Holger Friedrichs
Die Hexe von Arni Version: v1.0
Während draußen der Wind düstere Wolken über die Bergregion trieb, ...
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Holger Friedrichs
Die Hexe von Arni Version: v1.0
Während draußen der Wind düstere Wolken über die Bergregion trieb, Blitze und leichtes Donnergrollen ein Gewitter ankündigten, verriegelte der Bauer Nevio Ve rona wie an jedem Abend die Türen und Fenster seiner Steinhütte. Anschließend nagelte er sie zusätzlich noch mit dicken Brettern zu. Schlotternd vor Angst und Kälte krochen seine Frau Claudia und der elfjährige Sohn Fausto in ihre Betten. Der Familienvater setzte sich bei Kerzenlicht mit einer Flasche Rotwein an den Kamin. Seine geladene Flinte war an den Tisch gelehnt, bereit, zwei Grobschrot-Patronen gegen jeden auszuspucken, der versuchte, in das schützende Heim einzudringen. Das Grauen ging um, würde auch die drei früher oder später packen – vielleicht schon diese Nacht …
Terror und Verzweiflung herrschten in Arni, dem 300-Seelen-Dörf chen, hoch oben – 1600 Meter über dem Meeresspiegel – in den bi zarren Marmorbergen gelegen. Noch war die kleine Familie Verona von dem Zugriff des Bösen verschont geblieben. Doch Nevio und seine Lieben wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Mächte der Finsternis auch in sie ihre Krallen schlagen würden. Flucht? Sinnlos. Seit Wochen war Arni von der Außenwelt abge schnitten. Kein Telefon, kein Internet, kein Fernsehen, kein Radio, keine Post. Nichts. Längst stand die kleine Kirche verlassen da. Der Priester war tot. Wer versuchte, auszubrechen und davonzulaufen, wurde gefasst und zurück in die Siedlung geschleppt. Kein Mensch aus den ohnehin weit entfernt gelegenen Nachbar orten versuchte, nach Arni zu gelangen. Seit jeher schon galten die ›Montanari‹, wie man sie nannte, als grimmige, kontaktscheue Eigenbrötler, denen das Wort Gastfreundschaft fremd war. Außerdem wurde nun schon seit Wochen zusätzlich gemunkelt, dass das Dorf verwunschen war. Die abergläubischen Bauern und Schafhirten aus der Umgebung waren fest davon überzeugt, dass man den Fluch der Dämonen auf sich zog, sobald man Arni auch nur für kurze Zeit betrat oder aus der Ferne betrachtete. Heller flammten die Blitze, drohender rollte der Donner gen Tal. Rauschend ging ein Regenguss auf die Häuser nieder, die sich wie Schutz suchend auf das Hochplateau duckten. Nevio Verona nahm noch einen kräftigen Zug aus der Weinfla sche, um sich Mut anzutrinken. Anschließend hängte er sich den Rosenkranz mit dem eisernen Kruzifix, einen Nachlass seiner Mut ter, um den Hals. Ob das etwas nützen würde? Er wusste es nicht. Heute Nacht ist es so weit, dachte der Mann. Gott ist mein Zeuge, ich täusche mich nicht. Er dachte darüber nach, wie nützlich es gewesen wäre, wenn sei nerzeit, als seine Eltern die Hütte errichtet hatten, auch ein Keller mit eingebaut worden wäre.
Stattdessen hatte das Haus eine separate Scheune. Für die Feld arbeit und das Einlagern der Ernte sicherlich ein großer Vorteil – wertlos jedoch als provisorischer Unterschlupf in dem Bestreben, sich dem Zugriff der Hexe zu entziehen. Plötzlich ging es los. Wie mit Eisenfäusten hämmerte es von außen gegen die Eingangstür. Ein schrilles, alles übertönendes Gelächter ließ Nevio zusammenzucken. Nebenan im Schlafzimmer fing Fausto an zu weinen. Seine Mutter versuchte, ihn zu trösten. Doch sie hatte selbst zu viel Angst. Grauen und Terror schnürten ihr die Kehle zu. Sie brachte keinen Laut heraus. Sie konnte ihr Kind nur ganz fest an sich drücken …
* Ofelia! Sie war da und verlangte Einlass. Nevio leerte die Flasche, sprang auf, griff sich die Flinte und rich tete sie auf die Tür. Er spannte die Hähne der Doppelläufigen und schrie: »Vade retro! Fort! Hau ab, du Konkubine des Satans!« Eine glutige Feuerzunge leckte draußen gegen die Tür, die Holz bohlen knisterten und knackten. Plötzlich lösten sich die Scharniere und die Nägel flogen wie Geschosse durch die Luft. Die Ver stärkungsbretter fielen herunter, von der ganzen Tür blieb nur ein Haufen Asche übrig. Kerzen und Kaminfeuer erloschen mit einem Schlag. Fauchend brach Ofelia in das Haus ein. Sie war die Inkarnation der Hexe schlechthin – schwarze, fast bodenlange Haare, das schmale Gesicht kalkweiß, rote Augen, ein pechschwarzes Gewand. Das war sie, die Wesenheit, die aus dem Nichts gekommen zu sein schien. Niemand wusste, warum sie ausgerechnet Arni als ihr Do
mizil ausgewählt hatte. Doch hier hatte sie sich nun eingenistet, hier schien sie jetzt für ewige Zeiten bleiben zu wollen. Keiner wagte es, gegen Ofelia aufzubegehren. Sie terrorisierte die Frauen, nahm ihnen die Männer weg, malträtierte die Kinder. Sie machte sich ein sadistisches Spiel daraus, nicht alle zu entführen und gefangen zu setzen, sondern einen nach dem anderen. Ihr wahnwitziges Ziel war es, das ganze Dorf ihrem Herrn, dem Teufel, zu opfern und von ihrem erklärten Hauptquartier aus die ge samte Umgebung zu erobern. Und wieder einmal, wie so oft, schlug sie in dieser Nacht zu. Ne vio Verona feuerte seine Flinte auf sie ab. Doch der Schrot prallte wie Reis von der Hexe ab. Nichts konnte sie aufhalten, kein Rosenkranz, kein Gebet. Sie packte Nevio, zog den robusten Mann dicht zu sich heran. Mü helos klemmte sie ihn sich unter den linken Arm und betäubte ihn mit einem brutalen Fausthieb. Nun wandte sie sich seinem Sohn Fausto zu. Die Mutter wehrte sich mit aller Macht, wollte ihren Sohn nicht herausgeben. Aber Ofelia hieb mit einer Peitsche auf Claudia ein, bis diese ihr Kind losließ und sich blutend auf die Seite wälzte. Das Satansweib riss den jammernden Jungen an sich, keilte ihn unter dem rechten Arm ein und kehrte in die Wohnküche zurück. »Sei froh, dass ich dich leben lasse!«, schrie sie Claudia noch zu. Anschließend trat die Hexe durch die zertrümmerte Tür ins Freie, hob mit einem Satz vom Erdboden ab und flog mit ihrer Beute von einer ungestümen, dämonischen Kraft getrieben davon. Gewitter und Regen konnten ihr nichts anhaben, im Gegenteil, sie waren Komplizen bei ihrem grausigen Treiben. Allein, verletzt und verzweifelt, blieb Claudia in der Hütte zurück. Laut schrie sie um Hilfe und weinte. Doch niemand schien sie zu hören, niemand konnte ihr helfen …
