Die Teufelsuhr Version: v1.0
Als das erste Kind verschwand, ahnte noch nie mand etwas Böses. Die Leute im Dorf waren ...
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Die Teufelsuhr Version: v1.0
Als das erste Kind verschwand, ahnte noch nie mand etwas Böses. Die Leute im Dorf waren zwar irritiert, die Eltern der Kleinen am Boden zerstört, aber man beruhigte sich nach einigen Wochen wieder. Dann verschwanden die beiden nächsten Kinder. Ein Geschwisterpaar. Und plötzlich war die Hölle los. Jeder verdächtigte jeden. Man schaute sich schief an, die Polizei ermittelte in den Wohnungen, durchsuchte die Häuser, aber sie fand nichts. Nicht die geringste Spur war von den drei verschwundenen Kindern zu entdecken.
Aus dem fernen London reisten sogar Beamte von Scotland Yard an. Spezialisten, wie der Bürgermeister den aufgeschreckten Bewohnern versicherte. Aber auch die Yard-Beamten waren erfolglos. Sie fanden trotz in tensiver Suche nicht heraus, wo die drei Kinder geblieben waren. Das Dorf Miltonburry, es lag eingebettet zwischen sanft gerundeten Hügeln, schien plötzlich ineinanderzuwachsen, als würde ein Fluch auf den ziegelroten Wänden und Hausdächern liegen. Kein Kind lief mehr allein über die Straßen und Gassen. Die Eltern brachten ihre Sprößlinge in die Zwergschule und holten sie auch wieder ab. Die Angst lauerte überall. Menschen aus den Nachbarorten mieden Miltonburry. Abends, beim Schein der Petroleumlampen, berichteten sie ihren Freunden und Nachbarn, was in Miltonburry so alles vor sich gegangen war. Daß man dort nicht mehr hinfahren konnte. Aus den Erzählungen wurden Gerüchte, aus den Gerüchten Übertreibungen, und irgend jemand kam plötzlich damit heraus, daß die Kinder ja nicht so ohne Grund verschwunden wären. Hier müsse ein anderer seine Hand im Spiel haben. »Ein anderer?« wurde er gefragt. »Ja, der Teufel!« Jetzt war es heraus. In Windeseile verbreitete sich das Gerücht. Man hatte ja in den alten Geschichten gelesen, daß der Teufel die Kinder mitnehmen würde. Und so war es sicherlich auch in Milton burry gewesen. Jetzt wurde nicht nur der Ort gemieden, sondern auch dessen Be wohner. Niemand kaufte den Bauern oder Handwerkern aus Miltonburry mehr etwas ab, man wollte mit den Verfluchten nichts zu tun haben. In Miltonburry breitete sich die Angst aus. Ein kleines Wirtschafts gefüge brach zusammen. Die Bauern blieben auf ihren Waren sitzen, sie konnten die Waren wegwerfen; weil ihnen keiner mehr etwas ab nahm. Bis zur nächsten Stadt hatte sich das Gerücht bald herumge sprochen, und die Einwohner aus Miltonburry trafen hier ebenfalls auf taube Ohren. Vom Bürgermeister wurde eine Krisensitzung ein berufen. Vier vertrauenswürdige Personen wurden dazu aus erwählt. Der Pfarrer, der Lehrer, der Apotheker und der Dorfpoli
zist. Alle, die sich im Wohnzimmer des Bürgermeisters bei ge schlossenen Vorhängen versammelt hatten, waren sich einig, daß et was geschehen mußte. Über dem Ort lag ein Schatten, ein Fluch, und der mußte von ihm genommen werden. Aber wie? Die Männer diskutierten hin und her. Sie kamen zu keinem Ergeb nis. Sie kauten das noch mal durch, was auch die Beamten von Scot land Yard vorgemacht hatten. Es nutzte nichts. Niemand wußte, wie es weitergehen sollte. »Sie sagen, daß die Kinder dem Teufel geweiht wären«, meinte der Pfarrer und nickte gedankenschwer. »Ich glaube nicht daran, denn wir haben nichts ge funden.« Der Polizist schaute auf. »Und wer sollte so etwas Schreckliches tun?« Der Pfarrer hob die Schultern. »Was weiß ich? Aber ich habe mir meine Gedanken gemacht.« »Raus damit«, forderte der Bürgermeister und nahm einen Schluck von dem dunklen Bier. »Aber es muß unter uns bleiben.« »Natürlich, Herr Pfarrer. Wir sind doch keine Klatschweiber.« »Ich bin von folgender Grundüberlegung ausgegangen«, begann der Geistliche. »Wer den Teufel liebt oder anbetet, der kommt nicht in die Kirche. Der würde Angst haben, sie überhaupt zu betreten. Er schaffte es einfach nicht, einen Fuß über die Schwelle des Gotteshauses zu setzen. Habe ich recht?« »Ja«, stimmte der Bürgermeister zu, und die anderen drei Männer nickten. »Ich habe also immer nachgezählt und aufgeschrieben, wer in die Kirche gekommen ist«, redete der Pfarrer weiter. »Ihr seid fast immer dagewesen, andere im Dorf auch, aber einen, den habe ich nie in meinem Gotteshaus gesehen.« Nach diesen Worten entstand eine Pause, die der Pfarrer erst wir ken ließ. Er sah die gespannten Blicke der vier Männer auf sich gerichtet und merkte auch, wie nervös die Leute geworden waren. Der Apotheker rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Der Polizist kaute an seinen Schnurrbartenden, der Lehrer blinzelte mit den Augen, und der Bürgermeister trank hastig sein Glas leer. Als er
es aufsetzte, war seine Geduld am Ende. »Sagen Sie endlich, wen Sie meinen, Herr Pfarrer.« »Rick Holloway!« Jetzt war es heraus. Der Pfarrer hoffte nur, daß die Männer ge nügend Courage haben würden, den Namen für sich zu behalten. »Der alte Holloway?« flüsterte der Bürgermeister. »Ja, der.« »Aber der verkauft doch nur Plunder. Alte Möbel und irgendwel chen Dreck …« »Ich habe ihn nie in der Kirche gesehen«, hielt der Pfarrer ent gegen. »Das kann viele Gründe haben, die völlig harmlos sind, oder aber einen bestimmten.« Die Männer sahen sich an. Nicht nur einem lief ein kalter Schauer über den Rücken, und das Licht der Petroleumlampe ließ ihre Gesichter zum Teil im Halbdunkeln, so daß sie einen fratzenhaften Ausdruck annahmen. Im Ofen knackte das Holz, als es von den Flammen zerrissen wurde. Irgendwo in den Dachsparren verfing sich der Nachtwind und blies dort seine klagende Melodie. »Rick Holloway«, murmelte der Bürgermeister. »Wer hätte das ge dacht.« »Noch ist nichts bewiesen!« rief der Pfarrer schnell, dem diese Antwort nicht paßte, weil sie die Gedanken der Männer in eine Richtung trieb, die der Pfarrer nicht wollte. »Ich habe es nur als eine Möglichkeit angedeutet.« »Was wissen wir eigentlich von ihm?« fragte der Apotheker, der bisher am schweigsamsten gewesen war. »Ja, was wissen wir von ihm?« wiederholte der Bürgermeister. »Soviel wie nichts.« Die Männer schauten sich an. Ratlose Gesichter. Schulterzucken. Bis der Bürgermeister das Wort ergriff. Irgendwie fühlte er sich dazu verpflichtet. »Er ist nicht in Miltonburry geboren«, sagte er. »Vor zehn Jahren ist er hergezogen. Er kam mit einem alten Wagen und hat sein Ge schäft eröffnet.« Der Bürgermeister wies auf den Lehrer. »Sie müß ten es doch am besten wissen. Sie wohnen schließlich nur drei Häuser weiter.«
»Ich habe mich nie um ihn gekümmert. Er lebt allein, hat keine Frau, keine Kinder …« Bei dem letzten Wort stockte er und senkte den Kopf. »Wie dem auch sei«, sagte der Pfarrer. »Ich bin dafür, daß wir ihn genau beob achten. Vielleicht fällt uns etwas an ihm auf. Kann ja sein, daß er sich verdächtig macht.« Die anderen Männer waren ebenfalls der Meinung. Mit diesem Ergebnis lösten sie ihre Zusammenkunft auf und gingen nach Hause. Ihren Frauen erzählten sie wirklich nichts, und der Pfarrer betete in der Kirche für die verschwundenen Kinder. Rick Holloway ahnte von alledem nichts. Aber die Männer waren immer in seiner Nähe. Auch nachts. So verging der Winter. Und eines Tages, kurz vor dem Osterfest, entdeckte der Lehrer im Stall des Mannes einen alten Karton. Holloway hatte ihn erst einen Tag zuvor dorthin gestellt. Der Lehrer öffnete den Karton und wurde steif vor Entsetzen. Zu sammengeknüllt lag dort Kinderkleidung. Es waren genau die Sa chen, die die drei verschwundenen Kinder getragen hatten …
* Irgend etwas braute sich gegen ihn zusammen. Das fühlte Rick Hol loway, da war er sogar sicher. Er überlegte fieberhaft, was er unter nehmen sollte. Flucht? Das kam in Frage, aber wenn er floh, dann machte er sich erst recht verdächtig. Also im Dorf bleiben und alle Spuren verwischen. Was natürlich schwer sein würde. Aber er wollte es vor Ostern noch geschafft haben. Nur mußte er zusehen, daß er irgendwie aus dem Haus kam, ohne daß man ihn bemerkte. Sein Laden lag zwar für den Verkauf günstig, direkt an der Hauptstraße, aber hier konnte man ihn auch immer gleich sehen, was natürlich schlecht war. An diesem Tag waren nur zwei Kunden in seinen Laden gekom men. Ältere Frauen, die irgendeinen Kram kauften. Nähgarn und Knöpfe. Davon konnte man nicht reich werden. Aber er wollte Geld.
Geld und Gold! Und dafür tat er alles. Den Anfang hatte er gemacht. Als sich der Teufel ihm offenbarte, hatte er nicht eine Sekunde gezögert, sich auf denn Pakt einzulassen. Seelen sollte er ihm besorgen. Seelen von jungen Menschen. Erst dann konnte sich der Satan wieder frei entfalten, denn er war eingesperrt in ein teuflisches Uhr werk aus Silber und konnte nicht heraus. Der Teufel in einer Uhr! Das wollte Holloway nicht glauben. Bestimmt war es nicht der Teufel, sondern nur ein anderer Dämon. Aber das wollte er noch herausfinden. »Einen recht schönen Abend wünsche ich, Mr. Holloway!« Als der Kaufmann die Stimme hörte, zuckte er zusammen und wandte sich hastig um. Der Pfarrer überquerte die Straße und lüftete höflich seinen dunklen Hut. Holloway grinste. Er nickte nur und sah dem Pfarrer nach. Auch einer von diesen Heuchlern, dachte er. Aber ein gefähr-licher, das spürte Holloway. Hastig schloß er die Tür und verzog sich wieder in seinen Laden, wo alles übereinander stand oder lag. Die dunklen Holzregale an den Wänden quollen fast über. Holloway hatte alles hineingestopft, was er den Bauern billig oder umsonst abnehmen konnte. Körbe, Flaschen, Tiegel, Gefäße, Kannen, Pfannen, Töpfe, alte Waagen, Schöpfkellen – alles war vorhanden. Gebraucht natürlich und deshalb billiger. Die Leute im Ort hatten oft von diesen preiswerten Angeboten Gebrauch gemacht. Auch die Garten- und Ackergeräte wurden gekauft, die noch innerhalb des Verkaufsraumes standen. Holloway wohnte eine Etage höher. In drei kleinen, winkligen Räu men. Auch dort stand alter Plunder herum. Die wertvollen Stücke allerdings befanden sich in einem Nebenraum des Ladens. Dort hortete Holloway die Gegenstände, die er von seinen Raubzügen mitgebracht hatte. Alte Schränke und Kommoden, die er in Schlössern und Burgen gestohlen hatte. Er ahnte mit dem sicheren Gespür eines Geschäftsmannes, daß diese Dinge noch einmal wert voll werden würden, und warf sie deshalb nicht weg. Bei einer
Nacht- und Nebelaktion hatte er auch die Uhr erbeutet. Sie hatte, versteckt in einer Mauernische, im Keller eines alten Gutshauses gestanden, das wohl keinem mehr gehörte. Die Uhr war eine leichte Beute für Holloway gewesen. Sie gefiel ihm ausgezeichnet, bis er eines Tages herausgefunden hatte, welches Geheimnis die Uhr barg. Ja, sie war wirklich eine Teufelsuhr! Rick hatte ihr grauenhaftes Prinzip erkannt und sich danach gerichtet. Auch jetzt, als er offiziell den Laden geschlossen hatte, be trat er die Kammer, zündete zwei Kerzen an und stellte sie vor die Uhr, um sie in Ruhe zu betrachten. Eigentlich sah sie völlig harmlos aus mit ihrem glänzenden Zifferblatt, dem warmen Braunton des Holzes, den beiden schweren Perpendikeln und dem Pendel dazwi schen. Beides konnte man nur sehen, wenn man die schmale Tür im unteren Teil der Uhr aufschloß. Holloway wußte, daß sich der Dämon irgendwann wieder melden würde. Und dann mußte Rick reagieren. Ein neues Opfer … Er atmete durch die Nase und spürte den Staub, der sich auf sei nen Schleimhäuten festgesetzt hatte. In dieser Nacht wollte er die letzten Spuren beseitigen, die an das schreckliche Verbrechen er innerten. Zwischen Mitternacht und Morgen war die beste Zeit, um solche Dinge zu erledigen. Bis dahin jedoch wollte er schlafen. Das hatte er immer gekonnt, denn Gewissensbisse belasteten den 43jährigen Mann nicht, der eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Bären aufwies. In Rick Holloways Gesicht wucherte ein dunkler Bart. Der Mann war breit in den Schultern, hatte trotz seiner braunen Haare helle Augen und ging stets ein wenig gebückt. Das mußte er in diesem Haus auch, denn die Decken waren nicht sehr hoch. Alte Holzdielen bedeckten den Fußboden. Wenn Holloway darüber hinwegschritt, bewegten sie sich und knarrten. Sein Bett stand in der kleinsten Kammer. Ein altes Feldbett mit einer Matratze darauf. Für kalte Tage besaß er noch eine Schaffelldecke, die schon widerlich stank. Das Fenster in der Kammer war nicht größer als zwei Menschenköpfe. Bevor sich Hol loway hinlegte, öffnete er es noch und schaute nach draußen. Hinter dem Haus begann der verwilderte Garten. Er war von
einem Zaun umgeben, der an einigen Stellen große Löcher und Risse zeigte. Holloway dachte gar nicht daran, ihn zu flicken, eben sowenig wie er daran dachte, das Unkraut aus dem Garten zu schaf fen. Für ihn reichte das, und was die Leute sagten, das war ihm so wieso egal. Angezogen legte er sich ins Bett. Nur die alten Schuhe streifte er von den Füßen. Eine Uhr, die ihn weckte, brauchte er nicht. Hollo way wurde auch so wach, er hatte einen inneren Wecker, der ihn aus dem Schlaf scheuchte. Bald fielen ihm die Augen zu. Schwere, tiefe Atemzüge verrieten, wie fest der Mann schlief. Er bekam nicht mit, was draußen vor sich ging. Die fünf Männer hatten reagiert. Pfarrer, Bürgermeister, Apotheker, Polizist und Lehrer hatten sich getroffen, um den Mann zu bestrafen, den sie als den Mörder ansa hen. Der Pfarrer trug ein etwas größeres Holzkreuz. Die anderen Männer hatten sich bewaffnet. Sogar der Apotheker trug ein Ge wehr. Er hatte noch nie geschossen und war bleich. Niemand im Dorf wußte, was die Männer vorhatten. Sie schwiegen eisern, als sie sich auf Schleichwegen dem Haus näherten und es umstellten. Zuvor hatten sie sich schon abgesprochen. Der Bürgermeister, der Pfarrer und der Polizist wollten in das Haus eindringen, während die anderen draußen Wache hielten. Der Leh rer an der Vorder-, der Apotheker an der Rückseite des Hauses. Beide waren bereit, sofort zu schießen, wenn der Mörder zu flüchten versuchte. Der Polizist öffnete die Tür. Das Schloß bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Als erster betrat er auch das Geschäft. Das Gewehr hielt er schußbereit. Ihm folgte der Pfarrer, und den Schluß bildete der Bürgermeister, der sich auf seine Schrotflinte verließ. Es war eine dunkle, mondlose Nacht. Deshalb drang auch kaum Licht in das Geschäft, und es war kein Wunder, daß die Männer, die sich hier nicht auskannten, im Dunkeln gegen irgendwelche Dinge liefen, die herumstanden. Bevor der Polizist Licht machen konnte,
hatte der Pfarrer schon eine Schüssel umgestoßen. Sie fiel von ihrem Standplatz und zerbrach klirrend. Die Männer zuckten zusammen. War das Geräusch gehört worden? Lauschend blieben sie stehen. Nein, nichts rührte sich. Sie atmeten auf. »Wir müssen nach oben«, wisperte der Pfarrer. »Dort schläft er.« »Aber nicht ohne Licht«, sagte der Bürgermeister. »Einen Moment noch«, flüsterte der dritte im Bunde. Er zündete den Docht der trag baren Petroleumlampe an, die er dann an seiner Gürtelschnalle befestigte. Ein warmer Schein hüllte die Männer ein und leuchtete gerade so weit, daß sie in zwei Schritt Entfernung alles erkennen konnten. Wichtig für sie war allein die schmale und steile Treppe, die im Hintergrund des Verkaufsraumes in die obere Etage fährte. Darüber gab es nur noch das Dach. Die Männer waren ziemlich optimistisch. Sie hatten das Geräusch der zerbrechenden Schüssel schon wieder vergessen und rechneten nicht mehr damit, daß es gehört worden war. Da irrten sie sich. Rick Holloway hatte zwar einen tiefen, aber auch leichten Schlaf. Und er hatte das Splittern sehr wohl im Unterbewußtsein vernom men. Sofort signalisierte sein Gehirn Gefahr. Hastig setzte er sich auf seiner primitiven Lagerstatt auf und sah sich um. Im Zimmer befand sich außer ihm niemand. Schwach erkannte er die Umrisse des Schranks und des Fensters, doch als er zum Fenster schlich und durch die Scheiben blickte, sah er draußen hinter dem Haus eine fremde Gestalt. Fremd war ihm der Mann eigentlich nicht. Er kannte ihn aus dem Dorf. Die Frage war nur, was ein Apotheker um diese Zeit in seinem Garten zu suchen hatte. Der Mann patrouillierte vor dem alten Schuppen auf und ab. Manchmal warf er einen Blick zum Fenster hoch, dann zog sich Holloway immer schnell zurück. Er wußte Be scheid. Die anderen hatten Verdacht geschöpft und wollten sich Gewiß heit verschaffen.
