollte. Aber wieso? Was war so schlimm daran, Energie zu sammeln? »Wir fangen an«, sagte Caitlin. Sie hielt das Zepter hoch. Ihre Finger drückten auf den gelben Edelstein, durch den Energie floß. Weitere Kristalle begannen zu glühen, während die Energie - wie flüssiges Quecksilber - zur oberen Hälfte aufstieg. Ein leises Summen schien von überallher zu kommen. Indy hatte den Eindruck, daß die Raumtemperatur sank. Der rote Rubin ganz oben in der Mitte des Zepters begann zu glühen. Der Schein, der von ihm ausging, wurde von Sekunde zu Sekunde heller, intensiver. Und dann hatte Indy das Gefühl, aus seinem Körper zu fahren. Rein physisch gesehen saß er zusammen mit Gale, die seine Hand drückte, auf dem Sofa. Und doch stieg er auf. Seele? Körper? Was! Er konnte es nicht sagen, aber er verspürte nicht den Drang, um Beherrschung kämpfen zu müssen. Laß dich treiben... Die Stimme, die zu ihm sprach, war seine eigene, eine Art innere Stimme, die ihn von seinem instinktiven Überlebenstrieb befreite. Der Druck in seinen Ohren nahm zu. Er stammte nicht von einem Geräusch, sondern von etwas so Sanftem wie einer kühlen Sommerbrise. Strömte in seine
Ohren, drang durch seine Haut, durch die Muskeln und Sehnen und Knochen geradewegs in seinen Kopf. Die Edelsteine vor seinen Augen leuchteten hell und tauchten Caitlins Gestalt, die die einer Königin hätte sein können, in ihren Lichtschein. Ihre Stimme drang zu ihm vor wie sanfte Wellen auf einem silbernen Teich. »Sag mir«, flüsterte sie sanft, »wovor fürchtest du dich am meisten?« Indy versuchte ihr zu antworten, brachte aber keinen Ton über die Lippen. Rückwärts fiel er in einen undurchdringlichen Nebel, der um ihn herum aufstieg. Und dann fiel er wirklich, hinunter in einen Brunnen mit erleuchteten Wänden. Der Fall dauerte ewig. Und doch war alles so befremdlich ... kein Lüftchen streifte seinen Körper. Nichts. »Denk an das, was du fürchtest...« Die Stimme ... Caitlins Stimme? Wer war Caitlin! Und wo ... Er hörte seine eigene Stimme, aus der Ferne. Sie klang dünn, geradeso, als riefe er Worte durch das unermeßliche Nichts. Er bemühte sich, den Sinn seiner Worte zu begreifen, aber sie entwischten ihm immer wieder. Alte Erinnerungen wurden hochgeschwemmt, saugten ihn auf, strömten durch ihn hindurch und zogen weiter. Vergangene Gefahren, Ängste, Kämpfe blitzten bruchstückhaft auf. Als sie von ihm abfielen, fiel auch er nicht länger. Nun bewegte er sich zu Fuß. Unter seinen Füßen glühten Kohlen, so weit das Auge reichte. Eigentlich hätten sie seine Schuhsohlen versengen müssen, aber er spürte keine Hitze. Dort! Ein Stück weiter vorn nahm eine riesige Gestalt im Feuerschein der brennenden Kohle Form an. Bislang war sie noch nicht richtig zu erkennen. Die Ränder waren in Bewegung. Indy blieb stehen und konzentrierte sich auf das, was er sah. Das Ding überragte ihn. Er schien sich rasend schnell auf die Kreatur zuzubewegen,- die Beine bewegte er aber nicht. Sein Körper wurde weggetragen, bis er unter einem gigantisch großen Drachen stand, einer riesigen, geschuppten Kreatur mit langen, spitzen Zähnen und feurigem Atem. Der dicke Schwanz schlug wütend aus,- funkelnde Augen fixierten ihn aus großer Höhe. Wie durch ein Wunder hielt er eine Peitsche in Händen. Die größte Peitsche,
die er je gehalten hatte, unglaublich lang und dick. Als er sie einsetzte, klang ihr Zischen wie ein qualvoller Schrei, der als widerhallender Gewitterdonner durch die Luft hallte. Das Leder schnitt in die Schuppen, schnitt sich durch den Fuß des Drachen und trennte ihn vom Bein ab. Die Kreatur hob den Kopf und brüllte vor Schmerz. Der Drache fuhr die Krallen des anderen Fußes aus, die sich ihm bedrohlich näherten. Wieder kam die Peitsche zum Einsatz. Das geknotete Leder wickelte sich um die Schnauze des tobenden Biestes. Blut spritzte wie Gischt aus dem Mund des Untiers und regnete auf ihn hinunter. Riesige Zähne kamen gefährlich nah. Er duckte sich und rutschte in einer Blutlache aus. Wieder traf die Peitsche das Tier, wieder wurden Schuppen aufgerissen, wieder spritzte Blut. Aber nun war der Drachenkopf näher, die Flammen aus dem Maul züngelten nach unten. Er riß den Arm hoch, um sein Gesicht zu schützen, spürte die unerträgliche, gleißende Hitze. Die Peitsche war vergessen. Unablässig krachten die beängstigenden Zahnreihen aufeinander. Das Ungetüm versuchte ihn aufzufressen, undEine Frauenstimme rief ihm etwas zu. »Das Schwert! Nimm das Schwert!« Das Atmen fiel ihm unendlich schwer, aber da! In der Luft hing ein Schwert. Licht tanzte über die hauchdünn abgezogenen Klingenseiten. Er warf die Peitsche weg, stürmte in den feurigen Atem, um nach dem Schwertgriff zu greifen. Seinen Zorn rausbrüllend, rannte er nach vorn und rammte den funkelnden Stahl in den Hals des Biestes. Ein Schrei aus purer Todesangst entwich ihm. Überall Flammen, spitze Nadeln, die sich in seinen Körper bohrten Schweißgebadet stand er mitten im Raum und schnappte nach Luft. Kein Nebel, kein Sprühregen, kein Donner, keine Nadeln ... kein Drache. Caitlin sprach mit wohltönender Stimme zur Beruhigung auf ihn ein. »Sie haben es jetzt hinter sich, Professor Jones. Atmen Sie tief durch, ringen Sie um Fassung. Sie sind wieder bei uns.«
Er schaute an sich hinunter. Seine Kleider standen nicht in Flammen, waren nicht von Drachenblut besudelt. Was ...? »Begreifen Sie nun?« Caitlins Stimme war glasklar. Licht drang in das Zimmer. Offenbar kannte sie seine Gedanken, wußte um die Verwirrung, die er empfand und die sich allmählich legte. Sie sah, wie sein umwölkter Blick klar wurde. »Begreifen Sie nun, Professor? Das ist das Zepter. Es arbeitet mit meinem Verstand zusammen. Es sammelt für mich Energie, die ich abstrahlen kann. Man kann es mit einer Welle vergleichen, die von meiner Seele in Ihre dringt. Ich habe die Bilder geschaffen, die Sie gesehen haben. Unsere Seelen sind eins gewesen, miteinander verschmolzen.« »Das war - das war unglaublich. Es war real«, erwiderte Indy im Flüsterton. Endlich konnte er wieder normal durchatmen. »Man kann das Zepter auf vielfältige Weise einsetzen«, fügte Caitlin hinzu. »Und es kann eine bedrohliche Waffe sein, weil es die unterdrückten, vergessenen Erinnerungen des Gegenübers heraufbeschwört.« »Aber Sie haben doch gerade gesagt, Sie hätten diese Bilder gedacht?« »Ja. Aber wenn Sie nicht schon in Ihrer Seele geruht hätten, hätten Sie sie niemals sehen können.« Caitlin machte eine ausladende Handbewegung. »Wir alle haben Erinnerungen, schreckliche Träume, die so unerträglich sind, daß wir sie aus unserem Bewußtsein verdrängen. Aber sie sind trotzdem vorhanden und warten nur darauf, befreit zu werden.« »Dann habe ich also mit mir selbst gekämpft«, hauchte er kaum wahrnehmbar. »Ja.« »Aber ... was war mit dem Schwert?« »Sie haben gelernt, sich mit einem Schwert zu verteidigen, nicht wahr?« Er nickte zustimmend. »Und Sie haben Caliburn gesehen, seine unglaubliche Macht erfahren, und auch das war Teil Ihrer Erinnerungen.«
»Dann ... müssen die alten Priester und Schamanen die Menschen auf diese Weise kontrolliert haben«, schlußfolgerte er laut. Seine Worte waren auch an Caitlin und Gale gerichtet. »Darüber haben wir uns doch schon ein paarmal unterhalten. Merlin ... ihm stand elektrische Energie zur Verfügung, wie das auch schon vor sechstausend Jahren der Fall gewesen ist. Die Assyrer und Babylonier »Und mir wird es helfen, Cordas zu vernichten«, unterbrach ihn Caitlin. »Wann reisen wir ab, Jones?« »Morgen früh, bei Sonnenaufgang.«
EINUNDZWANZIG »Fünf Uhr! Alles aufwachen. Los, in die Startlöcher!« Indy klopfte an die Tür der Wohnung, die Gale und Caitlin sich teilten. Eine der beiden Frauen warf ein Kopfkissen gegen die Tür, was Indy zum Schmunzeln brachte. »In zehn Minuten gibt es heißen Kaffee, Eier, Schinken, Toast, Speck, Bratkartoffeln. Kommen Sie in die Gänge, meine Damen!« »Gräßliche Barbaren, diese Kolonialisten. Kaffee, gütiger Gott! Was haben die nur gegen eine Tasse frischgebrühten Tee einzuwenden?« hörte er Caitlin schimpfen. Gale mußte lachen. »Es wird auch Tee geben. Und ich könnte wetten, daß Indy schon fix und fertig angezogen ist und es nicht mehr erwarten kann, endlich aufzubrechen.« Sie frühstückten in einem kleinen Eßzimmer. Die Küchenbelegschaft des Museums hatte für sie ein ›Frontier Breakfast‹ zusammengestellt, mit Brötchen, Bratensoße und sechs verschiedenen Marmeladensorten. Kaum hatten sie am reichgedeckten Tisch Platz genommen, gesellten sich Carruthers und Judson zu ihnen. »Wir werden von hier aus zwei Taxis nehmen«, erklärte Carruthers ihr Vorgehen. »Diesmal keine Limousinen. Ich sehe keinen Grund, jetzt unnötigerweise die Aufmerksamkeit der anderen auf uns zu lenken.« Indy nickte zustimmend. »Wohin geht es?« »Floyd Bennett Field. Das ist ein Marinestützpunkt an der Südküste von Long Island. Dort erwartet uns eine Sikorsky S-38, ein Amphibienflugzeug. Sie ist startklar. Wir werden mit Ihnen zusammen hinunter nach Florida fliegen, um sicherzugehen, daß alle Vorbereitungen zu Ihrer Zufriedenheit arrangiert wurden. Von da an sind Sie auf sich allein gestellt. Unserem, ähm, unserem Büro wäre es lieber, wenn die Sikorsky auf einem Fluß landet. Von
dort aus begeben wir uns zu einem abgelegenen Armeedepot. Dort erhalten Sie alles, was Sie in nächster Zukunft brauchen werden. Und falls jemand unsere Landung beobachten sollte und sieht, daß eine gewisse Anzahl Personen aus der Maschine aussteigt, nun, das macht nichts, weil dieselbe Anzahl Personen auch wieder an Bord gehen wird.« »Prima«, lobte Indy ihn. »Das«, meinte Gale, als sie auf dem Marinestützpunkt aus dem Taxi stiegen, »ist zweifellos das häßlichste Flugzeug, das mir je unter die Augen gekommen ist.« Indy und Caitlin standen neben ihr und betrachteten das ungelenke Flugmonster auf dem Rollfeld. »Sieht wie ein prähistorisches Reptil aus, wenn du mich fragst«, meinte Indy. »Wie eins, das im Ei mutiert ist und dann von seiner Mutter aus dem Nest geworfen wurde.« Und so war es auch. Die S-38 hatte äußerlich wenig mit einem herkömmlichen Flugzeug gemein. Wären da nicht die sechsunddreißig Fuß breiten Tragflächen gewesen, hätte man das häßliche Ding niemals für ein Flugzeug gehalten. Der lange, vorgezogene Korpus ähnelte dem Schnabel eines riesigen, häßlichen Pelikans. Der Rumpf, gedrungen und schwerfällig, schien achtern mit einem Messer abgeschnitten worden zu sein. Die oberen Tragflächen waren mit enorm dicken Trägern am bootgleichen Körper befestigt, und die beiden vierhundert PS starken Wasp-Motoren waren in einem merkwürdigen Winkel am Flügel angebracht. Dieses Flugzeug mutete in seiner Konstruktion und seinem Aussehen einfach seltsam an. Die S-38 trug das Logo der Pan American Airways, was Indy verwunderte. »Ich dachte, das Ding gehört der Marine«, fragte er bei Carruthers nach. »Ja, so ist es auch. Aber Pan American bietet seit einiger Zeit kommerzielle Testflüge von hier nach Florida und Zentral- und Südamerika an. Der Anblick ihrer Flugzeuge ist also nichts Besonderes. Insofern wundert sich niemand über dieses Ding. Aber ihre Piloten sind Angehörige der Marine.« Als sei das das Stichwort gewesen, kamen zwei junge Männer in Zivilkleidung aus dem Hangar und stellten sich ihnen als Jim Barrett und Rex
Silber vor. Gale zupfte an Barretts Ärmel. »Ich hoffe, daß dieses Ungetüm besser fliegt als es aussieht«, äußerte sie skeptisch. Barrett lachte. »Na, da werden Sie aber eine Überraschung erleben, Miss Parker. Das alte Mädchen läßt sich hervorragend fliegen, viel besser als die meisten anderen Flugzeuge, die ich kenne. Kein Flugzeug, das je gebaut wurde, kann sich mit ihr vergleichen lassen, was Zuverlässigkeit und Stabilität betrifft. Ich weiß, die S-38 sieht so aus, als sei sie unhandlicher als ein altmodischer Ballon, aber wir werden nach Florida in einem Rutsch durchfliegen und zwar mit einer konstanten Fluggeschwindigkeit von hundert Meilen pro Stunde. Auf kurze Zeit können wir das Tempo sogar auf einhundertdreißig Meilen pro Stunde hochfahren. Und wenn sie erst mal in der Luft ist, erinnert sie an einen heimwehkranken Vogel im Exil. Nur damit Sie's wissen, Madam: Voll beladen steigen wir tausend Fuß pro Minute.« Jetzt war Gale tatsächlich beeindruckt. »Ist das die Möglichkeit?« Aber ihre Zweifel waren noch nicht ganz ausgeräumt. »Was ist, falls einmal ein Motor ausfällt, bei all dem Gewicht...« Sie schüttelte den Kopf, um ihrer Skepsis Ausdruck zu verleihen. »Ich könnte mir denken«, merkte sie vorsichtig an, »daß das der Vorteil eines Flugbootes ist. Schließlich kann man ja immer auf dem Wasser landen.« Jim Barrett, knapp zwei Meter groß, drückte den Rücken durch. »Miss Parker, ich möchte Sie darüber informieren, daß wir auf Probeflügen, während wir in der Luft waren, einen Motor ausgeschaltet haben und nur mit einem verbleibenden Motor weitergeflogen sind. Und das nonstop von hier nach Jacksonville.« Gale hakte sich bei Barrett unter. »Dann würde ich sie liebend gern mal selbst fliegen.« Ihre Bitte überraschte ihn. »Sie, Miss? Ein Mädchen?« »Frau scheint eher angebracht«, erwiderte Gale mürrisch. »Tut mir leid.« Er warf seinem bis über beide Ohren grinsenden Partner
einen Blick von der Seite zu. »In Ordnung. Wenn wir unterwegs sind, dürfen Sie gern mal ans Steuer.« Immer noch bei Barrett untergehakt, begab sich Gale zur Sikorsky hinüber. Sie triefte fast vor Freundlichkeit. »Ich habe da mal eine Frage«, sagte sie. Die Verschlagenheit stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Und wie lautet die, Miss Parker?« »Wie viele Flugstunden haben Sie hinter sich, Mr. Barrett?« »Gott, die genaue Zahl habe ich gerade nicht auf Lager, aber sie dürfte etwa in der Größenordnung von fünfzehnhundert liegen.« Man hörte ihm an, wie stolz er auf seine Erfahrung war. »Beeindruckend«, fand sie. »Sie scheinen sich, was das Fliegen betrifft, etwas auszukennen, Miss Parker. Haben Sie schon etwas Zeit an den Kontrollen verbracht?« »O ja. Das kann man wohl sagen«, sagte sie mit einer Stimme, die wie Butter auf der Zunge zerging. »Sieh an! Das ist ja großartig.« Er tätschelte ihre Hand. »Würden Sie mir verraten, wieviel Zeit?« Sie drückte seinen Arm und blickte mit kindlicher Unschuld zu ihm auf. »Sie sagten, Sie haben fünfzehnhundert Stunden absolviert? Was macht drei mal fünfzehnhundert, Mr. Barrett?« »Nun, viertausendfünfhundert.« »Ach, wie wunderbar. Gerade haben Sie die Anzahl der Flugstunden geraten, die ich absolviert habe. Ich freue mich schon auf unseren gemeinsamen Flug.« Bevor Barrett den Mund wieder zubekam, war Gale schon auf dem Weg zu Indy und Caitlin. Die Marinepiloten legten einen sanften Start hin, zogen in weitem Bogen über das Meer hinaus und visierten langsam eine Höhe von dreitausend Fuß an. Vereinzelte Wolken, etwa tausend Fuß unter ihnen, versprachen ihnen
einen außerordentlich ruhigen Flug. Barrett kam aus dem Cockpit in die Kabine, um ihnen zu sagen, daß der Wind so günstig stand, daß sie früher als erwartet in Jacksonville eintreffen würden. »Dann laßt uns die paar Stunden sinnvoll nutzen«, schlug Indy Gale und Caitlin vor. Er breitete Karten und Tabellen auf einem Wandklapptisch aus. »Je besser ihr euch die Details dieser Karten einprägt, desto größer sind unsere Chancen, das zu erreichen, was wir uns vorgenommen haben, vor allem dann, wenn wir aus irgendwelchen Gründen getrennt werden.« Mit dem Finger fuhr er über eine Karte und tippte dann auf eine Stadt mit dem wohlklingenden Namen Olustee Station. »Merkt euch diesen Ort«, sagte er. Sein Finger rutschte auf einen anderen Punkt ganz in der Nähe. »Und den hier auch. Er heißt Ocean Pond. Nach dem, was ich bislang weiß, wird das in etwa die Gegend sein, in der wir arbeiten.« »Olustee«, sagte Caitlin. »Was für ein eigenwilliger Name. Hat er eine besondere Bedeutung?« »Aber sicher«, verriet Indy ihr. »Das ist ein alter indianischer Name für einen Außenposten, der schließlich eine kleine Grenzstadt in Nordflorida wurde. Nächstgrößter Ort ist White Springs. Während des amerikanischen Bürgerkrieges fanden in dieser Gegend einige sehr böse Schlachten statt. Von Gettysburg oder Antietem weiß jeder, doch fast niemand kennt den Namen Olustee. Aber hier hatten beide Seiten große Verluste zu beklagen.« Wieder tippte er auf die Karte. »Außerdem wurde hier der Wagenzug mit dem Gold zum letzten Mal gesichtet.« »Dann dürften wir dort die größte Chance haben, das Gold zu finden. Vielleicht sogar noch vor Cordas«, sagte Gale voller Überzeugung. »Was macht dich da so sicher?« wollte Indy erfahren. Judson und Carruthers, die links und rechts von ihm saßen, beugten sich vor und lauschten aufmerksam. »Falls das Gold in diesem Gebiet versteckt ist«, erklärte Gale, »werden die alten Münzen uns zu seinem Fundort führen. Falls das, was man uns über die
