KLEINE JUGENDREIHE
Erich Köhler
Die Teufelsmühle
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1958
9. Jahrgang, 1, Märzhef...
38 downloads
637 Views
869KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
KLEINE JUGENDREIHE
Erich Köhler
Die Teufelsmühle
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1958
9. Jahrgang, 1, Märzheft Veröffentlicht 1958 Im Verlag Kultur und Fortschritt Berlin W 8, Taubenstraße 10 Lizenz-Nr.: 3 – 285/30/58 Alle Rechte vorbehalten Umschlag und Illustrationen: Erhart Bauch Satz und Druck: Zeitungsrotationsdruck:: VEB Landesdruckerei Sachsen Dresden – DI-9-S 18S
Aus dem böhmischen Ort Holubkov, wohin ihn sein Vater hatte gehen lassen, in gutem Glauben, daß er dort etwas Vernünftiges lerne, ist er eines Nachts still und heimlich entwichen. Das war, als ihm das Granatenmachen über war, als er seine Lehrzeit zu Ende gehen sah, ohne daß sie ihm etwas anderes beigebracht hätten als das Abdrehen und Ausbohren von Stahlspindeln und das verhaßte Strammstehen vor seinen HJ-Führern. Schlosser hatte er werden wollen, dort in Holubkov, und in einer Munitionsfabrik war er dann gelandet. Anfangs war ja alles ungemein interessant gewesen: das Lehrlingsheim, die Kameradschaftsabende, der Dienst, der von Sonnenauf- bis -Untergang zur Disziplin erzog, der straffe Befehlston, der alles, aber auch alles regulierte vom allmorgendlichen „‘raustreten zum Kaffeeholen!“ bis zum allabendlichen „Fertigmachen zum Schlafengehen!“, die Tageseinteilung, die mit der Pünktlichkeit eines Uhrwerkes ablief, so daß man überhaupt nicht mehr nachzudenken brauchte. Und alles hatte etwas so spielerisch Unwichtiges an sich. Natürlich sollten sie etwas lernen, in erster Linie Gehorsam. „Wer nicht gehorchen lernt, der wird auch später, nach dem Sieg, nicht zu herrschen verstehen“, erklärten ihnen ihre NSHeimerziehungsleiter; und wer von den Jungen hätte nicht gerne dereinst einmal herrschen wollen? Der Sepp, so hat mein Freund geheißen, erzählte mir später davon, daß es eine Zeit gegeben hat, da er jedem Soldaten habe zurufen mögen: „Seht, wie wir parieren; so siegt doch!“ Das aber sei am Anfang seiner Lehrzeit gewesen. Zum Schluß habe er am liebsten nach Hause wollen. Tag für Tag
arbeiteten sie in der Munitionsfabrik, gingen auf Befehl zu Mittag essen, sangen abends, nachdem sie zehn Stunden für den totalen Krieg geschuftet hatten, auf Befehl Kriegs-und Soldatenlieder und hörten die Nachrichten des OKW“! Nachts aber tobten sie im Dunkeln von Zimmer zu Zimmer, verrammelten Türen, schmierten schlafenden Kameraden Schuhcreme ins Gesicht oder sonstwohin, prügelten oder wurden geprügelt. Bei ihnen hießen diese nächtlichen Heimsuchungen „Invasion“. Es war immer dasselbe Theater. Diese primitivsten Äußerungen jugendlicher Ausgelassenheit wurden von der Heimerziehungsleitung schmunzelnd geduldet, um so mehr, als bei jenen Rüpeleien bereits die ersten Anzeichen einer Roheit zu erkennen waren, die man der Jugend als künftigen Soldaten und „Welteroberern“ anzuerziehen sich Mühe gab. Freilich nannte man das nicht Roheit, dieses Wort gab es damals nicht mehr. Man hatte an seine Stelle eine ganze Reihe anderer Begriffe gesetzt, wie „Mannestum. Heldenmut, Härte“. Es galt als heldenhaft, wenn man mit verkrallten Fingern draußen am Fensterrahmen vier, fünf Meter über dem Erdboden hing und sich einer von der Stube, in die man hatte eindringen wollen, einem an die Beine hängte und sich an dessen Beine noch einer hängte und man trotz des dreifachen Körpergewichts nicht losließ. Und es war beileibe nicht roh, sondern höchstens hart, auf alle Fälle aber tapfer, wenn einer im Innern jenes Zimmers die verkrampften Finger wollüstig mit dem Schemelbein bearbeitete, so daß diese nachgeben mußten und die ganze Menschentraube hinunterplumpste. Und es gehörte schließlich zum guten Ton, den Schmerz der zerschundenen Finger, der verstauchten Glieder oder auch den „tapferen“ Schlag mit dem Stuhlbein mit möglichst ver-
ächtlicher Miene abzutun. Genug, das war vorbei. Als der Krieg immer totaler wurde, so daß alles Granatendrehen nichts mehr half und der Traum von der Weltherrschaft in ein Nichts zerrann, als die Jungen vor die Entscheidung gestellt wurden: entweder Schanzeinsatz oder Heimatflak, da hat der Sepp sein Gesellenstück in den Hosensack geschoben und ist für sich einen dritten Weg gegangen. Dieser sein Weg hat ihn in drei Nächten direkt nach Hause geführt in unser Dorf, zu seinem Vater. Klein und stämmig war er. In seinen kurzen Hosen und mit den verwegenen braunen Flammenlocken über der Stirn sah er fast wie ein Schuljunge aus. Sepp schien sich dessen bewußt, und ich nehme an, daß er gerade darauf seinen Plan gründete, die paar Tage, die es höchstens noch dauern konnte, sorglos zu verbringen. Sorglos? – Nein, darin sollte ich mich geirrt haben. Obwohl Sepp sich von Natur aus über sein Tun und Lassen keine große Rechenschaft zu geben pflegte – sein „Gesellenstück“ trug er stets bei sich. Er hat es mir des öfteren gezeigt, und ich habe es stets gebührend bewundert. Es war dies eine etwa zehn bis zwölf Zentimeter lange glatt durchbohrte Stahlröhre. Von dem einen Ende bis fast zur Hälfte war ein Führungsschlitz eingefräst, der zur Mitte des Werkstückes hin etwas erweitert und zu einem regelrechten Patronenlager ausgearbeitet war. Die ganze Röhre war somit in einen kurzen Lauf, das Patronenlager und die Schloßhülse unterteilt. Das Schloß wieder bestand nur aus einer Spiralfeder und einem starken rechtwinkelig gebogenen Nagel, beides in dem hinteren Teil der Bohrung gelagert, wobei das umgebogene Ende des Nagels ein wenig herausragte. Wollte man das Schloß spannen, so zog man den Nagel, der mittels
einer kurz hinter der Nagelspitze angeschweißten Perle die Feder mitnahm und spannte, an seinem umgebogenen Ende zurück und legte das Ende dann so um, daß es nicht wieder in den Führungsschlitz einschnappen konnte. Dieses Spannen kostete einige Mühe, denn das Nagelende stand nur wenig über den Schlitzrand hinaus. Hatte man aber gespannt, so konnte man in das Lager eine Kleinkaliberpatrone einführen. Wenn man nun schießen wollte, und das war ja der Zweck des ganzen einfachen Mechanismus, so hielt man das Röhrchen mit der Faust so umspannt, daß die Mündung ein Stück und das Ende mit dem umgebogenen Nagelende auch ein Stückchen daraus hervorstanden. Mit dem Daumen brauchte man dann nur das Nagelende so weit herumzulegen, daß es wieder in den Schlitz einschnappte, denn der Nagel war ja der Schlagbolzen, Sicherungsflügel und Abzugshahn zugleich. Die Feder aber tat das ihrige. Zielte man mit dem Ding, so sah es aus, als gucke der Schütze durch die hohle Faust, so wie wir als Kinder ein gar nicht vorhandenes Fernrohr ans Auge zu halten pflegten. Als ich einmal damit schoß, prellte es ein wenig in der Faust, und das Blei fuhr sirrend durch die Luft, weil es ja keinen Drall hatte. Anschließend klebte ich ein wenig Heftpflaster auf den Handteller, wegen der Blutblase. Ja, so war es mit jenem Werkstück bestellt, das der Sepp nach fast zweijähriger Lehrzeit zum Beweis seiner erlernten Kunst mit nach Hause gebracht hatte. Er hatte es sich angefertigt aus einer spielerischen Laune heraus, froh über seine Fertigkeit; und niemand hatte ihn gelehrt, etwas anderes, Nützlicheres zu bauen. Als er dann fortgelaufen war, hatte er das Schießeisen mitgenommen, vielleicht bewußt, vielleicht ohne bestimmte Absicht, es waren eben bewaffnete Zeiten damals. Sein Vater wußte nichts davon, es wußte außer mir
überhaupt niemand etwas davon, obwohl mein Freund sein Gesellenstück stets bei sich trug. Erst waren dies ein paar herrliche Tage für uns beide. Schon seit unserer Schulzeit gefiel es uns, frei und ledig durch Wald und Flur zu streifen oder in den alten Bergwerkshalden hinter dem Dorf zu graben oder in der Eger Fische zu fangen. Wir waren stets gleicher Meinung gewesen, und gerade diese gleiche Veranlagung hatte uns beide zu unzertrennlichen Freunden werden lassen. Nur dadurch, daß Sepp ein Jahr früher die Schule beendete, waren wir eine Zeitlang auseinandergekommen. In dieser Zeit seines Fortseins hatte er mir auch immer gefehlt. Deshalb war ich froh, daß er wieder zu Hause war, und genoß das Zusammensein mit dem nun wiedererlangten Freund, an den ich doch seit Kindheit gewöhnt war. Sepp aber genoß das Gefühl der wiedererlangten Freiheit von seinem zehnstündigen Arbeitstag. Er war nie für die lärmende Geselligkeit im Heim mit ihren rohen Spaßen. Was der Mensch ererbt an Wolfsnatur, war bei ihm schon in der Jugend so tief begraben und verfallen, daß man es mit den radikalsten Mitteln nicht hervorzaubern konnte, sondern höchstens noch der kindlichen Natur Schaden antat. So war das ganze Ergebnis der nationalsozialistischen Erziehung an ihm nur, daß er sich ihr am Ende durch Flucht entzog, um wieder die vertrauten Kinderschuhe anzuziehen, aus denen man ihn mit Gewalt hatte herausdrillen wollen; dabei schleppte er ein recht gefährliches Ding in der Tasche mit sich herum: ein Ergebnis, das widerspruchsvoller nicht sein konnte. Und als ob es auf der Welt nichts Wichtigeres gegeben hätte, dösten wir hinterm alten Damm, der das Dorf von dem ehemaligen Schachtgelände trennte, stundenlang in der jungen Frühlingssonne, blinzelten in das Flimmern der erwärmten Luft über den Halden und kosteten noch
einmal mit der Unbekümmertheit junger Hunde aus, was uns beide so vereinte, die Freude an der Erde, der Natur und am Leben. Es war jedoch nicht so, wie es mir anfangs geschienen, daß der Sepp immer noch ganz der gewesen wäre, als der er einstmals von mir fortging. Er war nicht mehr wie ehedem die Unbefangenheit selbst. Es konnte vorkommen, daß er plötzlich sagte: „Jetzt gehen wir dort- und dorthin!“ oder: „Jetzt tun wir dies oder jenes!“, und es hörte sich unwiderruflich an, was ich früher an ihm nicht gekannt hatte. Zuweilen klang mir sein Ton beinahe zu streng, so daß ich mir sagte, es sei an der Zeit für ihn gewesen, fortzukommen von Holubkov. Dann wieder benahm er sich geradezu andersherum, ja schien mir sogar unsicher. Nein, der ruhige, oft sogar treuherzige Sepp von einst war dies nicht mehr. Früher hatte er sich nie darum gekümmert, wer etwa in mehr oder weniger großer Entfernung sich bewegte. Jetzt aber konnte er mitunter unser sorgloses Treiben auf einmal ganz nüchtern unterbrechen, angestrengt in eine Richtung spähen und seltsam ungeduldig fragen: „Sieh mal, wer kommt dort?“ Ich aber, ohne Verständnis dafür, hielt es für eine Grille, die er sich in seiner Lehrzeit angewöhnt haben mochte, und suchte diese sonderbare Unruhe, die in solchen Augenblicken meinen Freund zu beherrschen schien, so schnell und gründlich wie nur möglich zu zerstreuen; denn ein solcher, ständig auf etwas Unbestimmtes – oder Bestimmtes? – lauernder Freund gefiel mir nicht Eines Tages aber begriff ich. Wir saßen hinter den Halden in einem Loch und gruben nach Kohle. Es ließ sich nämlich aus dem alten Abraum mit einiger Mühe noch Kohlengrus aussieben, ja manchmal fand sich sogar noch ein faustgroßes Stück.