Für Holloway ging es ums nackte Leben. Und das wollte er so teu er wie möglich verkaufen. Als er zum Schrank ging, wo er seine Waffe aufbewahrte, ein belgisches Sturmgewehr mit aufgesetztem Bajonett, dachte er für einen Moment an den Teufel. Ob er ihm bei stehen würde? Kaum, aus dieser Sache mußte er sich selbst befreien. Durch das Fenster klettern konnte er nicht, der Kerl da unten im Garten hätte sofort Alarm geschlagen. Blieb die Treppe. Natürlich rechnete er damit, daß auch welche im Haus waren, aber die wollte er von der Treppe putzen, falls sie es wagen sollten, zu ihm hochzukommen. Die Waffe war geladen und befand sich ausgezeichnet in Schiß. Rick Holloway konnte sich auf sie verlassen. Die Schuhe zog er nicht an. Er wollte sich möglichst lautlos bewegen. Vor der Tür blieb er stehen. Hart und kalt war sein Lächeln, das die Mundwinkel kerbte. Die Hände umklammerten den Schaft des Gewehres so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten. Die Spitze des Bajonetts schimmerte. Die linke Hand legte der Mann auf die eiserne Klinke. Jetzt war er froh, daß die Tür nicht knarrte, wenn er sie aufzog. Bevor er öffnete, horchte er noch einmal. Da waren tatsächlich Geräusche auf der Treppe zu hören. Das Holz konnte man nicht überlisten. Es knarrte und kündigte jeden Besucher sofort an. Die würden sich wundern. Mit einem Ruck riß Rick Holloway die Tür auf, machte einen großen Schritt und stand auf der Schwelle. Er sah sie sofort. Der Schein einer kleinen Lampe umflorte die drei Gestalten, die wie angewurzelt stehenblieben, als sie Rick Holloway erkannten. Schräg nach unten richtete er die Mündung des Gewehres und die Spitze des Bajonetts. Seine Stimme hatte einen höhnischen Klang, als er fragte: »Was verschafft mir denn die Ehre Ihres Besuches, Gentle men?«
* Keiner der Männer wußte so schnell eine Antwort. Holloways Auf tauchen hatte sie völlig überrascht. Sie hatten gedacht, er würde im Bett liegen und schlafen, eine fürwahr irrige Annahme. Rick Hollo way hatte den Spieß einfach umgedreht, jetzt mußten sie ihm Rede und Antwort stehen und nicht er ihnen. Der Bärtige lachte rauh. »Sieh an«, sagte er. »Sogar der Pfarrer befindet sich auf verbotenen Wegen …« Der Geistliche wußte, was er zu tun hatte. Zudem war er direkt angesprochen worden. »Es sind keine verbotenen Wege«, er widerte er scharf und drängte sich an dem Polizisten vorbei, damit er Holloway anschauen konnte. »Es ist der Weg der Vergeltung. Wir wissen, daß du ein Sünder bist …« Holloways Lachen unterbrach die Rede des Pfarrers. »Ein Sünder«, prustete er. »Glaubt ihr denn, ihr seid heilig?« »Nein. Niemand von uns ist heilig und kann sich mit dem Eben bild des Herrn vergleichen. Wir alle sind Sünder, aber wir haben nicht solche Schuld auf uns geladen wie du, Rick Holloway.« »Und was soll ich getan haben?« »Wo sind die Kinder?« Rick grinste spöttisch. »Welche Kinder?« Die Gestalt des Pfarrers streckte sich. Sein Blick wurde flammend. »Du wagst es, mir ins Angesicht zu lügen? Hast du nicht selbst unschuldige Geschöpfe entführt und getötet? Welcher Satan hat dich dazu verleitet? Rede!« »Satan ist gut.« Holloway lachte weiter. »Aber ich sehe keine Kinder. Tut mir leid. Ihr müßt sie schon woanders suchen. Und jetzt will ich schlafen!« »Nein, Rick Holloway!« Nicht nur der mutmaßliche Mörder, sondern auch die beiden Be gleiter des Pfarrers zuckten zusammen. Selten oder noch nie hatte er so laut gesprochen. Und Holloway merkte, daß es dem Geistlichen ernst war. Tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben. Er umklammerte das Kreuz, das vor seiner Brust hing, mit beiden Händen. »Wenn du den
Weg nicht freigibst, versuchen wir es mit Gewalt!« sagte der Geistli che. »Obwohl ich dagegen bin und es mir mein Glaube verbietet, aber widrige Umslände zwingen mich, Gewalt anzuwenden, wenn du nicht willst.« Um Holloways Mundwinkel zuckte es. »Ich jage dir eine Kugel durch den Schädel, Pfaffe, da merkst du nichts mehr.« Er spie aus. »Und ihr beiden da, laßt eure Gewehre fallen!« Der Polizist und der Bürgermeister sahen sich an. Sie waren keine Helden, son dern normale Menschen, und sie hatten Angst. Doch der Mut des Geistlichen imponierte ihnen so, daß sie sich der Aufforderung widersetzten. »Nein«, sagte der Bürgermeister laut. In dem Augenblick ging der Pfarrer vor. Die Antwort hatte wie ein Startsignal auf ihn gewirkt. Rick Holloway sah ein, daß seine Argumente nicht überzeugten. Er ging einen Schritt zurück und schoß. Der Schuß dröhnte durch das Treppenhaus. Eine Mündungsflamme leuchtete bläulich vor dem Gewehr auf. Alle Anwesenden hörten den dumpfen Einschlag der Kugel und sahen, wie der Pfarrer nach hinten kippte, dabei gegen den Dorfpolizisten fiel und diesen fast umriß. Der Bürgermeister handelte instinktiv. Ohne zu überlegen, drückte er ab. Es war ein Reflex, der ihn so handeln ließ. Die Flinte streute stark und war in ihrer Wirkung frappierend. Als der Bürgermeister abdrückte, donnerte die Flinte so laut auf, daß man das Gefühl haben konnte, das Haus würde zusammenbre chen. Holloway wurde in die Kammer geschleudert und krachte schwer auf sein Bett, wo er Sekunden später sein Leben aushauchte. Der Bürgermeister aber, bleich im Gesicht und mit zitternden Kni en, kümmerte sich um den Pfarrer. Noch lebte der Geistliche, aber er mußte dringend in ärztliche Behandlung. Die Gewehrkugel steckte zwar im Körper, aber sie war nicht so tief eingedrungen, weil sie ge nau die Mitte des Eichenkreuzes getroffen hatte und ihr somit ein wenig von ihrer Wucht genommen wurde. Ein roter, nasser Fleck breitete sich auf dem dunklen Rock des Pfarrers aus, dessen Gesicht weß und schmerzverzerrt war. Von unten hörten sie Schritte und polternde Geräusche. »Was ist
geschehen?« Es war der Lehrer, der dies rief. »Hol den Arzt!« schrie der Polizist, während sich der Bürgermeister auf die Stufe gesetzt hatte. Ihm war hundeelend zumute. Der Lehrer rannte los. Die nächsten Minuten wollten einfach nicht vorbeigehen. Unheim lich lang kamen sie dem Polizisten vor, der ebenfalls auf der Treppe hockte und den Kopf des Pfarrers in seinen Schcß gebettet hatte. Hoffentlich überlebte der Geistliche! Der Apotheker erschien. Mit tonloser Stimme erklärte ihm der Bürgermeister, was sich abgespielt hatte. Endlich traf der Arzt ein. Und mit ihm zahlreiche Einwohner, die von den Schüssen aufgeschreckt worden waren. Der Polizist schickte sie mit barscher Stimme weg. Der Doktor kümmerte sich um den Schwerverletzten. Ein paarmal schüttelte er den Kopf. »Was ist los?« »Wenn wir ihn retten wollen, muß er in ein Krankenhaus gebracht werden. Ich hoffe nur, daß er den Transport in die Stadt übersteht. Lassen Sie meine Kutsche anspannen.« Sofort rannte der Lehrer los. Keiner der Männer beantwortete die Fragen, die gestellt wurden. Alle zitterten um den Pfarrer. »Und was ist mit ihm?« fragte der Arzt. Er hob die Hand und deu tete auf den Toten in der Kammer. »Ihm kann keiner mehr helfen!« wurde ihm geantwortet. Der Polizist verschloß die Tür. Fünf Minuten später stand die Kutsche fahrbereit vor dem Haus, wo auch schon der Einsarger wartete. Einige Helfer transportierten den schwerverletzten Pfarrer unter Aufsicht des Arztes behutsam nach unten. Der Geistliche war bei Bewußtsein. Er blickte in die besorgten Gesichter der Männer und versuchte sogar zu lächeln, doch es wurde nur eine Grimasse. Vorsichtig legten sie ihn in die Kutsche. Sie hatte eine Spezialfederung, die die schlimmsten Stöße der Fahrbahn einigermaßen dämpfte. Der Doktor selbst nahm auf dem Bock Platz. Neben ihm saß sein Gehilfe, ein breitschultriger junger Mann, der richtig anpacken konnte. Der Bürgermeister drückte dem Arzt die Hand. »Bringen Sie un seren Pfarrer durch.«
»Ich tue mein Bestes.« Die Kutsche fuhr an. Staub wallte unter ihren Rädern hoch. Der Bürgermeister sah dem Gefährt so lange nach, bis es seinen Blicken entschwunden war. Dann ging er zurück ins Haus, wo die anderen auf ihn warteten. Der Polizist hatte es tatsächlich geschafft und die Neugierigen hin ausgeschickt. Nur der Sargmacher und der Totengräber waren noch da. Ein langer, dürrer Mann, der immer einen fleckigen Zylinder trug und mit seinen dünnen Hängebacken leidend aussah. »Können wir?« fragte der Bürgermeister. Die Männer nickten. »Um was geht es denn?« Der Totengräber hatte die Frage gestellt. Ratlos sah er sich um. »Wir suchen die Leichen der drei verschwundenen Kinder.« Na türlich wußte der Mann Bescheid. Er wurde noch blasser. »Wo denn? Hier im Haus?« »Ja.« »O Gott, dann ist ja …« Der Polizist schnitt ihm mit einer knappen Handbewegung das Wort ab. »Ja, du Leichenhengst. Er ist es oder er war es. Rick Hollo way hat sie getötet.« Der Totengräber verdrehte die Augen. Fehlte nur noch, daß er ohnmächtig geworden wäre. Auf jeden Fall beteiligte er sich an der Suche. Die Männer fingen mit dem Dachboden an. Nicht im Keller, wie es vielleicht normal gewesen wäre. Eine nicht zu erklärende Furcht hielt sie davon ab. Sie stöberten alles durch, fanden nichts und durchsuchten das Zimmer mit dem Toten. Auch hier entdeck ten sie keine Spur von den verschwundenen Kindern, in den un teren Räumen ebenfalls nicht, und so blieb nur noch der Keller. Jeder trug eine Lampe. Der Polizist ging vor. Auch ihm war un heimlich zumute. Die Lampe in seiner Hand zitterte. Der Schein tanzte hektisch über die Wände. Sie stiegen hintereinander die aus getretene Steintreppe hinab. Niemand konnte aufrecht gehen. Ge duckt gingen sie weiter und durchstöberten die Kellerräume. Es waren nur Bretterverschläge. Feucht, klamm, mit schimmelbe zogenen Wänden. In den Räumen lag allerlei Gerümpel. Alte Säcke,
weggeworfene Kleidungsstücke, Bretter, Bohlen, ein paar Werk zeuge, alte Lappen … Die Kinder fanden sie nicht. Der Bürgermeister drehte sich um. »Ob wir ihn umsonst ver dächtigt haben?« fragte er. Hastig schüttelte der Lehrer den Kopf. »Nein, dann hätte er nicht so schlimm reagiert.« »Stimmt auch wieder.« »Noch mal von vorn«, schlug der Apotheker vor. »Die Kinder müssen doch irgendwo sein.« »Er könnte sie auch draußen verscharrt haben.« Diese Vermutung sprach der Totengräber aus. Die Männer sahen sich an. Eine Schweigepause entstand. Ein frostiges Gefühl hatte sich aller Men schen bemächtigt. »Ja, das ist möglich«, murmelte der Polizist. »Trotzdem bin ich dafür, daß wir hier noch weitersuchen.« Die anderen stimmten zu. So nahmen sich die Männer noch einmal die Verschläge vor. Bis der Lehrer eine Entdeckung machte. Im größten Raum stand ein Schrank mit zwei Türen. Der Lehrer hatte sie noch einmal aufgezo gen und war in das Möbelstück hineingeklettert. Er nahm an, daß es dicht an der Mauer stand, klopfte gegen die Rückwand und wunderte sich sehr, daß es hohl klang. Sofort machte er die anderen darauf aufmerksam. »Wir müssen den Schrank zur Seite rücken«, schlug der Bürgermeister vor. Das taten die Männer auch. In gemeinsamer Arbeit schafften sie es und waren überrascht, daß sich hinter dem Schrank eine türbreite Öffnung befand. Dahinter war es dunkel. Niemand sagte etwas, doch jeder der Anwesenden ahnte, daß sie dicht vor der Lösung des grauenvollen Rätsels standen. Der Bürgermeister machte den Anfang, weil sich selbst der Polizist nicht traute. Er ging auf die Knie nieder und kroch vor. Die Lampe hielt er in der rechten Hand. Sie zitterte, und der Schein warf gespenstische Schatten. Der Bürgermeister leuchtete in das Verlies. Alle hörten den erstickten Schrei. »Was ist?« Der Bürgermeister gab keine Antwort. Er zog sich wieder zurück. Allerdings kratzte etwas über den Boden. Die Männer sahen sich an.
Furchtsam waren ihre Blicke. Dann sah jeder, was der Bürgermeister mit der linken Hand aus dem Loch gezogen hatte. Es war ein Sarg. Ein weißer Kindersarg!
* Sekundenlang sprach keiner der Männer ein Wort. Alle waren viel zu entsetzt, um sich ausdrücken zu können. Sie starrten den Sarg an, als wäre er ein fremdes Lebewesen. Der Bürgermeister blieb auf dem Boden hocken. Er blickte zu den Männern hoch. »Da sind noch zwei«, flüsterte er. »Ebenfalls weiße …« »Die Kinder«, hauchte der Lehrer. »Holst du sie hervor?« fragte der Apotheker. »Ja.« Die Arbeit verrichteten der Bürgermeister und der Polizist. Schon bald standen die drei Särge nebeneinander. Die Männer starrten auf die Deckel. Keiner traute sich, das in die Hand zu nehmen, was ge schehen mußte. Der Polizist räusperte sich. »Wir – wir müssen die Särge öffnen!« Seine Stimme klang dumpf. Nicken. Es war ein gespenstisches Bild. Tanzend huschte der Widerschein der Flammen über die Wände und schuf dort ein bizarres Muster. Selbst die Luft schien sich zu verdichten, war schwerer zu atmen, und jeder spürte, daß ein unsichtbarer Gast zwischen ihnen lauerte. Das Grauen …
* »Dann will ich mal«, sagte der Polizist leise, bückte sich und machte sich an den Verschlüssen des ersten Sarges zu schaffen. Er löste sie, hievte den Deckel aber noch nicht an, sondern öffnete erst die Verschlüsse der beiden anderen Särge. »So«, sagte er, »jetzt können wir sie öffnen.« Der Bürgermeister, der Lehrer und der Polizist hatten sich gebückt. Jeder fühlte sich jetzt verantwortlich. Sie muß
ten es tun, es führte kein Weg daran vorbei. »Jetzt!« flüsterte der Bürgermeister. Gemeinsam hoben sie die schmalen Sargdeckel hoch, so daß die kleinen Särge offen vor ihnen standen und sie hineinschauen konn ten. Sie hatten mit vielem gerechnet, mit grauenhaften Bildern, aber nicht mit dem, was sie nun sahen. Die Kinder trugen schwarze Kutten. Ihre Körper waren nicht verwest. Die Finger hatten lange Nägel, als wären diese im Sarg wei tergewachsen. Aber das war nicht das Schlimmste, sondern es gab etwas anderes, etwas so Wahnwitziges, daß man es kaum glauben konnte. Die Kinder hatten keine Gesichter mehr, sondern pure Teufelsfratzen! »O Gott«, stöhnte der Bürgermeister und schlug hastig ein Kreuz zeichen. »Das – das darf doch nicht wahr sein …« Er schluckte und drehte den Kopf, um nicht mehr in die Gesichter blicken zu müssen. Sie sahen wirklich scheußlich aus. Dreimal die dreieckige Fratze des Satans, die beiden Hirner, die aus den schmalen Stirnen wuchsen, das grinsende Maul, leicht geöffnet, damit man die Stiftzähne sehen konnte. Ja, das war das genaue Abbild des Satans! Der Teufel war in die Kinder gefahren oder hatte sich ihre Seelen geholt. Dem Lehrer wurde es schlecht. Er wandte sich ab und würgte. Bleich taumelte er aus dem Verlies und blieb im Gang stehen, wo er sich schweratmend gegen die Wand lehnte. Er zitterte so, daß seine Zähne wild aufeinanderschlugen. Seine Lippen stammelten Gebete, irgendwelche Worte, die ihm gerade einfielen. Ein wahrhaft schlim mes Bild. Der Polizist holte ihn zurück. Krampfhaft vermied der Lehrer es, auf die Särge zu schauen. »Wir müssen etwas tun«, sagte der Bürgermeister. »Hierlassen können wir sie nicht.« »Aber was?« fragte der Lehrer. »Vielleicht sind sie gar nicht tot«, vermutete der Leichenbestatter. »Wieso?« Scharf sahen die anderen ihn an. »Ich meine – es könnte sein, nicht
wahr?« »Und?« »Dann – dann müßten wir sie eben töten.« »Nein!« Hart und scharf klang die Ablehnung des Bürgermeisters. »Das kommt nicht in Frage.« »Was denn?« »Wir werden sie begraben, Freunde. So wie sie sind. In ihren Särgen. Wir verscharren sie dicht an der Küste in unheiliger Erde, wo vor über zweitausend Jahren der alte Druide gelebt haben soll. Noch heute wird dieser Platz gemieden. Da sollen sie ihre letzte Ru hestätte bekommen.« Die anderen stimmten zu. »Aber wie machen wir es?« fragte der Lehrer. »Auf jeden Fall sagen wir den anderen nichts davon. Niemand darf etwas von diesen grauenhaften Vorgängen wissen. Wir werden sie begraben und nicht mehr darüber reden.« Die Männer nickten. »Aber zuerst muß ich das Haus versiegeln, daß niemand mehr hinein kann«, sagte der Polizist. Der Meinung waren die anderen auch. Der Totengräber verschloß die Särge wieder. Die Männer verabre deten sich für den anderen Abend. Dann wollten sie zu den Klippen ziehen und die drei Särge dort verscharren. Ebenfalls ihren Mörder. Fragen gingen sie aus dem Weg. Sie gaben nur zu, daß Holloway der Mörder der Kinder gewesen war. Mehr nicht. Dann, kurz nach Mitternacht des nächsten Tages, der Himmel war bewölkt, und kein Stern lugte hervor, gingen die Männer ihrer traurigen Pflicht nach. Sie hatten drei Stunden zuvor erfahren, daß der Pfarrer seinen Verletzungen erlegen war. Auch eine sehr deprimierende Nachricht. Der Totengräber hatte seinen Wagen zur Verfügung gestellt. Er hatte eine offene Ladefläche, auf der nicht nur die drei weißen Särge standen und sorgfältig abgedeckt waren, sondern auch eine vierte Totenkiste, in der Rick Holloway lag. Mit knarrenden Rädern fuhr der Leichenwagen durch den Ort und näherte sich der Küste, wobei er den schmalen, gewundenen Weg nahm, der zu den Klippen führte, wo auch das einsame Haus stand, das irgendeinem reichen Mann aus London gehörte. Der kam zweimal im Jahr her und feierte
ein rauschendes Fest. Er kümmerte sich nicht um den verfluchten Ort, hielt das alles für Spinnerei und Aberglaube. Doch die Einheimischen wußten es besser. Schweigend hoben sie die Gräber aus, während der Wind durch ihre Haare fuhr und das Lied von Tod und Vergänglichkeit sang. Kein Kreuz schmückte die Gräber der drei Kinder, und auch bei Holloway war kein christliches Sym bol zu sehen. In unheiliger Erde waren die Leichen verscharrt worden. Sie sollten dort bis in alle Ewigkeit liegenbleiben … Dann kam der Erste Weltkrieg. Die Männer wurden eingezogen. Im Jahre 1916 tauchte plötzlich der Mann aus London auf, dem das Haus bei den Klippen gehörte. Er erfuhr, daß im Dorf ein Haus leerstand. Der Mann kümmerte sich nicht um das Verbot, sondern drang in das Haus ein. Er war sehr angetan von den alten Möbeln, und besonders die Standuhr stach ihm ins Auge. Niemand hatte ihm gesagt, was es mit dieser Uhr für eine Bedeutung hatte und welche Verbindung es zwischen Holloway, den drei toten Kindern und der Uhr gab. Wo her sollten die Leute dies auch wissen? Der Käufer aber nahm alles mit. Die Möbel und auch die Uhr verschwanden in der Versenkung. Die Zeit deckte den Mantel des Vergessens über die schrecklichen Vorgänge, und aus dem Krieg kam nur der Bürgermeister zurück. Die anderen waren im Feld geblieben. Der Bürgermeister ging noch einmal vor seinem Tode in das Haus. Er fand es halb ausgeräumt vor, und erst auf dem Sterbebett vertraute er seiner Frau und seinen beiden Kindern das schreckliche Geheimnis an. Er bat den Herrgott um Verzeihung, dann starb er. Doch die Verbindung zwischen der Teufelsuhr und den Toten riß nie. Im Jahre 1981 erst sollte sie auf grauenhafte Art und Weise wieder aktiviert werden …
* Durch die Ruine pfiff der Wind und fuhr mir unangenehm in den Nacken. Schutt türmte sich vor meinen Füßen zu einem kleinen Berg auf. Vorspringende Mauern und leere Fensterhöhlen gaben De
ckung und Sicht gleichzeitig. Von dem Vampir aber hatte ich noch keine Spur gesehen. Auch Suko nicht, der sich an der Suche beteiligte. Ein Telefonanruf beim Yard war zu mir durchgestellt worden. Eine hysterische Stimme erzählte, daß ein Vampir durch die Ruine an der Vincent Street geistern würde. Hier hatte früher mal ein öf fentliches Verwaltungsgebäude gestanden, nun hatte man es abge rissen, aber nicht dem Erdboden gleichgemacht, so daß noch zahl reiche Mauern standen. Nun ja, wir fuhren hin, denn Vampire erinnerten mich immer an den Kosmetik-Konzern Fariac oder an Vampiro-del-mar, den Kaiser der Blutsauger, der lange auf dem Meeresboden gelegen hatte und sogar widerstandsfähig gegen Wasser war. So sah die Lage aus, als Suko und ich losfuhren. Die Arbeit hatten wir uns geteilt. Während ich von Westen her in die Ruine eindrang, hatte Suko den östlichen Weg genommen. Jetzt suchten wir unseren »Freund«. Ich sah zwar viel Schutt und hochgewachsenes Unkraut, aber von dem Vampir entdeckte ich nichts. Wenn tatsächlich einer hier herumgeistern sollte, dann hatte er sich bestimmt im Keller versteckt. Die Räume waren sicherlich noch nicht zusammengebrochen. Ich suchte den Einstieg und mußte dabei über den Schutthügel steigen. Als ich die höchste Stelle erreicht hatte und mir einen Rund blick erlaubte, da entdeckte ich ihn. Er kroch zwischen zwei Mauerresten hindurch und versuchte, immer in Deckung einer Wand zu bleiben. Sein Ziel war eines der großen Fenster im unteren Teil. Mich bemerkte er nicht, weil er mir den Rücken zuwandte. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, nur den langen, schwarzen Mantel mit dem roten Futter, der sich aufbauschte, als ein Windstoß ihn traf. Wirklich ein Vampir. Ich hetzte los. Er hörte meine Schritte, kreiselte herum und starrte in die Mündung der Beretta, die ich natürlich gezogen hatte. Ich weiß
nicht, was mich davon abhielt zu schießen, obwohl sämtliche Anzei chen auf einen Blutsauger hinwiesen. Die schwarzen Haare, die Dra cula auch gehabt hatte, das hagere Gesicht, die langen Zähne, die blutunterlaufenen Augen, alles war so perfekt, daß es mir schon zu perfekt vorkam. Und deshalb zögerte ich. »He, was ist los?« fragte der Mann mit zitternder Stimme, als ich ihm die Waffenmündung in den Nacken drückte. Ich gab keinen Antwort, denn mir war etwas aufgefallen. Mit der linken Hand griff ich in sein Haar und hielt im nächsten Augenblick die Perücke zwischen den Fingern. Plötzlich wurde der Mann rot, senkte den Kopf und griff zwischen seine Lippen. Er holte das künstliche Vampirgebiß hervor und warf es wütend weg. »Mann«, sagte er im breitesten Eastend-Slang, »kann man sich hier denn keinen Spaß erlauben?« Ich ließ die Beretta verschwinden. »Schon gut, Mr. Vampir«, sagte ich. »Was soll das überhaupt?« fuhr er mich an, weil er wieder Mut gefaßt hatte. »Was erlauben Sie sich eigentlich, mich hier mit einer Waffe zu bedrohen?« Ich zeigte ihm meinen Ausweis. »Polizei?« fragte er. »Ja. Und wir sind gerufen worden, weil Sie eine Frau in Ihrer lä cherlichen Verkleidung erschreckt haben.« Er wand sich vor Lachen. »Die alte Hexe hat tatsächlich geglaubt, einen Vampir vor sich zu se hen. Klasse, wirklich.« Er klatschte in beide Hände. »Als ob es dies gäbe.« Ich hätte ihm ja eine andere Antwort geben können, ließ es je doch bleiben. Niemand von uns hatte etwas davon, wenn ich ihm erzählte, daß es doch Vampire gab. Eine halbe Stunde später war die Sache erledigt. Ich konnte dem Mann auch keine Vorwürfe machen. Sich als Vampir zu verkleiden verstieß nicht gegen das Gesetz. Suko und ich fuhren wieder zurück. Inzwischen war beim Yard auch offiziell Feierabend, ich hatte keine Lust, noch ins Büro zu fah ren, und rollte nach Hause. Telefonisch meldete ich mich bei meinem Vorgesetzten, Superintendent Sir Powell, ab. Bevor ich hochfuhr, räumte ich den Briefkasten leer. Suko wollte an diesem
Abend noch zum Karatetraining und Shao mitnehmen. Ich hatte vor, die Beine auszustrecken. Vor meiner Wohnungstür trennten wir uns. Ich schlüpfte in bequeme Kleidung und sah erst einmal die Post durch. Reklame, Reklame und noch einmal Reklame. Doch der letzte Brief war normal. Er duftete sogar ein wenig nach Parfüm. Ich run zelte überrascht die Augenbrauen. Nanu, wer schrieb mir denn sol che Briefe? Ich drehte ihn um und las den Absender. Nadine Berger! Ein Name, der mir einiges sagte und der Erinnerungen weckte. Ich dachte an Dr. Tod, wie ich ihm den silbernen Nagel in die Stirn ge schlagen hatte. An den Kampf mit ihm auf dem Turm, und ich dach te an den unheimlichen Mönch, der uns einige Schwierigkeiten be reitete, als ein Team mit Nadine Berger in der weiblichen Hauptrolle einen Film drehen wollte. Damit war über Nadine Berger alles ge sagt. Sie hatte einen exotischen Beruf und war Filmschauspielerin. Zweimal hatte ich mit ihr zu tun gehabt. Nadine war eine tolle Frau. Bei ihr hätte ich wirklich nicht ›Nein‹ sagen können, doch beim letz ten Ball mischte noch Jane Collins mit, und die wachte mit Argus augen über uns, damit wir ja keine Dummheiten machten. Nun denn, ich war gespannt, was die gute Nadine von mir wollte. Vor sichtig öffnete ich den Brief, und mir rutschte eine handschriftlich und auf Büttenpapier geschriebene Einladung in die Hände.