Münzen berichtet hat, der Wahrheit entspricht und sie wirklich aus dem römischen Imperium stammen und - vor allem darauf kommt es an - Jesus etwas mit ihnen zu schaffen gehabt hat, werden sie über eine starke übernatürliche Aura verfügen.« Sie zeigte auf Caitlin. »Und sie funktioniert wie eine Wünschelrute. Ihr Körper und Geist sind untrennbar. Sie kann Wasser finden, Metall, alles, was unter der Erde verborgen ist. Es braucht nicht sichtbar zu sein.« Indy nickte nachdenklich. »Nun, ich habe gelernt, daß Wünschelruten in allen Erdteilen zum Einsatz kommen. Insofern habe ich keinerlei Zweifel an Caitlins Begabung.« »Und wir haben noch das Zepter«, fügte Gale hinzu. »Niemand kennt seine fremdartige und wunderbare Macht besser als du.« »Erinnere mich bitte nicht daran«, sagte Indy. Ihm lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. »Aber das Zepter, falls ich das richtig verstanden habe, ist es auch eine Art Wünschelrute, mit einer eigenen Frequenz. Das hat doch der ... Versuch mit mir gezeigt.« »So werden auch die Nebel daheim im Glen produziert«, mischte Caitlin sich ein. »So verschwinden die Straßen in der Zeit. So können wir uns sogar vom Rest der Welt abschließen und in eine andere Zeit reisen.« »Dem habe ich nichts entgegenzusetzen«, meinte Indy. Caitlin legte ihre Hand auf Indys Arm. »Das ist sehr wichtig, Indy. Was können Sie mir über die Schlachten verraten, die hier in dieser Gegend stattgefunden haben?« »Es ist also die Zeit für Geständnisse gekommen«, erwiderte Indy. »Ich muß zugeben, daß ich mich lange Zeit überhaupt nicht für den Bürgerkrieg interessiert habe. Gestern abend habe ich allerdings ein bißchen über dieses Thema nachgelesen. Nach der Sitzung mit dem, ähm, Drachen konnte ich nicht einschlafen. Und so habe ich mich in die Archive begeben.« Sie warteten darauf, daß er fortfuhr. Während Indy die Fakten zu ordnen versuchte, blickte er aus dem
Kabinenfenster. »Die Hauptschlacht ging unter dem Namen -Schlacht bei Ocean Pond< in die Geschichte ein. Andere nennen sie ›Schlacht von Olustee Station‹. Kommt ganz darauf an, wer gerade die historischen Ereignisse festhielt. Aber es war ein und dieselbe Schlacht. Eine Menge schneller Truppenbewegungen. Infanterie, Kavallerie, Artillerie. Beide Seiten gewannen und verloren später. Beide Seiten waren auf dem Vormarsch, zogen sich aber gegen Ende zurück.« »Wann war das?« fragte Caitlin. »Anfang Februar 1864.« »Und wann begann die Schlacht?« wollte Gale erfahren. »Kurz davor«, fuhr Indy fort. »Bei den Konföderierten gingen Berichte der Abwehr ein, daß die Streitkräfte der Union sich bei der Stadt Gainesville zusammenzogen. In den Lagern der Rebellen herrschte große Beunruhigung. Die Befehlshaber der Rebellen rechneten sich aus, daß die Yankees durch Gainesville pflügen würden, falls sie ihnen nicht Einhalt geboten. Die Yankees würden über die niedrigen Hügelkämme im Norden einfallen und bald in der Position sein, die Stadt Lake City in Schutt und Asche zu legen, von dort aus mit ihrer Kavallerie auszuschwärmen und die Columbia-Brücke zu zerstören, die über den Suwannee River führt.« Er zeigte ihnen die Stelle auf der Karte. »Der einzige Weg, das Fortkommen des Feindes zu verhindern, wollte man nicht zusätzliche defensive Infanterie und Artillerie in Position bringen, war der Einsatz der konföderierten Kavallerie. Da die Union ihnen, was berittene Soldaten betraf, bei weitem überlegen war, mußten die Rebellen sich auf Klugheit und Mut verlassen. Nachdem sie ihre Streitkräfte gebündelt hatten, zog die Union unter dem Kommando von Brigadegeneral Truman Seymour los. Ihr Manöver umfaßte dreißig Schiffe, beladen mit Männern, Waffen und Pferden. Der Ausgangspunkt war Hilton Head.« Wieder tippte er auf die Karte. »Sie waren schnell und handelten klug, aber bevor sie wußten, womit sie es zu tun hatten, näherten sich
ihnen die Yankees vom St. John River. Sie stürmten Jacksonville. Weil sie so überraschend und mit so großer Truppenstärke zuschlugen, gelang es ihnen, die Stadt einzunehmen, ohne eine einzige Kugel abzufeuern.« Indy lehnte sich zurück. »Während die Streitkräfte der Union ohne Schwierigkeiten durch das südliche Territorium marschierten, ohne auch nur einen Mann zu verlieren, arbeiteten die Rebellen Tag und Nacht in Olustee Station daran, ein einziges Kavalleriebataillon zusammenzustellen, das als Köder für die Union dienen sollte. Falls dieser Trick funktionierte, würden die Unionstruppen die Rebellen direkt in einen Hinterhalt der konföderierten Artillerie und Infanterie treiben und niederschlagen. Auf diesen Ausgang hofften sie jedenfalls. Eine der wichtigsten Fragen war, wie man in einem Landstrich vorgehen sollte, der von Sümpfen, kargen Abschnitten, Flüssen und Hunderten von kleinen Seen durchzogen war. Falls die Unionstruppen weit hinter die Verteidigungslinie der Konföderierten vordringen sollten, mußten diese intakt bleiben. Und das konnte nur gewährleistet werden, wenn sie sich an die Bahnlinien und unbefestigten Transportstraßen hielten.« »Mußte die Kavallerie des Südens sich ebenfalls an diese Bahnlinien und Transportstraßen halten?« fragte Caitlin. Indy schüttelte den Kopf. »Nein, dieser baumlose Landstrich hat nicht viel für sich, aber er ist wenigstens weit und daher übersichtlich. Für ausgefuchste Kavalleristen war es kein Problem, die Seen und Sümpfe zu umgehen und mit vollem Tempo über das weite Land zu reiten. Wie es sich herausstellte, führte ein gewisser Colonel Carraway Smith für die Rebellen das Clinch-Regiment, die Georgia-Kavallerie und auch ein Regiment aus Florida an. Wie ich schon erwähnte, war die Gegenseite ihnen zahlenmäßig überlegen. Sie mußten davon ausgehen, daß ihnen das 10. Regiment der berittenen Infanterie aus Massachusetts und das Stevens-Kavalleriebataillon die Hölle heiß machten. Deren Leute waren bestens ausgerüstet, gutgenährt,
schwerbewaffnet, und es brannte ihnen unter den Nägeln, endlich wieder zu kämpfen.« Indy schob die Karten beiseite. »Die offiziellen Berichte jedoch erwähnen das Gold mit keiner einzigen Silbe, das zu jenem Zeitpunkt schon an Land gebracht worden sein mußte. Die Engländer landeten nachts an der Küste von Florida. Die Mannschaft löschte die gesamte Fracht vor Sonnenaufgang, und dann segelten die Engländer in Richtung der karibischen Inseln, um eine Begegnung mit den Kriegsschiffen der Union zu vermeiden. Der Punkt ist folgender: Während die Konföderierten alles Menschenmögliche taten, um die Union in Schach zu halten, arbeiteten sie auch Tag und Nacht und schafften das Gold so weit nach Westen wie möglich. Die Unionstruppen wußten natürlich nichts von der Goldlieferung, und die Konföderierten setzten alles daran, daß sich daran nichts änderte. Weil sie jedes verfügbare Pferd, jeden verfügbaren Wagen brauchten wie auch berittene Soldaten und eine Streitkraft, die sich zu Fuß fortbewegte, um das Gold zu transportieren, wurden ihre Reihen noch weiter ausgedünnt.« »Indy, bitte«, unterbrach Gale ihn. »Was ist dann passiert? Zu welchem Ausgang hat das alles geführt?« »Eine Zeitlang war es ein einziges Hin und Her. Die Rebellenkommandeure schickten ihre Kavallerie los, mit dem Auftrag, die Reihen der Unionsarmee zu durchbrechen, koste es, was es wolle. Ihr Plan sah vor, daß sie tief hinter die feindlichen Reihen drangen, so viele Gegner wie möglich töteten und so viele Pferde wie möglich, um der gegnerischen Artillerie Schaden zuzufügen. Somit waren die Yankees gezwungen, die konzertierte Aktion der Rebellen abzuwehren, und die Konföderierten konnten sie mit ihrer Infanterie und Artillerie in die Enge treiben.« »Hat der Plan funktioniert?« drängte Gale weiter. »Unglücklicherweise, nein«, überraschte Indy seine Zuhörer. »Was ist denn passiert?« erkundigte sich Caitlin. »Es stellte sich heraus, daß die Kavallerie der Rebellen sich in dem
Landstrich nicht so gut auskannte, wie sie angenommen hatte«, verriet Indy. »Sie griffen tatsächlich an, aber sie hatten Schwierigkeiten in den Sümpfen. Zwar durchbrachen sie die gegnerischen Reihen, aber es gelang ihnen nicht, mit der Wucht zuzuschlagen, wie sie es beabsichtigt hatten.« »Dann haben sie also verloren«, meinte Gale. Indy schüttelte den Kopf. »Bei Kämpfen ist es oft der Fall, daß sich ein lahmer Schachzug als brillant herausstellt. Ihr müßt wissen, daß die Generäle der Union erraten hatten, was die Rebellen vorhatten. Darum hielten sie die Kavallerie bereit, die an den Flanken zuschlagen sollte. Hätte die konföderierte Kavallerie sich wie geplant verhalten, wäre sie niedergemetzelt worden. Aber durch die Probleme im Sumpf teilten sie sich in kleinere Untereinheiten auf. So konnten sie schneller vorgehen, besser angreifen. Sie kamen übers weite Land angeritten, schlugen zu und verzogen sich blitzschnell wieder, tauchten in den Wäldern unter. Sie fügten der Armee der Union schweren Schaden zu und demoralisierten ihre Soldaten. Und damit gelang es ihnen, ihren ursprünglichen Plan in die Tat umzusetzen.« »Du meinst, die Union in eine Falle zu locken?« hakte Gale nach. »Bingo. Die Rebellen beschworen ein riesiges Durcheinander herauf und verletzten so viele Männer der anderen Seite, daß die Kommandeure der Union ihrer Kavallerie den Befehl gaben, sie um jeden Preis zurückzuschlagen. Und das kostete sie einen hohen Preis. In dem Moment, wo die Rebellen sahen, wie die geschlossenen Reihen der Unionskavallerie auf die zugeritten kamen, flüchteten sie hinter ihre eigenen Reihen. Doch die Unionstruppen ließen sich davon nicht abschrecken. Sie stürmten gegen die Artillerie und Befestigungen an, die die Rebellen vorausschauend gesichert hatten. Die Kavallerie der Union wurde niedergeschlagen. Die Rebellen organisierten ihre Kavallerie neu und drangen dann ins Herz der Unionsstreitkräfte vor. Die Schlacht dauerte einige Tage, und als sie endlich vorbei war, mußte sich der Norden überall zurückziehen. Eine Weile lang wußte niemand zu sagen, wer den Sieg davongetragen hatte, aber dann stellte sich heraus, daß die
Infanterie der Union zahlreiche Tote zu beklagen hatte, und weil die eigene Kavallerie ihnen keinen Schutz bieten konnte, mußten die Yankees einen Großteil ihrer Artillerie zurücklassen, die sich die Rebellen sofort unter den Nagel rissen und gegen sie einsetzten. Als die Schlacht in vollem Gange war und die Union sich zurückzog, verfügten die Rebellen über die dreifache Menge an Artillerie, Gewehrpulver und Munition wie vor Beginn des Kampfes. Der Süden gewann also, machte die Yankees fertig und konnte einen umfassenden Sieg für sich verbuchen.« »Aber das Gold!« rief Gale. »Was ist denn mit dem Gold geschehen?« »Das weiß niemand«, sagte Indy. »Und das ist es nun?« staunte Gale nicht schlecht. »Das Gold ist einfach verschwunden?« »Na, nichts verschwindet wirklich«, entgegnete Indy. »Erklären, was mit dem Gold passiert ist, kann man am besten folgendermaßen: Wer immer für den Transport des Goldes verantwortlich gewesen ist, wurde während der Schlacht getötet, von der Kavallerie der Union, die keine Ahnung hatte, was die anderen da fortschafften. Und sie hatten nicht die Möglichkeit, innezuhalten und die Sache zu überprüfen, denn sie mußten ja blitzschnell zuschlagen, als sie auf die Wagenkolonne trafen. Schließlich hing ihnen die Kavallerie der Rebellen im Nacken. Die Schlacht war noch nicht beendet. Es gab keine definitiven Grenzlinien, nichts dergleichen. Das Kampfgebiet verlagerte sich zusehends nach Norden, weil die Union auf dem Rückzug war und die Rebellen ihnen keine Zeit zum Verschnaufen ließen. Die Wagenkolonne wurde einfach zurückgelassen. Nach dem, was ich weiß, stelle ich mir das so vor: Kurz nach dem Gefecht schlug das Wetter um, schwere Regenfälle und Gewitter, die Tage andauerten. Das Erdreich war so aufgeweicht, daß niemand durchkam. Und da der Feind auf der Flucht war und die Konföderierten nur ein Ziel hatten, nämlich die Yankees zu töten, indem sie sie in einen mörderischen Kampf verwickelten, kam niemand auf die Idee nachzusehen, was für eine Fracht auf den Wagen transportiert wurde. Niemand schenkte dieser Sache Beachtung
- und darum geriet sie in Vergessenheit.« »Was Sie gerade gesagt haben«, warf Caitlin ein, nachdem Indy seinen Vortrag beendet hatte, »könnte für mich von großem Wert sein.« Indy musterte die Frau, die ungewöhnlich zufrieden wirkte. »Und wie das?« fragte er. »In dem Landstrich, den wir bereisen werden«, begann Caitlin langsam, »liegen immer noch Metallteile verborgen, die von diesen Auseinandersetzungen stammen. Die Skelette der Toten ebenso. Und das sind nicht nur vereinzelte Knochen. Diese Menschen haben gelitten, sind auf schreckliche Art gestorben, und um den psychischen Zustand dieser Männer muß es schlimm bestellt gewesen sein. Das ist Energie. Und die geht nicht verloren. Niemals. Es wird möglich sein herauszufinden, was sich damals zugetragen hat. Und das könnte uns bei unserer Suche nützlich sein. Ich bin sicher, daß Cordas kein Amateur ist. Und schon gar kein Dummkopf. Ich gehe davon aus, daß auch er sich sachkundig gemacht hat, erfahren hat, was Sie uns gerade geschildert haben. Darum wissen wir nun, wohin er unterwegs ist. Diese Reise werden wir gemeinsam antreten.« Carruthers rückte näher und sprach Indy an. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?« Indy nickte. »Habe ich Miss St. Brendan gerade richtig verstanden? Glaubt sie, daß die Geister der Toten ihr helfen werden, das Gold aufzuspüren?« »Richtig«, antwortete Indy und lächelte freundlich. »Ich begreife nichts.« Carruthers war vor den Kopf geschlagen. Vor allem Caitlins Behauptungen setzten ihm mächtig zu. »Lassen Sie es mich einmal anders ausdrücken«, begann Indy, doch dann hielt er inne und wandte sich an Caitlin. »Ich sollte nicht für Sie sprechen.« Caitlins Reaktion fand er ungewöhnlich. Ihre Augen schienen vor Freude zu strahlen. »Nein, nein, nur zu. Ich brenne darauf zu erfahren, was Sie sagen werden, Indy. Bitte.« Mit einer Geste bat sie ihn weiterzusprechen. »Ihre Meinung, die Art und Weise, wie Sie das hier einordnen, könnte Einfluß
auf das Kommende haben." Indy nahm ihr Angebot an. »Behalten Sie eine Sache immer in Erinnerung«, begann er. »Wir werden durch ein Gebiet reisen, in dem es von Metall und anderen Überbleibseln der Schlacht nur so wimmelt. Von Musketen, Musketenkugeln, allen Arten von Waffen, Metallverbindungen der Wagen und Karren, die damals im Einsatz gewesen sind, Hufeisen, Wasserflaschen aus Metall, Uniformknöpfen, Abzeichen ... Aber damit noch nicht genug. Stellen Sie sich diese Schlachten vor. Hunderte von Männern, von Kugeln, von Bajonetten getroffen, die ihren Schmerz rausbrüllten und langsam und qualvoll starben. So etwas hinterläßt eine Spur. Mir ist egal, ob die Wissenschaftler sie nachweisen können. Diese Spur ist vorhanden. Sie hat Auswirkung auf andere Menschen, auf Tiere. Manche Menschen sind sehr sensibel und in der Lage, die Aura zu spüren, die solch ein Kampf hinterläßt. Hatten Sie jemals so ein komisches Gefühl? Eine Vorahnung? Sie können nicht genau sagen, was es ist, Sie wissen nicht, was es ist, aber Sie fühlen etwas, etwas Beunruhigendes, etwas, das Ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht und Sie nicht in Ruhe läßt.« Carruthers war hin und her gerissen zwischen seinem eigenen Dogma, das vorschrieb, man darf nur an das glauben, was man mit eigenen Augen sieht, und dem, was Indy behauptete. »Dieser Effekt, diese Aura, wie Sie es nennen«, formulierte er seine Frage mit Vorsicht, »ist das nur ein Gefühl oder etwas Handfestes, etwas Physisches?« Indy mußte lachen. »Ich werde Ihnen nun verraten, daß es nicht nur etwas Physisches sein kann, sondern etwas, was Ihnen den Boden unter den Füßen wegzieht. In Stone-henge stand ich zum Beispiel einmal auf einem Fleck, wo die Energien zusammenfließen. Das hatte man mir jedenfalls gesagt. Ich benutzte eine zwei Fuß lange Antenne, mit der ich die Energie auffangen wollte.« »Und was passierte dann?« »Es war so, als würde ich vom Blitz getroffen«, verriet Indy mit ernster Miene. »Ein Licht blitzte auf, und ich wurde vom Wagen geschleudert. Als schubse mich eine riesengroße Hand weg. Einen zweiten Versuch riskierte
ich nicht. Damit will ich Ihnen nur sagen, daß Vergangenheit und Gegenwart in Beziehung stehen. Dort in Stonehenge kann man das erfahren. Auch in Avalon, dem Ort, an dem König Arthur früher hofgehalten haben soll.« »Mr. Carruthers«, mischte Gale sich in das Gespräch ein. »Das Schlachtfeld bei Olustee läßt sich mit einem übernatürlichen magnetischen Sturm vergleichen. Und Caitlin ist darauf getrimmt, diese Art von Energie zu orten. Mit geschlossenen Augen kann sie über leere Felder, unbevölkerte Wiesen spazieren und fühlen, was sich in der Vergangenheit dort abgespielt hat.« »Das ist unglaublich«, befand Carruthers schließlich. Indy griff in seine Jackentasche. »Nun, es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich in der Vergangenheit umzusehen.« Seine Worte zogen die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. »Ich kann auch sehen, was im Boden verborgen liegt. Ich benutze allerdings Jones´ einzigartigen und sagenhaften Untergrunddetektor.« Er hielt einen runden Metallgegenstand hoch und hob den Deckel ab. Darunter kam ein extrem empfindlicher Magnetkompaß zum Vorschein. Die Nadel schwamm in Maschinenöl. »Dieses Ding hier kann jeden Gegenstand bis zehn Fuß unter der Erde orten. Ist natürlich nicht mit Zauberei zu vergleichen, aber es funktioniert.« Im Passagierabteil ertönte eine Klingel. Judson ging nach vorn zu den Piloten, unterhielt sich kurz mit ihnen und kehrte dann zurück. »In zehn Minuten beginnen wir mit dem Landeanflug. Die Piloten möchten, daß wir Platz nehmen und Sicherheitsgurte anlegen.« Barrett und Silber brachten die Sikorsky ganz sanft runter. Sie überprüften, aus welcher Richtung der Wind am anderen Ufer kam und landeten ganz problemlos. Als die Sikorsky den Boden berührte, spritzte links und rechts von der Kabine weißer Schaum auf, der sichere Beweis dafür, daß sie sich in einem Schiff und nicht in einem Flugzeug befanden. Ein paar Minuten später hatten die Piloten die S-38 zum Vertäuen in ein Dock
manövriert. Ein Armeeteam sicherte die Leinen. Eine Stunde später fuhren Indy, Gale und Caitlin in Richtung Süden, auf der Suche nach den von Geistern heimgesuchten Schlachtfeldern.