Nicht daß wir unbedingt darauf angewiesen gewesen wären. Wir taten das so gern, weil es eine beschauliche, sogar etwas melancholische Beschäftigung war. Seit vielen Jahren ruhte in diesem Gebiet der Bergbau. Die Kohlenvorkommen waren erschöpft, und vielen Dorfbewohnern war es fast wie eine heimliche, trauliche Zwiesprache mit der Vergangenheit des Dorfes, wenn sie in ihren alten Halden scharrten. So erging es auch uns. Außerdem war dieser Tag einmal wieder grau und kaltwindig, und was lag da näher, als sich in die Erde zu verkriechen. So duckten wir uns tief in unser flaches Loch, gewannen dem Boden Wärme ab für unsere nackten Knie und für den Ofen die Kohlen. Es war eine Arbeit, bei der man leicht vergessen konnte, daß es einen Beruf des Granatendrehens, daß es überhaupt Munitionsfabriken gab. Und so richteten wir uns nur selten umschichtig hoch, um einiges mehr zu dem Häufchen zu schütten, das sich am Rande der Grube als Ergebnis unserer gemeinsamen Tätigkeit ständig vergrößerte. Das letztemal war Sepp aufgestanden; aber ohne sein Sieb zu leeren, tauchte er blitzschnell wieder unter, und seine Lippen wurden bleich. Als ich neugierig nachsehen wollte, zerrte er mich mit verzweifelter Kraft am Ärmel, den er gerade noch erwischt hatte, um mich am Aufstehen zu hindern. Es war umsonst. Das Erdreich verriet uns die Schritte sich nähernder Menschen, noch ehe wir ihre Stimmen vernehmen konnten. Diese waren laut und heftig widerstreitend. Dann starrten zwei Männer in die Grube, indessen Sepp, bis in die Stirn erbleicht, am Sieb rüttelte Es waren – Sepps Vater und der Ortspolizist. Ich war ganz Verwunderung, Sepp – Angst, Sepps Vater – schier Verzweiflung. Der Polizist jedoch, mit Tschako und blanken Knöpfen, war zornig und doch auch wieder unsi-
cher, so schien es mir. Die beiden Männer sprachen einander mit du an. Sie kannten sich wohl. Ich kannte ihn ja auch, den Ortspolizisten, er wohnte mitten in unserem Dorf. Zu uns Jungen war er immer sehr streng, mit den Alten aber saß er des öfteren im Wirtshaus. Deshalb mochte wohl auch Sepps Vater versucht haben, ihn zu überreden. „Was kann schon daraus werden? Du hast ihn nicht gefunden, und gut ist’s.“ Aber der Polizist war sicherlich nicht darauf eingegangen. „Mein Auftrag ist ganz klar, er muß auf die Wache, basta! Und wenn alle Stricke und Stränge reißen, ich bring ihn hin!“ Es klang, als wolle er sich auf diese barsche Weise für seinen Auftrag entschuldigen. Denn dann sagte er etwas sanfter: „Es hilft doch nichts. Ich muß; es ist meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.“ Es war schon bald Mittag, als der Polizist den Sepp an seine Kette nahm. Er durfte nicht einmal mehr etwas essen. Traurig schaute er zurück auf das Häuflein ausgescharrter Kohle und auf mich. Mir aber war das Kohlemachen verargt. Ich lief den beiden nach, und den kalten Wind an meinen Knien spürte ich nicht mehr. Sepps Vater stand wie angewurzelt. Der Beamte hatte ihm das Mitgehen verboten. So gingen wir weg. Der Mann mit wuchtigen Stiefelschritten und mürrisch, den Daumen hinler das breite Lederkoppel gehakt; rechts neben ihm Sepp; er trottete widerspenstig, indes sein gesenkter Lokkenkopf hoffnungslos baumelte. An seinem linken Handgelenk blinkte das Kettchen und verschwand in der behandschuhten Faust des Mannes. Und ich lief hinterdrein, unvermögend zu ahnen, was noch kommen werde, oder auch nur zu begreifen. So schweigsam sind wohl noch nie drei Menschen auf der schmalen Landstraße dem Nachbardorf zugegangen. So grundverschieden sind wohl noch nie die Gedanken dreier
Menschen gewesen, die ein intensives Schweigen vereinte. So ungewiß waren mir noch nie die nächsten Minuten, so fördernd noch nie die Schritte der Menschen vorgekommen. Schon tauchten in einiger Entfernung die Gärten des erstrebten Zieles auf, aber links von uns zogen sich noch immer die Bergwerkshalden hin. Da nahm der Sepp die Rechte aus der Tasche, da führte er sie zum Gesicht, als wolle er sich mit dem Daumen der geballten Faust die Nase wischen, da fuhr aber der Daumen über einen kurzen, rechtwinkelig gebogenen Nagel und legte ihn um. Da gab es einen lockeren Knall, den der Wind verwehte. Eine behandschuhte Hand hatte die Kette fahrenlassen, eine andere hatte nach dem Arm gegriffen, dem warmes Blut entquoll. Ein Hoheitsadler hatte in jäher Wendung seines Helmes aufgeblitzt, und über die Äcker im Vordergrund war ein Bürschchen in gehetzten Sprüngen auf die Halden zugejagt. So weit war es gediehen, als ich mich von meinem ersten Schrecken erholt hatte. Ohne Besinnung rannte ich hinterdrein. Sekunden ewig langen Laufens vergingen. Dann mußte sich der Uniformierte, der hinter mir auf der Straße geblieben war, gesammelt haben, denn auf einmal brüllte er los: „Aus dem Weg, du Lümmel! Ich schieße! Zum Teufel, das Schußfeld frei!“ Ich aber rannte aus Leibeskräften hinter dem Freund her. Dieser erreichte die Halden und erklomm ihren Hang ohne weiteres Zögern. Nun erst knallte hinter mir, schon ziemlich weit ab, die Pistole des Polizisten. Es ist aber nicht einfach, auf größere Entfernung zu treffen, wenn die Rechte unbrauchbar ist und die Augen feucht sind vor Wut und Schmerzen. So pfiffen die Kugeln alle vorbei, und der Sepp rannte unversehrt weiter, und ich ihm nach. Dabei wunderte
ich mich, wo der Freund auf einmal die Schnelligkeit herhatte, während ich ihm doch sonst im Wettlauf überlegen war. Ich holte nur langsam auf und rief außer Atem: „So warte doch, Sepp, warte-e-e!“ Aber der wollte nicht hören; immer weiter lief er. Hinter den Halden stiegen die Wiesen zum Wald empor. Der Wald war so groß, daß mir ganz klar war, was Sepp dort wollte. Es gab darin so viele Verstecke, und er kannte sie so gut, daß es gar keine Kunst war, Sepps Absicht zu erraten. Aber was wollte ich? Ich lief ihm nach, wie. ein Hündchen, das Angst hat, seinen Herrn zu verlieren. Bis dieser Herr plötzlich stehenblieb und zornig und stoßweise vor Atemnot rief: „Kehr um, kehr um! Wirst du wohl umkehren!“ Und da ich noch immer zögerte, hob er die Hand. Es sah aus, als schaue er durch die hohle Faust nach dem Hündchen. Nein, er konnte unmöglich wieder geladen haben; er drohte nur, zum Zeichen, daß es ihm wirklich ernst war. Es war auch nicht allein diese drohende Geste des Zielens auf mich, die mich plötzlich so elend machte, wirklich zum Hündchen, das von seinem Herrn zurückgejagt wird, weil der es durchaus nicht mitnehmen kann. Es war vielmehr die Stimme meines Freundes, die auf einmal so fremd geklungen hatte, als käme sie aus einer ganz anderen Welt Als käme sie aus einer Welt, die mit unserer gemeinsam verlebten Kindheit nichts mehr zu tun hatte, in der es grausam sein mußte, so grausam, daß es dort nicht gut war, sich mit einem so unbefangenen Hündchen wie mich zu belasten. „Kehr um! Kehr um!“ hallten mir seine Worte noch in den Ohren, als er schon längst im Walde untergetaucht war. Gekränkt, traurig, mit einem kargen Gefühl im Halse, daß mich
mein Freund auf einmal nicht mehr haben wollte, wandle ich mich dem Dorfe zu. Selbst der Wind trieb mich weg vom Walde, und in meiner Erbärmlichkeit fühlte ich wieder seine steife Kühle. Mein Rückweg führte mich an Sepps Elternhaus vorbei, und es blieb mir nichts anderes übrig, als hineinzugehen zu dem Vater. Wie gern ich mich anfangs vorbeigedrückt hätte, es war mir doch unmöglich. Der verzweifelte Mann hatte mir schon aufgelauert und wäre bereit gewesen, eine, zwei, drei weitere Stunden auf mich zu warten. Er langte mich mit seinen langen, von eingebranntem Ruß dunklen Schmiedearmen zu sich herein und schloß die Tür. Sein Gesicht näherte er mir so dicht, daß ich jede Runzel darin sehen konnte. Seine Augen waren grau wie das kurze eisengraue Haar. Er schien müde. „Wo ist mein Junge?“ fragte er sofort. „Wo ist er? Warum ist er nicht mitgekommen? So rede doch? Wo haben sie den Sepp gelassen?“ Er überschüttete mich mit Fragen und ließ mir kaum Zeit zur Antwort. „Nirgends haben sie ihn gelassen“, sagte ich und konnte nicht verhindern, daß da ein wenig Stolz auf meinen Freund mitklang. „Er ist nämlich ausgerissen.“ Der Vater hatte sich hingesetzt, und mit vor Verwunderung, Unglauben, Hoffnung und Entsetzen fast tonloser Stimme wiederholte er: „Ausgerissen – ausgerissen wiesoo?“ Er schrie mir das letzte Wort direkt ins Gesicht. Ja, wieso ist er ausgerissen, dachte nun erst auch ich. Sie hatten ihn doch heimgeschickt, das Lehrlingsheim war doch aufgelöst worden, so hatte er jedenfalls erzählt und ohne mir über diese Frage klarzuwerden, begann ich stockend zu berichten. Erst wollte er mir nicht glauben, das mit der Waffe
erst recht nicht, sein Sohn habe doch nie so etwas besessen! Dann aber hob er zu lamentieren an, wie ich es von diesem Mann nicht erwartet hätte. „Ich wußte doch gleich, daß da etwas nicht stimmt, hatte keinen Entlassungsschein, nichts; nachschicken werden sie ihm alles, hatte er mir erzählt. Dabei ist er einfach ausgerückt. Solche Bubenstreiche! Mein Gott, mein Gott. Ich möchte wissen, wo er das gelernt hat – von mir nicht! Alle meine Buben sind tüchtige Männer geworden. Mein Ältester ist in Rußland geblieben. Heini ist vermißt. Nie hatte ich mit den beiden solche Sorgen; dabei ist jeder von ihnen fast doppelt so groß wie der Sepp, das Nesthäkchen. Wenn das seine Mutter erlebt hätte! – So eine Schande. Ich muß ihn wiederhaben. Ich muß ihn selbst zur Wache bringen. Strafe muß sein, er hat ja einen Menschen verletzt, und noch dazu einen Beamten. Ich muß ihn unbedingt wieder hinbringen! Ich bin in der Partei; ich kann das nicht auf mir sitzen lassen, und vielleicht halten sie das dem Sepp zugute. Der Sepp ist ein guter Junge. Der tut mir das nicht an. Der kommt ganz freiwillig mit, und im Wald hält der’s doch gar nicht aus. – Wenn er aber nicht zurückkommt…“ Er hat mir nicht mehr gesagt, was sein werde, wenn… Wie er mich hereingeholt hatte, so schob er mich wieder hinaus. „Geh, sag dem Sepp, daß ich auf ihn warte!“ Ich trottete los, nach Hause. – Wieso aber eigentlich: „Sag dem Sepp?“ Baute der Vater stärker auf unsere Freundschaft als auf die Liebe seines Sohnes? Sepps Vater war „Nationalsozialist“. Er arbeitete als Kesselschmied im Reichsbahnausbesserungswerk. Dort reparierte er Lokomotiven, jeweils in vier, fünf Tagen eine. Er mußte ein sehr guter Arbeiter sein, denn er war u. k. gestellt, das heißt, er brauchte nicht an die Front, weil er im Werk unab-
kömmlich war. Je länger sich der grausame Krieg hinzog, je größer der Menschenverschleiß an den Fronten wurde, um so mehr sahen sich die faschistischen Wehrwirtschafter gezwungen, fremde Arbeitskräfte einzusetzen. Nach und nach leerten sich die Werkstätten, Fabriken und Felder im Hinterland von deutschen Männern. Was nur halbwegs gesund war und heile Knochen hatte, mußte in die Kasernen und wurde nach kurzer Ausbildung an die Front geworfen. Die leeren Arbeitsplätze wurden von den Frauen eingenommen oder von Menschen aller europäischen Nationen. Es war wie eine schleichende Völkerverschiebung. Das faschistische Regime baute rücksichtslos alle Reserven des deutschen Volkes ab und verlagerte sie nach den Fronten. Das Großdeutsche Reich war nicht mehr Deutschland, sondern ein Ring von bewaffneten Deutschen. Und dieser Ring spannte sich um einen Raum, der mit Menschen aus aller Herren Ländern angefüllt war, und konnte ihn nur mit Gewalt zusammenhalten. Die Deutschen im Innern dieses Frontenringes unterschieden sich, wenn man von der Sprache absah, von den Ausländern nur durch ihre mannigfaltigen Uniformen. Uniformen: grüngrau, graugrün, blaugrau, braungrau, grau, schwarz, gräulichbläulich, blau, braun und goldgelb das war alles, was vom deutschen Volk übriggeblieben war. Wer da noch in Zivil herumlief, der rangierte nach echt nationalsozialistischer Werteinschätzung nicht mehr viel über den Ausländern. Nur wenige, alte, zuverlässige Meister, ein paar unentbehrliche Facharbeiter und ein paar Scharfmacher und Spitzel, ohne die die Nazis die Ordnung im Innern ihres Reiches nicht mehr aufrechterhalten konnten, blieben in den Betrieben zurück. Hinzu kamen die, die das Heer ausspie: Einbei-
nige, Einarmige, junge Männer mit alten Gesichtern und irgendeinem Schaden, einem Lungenschuß, einer Silberplatte an irgendeiner Stelle der Schädeldecke oder einen künstlichen Unterkiefer zum Beispiel. Auch im Reichsbahnausbesserungswerk, wo Sepps Vater arbeitete, war das so. Und je kleiner und brüchiger der bewaffnete Gürtel um uns herum wurde, desto größer wurde die Zahl der zwangsverpflichteten Tschechen im Werk und desto mehr Deutsche, selbst die Spitzel, wurden einer nach dem anderen eingezogen. Sepps Vater aber blieb auf seinem Posten. Er war Kesselschmied, und Lokomotiven wurden gebraucht. Dabei war er noch rüstig, hatte Fäuste wie Schmiedehämmer, und in der Partei war er bloß, um seine Stellung zu behalten. Anfangs war er sehr stolz auf seine Söhne gewesen, besonders auf den Heini, der bei der Marine stand. Dann aber war sein Ältester gefallen, ein Kerl wie ein Riese und die Gutmütigkeit selbst. Seitdem war der Vater wortkarg, verkroch sich vor der Welt hinter seiner Arbeit und vor den Fliegern, die den Bahnhof immer öfter heimsuchten, unter seinen Lokomotiven. Bald meldete sich auch Heini nicht mehr. Jetzt war ihm noch sein Jüngster abhanden gekommen, und er wußte nicht einmal, ob der Sepp wohl eher zu ihm als zu mir kommen würde. Während ich also nach Hause ging, kreisten mein« Gedanken um Sepps Vater, seine Arbeit und seine Familie. Wir, meine Mutter und ich, wohnten bei einer Frau zur Miete, einer Witwe, die mit Geschirr und anderen Porzellanwaren handelte. Seit mein Vater bei den Soldaten war, bewohnten wir dort eine Stube und eine kleine Kammer im Dachgeschoß. Daselbst hauste meine Mutter die meiste Zeit
allein und ging tageweise zu einem Bauern arbeiten, denn ich blieb die Woche über in der Stadt bei meinem Meister. Ich lernte damals Bäcker, schon um des Brotes willen; da wir aber die halbe Nacht zu arbeiten pflegten, blieb ich auch tagsüber praktischerweise bei ihm. In jenen Tagen aber, nach Sepps Heimkehr aus Holubkov, ging ich gar nicht mehr hin zu meinem Meister, denn er hatte kaum noch Arbeit für mich, und es herrschte zudem ständige Luftgefahr. So hatte ich also viel freie Zeit, die ich fast restlos meinem Freunde widmete. Zu meiner Schande muß ich sagen, daß ich damals in großer Unbekümmertheit und mehr dem Sepp als meiner Mutter lebte. Am Abend nach Sepps Flucht druckste ich lange herum, unentschlossen, ob ich meiner Mutter das eben Erlebte erzählen sollte oder nicht, und war deswegen sehr unruhig. Spät aber, wir wollten schon die Lampe löschen, polterte es von außen gegen die Haustür, daß die Füllung knackte und das Treppenhaus wie eine Gruft widerhallte. „Aufmachen, Gendarmerie! – Aufmachen!“ Im Hausflur wurde gemurmelt. Die Hauswirtin fummelte zittrig mit rasselndem Schlüsselbund und nutzte einen Moment eingetretener Stille aus, vernehmbar zu äußern: „Das hat man davon, wenn man solche Leute im Hause hat.“ Wir waren aber die einzigen Mieter in ihrem Haus, meine Mutter und ich. Kaum hatte der Schlüssel im Schloß geknackt, da wurde auch schon die Tür aufgestoßen. Die Alte jedoch stand wie Raffael, der Erzengel, der Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben haben soll, nur viel düsterer, aber genauso hochaufgerichtet, in ihrem kostbaren Morgenrock, der aus Frankreich stammte. Was focht sie an, daß sie von der gewaltsam auf gestoßenen Tür einen Rempler bekam und zurücktau-
melte? Sie stand aufrecht, und ihr magerer Zeigefinger streckte sich die Treppe herauf gegen uns aus und hatte dieselbe demonstrative Wirkung wie weiland das Flammenschwert des Erzengels, nur noch absoluter. Denn daß die poltrigen Herrschaften mit den aufgepflanzten Bajonetten und den Blechschilden an Ketten um den Hals etwa zu ihr gewollt hätten, war ja ganz unmöglich. Sie, die Hauswirtin, die aus ihrem Fenster stets die längste Fahne der ganzen Gasse heraushängen hatte, sie, die einen Handel mit Porzellangeschirr trieb, vorwiegend mit solchem Geschirr, das mit abgezogenen Führerbildern, Hakenkreuzen und NSWochensprüchen geziert war, sie war über jeden Verdacht erhaben. Aber die dort oben, die bei ihr zur Miete wohnte, die nie „Heil Hitler!“ grüßte – wenn es auch ihr Bengel dafür um so lauter tat –, der konnte man alles zutrauen. Nur bei der konnte die Gendarmerie etwas wollen! Die Männer stürmten die Treppe hinan, dieweil sich unten die Hauswirtin an den Kopf griff, wegen der Beule, die von der Tür herrührte. Aber die Seide des Schlafrocks aus Frankreich raschelte beruhigend. Die Dame wird sich bereit halten, um eventuell Aussagen zu machen. Daß die dort oben schlecht verdunkele, daß sie hamstern gehe, wird sie sagen, und daß sie den Führergruß nicht über die Lippen bringe. Sie wird die Augen offenhalten, falls noch etwas anderes sein werde, von dem sie Meldung machen könnte. Die Neugierde trieb sie halb die Treppe herauf. Dort stand sie dann mit vorgestrecktem Kopf und äugte und lauschte. Die fließende Seide kennte ihre geizige Hagerkeit nicht mildern. Derweilen stülpten sie bei uns die Betten um, den Schrank und die Kommode, stießen meine bleiche, zitternde Mutter
aus einer Ecke in die andere, weil sie überall im Wege stand – in ihrer eigenen Wohnung im Wege!
