Atlan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 8
Die Technostadt von Bernd Frenz
Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, da...
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Atlan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 8
Die Technostadt von Bernd Frenz
Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht, hält sich Atlan, der unsterbliche Arkonide, im Kugelsternhaufen Omega Centauri auf. Dieser Sternhaufen ist von den zentralen Schauplätzen der Milchstraße nicht weit entfernt, war aber über Jahrzehntausende von der »Außenwelt« aus nicht zugänglich. Deshalb konnte sich zwischen den Millionen von Centauri-Sternen eine Fülle eigenständiger Zivilisationen entwickeln. Nach vielen Abenteuern hält sich Atlan mit einigen Besatzungsmitgliedern des Raumschiffes TOSOMA auf der so genannten Stahlwelt auf. Als eine schwarze Quader-Plattform materialisiert, erinnert sich Atlan an die »Vergessene Positronik«, der er in seiner Jugend begegnete. Dieses Gebilde durchstreift seit Jahrtausenden die Milchstraße, ohne dass Aufgabe und Herkunft bekannt sind. Ein Transmittersprung geht schief – Atlan und einige seiner Begleiter landen auf der »Vergessenen Positronik«. Währenddessen versucht die Besatzung der TOSOMA, in das Geschehen einzugreifen. Doch es kommt zu einer nicht gewollten Transition. Sowohl Atlan als auch die TOSOMA-Besatzung kommen in einem merkwürdigen Gebiet des Universums heraus – eine Sonne sowie fünf Planeten, die sich auf gleicher Umlaufbahn befinden, umgeben von einer Wolke aus Obsidian. Einer der fünf Planeten wird darüber hinaus von einem Kristallmond umkreist. Das Raumschiff TOSOMA stürzt auf einem der fünf Planeten ab. Die Besatzung wird gerettet und von eigenartigen Robotern in ihre neuen Unterkünfte gebracht. Gemeinsam machen sich die Überlebenden auf die Suche nach dem unsterblichen Arkoniden. Der 2. Pilot der TOSOMA führt eine Expedition der TOSOMA-Besatzung zum Hauptkontinent Viina. Nachdem ihr Boot kentert, setzen die Gefährten ihren Weg ins Land der Silbersäulen
mit einer Dampflokomotive fort. Atlan und den Archivar Jorge Javales verschlägt es auf Vinara Vier. Sie werden in Zwistigkeiten der Afalharo verwickelt und müssen in der Folge fliehen. Dabei geraten sie in die Fänge termitenähnlicher Tiere, die sie in Kokons spinnen. Atlan wird von seinem neuen Begleiter Tamiljon befreit. Zusammen erreichen sie das Obsidiantor, das sie nach Vinara Drei befördern soll. Tamiljon muss unter allen Umständen dorthin gelangen, da eine Mission von größter Bedeutung davon abhängt. Lethem da Vokoban und seine Begleiter geraten bei der Erkundung der »Schwarzen Perle« in einen Hinterhalt. Sie können fliehen und erreichen die Taneran-Schlucht am Rand von Mertras, dem Land der Silbersäulen. Ohne viel Zeit zu verlieren, setzen sie ihre beschwerliche Reise zur Gebirgsfestung Grataar fort. Zur gleichen Zeit befindet sich Atlan auf Vinara Drei in höchster Not. Der Arkonide ist in Begleitung Tamiljons und Vertretern des Litrak-Ordens unterwegs zur CasoreenGletscherregion. Der Unsterbliche dringt mit den Ordensleuten durch ein Eislabyrinth in den Kerker des »Untoten Gottes« vor und befreit Litrak aus seinem Gefängnis. Auf der Flucht aktiviert der Kristallene verborgene Aggregate, die die Stadt im Eis zum Leben erwecken. Ein Ruck geht durch den Eisboden. Atlan und die verbleibenden Ordensanhänger drohen von den abbrechenden Eisbrocken erschlagen zu werden. Sie retten sich in die Mitte der Stadt in der Hoffnung, dort Schutz zu finden.