* Ein Geländewagen rollte etwa zur selben Stunde auf einsamer Stre cke durch das nächtliche Bergland. Am Steuer saß Lazlo Braun, ein blonder Mann athletischer Statur. Der 33-jährige war der Assistent von Professor Gregor Lutring. Der knorrige und asketisch wirkende Mann saß im Fond des Fahrzeugs neben der bildhübschen rothaa rigen Ärztin Irina Kanter, Lazlos Freundin. Eine Leidenschaft, eine Mission verband diese drei Wissenschaft ler. Sie befassten sich seit Jahren mit Parapsychologie und hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Mächte der Finsternis aufzuspüren und zu vernichten. Sie waren ein Exorzisten-Trio. »Hier ist es«, sagte Lutring. »Endlich haben wir unser Nachtlager erreicht.« »Drei Stunden Fahrt«, stellte Irina fest. »Eine hübsche Strecke. Und nach Arni ist’s dann noch mal so weit, oder?« »Nicht ganz«, erwiderte Lazlo. »Bei schönem Wetter eine Stunde, bei schlechtem zwei.« Die einsam gelegene Locanda, Ziel ihrer Zwischenstation, war im Regen kaum auszumachen. Nur eine trübe Laterne vor der Ein gangstür verbreitete schwaches Licht. Lazlo stoppte dicht vor der Eingangstür. Im dröhnenden Gewitter sturm stiegen die drei aus. Sie holten ihr Handgepäck aus dem Kof ferraum und betraten das Lokal. Ein großer Raum mit einer kleinen Theke, nur schwach beleuchtet. An den zwölf Tischen saßen Männer mit ernsten Gesichtern, tran ken Wein, sprachen kaum ein Wort. Ihre Blicke richteten sich auf die Ankömmlinge. »Guten Abend«, sagte Lutring. »Na, das ist vielleicht ein Wetter, was?«
Wenn er eine Antwort erwartet hatte, so wurde er enttäuscht. Keiner der Einheimischen erwiderte etwas, niemand hieß die drei willkommen. Professor Gregor Lutring trat an die Theke und wandte sich an den dicken, bärtigen Mann, der am Zapfhahn stand und keinerlei Anstalten traf, ihn zu begrüßen. »Sind Sie der Inhaber? Alfonso Di Carmine?« »Ja, der bin ich.« »Haben Sie meine Zimmerbuchung erhalten?« »Davon ist mir nichts bekannt.« Dabei hatte der Gelehrte ein Fax und zusätzlich noch einen Brief geschickt. Er zog die Kopie aus der Jackentasche und legte sie dem Mann vor. Alfonso Di Carmine schaute angestrengt und auf das äußerste konzentriert auf das Papier, kratzte sich am Hinterkopf. Plötzlich erschien aus dem Hinterzimmer eine dunkelhaarige Frau. »Letizia«, stellte sie sich vor und reichte Lutring die Hand. »Sehr angenehm. Was kann ich für Sie tun?« Der Professor atmete auf. »Wir machen Fortschritte. Ich hatte ein Doppel- und ein Einzelzimmer bei Ihnen reserviert.« »Ja, das ist in Ordnung«, antwortete sie. »Ich bin Alfonsos Frau. Für die Zimmer bin ich zuständig, er weiß da nicht so genau Be scheid.« Neugierig und abweisend zugleich schauten die Gäste nach wie vor zu den Fremden auf. Hinter ihrer sichtlichen Animosität ver steckte sich mehr als nur Fremdenfeindlichkeit. Sie wirkten scheu, verschreckt, jedem Neuem, Unbekannten gegenüber furchtsam und misstrauisch. »Ich spüre es, wir sind dem Fall sehr nahe«, sagte Lutring zu sei nen Begleitern. »Hier kann man die Angst, die den Leuten in den Knochen sitzt, ja schon riechen.« Durch Zufall hatten sie von den mysteriösen Vorgängen in Arni
erfahren. Lutring hatte vor wenigen Tagen in seinem Studio einen mysteriösen Anruf erhalten. »Bitte«, hatte eine Mädchenstimme gesagt. »Kommen Sie nach Ar ni. Wir brauchen Ihre Hilfe. Nur Sie können uns helfen. Die Hexe … Sie ist …« Plötzlich war die Verbindung unterbrochen worden. Lutring hatte auf das Display seines Fernsprechers geschaut und sah die Nummer seiner Gesprächspartnerin. Ein Handy. Er hatte versucht zurückzu rufen, doch ohne Erfolg. Die Leitung war tot. Aber der Hinweis genügte. Lutring, eine geborene Spürnase, ging der Sache unverzüglich nach. Kein anderer konnte besser als er Fährten aufnehmen und verfolgen, die Kunde von den Phänomen des Jenseits gaben … Der Wirt der Locanda und seine Gäste hatten einen wahren Hor ror allein vor dem Namen des Dorfes, das wurde dem Trio schnell klar. Sie wollten einfach nicht reden, wurden auch nach einer von Lutring spendierten Runde Wein eher aggressiv als einlenkend. Der Professor beging den Fehler, sich offen nach Arni zu erkun digen. Da taten sie so, als hätten sie einfach nichts gehört. Sie schlürften ihren Wein und Carmine wandte sich einer neuen, immens wichtigen Aufgabe zu. Er begann, die schmutzigen Gläser zu waschen. Doch als Gregor Lutring, Lazlo Braun und Irina Kanter eine halbe Stunde später ihre Quartiere im oberen Stockwerk des Hauses bezo gen hatten, klopfte es plötzlich an beiden Türen. Es war Letizia, die Frau des Wirtes, die zu ihnen kam. »Sie müssen entschuldigen«, sagte sie. »Sonst geht es hier nicht so unfreundlich zu. Aber in den letzten Monaten hat sich ein ganz schlechtes Klima unter den Leuten entwickelt.« »Deswegen sind wir hier«, sagte Lutring. »Morgen früh fahren wir weiter.« »Wollen Sie wirklich nach Arni?«, wollte sie wissen.