Dann kam einer zu mir. „Wo ist er hin?“ fragte er und hob mir den Kopf, indem er mir die Faust unters Kinn drückte. „Erzähle alles, Bengel, sonst müssen wir dich mitnehmen. Ist er etwa schon wieder fort? – Wo sollst du die Lebensmittel hinbringen, he?“ Ich konnte den Kopf nicht drehen, konnte dem grauen Blick unterm grauen Eisenhut nicht ausweichen und nicht dem Anblick dieses Mundes, der durch die große Nähe fratzenhaft verzerrt war. Die Faust saß mir ja unterm Kinn und drückte mir den Kopf gegen die Wand, an die ich mich sonst
nie anlehnte, weil sie abfärbte – Schlämmkreide! Und ich konnte auch nicht sprechen, weil mir die Faust die Kinnlade schloß. Dabei dachte ich wie rasend darüber nach, warum er mich so ausfragte, wenn er mir doch den Mund zudrückte. Schließlich kam mir die Natur zu Hilfe und ertränkte meine Augen in Tränen, so daß das kalte Gesicht vor mir verschwamm; und dann begann ich zu heulen. Ich war freilich schon fünfzehn Jahre alt, aber ich heulte doch und erzählte unter Tränen von Sepps Flucht und wie er mich böse zurückgejagt hatte, weil ich ihm nachgelaufen war. Da ließ der Gendarm verächtlich von mir ab und sagte: „Das ist freilich kein solch erbärmlicher Schisser wie du. Der ist durch eine NS-Erziehungsanstalt gegangen, der ist zum Manne geworden dadurch.“ Da heulte ich noch mehr, daß der Sepp ein Mann sein sollte, und erst recht, daß er noch dazu ein Fahnenflüchtiger wäre. Hatte man mir doch eingetrichtert, daß die Fahnenflucht das Feigste sei und das Schlimmste, was ein Mann sich könne zuschulden kommen lassen. Die drei Männer brachten auch die kleine Kammer, die mir gehörte, durcheinander, dann trat der eine noch einmal an mich heran, gab mir eine Ohrfeige und sagte, daß ich schuld daran wäre, daß der Sepp entkommen sei, weil der Polizist nicht auf mich hätte schießen wollen, wie ich ihm das Ziel verdeckte: ich hätte daher vieles gutzumachen, und vor allem müßte ich sofort Meldung geben, falls der „Kerl“ noch einmal bei mir auftauchen sollte. Da heulte ich nicht mehr, denn die Ohrfeige erweckte in mir einen geheimen Trotz, und ich gedachte den Sepp nicht anzugeben, schon wegen des Schlages nicht. Als sie gingen, sprachen sie noch kurze Zeit mit der Hauswirtin, dann krachte die Tür, dann rasselte das Schlüssel-
bund, dann murmelte unten eine Stimme „Bagage“, was aber auf uns gemünzt war. Dann trat endlich Stille ein, nur meine Mutter schluchzte noch ganz leise. In jener Nacht tat ich kein Auge zu. Wird er kommen? Ist unser Haus nicht bewacht? Wird er nicht lieber zu seinem Vater gehen? Wie aber – und das ist bestimmt der Fall –, wenn sie ihm dort auflauern? So dachte ich immerwährend an ihn. Gespannt lauschte ich auf jedes kleinste Geräusch. Wenn er kommen sollte, dann nur über den hinteren Garten, und seine Spuren drücken sich tief in das feuchte Gras ein. Konnte ich da wagen, ihn zu verbergen; hätte es auch nur den geringsten Zweck, zu leugnen, daß er dagewesen sei? Wenn er kommen sollte, käme er über das niedrige, flache Dach des Schuppens, worin die Wirtin ihr NS-Porzellangeschirr aufbewahrte. Ja, wenn er kommen sollte, dann knarrten die Sparren, knirschte die Dachpappe, kratzten Fingernägel am Fensterblech dos Flurfensterchens, das über dem Schuppendach war. Und dann mußte ich aufstehen, ihn hereinlassen oder ihn mit eindringlichem Geflüster fortschicken. Sicherlich schlief die Frau unter uns jetzt ebensowenig wie ich und lauschte mit dem feinen Ohr geiziger alter Leute. Ihn einzulassen oder fortzuschicken, beides war mit Geräuschen verbunden, mit Geräuschen, die für die Alte dort unten Musik waren. Ich konnte aber auch ruhig liegenbleiben, mich gar nicht rühren, wie ratlos er auch an dem verschlossenen Fenster herumfingerte. Gewiß wird ihn die Frau unter uns auch dann noch wahrnehmen und schnell jemand herbeiholen. Ich wußte ja nicht, was die Gendarmen mit ihr gesprochen hatten. Für mich bliebe dann sowohl dem Sepp als auch den Gen-
darmen gegenüber die schöne Ausrede: „Seht nur, wie fest ich geschlafen habe.“ Aber konnte ich wirklich so handeln? Das war doch sehr erbärmlich. Was ich auch tat oder nicht tat, für den Sepp war es ein Verhängnis. Wenn er kam, dann ging er in eine Falle. Er durfte nicht kommen, auch meinetwegen nicht. Himmel, sah er denn das nicht ein? Ich sollte umsonst gebangt haben. Die Nacht verging, ohne daß der Sepp sich meldete. Wo mochte er stecken? Auch die Hauswirtin hatte ihren Schlaf umsonst geopfert. Aber das wird ihr nicht recht gewesen sein. Sie hätte bestimmt lieber nicht umsonst gewacht. Der schöne Krieg war damals bald zu Ende, das Großdeutsche Reich auch. Sie wußte es zwar nicht genau, sie wollte es auch nicht glauben, aber sie ahnte es, und sie hatte noch einen großen Posten Waren auf Lager. Teller und Tassen und Schüsseln und Kannen, mit Hakenkreuzen, SS-Runen, Eisernen Kreuzen, Eichenlaub und Schwertern und mit Bildern ihres geliebten Führers darauf. Sie wird das Zeug kaum noch loswerden, und früher ging es doch so reißend ab! Es war stets eine gute Einnahmequelle gewesen. Ja, sie spürte das Ende und empfand es als Unheil; sollte es ihr denn nicht gelingen, etwas dagegen zu tun? Nicht einmal eine kleine Denunziation? Sie wird weiter auf Horchposten bleiben und wachsamer sein als drei bestallte Wächter. Wehe, Sepp! Wenn ich mir auch diese Motive unserer Hauswirtin auf Grund ihres Verhaltens uns gegenüber und wegen der Art ihres Geschäftes erst nachträglich zusammengereimt habe, so war ich mir doch schon damals rein instinktmäßig darüber im klaren, welche Gefahr dem Sepp von Seiten dieser Frau drohte, die ihn nicht einmal richtig kannte und der er niemals
etwas zuleide getan hatte. Deshalb war ich heilfroh, daß mein Freund nicht gekommen war, und fühlte mich ein wenig leichter. Doch meine geheime Freude dauerte nicht lange. Bald wurde ich geholt und mußte einer Abteilung von Leuten mit Spürhunden die Stelle zeigen, wo mein Freund in den Wald gegangen war. Die Hunde zerrten an den Leinen und hechelten vorwärts. In jagender Hast ging es durch dick und dünn, bis es auf einmal an einem Wasserlauf aus war. Umsonst hielt man den Rüden ein Wäschestück von Sepps bescheidener Habe unter die Spürnase. Umsonst schnüffelten sie den Bach auf und nieder. Die Spur war verloren. Der Anführer des Trupps schäumte vor Wut und bellte fast selbst wie ein Hund. „Wenn sich der Bengel in zwei Tagen nicht eingefunden hat, holen wir Sie ab!“ blaffte er Sepps Vater an. „Aber er ist doch nur ein dummer Junge, ein ganz dummer Lausejunge“, jammerte dieser ein übers andere Mal. Der Beamte dagegen geiferte: „Sie wollen uns wohl lächerlich machen, was?“ Dann begann er zu höhnen. „Ein schönes Früchtchen haben Sie, wahrscheinlich ist der Vater nicht besser als der Sohn!“ Der Hohn ging in Wut über, und er fing an zu brüllen und zu toben. „Er ist ein Deserteur, einer von der schlimmsten Sorte, leistet Widerstand gegen die Staatsgewalt! Und Sie hatten ihn zu Hause versteckt, haben ihn nicht gemeldet, als er von seinem Verband, einem der Wehrmacht unterstellten Schanztrupp, ausgerückt war. Das ist Beihilfe zur Fahnenflucht. Was ist das? Antworten Sie gefälligst!“ Der eisengraue Kesselschmied stand hilflos da, selbst wie ein Kind. Seine Hände zitterten. – Daß er den eigenen Sohn hätte anzeigen sollen! Und dabei hatte er doch von alledem nichts gewußt, hatte gern und einfältig dem Jungen geglaubt,
weil er auch schon fühlte, daß in diesem Falle besser war, zu glauben als zu wissen. Der Junge hatte ihm erzählt, daß das Lehrlingsheim wegen der ständigen Luftangriffe auf Pilsen aufgelöst worden sei; die Lehrlinge seien nach Hause geschickt worden mit dem Befehl, zu Hause auf ihre Einberufung zur Heimatflak oder zum Schanzeinsatz zu warten. „Aber ich wußte doch nicht…“, wollte er stockend einwenden. Doch der Mann vom Fahndungstrupp trat auf ihn zu und knurrte drohend: „Sie sollen auf meine Frage antworten. Waas ist daaas?“ Aber er wartete nicht auf die Antwort, sondern fuhr zynisch fort: „Nun, Parteigenosse, wie lange, haben Sie geglaubt, müßten Sie Ihr Söhnchen noch verstecken?“ Dann brüllte er wieder los. Jedesmal, wenn er so zu brüllen anfing, schrak ich heftig zusammen. „Was halten Sie überhaupt vom Endsieg, he? Sind wohl nicht besonders überzeugt davon, was?“ Der alte Mann war Mitglied der NSDAP geworden, doch was hatte ihm das schon genützt? Zwar brauchte er nicht zum Militär zu gehen, obwohl er gesund war und Fäuste wie Schmiedehämmer hatte. Seine Arbeitsstelle aber, die sein Leben war, der Bahnhof mit seinen Lokomotiven, ging in Trümmer. Und ein Sohn lag in Rußland, und einer war auf irgendeinem Meer vermißt. Aber das war, scheint es, zuwenig. Ein Nationalsozialist mußte noch seinen jüngsten und letzten anzeigen, auch wenn der noch ein halbes Kind war. So wie die Werkstätten mit ihren Maschinen, so ging nun auch sein Leben kaputt, Stück für Stück, wie er sich’s auch mit jahrelangem Fleiß in dieser schwierigen Zeit eingerichtet und durch den Eintritt in diese Partei gefestigt haben mochte. Sein Sohn war stark und erwachsen genug, es ihm einfach durch seine Abwesenheit zu vernichten. Dabei konnte er dem Jungen jetzt nicht einmal grollen.
Ganz tief in seinem Innern hatte er das schale Gefühl, selbst an allem, was ihn nun traf, schuld zu sein, besonders aber daran, daß er von seinem Jungen belogen werden mußte. Denn der Vater wußte genau, daß er ihn nicht versteckt, sondern ihn angezeigt hätte aus Furcht vor seiner eigenen Partei. Daran änderte nichts, daß er sich eingeredet hatte, was er heimlich selbst nicht glaubte: sie täten dem Sepp nichts, weil sein Vater Parteigenosse war. Das war die faule Stelle, an der er zugrunde gehen mußte, so oder so. Es klang innerlich gebrochen, als er zu dem Beamten sagte: „Ich habe tagtäglich meine Pflicht erfüllt. Das Werk wird es mir bestätigen.“ Der Beamte aber knurrte zwischen geschlossenen Zähnen hervor: „Sympathisiert haben Sie mit den Russen, ja. Den Gefangenen haben Sie Tabak zugesteckt, ja. So sieht Ihre Pflichterfüllung aus. Das wissen. wir alles sehr genau. Mann, denken Sie ja nicht, daß wir dumm sind. Es bleibt dabei: Wenn wir den Jungen in drei Tagen nicht haben, sind Sie dran. Glauben Sie aber nicht, daß Sie uns auch entwischen können.“ Er hat immerhin einen Tag zugelegt, dachte ich und wußte nicht, warum mir das die Hoffnung gab, daß es in drei Tagen anders sein werde. Dieses Gefühl schwand auch sehr bald wieder. Zu mir waren die Gendarmen nicht mehr so böse wie am Vorabend. Selbst der mich geohrfeigt hatte, verzog sein Gesicht zu einer freundlichen Grimasse. Als wir zurückgingen, sagte er: „Heute nachmittag machen wir eine Razzia. Daran wird die gesamte Hitlerjugend teilnehmen, auch du. Du wirst die Richtung angeben, in der gesucht werden soll. Du kennst doch alle eure Schlupfwinkel. Wir müssen ihn kriegen. Jun-
ge, er bringt doch auch dich in Gefahr. Wenn er nun einmal nachts bei dir auftaucht, und du sollst ihm helfen… wir haben unsere Augen überall. Wenn du ihn dann nicht sofort meldest, bist du selber dran. Das willst du doch nicht; du bist doch kein Volksverräter, nicht? Gerade jetzt, wo der Endsieg dicht bevorsteht.“ Er schob mich sachte an der Schulter weiter. Ich war kein Volksverräter, nein, das war ich nicht. Ich würde auch niemals ein Deserteur werden, das war das einzige, was mir an Sepps Tat ungeheuerlich vorkam. Ich wollte aber auch meinen Freund nicht verraten. Wenn ich nur gewußt hätte, wo er überhaupt steckte. Der Wald war groß und hatte viele Schlupfwinkel. Und ich sollte die Richtung weisen und befand mich daher in einer verzwickten Lage. Bei meiner Kenntnis des Waldes wäre es mir ein leichtes gewesen, den Suchtrupp in eine falsche Richtung zu lenken. Wie aber sollte ich jetzt wissen, welche Richtung die falsche war? Wenn es das Unglück wollte, so passierte es mir, daß sie den Sepp noch heute nachmittag einfingen, bloß weil ich nicht wußte, wo er sich aufhielt. Es wurde mir ungemütlich unter der schweren Hand. Es war dieselbe, die mich geschlagen hatte. Sie lag wie Blei auf meiner Schulter und schob mich sachte. „Was wird sein, wenn sie ihn fangen?“ fragte ich ängstlich. „Dann bringen wir ihn wieder zu seinen Kameraden, die jetzt im Schanzeinsalz stehen und ihre Pflicht erfüllen. Nichts weiter“, erklärte mir der Gendarm nicht unfreundlich, und wie beiläufig fügte er hinzu: „Strafe wird er wohl nicht bekommen, weil sie froh sein werden, daß er überhaupt wieder da ist. Die brauchen jetzt jede Kraft. Durch besonderen Eifer wird er alles wiedergutmachen können.“ „Alles?“
„Alles. Durch besonderen Eifer.“ Und bevor ich den spöttischen Ton seiner letzten Worte erfassen konnte, lachte er ein wenig und gab mir einen Schubs. „Ha, so schlimm sind wir ja gar nicht. Oder sollen wir etwa zulassen, daß uns das Bürschchen im Walde verhungert? Es ist doch alles nur zu seinem Besten. Du solltest dich schämen, uns überhaupt so auf die Beine zu bringen. Wir sind schließlich auch froh, wenn wir unsere Ruhe haben. Haben Wichtigeres zu tun.“ So geschoben und beredet kam ich mit den Leuten vom Suchtrupp, die ihre Hunde kurz an der Leine hielten, aus dem Walde heraus. Ich fragte ein wenig bang, ob ich wohl nach Hause gehen dürfe. „Natürlich darfst du, Kamerad, wir legen dir doch nichts in den Weg. Du kannst ja nichts dafür, daß der Bursche ausgerückt ist, bist doch dem Polizisten nicht absichtlich unters Visier gelaufen, oder? Na siehst du,“ Da rannte ich erleichtert weg. Der Toni, der Rudi, der Kurt, der Werner, der Willi und noch viele andere Jungen in meinem Alter, die gingen alle nicht mehr zur Arbeit, gleich mir. Unser Dorf, das dem Stadtgebiet vorgelagert war, bot uns jungen Leuten keine Arbeitsmöglichkeit. Als man im neunzehnten Jahrhundert begann, die westlich von Karlsbad gelegenen Braunkohlenvorkommen abzubauen, hatte unser Dorf nur aus einigen Gehöften bestanden; sie lagen an der Eger am Fuße eines Bergriegels vulkanischen Ursprungs, der das mächtige Falkenauer Revier von dem weitaus kleineren Karlsbader Becken teilweise trennte. Infolge des rasch umgehenden Bergbaues war unserem Dorf eine kurze Zeit schnellen Wachstums beschieden gewesen, bis die Kohlenvorräte, deren geringe Mächtigkeit sowieso nur mittelmäßige Unternehmungen zuließ, abgebaut waren.