ZWEIUNDZWANZIG Mit Waffen, Karten und Tabellen ausgerüstet, mit Wasserkanistern und Lebensmittelvorräten versehen, die für mehrere Wochen reichten, fuhren Indy und seine beiden Gefährtinnen durch einen zunehmend wilderen und abgeschiedeneren Landstrich. Kleine Städte und Ansiedlungen rückten in weite Ferne, während sie Meile um Meile zurücklegten, ohne auf ein anderes menschliches Wesen zu treffen. Selbst die Natur schien diese Gegend verlassen zu haben. Weit und breit war nur hartes, dorniges Gebüsch und hie und da ein vereinzelter karger Baum, der sich verloren gen Himmel reckte, zu sehen. Allein die Schwärme stechender Insekten erinnerten sie daran, daß sie immer noch in einer belebten Welt waren. »Kommt mir wie eine Zeitreise vor.« Gale nahm das Fernglas herunter und wandte sich an Indy. »Ich bin schon in verlassenen Gegenden gewesen, aber dieser Landstrich, mein Gott, es ist geradeso, als ob hier niemals eine Menschenseele gelebt hätte.« »Da irrst du dich«, antwortete Indy ihr. »Seminolen-Indianer, spanische Eroberer und die ersten Siedler, die von den Georgia Hills hier runtergezogen sind. Natürlich war das Land dünn besiedelt. Die Sorte Menschen, die sich hier niederließ, meistens Farmer und Waldarbeiter, mochten die Weite, suchten menschenleere Gegenden. Wenn ein Nachbar ein paar Meilen weiter seine Zelte aufgeschlagen hatte, dann entsprach das ihrer Vorstellung von Überfüllung.« »Aber es gibt noch andere Lebewesen hier«, merkte Caitlin an. »Ach ja?« wunderte Indy sich. »Die Vögel. Sehen Sie sich doch um. Ich kenne viele Sorten, vor allem
natürlich die Krähen und Raben. Und manchmal kann man in der Ferne Geier sehen.« »Und ganz zu schweigen von den Schlangen, Gürteltieren, Waschbären, Opossums, Feldmäusen, Füchsen, Echsen, nun, die Liste ist endlos lang. Was fehlt, sind die Menschen«, fügte Indy hinzu. »Aber früher hat es hier viele Menschen gegeben«, meinte Caitlin, die Landschaft nicht aus den Augen lassend. »Man muß nur hinschauen, um das zu sehen. Wie viele Jahre sind seit damals vergangen?« »Ungefähr Sechsundsechzig seit der letzten großen Schlacht.« »Diese Bäume dort drüben. Da sind Jahrzehnte verstrichen, und die Stämme sind immer noch kaputt«, sagte Caitlin. »Die Art der Beschädigung verrät mir einiges. Das Gift von dem vielen Blei und Schießpulver hat seine Spuren hinterlassen. Dieser Hügel, zu unserer Rechten. Durch schwere Explosionen weggerissen. Und Feuer hat es hier gegeben, erst vor kurzem.« »Ja, das passiert hier rasch«, räumte Indy ein. »Wenn es eine Zeitlang nicht regnet und alles trocken ist, dann braucht es nicht viel, um alles in Flammen aufgehen zu lassen. Ein Unwetter naht, mit Blitz und Donner, und bevor man weiß, wie einem geschieht, brennt das halbe Land. Wenn ein steifer Wind bläst, breiten sich die Flammen mit ungeheurer Geschwindigkeit aus.« »Aber das ist nicht alles«, wandte Caitlin ein, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. »Mir geht es um das, was ich fühle. Viele Menschen haben hier ihr Leben verloren. Ich spürte denselben stummen Schrei zahlloser Stimmen bei meinem Besuch im Heiligen Land, auf den Plätzen, wo die Kreuzritter ihre Schlachten geschlagen haben. Hier, überall um uns herum. Als riefen die Toten danach, ein letztes Mal gehört zu werden.« »Vielleicht ist es so«, sagte Indy, die eigenen Gedanken dazu zurückhaltend. Statt dessen widmete er sich einem erfreulicheren Thema. »Die Liste der Tiere, die ich Ihnen´ vorhin genannt habe«, begann er. »Das waren nur die kleinen Arten, wissen Sie. Dieser Landstrich wird auch von größeren Tieren bevölkert.«
»Wir haben uns darüber schon unterhalten«, mischte Gale sich ein. »Du hast Bären erwähnt -« »Vor allem Braunbären. Nicht so stattlich wie ihre Verwandten in Kanada und Alaska, aber sie sind schnell und können gefährlich werden«, mahnte Indy zur Vorsicht. »Leben hier auch Wildschweine?« wollte Caitlin wissen. Indy nickte. »Wildschweine, ja. Und Panther. Sogenannte Pumas. Manche sind schwarz, andere braun. Und Wildkatzen. Mit spitzen Krallen, schnell wie der Wind.« »Und« - Gale erschauderte - »Alligatoren.« »Und die verlassen den Sumpf nicht«, versuchte Indy sie zu beruhigen. »Es gibt sehr wenig Menschen«, bemerkte Caitlin. »Mehr, als Sie erwarten würden«, verriet Indy ihr. »Größtenteils sind es Indianer. Aber wie die Alligatoren sind sie vornehmlich im Sumpf und in den Feuchtgebieten ansässig.« »Wir werden uns in acht nehmen«, versprach Caitlin. »Indy, du machst so was doch schon seit Jahren«, sagte Gale. »Ich meine, nach alten Dingen suchen. Vergiß die wissenschaftliche Seite mal für einen Moment. Was ist dein Gefühl? Was sagt es dir, wo das Gold liegt?« Er antwortete nicht sofort. Schon öfters hatte er sich darüber Gedanken gemacht, doch historische Ereignisse nachzuvollziehen, war eine vielschichtige Angelegenheit. Man mußte sich in Menschen reinversetzen, die vor langer Zeit gelebt hatten, und das klang viel einfacher, als es tatsächlich war. Häufig mußte der Forscher derselben Spur ein dutzend- oder gar hundertmal folgen, um die Tatsachen von bloßer Vermutung unterscheiden zu können. Was den Sieg der Konföderierten bei Ocean Pond und Olustee betraf, hatte Indy spekulieren müssen. Selbst wenn die Konföderierten den Sieg davongetragen hatten, mußten sie gewußt haben, wie brenzlig ihre Lage war, vor allem, weil die Union wußte, daß sie ein Vermögen in Form von
ungemünztem Gold in Händen hielten. Falls das entdeckt worden wäre, hätte Lincolns Armee sie wie ein Panzer überrannt. »Die Rebellen haben höchstwahrscheinlich alles in ihrer Macht Stehende darangesetzt, daß keiner das Gold zu Gesicht bekam«, spekulierte er. »Und das heißt doch nur, daß sie es vergraben haben.« »Klingt vernünftig«, stimmte Gale ihm zu. »Aber da gibt es einen Pferdefuß«, sagte Indy. »Wenn man etwas vergräbt, muß man ganz schön tief graben und gleichzeitig darauf achten, daß das Versteck später wiederzufinden ist. Den Rebellen stand nicht viel Zeit zur Verfügung. Sie mußten das Gold entweder nach New Orleans schaffen oder es irgendwo verstecken. Auf der anderen Seite hatten sie noch eine Option. Und zwar, es an einen Ort zu bringen, wo es hinpaßte, ohne daß man es verstecken mußte. So daß jemand herumspazieren und es sehen, es anstarren konnte, ohne zu begreifen, was er da sah.« Gale schmunzelte. »Dazu ist Caitlin in der Lage. Allerdings weiß ich nicht, ob die Konföderierten Hexen eingestellt hatten.« »Wir werden sehen, was wir sehen werden«, schloß Indy orakelhaft. Der Wagen polterte durch ein paar tiefe Schlaglöcher, was zur Folge hatte, daß sie kräftig durchgeschüttelt wurden. Indy hielt an und zeigte nach vorn. »Dort vorn hört die Straße auf. In diesem Ding kommen wir nicht weiter. Zu viele Baumwurzeln, zu weiches Erdreich. Am besten schließen wir den Wagen ab und lassen ihn hier zurück, um später damit nach Jacksonville zurückzufahren.« Caitlin war schon dabei, ihre Sachen zusammenzupacken und ihren Rucksack zu überprüfen. Ungeduldig wartete sie, daß die anderen ihrem Beispiel folgten. »Wartet mal«, hielt Indy die beiden Frauen zurück. Er griff in den Wagen und zog drei Paar dicke Lederstulpen heraus. »Zieht die an«, riet er ihnen und führte vor, wie man das machte. Er schnallte sie um, so daß sie das Bein vom Knöchel bis zum Knie schützten. »Eine Klapperschlange oder sonstwas kann zuschlagen, ehe ihr das Tier registriert. Durch dieses Leder kommen sie mit
ihren Zähnen nicht durch.« Die Lederstulpen angelegt, die Rucksäcke fixiert, machten sie sich auf den langen Marsch, der vor ihnen lag. Nach ein paar Metern blieb Indy stehen. Ihm war eine Idee gekommen. Er wühlte das Werkzeug durch, zog eine Rolle dicken Draht hervor und verstaute sie in seinem Rucksack. »Wozu das?« fragte Gale. »Hatte nur so eine Idee«, antwortete Indy ausweichend. Die acht Meilen Wegstrecke waren nicht leicht zu bewältigen, zumal das Unterholz und die Büsche dicker und undurchdringlicher wurden. Im Lauf der Jahre hatte die ursprünglich baumlose Landschaft sich verändert. »Was immer die Menschen im Jahr 1864 hier gesehen haben, heute sieht es jedenfalls nicht mehr so aus«, knurrte Indy. »Laut den Karten müßte das hier weites, offenes Land sein. Und auf einmal stehen hier Bäume. Und der Boden -« »Ich weiß, ich weiß«, meinte Gale, die sich vorhin einen Muskel gezerrt hatte und deswegen leicht humpelte. »Ich habe eigentlich schon mit unwegsamem Terrain gerechnet, aber diese Fallen -« »Ziesellöcher«, korrigierte Indy sie. »Willst du damit sagen, daß die natürlich entstanden sind?« »Ziesel sind seltsame kleine Tierchen. Die bauen mit Vorliebe Tunnel, überall. Und Zieselschildkröten«, fügte Indy hinzu. Beide Frauen starrten ihn fassungslos an. »Zieselschildkröten!« riefen sie gleichzeitig. »Richtig.« »Caitlin, hörst du, was er sagt?« rief Gale gutgelaunt. »Er rechnet anscheinend damit, daß wir glauben, es wimmle hier nur so von Schildkröten, die wie Maulwürfe unterirdische Gänge graben!« »Zieselschildkröten«, wiederholte Indy. »Siehst du nicht die Erdhaufen? Das waren Zieselschildkröten. Die kleineren Hügel stammen von Maulwürfen und Waldmurmeltieren.« Gelangweilt zuckte Caitlin mit den Achseln und trabte weiter. Mit dieser
Art von Konversation konnte sie nichts anfangen. Als sie zu den alten Schlachtfeldern gelangten, reagierten ihre Sinne wie Seismographen. Der Tierreichtum war auffällig. Niemand mochte daran denken, daß die wilden Tiere und Vögel sich garantiert von den Tausenden von Leichen ernährt hatten, die ja nicht begraben worden waren, weil niemand mehr dagewesen war, der diese Aufgabe hätte verrichten können. Um die düstere Stimmung zu vertreiben, die sie befallen hatte, stellte Gale Fragen bezüglich der Aufgaben, die vor ihnen lagen. »Wir müssen noch ungefähr drei Meilen zurücklegen«, schätzte Indy und blieb wie angewurzelt stehen, als mehrere Rehe zwischen den Bäumen auftauchten. Er zeigte Gale die Wegstrecke auf der Karte. »Wir werden diesen alten Trail passieren, zwei Bäche überqueren und dann auf eine alte Bahnstrecke stoßen. Die Schienen sind längst nicht mehr da, aber wir werden dennoch sehen, wo die Eisenbahnlinie verlaufen ist. An diese Linie halten wir uns, und nach einer Meile müßten wir zu dem Städtchen Macclenny kommen, wo es früher mal ein wichtiges Bahndepot gegeben hat. Davon ist jetzt nicht mehr viel übrig, aber der Staat Florida hat Waldhüter abgestellt, die dort arbeiten. Mit einem von ihnen haben Carruthers und Judson Kontakt aufgenommen und ihn darum gebeten, uns weiterzuhelfen, falls wir Hilfe brauchen.« Sie durchwateten die Bäche, überquerten die Bahnlinie und schwitzten in der glühenden Sonne. Von Mücken zerstochen und mit schweren Gliedern legten sie die Meile nach Macclenny zurück. Kurz vor der Stadt stießen sie auf eine Klapperschlange, die ihren Weg kreuzte. Ein bärtiger Mann im Overall und Schlapphut und seine kläffenden Hunde beobachteten sie. Caitlin und Gale waren schon im Begriff, im Gebüsch zu verschwinden, um der gefährlichen Schlange auszuweichen. »Bewegt euch nicht«, rief Indy ihnen zu. Beide Frauen blieben wie angewurzelt stehen. Caitlin nahm ihre Armbrust hoch; Gale ging mit einer Machete in der Hand in die Hocke, bereit, sofort zuzuschlagen. Sich wie im Zeitlupentempo bewegend, griff Indy nach seiner Peitsche. Zum ersten Mal
hörten Gale und Caitlin das warnende Klappern der amerikanischen Klapperschlange. Indys Peitsche schnalzte durch die Luft und produzierte ein Geräusch, das sich wie ein Pistolenschuß anhörte. Der Kopf der Schlange flog in eine Richtung, ihr langer, sich windender Körper in die andere. Gale stierte Indy an. »Jetzt sind wir in Sicherheit«, verkündete er gelassen und wischte das Schlangenblut von seiner Peitsche. Mit der Machete hob Gale die leblose Kreatur hoch und inspizierte sie neugierig. »Wie gefährlich ist diese Schlange wirklich?« fragte Cait-lin nach. »Innerhalb von zehn Sekunden setzt der Tod ein«, führte Indy trocken aus. »Das Gift gelangt sofort ins Nervensystem. Die Wirkung läßt sich mit einem elektrischen Schlag oder einem Pistolenschuß vergleichen.« Er lächelte humorlos. »Aber dieses Gefühl dürften Sie, wenn ich mich recht entsinne, nur zu gut kennen. »Gibt es ein Gegenmittel?« Indy verneinte. »Nicht hier draußen. Wenn man von so einem großen Exemplar angefallen wird, geht das Licht innerhalb von wenigen Minuten aus. Normalerweise beißen sie einem in die Wade. Darum habe ich auf diese Lederstulpen bestanden.« Gale warf den Schlangenkörper weg. »Das hättest du nicht tun sollen«, warf Indy ihr vor. »Wieso denn nicht?« »Diese Männer beobachten uns. Sie hätten sich darüber gefreut.« »Ein Geschenk?« »So würde ich es nicht sehen. Sie häuten die Schlangen und kochen sie. Schmeckt wie Hühnchen.« Gale lief ein Schauer den Rücken hinunter. »Das heißt, daß du Schlange schon gegessen hast.« »Ja«, sagte Indy. Und hob die Schlange auf. »Aber die wirst du nicht essen, oder?« Gale kam nicht aus dem Staunen
heraus. »Nein. Aber es empfiehlt sich immer, ein Geschenk mitzubringen, wenn man in eine fremde Stadt kommt.« Sie marschierten in die Stadt. Auf der Veranda eines windschiefen Saloons und Restaurants saßen ein paar alte Männer. In ihren Blicken lagen Neugierde und Skepsis. Indy blieb vor der Veranda stehen. »Howdy«, rief er ihnen zu. Die Männer fixierten zuerst die Schlange, dann die Frauen, dann Indy und dann wieder die Schlange. »Für Sie«, sagte Indy und warf die Schlange auf die Veranda. Einer der Männer hob sie auf, schätzte ihr Gewicht und nickte voller Zufriedenheit. »Danke.« Hundert Meter die staubige Straße hinunter lag ein altes Hotel. Auch dieses Gebäude verfügte über die obligatorische Veranda. Sie öffneten die Tür und traten in einen Raum, der gleichzeitig als Foyer, Halle und Bar diente. Ein Mann in ordentlich gebügelter grüner Uniform kam aus dem Speisesaal gelaufen. »Ich bin Dave Barton«, stellte er sich vor, reichte Indy die Hand und nickte den Frauen zu. »Sie müssen Jones sein. Ich habe Sie schon erwartet. Lassen Sie uns doch ins Restaurant gehen. Dort wartet Eistee auf Sie. Oder Bier, falls Ihnen das lieber ist.« Sie setzten sich an einen runden Tisch, wo sie von einem hinkenden schwarzen Mann bedient wurden. »Das ist Jethro«, erklärte Barton. »Er leitet das Hotel. Und er kennt sich hier in der Gegend besser aus als jeder andere. Viel besser als ich, um ehrlich zu sein.« Indy reichte dem älteren Mann die Hand. »Falls Sie Fragen haben, wenden Sie sich an Jethro. Und hören Sie gut zu, wenn er etwas zu sagen hat«, riet Barton ihnen. »Danke.« Indy wandte sich an beide Männer zugleich. »Haben Sie sich um Pferde für uns gekümmert?« »Sie sind im Stall. Wenn Sie morgen früh weiterziehen möchten, werden sie
gesattelt sein«, versicherte Jethro. »Ich könnte mir vorstellen, daß die Damen sich vor dem Abendessen noch frischmachen möchten. Das Essen habe ich selbst zubereitet. Mögen Sie Rehbraten?« Gale und Caitlin nickten. »Ich werde Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, sich eins zu teilen. Wir haben hier nicht oft Gäste.« Er musterte Caitlin. »Das ist eine sehr schöne Armbrust, die Sie da haben, Miss. Können Sie gut damit umgehen?« »Jethro«, beeilte Indy sich zu sagen, »aus einer Entfernung von zweihundert Metern trifft sie ins Herz eines Mannes. Mittenrein.« Jethro grinste. »Ich werde dafür sorgen, daß ihr Rehbraten genau richtig durch ist.« Früh am nächsten Morgen servierte Jethro ihnen ein üppiges Frühstück mit Eiern, Schinken, Speckstreifen, Buchweizenmehlpfannkuchen, Brötchen und Bratensoße und einer stattlichen Auswahl an Honig und Marmeladen. Und starken Kaffee, der selbst einen Toten wieder auf die Beine gebracht hätte. Caitlin händigte er ein in Tuch gewickeltes Paket aus. »Schinken und Speck für Ihre Tour. Schmeckt sogar am nächsten Tag noch besser. Denken Sie an das, was ich Ihnen gesagt habe. Um diese Jahreszeit sind die Wildschweine ziemlich garstig. Kommen ohne Vorwarnung aus dem Gebüsch gerannt. Und stürzen sich auf einen, ehe man sich versieht.« »Danke«, sagte Caitlin und nahm das Paket in Empfang. Auf den Pferden, abreisebereit, wandte sich Indy an Barton und Jethro. »Noch eine Frage.« Beide Männer schauten zu ihm hoch. »Daran hätte ich schon gestern abend denken müssen. Ist in letzter Zeit jemand hier durchgekommen?« »Aber sicher«, meinte Jethro und verblüffte sie mit seiner Antwort. »Haben hier aber keine Pause eingelegt. Sechs, acht Männer, zu Pferd. Hatten auch einen von Maultieren gezogenen Karren dabei. Ziemlich großer Wagen. Verloren kein Wort, und wir haben sie auch nicht angesprochen. Ist nicht
höflich, solchen Leuten Fragen zu stellen, es sei denn, sie beginnen das Gespräch.« »Und was für Leute sind das gewesen?« wollte Indy in Erfahrung bringen. »Bewaffnet«, meinte Jethro. »Bis an die Zähne bewaffnet. Jeder hatte eine Pistole und ein Gewehr dabei. Aber irgendwie habe ich nicht den Eindruck, daß sie auf der Jagd waren.« Es sei denn, man zählt die Jagd auf Menschen dazu, dachte Indy. Aber nun wissen wir wenigstens, wo Cordas ist. Sofort drehte er sich um, um sein Gewehr zu laden.
DREIUNDZWANZIG Während der kommenden Tage schliefen sie nachts in Zelten, vor denen kleine Feuer brannte, deren Lichtschein eine Invasion von Bären oder Wildschweinen verhindern sollte. Sie suchten den Landstrich, auf dem die Schlachten von Olustee stattgefunden hatten, kreuz und quer ab. Die Pferde reagierten nervös, als sie ihre Reiter über die Schlachtfelder trugen, die früher einmal blutgetränkt gewesen waren und noch immer die Gebeine der toten Soldaten bargen. Caitlin nahm an den Unterhaltungen nicht mehr teil. Warum das so war, mußte Indy oder Gale nicht erst erklärt werden. Die seelische Verbindung, die sie zu der entsetzlichen und düsteren Vergangenheit aufgenommen hatte, bereitete ihr körperlichen und psychischen Schmerz. »Sie könnte auch ein indianischer Fährtensucher sein, so, wie sie die Dinge aufspürt«, meinte Indy zu Gale. »Es ist fast so, als könne sie sehen, was geschehen ist, als würde sie wissen, wie sie den schlimmsten Ereignissen längst vergangener Zeiten nachspürt.« »Aber bei dir läuft es nicht so gut, nicht wahr?« fragte sie ihn und bezog sich damit auf den Metalldetektor, den Indy mitgebracht hatte. »Nein, dieses komische Ding reagiert so verrückt, daß es einen in die Verzweiflung treibt«, sagte er frustriert. »Es funktioniert zu gut! Jeder Meter, den wir zurücklegen, ist mit Metall gespickt, vor allem mit Eisen. Die Nadel dieses Kompasses dreht sich in alle Himmelsrichtungen und zeigt mir starke ›Sender‹ an. Und immer sind es nur Eisen- oder Kanonenkugeln.« Er wies nach vorn. »Wir nähern uns langsam dem Hauptschlachtfeld. Gleich dort drüben fanden die schweren Kämpfe statt. Beim See, südwestlich davon.«
Caitlin gesellte sich zu ihnen und hörte gebannt zu. »Falls die Wagen mit dem Gold in diesen Kampf verwickelt waren, dann muß man davon ausgehen, daß die Männer, die das Gold transportiert haben, nicht ausweichen konnten.« Er stand in den Steigbügeln und ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen. »Erzählen Sie mir von Ihren Gefühlen«, schlug Caitlin vor. »Ich denke mir«, begann Indy zögerlich, »daß sie das Gold und die Münzen vergraben haben. Aber nicht sonderlich tief. Dazu hatten sie weder genug Zeit noch genug Leute.« Mit einem gekünstelten Lächeln versuchte er zu verbergen, wie wenig es ihm behagte, Vermutungen anzustellen. »Ist geradeso, als suche man die berühmte Stecknadel im Heuhaufen. Nur daß der Heuhaufen hier mehrere Quadratmeilen umfaßt und die Nadel« - er zeigte auf seinen Kompaß - »verrückt spielt. Ich halte es für sinnvoll, den Platz aufzusuchen, wo die letzte Schlacht ausgetragen wurde. Das grenzt unsere Suche etwas ein, und wir können uns besser auf das konzentrieren, was uns umgibt.« »Was ist mit Cordas?« fragte Gale. »Wenn jemand dazu etwas sagen kann, dann Caitlin.« »Er ist in der Nähe«, antwortete sie steif. »Wie nah?« bedrängte Indy sie. »Gefährlich nah«, lautete die knappe Antwort. »Was heißt«, sagte er vorsichtig, »daß sie sich an uns ranhängen. Falls sie kein Glück hatten, das Gold nicht gefunden haben, wovon ich ganz sicher ausgehe, dann werden sie sich an unsere Fersen heften, um zu sehen, was wir machen.« Wieder hielt er Ausschau. »Aber wenn wir sie nicht sehen und Caitlin spürt, daß sie in der Nähe sind, haben sie uns vielleicht schon im Visier.« Treffender hätte Indy seine Worte nicht wählen können. Urplötzlich riß es ihn vor Schmerz schreiend in seinem Sattel herum. Gale und Caitlin sahen einen roten Striemen unter seinem Ohr. Halb bewußtlos rutschte er mit seltsam verrenkten Gliedmaßen vom Sattel.