»Ja«, erwiderte der Professor. Entsetzt starrte Letizia Di Carmine die drei an. »Ist das Ihr Ernst?« »Ja«, bestätigte nun auch Irina. »Wissen Sie, dass Sie sich in Gefahr begeben?« »Natürlich«, antwortete der Professor. »Dort soll eine Hexe ihr Un wesen treiben. Es gibt zwar Menschen, die nicht an die Existenz sol cher Wesen glauben. Wir aber wissen, dass es sie gibt.« »Ja«, sagte die Wirtin, »es stimmt. In Arni geht der Spuk der Hölle und des Teufels um. Keiner traut sich mehr dorthin. Seid vorsichtig, dieses Weib hat schon viele Menschen umgebracht. Sie will be stimmt das ganze Dorf ausrotten.« »Warum?«, fragte der Professor. »Arni ist ein verwunschener Ort, das sagen viele Menschen schon sehr lange«, entgegnete Letizia. »Und warum unternimmt niemand etwas?«, fragte Lazlo. »Alle haben Angst, selbst verzaubert oder ermordet zu werden. Die Polizei will von der Sache nichts wissen. Die Kirche unternimmt auch nichts, obwohl es doch wohl ihre Angelegenheit wäre, Teufel und Hexen zu vertreiben.« »Allerdings«, meinte Lutring. »Aber jetzt sind wir da. Der Kampf gegen Hexen und Gespenster, Monster und Besessene ist unsere Spezialität. Wir sind Exorzisten.« »Gott gebe Ihnen die Kraft, es zu schaffen«, sagte sie Wirtin. »Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute.« Sie bekreuzigte sich und ging …
* Am nächsten Morgen war das Trio schon um sechs Uhr wieder auf den Beinen, frühstückte ausgiebig, zahlte die Rechnung und brach
auf. Es hatte aufgehört zu regnen. Doch je höher sie auf der Schotter piste – die den Namen Straße nicht verdiente – in das Gebirge auf stiegen, desto dichter wurde der Nebel. Nur sehr langsam kamen sie voran. Später aber, hinter einem längeren Tunnel, riss die Dunstwand jäh auf und gab die Sicht wieder frei. Einst hatte hier ein Schild gestanden, das die Richtung nach Arni wies. Jetzt lag es auf dem Boden, der Pfahl war aus der Erde gerissen. Lutring aber wusste, wo sie abbiegen mussten, als wäre er früher bereits einmal hier gewesen. Noch fünf Kilometer fuhren sie auf einem Pfad, der ohne Leitplanke hart an einem Abgrund vorbei führte – dann hatten sie das Dorf endlich erreicht. Grau und unscheinbar standen die Steinhütten mit den charakte ristischen Schieferdächern dort, gruppierten sich um einen ovalen Zentralplatz. Wenige Bäume verliehen der Ortschaft einen dürftigen Schmuck, ansonsten gab es an Vegetation nur ein paar struppige Bü sche und dürres, mattgrünes Gras. Die drei fuhren langsam die unbefestigte Straße entlang, die sich zwischen den Steinhütten hindurch wand. Schließlich stoppten sie, verließen den Wagen und schauten sich ein wenig um. Leer war der Ort, wie seit langer Zeit verlassen. Ein Geisterdorf. Kein Mensch zeigte sich, kein Tier. »Vielleicht ist schon alles vernichtet und ausgebrannt«, sagte Lazlo Braun. »Es ist doch möglich, dass wir bereits zu spät kommen.« »Das glaube ich nicht«, sagte der Professor. Plötzlich hob er den Kopf. »Da! Hört ihr das?«
Ein Wimmern, nur ganz schwach zu vernehmen. Die drei gingen den Lauten nach. Sie führten sie zu dem Haus von Nevio Verona. Vorsichtig betraten sie die Hütte. Hier wies einiges auf einen Kampf hin, der erst vor kurzem stattgefunden haben konnte. Eine demolierte Tür, ein umgestürzter Tisch, umgekippte Stühle, Kerzen am Boden und dicker Ruß im Kamin, außerdem noch eine Doppelflinte in einer der Raumecken. Lutring untersuchte sie und stellte fest, dass die beiden in den Läufen steckenden Patronen leer waren. »Sie ist hier gewesen«, sagte der Professor. »Ich spüre Hexenge ruch.« Im Schlafzimmer stießen Lutring, Lazlo und Irina auf Claudia Ve rona. Die Frau weinte, wollte ihrem Leben ein Ende bereiten. Vor sichtig nahm Irina ihr das Messer ab, mit dem sie sich die Pulsadern hatte aufschneiden wollen. Sie setzte sich neben sie auf das Bett und nahm sie tröstend in den Arm. »Wer seid ihr?«, fragte Claudia. »Was wollt ihr?« »Helfen«, antwortete Lutring und legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »Fangen wir bei Ihnen an. Was ist hier passiert? Ist es die Hexe, die Sie derart zugerichtet hat?« Claudia zuckte zusammen. »Sie kennen Ofelia?« »Noch haben wir nicht das Vergnügen gehabt«, entgegnete der Wissenschaftler. »Am besten erzählen Sie mir gleich, was geschehen ist. Anschließend sehen wir weiter.« Irina holte ihren Verbandskasten aus dem Geländewagen, versorg te die blutigen Wunden der Frau mit einem Desinfektionsmittel und verband sie. Lazlo reparierte unterdessen die Tür und räumte in der Wohnkü che auf, während Lutring im Kamin ein Feuer anzündete. Schließlich hatte sich Claudia wieder im Griff. Sie berichtete, wie Ofelia in der vergangenen Nacht ihren Mann und ihren Sohn ent
führt hatte. Sie erzählte alles, was sie wusste und erklärte am Ende: »Wer hier im Ort noch am Leben ist, verkriecht sich, wo er kann und hofft nur das eine: dass nicht auch er geholt wird. Früher haben wir hier in Arni zusammengehalten und uns untereinander geholfen. Das gibt es nicht mehr. Wir sind alle wie Tiere geworden – schlimmer noch.« »Übrigens«, sagte Irina. »Wir haben weder Hunde noch Katzen, Schafe oder Ziegen gesehen.« »Die hat sie alle gerissen und verzehrt«, erwiderte die Bäuerin. Sie schüttelte sich vor Grauen. »Ihre Gier ist grenzenlos. Das schlimms te aber ist, dass sie auch eine Menschenfresserin ist.« Bei Claudia fanden die drei Unterkunft. Den Geländewagen ver steckten sie in der Scheune. Schließlich setzte Lutring der verzweifelten Frau auseinander, warum sie hier waren und welches ihr Vorhaben war. »Natürlich werden wir alles versuchen, um auch Ihren Mann und Ihren Sohn zu befreien«, versprach er. Doch Claudia Verona bewegte nur immer wieder verneinend den Kopf. »Nein, das schafft ihr nicht. Sie ist zu stark. Sie wird uns alle umbringen. Vielleicht haben wir es verdient. Wir sind ja alle Sünder, hat der Pfarrer immer gesagt.« Das Trio unternahm einen Rundgang durch den Ort. Wer hielt sich da noch versteckt, der ihnen bei ihrer selbst gesetzten Aufgabe behilflich sein konnte? Hin und wieder hatten die Exorzisten den Eindruck, dass jemand sie beobachtete. Leise, knisternde Geräusche schienen darauf hinzu weisen. Doch immer, wenn sie einen Versuch unternahmen, den oder die Neugierigen auszuspähen, herrschte sofort wieder Toten stille …
*