Mit dem Versiegen der Bodenschätze trat dann die Stagnation ein. Die Bergwerke verfielen, die Gruben und Tagebaue soffen ab oder gingen zu Bruch, die Halden hörten auf zu glimmen und zu rauchen. Die Einwohner mußten sich einen neuen Erwerb in den Vororten von Karlsbad suchen. Dort gab es eine bedeutende Porzellan- und Glasindustrie, die ihrerseits wieder die Grundlage für eine Anzahl weiterer Industrie- und Erwerbszweige bildete. Die Karlsbader Vororte hatten sich dadurch so erweitert, daß sie mit der alten Kurstadt zusammen ein weites Stadtgebiet ausmachten, das wir im Dorf nicht anders als „die Stadt“ bezeichneten. Nach der Stadt strömten allmorgendlich die Porzellianer, die Glashüttner, die Gaswerker, die Eisenbahner und die Hilfsarbeiter. In der Stadt arbeiteten die Reinemachefrauen, die Handwerker, die Bürokräfte. In der Stadt hatte mancher einen Laden oder eine Budike. Und fast alle von uns Jungen lernten in der Stadt; dort lagen ja auch die Lehrwerkstätten, wohnten die Meister. Die Stadt, und davon vornehmlich die Industrieviertel, war aber auch in der letzten Zeit das Ziel häufiger Luftangriffe; und es hatte keinen Sinn mehr, hinzugehen. Die Werkstätten waren zum Teil schon von den Fliegerbomben demoliert. Die Gefahr aus der Luft wurde ständig größer. Wenn man irgend konnte, und das war bei uns Lehrlingen ja größtenteils der Fall, dann überließ man die Städter sich selbst und blieb zu Hause. Die gesamte Stadtgegend befand sich schon im Zeichen ständiger Vorwarnung. Bald, so hieß es, werde man ein neues Sirenenzeichen einführen, den sogenannten Panzeralarm, der gegeben werden sollte, wenn feindliche Panzerspitzen in einem gewissen Umkreis vor der Stadt auftauchten. Aber soweit war es noch nicht. Man wußte ja noch nicht einmal,
welche Panzer am ehesten da wären, die amerikanischen oder die russischen; und von welcher Seite sie kämen, wußte man auch nicht. Die Jungen waren alle zu Hause, hofften oder glaubten, daß es nie soweit kommen werde, und stiegen banger Ahnungen voll auf die umliegenden Berge, um den Himmel und das Erdenrund zu beobachten. In jenen Tagen war der Luftraum klar und durchsichtig wie schon lange nicht mehr, und man konnte die silbern glitzernden Flugzeuge weithin ihre ruhige Bahn ziehen sehen. Gelegentlich suchten auch schon Tiefflieger das Tal heim. Wie in einem riesigen Amphitheater konnte man von den Bergen aus das Schauspiel der kreisenden Maschinen und der fallenden Bomben betrachten und sich ruhig dabei unterhalten. Es gehörte in unserem Dorf beinahe zum guten Ton, daß man Bäcker, Schneider, Maler, Lackierer. Klempner, Kürschner, Installateur, Polsterer, Bürolehrling oder ein Anwärter auf einen anderen bürgerlichen Beruf war, ohne Rücksicht darauf, daß die Eltern der meisten einfache Keram-, Glas- oder Bergarbeiter waren, oder gerade deswegen. Keiner wollte, daß der Junge dereinst mit Hacke und Schaufel arbeiten sollte, und daher verfiel man auf diesen Ausweg, der der einzige Ausweg überhaupt zu sein schien. Die Jungen wurden von den zahlreichen Handwerksinnungen der Stadt untergebracht, und die Meister arbeiteten aus Mangel an Gesellen, die alle an der Front waren, mit zwei, drei und mehr Lehrlingen. Mit der Zeit jedoch wurde den meisten von ihnen klar, daß sie niemals alle dereinst Meister werden konnten. Die Aussicht auf ein lebenslängliches Gesellenleben bei irgendeinem der zahlreichen Meister machte sie niedergeschlagen, unlustig, sie fühlten sich betrogen. Manchem war die Lehre, das eintönige Werkstattleben zu ebener Erde, die ewige Antreiberei des Meisters, der abtötende Zehnstun-
dentag, bereits verhaßt. Jetzt zerfielen diese Werkstätten in Schutt und Asche. Man freute sich nicht offen darüber; auch wußte man nicht, wie es weitergehen sollte. Das lähmte. Alles lag in einem nicht gerade unangenehmen Zustand der Lähmung. Es war kein Bedürfnis nach Arbeit mehr vorhanden. Insgeheim dachte mancher schon wieder mit Grausen an den Neuaufbau. Auch die Organisation des Volkssturms in den umliegenden Ortschaften ging nur schleppend voran. Der einzige, der sich nach Kräften damit abmühte, war der Ortsleiter Kühnl. Indes, ihm waren die Hände halb gebunden, denn man wußte nicht, ob die Stadt zur Festung erklärt würde oder nicht. Sie steckte voll von Lazaretten und Verwundeten. Dem Kühnl tat es leid, daß er darauf Rücksicht nehmen mußte, denn er war ein alter Veteran, Offizier der Kaiserlichen und Königlichen Armee des ersten Weltkrieges. Auch den Jungen war es leid. Immerhin wurden schon allenthalben Panzersperren gebaut. In nicht allzu großer Entfernung knallten Sprengschüsse in genau bemessenen Zeitabständen. Dort wurde eine Brücke unterminiert. Der Knall der Sprengungen, das Surren der Flieger, das rammelnde Geräusch der MG-Salven von Tieffliegern, die irgendwo ein Fuhrwerk erwischt haben mochten, das Hasten fahrender Wehrmachtsabteilungen und das friedliche Kakeln der Hühner auf den Höfen, all das wurde vom Sonnenglast eines wunderschönen Frühlingswetters eingehüllt. Nur ganz im geheimen lag etwas Banges in der Luft, etwas wie gedämpfte Katastrophe. Man konnte nichts dagegen tun, auch nichts dafür. Die Ereignisse nahmen ihren Lauf wie eine Uhr, die abläuft und deren Mechanismus man nicht begreift. Man fühlte sich fast peinlich als Beobachter, als Außenseiter.
Was lag da näher, als sich an einer Hetzjagd zu beteiligen? War das nicht eine Möglichkeit, das quälend Ungewisse1 um die Zukunft zu vergessen, den Unmut abzureagieren, selbst einmal mit eingreifen zu können in dieses Räderwerk, das man nicht verstand? Wenn nur etwas geschah, egal was, Hauptsache, es war nicht allzu gefährlich. Vor der Razzia hielt Ortsleiter Kühnl ein Ansprache. „Unser Gebiet“, sagte er, „ist in Frontnähe gerückt. Wenn es sein muß, werden wir unsere Heimat, unser Egerland, verteidigen bis zum letzten Blutstropfen. Nur Feiglinge und Volksverräter“, sagte er, „können jetzt in der Stunde der Gefahr den Treueid brechen.“ Er war ein geachteter Mann, unser Ortsleiter. Wir Jungen schauten zu ihm auf wie zu dem Idealbild eines ehrlichen bodenständigen Volksdeutschen. Er war der einzige, der im Dorf einen Kaufladen besaß, der dem Dorf treu blieb und nicht „in die Stadt rannte“. Mit seiner grünen Joppe, den kurzen Lederhosen trotz seines vorgeschrittenen Alters und dem Rasierpinsel am Hut stand er vor uns und ermahnte uns immer wieder, unsere heimatliche Abstammung nicht zu vergessen, denn Blut sei kein Wasser. Jetzt sagte er: Mit solchen Fahnenflüchtigen könne man kein Erbarmen haben, deshalb solle sich jeder Mühe geben, daß der Flüchtling, der den Wald unsicher mache, eingefangen und der gerechten Strafe übergeben werde. Er sprach sehr eindringlich mit uns und wie ein Vater. Wenn er aber auf den Sepp kam, wurde er sehr zornig. Die Jungen hörten ihm aufmerksam zu. Zum Schluß warnten die Gendarmen noch einmal: „Er hat eine Schußwaffe, von der er rücksichtslos Gebrauch macht!“ Da redete alles durcheinander, erwartungsvoll, eifrig, erregt. Die versammelten Jungen machten aus Sepps selbstgemachtem Pistölchen im Handumdrehen einen großkalibri-
gen Trommelrevolver. Wird er ihn wirklich gebrauchen? Wird man ihn überhaupt erwischen? Aber gewiß doch! Man hatte zwar nichts gegen ihn, den Sepp; eigentlich ist er stets ein guter Junge gewesen. Man kannte ihn ja, ist mit ihm zusammen zur Schule gegangen, vor zwei, drei Jahren noch. Er ist ein stiller Junge gewesen, fast zu still, und ein guter Schüler. Daß der so werden sollte? Einen Wachtmeister anzuschießen – nein, das hätten sie ihm nie zugetraut. , Da saß er nun irgendwo auf der Lauer, mitten im Wald, wo es am finstersten war vermutlich, und sein ganzes Sinnen und Trachten lief darauf hinaus, ihnen eins aufzubrennen. Überhaupt, wie kam der Kerl darauf, sich aus ihrem Kreis zu entfernen, anders ztl werden als sie? Er war doch sonst so ruhig. – Das war es ja gerade. Hinterhältig ist er gewesen. Unter der damals scheinbar so friedlichen Haut hat der Feind gesessen, hat sich entwickelt und ist jetzt gegen sie losgebrochen. Na, man wird es ihm schon zeigen! Erinnerungen tauchten auf aus gelesenen Räubergeschichten, Abenteuerromanen, Schundheften. Phantasieerhitzte Hirne entzündeten sich, brachten Münder zu wichtigtuerischem Roden und Sprudeln, über deren Lippen zaghaft ein erster durchsichtiger Flaum sproß. Zum Militärdienst allerletzte Aushebung – zu schwach, in den Volkssturm auch noch nicht aufgenommen – der trödelte ja so –, irgendwo mußte man doch eine Heldentat vollbringen, und möglichst noch, ehe der Krieg aus war. Armer Sepp, sie sind alle gleich dir in der Hitlerjugend großgezogen, das Jagdfieber hat sie gepackt! Ich redete mit ihnen, sah ihnen ängstlich forschend In die Gesichter, hörte auf ihre Worte und wurde immer banger. Da lag auf den Gesichtern nur Aufregung und besinnungslose
Sucht nach Hatz und Verfolgung. Da kam von ihren Lippen kein gutes Wort für dich, nur Prahlerei und Unsinn. Und ich dachte: Keiner wird an dir vorbeisehen. Wie die Meute der Spürhunde am Vormittag, so waren die Jungen jetzt kaum zu halten. Sie drängten durch die Schluchten auf schmalen Waldpfaden – ein halbes Hundert aufgebrachter Häscher. Von den Gendarmen führten uns nur zwei. Der eine ging an der Spitze des Zuges, der andere hielt sich stets In meiner Nähe auf, ich sollte doch die Richtung angeben! Aber es war, als hätte man dies vergessen. Wie untergegangen in dem Trubel war ich, und froh darüber trubelte ich mit. Trotzdem lag in unserem Vorgehen Methode. Auf kürzestem Weg durchquerten wir den Wald. Wohl sah ich die Gendarmen, die am Waldrand standen, und die, die sich an den Schneisen schußbereit machten. Auch die Posten an den Wegkreuzungen sah ich. Wir aber gingen immer weiter, durchquerten im Eilmarsch den Wald wohl an die zwei Stunden lang. An einem Fluß angekommen, nahmen wir Aufstellung und setzten uns dann, von den zwei Gendarmen geführt, in langer Kette in Bewegung. Das Kesseltreiben begann? In kilometerbreiter Front durchkämmten wir den Wald, das „Wild“ den postierten Schützen in die Arme zu treiben. Mich aber schien man vergessen zu haben. Ja, Sepp, es geht Auge um Auge. Du hast zuerst geschossen! Mir blieb nur ein Trost – daß sie ihn lebend kriegen wollten. Es sollte ihm ja nichts geschehen; er sollte ja nur zurückgebracht werden zu seinen Kameraden. Wenn sie ihn nur auch lebend fingen! – O Sepp! Schon keuchte es in langer Schwarmlinie bergauf, ver-
schnaufte auf der Kammhöhe nur sekundenlang und rollte wieder hinab in vielgliedriger Welle. Es knackten im Gebüsch die Äste, es raschelte im wintermoderigen Laub. Es äugte durchs Gehölz und sicherte. Hier tauchte einer auf, dort einer unter, dort stand einer still, nahm Witterung wie ein Tier. Mit ängstlichen Blicken durchmusterte ich vor mir die Bergwand, die aufragte mit Gebüsch bedeckt, wie sich schämend ihrer nackten Felsen. Wenn ich mich halb umwandte, sah ich den Gendarmen. Er war stets in meiner Nähe. Scheinbar nahm er nicht am Suchen teil, sah nur prüfend nach links und rechts, daß sich die Flügel nicht verlören. Mit seinen großen Schaftstiefeln zertrat er achtlos die Buschwindröschen. Die Wand war kein Hindernis. Sie war arg zerklüftet und bot hundertfach Versteck, doch waren ja auch hundert Augen scharf. Sollte er etwa hier…? Da kam mir etwas ins Gedächtnis, und ich stürzte vor. Im steilen Felsgewände lag verschwiegen eine Höhle. Nur wenige gab es, die um sie wußten, unter ihnen Sepp und ich. Die Höhle war nicht leicht zu finden. Durch Schrunde und Klüfte kletternd, mußte sich selbst der Eingeweihte des öfteren prüfend umsehen, sich an diesem oder jenem Merkmal vergewissern, ob er den richtigen Weg einhielt, und selbst wer vor dem Eingang stand und nicht Bescheid wußte, der ging ahnungslos daran vorbei; höchstens daß sich im Winter, wenn die Sträucher laublos waren, die schwarze Öffnung der Höhle deutlich vom Schnee abhob. Damals aber war Frühling, und es grünte und sprießte allenthalben, Ich weiß nicht, was ich eigentlich wollte. Mir schien es möglich, daß er sich gerade dort in der Höhle aufhielt. Ob ich ihm einen Wink geben wollte, die Höhle rechtzeitig zu verlassen und zu fliehen, obwohl ich überall die Posten wuß-
te? Ob ich ihn überreden wollte hervorzukommen, sich gefangen zu geben, weil sie ihm ja doch nichts täten, ihn nur zurückbringen wollten zu seinen Kameraden, oder ob ich bloß zu ihm hineinkriechen und mich an seiner Seite hinkauern wollte in banger Erwartung, bis das Kesseltreiben vorüber wäre oder bis sie uns beide unter Johlen und gelegentlichen Stößen herausgeholt hätten? Ich weiß nicht. Ich stürzte vor, dieweil die anderen zögerten. Aber noch im Untertauchen in die felsige Wildnis bekam ich einen eisigen Schreck. Der Gendarm! Er hatte mich stets im Auge behalten. Jetzt war alles aus. Jetzt hatte ich mich verraten, nein, nicht mich, meinen Freund! Schon war der Mann mir auf den Fersen. Er bog um eine Klippe und folgte mir kletternd. Ich bewegte mich langsamer, lahm vor Verzweiflung. Was sollte ich jetzt tun? Mit einemmal war mir klar, daß ich ihnen in eine Falle gegangen war. Ich war ja noch ein Kind, ein ahnungsloses, das sie stracks zum Ziele führte, wenn man es nur nicht allzu hart anfaßte, damit es nicht verstockt war. Sobald ich aber einsah, daß sie mein Zutrauen mißbrauchten, traute ich auch meinerseits nicht mehr, daß sie dem Sepp wirklich nichts tun wollten; aber es war zu spät. Der Gendarm hatte mich erreicht. Der Sepp saß ahnungslos in seiner Höhle, und ich war angsterfüllt. Was würde mir jetzt blühen? Der Mann tat mir jedoch nichts, noch nicht. Er fragte nur unsäglich höhnisch: „Na, wolltest ihm wohl aus der Klemme helfen, wie? -Also los jetzt! Wo sitzt der Vogel?“ Da war es mit meiner Kraft zu Ende. Müde und innerlich zerbrochen ging ich voraus. Vor der Höhle machte ich halt. Mochte der Sepp mich zuerst erschießen, mich, den Verräter. Aus der Dunkelheit der