* Lieber John! Ich hoffe, daß Du mir nicht böse bist, weil ich so lange nichts mehr von mir habe hören lassen. Aber du weißt ja selbst, wie hektisch das Filmgeschäft ist. Da kommt das Privatleben halt zu kurz. Ich werde am nächsten Wochenende dreißig Jahre alt und habe vor, diesen Geburtstag mit Freunden groß zu feiern. Gleichzeitig will ich mich an diesem Tag verloben. Mein Auserwählter, er ist Antiquitätenhändler, besitzt ein altes Haus an der Küste von Wales. Hier wollen wir meinen Geburtstag und unsere Verlobung feiern. Du, John, bist herzlich eingeladen,
und ich habe sehr, daß du kommst. Alles weitere mündlich. Deine Nadine * Es folgte noch eine Telefonnummer, unter der Na dine Berger zu erreichen war. Ich überlegte. Die Einladung war ziemlich plötzlich gekommen, denn heute hatten wir schon Mittwoch. Allerdings hatte ich nichts am Wochenende vor, und ich hatte Nadine zudem lange nicht mehr gesehen. Ich freute mich wirklich, sie wiederzusehen. Verloben wollte sie sich. Ich lächelte müde und auch etwas verlo ren. Wieder überkamen mich die Erinnerungen an unsere beiden ge meinsam erlebten Fälle. Ich sah sie noch genau vor mir. Mal blond, dann wieder schwarz. Nadine wechselte die Haarfarbe, das war ein kleiner Tick von ihr. Seit der Begegnung mit dem unheimlichen Mönch hatte sie sich geschworen, nie wieder Gruselfilme zu drehen. Das schien sie auch durchgehalten zu haben, denn ich hatte nichts anderes mehr gehört. Auf jeden Fall war ich gespannt, sie wiederzu sehen. Der Telefonnummer nach zu urteilen, mußte sie sich bereits in Wa les aufhalten. Das Gespräch würde teuer werden, aber Nadine war mir dies wert. Ich rief an. Ein Hotelportier meldete sich. Ich sagte meinen Namen und bat, Miss Berger sprechen zu dürfen. Man verband mich weiter. Dann hörte ich ihre Stimme. »John!« rief sie. »Bist du es wirklich? Oder hat der Knabe von der Rezeption den Namen falsch verstanden?« Ihre Stimme klang freudig erregt. »Ich bin es in der Tat, du großer Star«, sagte ich und hörte ein silberhelles Lachen. »Dann hast du meine Einladung erhalten?« »Soeben.« »Und?« Ich ließ sie bewußt ein wenig zappeln und gab erst mal keine Ant wort. »John, bitte sag schon«, drängte sie. »Ich sterbe hier fast vor Spannung.« »Am Wochenende habe ich nichts vor. Und ich hoffe auch nicht, daß etwas dazwischen kommt.« Sie unterbrach mich. »Dann kom
mst du, John?« »Wie es aussieht – ja.« Ein Jubelschrei war die Antwort. »Und du verlobst dich?« »Ja, John.« »Wer ist denn der Glückliche?« »Es ist ein bekannter Antiquitätenhändler aus London und heißt Don Mitchell.« »Kenne ich nicht.« »Du interessierst dich ja auch nicht für alte Möbel.« »Nun ja, Hauptsache, ihr versteht euch gut«, sagte ich und spürte ein leichtes Kratzen im Hals. »Ja, das tun wir.« »Hörst du dann mit der Filmerei auf?« wollte ich wissen. »Nein. Don hat nichts dagegen.« »So ganz begeistert klingt deine Stimme nicht«, sagte ich. »Hast du irgend etwas?« »Wieso?« »Ich frage nur.« Eine Pause entstand. »Vielleicht, John. Ich bin mir nicht so sicher. Es könnte sein.« »Sag es, Nadine.« »Unsinn, John. Aber wir reden darüber, das kann ich dir verspre chen. Sieh zu, daß du früh bei mir bist, dann haben wir noch für uns ein wenig Zeit.« »Okay, ich fahre in der Nacht los. Du mußt mir nur noch die ge naue Adresse sagen.« Den Ort kannte ich nicht. Eines der zahlreichen Dörfer, die es überall in Wales gab. Einsam, an der Küste liegend und noch ursprünglich. »Das Haus ist auf jeden Fall nicht zu übersehen. Es liegt ziemlich nahe an den Klippen. Richtig romantisch.« »Ich bin gespannt«, sagte ich. Das war ich wirklich. Und ich dachte auch noch lange über das Gespräch nach. Sehr glücklich hatte Nadines Stimme nicht geklungen. Irgend et was lag in der Luft, und ich beschloß, zu der Verlobungsfeier nicht
unbewaffnet zu fahren …
* Nadine Berger fürchtete sich! Nicht vor irgendwelchen Feinden oder Einbrechern, ihre Furcht hatte einen anderen Grund. Es war das Haus! Trutzig, gewaltig, wuchtig – und düster stand es hoch auf den Klippen. Vom Wind umtost, mit dicken Mauern und den dunklen Steinen machte es einen unheimlichen Eindruck. Vor allen Dingen bei Vollmond und Sturm. Wenn die riesigen Wolkenberge am Himmel trieben, wurden das Haus und die unmittelbare Umgebung zu einer gespenstischen Kulisse, dann knarrten die Fensterläden, dann ächzte das Dach, und jedes Mauerstück schien sein eigenes Leben zu haben. Don Mitchell hatte das Haus geerbt, und er wollte davon nicht lassen. Das hatte er Nadine Berger deutlich genug zu verstehen gegeben. Er wollte sogar die Verlobung hier feiern. Na dine konnte sich nicht vorstellen, daß dieses Haus sich jemals mit Leben füllte. Alles war so kalt und düster. Es war ein Haus, um dar in begraben zu werden! Zudem schien sich ein düsteres Geheimnis um das Haus und die Umgebung zu ranken. Nadine Berger wußte nichts Genaues, aber die Menschen im nahen Dorf hatten kaum mit ihr gesprochen und sie nur seltsam angesehen. Sie hatte nachgehakt, aber keine Ant worten erhalten. Man schwieg sich halt aus. Nadine war eine moderne junge Frau. Sie akzeptierte es, wenn andere ihre Hobbys hatten. Das Sammeln alter Gegenslände, zum Beispiel. Aber zwischen diesen alten Möbeln konnte sie nicht leben. Da fühlte sie sich eingeengt. Und ihr zukünftiger Verlobter hatte das Haus mit allen Dingen vollgestopft. Antiquitäten, für die er nicht einmal hatte zu bezahlen brauchen, weil die Sachen ihm vererbt worden waren, von einem seiner Vorfahren rrütter-licherseits, der ebenfalls Antiquitätenhändler gewesen war. Der war öfter in diese Gegend gefahren und hatte hier ›abgeräumt‹, wie man so schön
sagt. Momentan befand sich Nadine Berger allein in dem düsteren Haus. Ihr Fast-Verlobter war weggefahren, weil er noch etwas besorgen wollte. Nadine wollte nicht mitfahren. Sie hatte keine Lust, hinaus in den Frühjahrsregen zu laufen, der aus der dichten grauen Wolkendecke fiel und gegen die Scheiben hämmerte. Hier an der Küste war es immer windig. Vom Meer her wühlte sich der Wind heran, schleuderte das Wasser vor sich her und warf es gegen die Felsen. Wales – ein wildes, romantisches Land. Daran mußte Nadine Berger denken, als sie sich abwandte. Sie konnte das an den Scheiben herablaufende Wasser nicht mehr sehen und hoffte, daß Don bald zurückkehren würde. Es war nicht jedermanns Sache, allein in solch einem Haus zu bleiben. In den Keller hatte sich Na dine noch gar nicht hineingetraut. Davor fürchtete sie sich. Personal war auch nicht da. Es würde erst später eintreffen. Die dunkelhaarige Schauspielerin zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in den Raum hinein. Er war so grcß, genau richtig für die alten Möbel. Inzwischen gab es in diesem Gemäuer auch elektrisches Licht, und die Küche war mit allem Komfort eingerich tet. Nadine würde es an nichts fehlen. Ihr zukünftiger Verlobter war sehr reich. Trotzdem fragte sie sich, ob es nicht eine Wahnsinnsidee war, sich mit ihm zu verloben. Don war ein lieber, netter Mensch, wirklich, aber er hatte eben seine Macken. Nadine überlegte hin und her. Sie schritt die Seiten des kostbaren Teppichs ab, rauchte, dachte nach und fragte sich, ob sie alles richtig gemacht hatte. Und bei wem konnte sie sich Rat holen? Freunde hatte sie nicht. Zwar ungeheuer viele Bekannte, wie das ja in der Filmbranche so üblich ist, aber die Kollegen waren keine Freunde, die dachten nur an ihren eigenen Vorteil. Nadine wußte keinen, mit dem sie über ihre Probleme reden konnte. Da war ihr John Sinclair eingefallen, und daß er kommen würde, empfand sie als einen großen Lichtblick. Ihm konnte sie sich anver trauen, und er würde auch Verständnis dafür haben, daß sie sich in dem Haus nicht wohl fühlte. Dieses Gemäuer lebte. Da war nicht nur der Sturm, der um die Mauern toste, sondern es gab noch etwas
anderes, das sie beunruhigte. Etwas nicht Faßbares, nicht Greifbares, Unheimliches. Dieses Haus oder die Umgebung mußten ein schreckliches Geheimnis bewahren … Sie wußte nicht, was es war, aber sie fühlte es. Wie das Netz einer Spinne breitete es sich aus, es überfiel sie regelrecht und umwob sie. Nadine hatte das Gefühl, in den großen Hallen und Zimmern keine Luft mehr zu bekommen. Diese breite Treppe, die mit Stuck ver zierten Decken, das knarrende Holz, die dicken Bohlen, die Fenster – und … Nadine unterbrach ihre Wanderung und blieb abrupt stehen. Sie befand sich in Nähe der Tür, die offenstand, und sie hörte genau das Geräusch. Kinderlachen … Es kam von unten. Entweder aus der Halle oder aus einem der Räume, die sich darum gruppierten. Aber es waren keine Kinder im Haus, deshalb konnte es nicht sein, daß Kinder sprachen. Oder sollten etwa aus dem nahen Dorf welche ein getroffen sein? Nadine Berger wollte rufen, doch irgendein Zwang hielt sie davor zurück. Statt dessen näherte sie sich der offen stehenden Zimmertür, um den Raum zu verlassen. Sie wollte hinaus in den breiten Korridor, der die Halle im Quadrat umlief. Nadine Berger spitzte die Ohren. Wieder die Kinderstimmen. Es mußten sicherlich zwei oder drei sein, die miteinander spra chen. Allerdings konnte Nadine nicht unterscheiden, ob es Jungenoder Mädchenstimmen waren. Sie klangen zu gleich. Vor der breiten Brüstung blieb sie stehen, legte ihre Hände auf den lackierten Haridlauf und schaute in die Tiefe. Von den Kindern sah sie nichts. Aber sie hatte doch ihre Stimmen gehört! Nadines Herz klopfte schneller. Sie raffte ihren Mut zusammen und rief: »Hallo, da unten, ist da jemand?« Keine Antwort. Die Filmschauspielerin rief noch einmal, und in der Halle blieb es immer noch still Nadines Blick flackerte. Was sollte sie tun? Daß sich dort jemand befand, das hatte sie sehr deutlich gehört, aber warum meldete sich dann keiner? Wenn doch nur ihr Freund da gewesen wäre! Don Mitchell hätte bestimmt eine Antwort gewußt. Aber der war unterwegs und würde erst später eintreffen.
Das Haus verlassen konnte sie zwar, aber sie wollte nicht durch die Dunkelheit und sich irgendwo in Miltonburry verkriechen. Was hätte sie den Dorfbewohnern auch erzählen sollen? Man hätte sie ausgelacht, den Bericht für eine Farce gehalten, für die Wichtigtuerei einer überkandidelten Schauspielerin. So ähnlich dachte sie. Aber hier oben wollte sie auch nicht bleiben, überwand sich selbst und schritt auf die breite Treppe zu, die im Bogen nach unten führte. Das Licht brannte zwar, aber diese Dinge gefielen ihr nicht. Na dines Meinung nach war es nicht hell genug. Die großen Leuchter an der Decke brannten einfach zu matt. Nadine biß sich auf die Lippen. Nur keine Panik, schärfte sie sich ein, du hast schon einiges erlebt und wirst dich doch durch Kinderstimmen nicht bangema chen lassen. Schritt für Schritt ging sie die Stufen hinunter. Der dun kelrote Teppich schluckte jedes Geräusch, so daß ihre Ankunft gar nicht bemerkt werden würde. Nadine Berger zwang sich zur Ruhe. Die Atmosphäre des Hauses sollte nicht auf sie abfärben. Als sie die Hälfte der Treppe hinter sich gelassen hatte, zuckte sie wieder zusammen. Abermals hörte sie die Stimmen. Jemand lachte. Aber es war ein rauhes Lachen, das so gar nicht zu einem Kind passen wollte. Irgendwie klang es wild, abgehackt und geiährlich. Nadines Furcht wuchs … Aber sie ging weiter. Stufe für Stufe ließ sie hinter sich und atmete auf, als sie in der Halle stand. Ihre Blicke saugten sich an der schwe ren Eingangstür fest. Sie war geschlossen. Hatten die Kinder diesen Weg genommen, oder waren sie auf einem anderen in das Haus gelangt? Vielleicht durchs Fenster einge stiegen. Sie rechnete mit allem. Mehrere Türen zweigten ab. In der Mitte der Halle lag ein großer Teppich. Ein Flügel stand hier, an den Wänden hingen große Öl schinken, ein wuchtiger Lüster, der mit Glasplättchen übersät war, zog unwillkürlich die Aufmerksamkeit der Eintretenden auf sich. Unter dem Lüster blieb die Frau stehen. Irgendwie paßte sie nicht so recht in dieses Gemäuer. Nadine trug ein elegantes, weinrotes
Kostüm, dessen Rock ziemlich eng geschnitten und geschlitzt war. Das Kostüm unterstrich deutlich ihre biegsame Figur. Da der Rock nicht zu lang war, kamen auch die fantastisch gewachsenen Beine zur Geltung. Das dunkle Haar fiel als Ringellockenfrisur bis fast auf die Schultern und umrahmte das aparte Gesicht der bekannten Filmschauspielerin. Wieder hörte Nadine die Stimmen. Sie zuckte herum. Genau gegenüber waren sie aufgeklungen, wo die Tür des Zimmers spaltbreit offenstand. Da mußten sie sein. Nadine fröstelte, als ihr dies bewußt wurde, und sie schreckte auf, als sie plötzlich das Geräusch hörte. Direkt über ihr. Der Kronleuchter begann zu schwanken. Nadine warf einen Blick nach oben, sah, daß sich die kleinen Glaspailletten bewegten und gegeneinanderklirrten. Sie verursachten diese seltsame Musik, die Nadine eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Jeden Moment konnte der Leuchter fallen, und Nadine sah zu, daß sie wegkam. Hastig lief sie auf die Tür zu, hinter der die Stimmen aufgeklungen waren. Vor dem Raum blieb sie stehen. Im selben Augenblick hörte das Klirren auf. Nadine fiel ein Stein vom Herzen, sie zuckte jedoch zu sammen, als sie abermals die Stimme vernahm. Und nun konnte sie etwas verstehen. »Wir kommen wieder – der Teufel läßt uns – wir müssen in das Haus – es gehört uns …« Nadine Berger begann zu zittern. Wer redete so, und warum rede ten die Kinder so? Eine seltsame Sprache hatten sie. Eine Sprache, die Nadine über haupt nicht begriff. Die Filmschauspielerin unterdrückte für einen Moment die Angst, faßte sich ein Herz und stieß die Tür auf. Sie hatte erwartet, auf mehrere Kinder zu treffen, doch der Raum war leer. Das heißt, es hielten sich keine Personen darin auf. Aber woher kamen die Stimmen? Nadine Berger blickte sich um. Sie sah an der einen Wand den großen Schrank, dessen wertvolle Intarsienarbeit auch ihr gefiel, sie
sah die beiden Stühle mit den gebogenen Lehnen, und sie sah noch mehr. Die Standuhr! Ein prächtiges Stück, das seinen Platz an einer Wandseite hatte und auf das ihr zukünftiger Verlobter besonders stolz war. Die Uhr übte auf sie eine gewisse Faszination aus, das mußte sogar Nadine Berger zugeben. Ohne es eigentlich zu wollen, schritt sie auf die Standuhr zu. Diese Uhr war ziemlich breit. Breiter als die normalen Uhren, und in der unteren Hälfte lief sie auseinander, so daß der Sockel wuchtiger war als das Oberteil. Man konnte ihn auch aufschließen. Nadine sah die Tür und den im Schloß steckenden Schlüssel. Ihre Hand war schon unterwegs, doch dann zuckte sie wieder zurück. Nein, sie traute sich nicht, die Tür zu öffnen. Ihr Blick wanderte höher und blieb auf dem ziemlich großen Zif ferblatt haften. Die römischen Ziffern waren auf die runde, leicht bläulich schimmernde Unterlage genietet, und sie sah auch die beiden Zeiger, von denen sich der größere langsam bewegte. Die Standuhr ging genau, obwohl sie schon so alt war. Ein Meister seines Fachs mußte sie angefertigt haben. Der Anblick dieser Uhr weckte seltsame Gefühle in ihr. Dieses wirklich fantastische Schmuckstück stieß sie ab und zog sie gleich zeitig an. Sie wußte nicht weshalb, aber sie hatte das Gefühl, daß von der Uhr eine Bedrohung ausging. Die Filmschauspielerin fröstelte. Sie stand davor, wagte sich nicht zu rühren und hatte die Kinder völlig vergessen, so sehr war sie in den Anblick vertieft. Nadine nagte auf der Lippe. Ein Schauer rieselte über ihren Rücken. Sie konnte nicht sagen, woher dieses Gefühl der Bedrohung kam, es war einfach da. Vielleicht ging ihr auch der Schlag der Uhr auf die Nerven. Gleichmäßig bewegte sich das Pendel. Tack – tack – tack … Und der Minutenzeiger wanderte weiter. Drei Minuten vor zwei
undzwanzig Uhr. Nadine dachte an ihren Freund, der noch nicht da war und um den sie sich Sorgen machte. Warum kam er nicht …? Ihre Gedanken wurden abgelenkt. Denn abermals zog sie das Zif ferblatt in seinen Bann. Das bläuliche Schimmern war doch nicht normal, denn sie hatte das Gefühl, als würde sich innerhalb des Zifferblattes etwas be wegen. Nadine schluckte. Da war doch etwas … Im selben Augenblick schlug die Uhr an. Zehnmal! Nadine Berger erschrak. Zehn dumpfe Glockenschläge hallten durch das Zimmer, und jeden einzelnen Schlag schien sie körperlich zu spüren, er drang ihr durch und durch. Der letzte Schlag … Da geschah es. Urplötzlich veränderte sich das Zifferblatt. Aus dem Innern schäl te sich eine gräßliche Fratze hervor. Die Fratze des Teufels!
* Es war wärmer geworden. Der letzte Schnee taute auf den Bergen, dafür aber fiel der Regen vom Himmel, als würde er dort aus Kannen gegossen. Don Mitchell fluchte. Er hatte vorgehabt, schon längst zu Hause zu sein, aber der Weinhändler hatte ihn aufgehalten und ihn noch in seinen Keller geführt, wo es einige erlesene Kostbarkeiten zu pro bieren gab. Don hatte sie probiert. Eigentlich schon zuviel, er hätte nicht mehr fahren dürfen, aber wie sollte er sonst an sein Ziel gelangen? Außerdem gab es hier keine Polizei, die kontrollierte. Man befand sich ja nicht in der Großstadt.
Mitchell lenkte seinen knallroten Jaguar dennoch sicherüber die Straßen. Er schien der einzige Autofahrer hier in der Gegend zu sein, denn niemand kam ihm entgegen. Die starken Halogenleuchten warfen ihr breites, helles Band auf die Fahrbahn. Unzählige Regentropfen glitzerten wie Diamanten auf, wenn sie von den Lichtspeeren getroffen wurden. Don Mitchell war froh, wenn er endlich im Bett lag. Die letzten Tage waren aufregend gewesen, und der folgende würde noch auf regender werden. Er dachte an seine Fast-Verlobte. Vor einem halben Jahr hatten sie sich kennengelernt, bei einer Filmpremiere, auf die ihn ein Bekann ter geschleppt hatte. Sofort war er von Nadine Berger fasziniert gewesen. Diese Frau stellte für ihn alles in den Schatten. Er hatte schon viele Mädchen ge habt, vom Callgirl bis zur Millionärstochter, aber so etwas wie Na dine war noch nicht dabeigewesen. Himmel, war das eine Frau! Und er war Nadine auch sympathisch gewesen. Kein Wunder, denn der 35jährige Antiquitätenhändler war ein gutaussehender Mann. Die Frauen liefen dem Schwarzhaarigen regelrecht nach, er hatte keine Mühe, und wenn er sein Playboylächeln aufsetzte, dann war schon meistens alles klar. Und jetzt die Verlobung. Ein tiefer Einschnitt in seinem Leben. Er mußte seine Devise ändern, früher hatte er schnell mit den Mädchen geschlafen, und jetzt war Nadine da. Don war ehrlich gegen sich selbst. Er wußte nicht, ob er ihr treu bleiben würde, im Moment jedenfalls kam für ihn keine andere in Frage. Die Straße führte bergauf. Und noch immer schüttete es wie aus Eimern. Braune Fluten spülten dem Wagen entgegen. Der Regen hatte die lehmigen Hänge ausgewaschen, das Wasser auf die Straße getragen, wo es hinabgewirbelt wurde und dem einsamen Fahrer entgegenschäumte. Die Wischer fuhren in der stärksten Stufe über die Scheibe.
Trotzdem konnten sie die Wassermassen kaum schaffen. Bald hatte der Fahrer die höchste Stelle der Straße erreicht. An der linken Seite ging es in die Tiefe. Dort war die Straße leider nicht besonders gut abgesichert, nur ein paar Grenzpfähle, das war alles. Das Meer wirkte wie eine wogende dunkelgraue Fläche. Nur hin und wieder schäumte der Kamm einer Welle auf, ansonsten rollten die grauen Wellen der Küste zu. Die Cardigan Bay war für ihre Stürme und Wildheit bekannt. Zahlreiche Schiffe waren bereits an den Klippen zerschellt. Eine weitere Kurve. Mitchell nahm sie vorsichtig, da der Straßen belag mit einer Schlammschicht überzogen war. Er war sonst ein flotterer Fahrer, doch hier mußte er sich den Verhältnissen an passen, sonst landete er zwischen den Klippen. Vor ihm lag das Dorf. Er atmete auf, als er die Häuser von Miltonburry sah. Hier und da brannte ein einsames Licht. Die Bauten verschwanden im grauen, dichten Regenschleier. Mitchell hatte das Dorf schnell erreicht, durchfuhr es, und die vier Räder schleuderten hohe Wasserfoniänen nach allen Seiten weg, wenn sie durch die großen Pfützen rollten. Mitchell war froh, end lich nach Hause zukommen. Er schlidderte förmlich mit seinem Jaguar in die Kurven hinein, das Aquaplaning machte seinem Wagen zu schaffen, die Reifen rutschten wie auf Schmierseife über den Belag. Don Mitchell beugte sich am Lenkrad etwas vor und schaute schräg durch die breite Frontscheibe. Er suchte sein Haus und wollte sehen, ob hinter den Fenstern noch Licht brannte. Der Regen machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Don Mitchell sah nur die graue Wand. Im Kofferraum rumpelten die flachen Weinkisten gegeneinander, wenn er die Kurven nahm. An das Geräusch hatte er sich inzwi schen gewöhnt, und die Flaschen waren gut verpackt. Noch zwei Kurven, dann hatte er es hinter sich. Die erste schaffte er gut, ging dann in die zweite hinein, folgte mit seinen Blicken den Lichtspee ren der Scheinwerfer und riß plötzlich die Augen weit auf, während er gleichzeitig auf die Bremse trat. Vor ihm auf der Straße standen
drei Kinder! Das Licht der Scheinwerfer hatte sie getroffen, und Don Mitchell sah sie trotz des Regens ziemlich deutlich. Wie Denkmäler standen sie nebeneinander und wandten ihm den Rücken zu. Nur drei Schritte von den Kindern entfernt brachte er seinen Jagu ar zum stehen. Mitchell schluckte. Er wischte sich über die Stirn und fühlte den kalten Schweiß. Das war wirklich ein Hammer. Drei Kinder mitten im strömenden Regen und nahe bei seinem Haus. Wo kamen sie her? Und was suchten sie in der Nacht auf dem einsamen Weg, dazu bei strömendem Regen? Don schüttelte den Kopf. Die Kinder gingen auch nicht weg, ob wohl sie den Wagen gehört haben mußten. Sie blieben stehen und rührten sich nicht. Er drückte auf die Hupe. Das Horn tutete sein Signal hinaus in die Nacht, aber die Kinder reagierten nicht. »Verdammt!« schimpfte Mitchell. Er hatte eingesehen, daß er so nicht weiterkam. Jetzt mußte er doch tatsächlich aussteigen und wurde noch klatschnaß. Noch einmal betätigte er die Hupe. Als sich wiederum nichts tat, war er es leid. Don Mitchell stieß die Fahrertür auf und schwang seinen Körper aus dem Wagen. Sofort klatschte das Wasser auf seine Beine, doch zum Glück hatte er den Mantel während der Fahrt angelassen. Er stemmte sich völlig aus dem Fahrzeug, ging an der langen Küh lerschnauze entlang, spürte, wie der Regen in sein Gesicht fuhr, und hatte gerade die Hälfte der Strecke zwischen sich und den Kindern hinter sich gelassen, als sich die drei umdrehten. Der Schock traf den Mann völlig unvorbereitet. Er hatte erwartet, normale Kindergesichter zu sehen, aberüber den langen, schwarzen Umhängen zeichneten sich drei Gesichter ab, die es gar nicht geben durfte. Es waren Teufelsfratzen!