Miria Bellandi und Sandro Grossi, ein junges Liebespaar, hatten von Anfang an von ihrem sicheren Versteck aus das Erscheinen des Tri os verfolgt. Die zwei wohnten in einem geräumigen Erdloch, das früher ein mal als Kartoffelkeller gedient hatte. Diesem Refugium hatten sie es zu verdanken, dass Ofelia sie bislang noch nicht aufgestöbert hatte. Die Luke, die ins Innere der Grube führte, war von außen nicht zu erkennen. Sie war mit Grassoden beschwert, die nicht nur der Tar nung, sondern auch der Wärmeisolierung dienten. Innen hatten sich die zwei so gut wie möglich eingerichtet. Sie hatten dicke Wolldecken für ihr Nachtlager und noch ausreichend zu essen und zu trinken. Sie brauchten sich nur auf einen Hocker zu stellen und die Luke leicht anzuheben, dann konnten sie einen Rundblick ins Freie werfen, ohne selbst gesehen zu werden. So auch jetzt. Miria und Sandro verfolgten, wie der Geländewagen im Ort stoppte, wie das Trio ausstieg und schließlich die Hütte der Veronas betrat. Miria und ihr Freund waren verlobt. Sie hatten in Kürze heiraten wollen. Ofelia hatte alles zunichte gemacht. Sie hatte den Pfarrer ge tötet und die Kirche angezündet. Sie hatte Mirias Vater, einen Wit wer, entführt und Sandras Eltern in einen Abgrund gestürzt. Die beiden jungen Leute hatten jetzt nur noch sich. Also hatten sie ihre ursprünglichen Wohnungen verlassen und hausten jetzt in dem Versteck. Rächen wollten sie sich an Ofelia, doch sie wussten nicht, wie sie es anstellen sollten. Allein waren sie zu schwach und auf die Solidarität der übrigen Dörfler konnten sie nicht hoffen. Alle hatten viel zu viel Angst, um einen Vorstoß gegen die Hexe zu wagen. Miria hatte Professors Lutrings Bücher gelesen und auch seine Adresse in Erfahrung gebracht. Mit dem letzten Handy, das im Ort verblieben war, hatte sie bei ihm angerufen. Doch plötzlich war der
Akku erschöpft. Aufladen konnten sie ihn nicht. Ofelia hatte sämtli che Stromleitungen im Ort gekappt. »Professor Lutring und sein Team«, sagte Miria. »Ich bin mir si cher, dass sie es sind. Wir müssen ihnen helfen, koste es, was es wolle.« »Aber wie?«, fragte Sandro. »Es wird schon einen Weg geben …«, murmelte Miria. »Wir müssen uns mit ihnen zusammentun. Aber das geht erst, wenn wir ganz sicher sind, dass sie auch wirklich die Leute sind, die ich mir vorstelle. Ein Foto von Lutring habe ich schließlich noch nicht gese hen.« »Misstrauisch bin ich auch«, sagte Sandro. »Vielleicht sind es ja bloß neugierige Ausländer, die hier ein bisschen herumspionieren wollen.« »Ich flehe zum Himmel, dass das nicht der Fall ist!«
* Nachdem sie gespeist hatten, bereiteten Lutring und seine beiden Helfer den Kampf gegen die Hexe in ihrem neuen Hauptquartier vor. Sie mussten so schnell wie möglich agieren und benötigten nur noch einen simplen Schlachtplan, bevor sie losschlagen wollten. »Ofelia ist eine fauchende, feuerspuckende Ausgeburt der Hölle«, dozierte der Professor, während sie mit Claudia zusammen am Tisch Kriegsrat hielten. »Sie ist imstande, jeden zu verzaubern und in ihren Bann zu schlagen. Sie ist gefährlicher als eine ganze Brigade von Geistern oder Untoten. Ihre Kategorie gehört zu den übelsten im Reich des Bösen.« Wo die Hexe ihr grusliges Domizil hatte? So viel wusste Claudia. »Das Satansweib haust in einer Höhle hoch über dem Ort«, sagte sie. »Eine ehemalige Mine. Keiner traut sich da hin. Aber ich kann
euch erklären, wie ihr hinfindet.« Lutring machte sich die erforderlichen Aufzeichnungen. Lazlo füllte unterdessen aus den Reservekanistern, die er vorsorglich mit an Bord des Geländewagens genommen hatte, den Treibstofftank des Wagens. Er überprüfte den Wasser- und Ölstand, kontrollierte die Reifen. In Kürze war das Trio startbereit …
* Die Höhle – ein düsterer, übel riechender Ort, in dem nur drei Fa ckeln brannten. Hier thronte Ofelia auf einem von zwei Totenköpfen gezierten Stuhl. Hier lagen auch ihre noch lebenden Opfer in Ketten. Alle anderen, so auch den Pfarrer, hatte sie auf bestialische Weise umge bracht und entweder verspeist oder dem Teufel geopfert. Nevio Verona und sein Sohn hockten mit fünf anderen Leidensge nossen auf dem Erdboden. Gefesselt, verschmutzt, ohne Essen und Trinken. Der Vater sollte Ofelias nächster Liebhaber sein; Fausto war dazu ausersehen, beim bald fälligen Hexensabbat dem Leibhaftigen offe riert zu werden. Bis dahin würden noch zwei Tage vergehen. Inzwischen vergnüg te sich Ofelia damit, ihre Opfer zu peinigen. Schmatzend verspeiste sie ein ganzes Lamm, während ihr die Hungernden zuschauen mussten. »Ihr habt es nicht anders verdient«, erklärte sie höhnisch. »Was habt ihr euch denn gedacht? Dass ihr eines Tages mal in den Himmel kommt?« Sie stieß ein schrilles Lachen aus. »Ihr Narren. In der Hölle sollt ihr schmoren wie alle anderen. Mein Herr wird die ganze Welt erobern. Es gibt keinen, der uns stoppen kann. Wir sind
überall auf dem Vormarsch.« »Warum das alles?«, fragte Nevio Verona mit heiserer Stimme. »Was erreichst du damit, wenn du uns das antust?« Ofelia beugte sich tief zu ihm hinunter und zischte: »Ewiges Leben. Und alle Laster, die ich mir gönnen will. Ist das nicht genug?« Gierig schlug sie die Zähne in das Lammfleisch, ließ sich wieder auf ihrem Thron nieder und trank in einem Zug den Kelch mit Rot wein leer, den sie sich zuvor eingegossen hatte. Anschließend trat sie erneut zu Nevio. »Komm jetzt!«, befahl sie. »Es wird Zeit.« Sie schleppte ihn in eine Nebengrotte. Hier entkleidete sie sich und baute sich provozierend vor ihm auf. »Wenn du willst, dass ich dir die Ketten abnehme, ist dies jetzt deine große Chance«, sagte sie mit heiserer, lasziver Stimme. »Lass mich in Ruhe!«, stieß Nevio wütend aus. »Bist du so prüde?«, fragte sie höhnisch. »Das glaube ich dir nicht. Komm, mit mir hast du deinen Spaß. Ich mache Sachen, von denen du mit deiner Frau im Bett nur träumst.«
* Professor Lutring betrat die Scheue, öffnete die Hintertür des Ge ländewagens und kontrollierte die Ladung. Hier lagen seine Waffen. Zwei umgebaute Feuerlöscher herkömmlicher Art mit einer flüssigen Mixtur aus allen möglichen Essenzen – BrennnesselExtrakt, Thymian, Rosmarin, Salbei, Bärwurz, Knoblauch, Pfeffer schote, Spinnenpulver und Krötengift sowie noch weitere sechs Sub stanzen, die eine positive Wirkung gegen die Aura des Teufels hatten.