Erst dann hörten sie, wie ein Gewehrschuß die Stille zerriß. Ehe Caitlin sich in Bewegung setzen konnte, stürzte Gale vom Pferd, warf sich auf sie und riß sie mit zu Boden. »Kümmere dich um ihn«, befahl sie. Gleichzeitig zog sie ihr Gewehr aus dem am Sattel befestigten Holster. Deckung suchend, blickte sie in die Richtung, aus der der Schuß gekommen sein mußte. Mit eingezogenem Kopf rutschte sie zu Caitlin und Indy hinüber. Indy war nun wieder bei Bewußtsein. »Die Kugel hat seine Wange gestreift«, sagte Caitlin und drückte ein Halstuch auf die Wunde. »Zwei Zentimeter weiter drüben, und es hätte ihn erwischt.« Sie machte Gale Platz, damit sie sich neben Indy hocken konnte. »Puh, Mann«, flüsterte er. »Das brennt. Habe ich einen Gewehrschuß gehört?« »Ja, hast du«, meinte Gale. »Lieg still. Rühr dich nicht. Ich muß die Blutung stoppen.« Indy zog seinen Revolver aus dem Schulterholster. »In Ordnung.« Er wußte, daß er viel Blut verlor. »Heckenschütze«, verriet Gale ihm. Indy wollte zustimmend nicken, zuckte statt dessen aber vor Schmerzen zusammen. »Hol besser unsere Gewehre«, riet er Gale. »Vielleicht kommen sie näher.« Caitlin kümmerte sich darum. »Bleib bei ihm. Binde die Pferde fest«, befahl sie in barschem Tonfall. »Wer immer sich dort draußen herumtreibt, hat es darauf abgesehen, uns zu töten. Ich muß mir erst zuerst den Heckenschützen schnappen.« Bevor Gale oder Indy etwas einwenden konnten, war sie schon im Unterholz verschwunden. Beinahe gleichzeitig stieg Nebel auf und legte sich über sie. Bald konnten sie nichts mehr sehen. »Wir sind jetzt in Sicherheit«, beruhigte Gale ihn. »Wenigstens habe ich nun die Möglichkeit, dich wieder zusammenzuflicken.« Entsetzt riß er die Augen auf. »Du willst was tun?« »Dich zusammenflicken. Ich könnte dich auch einfach verbinden, aber dann würdest du nicht mehr viel hören und außerdem würdest du wie eine
ägyptische Mumie aussehen.« Sie kramte in ihrem Rucksack und zog eine lange gebogene Chirurgennadel heraus, die Indy heillose Furcht einflößte. »Ich würde vorschlagen, Professor Jones, daß Sie es sich nun bequem machen und die Zähne zusammenbeißen.« »Wie lange ist sie schon weg?« Blaß und mit glühender Gesichtshälfte, aber sich zunehmend erholend, wollte Indy die Suche fortsetzen. Dieses Spiel können beide Seiten spielen, war sein erster Gedanke. Vergiß die alte Regel nicht, Jones. Kämpfe nie nach den Regeln deines Gegners. Zwing ihm deine eigenen auf. Gales Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. »Indy, wir können den Nebel zu unserem Vorteil nutzen. Wir wissen, aus welcher Richtung der Schuß kam. Wir können uns zurückziehen und uns ihnen von der anderen Seite nähern, ohne daß sie es mitkriegen.« Als Indy den Kopf schüttelte, durchzuckte ihn wieder der Schmerz. Tief durchatmend, begann er langsam zu sprechen. »Gale, wir sind hier nicht im New Forest. Das hier ist Florida, und diese Leute dort draußen haben Waffen. Das darfst du nicht vergessen.« »Aber wir können uns gegen sie zur Wehr setzen!« Wieder schüttelte Indy den Kopf und stöhnte laut auf. Er mußte tief Luft holen, bevor er sprechen konnte. »Hör mir zu, Gale! Nach allem, was wir wissen, sind wir umzingelt. Sie schießen auf uns von einem Punkt aus, warten dann ab, bis wir wieder auftauchen, während sie näher rücken. Vielleicht können sie trotz des Nebels unsere Pferde sehen, aber solange wir uns hier unten versteckt halten, haben sie nicht die Gewißheit, ob wir noch da sind. Wir müssen sie unbedingt im dunkeln tappen lassen. Im Augenblick befinden wir uns in einer lausigen Situation.« »Und das aus deinem Munde«, wunderte Gale sich ehrlich über Indys Vorsichtigkeit. »Wir sind erfahrene Fährtensucher und Jäger, wir können aus diesen Leuten Hackfleisch machen, das ist mal sicher!«
»Du denkst nicht nach«, wies er sie hart zurecht. »Du meinst, du bist auf einer Jagd in deiner Heimat, wo du jeden Winkel kennst. Aber hier draußen bist du ein ganz gewöhnlicher Anfänger. Faß doch mal das Gras an, prüf das Unterholz. Ist alles staubtrocken. Und dann der Wind, wie steht es mit dem Wind? Weißt du, was das bedeutet?« Langsam dämmerte es ihr. »Feuer«, hauchte sie betroffen. »So ist es. Dieses ganze Gebiet wird wie Zunder brennen. Ein Feuer könnte uns vor ihre Visiere treiben. Gegen die Windrichtung können wir nicht gehen, also müßten wir vor dem Wind, vor dem Feuer herlaufen. O ja, wir überleben möglicherweise, denn dort drüben gibt es einen See. Wir könnten vielleicht sogar die Pferde retten und sie mit ins Wasser ziehen. Aber wir würden unseren Gegnern die Verfolgung leichtmachen, soviel ist sicher. Und wir laufen ihnen dann garantiert vor die Visiere.« Gale senkte den Blick. »Ich wußte nicht...« »Mach dir keine Vorwürfe«, beruhigte er sie. »Du befindest dich einfach auf unbekanntem Territorium. Als ich dich in den New Forest begleitete, sah ich, wozu Caitlin fähig ist. Damals hatte sie die Oberhand. Und du in dieser brenzligen Situation auf dem Zeppelin. Aber jetzt warten wir auf Caitlin. Sie hat uns die Initiative aus der Hand genommen, indem sie einfach losgerannt ist.« Indy starrte in den treibenden Nebel, der bei Cordas und seinen Männern bestimmt keine Aufmerksamkeit erregte. »Aber bevor sie abgehauen ist, hat sie dafür gesorgt, daß wir geschützt sind.« »Und was nun?« »Wir warten, bis sie wieder da ist. An diesem Spiel sind die Jäger und Gejagten beteiligt. Ich habe keinen Zweifel daran, daß sie sich auf Cordas und seine Männer stürzen könnte, und diese Typen würden sie nicht mal zu Gesicht bekommen.« Sein Blick ruhte lange auf Gale. »Du hast schon mal Nebel produziert. Im Zeppelin, oder besser gesagt obendrauf. Kannst du das hier wiederholen, falls es nötig wird?«
»Ja. Es kostet mich zwar eine Menge Energie, aber ja, das könnte ich.« »Gut zu wissen. Ich meine, wir müßten die Pferde zurücklassen, weil der Nebel dicht am Boden hängt. Aber wir könnten uns bewegen, als ob wir unsichtbar wären.« »Wir sind dann unsichtbar«, betonte sie. »Das ist mehr als nur ein Nebel. Vor allem, wenn Caitlin ihn macht. Denk doch nur mal an die Straßen, die im New Forest verschwunden sind. Damals hast du diese Sache mit dem Möbiusstreifen erklärt. Weißt du noch?« »Ich kriege gleich wieder Kopfschmerzen, wenn ich nur daran denke.« »Wenn Caitlin den Nebel macht, befördert sie uns in eine andere Zeit. Buchstäblich. Diese Männer könnten durch uns durchlaufen und wüßten doch nicht, daß wir da sind.« Gale entwich ein Seufzer. »Aber ich denke, das heißt nur, das Unausweichliche aufschieben. Weil ich weiß, daß wir uns nicht für ewig im Nebel verstecken können.« Sie packte Indy am Arm. »Und ich weiß auch, daß Caitlin Cordas ködern wird. Sie wird die alten Regeln nicht außer acht lassen. Das weiß ich. Sie muß sie befolgen.« Bevor Indy etwas darauf antworten konnte, bewegte und teilte sich der Nebel. Und Caitlin trat heraus. Ein grimmiges Lächeln umspielte ihre Lippen. »Dieser Narr hat mir in die Hände gespielt.« Unbewußt umklammerte sie den Griff ihres Schwertes. »Es sind acht Männer, Cordas mitgerechnet. Alle bewaffnet.« »Und wir sind zu dritt«, erinnerte Indy sie. »Was macht das schon?« meinte Caitlin selbstbewußt. »Er hat uns angegriffen, dadurch hat sich alles grundlegend geändert. Nun kommen die alten Regeln zur Geltung.« »Nicht ganz«, wandte Indy ein. »Ich wurde angegriffen, nicht Sie.« Ohne zu antworten, fixierte sie die Stiche, mit denen Gale ihn genäht hatte. Dann beugte sie sich vor und wickelte das Taillenband ihres Körperpanzers ab, um es auf seine Wunde zu drücken. Durch das Nähen war ein übel aussehender Bluterguß entstanden. Er spürte ein leises Kribbeln, hatte das
Gefühl, daß sich seine Haut unter dem Taillenband bewegte. Nach ein paar Minuten nahm Gale das Band ab und trat einen Schritt zurück. »Sieh es dir an«, schlug sie vor. Indy nahm den Spiegel von ihr in Empfang und richtete ihn so aus, bis er die Wunde im Blickfeld hatte. Der dunkelrote Bluterguß war verschwunden! Die Hautteile, die Gale zusammengenäht hatte, waren nicht mehr zu erkennen. Wo sein Gesicht doch gerade eben noch wie ein aus Lederflicken zusammengesetzter Fußball ausgesehen hatte! Während er zusah, löste sich der Faden aus der Haut. Mit einer leichten Handbewegung wischte er die Fadenstücke weg. »Ich sehe das ja nicht zum ersten Mal«, sagte er, überwältigt von dem Wunder, das sich vor seinen Augen ereignet hatte. »Aber ... das ist... das ist unglaublich!« Gale inspizierte die geheilte Stelle. »Noch Schmerzen?« fragte sie ihn. »Nö. Kam mir wie ein leichter elektrischer Schock vor. Ganz leicht, kaum wahrnehmbar.« Er blickte von Gale zu Caitlin. »Um ehrlich zu sein, ich fühle mich prima.« Mit gespannter Armbrust in der Hand stand Caitlin aufrecht da. Mit einer einzigen Handbewegung konnte sie den Schwertgriff erreichen. »Es ist an der Zeit, Jones. Die alten Regeln rufen. Ich muß jetzt Cordas hinterher.« »Nein!« rief Indy. In Caitlins Blick spiegelte sich Verblüffung wider. Dieser Mann war ihr Verbündeter. Sie hatten einander das Leben gerettet. Warum lag ihm dann auf einmal soviel daran, das Leben ihres Gegners zu schützen? »Sprechen Sie, schnell«, riet sie ihm. »Ihre Warnungen sind mir ziemlich egal.« »Zum Donnerwetter noch mal, hören Sie mir zu! Sie wissen, daß ich voll und ganz hinter Ihnen stehe«, betonte er und erhob sich. »Aber es ist, wie ich Gale schon gesagt habe. Sie sind hier nicht in Ihrem Element. Die andere Seite ist im Vorteil. Sich ihnen einfach in den Weg zu stellen bringt gar
nichts, lassen Sie sich das gesagt sein. Hören Sie, Caitlin, wir sind nun mal nicht im New Forest, davor dürfen Sie die Augen nicht verschließen.« Er wanderte auf und ab und sprach mit Nachdruck und Überzeugung. »Mir liegt genausoviel daran, Cordas zu erwischen, wie Ihnen. Haben Sie sich darüber schon mal Gedanken gemacht? Vielleicht nicht aus den gleichen Beweggründen, aber ich habe den Verlust guter Freunde diesem Irren zu verdanken. Und darum muß ich Ihnen sagen, daß Sie einen Fehler machen. Sie konzentrieren sich allein auf die Jagd nach diesem einen Mann. Er hingegen hat sich die Unterstützung professioneller Killer gesichert. Möglicherweise gelingt es Ihnen, zu Cordas durchzudringen, ihn zu töten, aber Sie werden da nicht lebend rauskommen. Und selbst einhundert tote Cordas können Ihren Tod nicht aufwiegen!« Er schöpfte Luft, hoffte, daß er zu dieser von Rache besessenen Frau durchgedrungen war, obwohl diese Hoffnung nicht berechtigt war. »In dem Moment, wo wir aus dieser Zeitschleife raustreten, landen wir vor den Visieren der Heckenschützen. Vor den Visieren ihrer Gewehre. Ich kenne diese Art von Waffen. Aus einer Entfernung von einer Meile kann man mit ihnen ins Ziel treffen. Das sind En-fields 303. Und wir sind das Ziel. Ich kenne diese Waffen aus dem Krieg.« Er blieb stehen, drehte sich blitzschnell um und bohrte seinen Finger in die Richtung Caitlins. »Wir befinden uns nicht an einem Punkt, wo wir uns auf Merlins Zauber -« »Der wesentlich mächtiger ist, als Sie es sich vorstellen können«, erwiderte Caitlin mit versteinerter Miene. »Aber er kann nichts gegen eine Gewehrkugel ausrichten!« brüllte Indy sie an. »Denken Sie daran, ein Schuß in Ihr Herz oder Ihr Gehirn, und Sie sind tot. Und Merlin und Caliburn und all die Hexen und Zauberer, die jemals gelebt haben, können Ihnen nicht mehr helfen.« »Ich verschwende hier nur meine Zeit«, herrschte Caitlin ihn zornig an und begann wegzulaufen.
»Warten Sie! Eine Frage noch, Caitlin!« Sie blieb stehen. »Die letzte Frage, Henry Jones.« »Hat der ganze Zauber des New Forest oder der von Merlin geholfen, den Tod König Arthurs zu verhindern? Er ist gestorben, das Zauberschwert hat offenkundig nichts daran geändert. Und wenn Arthur sterben konnte, können Sie jetzt auch sterben.« Caitlin zögerte. Sie kämpfte mit den Worten, die dem widersprachen, was sie als ihre heilige Pflicht ansah. Doch das, was dieser Mann an Einwänden geltend gemacht hatte, hatte Hand und Fuß. Ja, er hatte recht. Wenn Cordas lebte ... und sie tot war, nicht auszudenken, was dann geschah. Sie mußte mehr erfahren, mehr von den Gedanken dieses Mannes hören! »Ich habe Sie im Lauf der letzten Tage und Wochen etwas näher kennengelernt, Jones«, begann sie vorsichtig. »Ich weiß, daß Sie ein tapferer Mann und wertvoller Mensch sind. Und Sie äußern nicht grundlos ungefragt Ihre Meinung. Nun, fahren Sie fort, sagen Sie mir, was Ihnen im Kopf rumgeht.« Indy fiel ein Stein vom Herzen. »Es gibt einen anderen Weg. Ich denke, mir ist da etwas ganz Plausibles eingefallen. Auch ich habe ein paar Tricks im Ärmel. Vielleicht kann ich auch zaubern.« Und damit hatte er sich die Aufmerksamkeit der beiden Frauen gesichert. Das ergab doch alles keinen Sinn. Indy war kein Magier! Er hatte keine Macht über die alten Geheimnisse. Enttäuscht schüttelte Caitlin den Kopf. Als sie sich in Bewegung setzen wollte, hielt Gale sie sanft zurück, indem sie ihr die Hand auf den Arm legte. »Hör dir an, was er zu sagen hat, Caitlin.« »Können Sie Cordas und seine Leute ablenken? Mit Schatten, Nebel oder was auch immer. Alles, damit sie bleiben, wo sie sind. Und zwar bis zehn Uhr morgen früh. Dann brauche ich Ihre Hilfe, Caitlin, alle Ihnen zur Verfügung stehenden Kräfte. Dann brauche ich dicht über dem Boden Nebel, der alles bedeckt.«
»Ja.« Sie willigte zwar ein, wußte aber nicht, was er im Sinn hatte. »Aber wozu soll das alles gut sein?« »Bitte. Ich werde es Ihnen später ausführlich erklären. Im Augenblick bin ich allerdings auf Ihr Vertrauen angewiesen. Tun Sie, worum ich Sie bitte. Falls ich versage, nun« -Indy zuckte mit den Achseln - »wird Cordas ja immer noch da sein. Er wird nicht eher weggehen, bis er das ganze Gebiet nach dem Gold abgesucht hat.« »Ich gehe auf Ihren Vorschlag ein, auch wenn ich nicht weiß, was Sie damit bezwecken.« »Großartig. Nun, es wird dunkel.« Indy sprach mit großem Nachdruck. »Wenn die Nacht anbricht, schleichen Sie sich an unsere Gegner heran und machen Lärm, damit wir wissen, wo sie sind. Können Sie das tun?« »Ja. Wenn Sie das wünschen, werde ich es tun. Ich werde warten, bis die Dämmerung einsetzt.« Damit drehte sie sich um und verschwand im Nebel. »Ich hoffe nur, daß sie tun wird, worum ich sie gebeten habe«, sagte Indy zu Gale. »Das wird sie. Wenn es dunkel ist.« »Es ist fast Mitternacht.« Indy behielt die fluoreszierenden Zeiger seiner Uhr im Auge. »Ich habe noch keinen Ton gehört und -« Abrupt drückte Indy die Hände gegen die Schläfen, als ein gleißender Schmerz durch seinen Schädel jagte. Gale kam zu ihm geeilt. »Es wird gleich vorübergehen«, sagte sie und legte ihre Hände auf seine. Indys Gesicht spiegelte seine Angst. »Was ist das?« fragte er heiser. »Es ist nicht die Wunde. Die ist verheilt«, versicherte sie ihm. »Der Schmerz stammt von Caitlin. Er gilt nicht dir. Sie ruft die Tiere.« »Ich weiß nicht -« »Warte ab. Horche."
Donnernde Hufe, Gegrunze und schrille Schreie drangen durch den tief liegenden Nebel, schallten über das weite Land. Die Schreie schwollen an, wurden lauter und vom Ton her unerträglicher. Nicht viel später hörte Indy das überraschte und verärgerte Rufen von Männern, bald darauf ihre Schmerzensschreie. Schüsse hallten durch die Ebene, Wimmern und Jammern. Und dann - Stille. Indy spähte in die Dunkelheit. Das Licht einer dünnen Mondsichel reflektierte von den oberen Nebelschwaden. Ein Lichtschein in der Ferne wurde stärker, heller. Hochlodernde Flammen färbten den Himmel orange und züngelten rot aus dem Nebel. »Das ist ihr Lager«, murmelte er. »Von Cordas und seinen Leuten. Ich verstehe diese Typen nicht. Wenn wir ihnen auf den Fersen wären, würden sie jetzt die idealen Zielscheiben für uns abgeben.« »Bis auf zwei, die nun tot sind.« Gale und Indy fuhren herum. Caitlin trat aus dem Nebel, mit der Armbrust in der einen, dem Zepter in der anderen Hand. Sie setzte sich zu ihnen ans Feuer, im Schneidersitz. Sie lächelte Indy zu. »Ich habe getan, worum Sie mich gebeten haben. Jetzt wissen Sie, wo sie sich aufhalten. Es waren acht. Nun sind es noch sechs, und sie werden sich in der Dunkelheit nicht vom Feuer entfernen.« »Zwei von ihnen sind tot?« wiederholte Indy. Er wollte sichergehen, daß er richtig verstanden hatte. Caitlin nickte. »Haben Sie -« Sie schnitt ihm das Wort ab. »Nein, Henry Jones. Bevor Sie Ihren Satz beenden, möchte ich Ihnen sagen, daß ich niemanden getötet habe.« Er blickte hinüber zu dem anderen Lagerfeuer, dessen Funken in die Luft stoben. »Was ist geschehen?« Sie gestikulierte mit dem Zepter. Die Kristalle funkelten im Lichtschein. »Damit habe ich die Wildschweine gerufen. Die mit den langen Hauern. Sie
kamen in einer Horde, rannten quer durchs Camp. Das sind sehr, sehr gewalttätige Tiere.« »Ich weiß.« »Bevor die Männer wußten, was passierte, fielen die Wildschweine mit ihren Hauern über sie her. Einer verblutete.« »Du hast gesagt, zwei seien ums Leben gekommen«, hakte Gale nach. Caitlin nickte. »Ja, die Männer wurden panisch. Haben wild um sich geschossen. Und einen von ihren eigenen Leuten erschossen.» Sie schmunzelte. »Das verschafft mir Genugtuung. Und es paßt.« »Haben sie auch Tiere getötet?« wollte Indy wissen. »Ja. Wenigstens drei. Sie sind, wie Sie schon gesagt haben, Profis. Und sie hatten seit Tagen kein frisches Fleisch bekommen. Heute nacht werden sie sich also an Wildschweinfleisch mästen. Wegen des Feuers und Rauchs werden wir wissen, wo sie sind.« »Caitlin«, fragte Gale ihre Freundin. »Bist du sicher, daß sie das Lager nicht verlassen?« Caitlin lachte. Indy war sich nicht sicher, glaubte aber, das bei ihr zum ersten Mal zu sehen. »Würdest du dich im Dunkeln rumtreiben, bei Nebel, wenn du weißt, daß dort draußen Wildschweine sind, bereit, dich jeden Moment niederzutrampeln? Denk daran, die Tiere können sie sehen.« »Wunderbar«, fand Indy. In dem Blick, den er Caitlin zuwarf, lag Bewunderung. »Einfach wunderbar. Morgen früh bin ich dann dran.«
VIERUNDZWANZIG In jener Nacht brütete Indy über den Schlachtfeldkarten von Olustee Station. Eine Taschenlampe, der Mondschein und das Licht ihres Lagerfeuers versorgten ihn mit ausreichend Licht. Caitlin schlief. Gale hatte ein wenig gedöst, fühlte sich nun aber von Indys Studien und den Markierungen, die er auf den Karten eintrug, unwiderstehlich angezogen. »Was hast du vor?« wollte sie von ihm wissen. »Ich finde, du hast uns mit deiner Antwort ziemlich hängenlassen.« Er klopfte ihr kameradschaftlich auf die Schulter. »Noch nicht, Karottenköpfchen. Ich muß erst noch ein paar Details ausarbeiten. Wenn ich möchte, daß mein Vorhaben gelingt, darf ich nichts, aber auch gar nichts dem Zufall überlassen.« »Na gut.« Sie seufzte. »Darf ich dir wenigstens über die Schulter schauen?« Er machte ihr Platz. »Prima. Jetzt kannst du die Taschenlampe halten.« Sie nahm die Lampe, richtete sie aber nicht auf die Karten. »Ich habe eine Frage, o du erhabener, weiser Meister.« »Sehr nett. Wirklich sehr nett. Schieß los.« »Wir sitzen hier an diesem Lagerfeuer. Und damit sind wir doch genauso deutlich sichtbar und verwundbar wie Cordas und seine Leute. Warum machst du dir wegen unserer Sicherheit keine Sorgen?« »Darum hat sich doch Caitlin gekümmert, weißt du nicht mehr? Wildschweine, unheimliche Schatten, all solches Zeugs.« Die Geduld in Person, fragte sie weiter. »Indy, das heißt noch lange nicht, daß nicht eine oder mehrere Personen der gegnerischen Seite versuchen werden, uns anzugreifen. Du selbst hast gesagt, daß das Profis sind. Und das heißt, wenn du mich fragst, daß sie bereit sind, Risiken einzugehen.« »Da hast du recht. Aber dann müssen sie auch ziemlich dicht an uns ran«, meinte er mit einem selbstgefälligen Lächeln.