* Nadine Berger konnte einen Schrei nicht vermeiden. Automatisch drang er über die Lippen, als sie die Fratze auf dem Zifferblatt an starrte. Natürlich hatte sie schon Abbildungen vom Teufel gesehen. Dieses Gesicht sah nicht ganz so aus. Es hatte etwas menschlichere Züge an sich, auch wenn Hörner aus dem Schädel wuchsen. Der Mund stand offen, die Augen blickten kalt, die Pupillen zeigten eine gelbe Farbe, und aus dem Gesicht hallte der fassungslosen Film schauspielerin ein höhnisches Gelächter entgegen. Nadine schwankte. Dieses Bild war so schrecklich, daß sie es kaum fassen konnte. Sie hatte Angst vor dieser Fratze, deren Lachen plötz lich stoppte. Dafür begann sie zu reden. »Du bist dem Tod geweiht, Nadine Berger. Morgen, um Mitternacht, werde ich deine Todesstunde ein läuten. Und nicht nur du wirst sterben, alle werden umkommen, denn dieses Haus gehört mir. Mir allein!« Mit diesen Worten verschwand die Fratze, und die entsetzte Nadine starrte auf die völ lig normale Uhr. Sie stand da und tickte, als wäre nichts geschehen. Die Schauspielerin wankte zurück. Erst als sie die Wand im Rücken spürte, blieb sie stehen. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, so sehr zitterte sie. Dann warf sie sich plötzlich herum und rannte in die Halle hinein, wo ein zweisitziges Sofa aus der Biedermeier-Zeit stand. Nadine warf sich hinein und begann zu schluchzen. Sie ahnte nicht, daß das eben Erlebte nur der Auftakt zu weiteren grauenvollen Ereignissen sein sollte …
* Don Mitchell wagte sich keinen Schritt weiter vor. Zu sehr hatte ihn der Anblick geschockt. Er schüttelte den Kopf, spürte plötzlich den Regen nicht mehr, der auf ihn herunterprasselte, er sah nur noch die schrecklichen Gesichter der drei Kinder. Sie waren grauenhaft. Teu
felsfratzen! Und sie fingen an zu sprechen. »Wir warnen dich, Sterblicher«, sagten sie alle drei auf einmal. »Dieses Haus gehört nicht dir, son dern uns. Flieh, solange du es noch kannst, sonst wirst du ebenso sterben wie die junge Frau. Deine Uhr läuft ab, Don Mitchell. Der Fluch der Vergangenheit hat dich erreicht. Verschwinde, bevor es zu spät für dich ist. Das Haus muß leer bleiben, es gehört uns!« Die drei hatten so laut gesprochen, daß sie mit ihren Stimmen das Prasseln des Regens übertönten. Und Don Mitchell hörte genau zu. Er verstand zwar jedes Wort, aber er begriff es nicht. Was sollten diese Andeutungen? Er wollte nachfragen. Das war jedoch nicht mehr möglich. Plötz lich lösten sich die Konturen der drei Kinder vor seinen Augen auf, dann waren sie verschwunden. Als hätte sie der Erdboden ver schluckt. Don Mitchell wischte sich über die Stirn. Er schleuderte nur Wasser ab, mehr nicht. Und jetzt merkte er, daß er trotz seines Mantels bis auf die Haut naß war. Er stand im strömenden Regen neben seinem Wagen und starrte in die graue Wand. Nichts von den Kindern zu sehen, nichts mehr von einer Warnung zu hören. War das alles nur eine Täuschung gewesen? Mitchell wußte selbst nicht, wie er in seinen Wagen gekommen war. Auf jeden Fall fand er sich rauchend hinter dem Lenkrad wieder und starrte auf die Front scheibe. Tausend Gedanken gleichzeitig wirbelten durch seinen Kopf, doch es war ihm nicht möglich, sie zu ordnen. Tief atmete er ein. Die Scheiben waren beschlagen, er starrte ins Leere, und irgend wann startete er. Automatisch steuerte er den Weg zu seinem Haus hoch. Links, wo es zu den Klippen ging, sah er die knorrigen Bäume, die ihre Äste und Zweige wie verrenkte Arme ausgestreckt hatten und sie auch noch über den Abgrund ausbreiteten. Uralt waren die beiden Ei chen. Der Wind und die wilde Natur hatten es nicht geschafft, sie zu brechen. Sie stemmten sich immer wieder gegen die Unbilden des Wetters an. Don Mitchell fuhr bis dicht vor den Eingang. Dort stoppte er und stieg aus.
Er hatte im Haus Licht brennen sehen. Durch den herabfallenden Regen wirkte der Schein sehr verwaschen. Den Jaguar ließ er vor der Tür stehen, duckte sich und lief rasch der Haustür entgegen. Seine Schuhe patschten durch Pützen, und das Wasser spritzte nach allen Seiten weg. Die Stufen zur Haustür hoch waren glitschig. Fast wäre er noch ausgerutscht, doch Don erreichte den Eingang, ohne Schaden zu nehmen. Hastig schloß er auf. Tropfnaß stand er in der Diele und schüttelte sich wie ein Hund. Sofort hörte er das Schluchzen. Etwas verkrampfte sich in seinem Magen. Er hatte vorgehabt, seiner Fast-Verlobten nichts von seinem Erlebnis zu berichten, doch sie schien schon auch einiges hinter sich zu haben, denn so verzweifelt hatte er Nadine noch nie erlebt. Sie lag auf dem Sofa und weinte. Neben ihr blieb er stehen. Sie hatte den Mann gar nicht wahrgenommen. Erst als er sie berührte, schreckte sie auf. Mitchell bekam einen Schreck. Unwillkürlich prallte er zurück. Was war nur geschehen? Die verweinten Augen, die Angst auf ih rem Gesicht, das Zittern der Lippen, es war schrecklich. Er setzte sich neben sie und legte einen Arm um sie. »Was ist denn passiert?« fragte er. Nadine zog die Nase hoch. Die Tränen hatten dunkle Spuren auf ihren Wangen hinterlassen. Sie wies mit dem Kopf zur Tür, hinter der die Uhr auch stand. »Don«, flüsterte sie, wobei ihre Stimme kaum zu verstehen war, »Don, da in dem Zimmer – die Uhr – sie …« »Was ist denn mit der Uhr?« »Sie zeigt ein Teufelsgesicht!« Obwohl Don Mitchell einen gelinden Schreck bekam, hatte er sich doch sehr in der Gewalt und gab mit keinem Zucken zu verstehen, wie sehr ihn die Nachricht getroffen hatte. Statt dessen lachte er auf und erwiderte: »Wie kann eine Uhr ein Gesicht zeigen?« »Du glaubst mir nicht?« »Es fällt mir zumindest schwer.« »Aber es war so. Wirklich. Ich habe es mit den eigenen Augen gesehen, und ich habe auch Kinderstimmen gehört. Wirklich, die
Stimmen von Kindern, in dem Raum, wo die Uhr steht. Don, dieses Haus ist verflucht. Ich will nicht mehr in diesem Haus bleiben. Da bekomme ich Angst. Hier lauert etwas, ich spüre es …« Don Mit chell strich über die Haare seiner Freundin. »Aber das ist doch Un sinn, Nadine, das Haus ist völlig normal.« Nadine Berger richtete sich hastig auf. »Nein!« Die Antwort war ein Kreischen. »Nichts ist normal. Gar nichts. Ich habe es doch selbst erlebt. Wirklich. Das ist schlimm, alles ist schlimm, sehr schlimm sogar. Ich will hier raus.« »Jetzt?« fragte Don Mitchell kühl. »Ja, nein – ich …« Sie schlug die Hände gegeneinander und schüttelte den Kopf. »Ich weiß überhaupt nichts mehr. Bitte, Don, versteh mich, aber das ist alles so schrecklich für mich. Ich habe dir von vornherein gesagt, daß ich dieses Haus nicht mag. Es ist mir zu düster, die Atmosphäre stört mich, verstehst du?« »Natürlich, du brauchst hier ja auch nicht zu leben. Aber ich habe nun mal unsere Verlobungsfeier hier angesetzt. Wir können jetzt nicht alles rückgängig machen.« »Ja, du hast recht.« »Und wie hast du dich entschieden?« fragte Don Mitchell. »Tu, was du willst.« Mitchell lächelte, als er aufstand. Erst jetzt sah Nadine, wie naß er war. »Aber was ist denn mit dir passiert, Don? Hast du im Regen gestanden?« »Ja, leider, ich mußte einen Reifen wechseln. Tut mir leid, deshalb bin ich auch so spät gekommen.« Er hatte sich blitzschnell die Aus rede zurechtgelegt, weil er seine Freundin nicht noch weiter beunru higen wollte. Nadine lächelte krampfhaft. »Nun ja, du mußt es wissen. Aber diese Uhr?« Sie hob die Schultern. »Ich scheine das Grauen irgend wie anzuziehen.« »Wieso?« Nadine zerknüllte ein Taschentuch. »Ich habe dir doch mal von diesem Fest erzählt, wo ein Dr. Tod das Grauen verbreitet hat. Und auch von dem Mönch. Das waren Dinge, die mit dem normalen Verstand nicht zu erklären sind.«
»Dafür hast du ja deinen John Sinclair als Beschützer eingeladen«, meinte der Mann etwas spöttisch. »Was soll das heißen?« »Nichts, nur so.« »Er ist nicht mein John Sinclair. Aber wenn er nicht gewesen wäre, hättest du mich nicht kennengelernt. Er hat mir das Leben gerettet. So etwas vergißt man nicht.« »Wie schön für ihn.« Nadine Berger holte tief Luft. Sie wollte zu einer scharfen Er widerung ansetzen, überlegte es sich jedoch anders und sagte nichts. Sie schluckte die Bemerkung hinunter und blickte zu Boden, wäh rend Don Mitchell in das Zimmer ging, wo die Uhr stand. Sie sah völlig normal aus. Er schaute sich sorgfältig um, konnte aber nichts entdecken, was ihn irgendwie gestört hätte. Das sagte er auch Nadine. Sie nickte. »Ist ja schon gut, Don. Entschuldige, aber ich hatte einen schlechten Tag.« »Am besten ist es, wenn du darüber schläfst. Morgen sieht alles ganz anders aus. Das Wetter soll auch besser werden, wie ich gehört habe.« Er ging auf Nadine zu und legte einen Arm um ihre Schultern, wobei er lächelte. »Du wirst sehen, morgen scheint die Sonne, und alles ist vergessen.« Nadine nickte automatisch, während sich ihre Gedanken in eine ganz andere Richtung bewegten. Später lag sie im Bett, hatte die Decke bis zum Kinn hochgezogen und lauschte auf die prasselnden Wasserstrahlen in der Dusche nebenan. Don nahm noch kurz ein Bad. Er war bis auf die Haut durchgefroren. Nadine Berger aber war nur froh, daß sie John Sinclair angerufen und dieser zugesagt hatte. Zudem dachte sie über Don Mitchell nach. Seine Reaktion vorhin hatte ihr zu denken gegeben. Ob er wirklich der richtige Partner für sie war? Als er ins Bett kam und seine Hand ihren Körper berührte, da rückte sie von ihm weg. »Bitte, Don, heute nicht.« »Ist schon okay.« Der Antiquitätenhändler drehte sich auf die andere Seite und schlief sofort ein.
Nadine Berger aber lag noch lange wach und lauschte auf jedes Geräusch. Manchmal glaubte sie sogar, unten im Haus helle Kinder stimmen zu hören …
* Ich fuhr aus dem Regen in schöneres Wetter hinein. Als ich die Pro vinz Wales erreichte, verschwanden die dicken Wolken vom Himmel, und ein helles Blau schimmerte durch. Meine Laune steigerte sich um einige Prozente. Ich war allein gefahren und hatte mir dafür einen Tag Urlaub genommen. Jane Collins wußte Be scheid, wen ich besuchen wollte, und hatte die Nase gerümpft. »Da wird der Verlobte aber sauer sein«, hatte sie mir am Telefon gesagt. »Wieso? Es war doch nichts zwischen uns.« »Hätte aber leicht etwas werden können.« »Nein, du hast zu gut aufgepaßt.« Mit einem wütenden Laut hatte Jane Collins den Hörer aufgelegt. Ich war gefahren. Auf der normalen Karte hatte ich den Ort Miltonburry nicht ge funden. Ich mußte erst auf einer Spezialkarte nachschauen und hatte dort festgestellt, daß das Dorf in der Nähe von Aberaeron lag, dem nächst größeren Ort. Den hatte ich auch auf einer normalen Karte gefunden. Nachts hatte ich losfahren wollen, war aber nicht richtig aus dem Bett ge kommen, so daß ich erst in den Morgenstunden aus London abdampfte. Fast eine Stunde dauerte es, bis der Riesenmoloch hinter mir lag, doch nun fuhr ich bereits durch das grüne Wales mit seinen zahlrei chen Wäldern, Bergen, Hügeln, Burgen und wildromantischen Schlössern. Die Waliser waren ein Völkchen für sich. Ich hatte sie bereits des öfteren kennengelernt, weil mich geiährliche Abenteuer in diese Gegend führten.
Der Bentley lief gut. Ich wollte mir so schnell keinen neuen Wagen kaufen, auch wenn Bill Conolly immer hetzte, daß ich mich doch kleiner setzen sollte. Ich hatte mich an den Silbergrauen gewöhnt. Mir kam er so vor, als wäre er ein Stück von mir. Unterwegs hielt ich an einem Gasthof an und aß zwei kleine Hammelkoteletts zu Mittag. Sie schmeckten gut und waren ausgezeichnet gewürzt. Ge sättigt fuhr ich weiter. Eine Stunde später erreichte ich die größere Stadt, fand Hinweisschilder und fuhr schon bald über die schmale Straße, die nach Miltonburry führte. Ich kam praktisch aus den Bergen, hier waren nur noch die Aus läufer zu sehen. Sanfte Hügel, auf denen noch das braune Wintergras zu sehen war, betteten die Straße ein. Viel Verkehr herrschte nicht. Ich wurde nur ein paarmalüberholt, von schnellen Flitzern, deren Fahrer es besonders gut meinten. Die konnten rasen, wie sie wollten, ich ließ es langsam angehen. Dann überholte mich ein weißer Triumph mit offenem Verdeck. Das wurde sogar ziemlich knapp, ich mußte bis an den äußeren Straßenrand ausweichen. Rotblonde Haare flatterten im Wind, an der Stirn durch ein Band gehalten. Das war eine Fahrerin. Ich hatte sie nicht richtig erkennen können, alles war zu schnell ge gangen. Doch ich sah sie wieder. Sehr schnell schon und hinter der nächsten Kurve. Da hatte sie ih ren Flitzer nämlich in den Graben gesetzt, wobei sich der Kühler noch im Stacheldrahtzaun verfangen hatte. Die Fahrerin kletterte so eben fluchend aus dem Graben und reinigte sich die Kleidung, wäh rend einige auf der Wiese stehende Schafe teilnahmslos zuschauten. Ich hielt und stieg aus. Die Rotblonde kam auf mich zu. Sie trug einen schicken, hellblauen Hosenanzug aus Cord. Bei der weißen Bluse hatte sie die drei obersten Knöpfe offengelassen, und in der linken Hand schlenkerte sie lässig eine Sonnenbrille. »Pech«, sagte sie. »Nein«, erwiderte ich. »Unvermögen.« »Wie meinen Sie das?«
»Sie hätten auf diesen engen Straßen nicht so rasen sollen.« »Sparen Sie sich Ihre Belehrungen. Wenn Sie Kavalier sind, sehen Sie zu, daß Sie meinen Wagen wieder flott kriegen.« »Ich will es versuchen, Miss.« »Mitchell, Marion Mitchell.« »Oh«, sagte ich nur. »Sie kennen mich?« »Nein. Aber von Ihrem Bruder habe ich gehört. Er soll sich ja heu te verloben.« »Klar, da will ich hin.« »Da hätten wir beide den gleichen Weg.« »So?« »Ich bin ebenfalls eingeladen worden und komme extra aus Lon don.« »Woher kennen Sie denn meinen Bruder?« fragte sie mich. »Außerdem weiß ich noch nicht Ihren Namen.« Ich stellte mich rasch vor. »John Sinclair? Nie gehört, ehrlich. Dabei kenne ich die Bekannten meines Bruders ziemlich genau.« »Ich gehöre zur anderen Seite.« »Zu Nadine? Dann sind Sie vom Film.« So etwas wie Interesse blitzte in ihren Augen auf. »Das nicht.« Das Interesse erlosch. Ich hatte die Frau – sie war schätzungsweise Mitte Zwanzig – sofort richtig eingestuft. Das rotblonde Girl gehörte zu den Menschen, denen alles in den Schoß gefallen war. Sie war ziemlich arrogant, und die Männer mußten schon etwas ›Beson deres‹ sein, wenn sie bei ihr landen wollten. »Trotzdem könnten Sie mal nach meinem Wagen schauen«, sagte sie. »Ja, natürlich.« Ich sprang in den Graben, bückte mich und sah die Bescherung. Da war nichts mehr zu machen. Als ich mich aufrichtete, stand Ma rion Mitchell am Rand und hatte beide Hände in die Hüften ge stützt. »Und?« »Sie werden nicht mehr fahren können.« Sie verzog das Gesicht. »Warum nicht?« »Weil die Vorderachse Ihres Wagens gebrochen ist. Den können Sie auf den Schrott werfen.«
»Mist, verdammter.« Das klang nicht gerade ladylike. Sie warf mir ihren Wagenschlüssel zu. »Holen Sie wenigstens noch mein Gepäck aus dem Kofferraum.« Ich tat es. Sie dachte gar nicht daran, mir beim Tragen zu helfen. So kletterte ich mit zwei schweren Koffern in den Händen aus dem Graben und verstaute sie im Bentley. Ich schlug die Haube zu. »Wir können, Miss Mitchell.« Sie nickte. »Gehören Sie zu den konservativen Ty pen?« fragte sie beim Einsteigen. »Wieso?« »Solch einen Wagen fährt doch kein Mann in Ihrem Alter. Der setzt auf Sportlichkeit.« »Es gibt Ausnahmen.« »Das sehe ich.« Sie sah sich um. Ich hatte Zeit, sie zu betrachten. Marion Mitchell hatte ein schmales Profil mit zahlreichen Som mersprossen auf den Wangen, die aber nicht störten. Der Mund hatte einen leicht arroganten Zug, die Hände waren schmal, schlank und sehr gepflegt. Der Lack stimmte mit dem Lippenstift überein. »Und Telefon besitzen Sie auch?« »Ja, ich muß erreichbar sein.« »Was machen Sie denn beruflich?« Ich ließ mir Zeit mit der Antwort und startete erst. Während der Bentley anrollte, sagte ich: »Ach, nichts Besonderes. Ich bin ein Vertreter. Sie würden vielleicht Klinkenputzer sagen.« »Wissen Sie was, Mr. Sinclair?« »Nein.« »Das glaube ich Ihnen nicht.« »Das überlasse ich Ihnen.« Ich lenkte den Bentley in die nächste Kurve. »Aber ich finde noch heraus, wer sich hinter dieser Maske ver birgt«, kündigte sie mir an. »So leicht gebe ich nicht auf. Ich schätze sogar, daß Sie es faustdick hinter den Ohren haben.« Ich schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln. »Tun Sie sich keinen Zwang an, Miss Mitchell.« Dann sah ich zum ersten Mal das Haus. Obwohl ich es nicht kann te, gab es keine andere Möglichkeit. Es mußte es einfach sein. Es stand auf der Spitze einer Felswand. Trutzig reckten sich die
Mauern in den klaren Himmel. Es war gradlinig und ohne Schnör kel gebaut werden. Keine verspielten Balkone und Erker. Dieses Haus paßte sich der klimatisch harten Umgebung an. Zwei alte Eichenbäume standen zwischen Haus und Schlucht und breiteten die Äste wie ein Dach aus. Daß wir nicht die ersten Gäste waren, erkannte ich an den abgestellten Wagen vor dem Haus. »Gefällt es Ihnen?« fragte mich Marion Mitchell. »Ja.« »Mir nicht.« »Und warum nicht?« »Ich mag diese alten Kästen nicht. Sie sind muffig und dunkel. Ich brauche Sonne, Sand, Meer …« »Was machen Sie eigentlich beruflich?« jetzt war ich neugierig. »Nichts«, antwortete sie mit entwaffnender Offenheit. »Ich lebe so in den Tag hinein.« »Und das kann man?« »Sicher. Es ist doch genügend Geld vorhanden. Erbteil und so. Ich lebe von den Zinsen. Im Winter Gstaad oder St. Moritz, im Sommer Ibiza oder die Bahamas. Je nachdem, was gerade ›in‹ ist.« Ich lenkte den Wagen in eine Lücke zwischen zwei dunkelblauen Mercedes Coupes. »Und so etwas füllt Sie aus?« »Ja. Man gewöhnt sich daran.« Der Meinung war ich nicht. Bis jetzt hatten wir nichts mitbekom men, doch als ich die Wagentür aufstieß, hörten wir schon das La chen und das Klirren der Gläser. Sofort hellte sich das Gesicht meiner Beifahrerin auf. »Da scheint ja schon was los zu sein.« »Hört sich so an.« Während ich die Tür abschloß, stürmte Marion Mitchell bereits die Stufen hoch. Ich ging langsamer. Da wurde die Tür aufgezogen. Ein schwarzhaariger Typ im weißen Dinnerjackett hielt eine Sektflasche in der Hand, aus deren Öffnung der helle Schaum perlte. »Hi, Brüderchen!« rief Marion und drückte dem Mann zwei Küsse rechts und links auf die Wangen. »Ihr seid ja schon schwer in Stimmung, wie ich höre.« »Ja, du bist die letzte.«
»Shit, ich habe den Wagen in den Graben gesetzt.« Der Mann lach te. »Das geschieht dir recht. Du fährst ja auch immer wie eine Wilde.« Marion hob die Schultern. »Ich habe eben Temperament.« Dann deutete sie auf mich. »Das ist übrigens John Sinclair. Er hat mich aufgelesen.« Die Augenbrauen des Mannes ruckten in die Höhe. Für einen winzigen Moment wurde sein Blick starr, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Sie sind also John Sinclair.« »Ja.« Er reichte mir die Hand. Sie war klebrig vom Sekt. »Ist er wirklich Vertreter?« fragte Marion. Ich versuchte es noch mit einem beschwörenden Blick, hatte jedoch keinen Erfolg. »Quatsch, Marion. John Sinclair ist Polizist. Er ist ein ScotlandYard-Beamter.« Das Girl grub die Schneidezähne in die Unterlippe. Flüchtige Röte huschte über die Wangen. »Habe ich mir doch gleich gedacht. Wie ein Klinkenputzer sieht er nicht aus.« »Ich hoffe, Sie verzeihen mir«, sagte ich, »aber ich möchte nicht, daß jeder hier meinen Beruf erfahrt. Ich bin privat hier auf dieser Verlobungsfeier.« »Wirklich?« fragte der Antiquitätenhändler. »Ja, Mr. Mitchell.« »Okay, kommt rein. Es ist genug da.« Ich betrat die Halle des Hauses. Sie war festlich geschmückt worden. Überall hingen Gir landen, und auch Blumen fehlten nicht. Soeben setzte sich jemand an den Flügel und spielte den ABBA-Song ›Super Trooper‹. Ungefähr zwanzig Personen waren anwesend. Leute vom Film und Bekannte des Antiquitätenhändlers. Ich wurde keinem vorge stellt, und das war auch gut so. Marion hatte bereits einen Bekannten gefunden und war in dessen Arme geflüchtet. Ein weißblonder Playboy-Typ mit breiten Schultern und einer Popper-Frisur. Ich suchte Nadine Berger. So sehr ich auch meine Augen verdreh te, ich sah sie nicht. Dafür fuhr jemand einen Wagen heran, auf dem gefüllte Sektgläser standen. Ich nahm ein Glas und wollte es an die
Lippen setzen, als ich schräg hinter mir eine Stimme hörte. »Willst du auf mich anstoßen, John?« Ich drehte mich um. Vor mir stand Nadine Berger!