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Prolog Die bloße Präsenz des fremden Wesens bereitete Sardaengar fast körperliches Unbehagen. Auf seiner Brust lastete plötzlich ein unerträglicher Druck, der seine Atmung behinderte. Keuchend drehte er sich im Kreis, ohne den Ursprung der Parakräfte zu lokalisieren, die seinen Körper ebenso wie das Bewusstsein vibrieren ließen. Sekundenlang erwog er, einfach die Flucht anzutreten, doch seine Bergfeste lag viel zu weit entfernt, um einem derart mächtigen Wesen zu entkommen. Die heißen Wellen, die ihn durchliefen, nagten bereits an seinem Willen zum Widerstand. Dem durfte er nicht nachgeben, nein, dem musste er sich mit aller Kraft entgegenstemmen. Ein leises Klacken zu seiner Rechten gab den Ausschlag, noch ehe der angestoßene Kiesel hinter dem hoch aufragenden Fels hervorrollte. Nochmals wuchs die geistige Präsenz an, drängte dabei sogar den Einfluss des Kristallmondes Vadolon etwas zurück.
* Vinara, 17. April 1225 NGZ Sardaengar wirbelte herum, auf jeden noch so großen und übermächtigen Gegner gefasst. Nur nicht auf das, was wirklich hinter der Deckung hervortrat – eine zierliche junge Frau mit rotem Haar, gekleidet in einen goldglänzenden Anzug. Der »Herr der Welten« staunte. So sah es also aus, das Wesen mit der machtvollen Ausstrahlung. Viel freundlicher und harmloser, als er es sich ausgemalt hatte. Beinahe ein angenehmer Anblick, wäre das fein geschnittene Gesicht nicht durch einen zornigen Ausdruck entstellt worden. Die fingernagelgroßen Pailletten des Anzugs blitzten auf, als die Frau in tiefe DagorGrundstellung ging und Sardaengar aus halb zusammengekniffenen Augen fixierte. Sie sprach kein Wort, verharrte einige Sekunden, in denen Sardaengar mehr unbewusst
die Technikblockade des Anzugs erkannte. Er sah den breiten Gürtel mit schwarzen Aggregatetuis, die ebenfalls schwarzen Handschuhe und Stiefel, den Übergang vom Schulter-Halsring zu fingerdicken Epauletten sowie die an die Oberschenkel gehefteten chromglänzenden Zylinderstäbe – zweifellos Energiewaffen. Mit seinen Parasinnen identifizierte der Uralte den Körper der Frau eindeutig als den einer Arkonidin. Doch das dahinter stehende Bewusstsein war nicht das einer solchen. Es war … anders! Kraftvoll, fremdartig, dennoch vertraut, glich es in seinen Grundströmungen wirklich dem eines Imaginären. Und ihr goldener Anzug ähnelte sehr einem Anzug der Vernichtung, ohne jedoch ein solcher zu sein. Die Aura der Rothaarigen bombardierte weiter Sardaengars übergeordnete Sinne. Er konnte sich nicht davor verschließen, nicht ausweichen – und sie auch nicht abwehren. Sie wühlte in ihm wie mit langen, kräftigen Fingern, die selbst den kleinsten Nerv zu berühren schienen. So ungestüm kam die mentale Attacke, dass Sardaengars Abwehr durchschlagen wurde. Schmerzwellen peinigten sein Bewusstsein. Die blitzschnellen Zugriffe brannten, zwickten, bissen und blendeten. Sie stanken fürchterlich, schmeckten metallisch. Sardaengar wich einen Schritt zurück, konzentrierte sich mühsam, zog mehr und mehr Ausläufer seiner Parasinne ein. Der Uralte verkroch sich förmlich in den Körper, um den durchaus paranormal zu nennenden Schlägen zu entgehen … … bis eine Veränderung spürbar wurde. Plötzlich gab es nicht mehr nur den Schmerz, der von seinen Haarspitzen bis zu den Zehen reichte und vom Bewusstsein auf jede Körperfaser übersprang, sondern auch eine angenehme Klarheit, wie er sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. Es dauerte erschreckend lange Augenblicke, bis Sardaengar begriff, dass die Präsenz des Kristallmondes, die weiterhin einen Teil seines Ichs gefangen hielt, langsam,