»Was findest du daran lustig?« »Sie können uns nicht hinterrücks erschießen, es sei denn, sie kommen dicht ran. Wegen des Nebels und so. Gale, spazier auf das Feld hinaus. Dort hinüber« - er zeigte mit dem Finger auf die Stelle - »und nicht in Richtung ihres Feuers.« »Wozu denn?« »Gale, mach es einfach.« »Indy, manchmal bist du einer der anstrengendsten Männer, die mir je -« »Geh endlich!« Sie stand auf und ging in westlicher Richtung. Ungefähr zwanzig Meter weiter stieß sie im Nebel mit der Fessel gegen etwas Hartes. Metallisches Klirren veranlaßte sie, wie angewurzelt stehenzubleiben. Indys Stimme schallte durch die Dunkelheit. »Okay, Karottenköpfchen, du kannst zurückkommen.« Sie trat aus dem Nebel und setzte sich neben ihn. »Was sollte das?« »Stolperdraht«, sagte er leichthin. »Während du gepennt hast, haben Caitlin und ich Pfosten in die Erde gerammt und Stolperdraht gespannt. An dem Draht baumeln kleine Metallteile. Man muß nur ganz sanft dagegen stoßen, und schon entsteht ein Höllenlärm. Ich habe dich dort draußen gehört.« Ohne daß sie es gemerkt hatten, war Caitlin zu ihnen getreten. Sie hatten keinen Ton gehört. »Der Draht«, sagte sie zu Indy. »Besucher?« Sie hatte das Schwert Caliburn aus der Scheide gezogen. Die Klinge glitzerte im Licht. Indy schüttelte den Kopf. »Nein. Gale testete unser Alarmsystem. Da Sie schon mal auf sind, könnten wir kurz durchsprechen, was ich für morgen früh geplant habe?« "Ich werde Kaffee holen«, bot Gale an. Als sie mit drei vollen Bechern wiederkehrte, gruppierten sie sich zu dritt um Indys Karten. »Na gut. Ihr beide kennt inzwischen die wichtigsten Einzelheiten der Schlachten. Jetzt möchte ich mit eurer Hilfe Energie aus der Vergangenheit heraufbeschwören.« Ohne ihre Antworten abzuwarten, widmete er sich
wieder den ausgebreiteten Karten. »Seht mal hier, südlich von uns. Wir wissen, daß dort ein alter Weg verläuft. Was von dieser ... wir wollen es mal Straße nennen ... übriggeblieben ist, kann man deutlich sehen. Was aber für uns viel wichtiger ist, ist die Tatsache, daß es dort weite Ebenen gibt. Nun, falls diese Karten stimmen, kampierten die Rebellen während der Olustee-Kampagne am Rand des Waldes, dort unten.« Er zeigte ihnen die Stelle auf der Karte. »Darum mußte die Union ihren Hauptangriff aus dem Norden starten.« Gale betrachtete die Karte. »Ganz in der Nähe, wo wir uns jetzt befinden.« »Karottenköpfchen, du hast einen Treffer gelandet«, lobte Indy sie. »Und da kommt deine und Caitlins Hilfe ins Spiel. Und wie wir eurer Meinung nach Cordas und seine Männer in das Gebiet südlich von uns bringen können. Und das alles muß vor zehn Uhr morgen früh stattgefunden haben.« »Aber warum?« »Ein kleiner Trick aus vergangenen Zeiten«, antwortete er geheimnisvoll. »Morgen werdet ihr klarer sehen.« Er wartete auf ihr Okay. »In diesem Gebiet, dort drüben« - er tippte auf den entsprechenden Ort »gibt es eine Menge Büsche, hinter denen sie sich verstecken können, aber nur, wenn sie sich auf den Boden legen oder hinknien. Bäume, hinter denen man Schutz suchen kann, gibt es nicht. Falls sie aufstehen, werden wir sie sehen können. Und wir stellen für sie eine ebenso große Gefahr dar wie sie für uns. Die Pattsituation muß nicht ewig andauern, aber lange genug.« »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Jones«, sagte Caitlin mit mürrischer Miene. »Caitlin, ich habe Ihnen daheim im New Forest blindes Vertrauen entgegengebracht«, erwiderte Indy brüsk. »Und nun bitte ich Sie, mir die gleiche Ehre zu erweisen.« »Ihre Geheimnistuerei schmeckt mir gar nicht, aber ich werde Ihnen helfen, soweit ich kann«, antwortete sie steif.
»In Ordnung. Ich werde dann noch mal von vorn anfangen. Wir müssen dafür sorgen, daß diese Leute in dieses Gebiet kommen, das ich euch gezeigt habe, und dort müssen sie eine Zeitlang bleiben. Also, in die Startlöcher, meine Damen.« Aus Buschzweigen und Schlafsäcken stellten sie Puppen her. Auch noch aus kürzester Entfernung konnte man sie nachts, im flackernden Lichtschein des Lagerfeuers, für drei Leute halten, die schliefen. Dann warfen sie dicke Holzbalken ins Feuer, damit es die Nacht über durchbrannte und der aufsteigende Rauch ihren Standort ›verriet‹. »Selbst wenn sich der Nebel morgen früh lüftet oder der Wind ihn wegtreibt, wird es durch ein Visier oder Fernglas so aussehen, als ob wir immer noch im Lager seien.« Indy schmunzelte. »Und wie Dummköpfe den Morgen verschlafen.« Das Schmunzeln verschwand. »Also, Cordas weiß nicht, ob jemand zu uns gestoßen ist. Ich möchte, daß er sich darüber den Kopf zerbricht. Falls er davon ausgeht, daß sich dort draußen fünf oder sechs Personen rumtreiben, wird er seine Sicherheitsvorkehrungen überprüfen und bleiben, wo er ist. Wir können nicht zu ihm gelangen, ohne Gefahr zu laufen, von seinen Schützen abgeknallt zu werden.« »In Ordnung, das klingt plausibel«, merkte Gale an. »Aber was sollen wir deiner Meinung nach nun machen?« »Wir entfernen uns aus dem Lager«, verriet er ihnen. »Und während wir uns zu dem See begeben, den ich euch gerade gezeigt habe, werden wir im Zickzackkurs über das Feld rennen. Wir rennen geduckt, und dann und wann geben wir ein paar Schüsse in ihre Richtung ab. Wenn sie hören, daß aus verschiedenen Richtungen auf sie geschossen wird, werden sie sich automatisch Gedanken darüber machen, mit wie vielen Gegnern sie es zu tun haben.« Indy prüfte sein Gewehr und seine Webley. »Sie werden nicht versuchen, es im Dunkeln mit uns aufzunehmen. Zu gefährlich. Aber morgen«, betonte er, »wird ihnen die Geduld ausgehen. Und die Schüsse von heute nacht werden dazu führen, daß sie sich Sorgen machen, ob wir das Gold vor ihnen gefunden haben. Das müßte ihnen eigentlich ziemlich zusetzen.«
Er wandte sich an Caitlin. »Normalerweise gibt es hier morgens Nebel. Wegen der vielen Seen, Moore und Sümpfe. Das weiß Cordas, darum wird ihm dichter Nebel nicht ungewöhnlich vorkommen. Für gewöhnlich legt sich der Nebel zwischen acht und neun Uhr -« »Aber Sie möchten, daß er morgen länger anhält«, unterbrach Caitlin ihn. »Sozusagen am Boden klebt.« »Ganz genau. Das also ist der Plan. Wir wollen, daß Cordas und seine Killer um Punkt zehn Uhr in der Gegend sind, die ich auf der Karte gezeigt habe. Und wir werden am Ufer dieses Sees sein. Oder besser gesagt, wadentief im See stehen.« »Indy, du überraschst mich«, rief Gale. »Ach ja, wieso?« entgegnete Indy. »Du hast uns vor den Alligatoren gewarnt.« Allein beim Gedanken daran lief ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. »Und daß sie angreifen, ohne einen zu warnen und -« »Vergiß nicht die Wasserottern«, warnte Indy sie. »Und warum rennen wir dann ins Wasser?« fragte Gale verärgert und verwirrt. »Weil Caitlin sie von uns fernhalten kann«, erwiderte Indy sanftmütig. »Genau wie sie diese Wildschweine kontrolliert hat. Falls das Zepter im Wasser genausogut wie an Land funktioniert, sind wir sicher.« »Das kann ich machen. Das Zepter verfügt über die entsprechende Macht«, bestätigte Caitlin. »Aber Ihre Ausführungen sind mir ein Rätsel, Jones. Sie sagten, wir müßten verschwinden. Aber wie, das haben Sie uns zuerst nicht verraten.« »Sie werden morgen früh schon sehen.« Gale seufzte erleichtert auf. »Ich kann nur hoffen, daß du noch ein paar Asse im Ärmel hast.« Indy lachte schallend und breitete die Arme aus. »Das sind große Ärmel. Da hat was Platz.«
Die Nacht verging langsam. Verstohlen schlichen sie sich durch das hohe Gras, durch den Nebel, der aus den Mooren aufstieg. Die Gesellschaft, die sie bekamen, war von der Art, die man gar nicht schätzte. Hunderte von Mücken umschwirrten sie, vom Schweiß, von der Körperhitze und dem Körpergeruch angelockt. Sie gaben sich redliche Mühe, die Stiche und den Juckreiz zu vergessen. In unregelmäßigen Abständen feuerten sie Schüsse in Cordas' Richtung ab. Seine Männer erwiderten das Feuer, zielten aber auf das Lagerfeuer, das trotz des Nebels zu erkennen war. »Es funktioniert«, flüsterte Indy. »Sie wissen nicht, auf wen oder was sie schießen sollen, aber ich wette einen Dollar, daß sie denken, daß wir Unterstützung erhalten haben. Und wir sorgen dafür, daß sie sich nicht vom Fleck rühren.« »Vergiß nicht die Wildschweine«, erinnerte Gale ihn. »Die kreisen immer noch um ihr Lager. Nur das Feuer hält sie zurück.« Caitlin tippte Indy auf die Schulter. »Ich kann die Tiere ins Lager schicken, Feuer hin oder her. Soll ich das tun?« »Nein!« zischte er. »Dann verteilen sie sich, und das möchte ich auf gar keinen Fall.« Der Morgen dämmerte. Es war kühl und feucht. Die Felder glitzerten im Tau, der von Bäumen und Büschen tropfte. Von den Bächen und Mooren und dem nahe gelegenen See stieg dichter Nebel auf, den eine Morgenbrise weiter trieb. Mit wachsender Verzweiflung betrachtete Indy den Sonnenaufgang. »Der Nebel legt sich viel zu schnell!« beklagte er sich lautstark. »Spätestens um neun Uhr wird es aufgeklart sein. Ihr beide, fangt an zu schießen. Zielt nach links, dort hinüber, wo die kleinen Büsche wachsen. Ich werde nach rechts zielen. Wir müssen dafür sorgen, daß Cordas und seine Männer das Gefühl haben, sicher zu sein, wenn sie die Köpfe unten halten und sich aufs offene Feld begeben.« Er feuerte Kugeln ab. Die Patronen drangen in Baumstämme.
Dann rollte er sich auf die Seite und schaute zu Caitlin auf. »Wie lange dauert es, bis Sie den Nebel produziert haben?« »Das geht sehr schnell.« »Großartig.« Zufrieden nickte er. »Halten Sie sich bereit. Ich werde Ihnen Bescheid geben. Hört mir jetzt gut zu. In fünf oder zehn Minuten laufen wir in den See. Nehmt euch vor den Alligatoren und Ottern in acht. Und für den Fall, daß sich diese Tiere nicht von Ihnen zur Räson bringen lassen, habt eure Waffen griffbereit. Besonders das Schwert. Was immer auch passiert, schießt nicht, es sei denn, es geht um Leben und Tod.« »Indy, ich habe immer noch keine Ahnung, was eigentlich gespielt wird«, beklagte Gale sich. »Kommt schon noch. Wir haben jetzt keine Zeit, eine Konferenz abzuhalten.« Die Sonne brannte auf die Erde nieder, und der Nebel lichtete sich, löste sich langsam, aber sicher auf. Auf Indys Uhr war es acht Minuten vor zehn. Er führte die beiden Frauen an. Caitlin hielt das großartige Schwert in Händen, Gale war mit ihrer Armbrust bewaffnet. Die anderen Waffen steckten in den Holstern oder waren über die Schultern geschwungen. Fünf vor zehn. Sie standen am Ufer des Sees. Keine Frage, es wimmelte nur so von Alligatoren. Indy wandte sich an Caitlin. »Jetzt brauche ich Ihre Fähigkeiten!« verkündete er. »Bringen Sie den Nebel auf die Felder« - er zeigte auf Cordas' Lager - »dort draußen. Hüllen Sie die Felder ein. Und wir kümmern uns um die Alligatoren.« Caitlin drehte sich mit dem Gesicht der weiten Ebene zu. Sie hielt das Zepter hoch, dessen Kristalle funkelten. Indy spürte einen seltsamen Druck auf den Ohren, auf dem Kopf. Er zuckte vor Schmerz zusammen. »Indy!« rief Gale verunsichert, als eine riesige prähistorische Gestalt auf sie zukam. Gale richtete die Armbrust aus. Ein Bolzen bohrte sich in das Auge des Alligators. Die Kreatur winselte und schlug um sich. Blutrot gefärbtes Wasser
spritzte hoch. Andere Alligatoren eilten herbei, um über ihren toten Artgenossen herzufallen. Wieder setzte Gale die Armbrust ein. Diesmal traf der Bolzen den weichen Bauch eines anderen Tieres. »So können wir sie nicht in Schach halten!« rief Indy. Er zog die Webley, obwohl er eigentlich nicht schießen wollte, weil er dann Gefahr lief, ihren Standort zu verraten. Hilfesuchend blickte er zu Caitlin hinüber. Sie war im dichten Nebel kaum auszumachen. Der Nebel wich, stieg Zentimeter um Zentimeter, aber nur so hoch, daß die oberen Zweige der Büsche und die Baumwipfel noch zu erkennen waren. Als Caitlin sich umdrehte, sah sie die Alligatoren, die blitzschnell angeschwommen kamen. Mit dem Zepter deutete sie auf das Wasser. Der Schmerz in Indys Kopf verstärkte sich, pochend und stechend. Glücklicherweise brachen die Tiere ihren Angriff ab. Sie wandten sich um und zogen sich sogar zurück. Das Sprechen kostete ihn Mühe. »Ins Wasser! Schnell!« Gale rutschte auf dem morastigen Grund aus und fiel hin. Indy streckte die Hand aus und half ihr beim Aufstehen. »Das ist doch der blanke Wahnsinn!« beklagte sie sich. »Ruhe!« Der Unterton in Caitlins Stimme ließ die anderen beiden aufhorchen. »Hört ihr es?« Stumm standen sie da und lauschten. Und dann hörten Indy und Gale es. Ein fernes Donnern. Die Erde erzitterte. Vögel und Insekten schreckten auf und schwirrten davon. Das Donnern schwoll an, wurde zu einem Tosen, das auf sie zugerauscht kam. Die Erde selbst schien Qualen zu erleiden. Rumpeln und Getöse wie von Tausenden von Trommeln, die gleichzeitig geschlagen wurden. Selbst das sie umgebende Wasser begann zu tanzen. Kleine, weiße Schaumkronen hoben und senkten sich, während die Schockwellen über das Land, über das Wasser rasten. »Donner ...« Gale stierte Indy fragend an. »Was ist das? Ich kann es nicht glauben ... der Himmel. Er ist ganz klar.«
Sie begann sich dem Ufer zu nähern. Indy packte sie und hielt sie zurück. »Bleib hier«, preßte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Die ganze Welt schien in Bewegung zu sein. Eine enorme unsichtbare und donnernde Welle näherte sich ihnen. Indy mußte brüllen, damit die anderen ihn verstehen konnten. »Zehn Uhr!« rief er triumphierend. »Die Vergangenheit ist jetzt die Gegenwart.« Kolossaler Jubel schwang in seiner Stimme mit. »Hörner!« rief Caitlin. . Gale machte große Augen. »Ich höre sie! Hörner! Aber ... Indy, was spielt sich hier denn ab?« Indy ging nicht auf ihre Frage ein. »Caitlin! Cordas und seine Männer! Sie müssen im Nebel unsichtbar sein!« Caitlin verharrte reglos. » Sie sind unsichtbar für den Zauber, den Sie heraufbeschworen haben.« Indy lachte. »Zauber? Das ist kein Zauber! Ich habe euch doch eine Zeit Verschiebung versprochen, erinnert ihr euch? Ich bringe die Vergangenheit in die Gegenwart. Wißt ihr immer noch nicht, was ihr da hört?« Eine Antwort wartete er nicht ab. »Seht da!« rief er und steckte den Finger aus. »Da kommen sie! Direkt aus der Zeit! Die Kavallerie der Union greift an! Mehr als vierhundert Pferde rennen auf Cordas und seine Männer zu! Hört doch! Hört ihr das?« Scharfes Krachen übertönte den Donner. »Musketenfeuer! Tausend Männer zu Fuß, hinter ihnen die Kavallerie, bewaffnet!« Indy warf beide Arme hoch in einer Geste des Triumphes. Vor den Augen der beiden staunenden Frauen kam die Armee der Yankees angeritten. Vierhundert Reiter auf Pferden. Die Männer hielten Säbel in Händen, stießen wildes Kriegsgeschrei aus und brüllten, was die Lungen hergaben. Direkt auf die Ebenen zu, zwischen vereinzelten Bäumen hindurch, auf die Stelle zu, wo Cordas und seine Männer lagen, unsichtbar für die Reiter, die durch den dichten Nebel galoppierten.
Auf Gales Gesicht spiegelten sich der Schock und auch die Ungläubigkeit wider. Sie umklammerte Caitlins Arm. Stumm sahen die beiden Frauen zu, wie eine gewaltige Maschine der Zerstörung an ihnen vorbeizog. Vierhundert Pferde, vierhundert Sendboten des Todes pflügten sich durch Cordas' Lager und trampelten darüber hinweg. Nach einer Weile fand Caitlin ihre Stimme wieder. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und drehte ihn zu sich herum, damit sie ihm in die Augen schauen konnte. »Wahrlich, Sie sind ein Zauberer«, staunte sie.