* Ich hatte sie lange nicht mehr gesehen, nicht einmal auf der Lein wand, weil mir die Zeit nicht geblieben war, doch sie hatte sich wirklich nicht verändert. Und das sagte ich ihr auch. »Hör auf, du Schmeichler.« Ich stellte mein Glas weg. Es war das Zeichen für Nadine. Sie küß te mich auf beide Wangen. Ich spürte ihren geschmeidigen Körper und sah gleichzeitig ihren Verlobten im Hintergrund des Raumes stehen, von wo er uns argwöhnisch beobachtete. Nadine hielt mich länger fest als gewöhnlich. Dafür flüsterte sie mir etwas ins Ohr. »Ich muß dich sprechen, John. Unbedingt.« Ich schob sie weg, lächelte strahlend und zischte dabei durch die Zähne: »Probleme?« »Ja.« »Private?« »Mehr, die in deinen Bereich fallen.« Mein Gefühl! Es hatte mich nicht getrogen. Nadines Stimme hatte am Telefon bedrückt geklungen. Es schien also doch etwas da hinterzustecken. »Trotzdem, du siehst bezaubernd aus, Nadine«, sagte ich, und ich meinte es ehrlich. Sie trug ein lachsfarbenes, schulterfreies Kleid, das nur von zwei dünnen Trägem gehalten wurde. Die schwarzen Haare hatte sie zum Teil hochgesteckt, an den Seiten fielen sie wieder in Korkenzie herlocken herunter. Den Hals schmückte eine schlichte Perlenkette. Ansonsten trug sie im Gegensatz zu einigen anderen Damen kaum Schmuck. Von Marion Mitchell sah ich nichts mehr. Ich nahm an, daß sie
sich umzog. Nadine hakte sich bei mir unter. »Jetzt mußt du mir aber erst er zählen, wie es dir ergangen ist. Was gibt es Neues?« »Sehr viel.« »Und?« »Dr. Tod ist wieder da.« Erschrecken zeichnete ihr Gesicht. »Das gibt es doch nicht.« »Leider.« »Und? Hattet ihr schon Auseinandersetzungen?« »Mehr als einmal. Er ist dabei, sich eine schlagkräftige Truppe auf zubauen, die sich die Mordliga nennt. Es sieht ziemlich übel aus, Nadine. Aber davon wollen wir heute nicht reden.« Nadine blickte zu Boden. »Nein, sicher nicht. Es ist ja auch ein toller Tag.« Sie schluckte. Ich legte zwei Finger unter ihr Kinn und hob den Kopf leicht an. »Mädchen, was ist los mit dir?« Sie sah mich aus feuchten Augen an. »John, ich glaube, ich habe vieles falsch gemacht.« »Ach, das darfst du nicht so eng sehen, Nadine. Es war vielleicht etwas viel für dich.« »Kann sein.« »Wo treffen wir uns?« »In einer Viertelstunde oben in einem Zimmer. Die fünfte Tür auf der rechten Seite. Dorthin ziehe ich mich immer zurück, wenn ich allein sein will.« »Okay, ich bin pünktlich.« Wir trennten uns wieder. Ich nahm ein Glas Sekt und sah mich um. Die meisten kannte ich nicht, aber mir fiel ein älterer Mann auf, dem es ähnlich erging wie mir. Er hatte sich in eine Ecke gestellt. Er trug einen dunklen Anzug, dessen Schnitt schon aus der Mode gekommen war. Er betrachtete die Gesellschaft teils mit kritischen, teils mit müden Augen. Ich blieb neben ihm stehen. »Sie scheinen hier auch kaum einen zu kennen?« sprach ich ihn an. »Ja, das stimmt.« Der Mann rückte an seiner Brille. »Dabei stamme ich von hier. Ich komme aus Miltonburry und bin der Bürgermeis
ter. Mr. Mitchell hat mich eingeladen.« »Ich bin aus London. Ein Bekannter der Braut.« Der Mann lächelte. »Sie ist ein patentes Mädchen, wirklich. Nicht eingebildet.« »Und der Bräutigam?« »Nun ja, ich will nichts Schlechtes sagen, aber er ist ziemlich arro gant, das finden wir im Dorf. Entschuldigen Sie, daß ich mich noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Patrick Kiboran.« Ich sagte ihm auch meinen Namen, verschwieg aber den Beruf. Dann erschien Marion Mitchell oben an der Treppe. Selbst aus dieser Entfernung konnte man sehen, daß sie einen Traum aus türkisfarbenem Tüll als Kleid trug. »Kinder!« rief sie, und ihre Stimme überklang selbst den Party lärm. »Kann mir denn niemand helfen? Ich bekomme mein Kleid am Rücken nicht zu. Ein Kuß für den, der es schafft.« Das war etwas für den blondhaarigen Playboy. Rücksichtslos räumte er im Wege stehende Gäste zur Seite und sprintete die Stufen hoch. »Hi, Freddy, du bist wie immer der Schnellste.« »Klar. Bei einer Frau wie dir.« Marion lachte hell. »Komm, wir gehen ins Zimmer.« Freddy legte seinen Arm um sie, und die beiden verschwanden unter dem Beifall der Gäste. Ich hörte, wie jemand sagte: »Mann, die geht aber schon früh am Tage ran.« »Vielleicht muß sie was nachholen?« Die fragende Antwort stammte aus einem Frauenmund. Bürgermeister Kiboran verzog das Gesicht und wischte sich über den Mund. Ich merkte seine Gefühlsregung und fragte: »Das hier ist nicht so Ihr Fall – oder?« »Ganz und gar nicht.« »Sind Sie allein gekommen?« Er nickte. »Ja, meine Frau lebt nicht mehr. Ich bin seit zwei Jahren Witwer.« »Das tut mir leid.« »Schon gut.« Der Bürgermeister nahm einen Schluck. »Sie hatte
Krebs. Vielleicht hätte man sie in der Großstadt retten können, aber hier auf dem Land?« Er schüttelte den Kopf. »Da ist nichts zu ma chen. Ich wollte erst meinen Posten aufgeben, aber man hat mich so lange bekniet, bis ich weitermachte. Ist gewissermaßen eine alte Fa milientradition. Ich hoffe, daß mein Sohn auch mal so einschlägt.« »Dann hatte Ihr Vater das Amt auch?« fragte ich. »Und mein Großvater.« »Alle Achtung, das findet man selten.« »Wissen Sie, Mr. Sinclair, in Miltonburry ist vieles anders. Hier kümmern sich die Leute nicht um Parteien. Die wählen irgendeinen, der dumm genug ist, das Amt zu übernehmen. Das war eben die Tragik unserer Familie.« Ich mußte lachten. Der Bürgermeister sprach mit einer Leidensbittermiene. Irgendwie gefiel er mir. »Sie mögen Mr. Mitchell nicht so recht?« fragte ich ihn. »Was heißt mö gen? Mit Mitchell ist es komisch. Er hat sich ins Nest gesetzt. Sein Großvater hat schon bei uns im Dorf Antiquitäten gesammelt.« »Wie?« »Ja, der alte Mitchell ist über das Land gefahren und hat sich Mö bel zusammengeholt. Ob er sie gestohlen oder bezahlt hat, weiß ich nicht. Auch die Sachen von dem Mörder Rick Holloway hat er an sich genommen. Teile davon stehen jetzt bei seinem Enkel im Haus.« »Sie meinen hier?« »Klar.« Der Bürgermeister deutete auf eine der verschlossenen Tü ren gegenüber. »Dahinter finden Sie eine alte Uhr. Die hat schon bei dem Kindermörder gestanden.« »Erzählen Sie.« »Wieso?« Der Bürgermeister sah mich skeptisch an. »Sie sind hier auf einer Verlobungsfeier, wollen sich arrüsieren, und ich soll Ihnen blutige Geschichten erzählen?« »Ja, bitte.« »Wenn Sie meinen. Ich kenne die Geschichte von meinem Groß vater. Er war nämlich dabei, als es geschah, gehörte gewissermaßen zu den Initiatoren.« Mr. Kiboran erzählte mir, was sich damals zugetragen hatte und
daß die drei Kinder sowie ihr Mörder hier in der Nähe des Hauses unter unheiliger Druidenerde lagen. »Was Sie bis jetzt gehört haben, Mr. Sinclair, sind Tatsachen. Das andere ist Spekulation.« »Zum Beispiel?« »Daß die Kinder hier in diesem Haus spuken sollen. Sensible Men schen spüren das.« »Und Mr. Mitchell?« Kiboran winkte ab. »Hat mit all dem nichts am Hut, denke ich. Nee, das ist ein Geschäftsmann, aber Sie müssen Ihre Bekannte fragen. Miss Berger wird da bestimmt anders denken.« Ich nickte gedankenverloren. »Das glaube ich auch«, murmelte ich und dachte scharf nach. Nadine Berger wollte unbedingt mit mir reden, wie sie mir versi cherte. Über das Thema hatte sie keine Andeutungen gemacht, aber es sollte in mein Metier fallen. Der Bürgermeister erzählte mir da von, daß es in dem Haus spuken würde. Standen die beiden Aus sagen in einem unmittelbaren Zusammenhang? Unwillkürlich blick te ich zur Decke. Sie zeigte eine mattweiße Farbe. Ich sah auch die zahlreichen Stuckverzierungen, die überall verteilt waren. Ich war so in Gedanken versunken, daß sie der gellende Schrei plötzlich hart durchbrach. Jeder zuckte zusammen. Auch ich. Auf einmal wurde es still Die Menschen standen starr auf ihren Plätzen und lauschten, ob sich der Schrei wiederholen würde. Er war nicht hier unten aufgeklungen, sondern hatte seine Quelle oben auf der ersten Etage. Bevor sich irgendwer rühren konnte, startete ich. Diesmal war ich es, der im Wege stehende Menschen zur Seite drückte und mir so freie Bahn schaffte. Ich erreichte die breite Treppe und jagte die ersten Stufen hoch. Dann stoppte ich, wie vor eine Wand gelaufen. Am Ende der Treppe erschien eine Gestalt. Es war der weißblonde Playboy, mit dem Marion Mitchell verschwunden war. Er torkelte.
Quer in seinem Hals steckte ein Messer. Eigentlich hätte der Mann längst tot sein müssen.
* Ich war so einiges gewohnt, aber dieser Anblick ging mir verdammt unter die Haut. Heftig biß ich die Zähne zusammen und starrte auf den Mann, der wie von einem unsichtbaren Band gehalten auf der obersten Stufe stehengeblieben war und jetzt schwankte. Den Schrei vorhin hatte eine Frau ausgestoßen, das war deutlich zu hören gewesen. Aber jetzt schrien andere. Ich hörte die entsetzten Rufe hinter mir. Die Menschen unten in der Halle hatte das Entsetzen gepackt. Ich vernahm einen dumpfen Aufschlag. Wahrscheinlich war jemand der Gäste in Ohnmacht gefallen. Ich jagte die restlichen Stufen hoch. Drei lange Sprünge brachten mich an mein Ziel, und ich stützte den Mann ab, der mir soeben entgegenfallen wollte. Im selben Augenblick brachen dessen Augen. Der weßblonde Playboy war tot. Ich zog ihn in das nächste Zimmer. Es war ein als Salon eingerich teter Raum. Dort legte ich ihn neben dem Sofa zu Boden und breite te eine Deckeüber ihn aus. Für Sekunden schloß ich die Augen und dachte darüber nach, daß ich wieder mitten in einem Fall steckte. Nadine Berger hatte mir wirklich nicht umsonst Bescheid gegeben. Nur – wer war der Mörder? Oder hatte ich es hier vielleicht mit einer Mörderin zu tun? Ich verließ den Raum und lief über den Flur. Unten in der Halle sprachen alle durcheinander, jemand rief nach der Polizei, ich küm merte mich nicht darum. Für mich war Marion Mitchell wichtiger. Ich fand sie in einem der Zimmer. Völlig apathisch hockte sie auf dem Bett und merkte nicht, wie ich die Tür aufstieß und neben ihr stehenblieb.
Erst als ich sie berührte, zuckte sie zusammen. Ihr Kopf flog hoch, sie sah mich, ihr Gesicht verzerrte sich und wurde zu einer Gri masse des Grauens. »Nein!« schrie sie. »Nicht, ich will nicht!« Ich faßte sie hart an. »Reißen Sie sich zusammen, Miss Mitchell!« Da wurde sie zur Furie. Bevor ich es verhindern konnte, sprang sie auf und wollte mir mit allen zehn Fingern durchs Gesicht fahren. Ihre Augen leuchteten wild, sie tobte und schrie. Ich hatte Mühe, ihre zupackenden Hände abzuwehren, und mußte zum Allheil mittel in solchen Situationen greifen. Ich verpaßte ihr einen Schlag ins Gesicht. Es klatschte laut, und sofort wurde die Frau ruhiger. Sie sackte wieder zusammen und schluchzte. »Ich war es doch nicht!« jammerte sie, wobei Tränen über ihre Wangen liefen. »Ich habe ihn nicht getötet. Ich war es nicht …« Ich ließ sie in Ruhe, sah einen Aschenbecher und zündete mir eine Zigarette an. Die Frau mußte sich erst beruhigen, sonst erhielt ich keine klare Aussage. Sie stand unter einem regelrechten Schock. Ich hatte mich auf die Lehne des Sofas gesetzt und stand jetzt auf, als ich vom Gang her Schritte hörte. Bevor ich an der Tür war, stand Don Mitchell schon auf der Schwelle. Er schaute mich an, und er sah verdammt blaß aus. Mir ging es sicherlich nicht anders. »Wo ist er?« fragte er mit kaum zu verstehender Stimme. »Ich habe ihn in ein anderes Zimmer gelegt.« Er nickte. Dann blickte er auf seine Schwester. »Hat sie ihn ermordet?« »Keine Ahnung.« »Sonst war doch niemand oben.« »Das stimmt.« »Dann – dann kommt nur sie als Täterin in Frage.« Er lachte schrill. »Ich rede wie ein Polizist, nicht wahr? Ist das auch Ihre Mei nung, Sinclair?« »Nicht unbedingt.« »Sie haben eine andere Erklärung?« »Nein, doch ich würde vorschlagen, daß wir zuerst einmal Ihre
Schwester reden lassen, wenn sie wieder zu sich gekommen ist.« »Ja, natürlich.« Ich drückte die Zigarette aus. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn ich mich mit Marion hätte allein unterhalten können, aber ich konnte Don in seinem eigenen Haus ja schlecht wegschicken. Mari on hob den Kopf. Sie sah ihren Bruder, der auf sie zueilte und sie umarmte. »Don!« flüsterte sie. »Bitte, Don, ich war es nicht. Du mußt mir glauben.« »Ich glaube dir ja.« »O mein Gott, ich weiß nicht, was ich machen soll. Es – es war so schrecklich.« »Sind Sie in der Lage, uns den Vorgang zu erklären?« erkundigte ich mich vorsichtig. »Kaum. Sie sehen doch, wie es ihr geht.« Die Antwort gab Don Mitchell. »Ich hatte Ihre Schwester gefragt.« »Was wollen Sie wissen?« fragte sie, ohne mich dabei anzusehen. »Wenn Sie sagen, daß Sie es nicht waren, dann muß es einen anderen Täter geben, Miss Mitchell. Und vielleicht haben Sie ihn so gar gesehen. Sie wären also eine wichtige Zeugin.« »Natürlich, das habe ich.« Jetzt wurde es interessant. Stockend be gann sie zu erzählen. »Ich – ich kam mit meinem Kleid nicht zu recht, und Freddy wollte mir helfen. Er kam auch hoch, und ich, nun ja, ich freute mich auf ihn. Wir waren mal zusammengewesen. Er nahm mich in die Arme, küßte mich und stand dabei mit dem Rücken zur Tür. Ich konnte auf die Tür schauen. Und da – da – tauchte diese Gestalt auf.« »Welche Gestalt?« »Sie war klein. Wie ein Kind. Aber sie – sie hatte ein Messer. Ich sah sie, auch ihr Gesicht, das wie die Fratze des Teufels aussah, und schrie. Freddy ließ mich los. Er drehte sich um. Da schleuderte die kleine Gestalt das Messer …« Marions Stimme versagte und endete in einem Schluchzen. Don Mitchell starrte mich an. »Das reicht ja wohl, Mr. Sinclair.
Oder meinen Sie nicht?« Ich nickte. »Fast, Mr. Mitchell.« Das Mädchen erzählte weiter. »Ich sah ihn fallen, hörte, wie die Gestalt lachte und dann verschwand. Anschließend schrie ich nur noch, weil alles so schrecklich war.« »Sie haben diesen Raum nicht verlassen?« fragte ich. »Nein.« »Dann wissen Sie auch nicht, wo die Gestalt hingelaufen ist?« Sie nickte. Ich blickte Don Mitchell an. »Haben Sie vielleicht eine Erklärung für die seltsamen Vorgänge?« »Keine.« »Und Sie bringen diese Geschichten, die man sich über das Haus erzählt, nicht in einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Mord?« »Ich weiß nicht so recht.« »Aber über die Geschichten sind Sie informiert?« »Gewiß.« »Ihnen ist nichts aufgefallen? Ich meine, Sie besitzen das Haus ja nicht erst seit gestern.« »Ja und nein«, gab er zu. »Im Haus ist mir nichts aufgefallen, aber auf der Fahrt hierher ist etwas passiert, für das ich keine Erklärung finde. Es war schon nach dem Dorf, als ich drei Gestalten mit den Teufelsgesichtern auf der Straße sah. Sie sahen so aus, wie meine Schwester sie beschrieben hat.« »Und sie haben wirklich nichts gesagt?« hakte ich nach. »Doch. Sie warnten mich. Sie sagten, daß meine Verlobte und ich das Haus verlassen sollten, aber ich habe mich nicht darum geküm mert. Das Haus würde außerdem ihnen gehören. Was sollte ich denn machen? Verschwinden? Ich konnte die Party doch nicht ab sagen.« Seine Stimme klang auf einmal schrill. »Sicher«, gab ich zu. »Aber jetzt müssen wir reagieren.« »Wollen Sie die Polizei holen?« Ich lächelte schief. »Die ist ja schon hier. Ich möchte auch nicht die Dorfpolizisten in den Fall hineinziehen, doch ich werde dafir sorgen, daß die Gäste abreisen.« Don Mitchell nickte. »Das ist auch in meinem Sinne.«
»Kommen Sie, wir gehen nach unten.« »Und was geschieht mit ihr?« Er deutete auf seine Schwester. Marion stand auf. »Ich gehe mit«, sagte sie. »In diesem Zimmer bleibe ich auf keinen Fall.« Dafür hatte ich vollstes Verständnis. Gemeinsam verließen wir den Raum. Marion wurde von ihrem Bruder gestützt, als wir über den Gang und auf die Treppe zuschritten. Die Gäste sahen uns. Sie standen in der Halle wie die Ölgötzen. Wenn gesprochen wurde, dann nur flüsternd. Allen stand die Angst in den Gesichtern geschrieben. Aus flackernden Augen blick ten sie uns entgegen, als wir die Stufen hinab- schritten. Auch Nadine Berger sah ich. Sie stand ziemlich nah der Treppe, und sie sah aus, als wollte sie etwas fragen, sich aber nicht traute. Ich ließ die Geschwister vorgehen und blieb dicht bei der Treppe stehen. Man starrte mich an. Es schien sich herumgesprochen zu haben, daß ich von der Polizei war, das fühlte ich irgendwie. »Ladies and Gentlemen«, begann ich mit einer kurzen Erklärung. »Unvorhergesehene Ereignisse zwingen mich dazu, die Feier aufzu lösen. Ich hoffe, ich handle in Ihrem Sinne.« Gemurmel wurde laut. Alle sprachen durcheinander. Ich sah skep tische Blicke und stellte mich offiziell vor. An der Reaktion merkte ich, daß die Anwesenden Bescheid gewußt hatten. »Es ist wirklich besser, wenn Sie fahren«, gab ich noch einmal be kannt. »Alles weitere überlassen Sie bitte mir.« Die Gäste waren erleichtert. Sie gingen auch ohne zu murren, nahmen ihre Mäntel und verschwanden. Draußen war es windig geworden. Die Böen fuhren durch die of fene Tür in den Raum und bliesen einige brennende Kerzen aus. Erste Motoren brummten auf. Die Wagen fuhren ab. Keiner verab schiedete sich, nur hin und wieder wurde Nadine ein bedauernder Blick zugeworfen. Ich schloß die Tür und drehte mich um. Nicht alle waren gegangen. Außer mir befanden sich noch Nadine Berger, die Geschwister Mitchell und der Bürgermeister Kiboran im Haus. Den sprach ich an. »Möchten Sie nicht auch gehen, Herr Bürgermeister?« »Nein, ich bleibe.«
»Haben Sie einen Grund?« »Vielleicht kann ich dabei mithelfen, das Rätsel zu lösen. Schließ lich kenne ich die Vorgeschichte.« Was der Bürgermeister da sagte, klang plausibel. Ich war einverstanden, daß er blieb. Und die Ge schwister sowie Nadine Berger? Die Filmschauspielerin ahnte meine Gedanken. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, John, ich gehe nicht.« Ich atmete tief ein. »Nadine, es ist besser, wenn du dich zurück ziehst. Glaub mir.« Sie schüttelte den Kopf. »Wo sollte ich mich denn verkriechen?« »Aber hier befindest du dich in Gefahr.« »In diesem Haus fühle ich mich sicherer als irgendwo allein, das kannst du mir glauben.« Ich kannte Nadine Berger. Sie reagierte so ähnlich wie Jane Collins. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war sie nicht durch Geld und gute Worte davon abzubringen. Deshalb stimmte ich zu. »Okay, Nadine, du kannst hierbleiben. Aber mach mir bitte keine Vorwürfe.« »Nein, nein.« »Das gleiche gilt natürlich auch für mich«, sagte Don Mitchell. »Ich lasse meine Verlobte nicht im Stich.« Auch da hatte ich kein Gegenargument. Ich wußte auch, was weiterkam. Marion gab es mir deutlich genug zu verstehen. »Auch mich wird man hier nicht aus dem Haus bekommen«, erklärte sie mit fester Stimme. »Ich bleibe.« Mit dieser Antwort hatte ich gerechnet. »Die Frage ist, wie wir uns verhalten«, meinte Bürgermeister Kibo ran. Ich schaute mich um. In der Halle sah es zwar nicht aus wie auf einem Schlachtfeld, aber es fehlte nicht mehr viel. Einige Gäste hatten in ihrer Angst die vollen Tabletts umgestoßen. Die Gläser waren zerbrochen, die Getränke ausgelaufen. »Am besten ist, wenn wir zusammenbleiben«, schlug ich vor. »Und zwar hier in der Halle, da sind wir auch schnell an der Tür.« »Dann sollen wir warten, bis etwas geschieht?« hakte der Bürgermeister nach. »Erst einmal ja. Ich weiß nicht, wo ich die Gegner suchen soll«, gab
ich zu. »Vielleicht weiß ich es, John.« Nadine Berger hatte die Worte gesprochen. Überrascht blickte ich sie an. Sie lächelte verlegen. »Ich wollte dir doch etwas erzählen, bin aber nicht dazu gekommen, weil dieser schreckliche Mord passiert ist. Gestern war ich allein im Haus. Don wollte noch Wein holen, und da hatte ich ein unheimliches Erlebnis …« Nadine berichtete, was vorgefallen war. Ich hörte sehr aufmerksam zu, und mich inter essierte besonders die Uhr, von der sie gesprochen hatte. Sie schien Nadines Erzählungen nach zu urteilen ein wichtiges In diz zur Lösung des Falles zu sein. »Wo steht die Uhr?« Nadine drehte sich halb und deutete auf eine verschlossene Tür. »Dahinter.« Bevor ich ging, sagte der Bürgermeister. »Diese Uhr hat übrigens in der Wohnung des Kindermörders gestanden.« Das zweitletzte Wort brachte mich auf eine Idee. »Sagen Sie, Mr. Kiboran, Ihr Groß vater war doch zugegen, als der Kindermörder gefaßt wurde.« »Er hat ihn sogar erschossen.« »Okay, auch das. Wie haben die Kinder eigentlich ausgesehen, als sie gefunden wurden? Wissen Sie das vielleicht?« »Mein Vater hat es mir erzählt. Sie waren völlig normal, bis auf den Kopf. Gesichter hatten sie nicht mehr, sondern nur noch Teu felsfratzen.« Als er das sagte, schrie Marion Mitchell auf und starrte ihn aus schockgeweiteten Augen an. »Was hat sie?« fragte Kiboran. »Solch ein Kind hat den Blonden getötet«, antwortete ich. »O Gott.« Der Bürgermeister wurde bleich. »Dann – dann gibt es sie tat sächlich. Dann stimmen die alten Geschichten, die besagen, daß es hier spuken soll.« »Es sieht so aus.« »Und wie wollen Sie Tote umbringen?« fragte Don Mitchell. »Erst einmal muß ich sie haben«, erwiderte ich. »Ich weiß schließlich nicht, wo sie sich aufhalten.« »Hier im Haus«, behauptete Nadine. »Das sagst du so. Hast du Be