Die Technostadt aber sicher auf ein niedrigeres Niveau zusammenschrumpfte. Die bloße Anwesenheit der Frau genügte, um den verderblichen Einfluss zurückzudrängen. Lässt sich das als Vorteil nutzen? Noch ehe dieser hoffnungsvolle Gedanke richtig aufflackern konnte, wurde er schon wieder jäh zerstört, denn die Fremde, die ihn weiterhin feindselig taxierte, ging ohne Vorwarnung zum körperlichen Angriff über. Alleine die geschmeidige Art, mit der sie die Distanz verkürzte, zeigte, dass sie zu kämpfen verstand. Sardaengar stand noch unter dem Schock der Überraschung, als schon der Ballen einer nach oben gekrümmten Hand auf sein Gesicht zuraste. Aus einem Reflex heraus sprang er zurück und entging um Haaresbreite dem von unten herauf geführten Dagorschlag, der ihm das Nasenbein ins Gehirn treiben sollte. Zwei Schwinger mit der geschlossenen Faust folgten. Sardaengar blockte sie instinktiv mit den Unterarmen ab, ohne darüber nachzudenken. Erst danach begann sein Verstand die Verteidigung zu koordinieren. Er war in verschiedenen Kampfarten geschult und wusste, dass beständiges Zurückweichen langfristig zur Niederlage führte. Rasch pendelte er zur Seite, um einer weiteren Attacke auszuweichen, dann schlug er zurück. Die Deckung seiner Gegnerin konnte er zwar nicht durchdringen, aber der Angriff brachte eine gewisse Entlastung. Endlich fand er genügend Zeit, eine feste Position einzunehmen, aus der er geschmeidig vor und zurück weichen konnte. Die winzige Atempause reichte sogar für einen raschen Blick auf das felsige Terrain, das einige tückische Spalten und Vorsprünge mit dem Potenzial zur Stolperfalle aufwies. Ein gefährliches Funkeln in den rubinroten Augen seiner Gegnerin warnte Sardaengar vor den nächsten Schlägen und Armstößen. Fast ebenso groß wie Sardaengar, aber einige Kilo leichter, war sie gut trainiert und hatte lange, sehnige Arme, die zweimal kurz hintereinander seine Deckung durchbrachen
5 und ihm – zwar abgebremste, aber trotzdem empfindliche – Treffer versetzten. Körperlich war sie ihm ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. Sein letzter Nahkampf lag schon einige Jahrtausende zurück. Sich wie ein Barbar zu prügeln war eigentlich unter seiner Würde, doch musste sich der Uralte zur Wehr setzen. Ohne Unterlass drang die Frau auf ihn ein. Wortlos, ohne zu schwitzen, mit der Präzision eines Roboters. Abermals funkelten Pailletten auf. Sardaengar wich wieder zur Seite aus, um sich einige Augenblicke der Ruhe zu verschaffen. Nach wie vor setzte ihm die Aura gefährlich zu, zwang die Kräfte seines Bewusstsein in die materiellen Grenzen und Schranken des Körpers. Aus dem fernen Hauch kreatürlicher Furcht wurde langsam Entsetzen, weil sich die normalerweise problemlos genutzten Möglichkeiten und Fähigkeiten erschreckend schnell reduzierten. Dafür fühlte Sardaengar sein Herz umso heftiger pochen. Er hörte auch seinen eigenen Atem, der immer keuchender wurde und merkwürdig fremd klang, verbunden mit stechenden Schmerzen in den Lungen. Eiswellen liefen über seinen Rücken und zogen die Kopfhaut zusammen, im Magen wühlte wachsende Übelkeit. Schmerz – Unbehagen – Angst … Innerlich krümmte er sich, im Reflex wehrte er einen weiteren Armstoß ab. Als er die Distanz dabei bis auf Schrittlänge vergrößerte, wirbelte die Frau sofort auf dem linken Absatz herum, riss ihr rechtes Bein in die Höhe und trat nach seinem Gesicht. Diese Attacke grenzte schon an Arroganz, weil Tritte oberhalb des Knies an Effizienz einbüßten, je höher sie angesetzt wurden. Routiniert fing er den Stiefel ab und fegte ihn zur Seite. Dabei wurde sein Unterarm geprellt. Die Schmerzwelle lief heiß bis zur Schulter hinauf und vermischte sich mit den wachsenden Qualen, denen Sardaengars Bewusstsein ausgesetzt war. Sein Geist versuchte aus der materiellen Beschränkung auszubrechen, krümmte sich jedoch inzwischen nicht weniger und wand sich wie der