FÜNFUNDZWANZIG Das Donnern von sechzehnhundert Hufen entfernte sich langsam abebbend von ihnen. Im Zug der angreifenden Kavallerie stieg eine mächtige Wolke aus Nebel, Staub und Grasbüscheln auf. Die Erde bebte noch immer, seufzte und bibberte unter ihren Füßen im brackigen See, als stünde ein schlimmes Erdbeben bevor. »Cordas ...« Gale stützte sich auf Indys Arm ab. Vögel schwirrten aufgeregt umher, änderten ziellos die Flugrichtung und wußten vor Angst und Verwirrung nicht, wohin sie entfliehen sollten. Indy, Gale und Caitlin wußten, daß Männer niedergetrampelt worden waren von schweren Tieren mit eisenbeschlagenen Hufen, unter deren Ansturm Knochen wie zarte Zweige zerbrachen. »Seht doch!« rief Caitlin und streckte den Zeigefinger aus. Indys Zeitverschiebung dauerte immer noch an. Eintausend blau-uniformierte Soldaten liefen an ihnen vorbei, jubelnd und aus voller Kehle schreiend. Musketen wurden im Gehen abgefeuert. Durch den Angriff hatte sich der dichte, am Boden klebende Nebel aufgelöst. Hie und da hingen noch vereinzelte Schwaden über dem kargen, weiten Land. Diese Veränderung erlaubte es ihnen zu beobachten, wie die Männer nach vorn stürmten, eine Salve nach der anderen abfeuerten und schnurstracks auf die Konföderierten zumarschierten, die zu weit weg waren, als daß Indy und die beiden Frauen sie sehen konnten. »Ich ... ich kann es nicht fassen!« brüllte Gale gegen das Stampfen der zahllosen Füße, gegen die Musketenschüsse und die Rufe und das Geschrei der angreifenden Unionssoldaten an. »Indy, das ist ganz und gar unmöglich! Wie ist es dir gelungen, eine ganze Armee aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen?« »Raus aus dem Wasser«, rief Indy. »Schnell. Es ist nicht nötig, noch länger
hierzubleiben. Und dieser Lärm wird die Alligatoren und die Schlangen nervös machen. Also, raus hier.« Immer noch fassungslos kehrten sie ans Ufer des Sees zurück. Caitlin berührte Indys Schulter. »Ich bin ... ich bin überwältigt von dem, was Sie bewirkt haben. Falls ich jemals an Ihnen gezweifelt haben sollte, möchte ich mich nun bei Ihnen entschuldigen. Das, was Sie getan haben, würde die mächtigsten Zauberer aller Zeiten in Staunen versetzen. Es ist einfach unglaublich ...« Die Kavallerie war nicht mehr zu sehen. Der Lärm des Angriffs verhallte allmählich in der Ferne, doch das Schlagen der Hufe, die aus den Musketen abgegebenen Schüsse hallten über das weite, offene Land. »Falls noch jemand in Cordas´ Lager am Leben sein sollte, wäre auch das ein Wunder«, meinte Gale. Durch das Fernglas spähte Indy das Lager ihrer Gegner aus. »Ich sehe ein - nein, zwei Personen, die sich bewegen. Ich korrigiere - kaum mehr bewegen. Ihr Lager scheint komplett zerstört zu sein.» »Cordas?« fragte Gale ihn. »Kann ich von hier aus nicht sagen. Aber wir dürfen keine Zeit verschwenden.« Er zeigte auf Gale. »Hast du dein Gewehr geladen und entsichert? Du gehst links von mir, hältst aber bitte einen Abstand von etwa drei Metern. Caitlin, würden Sie sich bitte nach rechts begeben und ebenfalls etwas Abstand halten? Ich möchte, daß wir auf der Stelle zum Lager gehen.« Mit geladenen Gewehren marschierten sie durch die Ebene. Nebel zog auf, hüllte sie zusehends mehr ein. »Caitlin, können Sie dafür sorgen, daß er sich verzieht?« »Nach dem, was ich gerade erlebt habe«, erwiderte sie, »denke ich, Sie müßten nur mal kurz den Arm bewegen, um das zu erledigen.« »Ich kann das nicht«, sagte er, stur geradeaus blickend. Er sah einen Mann stehen, dann fallen. Wahrscheinlich war er verletzt. Wenig später, als hätte Caitlin einen Schalter betätigt, verflüchtigte sich der
Nebel unter einer kühlen Brise. »Indy, würden Sie mir verraten, wie Ihr Zauber funktioniert hat?« bat Caitlin ihn. Er antwortete nicht sofort. Daß Caitlin ihn auf einmal Indy nannte, kam ihm komisch vor. Bislang hatte sie ihn immer mit Jones oder dem steif klingenden Henry Jones angeredet. Aber nun waren offensichtlich alle Schranken gefallen. Die kleine Veränderung war der Beweis dafür, wie stark sich ihre Beziehung, ihre Einstellung zu ihm verändert hatte. Nun gehörte er zur ›Familie‹. Und so sicher wie die Sonne jeden Tag auf- und unterging, widerstrebte es ihm, ihr zu verraten, daß das unglaubliche Spektakel, das sie gerade miterlebt hatten, nichts mit Zauberei oder Magie zu tun hatte. Es sei denn, man setzte intensive Recherche, detailliertes Studium, Wissen und Hartnäckigkeit mit Magie gleich. Aber vielleicht war dieser Vergleich gar nicht so weit hergeholt. All diese Dinge erforderten eine Menge Zeit, waren dafür aber auch sehr verläßlich. Sie waren ganz in der Nähe von Cordas' Lager. Für ausführliche Erklärungen blieb ihm keine Zeit. »Caitlin, ich werde Ihnen alles erzählen, aber nicht jetzt. Zuerst müssen wir uns um eine andere Angelegenheit kümmern.« Als ginge es darum, den eben gesprochenen Worten Nachdruck zu verleihen, ließ ein entferntes Donnern sie innerlich aufschrecken. Gale drehte den Kopf. »Dieses Geräusch kenne ich. Das ist Artilleriefeuer.« Wieder betrachteten die beiden Frauen Indy neugierig. Er versuchte ihre Blicke zu ignorieren. »Paßt auf, nehmt euch in acht«, herrschte er sie unfreiwillig an. »Seht mich nicht so an ... nehmt die Gewehre hoch. Los, geht weiter!« Indy duckte sich und rannte wie ein Footballspieler im Zickzackkurs los. Die Erde unter seinen Füßen war von den Pferdehufen aufgerissen, umgepflügt worden. Das Lager war nicht mehr allzuweit weg. Oder das, was gestern noch ein Lager gewesen war ... Vier Männer waren tot. Die Kavalleristen waren über sie weggeritten, hatten sie niedergetrampelt. Man konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Im Nebel
hatten sie das Lager nicht erkennen können. Cordas und seine Männer hatten sie nie gesehen. Ein Mann lag mit gebrochenen Beinen am Boden. Er stöhnte laut, lebte aber noch. Cordas saß mit dem Rücken an einen alten Baumstumpf gelehnt, das Gesicht blutverschmiert. Ein Arm hing leblos an seinem Körper herunter. In der anderen Hand hielt er ein Gewehr, brachte es langsam hoch und zielte damit auf Indy. Aber er reagierte zu langsam, als daß es ihm etwas genutzt hätte. Seine glasigen Augen verrieten, daß er starke Schmerzen ertragen mußte, daß er sich im Schockzustand befand. Indy zielte mit dem Gewehr auf ihn. Dann ließ er das Gewehr überraschenderweise fallen, nahm seine altgediente Peitsche zur Hand, die sich - schneller als das Auge sehen konnte - um Cordas' Gewehr wickelte und es ihm aus der Hand riß. Cordas kam kein Laut über die Lippen. Der gesunde Arm hing in der Luft, als hielte er immer noch das Gewehr in der Hand. Sein Verstand schien genauso malträtiert und gebrochen worden zu sein wie sein Körper. Und dennoch blitzte in den Augen des Mannes etwas von dem Zorn auf, den er empfand. Indy begriff ganz gut, was in ihm vorging. Bestimmt würde er es vorziehen, im Kampf zu sterben, als jämmerlich und hilflos im Gefängnis die Jahre abzusitzen. Hätte Indy einen Schuß aus dem Gewehr abgegeben, wäre Cordas seiner Strafe entgangen. Tot konnte ihn niemand für seine Verbrechen zur Rechenschaft ziehen. Indys schneller Peitscheneinsatz hatte den Mann in einen Käfig manövriert, dessen Gitter stärker als Metall waren. Hilflos, mit einer Mischung aus Wut und Haß, betrachtete er Indy und Caitlin St. Brendan. Caitlin war für Cordas so etwas wie seine schlimmste Befürchtung geworden. Eine Art Racheengel. Seine einzige Hoffnung war nun, daß ihr Zorn so groß war, daß sie ihn umbrachte. Gale spazierte schon durch das zerstörte Lager. Kopfschüttelnd inspizierte sie die Verwüstung. »Sie hatten nicht die geringste Chance«, sagte sie laut. »Der dort drüben.« Sie zeigte auf den anderen Mann, der noch mit dem
Leben davongekommen war. »Er wird leben, hat aber beide Beine gebrochen und einen schweren Schock.« »Wir werden ihn noch brauchen«, meinte Indy. Gale warf ihm einen fassungslosen Blick zu. »Wozu?« rief sie entsetzt. »Er ist einer von den Leuten, die versucht haben, uns zu töten! Ein Söldner ist er, weiter nichts -« »Ihn umzubringen steht hier nicht zur Debatte«, erwiderte Indy in aller Schärfe. »Treadwell und die amerikanischen Behörden brauchen jemanden, der weiß, wer in die Geschehnisse verwickelt war. Schlimme Verbrechen sind begangen worden. Sie werden nur dann die wahre Geschichte erfahren, wenn es jemanden gibt, dem sie ihre Fragen stellen dürfen. Tot nutzt er uns gar nichts.« »Du willst also wirklich, daß er mit dem Leben davonkommt?« fragte Gale. Ihre Skepsis hatte sich nicht verflüchtigt. »So ist es«, führte Indy aus. »Wenn du ihn jetzt und hier tötest, hilflos wie er ist, begehst du einen Mord. Wir werden ihn nach England zurückbringen, ihn vor ein englisches Gericht stellen, und wenn er dann zu singen beginnt, um die eigene Haut zu retten, dann werden sie ihn für seine Verbrechen hängen. In diesem Land kommt niemand ungeschoren davon, wenn er derartige Verbrechen begangen hat.« Gale schluckte schwer, ehe sie zustimmend nickte. »Das, was du gerade gesagt hast, geht mir gegen den Strich.« Daß sie den letzten Mörder nicht töten durfte, setzte ihr ziemlich zu. »Aber du hast recht.« »Betrachte es mal von der anderen Seite«, fügte Indy hinzu. »Die Menschen im Glen werden sehen und erfahren, daß ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Und du möchtest sie doch nicht dieser Erfahrung berauben.« Gale stützte sich auf ihr Gewehr und dachte über Indys Worte nach. »Auch da hast du recht«, sagte sie schließlich. Indy wandte sich nun an Caitlin, die sich breitbeinig vor Cordas aufgebaut hatte, der immer noch am Baumstumpf lehnte. Ihr Gewehr lag auf dem Boden.
In der rechten Hand hielt sie Caliburn. Die Klinge des Schwertes leuchtete in der Morgensonne. Ein Stoß und Cordas wäre tot. Caitlin wollte Rache für die Ereignisse im Glen. Ein Hieb, und ihre Familie wäre gerächt, die Schrecken des Glen gesühnt. Und dennoch zögerte sie. Sie wandte sich an Indy. »Bevor ich ihn töte«, sagte sie mit erstarrter Miene, »möchte ich erfahren, wie Ihr Zauber funktioniert. Ohne Ihre Hilfe würde ich diesem menschlichen Abfall nicht gegenüberstehen. Ich kann meinen Schwur nicht einlösen, wenn ich Ihre Magie nicht verstehe. Und ich muß Ihnen gestehen, daß ich mich schon die ganze Zeit über frage, ob Sie nicht vielleicht von Merlin abstammen.« »Das«, murmelte Gale, »wollte ich hören.« »Das ist keine Magie«, meinte Indy, ohne Caitlin oder Cordas aus den Augen zu lassen. Selbst mit gebrochenen Gliedmaßen wirkte der Mann noch äußerst gefährlich. Auf einmal sah Indy ein, wie dumm er gewesen war. Das, was er eigentlich sagen wollte, führte er nicht weiter aus. »Caitlin, halten Sie ihm das Schwert an die Kehle. Aber töten Sie ihn nicht. Es sei denn, er bewegt sich. Dann sollten Sie umgehend handeln.« Er blickte in Cordas' Augen. Der Mann verstand jedes Wort, das er sagte, und das machte ihn zweifellos zu einem gefährlichen Gegner. »Falls er einen Arm bewegt«, ordnete Indy gnadenlos an, »egal, welchen, hacken Sie ihn ab.« Sein Befehl irritierte Gale, aber sie blieb still. Caitlin trat einen Schritt vor und hielt Cordas die rasiermesserdünne Schwertspitze an die Gurgel. Schnell näherte Indy sich Cordas und durchsuchte seine Taschen und Kleider. Nach wenigen Sekunden fand er einen Revolver an der Seite des gesunden Arms. Er warf ihn weg und fuhr mit der Durchsuchung fort. Unter Cordas´Bein entdeckte er zwei Handgranaten, die er vorsichtig neben Gale auf den Boden legte. Aus Cordas´ Blicken sprach der pure Haß. »Das Spiel ist vorbei«, sagte Indy zu dem Mann. Dann gab er Caitlin ein Zeichen, zurückzutreten. Sie
bewegte sich nicht von der Stelle. Indy wurde das Gefühl nicht los, daß sie jeden Moment zuschlagen würde. »Sagen Sie mir, was Sie mir sagen wollten«, drängte sie Indy. »Ich sagte, daß keine Magie im Spiel ist«, fuhr er so gelassen wie möglich fort. Ein Stoß mit Caliburn, eine kleine Bewegung und Cordas würde wie ein abgeschlachtetes Tier verrecken. Indy lag sehr viel daran, seinen Tod zu verhindern. Das hier war der Anführer, das Gehirn einer Organisation internationaler Killer. Wenn Cordas nach England gebracht wurde, hatte Thomas Treadwell die Möglichkeit, die gesamte Organisation zu vernichten. Wenn er tot war, entstand nur eine Lücke, die von jemand anderem geschlossen werden konnte. »Wenn es Magie gewesen wäre«, verriet Indy Caitlin und Gale, »dann wüßte ich nun auch, wo das Gold versteckt ist. Und ich weiß es nicht.« »Hier im Lager ist es nicht«, mischte Gale sich ein. »Ich habe jeden Winkel abgesucht.« Da meldete sich zum ersten Mal Cordas zu Wort. Das Sprechen kostete ihn einige Mühe. Aus seinen Mundwinkeln floß das Blut. »Sie werden es niemals finden«, preßte er heraus. »Wenn wir es nicht finden konnten, wird es niemand finden. Sie sind nichts weiter als Amateure. Unbeholfen und dumm und -« Die Schwertspitze drang ein paar Millimeter tiefer in seine Haut. Ein Bluttropfen quoll hervor. Das reichte, um Cordas zum Schweigen zu bringen. Caitlin warf Indy einen Blick von der Seite zu. »Fahren Sie bitte fort.« »Es behagt mir nicht, Ihnen die Illusionen zu nehmen«, sprach Indy weiter, »aber ich kann nicht zaubern. Mir stehen nur Informationen zur Verfügung, und ich habe die Fähigkeit, verschiedene Dinge so zu koordinieren, daß sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt ereignen.« »Und das ist keine Magie?« »Nein«, betonte Indy. »Das heißt nur, daß ich mein Wissen einsetze und ein Gespür für den richtigen Moment habe. Wenn man sich darauf versteht,
produziert das Wissen um das, was sich ereignen wird, und das Wissen um die Geschichte das gewünschte Ergebnis.« »Sie haben gesagt, was sich ereignen wird«, hakte Caitlin nach. »Und das ist nicht Magie?« »Nein, das ist Zeitplanung.« »Sie verwirren mich.« »Das ist nicht meine Absicht. Caitlin, hören Sie«, fuhr Indy mit allem Nachdruck fort, »heute ist der sechsundsechzigste Jahrestag der Schlacht bei Olustee Station. Während ich die historischen Daten und Fakten studierte und sie mit den Berichten aus Florida verglich, stolperte ich über etwas Interessantes. Als wir im Hotel in Macclenny übernachteten, habe ich mich ziemlich ausführlich mit Dave Barton, dem Waldhüter, unterhalten. Und da begann ich, die Puzzleteilchen zusammenzutragen, die zu dem Ereignis von heute führten, von heute - Punkt zehn Uhr früh.« »Indy, komm endlich zur Sache!« rügte Gale ihn. »Der Punkt ist, daß sich die Menschen im ganzen Umkreis von hier und auch von weiter weg an diesem Tag versammeln, um der Schlacht von Olustee Station zu gedenken. An diesem Tag wird die Schlacht noch mal geschlagen. Zur Erinnerung. Tausende von Enthusiasten, Historiker und andere Fans kommen zusammen. Sie lassen die ursprünglichen Regimenter und Bataillone wieder auferstehen, haben Uniformen genäht, Musketen und Artillerie zusammengetragen. Damit exakte Duplikate der Streitkräfte entstehen, die am Kampf bei Olustee und Ocean Pond dabeigewesen sind. Mitsamt der Pferde und der Waffen.« Mit Ausnahme der Munition. Er hielt inne, ließ den Blick über die weite Ebene schweifen und sah vor seinem geistigen Auge den Angriff der Unionskavallerie, die erst vor kurzem hier vorbeigekommen war. »Sie haben ihre Waffen natürlich abgefeuert, aber keine echte Munition verwendet. Die Kavallerie greift an, die Infanterie, alles spielt sich noch
einmal genau so ab wie damals im Krieg zwischen dem Norden und dem Süden. Darum waren die Markierungen auf den Karten so wichtig. Und darum wußte ich, daß um zehn Uhr morgens die Blauröcke mit vierhundert Pferden angeritten kommen, direkt auf die Linien der Konföderierten zu. Das ist eine wilde und schreckliche Schlacht, aber niemand wird verletzt. Es sei denn« - Indy kicherte genüßlich - »jemand fällt vom Pferd. Und wenn die Schlacht vorbei ist, setzen sich alle zusammen, und dann gibt es ein riesiges Barbecue, mit Fleisch, Fisch und allem anderen, und dann betrinken sie sich und kämpfen den ganzen Krieg noch mal durch, aber dieses Mal mit Bier und Bourbon statt mit Gewehren und Säbeln. Ich habe also die exakte Route und die Zeit in Erfahrung gebracht. Und aus diesem Grund mußten wir dafür sorgen, daß Cordas und seine Leute genau hier, an dieser Stelle ihr Lager aufschlagen, denn ich wußte ja, daß die Kavallerie hier durchreitet. Sie gehen natürlich nicht davon aus, daß jemand hier seine Zelte aufschlägt, wieso auch? Die Leute, die hier ansässig sind, wissen schließlich Bescheid, und -« »Der Nebel«, flüsterte Caitlin, »darum mußte ich den Nebel rufen, damit die Männer auf ihren Pferden Cordas und seine Kumpane nicht sehen konnten.« »So ist es. Sonst wären sie ihnen ausgewichen. Und wenn Cordas und seine Leute gewußt hätten, was auf sie zukommt, wären sie schnell abgehauen. Aber beide Seiten konnten einander nicht sehen. Cordas hörte nur den Donner. Den Rest der Geschichte kennt ihr. Aber sehen Sie, Caitlin, wir waren weit weg. Und was noch wichtiger ist, Sie haben nicht gegen die alten Regeln und Gesetze verstoßen. Sie haben das nicht diesen Leuten angetan. Denen, die so viele Angehörige Ihres Klans niedergemetzelt haben. Sie haben es sich selbst angetan.« »Ich bin erstaunt«, gab Caitlin zu. »Aber jetzt ist die Zeit gekommen, wo Cordas diese Welt verlassen muß.« Sie war im Begriff, Cordas das Schwert in die Kehle zu stoßen. »Caitlin ... tu es nichtl« beschwor Gale sie. »Bring ihn nicht um!«
Das Schwert bewegte sich keinen Millimeter mehr. Langsam, fast ungläubig, wandte Caitlin sich der Frau zu, die ihr ganzes Leben lang ihre Seelenverwandte gewesen war. Mit einer Stimme so kalt wie der Stahl in ihrer Hand fragte sie: »Und warum nicht?« Gale zeigte auf Cordas. »Dein Gegner ist unbewaffnet. Er liegt dir hilflos zu Füßen. Caliburn war niemals dazu gedacht, Menschen abzuschlachten. Seine Macht soll sich während eines Kampfes entfalten. Wenn du diesen Wahnsinnigen tötest, diesen menschlichen Abfall, wirst du aus Haß und um der Rache willen töten. Und dann ist es nicht mehr von Belang, was er dir, deiner Familie angetan hat. Dann wirst du den Pakt mit der Vergangenheit brechen!« Eine ganze Weile lang kam Caitlin kein Wort über die Lippen. Nach außen hin reglos, kämpften doch zwei Seelen in ihrer Brust. Es drängte sie danach, für den Mord an ihrer Mutter Vergeltung zu suchen ... doch falls sie das tat, brach sie den Ehrenkodex, brach sie mit der Tradition, die sie schätzte. Was Gale gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Caliburn war geschmiedet worden, um im Kampf eingesetzt zu werden. Und nicht, um einen hilflosen Gegner zu exekutieren. Langsam nahm sie das Schwert runter. »Was tun Sie?« fuhr Cordas sie an. Sein Körper wurde von heftigem Husten geschüttelt. Blut spritzte aus seinem Mund. »Nur zu, Teufelin!« Er preßte die Worte heraus. »Nur zu! Erledige mich! Tu es schon!« Caitlin nahm das Schwert wieder hoch. Langsam zog sie Caliburns Spitze an seinem Gesicht herunter. Ein langer, blutroter Schlitz wurde sichtbar. Dann beugte sie sich vor und nahm das Schwert beiseite. »Nein. Ich werde dich nicht töten«, verriet sie ihm mit eiskaltem Lächeln. »Ich werde dich zurückbringen, dem Gesetz des Königs ausliefern. Und ich werde zusehen, wie sie dich hängen. So wie es vor langer Zeit war, wird es wieder sein. Und du wirst am Ende der Schlinge baumeln.«
Zum ersten Mal hatte Indy das Gefühl, wieder frei atmen zu können. »Wie sollen wir sie mitnehmen? Wir müssen sie wenigstens nach Macclenny schaffen.« Gales Blick ruhte auf Cordas und dem anderen Mann. »Der hat zwei gebrochene Beine, und Cordas kann kein Pferd reiten.« »Und ich werde euch hier nicht allein lassen, um Hilfe zu holen«, meinte Indy. »Wir haben das alles zusammen durchgestanden, und wir werden auch in Zukunft zusammenbleiben. Ich werde dafür sorgen, daß sie uns begleiten. Wird zwar' ne ruckelige Fahrt werden, ist aber immer noch besser, als am Seil hinter uns hergezogen zu werden.« »Wie sieht Ihr Plan aus, Indy?« erkundigte Caitlin sich. »Sie bleiben hier bei denen. Und versuchen Sie bitte, sie nicht zu töten, ja?« Niemals hatte ihn jemand kälter angelächelt. »Das werde ich nur machen, falls sie einen Fluchtversuch unternehmen.« »Na, davon gehe ich nicht aus«, stellte Indy sich auf ihren eigenwilligen Humor ein. »Gale, du kommst mit mir. Wir werden die Pferde nehmen.« Indy und Gale stiegen auf ihre Pferde und zogen ein drittes Tier hinter sich her. Caitlins Pferd ließen sie zurück. Indy zeigte auf einen nahe gelegenen Hain. »Dort drüben«, sagte er zu Gale. »Laß uns losreiten.« Er trat in das Dickicht und suchte junge Bäume aus, die er mit der kleinen Axt aus seinem Rucksack fällte und von den Ästen und Zweigen befreite. Gale warf er ein langes Seil zu. »Binde die Stämme zusammen, damit wir sie zurück zu Caitlin schaffen können.« Caitlin sah zu, wie Indy zwei der dicksten Stämme zusammenband. »Wir werden einen Schlitten bauen«, verriet er den beiden Frauen. »Ach ja?« fragte Caitlin skeptisch. »Ja, so reisten die alten amerikanischen Indianer. Auf einem Schlitten, bestehend aus zwei langen Balken, durch kleinere Querverstrebungen verbunden. Er wird von einem
Pferd gezogen. Diese beiden legen wir hinten drauf, und dann geht's los. Ach ja, wir binden sie natürlich fest. Wie ich schon sagte, das wird eine ziemlich holprige Reise. In Macclenny kann sich der dort ansässige Doktor um unsere Freunde hier kümmern. Und Dave Barton kann die Behörden informieren. Die sollen sie abholen und an die Küste weitertransportieren. Wir müssen auch Carruthers und Judson benachrichtigen und dafür Sorge tragen, daß sie Treadwell informieren und ihm sagen, daß wir die beiden hier erwischt haben.« Er spazierte auf die andere Seite des zerstörten Lagers und zählte die über den Boden verstreuten Leichen. »Gale, könntest du mir mal helfen? Wir haben nicht die Zeit und auch nicht den Wunsch, denke ich, diese Männer zu begraben, aber wir können sie ja mit Zweigen zudecken, bis Barton einen Wagen hierher schickt. Ich könnte mir denken, daß sie sie identifizieren möchten.« Sie kämpften sich durch das hohe Gras, hielten auf die niedrigen Bäume zu. Da stolperte Indy plötzlich, fiel kopfüber ins Gras und schlug mit dem Kopf gegen einen Stein. Er schrie vor Schmerz auf. Gale rannte zu ihm hinüber und kniete sich neben ihn. »Was ist passiert?« »Verfluchter Stein. Im Gras. Habe ihn nicht gesehen und« - er verzog das Gesicht zu einer Grimasse - »als ich hinfiel, schlug ich mit dem Kopf gegen einen anderen Stein.« Gale stierte zu Boden. Ihre Stimme klang gepreßt. »Indy?« Ihm fiel es einigermaßen schwer, sich wieder aufzurichten. Der ganze Rücken tat ihm weh. »Gütiger Gott ... von all den Möglichkeiten -« »Indy, so hör doch.« Ihr befremdlicher Tonfall ließ ihn aufhorchen. Die Hand in den Rücken gestützt, setzte er sich auf. »W-was? Was ist denn so wichtig?« »Du bist nicht auf einen Stein gefallen«, sagte sie. »Auf was dann?«
»Auf eine Kanone. Auf den Lauf einer Kanone, Indy.« Sie setzte zu einer Handbewegung an. »Dieses ganze Gebiet, Indy. Weit und breit sind diese seltsamen Kanonenläufe zu sehen.« »Was ist denn seltsam an ihnen? Beide Armeen haben ihre Artillerie hier zurückgelassen.« »Würdest du bitte herkommen und selbst sehen!« Stolpernd kam er zu ihr. Sie drückte das Gras zur Seite. Ein Kanonenlauf wurde sichtbar. »Okay, das ist also eine Kanone. Und nun?« »Siehst du es denn nicht? Siehst du nicht, was mit diesen Kanonen nicht stimmt?« Indy marschierte von einer zur anderen. Die Rebellen waren offensichtlich gezwungen gewesen, ihre gesamte Artillerie zurückzulassen. Und dann ging ihm ein Licht auf. Nun wußte er, was Gale meinte. »Du hast recht«, stimmte er ihr zu. »Da stimmt doch was nicht. Überall Kanonenläufe. Aber ... mehr nicht. Keine Gestelle, keine Feuermechanismen.« Er stapfte durchs Gras, blieb stehen und blickte zu Gale hinüber. »Hast du hier irgendwo Metallringe von alten Wagenrädern gesehen?« »Nein.« »Ich auch nicht.« Daraufhin zog Indy sein Jagdmesser hervor und klopfte mit dem Griff gegen den Kanonenlauf. »Hört sich irgendwie eigenartig an, oder nicht?« fragte er Gale. »Stimmt. Das Geräusch klingt für meinen Geschmack zu dumpf. Indy?« »Nur zu.« »Versuch den Lauf aufzuschneiden«, schlug sie vor. Er begriff, warum es ihr schwerfiel, ihre Vermutung in Worte zu fassen. Gale hielt eine Hand mit gekreuztem' Mittel- und Zeigefinger hoch. Ihm erging es nicht anders. Das konnte einer dieser Glückstreffer sein. Er nahm das Jagdmesser anders in die Hand, hielt diesmal den Griff fest, positionierte die Klingenspitze mitten auf dem Kanonenlauf und stach mit
aller Kraft zu. Die Klinge kratzte den gewölbten Lauf ein und riß einen Schlitz auf. Fassungslos starrte er Gale an. Sie hielt seinem Blick stand, riß die Augen auf. Ohne nachzudenken, wiederholte Indy den Vorgang mehrere Male. Die Klinge schabte die alte graue Farbe ab. Unter den Rissen, unter der alten Farbe erstrahlte der Kanonenlauf in einer reinen Farbe. Gold. »Indy... ich kann es einfach nicht glauben.« Ihre Stimme war einem Flüstern gewichen. Er schaute sie an. »Mit diesem Messer kann ich keinen Kanonenlauf aufschneiden.« Was er sagte, war dumm, aber etwas Besseres fiel ihm im Augenblick nicht ein. »Ich weiß.« »Ich auch«, wiederholt er. »Es ist... nun, wer erwartet schon ...« Ihre Stimme versagte. Indy trat vor einen anderen Kanonenlauf und stach mehrmals mit dem Messer auf ihn ein. Gold blitzte ihnen entgegen, reflektierte die strahlende Mittagssonne. »Wir haben es gefunden!« rief er laut aus. »Dieses ganze Gebiet ...« Mit ausgebreiteten Armen drehte Gale sich um. Überall ragten Kanonenläufe aus dem Gras heraus. »Das ist das Gold, wunderbar«, raunte er. »Der verlorengegangene Schatz«, murmelte sie. »Und er ist die ganze Zeit über, all die Jahre und Jahrzehnte hier gewesen.« Indy machte sich am dritten Lauf zu schaffen. Wieder kam Gold zum Vorschein. »Sie haben das ungemünzte Gold eingeschmolzen«, sinnierte er. »Sie konnten es nicht über das Schlachtfeld schleusen. Vielleicht hatten sie nicht genug Maultiere, um die Karren zu ziehen. Die Kämpfe, das Wetter, Krankheiten, alles
mögliche kann sie aufgehalten haben. Und dann haben sie das Gold eingeschmolzen, daraus Kanonenläufe gemacht und es zurückgelassen, genau wie die normale Artillerie.« »Und hofften zurückzukehren, wenn der Süden gewonnen hat -« »Oder der Norden. Dann hätten sie das Gold bergen und zum Wiederaufbau verwenden können.« Caitlin beobachtete die beiden aus einiger Entfernung und rätselte, was sie in solche Aufregung versetzte, daß man ihre Stimmen weit über das Feld schallen hören konnte. Indy trat zu einem jungen Baum und schlug die Äste ab, bis er den bloßen Stamm freigelegt hatte. Mit dem gefällten Stamm begab er sich zum nächsten Kanonenlauf. »Bete zu Gott, daß da keine Schlangen sind«, rief er Gale zu. Den Stamm schob er in den Lauf. Auf halber Strecke blieb er stecken. Hektisch zog er den Stamm raus und schob ihn wieder rein. »Da steckt was drinnen. Könnte ein totes Tier sein.« »Oder ...« Sie beendete den Satz nicht. »Ja«, erriet er ihren Gedanken. Er beugte sich vor und schob seinen Arm in den Kanonenlauf. »Fühlt sich wie Leder an, oder wie eingewachster Stoff«, sagte er. »Ist aber zu schwer. Ich kann es nicht allein rausziehen. Halte meinen Arm und hilf mir.« Mit vereinter Kraft zogen sie ein schweres, in gewachstes Tuch geschlagenes Paket heraus, das mit Draht zugebunden war. Indy legte es auf den Boden und schnitt den Draht mit dem Messer durch, ehe sie vorsichtig die vielen Lagen Wachstuch abpellten. Glitzernd und funkelnd blendeten alte Münzen aus Rom ihre Augen.