weise?« »Die Uhr …« Ich nickte und ließ mich jetzt nicht mehr aufhalten, sondern ging auf die Tür zu, hinter der sich die geheimnisvolle Uhr befand. Die wollte ich mir ansehen. In dem Raum roch es muffig. Ich machte Licht und sah die Uhr so fort. Sie stach direkt ins Auge, man konnte wirklich nicht an ihr vor beischauen. Einen Schritt davor blieb ich stehen. Die Uhr sah völlig normal aus. Ein altes englisches Standmodell, vielleicht zweihundert Jahre alt, ich bin da kein Fachmann. Mir fiel weiterhin auf, daß dieses Stück noch sehr gut erhalten war. Es war nicht restauriert worden, ich sah es in seinem Urzustand vor mir. Das Ticken war nicht über mäßig laut, und mit einem Blick auf das Zifferblatt stellte ich fest, daß die Uhr die richtige Zeit anzeigte. Auf die Minute genau. Niemand war mir in das Zimmer gefolgt. Eine gewisse Scheu hielt die Menschen davor ab. Sie waren in der offenen Tür stehenge blieben. Alle zuckten wir zusammen, als die Uhr schlug. Achtmal! Vier Stunden vor Mitternacht. Irgendwie kam mir dieser Begriff in den Sinn. Ich wollte etwas ausprobieren und holte mein Kreuz hervor. Die anderen beobachteten staunend, wie ich das Kruzifix dem Zifferblatt näherte und plötzlich etwas Seltsames geschah. Wie verrückt begannen sich die Zeiger zu drehen. Das alte Holz ächzte und stöhnte, als wäre Leben in ihm. Die Uhr schlug unun terbrochen, die Gewichte schleuderten hin und her, die Perpendikel schlugen ebenfalls aus, und ich trat sicherheitshalber einen Schritt zurück, um nicht getroffen zu werden. Sobald eine gewisse Entfer nung zwischen der Uhr und dem Kreuz bestand, liefen die Zeiger wieder normal. Sie pendelten sich sogar auf die herrschende Zeit ein. Ein Phänomen, wirklich. Ich drehte mich um. Aus blassen Gesichtern starrten mich die Zurückgebliebenen an. In den Augen las ich die unausgesprochene Frage. »Tut mir leid, aber ich weiß selbst nicht, aus welchem Grund die Uhr so reagierte.«
»Die ist dem Bösen geweiht«, sagte Nadine. »Das befürchte ich auch.« »Man sollte sie über die Klippen werfen«, schlug der Bürgermeis ter vor. Diese Idee war gar nicht so schlecht. Ich nahm mir vor, mich näher damit zu befassen. Doch zunächst wollte ich noch einige Waffen aus dem Koffer holen. Ich verließ das Zimmer und schloß die Tür, wobei ich erklärte, was ich vorhatte. »Aber kommen Sie schnell wieder«, sagte Mitchell. »Natürlich.« Ich ging nach draußen. Es war inzwischen dunkel geworden. Ich konnte über den etwa fünfzig Yards entfernten Klippenrand schau en und sah weit dahinter das Meer. Schaumkronen glitzerten auf den Wellen, und das Tosen der Brandung gegen den Fels wurde zu einer wilden Melodie. Der Wind fuhr durch meine Haare und be wegte auch die starkenÄste der Bäume. Er bog die Zweige der Ei chen, spielte mit ihnen und sang sein ewiges Lied. Irgendwie fühlte ich das Unheil, das um dieses einsam stehende Haus herumschlich. Das Grauen schien seine Arme nach dem Ge bäude ausgestreckt zu haben. Ich ging zu meinem Bentley. Bevor ich die Haube anhob, sah ich mich um. Es geschah bewußt, denn ich wurde das Gefühl nicht los, daß man mich heimlich beobachtete. Ich konnte nichts Verdächtiges entdecken, aber das Gefühl der drohenden Gefahr blieb. Besonders interessierte mich der Baum, der am nächsten zur Klippe stand. Er hatte einen gewaltigen Stamm, und das dicke Ast werk war in der ausladenden Krone ineinandergeflochten. Noch trug der Baum keine Blätter, ich konnte durch das Astwerk schauen und sah Ausschnitte des grauen, düsteren Himmels. Dann sah ich die Bewegung. Es war ein huschender Schatten, direkt am Stamm und so gut wie kaum zu erkennen. Aber er war da, daran gab es keinen Zweifel. Ich drückte die Kofferraumhaube wieder zu und startete. Der Bewegung wollte ich auf den Grund gehen. Nach etwa
zehn Schritten blieb ich abrupt stehen. Jetzt war es kein Schatten mehr, sondern eine kleine Gestalt. Nichtgrößer als die eines Kindes, und sie stand neben dem Stamm. Und zwar so dicht, daß sie fast da mit verschmolz. Doch etwas war anders. Wenn auch von dem Körper nicht viel zu erkennen war, so sah ich doch das glitzernde Etwas, das dicht über dem Hals schwebte. Es war der Kopf. Nein, kein Kopf, sondern eine Teufelsfratze! Ich rannte. Und das wurde auch von dem kleinen, aber gefähr-lichen Wesen erkannt, denn es machte auf dem Absatz kehrt und wischte davon. Sofort befand sich der dicke Eichenstamm zwischen ihm und mir. Ich konnte es nicht mehr sehen. Heftig at mend blieb ich stehen. Über mir befanden sich die knorrigen Äste und Zweige. Und dort lauerte auch die Gefahr. Das Wesen hatte nur als Lock vogel gedient. Ich merkte zu spät, in welch eine raffinierte Falle ich voll hineinge stolpert war, und wurde völlig überrascht, als der wuchtige Körper von oben her auf mich knallte und mich mit seinem Gewicht zu Boden riß. Es blieb mir keine Zeit mehr, die Arme noch auszustrecken. Mit dem Kopf zuerst berührte ich die Erde, sah einen Blitz und hatte erst einmal Sendepause … Die Geschwister Mitchell, Nadine Berger und auch der Bürgermeister sahen, wie sich die Tür hinter mir schloß. Sie blieben allein zurück. Allein mit ihren Gedanken und Gefühlen. Jeder spürte jetzt die Angst. Aber Nadine merkte noch etwas anderes. Sie hatte genau mitbe kommen, wie wenig sich ihr Verlobter um sie gekümmert hatte. Er sorgte sich mehr um seine Schwester. Nadine fühlte sich vernach lässigt. Und ihr waren auch nicht die Blicke entgangen, die ihr Mari on Mitchell zugeworfen hatte. Hämisch, triumphierend, ab schätzend … Nadine dachte darüber nach. Vielleicht hatte sie wirklich nicht die richtige Entscheidung getroffen. Dieser Don Mit chell war zwar ein gut aussehender Mann, doch wer ihn näher kannte, der mußte feststellen, daß männliches Aussehen noch lange
keinen Mann ausmachte. Bei Don war zu viel Fassade. Und das kannte sie zur Genüge von manchem Schauspielerkollegen. Zudem liefen ihre Interessen gegensätzlich, eine echte Partnerschaft würde es zwischen ihnen beiden wohl nie geben. Das stand für Nadine fest. Auch jetzt hatte er seinen Arm fürsorglich um die Schultern der Schwester gelegt. Sicher, Marion hatte einiges hinter sich, aber sie mußte es inzwischen verkraftet haben. Ein dicker Kloß wollte vom Magen her hochsteigen, doch Nadine schluckte tapfer. Mitchell zündete sich eine Zigarette an. »Also, ich glaube nicht, daß er es schafft«, sagte er. »Und warum nicht?« fragte Nadine pat zig. Don ließ den Rauch durch die Nase ausströmen. »Hat er vielleicht den Mord verhindert? Nein. Oder hat er die Gegner ge stellt? Du siehst, meine liebe Nadine, so toll ist dein Supermann Sin clair auch nicht.« Fest blickte Nadine Berger ihren Verlobten an. »Erstens bin ich nicht mehr deine liebe Nadine und zweitens ist John Sinclair kein Supermann. Drittens sind wir noch nicht verlobt. Die Verlobung hätte ja erst noch stattfinden sollen.« Mitchells Augenbrauen zogen sich zusammen. »Was soll das denn heißen?« »Daß ich es mir noch überlegen werde.« Sekunden war der Mann sprachlos. Dann lachte er laut auf. »Ist das eine deiner Filmstarlaunen?« »Nein, Don, das ist mein Ernst.« Marion lachte ebenfalls. »Ich habe dir gleich gesagt, daß sie nicht viel taugt, aber du wolltest ja nicht auf mich hören. Gewarnt habe ich dich des öfteren.« »Sei ruhig jetzt!« »Kinder, nun streitet euch doch nicht«, mischte sich Kiboran, der Bürgermeister, ein, »als wenn wir nicht Sorgen genug hätten. Sie werden es sich bestimmt noch überlegen, Miss Berger.« »Nein.« »Kommt Zeit, kommt Rat«, sagte Mitchell. »Ich frage mich nur, wo Sinclair bleibt. Er ist ja lange genug weg. Schließlich wollte er nur seine Sachen aus dem Kofferraum holen.«
»Vielleicht hat er Angst bekommen«, vermutete Marion. »Du kannst ja mal nachsehen«, forderte Nadine die Frau auf. »Ich? Wie käme ich dazu? Er ist schließlich dein Bekannter, du häl tst doch so viel von ihm.« »Ja, das halte ich auch«, erwiderte Nadine. Ohne sich um die anderen zu kümmern, lief sie zur Tür und zog sie auf. Die Schauspielerin blickte nach draußen. Sie sah die leeren Stufen und die restlichen Wagen, die noch vor dem Haus parkten. Nur von John Sinclair sah sie nichts. Nadine schluckte. Plötzlich schlug ihr Herz schneller. Geflohen war John nicht, ein Mann wie er lief nicht weg. Da er jedoch nicht zu sehen war, kam Nadine der Gedanke, daß ihm etwas passiert sein könnte. Eine Gänsehaut kroch über ihren Rücken. Am liebsten wäre sie nach draußen gelaufen, aber dort fühlte sie sich schutzlos. Sie zog sich wieder zurück. »Nun, hast du ihn gesehen?« Marion Mitchells Stimme klang lau ernd und spöttisch zugleich. »Nein, ich habe ihn nicht gesehen.« »Dann hat er wohl das Weite gesucht.« »Sein Wagen steht noch auf dem Parkplatz. Und zu Fuß wird er ja nicht gelaufen sein.« »Wer weiß …« »Jetzt hört auf mit dem Streit«, mischte sich Don Mitchell ein. »Ich habe auf jeden Fall Hunger.« »Geh essen, es ist genügend da«, meinte seine Schwester. Da hatte sie nicht gelogen. In einem Nebenraum war ein Büfett aufgebaut worden. Ein ländlich deftiges. Der Mann zog die Tür auf und mach te Licht. Er wollte den Raum betreten und hatte bereits einen Fiß vorgesetzt, als er zurückprallte und einen unterdrückten Schrei aus stieß. »Was ist?« rief der Bürgermeister. Er war als erster bei Mitchell, die anderen standen Sekunden spä ter neben ihm. Jetzt sahen sie es alle. Das Büfett war quer zur Tür aufgebaut worden und noch abge
deckt. Vor den Tischen jedoch stand etwas, das überhaupt nicht in diesen Rahmen paßte. Drei weiße Kindersärge!
* »O nein«, stöhnte Marion Mitchell. »Das ist Wahnsinn, das darf nicht sein. Halte mich, bitte, Don!« Sie kippte nach hinten, und ihr Bruder mußte sie tatsächlich auf fangen. Neben Nadine stand der Bürgermeister. Er hatte die Hände geballt und flüsterte: »Drei weiße Särge. Wie damals. Alles ist wie damals.« »Was ist wie damals?« »Ich weiß es von meinem Großvater. Die ermordeten Kinder sind in drei weißen Särgen bestattet worden, und jetzt stehen hier auch welche. Vielleicht sind es sogar dieselben.« »Die müßten doch längst vermodert sein.« »Normalerweise ja. Aber wissen Sie, welche Kräfte hier mitspielen, Miss Berger?« »Nein.« »Sehen Sie.« Die Mitchells sprachen nicht. Nur Don räusperte sich. Be merkungen waren ihm ebenso vergangen wie seiner Schwester. Alle wußten, daß die Gefahr noch längst nicht vorbei war, daß sie vielleicht jetzt erst richtig anfangen würde. »Ich rühre die Totenkisten nicht an!« kreischte Marion. »Das hat auch niemand von dir verlangt«, gab Don zurück. Marion war nicht zu bremsen. »Und überhaupt«, sagte sie. »Was soll ich hier noch? Sogar dieser Sinclair ist verschwunden. Ich haue auch ab. Mich hält hier nichts mehr. Ich bin doch nicht verrückt, noch länger in diesem Haus zu bleiben. Ein Toter reicht mir. Ich möchte nicht als nächste da liegen.« Da hatte sie im Prinzip recht. Auch die anderen dachten ähnlich, sie sprachen es nur nicht aus. Marion Mitchell drehte sich auf der Stelle, schaute wieder in die Diele und schrie zum zweitenmal.
Lautlos hatte sich hinter dem Rücken der anderen etwas verändert. Sie sahen es, als sie in die Halle blickten. An den strate gisch wichtigen Stellen standen die drei Kinder mit ihren Teufels fratzen. Und alle drei hielten Messer in ihren Händen …
* Lange war ich nicht bewußtlos. Ich öffnete die Augen und merkte, daß ich geschleppt wurde. Jemand hatte mich unter den Achselhöh len gepackt und schleifte mich über den Boden einem unbekannten Ziel entgegen. Meine Hacken wühlten sich in die Erde und hinter ließen tiefe Rinnen, die den genauen Weg markierten. Ich merkte jede Unebenheit und spürte auch, wie unregelmäßig die Person ging, die mich schleppte. Wohin? Da gab es an sich nur eine Möglichkeit. Auf die Klippe zu. Hinun terstürzen und fertig. Ich schluckte, als mir dieser Gedanke kam, aber noch war es nicht soweit. Zudem wollte ich gern sehen, wer mich da abschleppte. Ich schielte hoch. Viel sehen konnte ich nicht. Ein verschwommen erscheinendes Gesicht, aus dem knurrende Laute drangen, die aber mit einem Sprechen oder Atmen nicht zu vergleichen waren. Okay, machten wir dem Spiel ein Ende. Ich hatte nämlich keine Lust, mit mir weiterhin Mehlsack spielen zu lassen. Urplötzlich stemmte ich meine Füße hart in den Boden, fand an einem aus der Erde wachsenden Stein noch Widerstand und warf mich nach vorn. Das geschah so plötzlich, daß die Pranken aus meinen Achselhöhlen rutschten. Ich stand. Und kassierte einen Treffer. Ich sah noch die Hand vor meinem Gesicht und hatte danach das Gefühl, sämtliche Zähne würden mir im Mund durcheinander purzeln. Mit den Armen ruderte ich, war jedoch nicht in der Lage, meinen Sturz zu bremsen. Wieder ging ich zu Boden. Diesmal je doch fiel ich auf den Rücken. Und wurde nicht bewußtlos, was ein großer Vorteil war. Ich lag auf dem Rücken, kämpfte gegen das tau
be Gefühl im Kopf an und hatte noch den Mut, meine Beretta zu zie hen und den Kerl, der mich hergeschleppt hatte, in die Mündung schauen zu lassen. Zuerst dachte ich, er würde die Waffe kurzerhand ignorieren, weil er weiterging, dann aber blieb er stehen und starrte mich an. Unsere Blicke trafen sich. Und ich muß ehrlich gestehen, daß mir der Anblick dieses Kerls doch verdammt zusetzte. Es war schlichtweg grauenhaft. In die Brust mußte ihn irgendwie etwas getroffen haben. Denn sie war aufgerissen, aber kein Blut drang daraus hervor. Der Kopf wurde von grauen, stumpf wirkenden Haaren umwallt, und der Blick der verdrehten Augen war seltsam glanzlos. Da wußte ich, wer vor mir stand. Ein Untoter, ein Zombie. Der Kindermörder! Ja, das mußte er sein. Rick Holloway hatte er geheißen. Der Bürgermeister hatte es mir ja deutlich zu verstehen gegeben. Sein Großvater hatte ihn erschossen, nun stand er vor mir. Von den To ten zurückgekehrt. Ich hatte oft genug mit Zombies zu tun gehabt. Zwar fürchtete ich mich immer noch vor ihnen, doch ich geriet nicht in Panik oder ver fiel in wilden Schrecken – ich blieb gelassen. Und auch das dumpfe Gefühl aus meinem Kopf verschwand wieder. Langsam konnte ich einen klaren Gedanken fassen. »Wenn du dich einen Schritt auf mich zubewegst, schieße ich!« Der Zombie grunzte nur. Er stierte mich an, und besonders hatte es ihm das Kreuz angetan, das ich zum Glück nicht verloren hatte. Und erst jetzt merkte ich, wie nahe wir den Klippen waren. Das Rauschen der Brandung war lauter geworden. Links von mir fiel nach ein paar Yards das Ge lände steil zum Meer hin ab. Da war ich gerade noch zur rechten Zeit erwacht. Der Zombie hatte mich über die Klippen stürzen wollen. Ich zog mich etwas zurück, fand an einem aus der Erde wachsenden Stein Halt und fragte: »Du bist Rick Holloway, der Kindermörder, nicht wahr?« Er erwiderte nichts. »Gib Antwort!« »Was willst du hier? Du gehörst nicht in das Haus!« spie er mir entgegen. »Ich werde dich töten!«
»Da kannst du lange warten«, erwiderte ich kalt. »Wenn du mir eine Antwort gegeben hast, sage ich dir, weshalb ich hergekommen bin. Einverstanden?« Sein Blick blieb leer. Auch in seinem Hirn konnte nichts arbeiten. Er war ein Zombie, eine Maschine, die nicht dachte, höchstens Befehle ausführte. Er trug zerfetzte Kleidung, die um seinen hochgewachsenen Kör per flatterte. Der Mund war grausam verzogen, die Ohren wurden durch das Haar verdeckt, auf dem Nasenrücken war die Haut auf geplatzt, und über die Brust habe ich ja schon berichtet. Wir waren in sein Gebiet eingedrungen. Es lag auf der Hand, daß er das nicht zulassen wollte. Man hatte ihn in unheiliger Erde begraben, ein Druide hatte hier vor vielen, vielen Jahren seinen Zauber wirksam werden lassen, und der war jetzt intensiviert worden. »Ja, ich bin Rick Holloway«, sagte er plötzlich. »Ich bin der, den sie vor vielen Jahren getötet und verscharrt haben wie einen Hund. Aber sie haben nicht mit dem Zauber des alten Druiden gerechnet. Seine Magie war noch vorhanden. Sie lauerte in den Tiefen der Erde und wurde an mir wirksam. Ich konnte die feuchte Erde verlassen und sorgte auch dafür, daß die drei Kinder wieder auferstanden.« »Warum hast du sie getötet?« »Weil der Teufel es so wollte. Er hat mich angesprochen, und ich bin zu seinem Diener geworden.« »Ist er dir erschienen?« fragte ich. »Ja.« »Wie?« »Hast du die alte Uhr gesehen? Darin steckt der Satan. Sie ist ihm geweiht worden, und die Mutet die Todesstunde seiner Feinde ein. Wenn jemand stirbt, schlägt sie. Und sie wird auch schlagen, wenn ich dich töte, Mann.« »Was ist mit den Kindern?« »Sie finden keine Ruhe. Ich habe sie damals entführt und dem Satan geopfert. Sie sind ein Teil von ihm geworden und stehen mir zur Seite, wenn Gefahr droht.« »Sind sie im Haus?«
»Ja, da kannst du sie finden. Bei den anderen. Alle vier, die zu rückgeblieben sind, werden sterben. Die Hölle wird ihre Freude haben, der Satan kann lachen. Niemand hält den Tod auf, auch du nicht. Einer mußte schon sein Leben lassen. Durch Zufall hat er ein Kind gesehen. Es hat sofort sein Messer geworfen …« Ich hörte die Worte und dachte fieberhaft nach. Dieser Zombie hatte mich in eine Falle gelockt. Ich war förmlich hineingestolpert und hatte meine Freunde allein gelassen. Sie waren den kleinen, teuflischen Geschöpfen hilflos ausgeliefert, würden sich gegen die mit Magie aufgeladenen Monster nicht wehren können. Aber ich konnte es, obwohl ich erst den Untoten aus dem Weg schaffen mußte. Noch hockte ich auf dem Boden und ließ den Zombie in die Waffenmündung schauen. Er rührte sich nicht, stierte mich nur an und tat auch nichts, als ich langsam aufstand. Es war nicht leicht, sich zu erheben und dabei die Waffe so zu hal ten wie zuvor. Deshalb forderte ich Holloway auf: »Dreh dich um!« Er zögerte einen Moment, stieß ein unwilliges Knurren aus, ge horchte aber. Und er überraschte mich. Er hieb, noch während er sich drehte, mit einem Fuß in den Boden und schleuderte mir Dreck und Sand ins Gesicht. Instinktiv drückte ich ab, aber ich wußte gleich, daß ich nicht ge troffen hatte. Dafür traf Holloway. Ein wuchtiger Tritt traf mein rechtes Handgelenk und fegte mir die Waffe aus den Fingern. Sie landete irgendwo hinter mir, und ich drehte mich um die eigene Achse, so daß mich der nächste Tritt, der meinem Kopf ge golten hatte, verfehlte. Ich prallte gegen zwei große Steine, etwas klirrte, und als ich mich in die Höhe wuchtete, spürte ich im Nacken einen kurzen Ruck. Im nächsten Augenblick fiel das Kreuz von meiner Brust, weil die Kette gerissen war. Den Grund konnte ich sehen. Das Kreuz war mit seiner Schmalseite unglücklich zwischen die beiden Steine gerutscht. Der Zufall hatte es die einzige Lücke finden
lassen. Beim Hochkommen war dann die Kette zerrissen. Das konn te ein tödliches Pech für mich werden, denn waffenlos stand ich nun dem gefährlichen Zombie gegenüber. Ich schnellte aus meiner Hockstellung hoch und konnte mich gerade noch zur Seite drehen, um einem Hammerschlag zu entgehen. Die Faust krachte dafür auf den Felsen. Beiden machte es nichts aus. Dem Stein nicht und auch nicht der Hand, denn sie war ohne Leben, ohne Gefühl. Dann griff ich an. Ich zog den Kopf zwischen die Schultern, duckte mich und rannte vor. Der Zombie war etwas unbeweglich, kam nicht schnell genug weg, und ich rammte meinen Schädel in seinen Leib. Gemeinsam taumelten wir zurück. Während sich der Untote auf den Beinen hielt, stolperte ich über seine Füße, fiel hin, rollte mich sofort herum und federte wieder hoch. Der Zombie griff nicht an. Dafür bückte er sich und wuchtete einen gewaltigen Stein hoch. Der war so schwer, daß selbst dieses untote Monster Mühe hatte, ihn in die Höhe zu stemmen. Was er mit diesem Stein wollte, lag auf der Hand. Mich zerschmettern. Soweit ließ ich es nicht kommen. Mein Tritt in die Seite warf den Seelenlosen zu Boden. Er rollte dem Abgrund immer näher. Nichts anderes hatte ich gewollt. Mit den bloßen Fäusten konnte ich ihn nicht besiegen. Er war ja schon tot. Es würde mir nicht gelingen, ihn noch einmal umzu bringen. Nicht auf normale Art und Weise. Aber wenn erüber den Abgrund stürzte und zwischen die Klippen fiel, hatte ich Zeit, an meine Waffen zu kommen. Bis Holloway wieder auftauchte, war auch ich fit. So meine Rechnung. Ich kämpfte. Ein weiterer Hieb trieb den Untoten noch mehr zurück. Rückwärts torkelte er auf den Klippenrand zu. Der Wind packte uns beide und schüttelte uns regelrecht durch. Schon jetzt schmerzten mir meine Hände. Ich würde mir an dieser seelenlosen Maschine die Knochen aufschlagen, deshalb griff ich zu einem Hilfsmittel. Auf der Erde und in unmittelbarer Nähe liegend, entdeckte ich einen starken Ast. Blitzschnell hob ich ihn auf, und als der Zombie mich angriff, lief