Höhle heraus mußte er mich deutlich sehen können, während ich nur tränenblind in die schwarze Öffnung starrte. Der Gendarm indessen war etwas zurückgeblieben und hatte die Pistole entsichert. „Geh hinein!“ befahl er. „Bring ihn heraus!“
Ich rührte mich nicht. Ich wollte dem Freund nicht das Ziel verwackeln. „Na los, wird’s bald?“ Ich ging nicht von der Stelle, vernahm kaum, was mir befohlen wurde – Sepp sollte gut zielen –, und starrte wie gebannt auf denselben Fleck. Vor dem Höhleneingang wuchsen junge Brennesseln. Sie waren fast kniehoch und standen dicht bei dicht. – Auf die Stirn sollte er zielen, dann fiele ich mit dem Gesicht in die Nesseln, die jetzt wunderbar kühl sein mußten, und alles wäre aus… Es blitzte kein Schuß auf. Die schwarze Öffnung staunte. Die Brennesseln davor drängten sich in üppiger Frische. Indem ich starrte, bildete sich langsam die Erkenntnis. „Was ist?“ fragte der Polizist drohend. Vor den Eingang mochte er noch immer nicht hintreten. Mein starres Wesen aber machte ihn unruhig. „Gibt’s was?“ „Hier ist… noch kein… Mensch gewesen“, brachte ich stockend hervor und zeigte mit einem sonderbaren Schreck gefühl auf die durch nichts gestörten Brennesseln. Und indem der andere zu wüten begann, löste sich mein Schreck in reiner, hoffnungsvoller Freude. Und diese Freude war stärker als der Fußtritt, den ich empfing, und heißer als die Nesseln, in die ich flog. Sie war dreifach stärker, weil ich sie zuerst einmal darüber empfand, daß der Sepp noch frei bliebe, dann über mich, daß ich nun doch nicht zu seinem Verräter geworden war, und drittens, weil ich sie nicht zeigen durfte, wenngleich die Wangen anfingen zu glühen. Hinunterschlucken! Hinunterschlucken die Freude und die Schadenfreude dazu! Um Himmels willen nichts den Mann merken lassen, der die Nesseln zerstampfte, die Pistolenmündung in den Höhlenschlund stieß und mit wutverzerrtem Gesicht sinnlos abdrückte, so daß das Dunkel der Höhle vom
Mündungsfeuer erhellt wurde und ihr Schweigen vom Knall zerbarst. Dann schütterte das Echo die Wand entlang. Da hielt es die anderen nicht mehr auf ihren Plätzen, sie drängten wie die Hammel heran mit bleichen, begierigen Gesichtern, in die ich hätte hineinlachen mögen, so, wie jetzt der Gendarm, rot vor Zorn, hineinbrüllte: „Ihr blöden Kerle, ausschwärmen, ausschwärmen, sage ich euch!“ Und indem er mit vorgestrecktem Kinn wuchtige Schritte auf sie zu tat, schäumte er: „Wollt ihr nicht?“ Und ob sie wollten! Sie spritzten beflissen auseinander, nahmen die Wand im Sturm, und die Kette entlang lief ein Fragen und Antworten: „Was ist los?“ „Er ist vor uns.“ – Tempo, Tempo! „Er ist dem Wachtmeister entwischt.“ – Tempo, Tempo! „Aber er ist angeschossen, ist verwundet!“ Wie ein Rudel Schweißhunde hasteten sie vorwärts: Nur nach! – Nur keine Atempause gönnen. „Aber Vorsicht! Wenn sie schweißen, sind sie doppelt gefährlich!“ Das war Kurt, der den Unsinn verzapfte. Sein Großvater war Jäger, von dem hatte er diese Weisheit aufgeschnappt. Und nun verwechselte er den armen verfolgten Sepp mit einem weidwunden Keiler. Kurt war es auch, der hinterher stur und steif behauptete, er habe den Sepp gesehen. Wie ein Schatten habe dieser hinter einem Baum gestanden und auf Kurt gezielt. Er natürlich sofort in Deckung und den Nachbarn verständigt. Leider konnte er hinterher nicht mehr genau sagen, wer dieser Nachbar gewesen sei. Als Kurt sich dann sachte wieder erhoben habe, sei der Schatten verschwunden gewesen. Nun, wir haben den Sepp an dem Tage nicht mehr einge-
fangen, sosehr wir auch hasteten. Es wurde nachher überhaupt die Vermutung laut, der Gesuchte habe sich gar nicht in dem Kessel befunden, er sei vorher gewarnt worden. Dadurch wurde natürlich die Sache um so interessanter, beinahe wie in einem Abenteuerroman. Mißtrauisch beobachtete einer den anderen, suchte an dem Nachbarn Merkmale, die ihn als Helfershelfer des Deserteurs kennzeichneten. Manch einer der heimlich forschenden Blicke galt mir. Nur Kurt, der blieb bei seiner Behauptung, den Verräter gesehen zu haben, und sein Scheitel sträubte sich wie der Schopf eines Wiedehopfes. Die Einwände der anderen, der Wald sei doch so groß, und über den Fluß hinweg sei man zum Beispiel gar nicht gekommen, die tat er geringschätzig ab. „Nein“, sagte er. „Der hält sich immer möglichst in der Nähe des Dorfes auf. Mich soll es nicht wundern, wenn in nächster Zeit im Walde Leute überfallen werden, so aus dem Hinterhalt abgeknallt und ausgeplündert! Na ja, irgendwie muß er sich doch etwas zu essen beschaffen.“ Es wurde allerhand geredet über diesen Fall. Einer meinte sogar mit einem gewissen Stolz auf. unser Dorf und seine Umgebung, daß wir jetzt in unserer Gegend unseren eigenen „Stülpner-Karl“ hätten. Das war aber dem Kurt wieder zuviel der Ehre, die man dem Deserteur antat, ihn mit dem weiland berühmten Erzgebirgshelden Stülpner zu vergleichen, von dem wir alle ehrfurchtsvoll aus Büchern gelesen hatten. „Ich werde mich in nächster Zeit einmal ein bißchen im Walde umtun“, sagte er. „Gelegentlich kommt einem so ein ,Stülpner-Sepperl’ unter die Finger. Wenn es hart auf hart geht, nehme ich meinen Sieben-Millimeter-Flaubert mit.“ Oh, er kannte die Schliche der alten Wilddiebe, der Kurt.
Sein Großvater war Jäger! In den Wald ist er aber trotz seines Versprechens nicht wieder gegangen. Mir hingegen ließ es keine Ruhe. Wo war Sepp? Trieb er sich wirklich mit räuberischen Absichten im Walde umher? War er wirklich so gefährlich, daß das Gerücht, welches bald im Dorfe umging, es seien Partisanen im Wald, berechtigt war? Ich glaubte es nicht. So etwas konnte doch nur einer überspitzten oder bösartigen Phantasie entspringen. Ich kannte meinen Freund zu gut. Der tat niemand etwas zuleide. Aber hatte er nicht doch schon einen Menschen verletzt, einen Polizisten noch dazu? – Wenig nur wußte ich von der Angst, die einen zu Verzweiflungstaten treiben kann, doch dieses wenige erwies sich als genug, in mir halb unbewußt die Feststellung heranreifen zu lassen: Nein, der Sepp ist nicht schlecht, und wenn sie ihn zehnmal verurteilen. So setzte ich mich über die Reden des Kurt und der anderen hinweg und hörte sie mir schließlich mit einer gewissen Verachtung an. Es war natürlich Unsinn, zu glauben, was der Kurt sagte. Viel eher war schon denkbar, daß mein Freund über den Fluß hinweg abgewandert war. Aber auch daran zweifelte ich. Ein sonderbares inneres Annehmen ließ mich seinen Verbleib insgeheim ahnen. Tief in Gedanken kam ich an dem Haus vorüber, in dem Sepps Vater wohnte. Da ich die Stubentür verschlossen fand, ging ich durch den Flur hindurch auf den Hof. Dort stand der große Mann an einem Hauklotz und starrte, das Kinn und die Fäuste auf den Stiel der Axt gestützt, sinnend vor sich hin. Ein paar Kloben Holz, das er gespalten hatte, lagen um ihn herum wie sinnlose Trümmer – als sei ihm von seiner Welt außer diesen Trümmern nichts geblieben als seine Axt, die steif den schweren Körper stützte. Schlag ihm die Axt weg, und er fällt, dachte ich, indem ich
grußlos zu ihm hinging. Ich setzte mich auf einen Klotz, doch er schaute über midi hinweg ins Weite. Er schien mich nicht zu kennen, nicht zu sehen. Lange schwiegen wir. Schließlich sagte er: „Haben sie ihn?“ Ich schüttelte den Kopf. „Wo mag er nur stecken?“ fuhr er fort Ich sah zu ihm hinauf, wollte die Schultern heben in traurig vielsagender Geste, doch wozu? Gedankenversunken wie ein Köhler vor seinem Meiler, so stand der alternde Mann, und der Meiler schwelte und rauchte und verglomm langsam. Er hätte diese Geste sowieso nicht bemerkt. Er hatte ja auch mein Kopfschütteln übersehen und wußte doch, daß sie Sepp noch nicht hatten. Woran dachte er wohl? Wünschte er immer noch seinen Sohn zurück, auf daß er ihn selbst zur Wache bringen könne, glaubte er immer noch, dies sei die beste Lösung für sie beide? Hoffte er, sie möchten ihn niemals finden, oder hoffte er das Gegenteil? Ich erschrak. Wüßte man nur, was sie mit dem Sepp vorhatten. Nach meinem letzten Erlebnis im Wald schwante mir nichts Gutes. Schien es mir anfangs denkbar, daß er mit einer Zwangsrückführung noch Holubkov davonkommen konnte, so war ich jetzt nicht mehr so zuversichtlich. Und der letzte Rest guter Hoffnung schwand immer mehr dahin. Mir schien, als arbeite die Zeit nicht für den Sepp. Wußte der Vater das? Die Zeit arbeitete auch nicht für ihn. Heute war der erste Tag seiner Frist. War sein Sohn übermorgen nicht da, so stand es schlecht um ihn. Hoffte er vielleicht deshalb, sie sollten den Sepp schon lieber erwischen? Ängstlich forschend blickte ich in das Gesicht des alten Schmiedes. So durfte er nicht denken. Aber ich konnte seinen Blick nicht einfangen; leidlos, leer starrte er vor sich hin.
Wie ich ihn so ansah, fiel mir seine Geschichte ein. Einmal, als wir uns auf dem Weg zu seinem Heimatort befanden, hatte er sie uns Jungen erzählt. Er war an der Zech geboren, einem kleinen Flüßchen weiter im Hinterland, vier gute Wegstunden von hier. Als junger Bursche war er allwöchentlich zum Tanz und später zu seiner Braut hierhergekommen. Pünktlich war er stets gewesen, hatte weder den weiten Weg noch dessen Beschwernisse, noch das Wetter gescheut. So manches Mal war er bei Nacht nach Hause gewandert, erst über die Hochfläche, die mit Wald bedeckt war, dann über die Steinheide, dann am Schafgraben entlang. Dort sei es in alten Zeiten nie recht geheuer gewesen, wovon er ein Liedlein zu singen wüßte, war er doch oft weit und breit der einzige nächtliche Fußgänger gewesen. Wenn nämlich der Mensch dort oben allein ausschritt, dann verlor sich das Geräusch seiner Tritte im Räume, oder es hallte übertrieben laut auf dem felsigen Grund. Und wenn gar der Vollmond schien, dann wurden die Steine, die weit im Umkreis bleichten, zu Schafen, und am Schafgraben hütete sich der einsame Wanderer wohl, einen ängstlichen Blick nach hinten zu werfen; denn dann hätte er eine riesige Schafherde gewahrt, die ihm lautlos nachdrängte. Wenn aber der Vollmond nicht schien und auch sonst kein Sternchen zu sehen war, dafür aber die Wolken windgepeitscht am Himmel dahinjagten, so daß man den Hut in die Stirn zog und den Kragen hochschlug und wieder nicht links und nicht rechts schaute, dann war am Schafgraben deutlich ein jämmerliches Geschrei zu hören. Das winselte wie junge Höllenhunde, das knarrte wie der Galgen Luzifers, das schrie wie hundert gepeinigte Seelen und verlor sich, qualvoll wimmernd, im Murmeln des Schafgrabenbaches, bis es auf einmal wieder von neuem anfing. Da hätte
dem armen Kerl angst und bange werden können. Er aber, er hatte sich niemals gefürchtet, nein, er trug ja das Bild seiner Braut im Herzen, von der er kam und zu der er nächsten Sonntag wieder gehen wird, pünktlich um drei Uhr am Nachmittag. – Jetzt lag seine Braut längst unter der Erde, nachdem sie seine Frau gewesen war, nachdem sie ihm in jahrelanger, guter Ehe drei kräftige Söhne geboren hatte. Ja, einer davon lag jetzt selber tot in Rußland, der andere schrieb nicht mehr, der dritte aber und kleinste, der saß verschollen irgendwo im Walde und traute sich nicht heim. Und derweil verrann die Zeit, und der Tag rückte näher, da sie statt des Sohnes den Vater holten. Denn das Reich, das Reich der vielen Fronten und Uniformen, dieses gewalttätige, unmenschliche Reich lag in seinen letzten Zügen. Und wie der Tiger, wenn er im Todeskampf liegt, mit den Pranken um und um schlägt, das Gras zerfetzend und die Blume, die ihm nie gefährlich war, so rissen die Schergen des Reiches in hektischer Wut alles mit sich, was ihres Unterganges hätte froh werden können, soweit sie es nur erfassen konnten. Allerdings war mir das damals bei weitem nicht klar. Wäre der Sepp nicht mein Freund gewesen und mir das Ganze nicht so nahegangen, weiß Gott, ich wäre nicht anders gewesen als meine Altersgenossen, vielleicht sogar solch Maulheld und Eiferer wie der Kurt. Damals, als ich so auf dem Holzklotz saß und auf den starren alten Mann blickte, dachte ich plötzlich an die Teufelsmühle. Von ihr hatten Sepp und ich durch Sepps Vater erfahren. Natürlich hatte dieser in seiner Jugend weder Tod noch Teufel gelten lassen. Und so hatte er auch der Versuchung nicht widerstanden, den merkwürdigen Geräuschen auf den
Grund zu gehen, die ihm den nächtlichen Heimweg zu verleiden trachteten. So war er einmal am Schafgrabenbach entlang aufwärts gestiegen, bis er auf ein altes verfallenes Gemäuer gestoßen war, die Teufelsmühle. Von ihr ging die Sage, daß dort in Sturmesnächten arme Seelen zerrieben und zermahlen werden zu lauter Jammer und Wehgeschrei, wie Korn zu Mehl und Grieß. In Wirklichkeit aber spielte der Wind am Mühlenrad, und das ruckte zentimeterweise hin und her und machte auch ab und zu noch eine Vierteldrehung. Dabei knarrten die Speichen, klapperten die losen Schaufeln, quietschte und schrie es in den Lagern, daß es in der Nacht wohl schauerlich anzuhören war. Das alte Mauerwerk stand verlassen und mit Moos überwuchert. Das Dach war abgebrannt und eingestürzt, und das Mühlrad hing ganz lose in seinen Lagern. Da hatte er es vollends vom Sockel gewuchtet, und mit fürchterlichem Krach war es in den Bachgrund gerollt. Seitdem rumorte es nicht mehr im Schafgraben, und die armen Seelen hatten Ruh. Der Name Teufelsmühle aber war für die paar Mauern noch geblieben, man mied den Ort oder hatte ihn vergessen. Mir wollte der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf, daß Sepp gar dort sich aufhielte. Voller Unruhe machte ich mich bald davon, nach Hause. Die Teufelsmühle, ich kannte sie so gut wie er und wußte auch den Weg dorthin. Er führte über die Halden, über die Wiesen, durch den Wald, immer bergauf. Dann ging es wieder ein wenig bergab, dann über die Steinheide, deren wahllos verstreute Granit- und Quarzitbrocken bei Tageslicht höchstens wie magere Ziegen aussahen, die in dem Heidekraut liegend wiederkäuten. Nur das schmelzende Mondlicht konnte diese scharfen Kanten abrunden und sie in mollige
Lämmer verwandeln, wie auch allein der Zauber des Vollmondes imstande war, sie auf die Beine zu bringen und dazu, dem befangenen Wanderer in Scharen zu folgen.