SECHSUNDZWANZIG Mit den angespannten Muskeln und der ausgeprägten Vorsicht einer großen Raubkatze im Dschungel marschierte Caitlin St. Brendan durch eines der Verwaltungsgebäude der Londoner Universität. An diesem Ort kam sie sich ebenso deplaziert vor, wie die Professoren mit ihren gesteiften Hemdkragen sich ihrer Einschätzung nach im New Forest fühlen mußten. Männer in langen Roben und mit buschigen Backenbärten beäugten ihre Lederkleidung mit dem gleichen Unverständnis, das sie ihrer Tracht entgegenbrachte. In ihren Augen hätten sie auch Besucher von einem anderen Planeten sein können. Indy, der sie begleitete, war ihr nicht gerade eine Hilfe. Seit ihrer Rückkehr nach England konnte sie es nicht lassen, ihm immer wieder einen verstohlenen Blick von der Seite zuzuwerfen. Das tat sie jetzt auch. Professor Henry Jones, eine anerkannte Autorität auf den Gebieten der Archäologie, alter Sprachen und der Literatur des Mittelalters trug heute einen dreiteiligen Anzug, polierte Halbschuhe, eine Brille mit zartem Metallgestell und das Haar so ordentlich gescheitelt, als werbe er in seiner Freizeit für die hiesige Friseurinnung. Im Augenblick erinnerte er nicht gerade an den wagemutigen und gefährlichen Mann, den sie im Verlauf der letzten Wochen kennengelernt hatte. Von der ersten Minute an konnte Caitlin diese Umgebung nicht leiden. Sie fühlte sich hier - in den heiligen Hailen der Lehre - auch unwohl. Der New Forest und der Glen schienen eine Million Meilen von diesem schwerfälligen, massiven, von Fluren durchzogenen Gebäude, in dem es seltsame Geräusche, Gerüche und noch seltsamere Lebewesen gab, entfernt zu sein. Dennoch hatte Indy sie dazu überredet, daß sie an der im Büro von Sir William Pencroft
angesetzten Konferenz teilnahm. Indy hatte ihn als ›größtes Tier‹ an der Londoner Universität bezeichnet. »Er ist alt, scharfzüngig, unfreundlich, streitsüchtig, verletzend und knirscht mit den Zähnen«, hatte Indy ihr den Direktor der Archäologie-Fakultät der Londoner Universität beschrieben. »Und warum ertragen Sie dann seine Gesellschaft?« fragte Caitlin ihn. Sie verstand die Welt nicht mehr. »Dafür gibt es eine ganze Menge guter Gründe«, fuhr Indy gutgelaunt fort. »Erstens, er ist der Chef dieser Universität. Zweitens, ohne seine Unterstützung und seine Zusammenarbeit mit den Regierungsstellen wären wir nie und nimmer in der Lage gewesen, Cordas und seine Leute aufzuspüren. Solch ein Abenteuer kostet eine ordentliche Stange Geld.« »Und dieser schreckliche alte Mann hat alles bezahlt?« »Nicht direkt. Aber er hat die Direktorenversammlung und Whitehall dazu überredet, die Kosten zu finanzieren und für uns besondere diplomatische Freiheiten zu erwirken, damit wir beispielsweise im Ausland Waffen tragen konnten. Außerdem hat er erreicht, daß der amerikanische Geheimdienst und ein halbes Dutzend anderer staatlicher Stellen sich zur Zusammenarbeit mit uns bereit erklärten.« »Dann stehen wir also in seiner Schuld«, schloß Caitlin aus seinen Worten. »Unglücklicherweise, ja.« »Warum unglücklicherweise?« »Weil er das Gedächtnis eines Elefanten hat. Er vergißt niemals einen Gefallen, den er jemandem gewährt hat. Und er betrachtet das als Schuld, die er in Form von Gefallen zurückverlangt. Diese Gefallen bin ich ihm schuldig.« »Das ist nur fair, Indy.« »Caitlin, ich bitte Sie. Verteidigen Sie den alten Bussard nicht. Der braucht keine Hilfe.« Sie bogen um eine Ecke, woraufhin eine Horde Studenten auseinanderstob. »Erklären Sie mir noch mal, warum Sie mich hier brauchen, Indy.«
»Ich brauche Sie nicht, Caitlin. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich Sie bei mir haben will und -« »Ihre Worte freuen mich«, erwiderte sie ruhig. »Immer wenn Sie so sprechen, beschleicht mich der Eindruck, eine Zeitreise in die Vergangenheit anzutreten«, verriet Indy ihr. »Caitlin, Sie sind hier, weil Ihre Regierung Sie braucht. Sie können bezeugen, daß Cordas gemordet hat. Nicht nur, daß er am Tod Ihrer Mutter schuldig ist, sondern am Tod all der anderen, die im Glen ihr Leben gelassen haben. Sie werden das unter Eid aussagen müssen, beschreiben müssen, was sich ereignet hat, wenn Cordas und dieser andere Mann - dessen Name Scruggs ist - vor Gericht gestellt werden. Ihre Zeugenaussage wird dafür sorgen, daß man sie hängt.« »Ich würde liebend gern dabei sei, wenn das geschieht«, erwiderte sie grimmig. »Wir werden mit Treadwell darüber sprechen. Ich bin sicher, daß er sich Ihrer Bitte annehmen wird.« »Danke, Indy.« Da war er wieder, dieser steife und formelle Tonfall, als ob Caitlin immer noch in einer Welt mit Rittern und Schlössern und Zauberern leben würde. Na ja, vielleicht tut sie das ja, fuhr es Indy plötzlich durch den Kopf. Vielleicht ist es das, was ich die ganze Zeit über nicht kapiert habe. Caitlin schauspielert nicht. Sie lebt tatsächlich in dieser Welt! In ihren Augen sind wir die Außerirdischen, wohingegen ihre Welt die echte ist. Sie bogen ein letztes Mal ab und kamen zu einer großen Doppelflügeltür, dem Zugang zu Sir William Pencrofts Privatbüro, zum geheiligten Kernstück der Universität. Bewaffnete britische Soldaten sicherten den Zutritt. »Sir, Madam, bitte nennen Sie uns Ihre Namen!« befahlen sie laut. »Professor Henry Jones und Miss Caitlin St. Brendan«, verkündete Indy. »Sir. Einen Moment, bitte.« Ein Soldat drückte auf einen Knopf, drehte sich weg und dann wieder zu ihnen
um. Kurz darauf ging die Tür auf. Indy und Caitlin gingen auf die zerbrechliche Gestalt Sir William Pencrofts zu. »Ah. Das schwarze Schaf der Kolonialisten ist zurückgekehrt. Ich nehme an« Pencrofts Stimme klang wie eine Mischung aus Pfeifen und Knurren - »ich sollte die Animositäten lassen und Ihnen statt dessen verraten, wie froh ich bin, Sie zu sehen. Aber das Lügen fiel mir noch nie leicht.« »Sir William, ich -« »Ach, halten Sie den Mund, Jones. Und treten Sie beiseite!« Der alte Herr wedelte mit einem Gehstock vor Indys Nase herum. »Weg, weg!« rief er und fixierte Caitlin. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, wurden groß und dann wieder zu schmalen Schlitzen. »Sie sind also die Maid aus dem Glen. Ich habe viel über Sie gehört, Caitlin St. Brendan. Sie sind eine wunderschöne junge Frau, das muß man Ihnen lassen.« »Und Sie sind so ungehobelt, wie ich gehört habe«, gab Caitlin ihm zur Antwort. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Aber in Ihrem Herzen brennt ein Feuer.« »Wie lange wollen Sie noch ihrer gegenseitigen Bewunderung Ausdruck verleihen?« gab Indy sich spaßeshalber beleidigt. In Wirklichkeit freute es ihn, wie gut sich die beiden auf Anhieb verstanden. »Bevor wir uns in meine Räume begeben und uns den Bedingungen der modernen Gesellschaft unterwerfen, Caty, denke ich, ich sollte -« »Sie haben mich Caty genannt«, registrierte sie mit Verwunderung. Ihr war so, als sei gerade ein großes Geheimnis gelüftet worden. »Ja, das habe ich, meine Liebe«, sagte Pencroft mit lachenden Augen und faltete die Hände im Schoß. »Aber ...« Caitlin blickte zu Indy hinüber. »So nannten mich die Menschen im Glen, als ich noch ein ... ein »Warum kommt Ihnen das so schwer über die Lippen? Als Sie noch ein kleines Mädchen waren, wollten Sie sagen«, ergänzte Pencroft sanftmütig. »Aber woher ... woher wissen Sie das?«
»Ah, nun habe ich mich verraten, weil ich meine Zunge nicht hüten kann, fürchte ich«, meinte Pencroft und genoß die Situation. »Das weiß ich, weil Ihr Großvater und ich enge Freunde gewesen sind, Caty. Oder - Sie scheinen diesem Namen den Vorzug zu geben - Caitlin.« Er beugte sich vor. »Geben Sie mir Ihre Hand, Kind.« Er hielt ihre Finger in seinen fragilen Händen. »Vor langer Zeit, mir kommt es vor, als sei inzwischen eine Ewigkeit verstrichen, haben Sie bei mir auf dem Schoß gesessen, Caty. Und ich habe Sie auf meinen Schultern getragen.« Caitlin staunte nicht schlecht. »Sie nannten Sie das Orakel«, flüsterte sie ergriffen. »Sie?« Indy starrte Pencroft an. »Der Mann, der die Geheimnisse der Vergangenheit lösen konnte, indem er nur einmal einen Blick darauf warf? Sie. Der, den sie mit einer Kristallkugel verglichen!« »Halten Sie den Mund, Sie Dummkopf!« Dann, leiser: »Das bleibt unter uns, verstanden?« drängte Pencroft seine beiden Besucher. »Wenn Sie möchten -« begann Indy. Pencrofts freundliche Art verflüchtigte sich im Bruchteil einer Sekunde. »Halten Sie sich von diesem Idioten fern, Caitlin. Ich möchte, daß Sie mich nach nebenan schieben.« Er verscheuchte seine Krankenschwester mit dem Wedeln seines Gehstocks. Indy folgte den beiden. Wunder gibt es immer wieder ... Und auch Überraschungen stellten sich immer wieder ein. Als Indy nach Caitlin und Pencroft in den angrenzenden Raum trat, entfernte sich ein großer Mann in funkelnder Uniform von der Gruppe, zu der er sich gesellt hatte. Zuerst verspürte Indy den Drang, einen Schritt zurückzuweichen, aber dann erkannte er, daß es sich um Matteo Di Palma handelte. Niemals hätte er erwartet, daß der italienische Agent ihn in die Arme nehmen, fest an sich drücken und ihn links und rechts, ganz italienisch, auf die Wange küssen würde. »Sie haben es geschafft!« rief er aus. Er drehte sich und zeigte mit dem Finger
auf einen zweiten Raum, der an Pencrofts Büro angrenzte. Indy s Blick fiel auf die bewaffneten Wachen vor der Tür. »Die Münzen. Ach, wahrlich ein Wunder, ein Wunder. Andere mögen es vielleicht nicht so sehen, aber ich« - er klopfte sich mit der Faust auf die Brust - »ich weiß es. Die Münzen, Indy, mein Freund, sind von einem Dutzend unserer anerkanntesten Wissenschaftler untersucht worden, von Metallurgen und Geschichtswissenschaftlern. Sie sind authentisch. Der Verlust dieser Münzen hat den Vatikan tief enttäuscht, aber nun herrscht große Freude.« Zwinkernd löste sich Indy aus Di Palmas Umarmung »Seit wann tragen Sie diese Uniform?« wechselte er rasch das Thema. »Sie sehen darin wie der Portier des Waldorf -Astoria aus.« »Ach, nach langen Wochen bin ich endlich wieder Admiral Matteo Di Palma, Mitglied der altehrwürdigen und hochgeachteten Di Palma-Familie, deren Unterstützung wir es zu verdanken haben, daß es Italien gibt. In Rom hielt man es für angemessen, daß ich dieses Mal nicht als Spezial- oder Geheimagent hier auftauche«, verriet er Indy im Flüsterton. »Diesmal führe ich die Gruppe an, die die Münzen an ihren ursprünglichen Bestimmungsort in Rom zurückbringt. Eine bis an die Zähne bewaffnete Gruppe. Um ehrlich zu sein, die Engländer leihen uns zur Unterstützung eine Einheit aus. Aber« - er winkte ab - »das ist nichts im Vergleich zu dem, was Sie und diese wunderbare Lady erreicht haben. Eines Tages, Indy, müssen Sie mir in aller Ausführlichkeit erzählen, was sich in diesem scheußlichen deutschen Ballon abgespielt hat, auf dem Sie beide den Ozean überquert haben!« Indy klopfte Di Palma auf die Schulter. Der aufgeregte Italiener brachte ihn einfach zum Lachen. »Das verspreche ich Ihnen. Aber jetzt müssen Sie mich leider entschuldigen.« »Aber sicher! Thomas erwartet Sie und die Lady nebenan.« Thomas Treadwell schüttelte Indy die Hand. An der Art, wie er zupackte, konnte Indy ablesen, was in dem Mann vorging. Vor Caitlin verneigte er
sich höflich zur Begrüßung. »Ich möchte euch nicht mit einer Rede belästigen«, begann Treadwell. »Aber ich möchte dennoch die tiefe Dankbarkeit der englischen und italienischen Regierung übermitteln. Indy, du weißt ja schon, daß Sir Williams Barschheit seine Art ist, dir zu sagen, wie sehr es ihn freut, daß das Ansehen der Londoner Universität ins Unermeßliche gestiegen ist.« »Ich dachte, du wolltest keine Rede halten«, merkte Indy an. »Richtig. Cordas und Scruggs sind unser vordringlichstes Thema. Die Verhandlung wird schnell angesetzt, das kann ich euch versichern. Ihre Anwesenheit bei der Verhandlung ist von größter Wichtigkeit, Caitlin. Sie müssen berichten, was sich während des Überfalls und danach abgespielt hat. Indy, du mußt aussagen, wie man versucht hat, euch während des Zeppelinfluges zu töten, und über das berichten, was sich in Florida abgespielt hat. Ich garantiere euch, daß es eine kurze Verhandlung wird.« »Ich möchte anwesend sein, wenn man ihn hängt«, sagte Caitlin. »Das ist überaus wichtig.« »Ich verstehe.« Treadwell nickte. »Das wurde schon in die Wege geleitet. Sie werden im Namen der Krone und aus persönlichen Gründen anwesend sein.« »Was ist mit den anderen Regierungen, die ihn haben wollen?« erkundigte Indy sich. »Wie sieht es damit aus?« »Deutschland möchte ihn ausgeliefert kriegen. Und die Vereinigten Staaten. Und Österreich, Italien und eine Menge anderer Länder.« Thomas lächelte kalt. »Wir werden sie aufeinander loslassen, dann können sie untereinander ausmachen, wer die Überreste kriegt. Weder Cordas noch Scruggs werden England lebend verlassen.« Treadwell schenkte für sich und Caitlin Tee ein. »Ich nehme Kaffee«, sagte Indy. Kannen mit dampfendem Tee und Kaffee standen auf einem Tisch vor dem hohen Fenster. »Durch die Begrüßung Di Palmas weißt du sicherlich schon, daß die Münzen nach Rom gebracht werden«, meinte Treadwell. »Das Gold wird zu
unserer größten Zufriedenheit und Dankbarkeit von der amerikanischen Regierung an die Bank von England überstellt. Das ist sehr großzügig von Seiten der Vereinigten Staaten. Schließlich sind sie in der Position, das ungemünzte Gold für sich zu beanspruchen. Aber sie haben es so gedreht, daß das Gold als Bezahlung für Rohmaterial, vor allem für Baumwolle, gedacht war, daß die Lieferung dieses Rohmaterials aber nie stattgefunden hat und deshalb die Bezahlung erstattet werden muß.« »Klug ausgeheckt«, fand Indy. »Und man erwägt eine größere Spende zugunsten der Universität von London«, fügte Treadwell hinzu. »Na, das dürfte doch ein Lächeln auf Pencrofts Gesicht zaubern«, meinte Indy. »Wann immer die Universität eine Spende erhält, ringt sich Sir Pencroft zu solch einer menschlichen Reaktion durch.« Auf einmal setzte er sich ganz aufrecht hin. »Warte mal eine Minute. Hier stimmt doch was nicht! Wo steckt Gale?« Treadwell zögerte, und da wußten Indy und Caitlin sofort, daß irgend etwas nicht stimmte. »Raus mit der Sprache, Thomas«, drängte Indy ungeduldig. »Es paßt gar nicht zu Gale, daß sie einfach so von der Bildfläche verschwindet.« »Gale Parker hält sich in Südamerika auf.« Indy machte große Augen. »Was?« »Pan American testet gerade neue Flugrouten mit ihren SikorskyFlugbooten. Und sie hatten den Eindruck, daß eine Frau als Pilot bei den Passagieren größeres Vertrauen erwirken kann. Gale Parker ist diese Pilotin. Sie sind sehr großzügig, und ich brauche dir ja nicht zu sagen, was Gale diese Chance bedeutet.« »Das ist doch nicht alles«, gab Caitlin mit eisiger Stimme zu bedenken. »Gale ist meine Seelenverwandte. Daß sie, ohne ein Wort zu verlieren, weggeht ... Hier geht es nicht nur ums Fliegen.« »Weih uns ein, Tom«, bat Indy. Auf seinem Gesicht spiegelten sich Zweifel
und Skepsis. »Nun, es gibt möglicherweise noch einen anderen Grund«, gab Treadwell zu. »Tom, du spannst uns auf die Folter! Jetzt mal raus mit der Sprache, Mann!« »Ich werde vielleicht nicht die passenden Worte finden«, gab Treadwell zu bedenken. »Warum haben Sie Angst, uns die Wahrheit zu sagen», sagte Caitlin. »Gale möchte, daß ihr beiden euch besser kennenlernt. Indy, sie sagte, sie fühle sich wie das fünfte Rad am Wagen. Und als Pan American ihr diese Möglichkeit bot, nahm sie ohne zu zögern an.« »Dann stiehlt sie sich also einfach davon?« Indy ballte die Hände zu Fäusten. »Wir drei sind doch ein Team gewesen!« platzte Indy mit der Sprache heraus. Treadwell war nicht wohl in seiner Haut. »Ich bin nur der Sendbote.« Langes Schweigen folgte. Dann ging die Tür auf, und der alte Pencroft gesellte sich zu ihnen. »Raus«, wies er seine Helferin an, »und schließen Sie die Tür hinter sich und machen Sie sie erst wieder auf, wenn ich Ihnen Bescheid gebe. Verstanden?« Pencroft zeigte auf die Soldaten. »Treadwell, schicken Sie sie weg. Ich möchte, daß wir vier eine Zeitlang ungestört sind.« Innerhalb von Sekunden hatten die Soldaten sich verzogen. Pencroft rollte näher an den Tisch heran. »Haben Sie es Ihnen schon gesagt, Thomas?« fragte er. »Ich habe ihnen einiges gesagt«, parierte Treadwell. »Sie wissen ganz genau, was ich meine!« rief Pencroft so laut, daß er einen Hustenanfall bekam. Caitlin begab sich sofort zu dem alten Mann und half ihm, sich wieder aufrecht hinzusetzen. »Sprechen Sie vorsichtig«, riet sie ihm und massierte ihm den Rücken. »Und was immer Treadwell uns Ihrer Meinung nach sagen soll«, sagte Indy,
den die Nachricht über Gales Verschwinden betroffen gemacht hatte, »warum erledigen Sie Ihre dreckige Arbeit nicht selbst und weihen uns ein?« »Nun, nun, unser ungehobelter Gast aus den Kolonien verfügt immer noch über den richtigen Biß, wie ich sehe.« Pencroft bedachte Indy mit einem höhnischen Lächeln. »Na gut, Jones, dann will ich mal mit der Sprache rausrücken. Ich habe eine ziemlich ausführliche Botschaft erhalten, die für Sie, als Amateurarchäologe oder als das, als was Sie sich gern sehen, von Interesse sein dürfte.« »Amateur -« Indy kannte den alten Mann in- und auswendig. Jedes Wort, das ihm über die Lippen kam, seine umständliche Art, sich dieses Themas anzunehmen, das alles verriet ihm, daß etwas Großes im Gange war. Und so fügte er sich widerwillig und hielt den Mund. »Ich habe mir die Freiheit genommen, eine neue Aufgabe für Sie an Land zu ziehen«, verriet Pencroft ihm. Indy veränderte seine Sitzposition. Er richtete sich kerzengerade auf dem Stuhl auf und schaute dem alten Mann unverwandt in die Augen. »Warten Sie mal!« sagte er. »Sie haben mich nicht mal gefragt, ob ich daran interessiert bin, bei Ihren Spielchen mitzuspielen!« Pencroft grinste. Den Köder hatte er ausgelegt. Und er wußte, daß Indy anbeißen würde. »Als ob daran Zweifel bestehen würde«, sagte der alte Herr selbstgefällig.