Außerdem lag hier ein Flammenwerfer ganz besonderer Art. Auf Knopfdruck sprühte er eine Mischung aus Kupfersulfat-Lösung und Schwefelpulver aus, die in dieser Zusammensetzung eine verhee rende Wirkung gegen alle Ausgeburten des Bösen hatte. Und schließlich verfügte er über mehrere von einem Erzbischof geweihte Kruzifixe aus Aluminium, die unten zugespitzt waren und auch als Wurfgeschosse dienen konnten. Lutring hatte die Waffen selbst entwickelt. Doch würden sie dieses Mal ausreichen? Es bedurfte drastischer Mittel, den Abgesandten der Hölle jene übersinnlichen Kräfte zu nehmen, mit denen sie ihre Position be haupteten. Schon in zwölf Fällen hatte der Gelehrte Erfolg gehabt. Er hatte sowohl in Europa als auch in Übersee vom Teufel Besessene befreit, Untoten und Geistern ihr grausiges Handwerk gelegt, hatte Dämonen, Werwölfe und Vampire besiegt. Lutring bewältigte die Problematik mit Essenzen und Sprüchen, auf klassische Art. »Wir sind keine Ghostbuster«, pflegte er immer zu sagen. »Wir sind Alchemisten und Naturforscher.« Auch eine Wünschelrute gehörte zu seiner Ausrüstung – nicht zum Auffinden von Wasseradern, sondern zum Aufspüren von He xen, Besessenen und Dämonen. Zunächst galt es, den Standort der Hexe ausfindig zu machen. Claudias Erläuterungen waren zwar sehr hilfreich, aber den ge nauen Weg mussten die Exorzisten eben doch selbst ausfindig ma chen. Sie kletterten in ihr Fahrzeug und legten den ersten Teil des Weges mit dem Auto zurück. Doch bald mussten sie aussteigen. Die nun vor ihnen liegende Strecke konnte auch der beste Jeep nicht bewäl tigen. So bepackten sie sich mit ihrer kompletten Ausrüstung und mach ten sich auf den Marsch. Nach wie vor regnete es nicht mehr, aber der Schlamm und die rutschigen Felsen machte den Wissenschaft
lern die Aufgabe alles andere als leicht. Die Wünschelrute wies nach Osten, dorthin führte der Weg. Unter großen Mühen bewältigten die drei einige Anhöhen, stießen endlich auf einen Naturpfad – von dem sie hofften, dass es sich um den handelte, von dem Claudia berichtet hatte – und stiegen von nun an schnell immer höher in die Berge. Lazlo und Irina hielten schon vorsichtshalber die Waffen bereit. Mit einem Überraschungsangriff der Hexe mussten sie ständig rech nen. So erreichten Lutring und seine beiden Begleiter das Umfeld der Höhle. Hinter großen Felsen bezogen sie ihren Beobachtungsposten. Es sollte über zwei Stunden dauern, ehe etwas geschah. Erst im Zwielicht der Abenddämmerung kam die Hexe zum Vor schein. Ein blasses rötliches Schimmern kündigte ihr Kommen an. Sie trat aus dem Dunkel der Grotte ins Freie, reckte sich und gähnte. Da hatten sie sie nun vor sich. Auf Anhieb wirkte sie wie eine ätherische, übernatürliche Schönheit; groß, jung, schlank, mit einer wilden schwarzen Mähne und einem vom Wind aufgebauschten schwarzen Umhang. Doch wie der Schein täuschte. Die Aura des Bösen, die sie umgab, war selbst auf Distanz zu spüren. Ofelia hob witternd den Kopf, schnupperte wie ein Tier, als hätte sie etwas wahrgenommen. Lutring, Lazlo und Irina duckten sich tief zwischen die Felsen. Die Hexe stieß einen knurrenden Laut aus und zog sich wieder in die Höhle zurück. Kurz darauf hörten die drei Beobachter eine Peit sche knallen und das Schreien der Gefangenen …
*
»Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!«, raunte Lutring seinen Be gleitern zu. »Wir müssen sofort angreifen.« Er fürchtete, dass es um Stunden, vielleicht sogar nur noch um Mi nuten ging. Sie wagten den Vorstoß. Sobald die Dunkelheit sich voll ausge breitet hatte, pirschten sie sich zum Eingang der Höhle. Je näher sie dem düsteren Grottenloch kamen, desto deutlicher vernahmen sie das Stöhnen und Jammern der Gefangenen. Lutring hatte sich den Flammenwerfer umgehängt, Lazlo und Iri na trugen die Feuerlöscher. Jeder hatte sich außerdem noch je drei Kruzifixe in den Gürtel gesteckt. Nur noch wenige Meter vom Eingang entfernt, wurden sie Zeugen, wie Ofelia einen unbekleideten Mann zu den anderen Opfern schleppte. Nevio Verona! Sie ließ ihn fallen und legte ihm Ketten an. Für Sekunden war sie abgelenkt. Lutring gab seinen Helfern ein Zeichen. Dies war der richtige Moment. Gleichzeitig richteten sie sich auf, rannten ins Innere der Höhle und gingen zum Angriff auf die Hexe über. Wutentbrannt fuhr sie zu ihnen herum. Sie hob die Arme, stieß ein Fauchen aus und sandte weiße Blitze gegen sie aus. Die Exorzisten wichen den Strahlen aus – und waren im nächsten Augenblick nahe genug! Feuerlöscher und Flammenwerfer fauchten. Unablässig schrie Lut ring ihr seine magischen Formeln entgegen und trieb sie zurück. »Antani juraicus tantalus!«, brüllte er ihr direkt in das verzerrte Antlitz. »Geselmares foriziam rodomontis! Nitschko satanibus!« Ofelia prallte mit dem Rücken gegen die Felswand. Hasserfüllt fi xierte sie ihn aus eiskalten Augen. Ihr Blick bohrte sich in den sei nen, sie wollte ihn überwältigen, psychisch wie körperlich. Aber Lutring gab nicht nach.