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angegriffene Leib. Die Rothaarige hemmte und schwächte ihn. Beinahe wünschte sich der Herr der Welten, in diesem Augenblick auf die Macht des Kristallmondes zugreifen zu können. Aber er widerstand der Verlockung, diesem am Rand des Wachbewusstseins verführerisch klingenden Raunen und Flüstern, diesem durchdringenden weißen Licht, in dem es keine Schatten gab … Unbewusst wischte Sardaengar einige Haarsträhnen zur Seite, die immer wieder an dem schweißbedeckten Gesicht kleben blieben. Die Arme wurden ihm langsam schwer, während seine verbissen kämpfende Gegnerin in keiner Weise zu ermüden schien. Vermutlich konnte er heilfroh sein, dass ihre technischen Hilfsmittel nicht funktionierten. Derart grimmig, wie sie kämpfte, hätte sie zweifellos keine Skrupel gehabt, ihn mit den Stabwaffen niederzuschießen. Die Fremde wollte ihn töten, so viel stand fest. Ihn, den die Viin den Uralten nannten, den Herrn der Welten, den »Mann der tausende Gestalten«. Sardaengar ahnte, warum. Er sollte beseitigt werden, bevor er dem Druck des Kristallmondes erlag. Je mehr ihm die Ausstrahlung der Frau zusetzte, desto intensiver brannte in ihm der Wunsch, die Macht Vadolons anzuzapfen. Wie leicht wäre es doch, auf diese Weise neue Kraft zu schöpfen …
* … doch Sardaengar widerstand der Versuchung. Die Angst vor den Folgen war zu groß. So lange hatte er sich bisher dagegen gewehrt. Aber nur zu gut wusste er, dass sich längst eine Eigendynamik entwickelte, die in ihren Konsequenzen fast unaufhaltsam zu sein schien. Noch überwog der feste Wille zu widerstehen. Fragte sich nur, wie lange noch. Immer stärker geriet er in die Defensive. Die Arme schützend vor das Gesicht heben und zurückweichen – zu mehr war er kaum noch fähig. Immer neue Schweißbäche bra-
chen aus seinen Poren und verteilten sich über seinen durchnässten Körper. Seine Knie begannen zu zittern, und als er mit dem linken Absatz an einer scharfen Felskante hängen blieb, geriet er prompt ins Straucheln. Ein Schlag in die Nieren bestrafte seine Unachtsamkeit. Danach bereitete es schon Schmerzen, einfach nur aufrecht zu stehen, während gleichzeitig das Bewusstsein über die Barrieren hinauszugreifen versuchte und vor der Imaginären-Aura zurückzuckte. Obwohl Sardaengar die nächsten Schläge wieder abfing, gab er sich keinen Illusionen hin. Seine Niederlage stand so gut wie fest. Bis er endgültig einknickte, mochten noch dreißig oder vierzig Sekunden vergehen. Mit etwas Glück konnte er sich vielleicht sogar noch eine Minute halten. Spätestens dann würde er entkräftet zu Boden gehen und den tödlichen Schlägen hilflos ausgeliefert sein. Fehlt nur noch, dass Litrak aus der Eisgruft befreit wird, durchfuhr es ihn in einem Anflug von Fatalismus, aber um das zu verhindern, hatte er ja seine Perlenschleifer ausgeschickt und entsprechend instruiert. Trotzdem spielte er einen Augenblick lang mit dem Gedanken, einfach aufzugeben und sich seinem Schicksal zu ergeben. Angesichts seiner wühlenden Schmerzen eine überaus verlockende Vorstellung, wenngleich nicht stark genug, um den Selbsterhaltungstrieb auszuschalten. Nein, rief sich der Herr der Welten zur Ordnung. So wird mein langes Leben nicht enden! Ich muss mir etwas einfallen lassen! Weiter auf Abwehr bedacht, sah er nach links und rechts, um eine Möglichkeit zu suchen, den Kampf noch im letzten Moment zu seinen Gunsten zu entscheiden. Vielleicht gab es ja etwas, das sich irgendwie als Waffe einsetzen ließ, oder er … Eisiger Schrecken durchfuhr ihn, als er aus den Augenwinkeln eine graue Schattengruppe entdeckte, der mehrere Paare weit ausgestellter, spitz zulaufender Ohren entwuchsen. Die charakteristische Silhouette der Scaffrans! Kleine, aber gefährliche