Unmittelbar hinter der Steinheide senkte sich das Gelände zum Schafgraben. Dort wurde das Gras wieder saftiger und wucherte üppig. Im Sommer wuchsen dort übermannshohe blaue Lupinen und bildeten ein unübersehbares Dickicht. Ein Mensch, der dort hineingeriet, kam fast um vor Blütenduft und verlor sich unweigerlich für einige Zeit in dieser Wildnis. Am Graben selbst, zu dessen Wasser kaum ein Blick durchdringen konnte, weil es in einem tiefen Einschnitt dahinfloß, standen Haselnuß, Weißdorn und Schlehenbüsche zu steifem Gestrüpp ineinander verschlungen. – Es war schon eine verlorene Ecke, dieser Schafgraben, und die Teufelsmühle lag in seinen tiefsten Gründen verborgen. Ich aber kannte, wie gesagt, den Weg dorthin. Ich war nur verlegen, ungesehen in den Wald zu kommen, denn soviel ich wußte, lebte es im Walde, grau und stahlbehelmt, und
lauerte. Und gerade auf mich hatten die Greifer ein wachsames Auge. Um jene Zeit hieß es: Wenn die Stadt zur Festung erklärt wird, werden sämtliche Dörfer im Umkreis von den Fliegern dem Erdboden gleichgemacht. Daraufhin wurden die Einwohner der Ortschaften von einer wahren Massenangst vor den Bomben ergriffen, und sie strömten scharenweise in den Wald. Auf Handwägelchen, in Koffern und in Puckelkörben schleppten sie ihre beste Habe mit sich, um sie vor der Vernichtung zu retten, und manch einer war darunter, der um seine Sachen mehr Angst ausstand als um sein Leben. Weiß der Himmel, da konnte man selbst die Frau unseres Ortsleiters sehen, wie sie in ihrer Eigenschaft als NSFrauenschaftsführerin und als resolute Person Ordnung in das Durcheinander der Flüchtlinge zu bringen suchte und dabei selbst einiges in den Wald schaffte. Wenn aber schon so eine dabei war, dann mußte es doch stimmen, das mit dem Gerücht. Gerücht oder Wahrheit, mir kam beides zustatten, und ich hoffte, dem Sepp auch. Ich schloß mich einem dieser Grüppchen ängstlicher Leute an und trug selbst ein Bündelchen auf dem Rücken,: Es war nicht eben groß. Eine wollene Decke hatte ich darin, eine lange Hose von mir für den Sepp, weil es ja in der Nacht immer noch kühl war, und dazu ein paar dünnbeschmierte Brote. Ich fiel gar nicht auf. Ich ging nicht mit bis zum großen Stollen, wo sie alle ihr Unterkommen suchten, sondern schlug mich vielmehr seitlich in die Büsche, sobald mir die Gelegenheit günstig schien. Rastlos stieg ich dann bergauf. Schon wurde der Fichtenbestand schütter. Dann öffnete sich der Ausblick auf die baumlose Steinheide. Über sie mußte ich hinweg. Wenn nun zufällig irgendwo einer hockte und die Heide
beobachtete? Der Kurt zum Beispiel oder gar ein Gendarm? In der weiten Öde mußte ein einzelner Mensch unbedingt auffallen. Auffallen wollte ich aber nicht; ich ging zu Sepp, den sie mit Spürhunden suchten. So entschloß ich mich, einen großen Umweg zu machen. Ich ging über einen verlassenen Granitbruch. Jetzt, am Nachmittag, war es für diese Jahreszeit ungewöhnlich warm. Im Bruch lastete die Hitze, und das sonst hellgraue Gestein war weiß vor Sonne. Den Weg, der unten am Bruch vorbeiführte, mied ich und kletterte obenherum, wo junge Birken mich vor unerwünschten Blicken schützten. Später bog ich scharf in eine andere Richtung ein und unternahm eine beschwerliche Wanderung hinauf zum Schafgraben. Je weiter ich vordrang, desto dichter wurde das Gebüsch. Noch war das Blattwerk hellgrün und zart. Dem Weißdorn sprossen allenthalben Knospen, und bald wird er seine Blüten öffnen und einem weißen, bienenumsummten Ballen gleichen. Der Bach murmelte verborgen in seiner Schlucht, und die Erlenkätzchen stäubten gelben Blütenstaub. Für einige Zeit vergaß ich alles und versank in das Quellende Leben rings um mich her. So groß war die Macht des Friedens, der sich hierher zurückgezogen hatte, daß selbst das Brummen irgendwelcher Amibomber aus dem blauen Luftraum mit dem Summen der Bienen harmonierte. Hier gab es keine Dissonanz, seit das alte Mühlrad schwieg, keinen Mißklang mehr. In der Natur war alles aufeinander abgestimmt. Jetzt blühte noch die Haselnuß und die Erle. Dann wird der Weißdorn blühen und zum Schluß die blaue Lupine, damit ja des Guten nicht zuviel auf einmal wäre und die Düfte sich nicht zu betäubenden Schwaden mischten. Jetzt mußte selbst die Teu-
felsmühle ein Märchenschloß sein und konnte nichts Unheimliches mehr an sich haben, Ich kam ihr immer näher. Schon sah ich durch die letzten Büsche ihre grasiggrünen Wände schimmern. Das Herz pochte mir vor Erwartung. Um die Südseite rankte sich verwilderter Efeu. Hopfen und Brombeere machten sich den Besitz des Sockels streitig, auf dem einst das Mühlrad lagerte. In die verwitterten Fugen der Mauerung aber hatten Moose und Klettenstauden ihre Wurzeln gebohrt, als suchten diese treuen Begleiter menschlicher Wohnstätten darin die letzten Spuren der einstigen Insassen. Nichts deutete darauf hin, daß in der Nähe ein Mensch atmete. Zweifel und Hoffnung rangen in mir, als ich vorsichtig in das Innere des Mauervierecks eintrat. Es war überwältigend leer in der Mühle. Nesselüberwucherte Schutthaufen, ein verhärteter algenmarmorierter Balken, in einer Ecke ein verbogenes rostrotes Gestänge vom Mahlwerk, weiter nichts – kein Mensch. O Enttäuschung, auch hier nicht?? In der Wand gegenüber entdeckte ich einen -Durchlaß. Das mußte einmal eine Tür gewesen sein, der Türbogen war eingestürzt. Dahinter mußte ein zweiter Raum liegen. Ich ging darauf zu, glitt auf dem aufgeweichten feuchten Lehm aus, griff haltsuchend nach dem Balken, der wegrutschte und zu Boden schlug. Da kam aus dem Raum nebenan ein erschrockener Ausruf. Von freudigem Schreck ergriffen, stürzte ich hinein. – Sepp! Er saß im äußersten Winkel, hingekauert wie ein scheues Tier, und starrte mich an. Ich fuhr zurück, nein, das war nicht Sepp, das war ein anderer: so winzig saß er da, so bleich und schmal, und erhob sich nicht bei meinem Eintritt. Seine rotumränderten Augen irrten ab zum Mauerdurchlaß,
schienen angestrengt zu spähen und kehrten dann zu mir zurück, wo sie an meinem Bündel haftenblieben, stumm, fragend. Ich ging auf ihn zu, zögernd, ein paar Schritte nur, nur so weit, daß ich ihm das Bündel hinreichen konnte. Er blickte mir so abweisend entgegen und schwieg so beharrlich, daß ich unsicher und verlegen wurde. Was hatte ich denn getan? Hatte ich etwas falsch gemacht? Ich war doch so vorsichtig gewesen, hatte die Sache mit dem Flüchtlingstrupp so klug eingefädelt, daß ich direkt stolz darauf war. Und mein Freund sagte nichts. Wie oft hatten wir nicht schon in den alten Brüchen miteinander Karauschen geangelt, stundenlang, ohne ein Wort zu sprechen! Damals wäre es überflüssig gewesen, ja störend, zu reden. Hier aber war es so kalt. Der helle Frühlingstag drang nicht durch die dicken Mauern, und er verirrte sich auch nicht durch die beiden Durchlässe hierher. und der Himmel war so hoch, so fortgerückt von mir. Hier brauchte ich Worte, hier durfte nicht geschwiegen werden! „Da“, sagte ich und reichte ihm den Packen hin. „Das habe ich dir mitgebracht.“ Da nannte aus der Ecke, wo Sepp saß, jemand meinen Namen. „Bubi“, klang es. „Wen hast du denn noch mitgebracht? Mir war doch, als wäre draußen noch einer.“ Die Stimme tönte so fremd, daß ich im ersten Moment erschrocken zusammenfuhr und hinstarrte, ob es wirklich mein Freund war, der da gesprochen hatte; und er sprach so überzeugt, daß ich mich furchtsam umblickte. Dann beteuerte ich schnell: „Es ist niemand da. Das war nur der Balken, der herabgerutscht ist.“
Und wieder war es still. Erst nach einer Weile sagte Sepp, als wolle er sich wegen seines Mißtrauens entschuldigen: „Ich muß geschlafen haben.“ Dann machte er sich über die Brote her und ließ mich warten. Es war seltsam, ich, der ich weiter unter Menschen weilte, dürstete nach dem Klang einer menschlichen Stimme, obwohl ich erst kurz in der Einsamkeit war. Und der Einsame, der von den Menschen Verdammte und doch so dringend Gesuchte, schwieg beharrlich. Hätte nicht gerade er jetzt überquellen müssen vor Freude, endlich wieder jemand zu sehen, der zu ihm gekommen war trotz der Gefahr? Hätte er nicht neugierig sein müssen auf alles, was sich jetzt dort zutrug, wo er sich nicht mehr sehen lassen durfte? Im Dorf, im Wald, überall, ja, er durfte sich doch nirgends mehr sehen lassen. Sitzt hier und darf sich vor keinem mehr blicken lassen, dachte ich und begann mich plötzlich zu ärgern, weil er mich nicht lobte, weil er nach nichts fragte. Ich stand noch immer so, wie ich hereingekommen war und guckte zu; und Sepp aß. Ich wartete jetzt auf Dank und wäre dieser auch nur hinter ein paar anerkennenden Fragen versteckt gewesen. Aber nein, nichts. Wußte er nicht mehr, was sich gehörte? Er blickte starr zum Mauerdurchlaß hin, fast wie sein Vater, als er am Hauklotz auf seine Axt gestützt, über mich hinweggesehen hatte. Auf einmal aber fuhr er erschrocken hoch, als wolle er sich zur Flucht wenden und wisse doch nicht, wohin. Es war aber nur ein Sperber, der sich im Mauergeheck einen Vogel griff, so daß die anderen wild aufkreischten. Sepp beruhigte sich wieder. – Nichts. Warum sprach er nicht mit mir? Ich mußte doch Worte hören. So bohrte ich weiter in ihn: „Weißt du schon, daß sie dich gesucht haben?“
Sogleich ärgerte ich mich wieder, weil er es sich doch denken konnte. Er blickte mich forschend an. „Wo?“ Eifrig erzählte ich. Ich dachte, ihm damit ein wenig zu schmeicheln, aber es hatte keine Wirkung. Er fragte nur ängstlich: „Und wo suchen sie jetzt?“ „Sie gehen gar nicht mehr auf Suche aus. Sie haben bloß alle Wege besetzt und passen höllisch auf. Der Wald ist voller Menschen. Im alten Stollen suchen sie Schutz vor den Fliegern. Falls die Stadt zur Festung erklärt werden sollte, wird die Bevölkerung nach dem Stollen evakuiert. Viele bringen schon jetzt ihr Gepäck dorthin.“ Sepp druckste, als wolle er etwas fragen, sagte aber nichts. Er wölbte den Rücken etwas von der feuchten Mauer ab und blickte, den Kopf in den Nacken legend, daran empor, wobei er sich mit dem Hinterkopf an die Wand stützte. Sein braunes Haar fiel ihm in wirren Büscheln ins Gesicht, verdeckte zum Teil auch die Augen, deren Pupillen jetzt eng vor Himmelslicht sein mußten. Wie wenn ihm jemand mit der Faust das Kinn höbe und so den Kopf gegen die Wand drückte, dachte ich. mich des Gendarmen erinnernd, der solches bei der Haussuchung mit mir angestellt hatte. Gegen die Wand; nur – unsere Wand war trocken, wenn auch geweißt mit schlechter Kreide, diese hier war feucht und atmete Modergeruch. Und die Faust war unsichtbar und viel größer als die eines einzigen Gendarmen, war Hunderter Gendarmen Faust, war wohl so groß wie alle böse Gewalt. Jetzt fühlte ich tiefes Mitleid mit Sepp, obwohl er offenbar meine kühne Tat, zu ihm zu kommen, und meine Hilfe nicht anerkennen wollte. Er war so bleich, so verhärmt, er war ja so einsam. Ich hätte ihm gern ein bißchen helfen wollen, ihn
ein bißchen trösten. Und dann hätte ich auch zu gerne gewußt, wie es um ihn stand, was seiner harrte, wenn sie ihn doch noch kriegten, denn ich war darüber voll quälender Zweifel. Mir schien nur eines sicher: dass er es nicht mehr lange aushalten konnte an diesem Ort. Mich erschreckte schon der Gedanke, eine einzige Nacht hier verbringen zu müssen. Und dann, vor den Feldjägern und noch mehr vor den mißtrauischen Augen neugieriger Zivilisten schien mir selbst dieser Ort nicht sicher genug. Eines Tages mußte er doch entdeckt werden; was aber dann? „Sepp“, sagte ich daher, „glaubst du, daß du hier noch lange bleiben kannst? Glaubst du, daß sie dich hier nicht finden? Wäre es nicht besser, du gingest freiwillig hin und stelltest dich der Polizei? Der eine sagte, daß sie dich nur zu deinen Kameraden zurückbringen wollen.“ Da löste sich der Blick vom Himmel. Langsam fiel der Kopf wieder in die normale Lage zurück; sekundenlang starrte er wie benommen. – Hatte der Druck der Faust nachgelassen? Aber dann stieß er mit einer Hast hervor, als bereite ihm schon der Gedanke daran großes Entsetzen: „Ich geh nicht zurück. Die kriegen mich nimmer. Die machen mich sonst hin.“ Dann sah er mich vorwurfsvoll an und fuhr fort: „Und hier kann ich jetzt auch nicht mehr bleiben. Ich muß weiter fort.“ In Sepps weitaufgerissenen Augen spiegelte sich heillose Angst. „Wenn sie mich nach Holubkov zurückschaffen, prügeln mich die Kameraden tot. Die leiden das nicht, daß ihnen einer ausreißt.“ Dann deklamierte er: „ ,Der Deutschen Höchstes ist die Ehre, und diese Ehre heißt Treue!’ Das hängt bei uns im Speisesaal. Das hängt auch im Unterrichtsraum. Das mußten wir im Sprechchor hersagen. Das verzeihen die nie, daß einer untreu wurde, noch dazu im Tschechischen drin. So etwas wird blutig ge-
sühnt. Sie sind ja so roh, Bubi.“ ,,Aber der Gendarm sagte doch, du könntest alles wiedergutmachen durch besonderen Eifer.“ Sepp ging gar nicht auf meinen Einwand ein. „Es sind einige darunter, die wollen zur SS, wenn sie nur erst tauglich sind. Das sind die Schlimmsten, und die anderen dürfen ihnen in nichts nachstehen. Selbst der Feigste haut dir was hinein, wenn es die anderen so haben wollen.“ Ich wollte trotzdem nicht nachgeben und sagte: „Wenn aber nun deine Kameraden gar nicht mehr in Holubkov sind, wenn im Ort schon wieder die Tschechen an der Macht sind, dann können sie dich doch auch nicht mehr zurückbringen.“ „Ja“, sagte Sepp schwermütig. „Was wollen sie dann noch von mir?“ Und als ob er dem Gespräch eine andere Wendung geben wollte, fragte er: „Geh, sag lieber, warum sie mich jetzt nicht mehr suchen.“ Da sagte ich, was sie mit seinem Vater vorhätten, daß sie ihn, falls sein Sohn nicht zurückkommen sollte, wegen Fluchtbegünstigung verhaften wollten und daß die Frist morgen ablaufen werde. Ich sagte auch, daß sein Vater auf ihn warte. Das hätte ich aber niemals sagen dürfen! Gar nicht hingehen hätte ich sollen nach der verfluchten Teufelsmühle. Denn seinem Vater sollte es nicht mehr helfen, und der Sepp könnte heute noch am Leben sein. Nur ich bin schuld, daß alles so kam. wie ich es selbst habe mit ansehen müssen. Ich! Oft, wenn ich allein bin, beiße ich mir die Zunge blutig, weil ich mich schuldig fühle an dem, was dem Sepp widerfuhr. Und doch war es nicht allein die Schwatzhaftigkeit, sondern auch meine verräterische Neugierde, die den Sepp den Verbrechern auslieferte. Denn damals war es schon zuviel, etwas von einem Verfolgten zu wissen. Noch mehr darüber