Sie hob ihre Peitsche, doch von einem Kruzifix, das Irina geschleu dert hatte, am Arm getroffen, musste sie sie fallen lassen. Kreischend schlug sie mit den Krallen nach dem Gesicht des Professors – und verfehlte ihn. Voll sprühte er ihr eine Ladung Kupfersulfat-Schwefel-Gemisch in die Teufelsfratze. Ofelia schnappte nach Luft und stöhnte. Ihre Macht begann zu bröckeln, ihre Kräfte ließen immer mehr nach. Fauchend und kreischend setzte sie sich noch zur Wehr. Sie magerte rasant ab, schien von einem Moment auf den anderen hunderte von Jahren äl ter zu werden – ein runzliges, hässliches Monstrum. Endlich sank die Hexe zu Boden. Sie zerfiel zu Staub, wurde von einer Windbö durch die Höhle ins Freie geweht und war auf und davon …
* Das Trio befreite die Gefangenen. Die bedauernswerten Männer und Kinder lachten und umarmten ihre Retter. Gemeinsam verließen sie die Höhle und begannen den Abstieg ins Tal, wobei die Stärkeren die Schwächeren unterstützten. Professor Lutring und seine Helfer hatten die Macht des Bösen ge brochen. Bei den Verenas richteten sie eine Art Feldlazarett ein, denn die Geschundenen mussten ärztlich behandelt werden. Diese Aufgabe übernahm Irina, unterstützt von Claudia. Über glücklich schloss die Frau ihre Lieben in die Arme. »Nun wird alles wieder gut«, sagte sie immer wieder und weinte vor Freude. Jetzt lernte das Exorzisten-Trio auch Miria und Sandro kennen. Die zwei kamen herein und schüttelten ihnen ergriffen die Hände. Der Professor sah Miria tief in die Augen. »Du hast bei mir ange rufen, nicht wahr?«
»Ja.« »Sehr gut! Das hast du großartig gemacht.« »Das ist doch nichts gegen das, was Sie hier geleistet haben«, er widerte die junge Frau. So wurden sie alle zu einer kleinen, verschworenen Gemeinschaft, die es sich zum Ziel setzte, Arni wieder aufzubauen und zu dem zu machen, was es früher einmal gewesen war. Grauen und Horror gehörten der Vergangenheit an. Eine glückli che Zukunft lag vor Arni, die Hoffnung öffnete die Herzen der Men schen. Lutring jedoch wandte sich in einem Moment, in dem sie allein waren, an Lazlo und Irina. »Es könnte sein, dass es noch nicht vor bei ist. Hexen haben zwei oder drei Leben. Wir dürfen Ofelia auf keinen Fall unterschätzen. Vielleicht bereitet sie schon ihre Rückkehr und ein paar nette Überraschungen für uns vor.« »Aber das behalten wir doch lieber für uns«, riet sein Assistent. »Klar«, stimmte Irina ihm zu. »Wir dürfen die Leute auf keinen Fall verunsichern. Wir brauchen ihre Freude und Zuversicht, das baut sie doch innerlich auf.« »Natürlich«, sagte Lutring. »Nur wir müssen auf alles vorbereitet sein. Schön vorsichtig sein und die Augen überall haben, das ist jetzt die Devise.«
* Tatsächlich sollten sich Lutrings Ahnungen bewahrheiten. Ofelia hatte sich hoch oben auf dem Gipfel des Berges remate rialisiert. Aus Staub erwachte neues, dämonisches Leben. Aus dem Nichts erhob sich eine übernatürlich schöne junge Frau. Splitternackt trat sie an den Rand des Abgrundes und stieß einen
wilden, animalischen Schrei aus. Das Echo warf ihn hundertfach zu rück. Triumphierend breitete die Hexe die Arme aus und schickte ein gellendes Gelächter hinterher. Noch in derselben Nacht zelebrierte sie eine schwarze Messe – und wurde aus dem Jenseits erhört. Satan schickte ihr fünf Dä monen, allergrässliche Ausgeburten der Hölle – eine Mischung aus Wölfen, Hyänen, Drachen und Schlangen. Sie sollten Ofelia helfen, die verlorene Macht zurückzuerobern. Hechelnd und sabbernd lagen sie der Hexe zu Füßen, leckten ihr die Fersen. »Auf!«, schrie sie. »Wir haben keinen Moment zu verlieren!« Sofort machte sich die Hexe mit ihnen auf den Weg nach Arni. Sie wollte die Dunkelheit, ihren schützenden Komplizen, um jeden Preis ausnutzen. Mitten in der Nacht, um vier Uhr, wehte plötzlich ein heißer Wind durch das Dorf. Die meisten Menschen schliefen. Nur Lutring und seine Begleiter, Miria und Sandro schreckten hoch. Sie sprangen auf! Doch es war schon zu spät … Wie die Furien fielen Ofelia und ihre Verstärkung über die Ein wohner von Arni her. Wer sich ihnen in den Weg stellte, war verlo ren. Sie brachen in die Hütten ein, zerrten die Einwohner ins Freie. Dabei töteten sie drei Männer und eine Frau. Die übrigen warf die Hexe wie federleichte Puppen auf einen alten Pferdekarren. Zwischendurch hetzte sie ihre Bestien immer wieder durch den Ort, auf der Suche nach weiteren möglichen Opfern.