NACHWORT In dem Roman Indiana Jones und die weiße Hexe sind wir an die Grenzen des historisch Belegbaren vorgestoßen, haben innegehalten und begonnen, den Faden weiterzuspinnen und uns auszumalen, was dahinter liegt und dann den ›großen Sprung‹ in die Zauberei, Magie und Hexerei gewagt. Bevor wir die ›harten und geschichtlich belegbaren Fakten‹ hinter uns lassen so drücken sich Geschichtswissenschaftler aus, die sich nur an nachweisbare Tatsachen halten - lassen Sie uns die Orte besuchen, wo solche Magie nichts Besonderes ist und zurückreicht bis zu jenen Tagen, in denen die ersten schriftlich festgehaltenen Namen und Ereignisse auftauchen. Ein zentraler Ort in unserer Geschichte ist natürlich der New Forest im Südwesten Englands gewesen. Für den Leser ist es wichtig zu wissen, daß jede Stadt, jedes Dorf, jeder Wald und jede Ebene, die in diesem Buch Erwähnung fanden, tatsächlich existiert. Der Autor dieses Buches gehörte vor Jahren zu den Piloten, die den Atlantischen Ozean in einer ›alten‹ Consolidated Catalina, einem Amphibienflugzeug, einem großartigen und wunderbaren Flugboot, überquert haben. Diese Maschine wurde von der Navy der Vereinigten Staaten und kommerziellen Fluggesellschaften vor dem Zweiten Weltkrieg häufig eingesetzt. In unserer technisch überholten Catalina flogen wir über die Azoren nach Portugal und Spanien, um schließlich ganz sanft im Hafen von Plymouth zu landen, wo wir zu unserem ›zweiten Abenteuer‹ aufbrachen, bei dem wir all die Orte besuchten, die auf den vorangegangenen Seiten beschrieben wurden. Nachdem wir Plymouth den Rücken gekehrt hatten, statteten wir dem Hauptluftstützpunkt der Fleet Air Army einen Besuch ab, ganz in der Nähe der Stadt Yeovil. Und später lernten wir
die Salisbury Plain und den ehrfurchteinflößenden New Forest kennen. Wir reisten abwechselnd per Flugzeug, mit dem Auto und zu Fuß. Für mich persönlich war dieses Abenteuer eine Art Rückkehr. Im Jahre 1961 hatte ich das Vergnügen, mit einer Boeing Flying Fortress nach England fliegen zu dürfen. Eine meiner engsten und treuesten Freundinnen war Dame Sy-bil Leek, die - das hatte sich herumgesprochen - eine ›weiße Hexe‹ und Glaubensanhängerin von Wicca war. Die Anhänger dieser Glaubensrichtung lebten und wohnten nicht nur im New Forest, sondern auch in anderen Städten und Dörfern dieses faszinierenden Landstrichs im Südwesten des Vereinigten Königreichs. Aufgrund von Sybils Erzählungen gelang es mir, St. Brendan Glen zu lokalisieren. Die Bäume, dieses besondere Laubwerk, die sich windenden Straßen und eigenartigen Nebel, das Ausüben des Zaubers, all das kann man dort finden. Der New Forest und diese magische Ansiedlung St. Brendan Glen, die Midlands und die Plains, die purpurnen Hügel und Berge, die Zigeuner - all das war äußerst real, überaus bemerkenswert und erlaubte zusammengenommen einen kühnen und weiten Blick zurück in die Vergangenheit, die voller Wunder und Geheimnisse ist. Diese Eindrücke brachten mich auf die großartigen und wundersamen Geschichten, die sich um König Arthur und seine Geliebte Ginevra ranken. Die Überlieferungen zeugen von einer gewalttätigen und bösen Schlacht bei Camlin in Cornwall. Hier wurde König Arthur verletzt, und seine Gefolgsleute trugen ihn vom Schlachtfeld zu einem Kloster entweder in oder in der Nähe von Glastonbury, wo man sich seiner annahm. Glastonbury und dessen Umgebung haben im Laufe eines Jahrtausends selbstverständlich ihr Aussehen verändert. Das Land sieht heute anders als damals aus. Glastonbury schmiegt sich an die Gebirgsausläufer des berühmten Hochlandes, wo man auf Orte wie Tor, Chalice, Edmund's und Wearyall trifft. Der Kanal von Bristol war eine Art Durchlaß für Kähne und Boote und Frachtschiffe. Damals war der Wasserstand wesentlich höher als
heute, und all diese Städte lagen auf Hügeln, die in Wahrheit die Mitte eines Eilandes markierten. Früher gab es in dieser vom Wasser geprägten Landschaft viele solcher Inseln: Wedmore, Beckery, Athelney und Meare. Die Ortschaft, die wir heute unter dem Namen Glastonbury kennen, trug früher den zungenbrecherischen Namen Ynyswitrin, was übersetzt Glassy Island - gläserne Insel - heißt. In Ynyswitrin hatten sich Bauern angesiedelt, die sich jedes Jahr über die erstaunlichen Ernteerträge freuten, die das Land hergab. Weil die Erde so fruchtbar war, kam die Sage auf, daß Apfelbäume, die normalerweise Jahre brauchten, um so weit zu reifen, daß sie Äpfel trugen, innerhalb von Tagen erntefähige Früchte abwarfen. Glassy Island war ein so ertragreicher Landstrich, daß die Menschen glaubten, sie hätten dies der Macht der Zauberer und Hexenmeister zu verdanken. Die Namen Ynyswitrin und Glassy Island fielen im Lauf der Zeit der Vergessenheit anheim, und das fruchtbare Land erhielt später den Namen Insel von Avalon, der von Avalia herrührt - was übersetzt Apfel heißt. Avalon wurde Jahrhunderte später mit den Legenden einer entfernten Zauberinsel selben Namens gleichgesetzt. Arthur und seine Braut wurden durch den Handstreich eines Zauberers auf diese geheimnisumwobene Insel gebracht und waren zum Warten verdammt, bis Arthurs Tapferkeit, die sich in Schlachten offenbarte, ihn aus seinem Tiefschlaf riß und er wieder gegen Englands Feinde ankämpfen konnte. Die Insel Avalon vor der Küste Englands geriet ebenfalls in Vergessenheit und bekam den Namen, unter dem sie heute noch bekannt ist - Glastonbury. Im Jahre 1705 wurde sie zu einem Borough - zum Stadtbezirk Englands mit Vertretung im Parlament - erklärt. Es dauerte noch lange, bis Glastonbury sich in ein in der ganzen Welt anerkanntes Zentrum der Lehre verwandelte, wo es zahllose Bibliotheken gab und alles mögliche unterrichtet wurde. Eben an diesem Ort wurde zum ersten Mal auf den britischen Inseln der Name Jesus Christus erwähnt. Geschichte und Überlieferungen vermischen sich hier ebenfalls, denn die
alten Schriftgelehrten hielten fest, daß Joseph von Arimathea schon sechzig Jahre nach Christi Geburt von einer neuen Religion kündete. Zu jener Zeit hatte dieser Name viel Gewicht, und Arimathea ließ sich eine Weile lang auf der Insel Ynyswitrin nieder. Und da haben wir nun die direkte Verbindung von Arthur und den Rittern der Tafelrunde zu ihrer Ergebenheit gegenüber der neuen Religion. Die Nachfahren der ersten Siedler sind der festen Überzeugung, daß Joseph die Schale des Letzten Abendmahls nach England gebracht hat. Er und seine engsten Freunde haben diese Schale laut der Überlieferung an der Stelle vergraben, die heute unter dem Namen Chalice Hill bekannt ist. Viele Jahre nach dem Tod von Arthur und seiner Königin wurde ihr Sarg aus der ursprünglichen Grabstätte entfernt und auf dem Kirchhof in Avalen erneut in die Erde gebettet. Ungefähr achtzig Jahre später statteten Edward I. und seine Gattin dem Friedhof einen Besuch ab. Edward, der es nicht richtig fand, daß eine solch herausragende Gestalt so einfach auf einem Kirchenfriedhof zur letzten Ruhe gebettet worden war, veranlaßte, daß die sterblichen Überreste unmittelbar vor dem Altar des Klosters bestattet wurden. Diese neue Ruhestätte erhielt dann eine Inschrift, die der Besucher von heute noch lesen kann: Hier liegt König Arthurs Sarg. Im Jahr 1191 wurden offenbar die sterblichen Überreste von König Arthur und seiner Königin südlich der Lady Chapel entdeckt. Am 19. April 1278 wurden die Gebeine in Anwesenheit König Edwards und seiner Gattin in einem schwarzen Marmorsarg an diese Stätte verlegt. Der Sarg hat hier bis zur Zerstörung der Abtei im Jahre 1539 geruht.
Was die Frage aufwirft, ob die Schwerter Excalibur und Caliburn tatsächlich Zauberwaffen waren, die von König Arthur in den Schlachten verwendet wurden. Man darf nicht vergessen, daß die Menschen damals eine Vorliebe für Magie, Geheimnisse, Hexen- und Zauberkunst hegten und daß die Mehrheit der Menschen, die damals gelebt haben, weder lesen noch schreiben konnten und insofern in einer Welt lebten, deren Wunder über ihre Vorstellungskraft und ihre Bildung bei weitem hinausging. Diese Menschen erfuhren von der Vergangenheit durch Lieder, Gedichte und durch die mündlichen Überlieferungen, am Lagerfeuer ausgetauscht. Daß König Arthur existiert hatte, wurde niemals auch nur für eine Sekunde in Frage gestellt. Um den König ranken sich die Geschichten seines Schwertes, welches ihm im Kampf gegen seine Feinde unermeßlichen Vorteil einräumte. Die beliebteste und berühmteste Geschichte über das Kampfschwert König Arthurs, die in unzähligen Versionen überliefert wurde, ist die, in welcher das Schwert aus dem Stein gezogen wurde. Urplötzlich taucht es auf, außerhalb eines Dorfes, in dem sich damals gerade eine Gruppe Kämpfer versammelt, um einen neuen König zu wählen. Als sich diese Männer staunend um den Felsen scharen und das im Stein festsitzende Schwert betrachten, taucht Merlin auf und verkündet, daß derjenige, dem es gelingt, diese magische Klinge aus dem Stein zu ziehen, der wahre König von England ist. Nachdem eine Horde muskulöser Ritter und andere grobschlächtige Burschen der Aufgabe nicht gerecht werden, erscheint der Knabe Arthur auf der Bildfläche, umklammert das Heft des Schwertes Excalibur und zieht es mühelos aus dem Felsen. Damit demonstriert der Knabe seinen rechtmäßigen Anspruch auf den Thron. In den vielbändigen Schriften, in denen die Geschichte Arthurs, Excaliburs, Camelots und der Ritter der Tafelrunde festgehalten sind, werden unterschiedliche Versionen über das Entstehen Excaliburs verbreitet. In einer Geschichte heißt es, daß das Problem der Thronbesteigung folgendermaßen gelöst wurde: In seinem Versteck in den Bergen murmelt Merlin
Beschwörungen vor sich hin und erschafft unter Zuhilfenahme von Lösungen, Pulvern und geheimen Zutaten Excalibur, das Schwert der Flamme, das unbezwingbare. Dagegen steht die allseits bekannte Geschichte der Dame des Sees, die den unbefleckten Geist des Guten repräsentiert. Arthur gelangt auf unerklärliche Weise zum See, wo der Arm der Dame des Sees, in ein geheimnisvolles Licht getaucht, das Schwert hochhält und es ihm reicht. Eine Zeitlang glaubte man, daß es zwei Schwerter gab. Man nahm an, daß Excalibur das Zeremonienschwert war, das im Stein steckte (oder in anderen Versionen in einem Amboß, der auf einem großen Felsen lag) und nur einem Zweck diente, nämlich Arthur zum rechtmäßigen König Britanniens zu ›wählen‹. Caliburn hingegen war das Schwert für die Schlachten. Die Geschichten ändern sich aber. Irgendwo wird behauptet, daß Excalibur entweder verlorengegangen ist oder - das ist die Fassung, die man am häufigsten hört - schließlich wieder in den See geworfen wird, aus dem es Arthur gereicht wurde, um dann unter die Wasseroberfläche zu tauchen und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Und damit konnte Caliburn von einer Generation an die andere weitergegeben werden. Caliburn, das Kampfschwert, konnte so die Geschichte überdauern und schließlich in die Obhut des oder der Clans gegeben werden, die im New Forest heimisch waren. In unserem Buch dem Clan der St. Brendans. Je länger die Recherche dauerte, je tiefer man in den Strom der Überlieferungen und in die unterschiedlichen Fassungen eintaucht, desto deutlicher wird, daß die schiere Vielfalt der Versionen einen ganz wichtigen Fakt über Excalibur und Caliburn in den Hintergrund geraten läßt. Beide Namen bezeichnen nur ein Schwert. Stonehenge in Wiltshire ist in der ganzen Welt bekannt und Gegenstand von vielen Geschichten, Untersuchungen, Studien und permanent neuen Schlußfolgerungen. Kaum eine andere von Menschenhand gefertigte Struktur
zieht soviel Aufmerksamkeit auf sich wie die gigantisch großen, im Kreis aufgestellten Steine in Stonehenge. Sie stehen auf einer Anhöhe, aber das Zentrum dieser kolossalen Steinansammlung ist noch aus einer Entfernung von mehreren Meilen zu erkennen. Die unglaubliche Leistung, diese Riesensteine von Hand auf den Hügel hochzuschaff en und dort aufzustellen - und das vor sage und schreibe fünfhundert Jahren - übertrifft die Phantasie. Es wird immer noch darüber diskutiert, ob Stonehenge eine religiöse Versammlungsstätte oder ein Zentrum astrologischer Studien oder ein Ort, der unterschiedlichen Zwecken diente, gewesen ist. Unser Interesse an diesem Thema, das in Indys Erlebnis verarbeitet wurde, ist persönlich. Ich bin dort gewesen und habe beobachtet, wie Menschen äußerst seltsam auf die Energie reagieren, die in Stonehenge gesammelt und/oder ausgestrahlt wird. Auf gewisse Besucher, die über ein Energiefeld im Körper zu verfügen scheinen, das im Einklang mit dem in Stonehenge steht, hat diese Energie einen starken Einfluß. Manch einer ist wegen des Energiefeldes in Ohnmacht gefallen; andere hatten das Gefühl, von einem Blitz getroffen worden zu sein. Hierbei handelt es sich nicht um ein Märchen, sondern um etwas, das der Autor des Buches am eigenen Leib erfahren hat und insofern bezeugen kann. Alles, was in diesem Roman über Stonehenge geschrieben wurde, ist nicht fiktional. Was uns auf eine Reise bringt, die eher nach Fiktion als nach der Realität riecht: die Reise in der ›Graf Zeppelin‹ von Friedrichshafen nach New York. Jedes Wort, jedes Detail, jede Beschreibung des Luftschiffs ist sorgfältig geprüft. Auf einem Flug wurde es bei einem schweren Sturm stark beschädigt. Der Wind zerstörte den hinteren Teil des Luftschiffes, und die Mannschaft mußte zu ihrer Befürchtung (und die Passagiere zu ihrem Entsetzen) feststellen, daß die große Backbordseitenflosse kaputt war und so aussah, als ob sie von einer riesigen Schreddermaschine zerkleinert worden wäre. Nun flatterten hinter dem großartigen Luftschiff riesengroße Stoffetzen. Falls man so einen
Schaden nicht repariert, geht man das Risiko ein, daß der Stoff sich in den außenliegenden Kontrollmechanismen verheddert und die Ruder stillegt, was dazu führt, daß die Mannschaft die Kontrolle über den Zeppelin verliert. Kapitän Hugo Eckener trommelte also seine Mannschaft zusammen und bat um Freiwillige, die aus dem Luftschiff kletterten und trotz des Sturms die Stoffetzen wegschnitten und die notwendigen Reparaturen durchführten. Vier Männer meldeten sich, übernahmen die brenzlige Aufgabe und reparierten den Schaden! Die ›Graf Zeppelin‹ war bis zum Jahre 1937 im Einsatz und war das erste Luftschiff, das mehr als eine Million Flugmeilen zurücklegte. Während seiner neunjährigen Betriebszeit als kommerzielles Flugzeug flog der Zeppelin des öfteren nach Nord- und Südamerika, überquerte den Atlantik 144 Male und transportierte mehr als dreizehntausend Passagiere sicher an ihren Zielort. Der Zeppelin unterstand der direkten Befehlsgewalt von Hermann Göring, dem Reichsminister für Luftfahrt. Ihm unterstand auch die deutsche Luftflotte. Im Jahre 1940 leerten Ingenieure die Gaszellen und zerlegten den Zeppelin in seine Einzelteile. Mit den Duraluminiumstützen wurde ein Radarturm errichtet, der die Deutschen vor aus England kommenden Fliegern und Bombern warnen sollte. Nun kommen wir zu den weniger bekannten Details der angestrebten Allianz zwischen den Konföderierten und England, bei der die Briten Gold und Sicherheit gegen die sofortige Lieferung von Baumwolle zu tauschen beabsichtigten. Die in diesem Buch erzählte Geschichte entspricht genau dem ›Handel‹, den die beiden Regierungen abschließen wollten. Der genaue Wert des Goldes wurde nicht verraten, sondern nur, daß eine unglaubliche Menge dieses Edelmetalls im Spiel war und daß England darüber hinaus versprochen hatte, die Konföderierten mit Waffen, Munition und anderen Materialien zu versorgen, die im Süden knapp waren. Der Flug von New York nach Jacksonville in der Sikorsky S-38 der U.S. Navy
entspringt nicht der Einbildungskraft. Diese Maschine wurde als Patrouillenbomber von der Navy, von Pan American und auch von anderen Fluglinien wie auch von Privatfirmen eingesetzt. Die Routen, die Indy, Gale und Caitlin eingeschlagen haben, und der baumlose Landstrich, die Pine Barrens in Nordflorida, haben sich seit dem Jahre 1864 kaum verändert. Schließlich kommen wir zu den Bewegungen der Kavallerie, Infanterie und der Artillerie der beiden Teilnehmer in den Schlachten bei Olustee Station und von Ocean Pond. Auch hier hält sich die Beschreibung der Vorgänge detailgetreu an die historischen Ereignisse. Ich bin Stephen Knight aus Lake City, Florida, einem der Hauptakteure der unglaublich realistischen Nachstellung dieser Schlachtszenen zu tiefem Dank verpflichtet. Ich bin dort gewesen, habe gespürt, wie die Erde unter dem Ansturm von Hunderten von Pferden erzittert, unter dem Donnern der schweren Artillerie, dem Gewehrfeuer der Musketen und dem Kriegsgeschrei der Blau- und Grauröcke. Ich empfinde es als Ehre, daß man mich erneut eingeladen hat, an diesem Schauspiel teilzunehmen, und zwar diesmal in Uniform als richtiger ›Teilnehmer‹. Zu guter Letzt zu Ihrer eigenen Berührung mit dem Zauber. Schlagen Sie noch einmal die Seiten auf, auf denen die Fahrt durch den New Forest und die Art und Weise beschrieben wird, wie ein Streifen Papier so verdreht werden kann, daß er nur noch eine Seite hat. Führen Sie mit Ihrem eigenen Streifen Papier eine halbe Drehung durch, verbinden Sie die Enden mit Papier und Sie erhalten - o Wunder! - einen Möbiusstreifen! Und egal, was Sie nun anstellen, der Streifen wird nur eine Seite haben. Was, wie wir alle wissen, ganz und gar unmöglich ist. Jedenfalls in dieser Dimension.