er in meinen Stoß hinein. Holloway wurde gebremst und sogar noch zurückgetrieben. Er knurrte wütend. Es war ein wilder und verzweifelter Kampf, in dem es um alles oder nichts ging. Ich wußte vier Menschen in Gefahr, die auf meine Hilfe hofften, doch ich konnte ihnen nicht beistehen, weil ich erst noch dieses verdammte Monster hier erledigen mißte. Er trat wieder in den Boden und schleuderte mir Dreck entgegen. Diesmal gab ich acht und zog den Kopf ein. Die Ladung schoß an mir vorbei. Dafür traf ihn mein nächster Schlag gegen den Hals. Und wieder sprang ich auf ihn zu. Ich sah bereits das Ende der Strecke. Zwei, höchstens drei Schritte hinter ihm ging es in die gefährliche Tiefe, noch ein Hieb, dann konnte ich es packen. Ich geriet dabei in eine solche Euphorie, daß ich die Vorsicht vergaß. Frontal ging ich meinen Gegner an. Das rächte sich. Plötzlich schnellten die Arme des Zombies vor, und ehe ich mich versah, umklammerten die Hände den Ast. Ich war noch im vollen Lauf und prallte gegen ihn. Gleichzeitig wich er zur Seite aus und stellte mir ein Bein. Ich stolperte. Plötzlich war der Abgrund vor meinen Augen. Noch konnte ich mich fangen, merkte, wie mir der Ast aus den Händen gerissen wurde, und dann bekam ich den Hieb in den Rücken. Es war ein Hammer. Ich wurde nach vorn geschleudert, eine urwelthafte Kraft rß mich von den Beinen, ich sah die Kante, erhielt noch einen Stcß und wurde über die Felsleiste hinwegkatapultiert. In das Rauschen der Brandung mischte sich das Lachen meines untoten Gegners …
*
Niemand wagte sich zu rühren. Die Angst fraß sich wie Säure in die Herzen der vier Menschen. Jeder reagierte anders. Während der Bürgermeister und Nadine Berger vor Schrecken nichts sagen konnten, zitterte Marion Mitchell am ganzen Leib. Sie hatte die Arme halb erhoben und die Hände zu Fäusten ge ballt. Ihre Augen waren weit aufgerissen, die Zähne klapperten auf einander, und mit fiebrigem Blick starrte sie auf die teuflische Er scheinung an der Tür. Ein Kind nur, doch mit einem Messer in der Hand und einer Teu felsfratze. Don Mitchell sagte nichts. Er konnte nicht sprechen. Zu sehr hatte ihn das Auftauchen der drei teuflischen Kinder geschockt. Er war weiß geworden, und der kalte Schweiß lag auf seiner Stirn. Die Kinder starrten die Menschen nur an, und die Klingen der Messer warfen blitzende Reflexe. »Was sollen wir tun?« hauchte Marion. »Nichts.« Diese tonlose Antwort kam von ihrem Bruder. Er hatte einen Blick zur Treppe geworfen. Dieser Fluchtweg war ebenfalls versperrt, weil dort auch ein Kind stand. Es würde keinen vorbeilassen. Und das dritte hatte sich vor dem Fenster aufgebaut. Sie trugen schwarze Gewänder, die allerdings schmutzig und zer knittert wirkten. Ihre Fingernägel waren überdurchschnittlich lang. Sie mußten im Grab weitergewachsen sein. Bürgermeister Kiboran fühlte die Finger der Schauspielerin an sei ner Hand. Sie waren kalt. Sämtliches Blut schien aus ihnen gewichen zu sein. »Was sollen wir tun?« wisperte sie. »Ich weiß es nicht.« »Aber wir können uns doch nicht so ohne weiteres töten lassen«, schluchzte Nadine. »Nein.« »Und dir, Don? Fällt dir nichts ein?« Als sich der Antiquitätenhändler angesprochen fühlte, drehte er
den Kopf. »Nein, verdammt, mir fällt nichts ein. Hättest deinen Sin clair fragen können, aber der hat sich ja aus dem Staub gemacht.« »Du bist gemein.« Mitchell lachte nur. »Vielleicht weiß ich etwas«, sagte der Bürgermeister, denn wie auch die anderen hatte er gesehen, daß sich die drei kleinen Monster langsam in Bewegung setzten. »Und was?« »Wartet es ab.« Kiboran raffte all seinen Mut zusammen und trat einen Schritt vor. Er hob die Hand und rief mit lauter Stimme: »Halt!« Was niemand erwartet hatte, geschah. Die drei Teufelskinder stoppten! Kiboran atmete aus, die erste Hürde hatte er genommen. Er sprach die teuflischen kleinen Gestalten weiterhin direkt an. »Ich weiß, wer ihr seid«, sagte er, »aber auch ihr müßt meinen Namen kennen, wenn ihr genau überlegt. Ich heiße Kiboran. Erinnert ihr euch?« Die kleinen Monster zeigten keine Reaktion. Der Bürgermeister beugte sich vor. Beschwörend glitt sein Blick in die Runde. »Kiboran.« Jeden Buchstaben betonte er. »Erinnert ihr euch nicht? Denkt zurück an euren Tod. Holloway hat euch ermordet. Euch drei. Zwei Mädchen und einen Jungen. Aber es gab Männer im Dorf, die sich zusammenschlossen, um euren Tod zu rä chen. Der Pfarrer, der Bürgermeister, der Polizist, der Apotheker und der Lehrer. Sie schlossen ein Bündnis, um den geheimnisvollen Mörder zu finden. Und sie haben ihn auch gefunden. Holloway konnte nicht mehr flüchten. Wir stellten ihn, und wir kämpften gegen ihn.« Der Bürgermeister war so in Fahrt, daß er seinen Groß vater mit sich selbst verwechselte, dann aber schwenkte er wieder um. »Mein Großvater hat Holloway erschossen, nachdem er den Pfarrer getötet hatte. Wißt ihr das?« Keine Antwort. Kiboran sprach weiter. »Sie haben euch hier oben begraben, neben dem Kindermörder. Ihr seid ja nicht mehr normal gewesen, unsere Vorfahren mußten es tun, wirklich …« »Wir waren dem Teufel geweiht.« Zum erstenmal sprach eines der
kleinen Monster. Die Stimme drang dumpf unter dieser Teufels fratze hervor, von der man nicht wußte, ob sie eine Maske war oder nicht. »Es hatte keinen Zweck mehr gehabt. Die Arbeit deiner Vorfahren war völlig umsonst gewesen«, erklärte man dem Bürgermeister. »Das könnt ihr nicht so sehen.« Kiboran versuchte alles, um die drei Geschöpfe aufzuhalten. »Sie dachten damals noch, daß sie euch finden könnten, und sie hofften, daß ihr weiterhin am Leben wäret.« »Wir leben ja auch.« »Was ist das für ein Leben? Schlimm, sehr schlimm!« rief der Bürgermeister den drei Monstern entgegen. »Ihr seid nicht einge gangen in das Paradies, ihr kennt nur den Teufel, an den euch Rick Holloway verkauft hat. Nie werdet ihr euren Frieden finden, ihr werdet immer als ruhelose Geister herumirren, aber der Seelenfrie den bleibt euch verwehrt. Und warum wollt ihr täten? Was haben die Leute euch hier getan? Nichts, gar nichts.« »Es ist unser Gebiet!« »Wieso?« »Deine Vorfahren haben uns in der unheiligen Erde verscharrt, das mußt du doch wissen. Ja, diese Erde war unheilig, denn die Ma gie eines alten Druiden wirkte noch nach. Wir verfaulten nicht, wir starben nicht, wir blieben in unseren feuchten Giäbern und warteten ab, bis die Zeit günstig war.« »Wer führte euch?« fragte Kiboran. »Der Teufel?« »Nein. Rick Holloway. Er ist unser Führer!« »Und warum habt ihr ihn nicht mitgebracht?« Da lachten die drei kleinen Monster gleichzeitig, aber es war kein freundliches, helles Lachen, sondern ein böses, grausames. »Holloway läuft draußen herum und sichert dort das Haus ab. Er kann genau sehen, wer es verlassen will …« Diese durch die Blume gesprochene Bemerkung verstand Kiboran sehr wohl. Er spürte, wie es kalt seinen Rücken hinablief, und er dachte dabei nicht so sehr an sich, sondern an den Oberinspektor aus London, der das Haus verlassen hatte. »Wir wissen, daß einer fehlt«, erhielt er sogleich die Bestätigung. »Einer von euch hat das Haus verlassen, wir haben ihn gesehen. Und er hat
uns auch gesehen. Wir lockten ihn in die Falle, damit sich Rick Hol loway mit ihm beschäftigen kann. Denn Rick will auch nicht, daß hier jemand herumläuft. Alles gehört ihm, auch die Uhr.« »Die Uhr?« »Ja, die besonders.« Kiboran begriff, daß es zwischen der Uhr, den Teufelskindern und diesem Rick Holloway eine ursächliche Verbindung gab. Doch das war im Moment nicht so wichtig. Viel wichtiger und akuter erschien ihm der Fall des Oberinspektors zu sein. »Wo befindet sich der Mann jetzt, der vorhin das Haus verlassen hat?« Diese Frage putschte die Spannung in den Menschen noch höher als zuvor. Jeder starrte die drei kleinen Monster an, doch die ließen sich mit der Antwort Zeit. Eine seltsame Beklemmung legte sich über den Raum. Nadine Berger spürte, wie ihr Herz oben im Hals klopfte. Unter Umständen erfuhr sie jetzt von John Sinclairs Tod. Das brachte sie nahe an den Wahnsinn. Aber auch die Geschwister Mitchell standen lauernd da. Für sie ging es ebenfalls um alles oder nichts. »Holloway hat ihn!« Die Antwort war wie ein Peitschenhieb, denn die Menschen duck ten sich förmlich zusammen. Der aus dem Grab gestiegene Kindermörder hatte sich des Oberin spektors bemächtigt! Kiboran stöhnte auf, während Don Mitchell sagte: »Ich habe es doch gleich gewußt.« Nur Nadine reagierte ohne äußere Anzeichen, doch in ihrem In nern sah es anders aus. Dort jagten sich die Gedanken. Da zitterte sie. Aber sie dachte auch an die Vergangenheit. An Dr. Tod, den John Sinclair besiegt hatte, und an den unheimlichen Mönch, der auch nichts gegen den Geisterjäger hatte ausrichten können. Vielleicht hatte John doch eine Chance … Sie betete darum und faltete sogar die Hände. Die Stimme eines Teufelskinds unterbrach ihren Gedankenlauf.
»Holloway hat es übernommen, euren Freund zu töten. Wir haben andere Aufgaben. Wir werden euch töten!« Das hatte zwar jeder angenommen oder geahnt, aber das so deut lich zu hören war für die Anwesenden ein regelrechter Schock. Und sie waren waffenlos, konnten sich nicht wehren. Das wurde auch dem Bürgermeister klar. Langsam trat er zurück. Er wollte nicht zu nahe sein, doch die Kinder zogen den Kreis sofort enger, versperrten weiterhin die Fluchtwege. »Verdammt!« keuchte Don Mitchell. »Die bringen es fertig und machen uns alle!« Wild schaute er sich um, während seine Schwester plötzlich die Nerven verlor. »Ich will aber nicht sterben!« kreischte sie. »Ich will nicht!« Sie riß die Arme hoch, ballte die Hände und stampfte wild mit dem rechten Fuß auf, so daß der Holzboden vibrierte. »Was machen wir?« fragte Nadine Berger den Bürgermeister mit zitternder Stimme. »Ich weiß es nicht.« »Wir müssen vorbei!« »Genau, das meine ich auch«, sagte Don Mitchell. Er hatte die geflüsterten Worte vernommen und reagierte. Urplötzlich stieß er sich ab. Selten in seinem Leben war er so schnell gerannt. Er flog förmlich auf die Treppe zu und wollte nach oben hin entfliehen. »Don!« kreischte Marion. »Nimm mich mit!« Der Mann kümmerte sich nicht darum. Die Stufen! Er warf seinen Körper vor, nahm die ersten drei – und … Das Teu felskind, das in Treppennähe gelauert hatte, reagierte jetzt erst. Es drehte sich halb, hob den Arm, etwas flirrte durch die Luft und traf mit tödlicher Präzision den Rücken des fliehenden Mannes. Zuerst schien es, als würde Don. Mitchell seinen Lauf nicht un terbrechen, als wäre gar nichts gewesen, dann aber sackte er plötz lich zusammen. In einer reflexartigen Bewegung streckte er noch sei nen linken Arm aus, und die Hand klatschte auf den Lauf des Ge länders. Er wollte sich daran festklammern, fand jedoch nicht die Kraft und verlor den Halt. Gleichzeitig auch das Übergewicht.
Don Mitchell kippte nach hinten und rollte sich mehrmalsüber schlagend und vom Gelächter der drei Teufelskinder begleitet die Treppe hinab. Etwa ein Yard vor der ersten Stufe blieb er liegen und rührte sich nicht mehr. Das Messer hatte ihn tödlich getroffen! Im ersten Moment war keiner der Anwesenden fähig, auch nur ein Wort zu sagen. Die letzten Sekunden waren so entsetzlich gewesen, daß sie sie überhaupt nicht begriffen. Der jähe Schock hatte sie be wegungsunfähig gemacht. Doch auch die Schrecksekunde ging vor bei. Marion Mitchell reagierte als erste. Grell durchschnitt ihr panikerfüllter Schrei die lastende Stille. »Don!« brüllte sie. »Don!« Dann hielt sie nichts mehr auf ihrem Platz. Sie rannte auf den am Boden liegenden Toten zu und warf sich über ihn. Dabei rollte sie ihn auf die Seite, schaute in die gebro chenen Augen und konnte es nicht fassen, daß Don tot war. Sie schrie weiter, umklammerte sein Gesicht, bedeckte es mit Küssen, als wollte sie den Toten ins Leben zurückholen, und konnte nicht begreifen, daß dies nicht möglich war. Die Teufelskinder machten weiter. Eines von ihnen hob seinen Arm, um sein Messer auf die neben dem Toten kniende Marion zu schleudern. In diesem Augenblick schlug im anderen Zimmer die Uhr an. Ihre dumpfen Schläge trieben den Menschen Angstschauer über den Rücken. Totengeläut … Das Kind zögerte. Und da reagierte Kiboran. »Stoß die Tür auf!« zischte er Nadine Berger zu. Gleichzeitig rannte er auf Marion Mitchell zu, erreichte sie und riß sie von dem Toten weg. Da flog das Messer. Doch Kiboran hatte sich instinktiv geduckt. Er und das Mädchen befanden sich nicht mehr in der Flugbahn der Waffe, so daß die Klinge sie verfehlte und in die drittunterste Stufe hieb, wo sie ste ckenblieb. Kiboran aber zerrte die schreiende Marion auf die Tür zum Nebenzimmer zu. Sie stand weit offen. Doch da war noch das dritte Kind. Es wollte ebenfalls sein Messer schleudern.
Nadine Berger überwand sich selbst. Sie hatte bisher nur zuge schaut, jetzt aber sprang sie vor, erreichte den in der Halle stehenden Flügel und schnappte eine Sektflasche, die irgend jemand von den Partygästen dort abgestellt hatte. Wuchtig schleuderte sie die Flasche. Und traf. Das gläserne Wurfgeschoß hieb gegen den Hinterkopf des teuf lischen Kindes. Der Treffer schleuderte das kleine Monster nach vorn, so daß der Bürgermeister und Marion Mitchell Zeit gewannen. Sie konnten in das Zimmer flüchten. Nadine Berger folgte ihnen so fort. Hart rammte sie die Tür zu, sah den von innen steckenden Schlüssel und schloß ab. »Geschafft!« keuchte sie. In ihren Augen flackerte er. Kiboran nick te und lehnte sich gegen die Wand. Sie befanden sich dort, wo die drei weißen Särge standen und das Büfett aufgebaut war. Und der Raum hatte ein Fenster. Eine Fluchtchance! Nadine lief hin. Sie drehte am Griff und schrie schluchzend und enttäuscht auf. »Was ist los?« Nadine irrte herum. »Der verdammte Bügel klemmt!« »Nein!« Bürgermeister Kiboran schloß für Sekunden die Augen. Das war eine Enttäuschung. Marion Mitchell lachte kreischend auf. Es schien, als habe sie den Verstand verloren. »Ich helfe Ihnen«, sagte der Bürgermeister und lief zum Fenster. Nadine trat zur Seite. Auch Kiboran schaffte es nicht, den Bügel herumzureißen. »Dann müssen wir eben die Scheibe einschlagen«, sagte die Schauspielerin. »Womit?« Kiboran schaute sich um. Marion Mitchell hockte in einer Ecke. Sie war in sich zusammenge sunken und stierte zu Boden. Nur unter ihrer Wangenhaut zuckte es hin und wieder. Nadine Berger hatte ihren ersten Schrecken überwunden. Sie pack te eine mit Salat gefüllte Schüssel und schleuderte sie dem Fenster entgegen. Klirrend zerbrach die Scheibe. Kalte Luft fiel in das Zimmer. Wie Messer hingen noch die Scher
benspitzen im Kitt. Mit dem Ellbogen schlug Nadine sie aus dem Rahmen, während sich der Bürgermeister um Marion Mitchell küm merte und sie auf die Beine zog. Das Girl ließ alles willenlos mit sich geschehen. Nadine war am Fenster stehengeblieben. Sie wollte sich gerade hinauslehnen, als sie plötzlich die kleine Gestalt mit der Teu felsfratze sah. Sie stand direkt vor dem Fenster. Nadine Berger war unfähig, etwas zu sagen. Ihre Gesichtszüge erstarrten, während das kleine Monster langsam seine rechte Hand mit dem Messer hob und ein wissendes Grinsen die breiten Lippen kerbte …
* Ich fiel! Vor mir befand sich die gnadenlose Tiefe. Zudem hatte ich die Augen weit aufgerissen, sah den Schaum der Brandung und hörte das Tosen der Wellen. All diese Eindrücke nahm ich in Bruchteilen von Sekunden wahr, bevor ich den großen Schlag verspürte, der meinen Körper er schütterte. Ich war nicht unten zwischen die Klippen gefallen, sondern hatte unverschämtes Glück gehabt. Ein Vorsprung, der wie eine Nase aus der Felswand wuchs, hatte mich gerettet. Vorläufig jedenfalls … Ich lag schräg auf dem Felsen, der an einigen Stellen mit Moos be wachsen war und an anderen wiederum von Wind und Regen aus gewachsenes blankes Gestein zeigte. Meine Beine baumelten über dem Abgrund, doch zum Glück lag ich mit dem größten Teil des Oberkörpers auf der Felsplatte und konnte mich weiterziehen. Es lag auf der Hand, daß sich der Zombie überzeugen würde, was mit mir geschehen war, und sicherlich würde er auch versuchen, mich zwischen die Klippen zu stürzen. Ich kroch vor, denn ich hatte gesehen, daß die Felsnase praktisch in die Wand hineinwuchs und dort eine winzige Höhle bildete, wo ich mich zwar nicht verkriechen konnte, aber durchaus geschützt lag.
Die Hälfte meines Körpers wurde auf jeden Fall abgedeckt, als ich mich schließlich hinhockte und meinen Rücken gegen die rauhe Wand hinter mir preßte. Nur allmählich beruhigte sich mein aufgeregter Herzschlag. Ich at mete wieder tiefer durch und wischte mir mit dem Jacketiärmel den Schweiß von der Stirn. Tief unter mir lag das Meer. Eine dunkle, wogende Oberfläche, die erst an den hervorspringenden Felsen gebrochen und aufgeschäumt wurde, so daß das Wasser in langen Fontänen hochspritzte und an der Wand wieder herablief. Ein feiner Regen aus Staub und kleineren Steinen wischte vor mir in die Tiefe. Für mich ein Zeichen, daß sich der Zombie dicht am Rand aufhielt. Was würde er tun? Ich rührte mich nicht, wagte nicht zu atmen und hörte ein wildes Knurren. Dann die rauhe Stimme und die abgehackt klingenden Worte, die mich hart trafen. »Ich weiß, daß du nicht gefallen bist. Aber ich werde dich holen, Mensch!« Das war ein Versprechen. Nun ja, sollte er kommen. Meinen Optimismus hatte ich nicht verloren. Vielleicht deshalb nicht, weil ich soeben nur mit knapper Not einem fürchterlichen Tod entgangen war. Ich lauerte. Und der Untote kam. Wieder rutschte Gestein an mir vorbei, dies mal etwas mehr. Holloway würde Schwierigkeiten haben, wenn er die Wand herunterkletterte. Ich hörte das Scharren und Rutschen, vernahm einen Fluch, aber der Kindermörder dachte nicht an Auf gabe. Er kletterte weiter. Ich rückte etwas vor. Und nun bewahrheitete sich die These, daß Zombies nicht denken können. Ein normaler Mensch in seiner Lage wäre nie so nach unten geklettert wie der Untote. Er hangelte sich einfach weiter, und ich sah plötzlich seine Füße. Wenn das keine Chance war. Um eine Winzigkeit rutschte ich weiter vor und streckte langsam die Arme aus. Es mußte einfach klappen. Dann griff ich zu. Meine Hände glichen plötzlich Schraubstöcken, als sie die Gelenke
des Zombies umklammerten. Ein wilder Ruck, dem ein Fluch des untoten Mörders folgte, und ich ließ los. Holloway hatte es nicht geschafft, sich an der glatten Felswand festzukrallen. Trotz seiner gewaltigen Kräfte war ihm dies nicht ge lungen. Er hatte den physikalischen Gesetzen nachgeben müssen und wirbelte an mir vorbei in die Tiefe. Ich warf mich hastig zurück, denn fast hätte mich der Körper noch gestreift und mitgerissen, so aber rauschte er in die Tiefe. Als ich ihm nachsah, erkannte ich trotz der herrschenden Dunkelheit den Körper mit den ausgebreiteten Armen und Beinen. Er flog wie ein Fallschirmspringer ohne Schirm. Der Aufschlag ging im Tosen der Brandung unter. Ein normaler Mensch wäre tot gewesen, nicht dieser Zombie. Er würde überleben – und wiederkommen. Damit mußte ich rechnen. Aber erst einmal mußte ich zusehen, wieder von dieser Felsnase, die mir das Leben gerettet hatte, wegzukommen. Was vorhin gut gewesen war, erwies sich nun als Hindernis. Es würde wirklich nicht einfach sein, an der glatten Wand hoch-zuklettern. Ich streckte meine Arme in die Höhe, tastete über den Fels und suchte nach irgendwelchen Einkerbungen im Gestein, wo ich einigermaßen Halt finden konnte. Links von mir – ich mußte mich schon weit strecken – existierte ein schmaler Spalt. Nicht breiter als eine Kinderhand. Dort faßte ich zu, fand da den Haltepunkt und suchte mit meiner rechten Hand nach weiteren Stützen. Die gab es auch. Ich will nicht lange meine Kletterei beschreiben, auf jeden Fall kam ich oben an. Wie, das wußte ich selbst nicht. Ich lag hinterher zerschunden und völlig erschöpft auf dem Bauch und rang verzweifelt nach Atem. Meine Lungen schienen zugestopft zu sein, und es dauerte wirklich Minuten, bis ich mich wieder auf die Beine quälen konnte. Trotzdem torkelte ich noch wie ein Betrunkener, aber mein Gehirn arbeitete klar und präzise. Noch hatte ich keinen Gegner erledigt. Weder die drei Teufelskinder noch den Zombie, der sicherlich zu rückkommen würde. Ich dachte auch an die Menschen, die sich in großer Gefahr befanden. Hatten sie es überstanden, oder waren ihnen die teuf lischen Geschöpfe zuvorgekommen?