Lutring und seine Helfer schaffte es noch, zu den Waffen zu greifen. Doch dieses Mal konnten sie nichts ausrichten, zu stark war die Kraft der geifernden, brutal zuschlagenden Macht. Die sechs Wesenheiten waren zu schnell, zu gewandt – zu mächtig! –, um mit Feuerlöschern, Flammenwerfer und Kruzifixen niedergemacht werden zu können. So eroberten Ofelia und ihre Ausgeburten der Hölle das Dorf zu rück, dass die Hexe als ihr Eigentum betrachtete. Ihr wichtigster Schlag und bedeutendster Fang war das Exorzisten-Trio. Sie zertrümmerten ihre Waffen, betäubten Lutring, Lazlo und Irina und schleuderten auch sie auf den Karren. Als sie mit ihrer Beute zufrieden war, spannte Ofelia die Schimä ren vor das Gefährt, das sich wie ein Flugzeug in die Luft erhob. Das Ziel war die Höhle. Hier landete Ofelia ihren Teufelswagen, ließ die Gefangenen von ihren knurrenden Bestien ins Innere schleppen und legte sie in selbst in Ketten. Höhnisch beugte sie sich über Lutring, der gerade wieder zu sich kam. Er blutete, war am Ende seiner Kräfte. »Ich werde euch meinem Herrn, dem Allmächtigen, dem Herr scher der Hölle opfern«, sagte die Hexe und lachte irre. »Alle!«
* Erneut war Claudia Verona der Hexe entkommen. Das hatte sie Mi ria Bellandi und Sandra Grossi zu verdanken. Die beiden hatten die Frau gepackt und zu sich in das Erdloch gezerrt. »Nevio und Fausto sind wieder in der Gewalt des Weibes«, schluchzte Claudia sie. »Diesmal überstehen sie es nicht. Es nimmt auch mit ihnen ein böses Ende, wie mit allen anderen.« »Nein!«, sagte Miria entschlossen. »Das können wir nicht zulassen, um keinen Preis der Welt. Wir müssen etwas unternehmen, schon
allein wegen Professor Lutring und seinen beiden Mitarbeitern. Ihr Tun darf doch nicht unvollendet bleiben.« »Aber was sollen wir denn machen?«, fragte Sandro. »Wir haben keine Waffen. Wie sollen wir da kämpfen?« »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg«, versicherte Miria. »Lass uns doch mal schauen, wer noch im Dorf ist.« Im Morgengrauen öffnete sie vorsichtig die Luke ihres Erdver stecks und schaute sich nach allen Seiten um. Nur vereinzelt trieben noch Wolken am Himmel. Ein schöner, sonniger Tag kündigte sich an. »Das ist schon mal ein Pluspunkt für uns«, sagte die junge Frau. »Ofelia hasst das Licht. Habt ihr jemals erlebt, dass sie uns am hellen Tag heimgesucht hat?« »Haben wir nicht«, erwiderte Claudia. »Und wenn ich mich recht entsinne, ist sie auch bei Vollmond nie hergekommen.« Die drei verließen ihr Versteck und machten sich auf den Weg, die Hütten zu durchsuchen. Ihre Mühe wurde belohnt. Sie trafen auf Überlebende. Verletzte und Verzweifelte, zum größten Teil Frauen – aber sie waren eben noch am Leben. Eine von ihnen schaute sie aus rot geweinten und schwarz um schatteten Augen an und sagte: »Wir können jetzt nur da hocken und unsere Wunden lecken. Was sonst sollen wir tun?« »Ich hätte da schon eine Idee«, verkündete Miria. Sie beendete noch ihren Rundgang auf der Suche nach Nachbarn und Freunden. Anschließend rüsteten die jungen Leute und ihre Mitbürger zum großen, endgültigen Gegenangriff auf Ofelia. Alle, die mehr durch Zufall als durch die Gnade der Hexe noch am Leben waren, schlugen sich ohne zu zögern auf die Seite von Miria, Sandro und Claudia. Sie sahen keine andere Möglichkeit, um ihr Leben zu retten. Drei Dutzend Bewohnerinnen und fünf Männer nahmen alles an
sich, was sie als Waffen verwenden konnten: Spaten und Mistfor ken, Bibeln und Rosenkränze. Ein alter Mann wies sogar eine Handgranate vor. »Die stammt noch aus dem Zweiten Weltkrieg«, brummte er. »Wer weiß, ob sie überhaupt noch funktioniert.« Miria nahm zusätzlich noch einen großen, alten Spiegel mit. Außerdem hatte sie zwei der Kruzifix-Pfeile gefunden, die zu der Ausrüstung des Exorzisten-Trios gehört hatten, außerdem den Ver bandskasten von Irina. Der Tag schritt voran und sie machten sich auf den Weg. Sandro setzte sich ans Steuer des Geländewagens. Der Motor sprang an – die Menge stieß einen Jubellaut aus. Miria, Claudia und noch ein paar andere zwängten sich ins Innere des Jeeps. Die anderen liefen zu Fuß hinterher. Es waren die Wut und der Mut der Verzweiflung, die diesen Men schen den erforderlichen Antrieb vermittelten. Nichts konnte sie mehr bremsen, sie setzten alles auf eine Karte. Sieg oder Untergang – aber nie wieder die Herrschaft des Grauens, wie Ofelia sie geführt hatte. Hass wischte jede Schwäche davon …
* Als es mit dem Jeep nicht mehr weiter ging, ließ die Schwadron den Wagen stehen und setzte den Weg zu Fuß fort. Am späten Vormit tag trafen sie vor der Höhle der Hexe ein. Es war noch zu früh für Ofelia und ihre Höllenbrut, ins Freie zu kommen. Hier lag tat sächlich die große, wahrlich einzige Chance für die Angreifer, wie Miria es richtig vermutet hatte. Ihr Plan war es, zunächst den Professor zu befreien, um den An griff gemeinsam mit ihm führen zu können. Es musste eine Blitzak
tion sein. Das Wetter war ihr großer Helfer und Verbündeter. Grell strahlte die Sonne vom Himmel – Gift für die Hexenbrut. Miria und Sandro traten beherzt vor den Grotteneingang. Sie hielten den Spiegel so, dass er die Sonnenstrahlen reflektierte und direkt in die Höhle leitete. Die Reaktion der Hexe blieb nicht aus. Ofelia kreischte, die Dämonen heulten und brüllten – doch sie wi chen immer wieder vor dem Licht zurück. Miria übergab Sandro den Spiegel, rannte geduckt ins Innere und ließ sich direkt hinter Professor Lutring zu Boden sinken. Der Gelehrte war an einen Pfahl gefesselt. Er war bei vollem Be wusstsein. »Mein Gott, Mädchen«, krächzte er. »Dich schickt ja wirklich der Himmel.« Die Hexe und die fünf Dämonen wollten sich mit gefletschten Zähnen auf ihre Gegner stürzen, aber immer wieder zuckten sie vor den Sonnenstrahlen wie unter Peitschenhieben zusammen. Miria löste mit großer Fingerfertigkeit die Knoten, die Ofelia in die Ketten geschlagen hatte. Hätte es sich um Schlösser gehandelt, wäre das Rettungsunternehmen zum Scheitern verdammt gewesen. Aber endlich einmal leuchtete das Glück – Gregor Lutring war frei, richtete sich auf und griff nach den beiden Kruzifixen und der Bibel, die die junge Frau ihm rasch überreichte. Jetzt versuchte Ofelia, ihre Feinde zu erpressen. »Haut ab, ihr Schweine!«, heulte sie. »Sonst steche ich eure Freunde einen nach dem anderen ab!« Mit Irina Kanter wollte sie beginnen. Da erfasste sie das gespiegelte Sonnenlicht! Ofelia stieß die wildesten Schreie und Flüche aus, bog sich vor Schmerzen. Sie sank kurz zu Boden, rappelte sieh schwankend wieder auf – und unternahm einen zornigen Ausfall gegen die Angreifer!