wissen zu wollen, grenzte bereits an Verrat. Das ist wohl auch dem Sepp schon klar gewesen, als er mich damals so schroff nach Hause gejagt hatte. Nun klappte er, der mein bester Freund war, zusammen, als er hörte, was seinem Vater durch ihn drohte, und sein Schädel schlug hinten an die Wand. Im Sitzen hob er das Gesicht wieder gen Himmel, entblößte die Zähne, als lache er übertrieben laut, aber sie blieben dicht geschlossen, und es entrang sich ihnen ein nicht wiederzugebender Laut, der in langgezogenes Heulen überging. Dann sank ihm die Stirn kraftlos aufs Knie, und des Tränenstroms war keine Hemmung mehr, Sepp weinte – und er war doch noch ein Jahr älter als ich. Er schämte sich nicht. „Vater – Vater – Valerie…! Und ich will doch noch leben“, preßte er hervor und schlug sich bei jedem hervorgepreßten Wort mit den Fäusten gegen die Schläfen. „Und ich will doch auch noch leben, was habe ich nur getan!“ Die alten modrigen Wände verschluckten gefühllos das hemmungslose Schluchzen. Ob es nun von den seelenlosen Trümmern oder von den zertrümmerten Seelen herrührte -sie waren gegen Jammern gefeit! Mir aber wurde es ganz elend zumute, hatte ich doch noch vor wenigen Minuten von diesem armen Kerl ein Lob erheischt. Was war ich doch für ein eingebildeter, schlechter Tropf, von dem Verfolgten um einer Decke und einiger Scheiben Brot willen Lorbeeren ernten zu wollen! Nun erst sah ich alles ein. Nun erst wußte ich auch, warum mich der Sepp zurückgejagt hatte, als er in den Wald geflohen war: daß ihm keiner helfen konnte. Dieser Gang, den er damals in Holubkov angetreten, mußte ganz allein zu Ende gegangen werden. Es war mir leid um den Freund, wirklich. Ich wollte ihn um Verzeihung bitten, aber er nahm von mir keine Notiz mehr. Die Welt um ihn war im
Jammer versunken, und der war untröstlich. Schließlich hockte ich mich am Mauerdurchbruch nieder und wartete, selbst dem Heulen nahe, bis mich der Sepp von sich aus wegschickte. „Geh fort, was willst du noch hier? Warum bist du überhaupt gekommen?“ Da schlich ich ohne Widerspruch hinaus. Auf dem gleichen Wege, auf dem ich hergekommen war, ging ich wieder. Die Höhe über dem Steinbruch bot mir einen Ausblick auf die Stadt. Es war ein trostloser Ausblick, schwarz von Qualm und Feuersbrunst. „Nun haben sie die Stadt eingeäschert“, murmelte ich vor mich hin und war davon nicht einmal betroffen. Das Bild paßte so gut zu meiner Stimmung. „Überall ist Krieg.“ Und nachts, als der blutige Widerschein des Feuers von außen durch die Verdunkelung drang und meine kleine Kammer gespenstisch illuminierte, war es mir, als hörte ich das Jammern der gequälten Seelen, das Kreischen und Klappern eines furchtbaren Mahlwerkes, Voller Angst dachte ich an die Teufelsmühle, von der ich wußte, daß dort ein Erbarmungswürdiger saß, völlig allein und verlassen. Und ich bildete mir ein, zu sehen, wie ihn die gewaltige unsichtbare Faust an die Wand drückte, dieweil er voller Verzweiflung an den Vater dachte. Oh, verruchte Teufelsmühle, hast du doch wieder etwas zum Zermahlen, zum Zermürben! Herrgott – wieviel Pein und Angst hält ein Mensch denn aus! Dabei war doch Sepp gar kein Erwachsener, ein Kind noch, das weinte. Es war eine schreckliche Nacht, für mich sowohl, der ich noch geborgen in meiner Kammer lag, wie für die draußen, die jetzt in der Stadt wie verstörte Ameisen um die Trümmer
ihrer Wohnstätten krabbelten. Am allerschlimmsten muß sie für den Sepp gewesen sein. Gewißlich hat keiner von den geschlagenen Menschen draußen mehr schlafen dürfen, aber sie hatten wenigstens noch ihre Ehre, waren dem Vaterland nicht untreu geworden. So dachte ich damals, und hier stand ich vor dem größten Rätsel, das mir der Sepp in der Teufelsmühle aufgegeben hatte. Natürlich war auch mir dieser Spruch schon bekannt gewesen, und ich fand ihn ganz in Ordnung. Treue und Ehre, das waren für mich zwei voneinander untrennbare Begriffe, über die nicht weiter gesprochen zu werden brauchte. Sie waren für mich so selbstverständliche Moralbegriffe, wie mir Fahnenflucht und Feigheit unmoralisch waren. Und insgeheim war ich dem Sepp sogar sehr böse, weil er als mein Freund dagegen verstoßen hatte. „Wer Verrat übt, ist ein Schweinehund.“ So hatte Ortsleiter Kühnl gesagt. Und nun wälzte ich mich auf meinem Laser hin und her und versuchte herauszukriegen, warum ich den Sepp als einen Schweinehund betrachten sollte und es doch nicht tat. Erst nach langen, zerquälten Stunden begann ich nach Gründen zu suchen, womit ich mein Gewissen beschwichtigen könnte. Ich war auf einmal zu müde; und morgen werde ich doch zu Sepps Vater gehen und ihm sagen müssen, wo sein Junge ist, und wir werden beraten, was tun, weil doch morgen seine Frist zu Ende ging. Und schließlich muß doch des Bösen bald genug sein, und es muß doch endlich wieder einmal Ruhe einkehren in das Tal und in die erregten Gemüter der Menschen. Ich war spät aufgestanden, erst halb am Vormittag. Ich habe schon erzählt, daß ich nicht mehr in die Lehre ging. Dort, wo sich die Bäckerei meines Meisters befunden haben mußte, war jetzt dichter Qualm, und noch immer zuckten
schmutzigrote Feuerzungen auf. So hatte ich nichts weiter zu tun als hinaufzulaufen in das obere Dorf zu dem alten Schmied. Aber wehe, dort fand ich die Tür verschlossen. Nichts Gutes ahnend, ging ich hinter das Haus zu den Schuppen. Aber auch diese waren verschlossen, nur dahinter stand, an langer Kette sorgsam angebunden, die große braune Ziege. Einsam stand sie dort, ganz einsam, und meckerte kläglich. Ich ging sinnlos wieder ins Haus, pochte an die Tür. stieß auch mit der Fußspitze dagegen. Sie tat sich nicht auf, sie dröhnte nur. Hartnäckig stieg ich eine Treppe höher und fragte eine Frau, die dort wohnte. „Ja“, sagte sie, „er ist zur Schicht gegangen. Seit gestern nachmittag ist er schon fort. Es wird doch nichts passiert sein?“ Enttäuscht wandte ich mich zum Gehen. Unten drückte ich noch einmal das Gesicht an die Fensterscheibe und versuchte in der Wohnung dahinter etwas zu erkennen. Es sah ganz trostlos darin aus. Bei dem langjährigen Witwer war es nie sonderlich aufgeräumt gewesen: aber heute sah es aus wie bei einem Menschen, dem es überhaupt nicht mehr auf Ordnung ankam. Überall war Kram verstreut. Am Ofen lagen Kohlenstücke und erkaltete Asche. Der Tisch war mit unsauberem Geschirr und Speiseresten bedeckt. Kleidungsstücke waren wahllos umhergeworfen und hingen über Stühlen und Sofa. Es war ein so wunderbares Chaos dort drin, daß ich mich lange nicht vom Fenster losreißen konnte. Dazu gab es noch eine Menge Papier, teils zerknüllt, teils in losen Bogen, überallhin geflattert. Es mochten Briefe gewesen sein. Er war ja ganz allein, war der einzige Übriggebliebene seiner Familie. Auch wir waren allein, meine Mutter und ich. Unsere Hauswirtin war auch allein. Mir schien, als ob es gar keine ganzen Familien mehr gäbe. Sie waren alle
auseinandergerissen, amputiert. Und hier drinnen lagen die Briefe von Heini, der nicht mehr schrieb, Vielleicht war auch die Todesnachricht des Ältesten darunter. Vielleicht hatte der Vater sie auch an sich genommen und in seiner Brusttasche verwahrt, ehe er sich aufmachte. Er war ja zur Schicht gegangen, war auf dem Bahnhof, fiel mir wieder ein. Dort reparierte er Lokomotiven, jeweils in drei, vier Tagen eine, je nachdem, wie kaputt sie waren. Da lief ich mechanisch weg, lief nach der Stadt zu, etwas mußte ich ja tun, wenigstens laufen. Währenddessen dachte ich immerfort an Lokomotiven, Eine reparierte gegen zehn kaputtgegangene – alle drei Tage eine, jeden Tag zehn – eine notdürftig zusammengeflickte gegen dreißig wie von riesenhaften Tatzenhieben zerfetzte, verbeulte, zerbrochene. Was war das für ein Kampf Was war das für ein Mensch, der diesen aussichtslosen Kampf weiterführte? Heute ist der dritte Tag, heute wollen sie ihn holen, fiel mir im Rhythmus des Dauerlaufs wieder ein. Der rastlose Lauf förderte die Gedanken. War er wirklich nur wegen der Lokomotiven hingegangen? War er nicht vielleicht vor den Greifern seiner Partei geflohen auf diese für ihn typische Art? Den Sepp finden sie nicht, mochte er gedacht haben, und kommen tut er auch nimmer, und am Bahnhof suchen sie mich bestimmt nicht, und wenn schon, dann habe ich eben Pech gehabt, dann bin ich noch lange nicht geflohen, bin zur Arbeit gegangen. Es kann ja nun auch wirklich nur noch ein paar Tage dauern! Ich hielt im Laufen inne. Nur ein paar Tage noch? Dann kann ja alles gut werden, er soll den Sepp mit zum Bahnhof nehmen, es fällt sicherlich nicht mehr auf, sie vermuten ihn ja im Wald. Aber wird es wirklich nur noch kurze Zeit dau-
ern? Ich dachte an Sepp und schämte mich plötzlich meiner Zweifel. Er, sein Vater, die Gendarmerie - jeder richtet auf seine Weise sein Tun und Lassen danach aus, läßt sich ganz davon leiten, daß es wirklich bald zu Ende sein müsse. Die einen sehnen es herbei, die anderen fürchten es. Nur ich, ich zweifelte und setzte midi wieder in Trab. Mein Freund hatte schon lange geglaubt, daß es bald aussein werde, so felsenfest, daß er nicht mehr mitgemacht und dabei riskiert hatte, von seinen Kameradon totgeschlagen zu werden. Aber jetzt gewann ich wieder Hoffnung. Wenn er zu seinem Vater in die Lokwerkstätten ginge, bekamen sie ihn nicht. Ich bog nach der Brücke ein. Sie war bewacht. In ihren Pfeilern lauerte das Dynamit. Die Posten beachteten mich nicht, noch war der Zugang zur Stadt nicht gesperrt. Die Stadt begann gleich hinter der Brücke. Die ersten Häuserzeilen waren noch unversehrt, nur die leeren Fensterhöhlen staunten. Ihre Scheiben, in denen ich als Frühaufsteher von Berufs wegen so manches Mal das erste Rot hatte glühen sehen, lagen jetzt zersplittert auf dem Pflaster und schrien unter jedem Tritt auf. Ich schlug die Richtung nach dem Bahnhof ein. Dieses Viertel war immer das schwärzeste gewesen, jetzt fiel das ‘ nicht mehr auf. Je weiter ich ging, desto düsterer wurde es um mich, desto zögernder wurde ich, und eine schwere Beklemmung kam über mich. Das vielstöckige Eckhaus, bei dem die Gasse nach den Lokschuppen abzweigte, war nur noch ein verwirrtes, bis zu halber Höhe mit rauchendem Schutt angefülltes Gerüst aus rötlichbläulichen Stahlträ-. gern, die sich verzweifelt emporreckten. Ganz oben, an einem einzigen Stahlband, hing eine Schritt aus großen, vor Hitze verzogenen Blechlettern herab: „Spart!“ Das Ausrufezeichen pendelte in der aufsteigenden Warmluft. Die Spar-
kasse war das gewesen. Hier ging es nicht mehr weiter. Hier gab es weder eine Haupt- noch eine Nebenstraße mehr, nur brandschwarzen Zicgelschutt, ragende Balkenenden, ausgeglühte, verbogene Traversen, Rauch und kurze Flammen. Es roch penetrant nach versengten Kleidern und süßlich. Ein Mann von der Technischen Nothilfe stand plötzlich vor mir in seinem blaugrauen Drillich. „Wo willst du denn hin?“ fragte er mich. „Nach dem Bahnhof, zu den Reparaturwerkstätten.“ „Was willst du dort?“ Der Mann schrie, als müsse er ständig etwas übertönen. „Ich will zu meinem Vater; er ist Kesselschmied. Schon seit gestern nachmittag ist er fort. Er ist auf Schicht gegangen.“ Da schrie der Mann nicht mehr. „Geh nach Hause, mein Junge“, sagte er heiser. „Hier kommst du ja doch nicht durch.“ Und er faßte mich an der Schulter und versuchte mich umzudrehen. Dabei fiel mein Blick auf zwei Beine. Sie ragten unter der Tonnenlast einer umgestürzten Mauer hervor, lachhaft verdreht, in blutig zerfetzten Seidenstrümpfen und Stöckelschuhen. Mit einem Schrei rannte ich davon. Nur fort! Nur weg von hier! Auf halbem Heimweg holte mich das Donnern einer Explosion ein. Vermutlich war eine Zeitzünderbombe hochgegangen. Ich konnte den Anblick der Beine nicht loswerden und dachte an meinen, nicht doch, an Sepps Vater. Und Sepp mochte derweilen seinen Kampf gegen die unsichtbare Faust, die ihn an die Wand drückte, ausgefochten haben und hatte womöglich gesiegt und war schon auf dem Weg zu
ihm. Denn heute war ja der dritte Tag, da holten sie ihm den Vater weg, wenn er sich nicht zur rechten Zeit einfand. Aber jetzt, wußte ich, fände er sich vergeblich ein. Dem Alten konnte er nicht mehr helfen, der war am Bahnhof gewesen, und den Bahnhof gab es nicht mehr. Insgeheim hoffte ich aber, die Faust sei in der vergangenen Nacht stärker gewesen als er oder er habe seinen Kampf mit der unsichtbaren Faust noch nicht beendet. Dann mußte ich aber schnurstracks hin. Wer weiß, wie bald er zu einem Entschluß kommen konnte. Ich keuchte vor Erschöpfung und fühlte mich hundemüde, aber ich gönnte mir keine Rast. Vielleicht war er doch noch dort, dann mußte er auch dort bleiben! Sie sollten doch nicht alle beide kriegen, einer von der Familie mußte doch übrigbleiben! Ich ging steifbeinig, mit vorgestrecktem Kopf und schluckte und wähnte midi laufend. Es war das letzte, was ich aus mir herausholte. In der Nase hatte ich noch immer den beißenden Brandgeruch, oder roch schon die ganze Gegend versengt? In weitem Bogen umging ich meine Heimstätte. Ich wollte mich nicht meiner Mutter zeigen. Was mochte sie jetzt tun? Ich hatte mich ja die letzten Tage so wenig um sie gekümmert, gerade in dieser kritischen Zeit, wo sie mich sicherlich sehr nötig brauchte. Wo mochte sie nur immer das Essen hernehmen? Mein schlechtes Gewissen regte sich, aber was sollte ich denn tun? Ich konnte doch nicht zulassen, daß mein Freund den Greifern in die Arme lief. Die brachten ihn doch nach Holubkov oder dorthin, wo die Holubkover jetzt stehen mochten, und die schlugen ihn dort tot! Da konnte ich doch jetzt nicht zur Mutter laufen, da mußte ich auf schnellstem Wege in den Wald. Aber so schnell, wie ich wollte, ging es nicht. Ich durfte
trotz alledem nicht ohne Umschweife über die Wiesen rennen, über die Halden; das fiel zu sehr auf. Wohl oder übel mußte ich denselben Trick wie am Vortage anwenden: auf dem Flüchtlingsweg zum Stollen und von dort heimlich verschwinden. Wie gestern, so strömten auch heute wieder zahlreiche Menschen in den Wald. Diesmal hatte ich aber kein Gepäck, und was wollte ich ohne Gepäck zwischen all den Lastenträgern? So ging das doch nicht. Während ich verzweifelt um einen Ausweg grübelte, heulte in der Ferne ununterbrochen eine Sirene. Der Panzeralarm – jetzt war er da. Dabei wußte keiner recht, was nun käme. Niemand konnte etwas mit dem Warnzeichen anfangen. Es wurde ebenso stoisch aufgenommen wie alle anderen Vorboten der großen Katastrophe. Es stürzte niemand nach den Panzersperren, es schrie niemand nach Panzerfäusten, es brach auch keine Panik aus, die mir sehr zustatten gekommen wäre. Wieder war es wie in den Tagen zuvor. Man war zufrieden, daß die Gefahr noch nicht da war und man ungeschoren seine Sachen in den Wald bringen konnte. Man tröstete sich damit, daß der Alarm ja innerhalb einer gewissen Bannmeile ausgelöst wurde. Das Unheil konnte, ehe es heran war, noch zehnmal abgewendet werden. Die Leute glaubten ja so viel. Mir würden sie aber doch nicht glauben, daß ich ohne Gepäck im Walde Schutz suchte. Da sah ich plötzlich unsere Hauswirtin. Sie schleppte sich mit zwei großen Koffern ab, wobei sie alle Augenblicke rastete. Ungeachtet meiner Müdigkeit, ungeachtet dessen, daß ich sie nicht leiden konnte, erbot ich mich, ihr beim Tragen der Koffer zu helfen. Sie sah mich durchdringend an. Schon glaubte ich, daß sie mich abweisen wollte. Da ergriff ich kurzerhand einen der beiden Koffer und schleppte ihn wei-