Ich wollte schon losrennen, als mir einfiel, daß ich unbewaffnet war. Die beiden dicht nebeneinanderstehenden Steine waren schnell zu finden. Und ich hatte auch sehr bald mein Kreuz wieder. Fehlte die Be retta. Wo konnte die Pistole nur gelandet sein? Ich vergegenwärtigte mir noch einmal die gefährliche Situation und rechnete nach. An schließend ging ich in die Richtung, in der ich die Waffe vermutete. Fast wäre ich darüber gestolpert. Als ich die Beretta in meiner Hand spürte, fühlte ich mich wohler. Und nun hielt mich nichts mehr … Nadine Berger zuckte zurück. Obwohl sie nichts sagte, wußte der Bürgermeister sofort, wer dort vor dem Fenster stand. Er schaute die Schauspielerin an. Nadine nickte. »Dann ist es aus«, flüsterte Kiboran. »Wenn nur John Sinclair hier wäre«, hauchte Nadine. »Er könnte uns auch nicht mehr helfen.« Sie fuhr herum. »Doch, Mr. Kiboran. Er könnte es. Ich kenne ihn und vertraue …« »Aber Sie haben doch gehört, was diese kleinen Monster uns ge sagt haben. Sinclair wird auf Holloway getroffen sein. Und was will er gegen solch eine Gestalt ausrichten?« »Wie?« »Davon sehe ich nichts.« Nadine atmete tief ein. Sie konnte den Bürgermeister verstehen, aber sie erinnerte sich auch an eine Situation, als Dr. Tod sie in sei nen Klauen gehabt und sie so gut wie keinen Ausweg mehr gesehen hatte, wie dann John Sinclair aufgetaucht war und ihm ihre Befrei ung aus den Händen dieses Satans gelang. Damals war es jedoch nur ein Gegner gewesen. Hier hatten sie es mit drei teuflischen Wesen zu tun. Das war schlimmer … Sie dachte an ihren Fast-Verlobten. Ein Messer hatte ihn gelötet. Natürlich empfand Nadine Trauer, aber nicht so stark, wie es eigentlich der Fall hätte sein müssen. Ihre Bindung zueinander war
doch nicht so eng gewesen. Dumpfe Schläge gegen die Tür unterbrachen die Gedanken der Schauspielerin. Nadine zuckte zusammen. »Jetzt versuchen sie es schon von zwei Seiten«, sagte der Bürgermeister. In seiner Stimme schwang Panik mit. »Sollen wir nicht doch aus dem Fenster klettern?« Heftig schüttelte Kiboran den Kopf. »Nein, ich will nicht in ein Messer laufen.« »Aber wir können auch nicht durch die Tür.« »Das stimmt …« Wieder erzitterte sie unter einem Ansturm. Die beiden Menschen sannen fieberhaft über einen Ausweg nach. Man müßte einen Gegenstand haben, mit dem man sich verteidigen kann, dachte Na dine. Ihre Blicke irrten durch den Raum, flogen auch über das Kalte Büfett, das nur zum Teil abgedeckt war, und plötzlich wurden ihre Augen groß. »Was ist?« fragte der Bürgermeister. Anstelle einer Antwort deutete Nadine auf einen Gegenstand, der dicht neben dem Stangenbrot lag. Ein Messer! »Ich nehme es«, sagte sie mit kaum zu verstehender Stimme. »Und dann klettere ich durch das Fenster …« »Nein, die sind stärker!« »Dann schlagen Sie doch etwas anderes vor, verdammt!« »Ich weiß nichts.« »Deshalb nehme ich das Messer!« Nadine Berger ließ sich nicht be irren. Sie griff zu. Ihre Finger umklammerten den braunen Holzgriff. Tief saugte sie die Luft ein. Sie hatte sich entschlossen, zuzuschlagen, und sie würde sich durch nichts davon abhalten lassen. »Wenn ich dieses Wesen erledigt habe, können Sie mit dem Mädchen folgen«, sagte sie krächzend. Kiboran nickte. Aufgeregt beobachtete er, wie Nadine auf das Fenster zuschritt. Sie ging steif wie eine Marionette, aber auch sehr entschlossen. Hart umklammerten die fünf Finger der rechten Hand den Griff.
Die Klinge wies zu Boden. Nadine wollte das Messer von oben nach unten ziehen. Vor dem Fenster blieb sie stehen. Sie schaute durch die zerbrochene Scheibe. Viel sah sie nicht, da sich um das Haus her um die Dunkelheit zusammenballte. Der Nachtwind blies ihr ins Gesicht und wehte auch winzige Scherbenreste aus dem Rahmen. Von dem teuflischen Kind konnte sie nichts sehen, es hatte sich zu rückgezogen. Nadine rechnete fest damit, daß es irgendwo auf sie lauerte. Es fiel ihr schwer, jetzt noch standhaft zu bleiben. Der Mut hatte sie etwas verlassen, aber wuchtige Schläge gegen die Tür be stärkten sie wieder in ihrem Vorhaben. Sie durfte jetzt nicht mehr zögern. Auch wenn die Tür noch so stabil war, irgendwann würde sie brechen. Und diese kleinen Mons ter hatten mehr Kraft als normale Kinder, davon war die Filmschau spielerin fest überzeugt. Sie beugte sich vor. Ihr Blickwinkel wurde jetzt besser. Nadine verdrehte die Augen, so daß sie etwas zur Seite schielen konnte. Erst nach links, dann nach rechts. Nichts zu sehen. »Was ist?« zischte Kiboran hinter ihr. »Es scheint nicht mehr da zu sein.« »Wirklich?« Hoffnung klang in der Frage mit. »Mal sehen.« Nadine Berger riskierte etwas. Sie kletterte auf die hohe Fensterbank und duckte sich, damit sie von den restlichen Scherbensplittern nicht getroffen wurde. Dann holte sie noch einmal tief Luft, stieß sich ab und sprang nach draußen. Sie kam gut auf, knickte nicht mit dem Fuß um und lief zwei Schritte vor, um sich rasch umzudrehen. Das Geschöpf kam aus dem Schatten der Hauswand. Nadine sah die huschende Bewegung und nahm auch das Blitzen der gefährli chen Messerklinge wahr. Wahllos stieß sie ein paarmal zu. Sie spürte Widerstand, sah das verzerrte Gesicht dicht vor sich, die Faust mit dem Messer, zuckte zurück, spürte den brennenden
Schmerz an der Schulter, gleich darauf auch an der Hüfte und wuß te, daß sie getroffen war. Diese Erkenntnis lähmte ihre Reaktionen. Nadine lief zurück, stol perte und fiel. Gräßlich lachte das Geschöpf auf. Nadine lag am Boden, sah das kleine Monsterüber sich, das ihr plötzlich sehr groß vorkam. Auf der teuflischen Fratze spiegelte sich Triumph wider, die Augen schimmerten rötlich und rollten in den Höhlen. Nadines Blick irrte ab, streifte das Fenster, sie sah dort den Bürgermeister, dessen Gestalt sich vor der Helligkeit abhob. Sie wollte schreien, doch kein Laut drang aus ihrem Mund. Das teuflische Geschöpf vor ihr lebte, obwohl sie es ein paarmal getroffen hatte. So war es nicht zu töten. Da warf sich das Monster nach vorn, stieß wuchtig zu. Im selben Moment krachte ein Schuß. Das helle, peitschende Geräusch rollte über das Plateau. Die Bewe gung des teuflischen Kindes wurde gestoppt, der Einschlag des Ge schosses trieb es zur Seite, und das kleine Monster prallte neben Na dine Berger zu Boden. Schreiend blieb es liegen. Eine Gestalt hetzte heran. Das war ich! Ich hatte den Schrei des Bürgermeisters gehört und war schon auf dem Weg zum Eingang gewesken, als es mich herumgerissen hatte. Ich hatte die Szene nur schattenhaft erkannt, aber sofort meine richtigen Schlüsse daraus gezogen. Der Schuß hatte Nadine Berger das Leben gerettet. Ich lief zu ihr. Sie lag am Boden, hatte sich zusammengerollt und schluchzte. Ihre Schultern bebten, wie im Kampf hielt sie das Messer mit der langen Klinge fest, das ich ihr vorsichtig aus der Hand wand. Ich schleuderte es weg. Erst dann sah ich nach dem Teufelskind.
Meine Silberkugel hatte es in den Kopf getroffen. Nichts war da von übriggeblieben, nur noch den Rumpf sah ich, der jetzt aber in das Stadium der Verwesung überging und langsam verfaulte. »Nadine!« flüsterte ich. »Alles okay?« Sie öffnete die Augen und richtete sich auf. »John!« hauchte sie und blickte mich an, als könnte sie es gar nicht begreifen, daß ich es war, und dann rief sie wieder, aber diesmal siärker: »John!« Es war ein Schrei, ein Ruf der Verzweiflung und der Erleichte rung. Sie warf ihre Arme hoch, umklammerte meinen Nacken und preßte sich eng an mich. »Mr. Sinclair!« Der nächste Ruf riß mich aus meiner momentanen Lethargie. Ich stieß Nadine von mir, drehte mich und sah den Mann am Fenster. Bürgermeister Kiboran winkte, dann verschwand er mit einem grotesk wirkenden Sprung, und ich sah einen anderen Schatten, einen wesentlich kleineren. Das Teufelskind … Ich rannte los. Die Zeit, erst den normalen Weg zu nehmen und durch den Ein gang das Haus zu betreten, nahm ich mir nicht. Ich hätte wertvolle Sekunden verloren. Mein Ziel war das Fenster! Ich prallte fast gegen die Mauern, so viel Mühe bereitete es mir, den eigenen Schwung zu bremsen. Die Beretta steckte ich in den Hosenbund, meine Arme flogen hoch, und es gelang mir, den Rand der Fensterbank zu umklammern. Hastig zog ich mich hoch. Ein Klimmzug reichte. Ich hockte gekrümmt auf der Bank und blickte ins Zimmer. Dort war die Hölle los. Den teuflischen Wesen mußte es gelungen sein, die Tür einzutre ten. Sie lag auf dem Boden, beide Monster befanden sich im Raum und attackierten Marion Mitchell und den Bürgermeister. Von Don Mitchell sah ich nichts. Das Mädchen befand sich in größerer Gefahr, während sich Kibo ran zurückgezogen und den langen Tisch zwischen sich und eines der Geschöpfe gebracht hatte. Mit Schwung sprang ich in den
Raum. Genau in dem Augenblick drehte sich das Geschöpf um, das Marion angreifen wollte. Ein fauchender Laut wehte mir entgegen. Ich sah das Messer und die nach oben zeigende Klinge. Voll würde ich hineinspringen … Da fegte, als ich mich noch in der Luft befand, mein linkes Bein vor. Die Fußspitze rammte gegen den Messerarm des kleinen Mons ters und schleuderte das Wesen zurück. Ich kam gut auf, knickte allerdings zur linken Seite weg, fing mich aber sofort wieder und nahm meine Beretta in die rechte Hand. Das zweite Wesen griff an. Es hatte von dem Bürgermeister ge lassen und stürmte auf mich los. Ich packte den Tisch unter dem Rand und hievte ihn hoch. Es war eine wilde, kraftvolle Bewegung, und ich erzielte damit auch den nötigen Erfolg. Die Schüsseln und Schalen machten sich selbständig, sie rutschten dem kleinen Monster entgegen, und der Tisch kippte um. Das Teufelskind wurde unter dem Tisch begraben! »Vorsicht!« schrie der Bürgermeister. Ich sprang zur Seite und wirbelte gleichzeitig herum. Das zweite Wesen hatte den Arm bereits erhoben, um das Messer zu schleudern. Ich war schneller. Vor dem Lauf der Beretta blitzte es auf. Das Wesen kam nicht mehr dazu, sein Messer zu werfen, denn das geweihte Silbergeschoß warf es zurück, bis es vor der Wand aufgehalten wurde. Noch ein Gegner. Jetzt erst bemerkte ich, welch eine Kraft in den kleinen, aber ge fährlichen Wesen steckte. Es hievte den schweren Tisch hoch und wollte ihn mir entgegenkippen. Ich kam nicht schnell genug weg, so daß die Kante über mein Schienbein schrammte. Es tat verflucht weh, und ich verzog das Gesicht. Das kleine Monster jedoch griff nicht an, sondern lief auf das Fens ter zu. Dicht davor setzte es zu einem Sprung an. Mit einem Satz wollte
es sich durch die Scheibe schnellen. Dagegen hatte ich etwas. Mein Schuß krachte. In der Luft wurde das dritte Teufelskind herumgewirbelt, knallte gegen die innere Fensterbank und rutschte mit der Hälfte des Ober körpers über die Brüstung. So blieb es liegen. Und so verging es auch. Das Teufelsgesicht zerfiel, und der Körper ging über in das Stadi um der Verwesung. Wie bei den beiden anderen … Ich steckte die Waffe weg und nickte dem Bürgermeister zu. »Die Gefahr ist vorbei«, sagte ich. »Ja«, flüsterte er. Mehr konnte er nicht sagen. Ich aber wies ihn an, sich um Nadine Berger zu kümmern. »Holen Sie sie her.« Er nickte und verschwand durch die Tür. Er ließ sie offen, und ich konnte in die Halle schauen. Dort sah ich Don Mitchell. Er lag dicht vor der Treppe, und für mich stand fest, daß ihm kein Arzt der Welt mehr helfen konnte. Diese teuflischen Wesen hatten sich ein zweites Opfer geholt. Ich ging zu Marion Mitchell. Sie hatte sich während der gesamten Zeit nicht gerührt, sondern auf dem Boden gesessen und sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Den Kopf hielt sie gesenkt. Mir schwante Böses, als ich sacht ihr Kinn anhob. Willenlos ließ sie es geschehen. Ich sah auch den Grund. Das Mädchen hatte keinen eigenen Willen mehr. Marion Mitchell war wahnsinnig geworden. Die vorausgegangenen Ereignisse – vielleicht auch der gewaltsame Tod ihres Bruders – hatten einen grausamen Tribut gefordert. Sie blickte durch mich hindurch, er kannte mich nicht, und als ich sie ansprach, drang ein irres Lachen aus ihrem Mund. Ich hob sie hoch. Zum Glück blieb sie auf ihren eigenen Beinen stehen. Dann sah sie die offene Tür und tanzte in die Halle, wo soeben Nadine Berger und der Bürgermeister erschienen.
Die Schauspielerin wurde von Kiboran gestützt. Ich sah sofort, daß sie etwas abbekommen hatte. Sie blutete aus zwei Wunden. Einmal war sie an der Schulter und dann in Höhe der Hüfte getroffen worden. Ich dirigierte Marion zu einem Stuhl, auf den sie sich apathisch niederließ. Dann kümmerte ich mich um Nadine. Die Wunden waren nicht schlimm, sie schmerzten nur, würden jedoch schnell verheilen. Si cherlich gab es in diesem Haus einen Verbandskasten. Der Bürgermeister wollte oben im Bad nachsehen. »Du hast es also doch noch geschafft«, flüsterte Nadine, wobei sie immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. »Ja, natürlich.« »Aber die anderen haben nicht daran geglaubt. Nur ich.« Was sollte ich dazu sagen? Ich hatte ja selbst nicht mehr damit gerechnet, nach dem, was alles geschehen war. Aber das konnte ich ihr nicht sagen und meinte deshalb: »Naja, irgendwie packe ich es immer, kleine Nadine.« »Ich weiß, John, ich weiß.« Bevor ich mich versah, preßte sie ihre Lippen auf meinen Mund und schob ihre kleine Zungenspitze zwi schen meine Zähne. Der Kuß sagte alles … Ein Räuspern ließ uns auseinanderfahren. Der Bürgermeister stand mit der Hausapotheke bereit. »Nicht, daß ich unbedingt stö ren will, aber es ist wichtig …« Ich lachte. »Schon gut.« Es stellte sich heraus, daß Kiboran einen Kursus als Sanitäter mit gemacht hatte. Er verstand etwas von der Ersten Hilfe und verband Nadines Wunden fachmännisch. Ich sah mich um. Es war ein schauriges Bild, das diese Halle bot. Vor allen Dingen mit dem Toten an der Treppe. Und in der oberen Etage lag noch eine zweite Leiche. Sie abzutransportieren war Sache der Polizei. Nur wollte ich sie noch nicht einschalten, denn der Fall war noch nicht beendet. Das sagte ich auch den beiden. »Dann – dann müssen wir damit rechnen, daß Rick Holloway hierher zurückkehrt?« fragte der Bürgermeister. Ich nickte. »Und?« Ich lächelte schwach. »Eine erkannte Gefahr ist nur halb so
schlimm«, erklärte ich. »Ich werde hier auf Holloway warten.« »Wie?« »Ich setze mich hier in die Halle!« »Aber schaffen Sie das denn?« »Und ob er das schafft«, erwiderte Nadine Berger, wobei ihre Augen blitzten. »Da kennen Sie John Sinclair aber schlecht, Mr. Ki boran. Hat er uns nicht auch aus der Klemme geholfen?« »War ja nur eine Frage. Entschuldigung.« Ich winkte ab. »Da ist noch etwas«, sagte mir der Bürgermeister. »Diese Standuhr muß mit Holloway in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber die Uhr scheint für ihn eine Art Seele zu sein.« Ich fuhr mit dem Zeigefinger über in einen Nasenrücken. »Das war gar nicht schlecht, Herr Bürgermeis ter. Und sicherlich haben Sie ziemlich genau den Kern des Problems getroffen. Ja, eine Art Seele. So könnte man es sehen.« Ich öffnete die Zimmertür und schaute auf die Uhr. Sie stand völlig normal an der Wand. »Würden Sie mir helfen, das Ding in die Halle zu schleppen?« Kiboran nickte. Die Uhr war schwer. Doch in gemeinsamer Arbeit gelang es uns, sie in die Halle zu verfrachten. Ich ging noch einmal nach draußen, öffnete die Kofferraumhaube und nahm eine bestimmte Waffe hervor. Desteros Schwert! Im harten Kampf hatte ich es dem Dämonenhenker abgenommen. Nun gehörte es mir. Ich hatte es in einer weichen Lederscheide ste cken. Die ließ ich liegen und nahm nur das Schwert. Auf dem Weg ins Haus besah ich mir die Klinge. Sie schimmerte bläulich und war fantastisch geschliffen. Dieses Schwert war wirklich etwas Besonderes. Ich konnte stolz darauf sein, es in den Händen zu halten. Vor knapp einer Woche hatte ich es bekommen und wollte es nun zum ersten Mal einsetzen. Der Bürgermeister und Nadine Berger sahen mich überrascht an, als ich mit dieser Waffe zurückkehrte. »Was wollen Sie denn damit?« fragte Kiboran. Meine Antwort klang diplomatisch. »Lassen Sie sich überraschen, Herr Bürgermeister …«
* Die Eingangstür befand sich mir direkt gegenüber. Ich saß auf einem Stuhl und wartete. Hinter mir stand die Uhr. Das Schwert hatte ich über meine Knie gelegt, das Kreuz hing offen vor meiner Brust. So erwartete ich den Zombie! Nadine Berger, den Bürgermeister und Marion Mitchell hatte ich nach oben geschickt. Sie sollten erst wieder in die Halle kommen, wenn alles vorbei war. Die Zeit kann lang werden, wenn man da hockt und wartet. Hinter mir vernahm ich das Ticken der Uhr. Im Anfang hatte es mich ein wenig beunruhigt, jetzt war ich daran gewöhnt. Ein paarmal schon hatte ich nachgerechnet, wie lange es wohl dauern würde, bis der Zombie kam. Wenn er an der Felswand hoch klettern wollte, konnte ich hier warten, bis ich Schimmel angesetzt hatte. Sicherlich gab es noch einen anderen Weg, der in Wasserhöhe zwischen die Felsen schnitt und dann zu einem begehbaren Pfad wurde. Neben mir stand eine Flasche mit Mineralwasser. Hin und wieder nahm ich einen Schluck. Längst hatte die Uhr elfmal geschlagen, und ich fragte mich, ob Holloway überhaupt noch vor Mitternacht eintreffen würde. Das Licht brannte jedenfalls, so wurde ihm der Weg gewiesen. Fast vierundzwanzig Uhr. Nur noch drei Minuten fehlten. Meine innere Spannung wuchs. Ich ahnte, daß der Untote bald eintreffen würde. Das hatte ich gewissermaßen im Gefühl, spürte es in den Fingerspitzen. Drei Minuten können sich ganz schön in die Länge ziehen, dann aber war es soweit. Mitternacht! Für einen Moment hörte das Tick-Tack der Uhr auf. Danach be gann sie zu schlagen. Zwölfmal …
Und mit dem letzten Schlag wurde die Eingangstür mit Vehemenz aufgetreten. Der Zombie war da!
* Ich blieb nicht sitzen, sondern stand auf. Die Tür fegte bis zur Wand und wurde von dort wieder zurückge schleudert. Hinter dem Rücken des Zombies knallte sie ins Schloß. Breit, wuchtig und gefährlich stand Rick Holloway da. Aber wie sah er aus! Der Sturz mußte ihm einige Knochen gebrochen haben. Eine Schulter saß schief, ein Arm stand schräg ab, der Kopf war an der rechten Seite gesplittert. Aber er spürte keine Schmerzen, er lebte weiter und wollte mich töten. Langsam kam er näher. Ich trat zur Seite und stieß den Stuhl weg, der mich jetzt in meiner Bewegungsfreiheit störte. Mit beiden Händen hielt ich den Schwert griff fest. Ich würde die Waffe zum ersten Mal einsetzen, aber nicht gegen Rick Holloway. Mein Plan sah anders aus. Fünf Schritte war er noch von mir entfernt, als ich mit ungeheurer Wucht zuschlug. Seitlich hämmerte ich die Klinge gegen die alte Standuhr. Es klim perte, splitterte, Holz brach, das Pendel flog von einer Seite zur anderen, und mit den Gewichten war es das gleiche Spiel. Holloway aber schrie. Sein Lauf wurde plötzlich gebremst, er knickte seitlich ein und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Der zweite Schlag. Diesmal traf ich die Uhr von vorn. Die scharfe Klinge sägte in das Holz, schlitzte es auf, und ich vernahm einen gellenden Schrei. Holloway zuckte zusammen. Er schüttelte sich wie im Fieber, und als ich mit dem dritten Hieb die Uhr fast in der Mitte auseinander schlug, fiel er zu Boden und wälzte sich schreiend um die eigene
Achse. Es stimmte. Zwischen der Uhr und Rick Holloway bestand eine magische Ver bindung, die ich jetzt stufenweise zerstörte. Drei Schläge hatten ge reicht, der Untote lag am Boden. Aber ich wollte mehr. Der vierte Schlag sollte alles klarmachen. Weit holte ich aus. Und diesmal zielte ich auf das Herz der Uhr, das Zifferblatt. Desteros Schwert hieb es in zwei Teile. Es gab erst einen singenden Ton, der dann in ein gewaltiges Kreischen überging, das sich wieder änderte und zu einem Fauchen wurde. Plötzlich quoll Rauch aus der Schnittstelle, der rot gefärbt war und aus dem sich eine Teufelsfratze materialisierte, in die ich den nächsten Schlag setzte. Das Schwert zerteilte den Rauch, aber er zerfaserte auch so, und ich hörte nicht nur ferne Schreie, die aus irgendeiner anderen Dimension zu kommen schienen, sondern vernahm auch die lauten Todesrufe des Zombies. Rick Holloway starb. Als ich mich umdrehte, bot sich mir ein schauriges Bild. Mit dem letzten gezielten Schlag hatte ich nicht nur das Zifferblatt geteilt, sondern auch die Gestalt des Untoten. Rick Holloway existierte nicht mehr. Und mit einem letzten Krachen brachen auch die Reste der Teufelsuhr zusammen. Ich hatte auf der ganzen Linie gesiegt. Und es war ein verdammt gutes Gefühl, Freunde.
* Ich hatte mit meinem Chef, Superintendent Powell, gesprochen. Zwar war er von mir aus dem Bett gerissen worden, doch das mach te ihm nichts. Sir James versprach mir jegliche Rückendeckung und verwies mich auf einen Commissioner, der für Wales zuständig war. Ihn trommelte ich aus dem Bett. Eine halbe Stunde später war dann alles geklärt. Die Toten wurden weggeschafft. Nadine Berger weinte, als man Don Mitchell in den Zinksarg legte und ihn hinaustrug. Seine Schwester saß schon in einem Kasten wagen. Sie sprach mit sich selbst. Vielleicht hatte sie Glück und
würde bei entsprechender Behandlung gesund und aus der Anstalt entlassen. Wir mußten uns noch längere Zeit in dem Haus aufhalten. Es galt, zahlreiche Fragen zu klären, und sogar der Commissioner persön lich traf ein. Mit ihm redete ich lange unter vier Augen. Wir trennten uns in beiderseitigem Einvernehmen. Es wurde schon hell, als wir das Haus auf den Klippen verließen. Nadine ging neben mir. »Du kannst mit mir fahren«, schlug ich vor. »Gern.« Wir verabschiedeten uns von dem Bürgermeister, der diesen Tag wohl nie vergessen würde. »Willst du direkt nach London?« fragte Nadine viel später, als wir durch die hügelige Landschaft von Wales rollten. »Nein, ich kann noch einen Tag ausschlafen. Wieso?« Sie lächelte etwas verkrampft. »Weil es nicht weit von hier ein nettes kleines Hotel gibt, dessen Besitzer ich gut kenne. Wir haben dort mal einen Fernsehfilm ge dreht und die Abende feuchtfröhlich in der Hotelbar verbracht.« Natürlich erinnerte sich der Besitzer an Nadine Berger. Wir erhielten auch ein Zimmer. Ich blickte überrascht auf das Franzö sische Bett. »Und da sollen wir schlafen?« fragte ich mit etwas krat ziger Stimme. Nadine nickte mir zu. »Warum nicht?« Ja, Freunde, warum eigent lich nicht? Schließlich bin ich auch nur ein Mann, und wer Nadine Berger kennt, der kann meine Antwort sehr gut verstehen … ENDE