Die Schimären stürmten hinter ihr her, rannten, so schnell sie konnten. Beherzt stellten sich die letzten freien Bewohner von Arni den Kreaturen entgegen. Ein Wall aus Mistforken, Spaten und anderen improvisierten Waffen erwartete die Monster. Erst bissen die Kreaturen noch wild um sich, als ein wahrer Schlaghagel auf sie niederging. Bald aber ließ ihre Widerstandskraft nach. Je weiter sie in den Bereich der Sonne gerieten, desto schwä cher wurden sie. Schließlich wichen sie winselnd zurück. Einer Chimäre trennte einer der Bauern mit seiner Sense den Kopf ab, der den Abhang hinunterrollte. Plötzlich fing er Feuer und zer platzte. Der übrig gebliebene Leib der Wesenheit schrumpfte zu einem klebrigen schwarzen Fleck zusammen. Wie rasend tram pelten die Bergbewohner darauf herum, bis nichts mehr davon üb rig war. Nun fühlten sich Lutring und seine Verbündeten in ihrem Vor haben noch bestärkt. Nichts konnte sie mehr aufhalten – weder die zeternde und kreischende Hexe selbst, noch die Höllenmonster – vier noch an der Zahl –, die sich in einem wilden Kampf mit den Dörflern zu behaupten hatten. Die Schlacht endete mit einem klaren Sieg der Exorzisten und ih res Gefolges. Tot waren die Schimären und am Ende sank auch Ofelia röchelnd vor der Höhle zu Boden. Doch bevor die Hexe, die auch dieses Mal wiederum um Jahre alterte und zusammenschrumpfte, erneut zu Staub werden und das Weite suchen konnte, schritt Professor Lutring ein. Er trat auf sie zu, rammte ihr den letzten seiner geweihten Kruzi fix-Pfeile mitten in die Brust. Schwarzes Blut floss aus ihrer Brust wunde und sie spuckte einen grünen, übel riechenden Brei aus. Die Hexe war wehrlos, als Lutring sich von Lazlo eine Machete ge ben ließ. Er hob sie hoch über den Kopf und mit einem gewaltigen Hieb enthauptete er die Ausgeburt der Hölle. Ofelias Kopf fiel auf
das Gestein und verwandelte sich in eine faulige Masse. Der Professor wandte sich zu seinen Verbündeten um. Ein Bauer hatte eine Fackel angezündet, als Zeichen des Sieges. Lutring streck te die Hand aus, nahm die Fackel entgegen und senkte sie auf die Überreste der Hexe. Diese brannten wie Zünden, bis schließlich nur noch Asche übrig war. »Irina«, sagte der Professor. »Leer den Verbandskasten und gib ihn mir.« Die Ärztin tat, wie ihr geheißen. Lutring füllte die Hexenrelikte in den Kasten, sprach währenddessen unablässig seine Formeln. An schließend drehte er sich zu dem alten Bauern um, der die Handgra nate hatte. »Ich weiß nicht, ob das Ding funktioniert«, warnte der Mann er neut. »Das testen wir jetzt«, sagte Lutring grimmig. Er nahm die Handgranate in Empfang, riss den Sicherungsbügel ab und packte die Bombe in den Verbandskasten. Nachdem er die Kiste verriegelt hatte, schleuderte er sie in den nächsten Abgrund. Die Männer, Frauen und Kinder von Arni, traten ebenso zu ihm an den Rand der Schlucht wie Lazlo und Irina und starrten dem fallenden, vor ihren Augen immer kleiner werdenden Behältnis nach. Bevor der Kasten den Grund der Schlucht erreichte, zerplatzte er mit einem Donnerhall. Die Handgranate hatte funktioniert. »Das dürfte genügen«, sagte Lutring aufatmend. »Dieses Mal kehrt sie nicht zurück.« Erschöpft, aber aufatmend und von neuer Zuversicht erfüllt, kehrten die Kämpfer nach Arni zurück. An diesem Abend fand ein großes gemeinsames Fest statt. Nicht besser hätten die Menschen die Befreiung von der Macht des Bösen feiern können. Erst jetzt schaltete Lutring sein Handy ein. »Es hätte bei der He
xenbeschwörung eine störende Aura gehabt«, sagte er. »Und gehol fen hätte es uns nicht.« Jetzt aber rief er in der Locanda von Letizia und Alfonso Di Carmine an. Die Wirtin meldete sich. »Wir haben gesiegt«, berichtete Gregor Lutring. »Es gibt keine Hexe mehr, Arni ist frei.« Und diese Nachricht verbreitete sich noch am Abend wie ein Lauffeuer. Am nächsten Morgen rückten Hunderte von Menschen in dem Dorf an. Bauern und Hirten aus der Umgebung – sie alle waren be reit, sich die Ärmel aufzukrempeln und beim Wiederaufbau von Arni zu helfen. Die Exorzisten hatten ihr Schuldigkeit getan. Doch ehe sie in ihren Geländewagen kletterten, fiel Miria dem Professor noch um den Hals. »Warum bleiben Sie nicht wenigstens bis zu unserer Hochzeit?« »Wir würden es gerne tun«, erwiderte Lutring. »Aber es wartet schon eine neue Aufgabe auf uns. Wir werden euch später besu chen.« Er winkte den jubelnden Menschen noch einmal zu. Dann startete Lazlo den Motor des Jeeps und der Wagen rollte davon – zu einem neuen Feldzug gegen die Mächte der Finsternis … ENDE