ter. Sie durfte mich nicht abweisen, ich hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Außerdem schien mir nichts sicherer, als gerade mit ihr zu gehen. Der Koffer war schwer wie Blei. Meine Gedanken hatten auf einmal einen Knick bekommen. Wie eine gesprungene Schallplatte, so kreisten sie immer und immer wieder um dieselbe Frage; und die hörte nicht auf, mich zu quälen, solange ich wie ein Esel an dem Koffer schleppte. Was mochte sie nur in dem Behältnis drin haben? Was nur?. Ob sie ihre Handelsware in Sicherheit brachte? Das Geschirr mit den Führerbildern und Wochensprüchen drauf? Schwer genug war das Zeug, aber ich zweifelte trotzdem daran. Da schaffte sie schon eher den seidenen Morgenrock beiseite und etliche Sachen mehr, die aus Frankreich stammten, aus der Glanzzeit ihres Porzellanhelden. Auch diesmal ging ich nicht mit bis zum großen Stollen. Als bei einer längeren Rast mehrere Frauen zusammen waren und sich unterhielten, machte ich mich davon. Wie ein gehetztes Tier keuchte ich bergauf. Ich wußte nicht, was hinter mir geschah, ahnte nicht, was sich unten auf dem Rastplatz zutrug. Soviel ist aber sicher, und das haben mir später andere Leute erzählt: Als unsere Hauswirtin sich genügend ausgeruht hatte und weitergehen wollte, entdeckte sie mein Fehlen und schlug Alarm. Zwar war es nicht sofort gelungen, einen Posten zu finden, aber man war ja nicht mehr weit vom großen Stollen ab, wo sich allzeit eine Abteilung der Gendarmerie aufhielt. Dort wurde schnell ein Kommando zusammengestellt und hinter mir hergeschickt. So hatte ich erst einen guten Vorsprung gewinnen können, der aber vor den ausgeruhten Verfolgern immer kleiner und kleiner geworden war. Von all dem hatte ich keine Ahnung. Ich erreichte die Höhe, von der aus man einen Ausblick über die Steinheide hatte, und wollte schon nach dem Steinbruch
abbiegen, da erblickte ich etwas, was mir den Herzschlag stocken ließ. Über die ausgedehnte freie Fläche kam im Zickzack eines gewundenen Pfades ein Mensch gelaufen. Er schien in dem flachen Terrain ungewöhnlich groß, und doch war jeder Zweifel ausgeschlossen. Der dort kam, war mein Freund. Die nun folgenden Ereignisse waren für mich, so schnell sie sich auch abspielten, trotzdem so inhaltsschwer, daß ich sie nie wieder vergessen kann. Erst heulte ich auf, fast irr vor Verzweiflung. – Alles umsonst! Der lange Lauf, die Plackerei mit dem Koffer, die ganze Anstrengung, alles zu spät. Dort kam er schon, als gäbe es nichts Eiligeres, als so daherzukommen. Und dabei mußte er doch dortbleiben, mußte, mußte, mußte. – Es half nichts mehr. Den er retten wollte, der brauchte ihn nicht mehr. Aber ach, das wußte Sepp nicht. Das konnte er ja gar nicht wissen. Der wußte doch nur, daß sein Vater auf ihn wartete und natürlich ein paar andere, die für ihn jetzt, da er sie besiegt hatte, wahrscheinlich gar nicht mehr in Betracht kamen. Er wußte nur, daß es um seinen Vater geschehen war, wenn er nicht bald kam. Mehr wußte er nicht. Und ich hatte ihm das beigebracht, ich Elender; hätte ich nur nicht! Damit hatte ich ihn ja erst hervorgetrieben aus seinem Versteck. Welche Scham für mich, welch bittere Rache an mir, daß ich ihn dadurch zum Kampf gegen die Faust aufgestachelt hatte – ohne es mir zu überlegen, nur weil ich annahm, mein Freund werde damit doch nicht fertig. Ich war mir selbst verhaßt. Erst hatte ich ihn gefragt, wie es ihm erginge, wenn sie ihn bekämen, und dann hatte ich ihm das mit dem Vater erzählt Welche Schande für mich: Bloß weil mein Freund in den Augen seiner Verfolger ein Deserteur, ein Feigling vor dem
Feind war, hatte ich ihm zugetraut, er ließe andere für sich büßen. Und ich mußte jetzt sehen, daß ich halb und halb die Meinung der Häscher geteilt hatte. Oh, welch gräßliche Verwirrung der Begriffe! Dort kam kein feiger Fahnenflüchtiger. Dort kam ein Held, ein kleiner Junge, der ganz allein an schaurigem Ort nächtelang gegen eine gewaltige Faust gekämpft hatte und nun den Sieg davontrug. Mit dieser Erkenntnis bekam ich wieder Mut. Mit einem solchen Helden mußte es gut sein, noch das Äußerste zu wagen. Er durfte nicht umsonst gesiegt haben, wenigstens sich selbst mußte er retten. Mit fliegendem Blick spähte ich in die Runde. Weit und breit war kein anderer Mensch zu sehen. Noch konnte es der Zufall wollen, daß man uns nicht entdeckt hatte, und es war demzufolge eine erneute Flucht nicht ausgeschlossen. Daher verließ ich klopfenden Herzens den schützenden Waldrand und rannte auf Sepp zu. „Umkehren, umkehren, kehr um!“ schrie ich von weitem aus vollem Halse. Es klang ganz anders als das drohende „Kehr um, kehr um!“ Sepps, womit er mich damals heimgescheucht hatte, als er nach seinem Attentat auf den Polizisten in den Wald geflohen war. Es klang weinerlich und verzweifelt zugleich. Als mich mein Freund kommen sah, blieb er stehen und erwartete mich voller Verwunderung. Er atmete heftig und hatte eine hektische Röte im Gesicht. Er sah gar nicht gut aus. „Kehr um!“ schrie ich ganz außer mir, und diesmal zerrte ich ihn am Ärmel und erinnerte mich komischerweise wieder, wie er mich, am Ärmel zerrend, im Loch unten gehalten hatte, als wir damals – wie lange war das schon her - Kohlen ausgesiebt hatten. Und ich zerrte den immer noch Verdutz-
ten in Richtung auf den Steinbruch zu, weil dieser von hier aus am nächsten lag. Dabei sagte ich ohne Überlegung: „Nur weg von hier, nur weg, dein Vater ist tot, den rettest du nicht mehr.“ Gleich darauf merkte ich, daß ich wieder eine Dummheit gemacht hatte. In meiner Angst um Sepp machte ich immer wieder die größten Fehler. Sepp, der mir erst verständnislos ein Stück gefolgt war, blieb mit einem Ruck stehen. Alles Rot war aus seinem Gesicht gewichen. Jeden Augenblick konnte er sich ins Heidekraut werfen und besinnungslos heulen. Aber bevor es soweit kam, geschah etwas ganz anderes. Aus dem Wald, dort wo ich eben erst herkam, traten graue Gestalten hervor und stürmten im Laufschritt auf uns zu. – Aus, vorbei! – Mir war, als versagten mir die Beine. Ratlos und verzweifelt schaute ich auf Sepp, meinen Helden. Der drehte sich langsam, wie unter einer Hypnose um, bereit, auf die Gendarmen zuzugehen. „Sepp, was machst du?“ schrie ich mit versagender Stimme. Ich zweifelte an seinem Verstand. Er war ja ganz von Sinnen. Noch war Flucht möglich. Der Steinbruch war: nicht weit, war uns näher als den Gendarmen. Noch konnte man das Äußerste wagen und, wie mir schien, mit Erfolg. Vom Bruch aus konnte man, durch das Waldesdickicht geschützt, entkommen, wenn man Glück hatte. Jetzt, im Augenblick höchster Not, reagierte ich viel vernünftiger als mein Freund. „Dein Gesellenstück!“ schrie ich. „Schieß!“ Und ich dachte: Dann werden sie nicht laufen, sondern sich hinlegen und gleichfalls schießen, was sie ja im Falle unserer Flucht sowieso getan hätten. Ich berief mich plötzlich auf meine Erfahrungen mit dem Polizisten, der hatte auch geschossen und
nicht getroffen. Die Verfolger aber waren ebenso heftig gelaufen wie ich und konnten demzufolge auch nicht mehr sicher zielen. Das war meine Hoffnung. Sepp aber holte sein Schießeisen aus der Tasche, betrachtete es unwiederbringliche, ewige Sekunden lang und schleuderte es dann mit irrem Lachen von sich. Da konnte mich nichts mehr halten, und ich riß aus, rannte mit letzter Kraft auf den Steinbruch zu, blickte nicht rechts und nicht links und erst recht nicht zurück, rannte mit starrem Blick, hörte nichts knallen und nichts pfeifen, erreichte den Bruch, erklomm in wahnsinniger Angst an dessen Rand die Höhe und fiel, als mir Feuer vor den Augen tanzten, nieder, wobei ich mich mit schwindendem Bewußtsein an ein spießiges altes Drahtseil klammerte. Aber die aufgepeitschten Nerven ließen eine wohltuende Bewußtlosigkeit nicht zu. Ich kam zu mir, als unten im Bruch erregte Stimmen laut wurden. Tief auf der Sohle des Bruches bewegten sich mehrere Gestalten im weißen Sonnenlicht durcheinander. Sie schienen unschlüssig und mühten sich mit einer kleineren Gestalt ab, die sich heftig sträubte. Da ich aber fürchtete, entdeckt zu werden, kroch ich ein Stückchen zurück und verbarg mich tiefer im Gesträuch. Dann rollte, im Steinbruch widerhallend, eine Salve. Danach trat tiefe Stille ein… Von meinem Platz aus konnte ich nur einen Teil des Bruches übersehen. Ihrer sechs schleppten sie dort unten eine Plane. Ihre Helme glänzten in der prallen Sonne. Ab und zu blinkten Waffenteile auf. Sie trugen stumm, und in der Plane lag die kleine Gestalt. Sie sträubte sich nicht mehr. Der stumme Zug bewegte sich auf die Wand unter mir zu, wohin mein Blick nicht mehr reichte. Die Soldaten schleppten, als sei es eine millionenschwere Last. Ihre kurzen Schatten fie-
len auf die Plane, aus deren Schattendunkel himmelwärts gekehrt ein kleines weißes Gesicht emporleuchtete, vielmehr ein winziger schneeweißer Fleck – Sepp. Ich sank in meinem Versteck zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. So lag ich eine unbestimmte Zeit. Es war mir völlig gleichgültig, ob sie mich jetzt noch fanden oder nicht. Trockenes Schluchzen schüttelte mich, und als das aufhörte, war ich wie betäubt. Mein Verstand hatte die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit überschritten. Immer war mehr und immer war neues Furchtbares gekommen. Und immer hatte ich auf größere Fragen Antwort geben müssen, und die Antworten waren jedesmal falsch gewesen, denn ich hatte mich nicht auf das Erlernte stützen können, weil alles so verworren war. Was ich erlernt hatte, stimmte gar nicht. Jetzt war alles wie in einen Nebel gehüllt. Die neuesten Fragen drangen gar nicht mehr zu mir. Ich wußte nur, daß etwas Schreckliches geschehen war. Ein lebendiger Mensch, der sich verzweifelt gewehrt hatte, war herbeigeschleppt worden, und dann hatte es geknallt, und dann hatten sie alles mit ihm machen können, auch wieder fortschleppen und eingraben. Das wußte ich, und dabei starrte ich auf meine Faust, als gehöre sie gar nicht zu mir, und dachte: Alles können sie damit machen, alles, alles! Wenn’s erst einmal geknallt hat. Und dabei biß ich immerfort auf den Knöcheln herum. Unterdessen blickte ich nicht auf, halte für meine Umgebung keinerlei Interesse mehr. Erst nach Stunden, als bereits der Abend dämmerte, machte ich mich auf die zittrig gewordenen Beine. Ich ging weg vom Steinbruch, weg von der sagenumwobenen Steinheide. Ich hatte Angst. Angst vor den Menschen halte ich, nicht vor den steinernen Lämmern, auch nicht vor der finsteren Teufelsmühle, obwohl ich ahnte, daß Sepps plötzliches Versagen im Augenblick höchster Gefahr
daher rührte, daß er dort in seinen einsamen Nächten mürbe geworden war. Ich fürchtete mich nur noch vor lebendigen Menschen. Als es dunkelte, verkroch ich mich in das verlassene Gebäude eines alten Hammerwerkes, wo früher der eisenharte Basalt jenes Basaltriegels, der das Karlsbader und das Falkenauer Becken an dieser Stelle voneinander trennte, zu Schotter zerklopft wurde. Die ganze Nacht hörte ich das Brummen von Motoren und fürchtete schon, daß der Frontkrieg auch bei uns ausgebrochen sei. Ich konnte nicht wissen, daß das Heer die Waffen streckte. Das Motorengebrumm war nur noch eine letzte, verklingende Äußerung der absterbenden Bewegung des großen Flüchtens, zu der der Krieg in seinem letzten Stadium geworden war. Schon gegen Morgen war es totenstill. Am anderen Tage wurde ich von Soldaten in meinem Winkel aufgestöbert. Sie hatten in der Nähe ihr Fahrzeug verlassen und zogen zu Fuß gen Westen. Meine erste Reaktion war ausreißen. Doch als die Soldaten lauthals lachten, blieb ich verdutzt stehen. Jetzt erst merkte ich, daß sie keine Waffen mehr hatten. Da ging ich wieder zu ihnen hin und erfuhr, daß der Krieg aus sei und sie sich in amerikanische Gefangenschaft begeben wollten, denn nach Rußland wollten sie nicht mehr, von dort kämen sie erst und hätten die „Schnauze“ voll. Da nahm ich mir ein Herz und erzählte vorsichtig, daß hier, ganz in der Nähe, ein Junge wegen Fahnenflucht erschossen worden sei. Doch damit erzielte ich wenig Wirkung. Nachdem sie konstatierten, daß sich die Kettenhunde wahrscheinlich längst nach dem Westen abgesetzt hätten, sagte einer: „Da hat der Junge Pech gehabt.“ Und ein anderer fügte hinzu: „Ausgesprochenes Pech.“ Damit war für sie der Fall erledigt, und ich, der ich meinem
Herzen hatte Luft machen wollen, verfiel wieder der tiefen, verzweifelten Niedergedrücktheit, die sich meiner seit Sepps Tod bemächtigt hatte. In der darauffolgenden Nacht hängte sich unsere Hau»wirtin auf. Erst glaubten wir – ich war schon wieder bei meiner Mutter zu Hause –, es seien Diebe im Schuppen. Es hatte einmal laut darin geklirrt. Zu unserem Erstaunen zeigte sich unsere Hauswirtin nicht und öffnete auch auf unser Pochen hin nicht die Tür. Am Morgen dann machte ich die Entdeckung, daß der Schuppen von innen verriegelt war. Ein beherzter Nachbar, den wir herbeiholten, brach die Tür auf, und voller Bestürzung sahen wir, daß unsere Hausfrau an einem Strick, den sie um den Hals hatte, an der Wand hing. Der Haken, an dem sie den Strick befestigt hatte, war ganz niedrig, so daß sie sich nur im Sitzen erhängt haben konnte. Sie trug ihren Lieblingsschlafrock und hatte die Beine weit von sich gestreckt. Ein großer Stapel Teller war umgekippt. Es war derjenige gewesen, von dem das Geklirr herrührte. Die Scherben des zerbrochenen Geschirrs boten ein buntes Bild. Halbiert und geviertelt sah man noch einmal all die Herrlichkeiten, vom Blutorden aufwärts, die das Reich geschaffen hatte. Einer der Teller war noch fast unversehrt, und nur der eichenlaubumkränzte Rand war angeschlagen. Innen auf dem Suppenboden stand: „Der Deutschen Höchstes ist die Ehre, unsere Ehre heißt Treue.“ Da kam die Frau des Nachbarn, der die Schuppentür aufgemacht hatte, und berichtete, daß Ortsleiter Kühnl ausgerissen sei. In seinem Keller, unter den Kohlen verborgen, habe man Säcke voller Mehl und Zucker, Honig und verdorbene Butter gefunden. Diese Lebensmittel sollten jetzt an alle verteilt werden. Widerwillig ging ich mit
einer Tasche zu Kühnls Laden. Etwas würgte mich im Halse. Mir war, als brauchte ich keine Lebensmittel mehr. Der Weg ins obere Dorf war umsäumt von Kriegsmaterial. Haufenweise lagen dort Gewehre, Handgranaten und Munition aller Art. Jungen vom Dorf wühlten in all den Herrlichkeiten und wußten gar nicht, womit sie zuerst hantieren sollten. Achtlos ging ich daran vorüber. Alles ließ mich stumpf. Stumpf sah ich auch zu, wie die Leute immer neue Säcke verschimmeltes Mehl aus dem Keller holten. Dabei wollte mich ein Gedanke, nein, mehr ein Drängen nicht verlassen, daß ich noch einmal hinauf müsse in die Steinheide, um die Waffe zu suchen, die mein Freund in einem so unrichtigen Augenblick weggeworfen hatte.