Die Technostadt Raubtiere, die stets im Rudel jagten. Ein Fluch entfuhr Sardaengars rauer Kehle, so überzeugend, dass die Rothaarige zurückwich und einen schnellen Blick zur Seite warf. Unter anderen Umständen wäre das der Moment gewesen, dem Kampf eine entscheidende Wendung zu geben, doch für einen wirksamen Konterschlag fehlte ihm inzwischen die Kraft. Völlig ausgelaugt stand er da. Die psychische Schwäche drang bis tief ins sein Innerstes, drohte seine Parakräfte versiegen zu lassen. Für den Bruchteil eines Wimpernschlags hatte Sardaengar die ebenso irreale wie erschreckende Vision, wie er, zu einem Zwerg geschrumpft, im düsteren Inneren des hohl erscheinenden Körpers mit den Fäusten gegen die Barriere anhämmerte, ohne sie allerdings aufbrechen zu können. Das in seinen Ohren fauchende Blut riss ihn in die brutale Wirklichkeit zurück. Vor ihm stand geduckt die rothaarige Kampfmaschine, ringsum schlichen die Scaffrans, die ihm schon auf dem Weg zur Silbersäule begegnet waren. Noch kreisten die bissigen Kläffer um die kämpfenden Humanoiden, doch ihr Jagdinstinkt witterte bereits die sich abzeichnende Niederlage. Knurrend zogen sie die Lefzen zurück und legten ihre scharfen Zahnreihen frei, mit denen sie über die von der Auseinandersetzung geschwächten Kontrahenten herfallen wollten – obwohl selbst das größte Tier aus dem Rudel Sardaengar nur bis Hüfte reichte. Schnappte ein erster Scaffran mit seinen kräftigen Kiefern zu, ließ er nicht mehr von seiner Beute ab. Nicht einmal, wenn ihm der Kopf abschlagen wurde. Die Tiere witterten, dass der Kampf auch die Frau geschwächt hatte. Mittlerweile war sie genauso gefährdet wie Sardaengar. Dennoch breitete sich in ihm nur zaghaft etwas Zuversicht aus, weil die Kontrolle über die Parasinne weiterhin kaum gelang. Körper und Geist schienen sich in lautlosem Brüllen überbieten zu wollen, seine Schmerzen verbanden sich zu einem grellen Eindruck, den Sardaengar nur mühsam zu-
7 rückdrängen konnte. Die Konzentration auf die eigenen Kräfte und Fähigkeiten drohte sich zu verflüchtigen. Ein Blick auf die abgemagerten Tiere, bei denen sich jeder einzelne Rippenbogen unter den räudigen Fellen abzeichnete, reichte aus, um den Hunger zu erkennen, der in ihren Bäuchen wütete. Alle Furcht vergessend, rückten sie näher, obwohl – oder gerade weil – ihre potenzielle Beute voneinander abgelassen hatte. Ein tiefes Knurren drang aus der Kehle eines Rüden, dessen pechschwarze Segelohren sich deutlich von dem grauen Fell abhoben. Ein dunkler Tupfer innerhalb des Rudels. Die Zeichnung der übrigen Tiere war einheitlich grau, so dass sie einander wie ein Ei dem anderen ähnelten – eine Beobachtung, die in dem Uralten eine wilde Idee aufblitzen ließ. Bei dem Schwarzohr, das weiter als die anderen vorrückte, handelte es sich um das Leittier. Nach und nach folgte das gesamte Rudel seinem Beispiel und fiel in das warnende Knurren ein. Der Rüde näherte sich weiter, und ringsum folgten die anderen. Unvermittelt wirkte das Rudel wie ein Kreis aus fletschenden Zähnen, der bedrohlich schrumpfte. Die Lage wurde lebensgefährlich – aber das hinderte die Rothaarige nicht daran, den Kampf ohne Vorwarnung fortzusetzen! Ihre Imaginären-Ausstrahlung irritierte Sardaengar, schwächte ihn weiterhin, beeinträchtigte seine Parakräfte. Nicht mehr lange, und … Mit einer geschickten Drehung wich Sardaengar vier gestreckten Fingern aus, die sich in seinen Magen bohren sollten. Er hatte instinktiv mit einer derartigen Attacke gerechnet, denn der feindlichen Aura war deutlich anzumerken gewesen, dass die Rothaarige ihn erst ausschalten wollte, bevor sie sich der neuen Bedrohung stellte. Wütend griff sie nach Sardaengars Armen, um ihn zu Boden zu schleudern, doch er entwischte ihr abermals, längst einem genau kalkulierten Plan folgend. Für Augenblicke galt sein konzentrierter Blick nur
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noch den kurz vor dem Angriff stehenden Scaffrans. Handelte er jetzt nicht schnell genug, würden sie ihn bei lebendigem Leib zerreißen. Stellte er es jedoch geschickt an, konnte ihr Auftauchen seine Rettung sein. Geschmeidig glitt Sardaengar an der Frau vorbei, die ein wütendes Zischen ausstieß, als sie sein Vorhaben erkannte. Um ihn zu stoppen, war es bereits zu spät. Der Herr der Welten setzte die ureigene Fähigkeit seines Volkes ein …
1. Gegenwart Vinara III, 29. April 1225 NGZ – Atlan »Tamiljon!«, brüllte ich durch das Krachen der Eisschichten. »Rette ihn …« Meine Augen klebten weiter an dem Großmeister des Litrak-Ordens, der über den Rand der Scholle hinwegschoss, während ich hastig hinzufügte: »Rette Aundar-Aundar!« Der schwarzhäutige Humanoide, dem meine Worte galten, reagierte aber nicht, sondern klammerte sich weiter an den Stumpf eines Stalagmiten und stierte mich aus weit aufgerissenen Augen an. Ihm ging es wie mir und all den anderen, die sich auf der Technostadt befanden. Nach ihrem Start aus dem Eis war sie in eine gefährliche Schräglage geraten – Tamiljon hatte alle Hände voll zu tun, nicht selbst in die Tiefe zu stürzen. Ein Schicksal, wie es in diesem Augenblick seinen Großmeister ereilte. Wahrhaftig, wir steckten in einer scheußlichen Situation. Fast 900 Meter Durchmesser erreichte die Basis der Plattform, deren Grundriss einem achtzahnigen Sägeblatt entsprach. Die von dicken Eisschichten bedeckte Oberseite neigte sich mehr und mehr; inzwischen waren es 15 oder gar 20 Grad. Ringsum brachen die Eismassen weiter auseinander. Nadelfeine Splitter gefrorenen Wassers hagelten auf mich ein, während ich mich an dem in die Scholle gerammten Messer festhielt, unter meinen Füßen nur 50 Meter eiskalte Luft und der Casoreen-Gletscher.
Funkelnde Schneekristalle vermochten nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die gefrorene Landschaft eine unangenehm harte Konsistenz aufwies. Aundar-Aundar, der in freiem Fall darauf zujagte, würde sich alle Knochen brechen, und ich konnte nichts dagegen tun. Beide Stiefel frei in der Luft hängend, meine Hände mit letzter Kraft um den Messergriff geklammert, blieb mir nur die Rolle des stummen Beobachters. Tamiljon dagegen, von dem ich mit Sicherheit wusste, dass er telekinetische Kräfte einsetzen konnte, war in der Lage, den Sturz eines anderen abzubremsen. Er hatte es bereits mehrfach bewiesen, zum Beispiel als wir von der Plattform des Obsidiantores in Aroc springen mussten, aber auch bei der Explosion des Luftschiffes LITRAK. Doch statt seinem Ordensbruder zu helfen, stierte er mich nur aus gelblich funkelnden Augen an. Akuter Schockzustand, analysierte mein Extrasinn. Er hört zwar, was du sagst, doch der Sinn deiner Worte dringt nicht zu ihm durch. So empfindlich schätzte ich den in schwarzes Leder Gekleideten eigentlich nicht ein, trotzdem war der Hinweis meines Logiksektors berechtigt. Was uns zur Zeit widerfuhr, mochte gestandene Männer und Frauen durchaus aus der Bahn werfen. Dennoch wollte ich nicht zulassen, das AundarAundar ums Leben kam. Selbst wenn wir an einer schrägen Eisfläche hingen, die einem Vogelnest gleich zwischen den Türmen der Stadt klemmte. Mehrere 100 Meter entfernt kippte einer der Außentürme noch stärker als der Boden, von dem er aufragte – das Gebilde, groß wie der Glockenturm einer Kathedrale, von Eis verkrustet und zweifellos von ShainsharWucherungen angefressen, geriet zeitlupenhaft aus dem Gleichgewicht. Hausgroße Stücke des weißen Panzers platzten ab, trudelten davon, verschwanden in der Tiefe. Der Turm zerbrach in mehrere Stücke, noch während er fiel wie ein gefällter Riesenbaum.
Die Technostadt Blitzschnell schätzte ich die Entfernung zum nächsten Stalagmiten ab, löste die linke Hand vom Messergriff und presste sie gegen die raue, von Lufteinschlüssen geprägte Eisschicht. Obwohl die Schwerkraft an mir zerrte, gelang es mir, den ausgestreckten Körper Stück für Stück zur Seite zu schieben, bis ich nicht mehr gerade herabhing, sondern eine Schrägstellung einnahm, ähnlich einem terranischen Analogzeiger, der auf fünf Uhr deutete. Von hier aus musste ich nur noch den rechten Fuß abspreizen und auf einen der vorgelagerten Stalagmiten stellen, die Tamiljon als Stütze dienten. In dieser verdrehten Stellung 50 Zentimeter zu überbrücken kostete eine Menge Schweiß, vor allem, weil die linke Hand, auf der ein Großteil meines Gewichtes lastete, langsam zur Seite rutschte. Hastig nutzte ich einen der vielen durch die Scholle laufenden Risse als weiteren Haltepunkt. Ich verkantete die linke Stiefelspitze in der Hoffnung, dass der arbeitende Spalt nicht wieder zuschnappte. Auf diese Weise verschaffte ich mir den nötigen Schub, um mit dem rechten Fuß auf den vorspringenden Zapfen zu wechseln. Meine Hand, die den Messergriff umklammerte, wurde augenblicklich entlastet. Ich atmete kurz durch und konzentrierte mich auf die schwierige Aufgabe, mich ganz hinüberzuziehen. Behutsam wechselte ich die Hände am Messergriff und langte mit der Rechten nach einem schroffen Schollenvorsprung. Ich hatte ihn kaum gepackt, als die eisige Wand, an der ich hing, zu vibrieren begann. Die Erschütterung, die sämtliche Gebäude der Stadt erfasste, ließ weite Teile des sie umgebenden Eismantels aufplatzten. Von der Stelle, an der ich mein Messer versenkt hatte, zweigten plötzlich zackenförmig Risse ab, die sich weiter verästelten, bis die Klinge im Zentrum eines spinnennetzähnlichen Musters steckte. Rings um den doppelschneidigen Stahl zerkrümelte das Eis. Nicht mehr lange, und das Messer würde, jeden Haltes beraubt,
9 herausgleiten. Ohne eine weitere Sekunde zu verlieren, ließ ich den Griff los und zog mich nach rechts. Eine spontane Reaktion, leider viel zu hastig ausgeführt. Mein rechter Stiefel rutschte von dem Stalagmiten ab, meine Fingerkuppen ebenfalls – und ich stürzte in die Tiefe. Indem ich mich rasch nach vorn warf und meine Arme ausstreckte, fiel ich genau auf den Zapfen, auf dem ich eben noch gestanden hatte, und schlug mit dem Bauch voran auf. Die kalte Rundung grub sich tief in meine Magenkuhle. Trotz der damit verbundenen Schmerzen klappte ich zusammen wie ein Taschenmesser und verschaffte mir sicheren Halt, indem ich meine Arme um den Sockel des massiven Eisgebildes schlang und mit den Fingern nach meinen Kniekehlen griff. Auf diese Weise schaukelte ich einige Sekunden hin und her, ohne abzurutschen. Falls der Stalagmit unter dieser Belastung zerbrach, gab es keine Rettung mehr für mich. In diesem Punkt musste ich völlig auf mein Glück vertrauen. Ohne meine schmerzende Bauchmuskulatur zu beachten, rutschte ich tiefer und arbeitete mich durch das Geflecht der waagerecht abstehenden Eiszapfen bis zu Tamiljon vor und rüttelte an seiner Schulter. Zwecklos. Erst als ich ihn zu mir in die Höhe riss, erwachte er aus seiner Trance. In seinen geistesabwesenden Blick kehrte ein Funken von Leben zurück; verständnislos fragte er: »Was ist denn?« Ich verspürte große Lust, ihn wütend anzuschnauzen, damit er richtig wach wurde, doch für die Rettung seines Oberhaupts war es ohnehin zu spät. Mein Abstieg hatte viel zu lange gedauert. Aundar-Aundar lag längst mit verkrümmten Gliedern in der Schneewüste, während die Technostadt höher und höher stieg. Der Sturz hatte den Achtzigjährigen auf der Stelle getötet. Um die immer winziger werdende Gestalt auf dem Eis breitete sich ein dunkler Fleck aus. Der Anblick des Blutes ließ Übelkeit in mir aufsteigen. Was ich dort unten sah, mochte ein Blick in die eigene Zukunft sein.
10 Der gefrorene Zapfenwald, an den wir uns klammerten, begann bereits verdächtig zu knarren und knistern. Rasch verlagerte ich mein Gewicht auf zwei Stalagmiten und schätzte meine Chancen ab. Mittlerweile war die Stadt auf mindestens 100 Meter Höhe gestiegen. Schon viel zu hoch, um noch auf normalem Wege abzuspringen, doch hier oben sah alles noch unsicherer aus. Abermals ein rascher Blick nach unten. Mehr als einen Kilometer musste der Krater im Eis durchmessen, dessen steile Flanken in Bewegung gekommen waren. Eine unbekannte Zahl von Jahrtausenden hatte die Schutzfeldkuppel der Eisgruft dem Druck des Gletschers standgehalten – nun gab es den Widerstand nicht mehr, und riesige Klippen brachen unter ohrenbetäubendem Krachen, Donnern und Poltern in die Tiefe. Wolken zu feinem Staub zerfetzten Eises stoben machtvoll in die Höhe, durchsetzt von größeren Splittern und Brocken. Die Hauptwucht der blumenkohlartig emporquellenden Schwaden brach sich an der Unterseite der Plattform. Zerfaserte Ausläufer trieben zur Seite, begleitet von einem unausgesetzten Prasseln. Die Technostadt richtete sich zwar langsam auf und schwang aus der Schräge in die Waagrechte zurück, so dass wir wieder festen Boden unter die Füße bekamen, doch von einem stabilen Kurs konnte weiterhin keine Rede sein. Der Gebäudekomplex taumelte mehr, als dass er flog. Schuld daran waren vermutlich vor allem die braunen Shainshar-Wucherungen, die schon große Teile der unter uns liegenden Gebäude oder gar Innenbereiche der eigentlichen Plattform zerfressen hatten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Antriebs- und Steuerungseinheiten gänzlich versagen würden. Selbst der 150 Meter hohe Achteckturm mit seiner Kuppelkrone im Zentrum der Plattformoberseite schien inzwischen zu schwanken, während Eiskrusten absprangen, in die Tiefe krachten und wachsende Flecken der braun brodelnden Masse freilegten. Als ich an den Rand unserer massiven
Bernd Frenz Eisbrücke trat, die sich weiterhin fest zwischen drei Goldtürmen spannte, blickte ich direkt in ein kochendes Pestloch. Je mehr Eis abplatzte, desto größer wurde die Angriffsfläche der wuchernden Biomasse, die einen Menschen in Sekundenschnelle zu töten vermochte. Sollte die Braune Pest bis zu uns in die Höhe schwappen, war es um uns geschehen. Im Gegensatz zu den anderen schützten mich zwar meine »Aura« sowie die Nanomodule aus der Silbersäule, aber auch deren Abschirmung widerstand vermutlich keinem massiven Ansturm. Ich sah auf das quecksilberfarbene Armband, das mein rechtes Handgelenk umschloss. Mit Hilfe seiner Miniatureinheiten mochte es mir vielleicht gelingen, einen Absprung lebend zu überstehen, so, wie Tamiljon vielleicht seine Telekinese zur Rettung einsetzen konnte. Doch so leicht durften wir es uns nicht machen, denn außer uns saßen hier oben noch drei weitere Expeditionsteilnehmer fest. Keine 20 Meter entfernt, etwa im Zentrum der Scholle, rappelten sich gerade Enhamor, Lebriin und der Blue Caless Lilak Tadyn auf. Allen stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Nicht nur wegen Aundar-Aundars Absturz. Nein, auch die anderen Toten und vor allem der Umstand, dass sie das Böse erweckt statt gebannt hatten, wühlten sie auf. Gleichzeitig verrieten ihre Bewegungen Furcht und Unsicherheit, weil ihnen das ganze Ausmaß ihrer Misere bewusst wurde. Einen leisen Fluch unterdrückend, trabte ich zum Schollenrand. Wir mussten von der Stadt herunter, alle fünf, und zwar so schnell wie möglich. Links ragte das orientalisch geformte Dach eines goldenen Turms auf, noch gänzlich von Eis überzogen. Unter anderen Umständen hätte ich versucht, dort einzudringen, um endlich wieder sicheren Boden unter den Füße zu spüren, doch im Inneren mochte bereits das Shainshar wüten. Eine Schrittlänge vor dem natürlichen Schollensims hielt ich an. Die Eisdecke, die uns trug,
Die Technostadt war hier sieben oder acht Meter dick. Das sah ich, als ich mich vornüberbeugte. Ich richtete mich wieder auf. Dabei sah ich noch mehr, und zwar weit draußen, auf dem bläulich weiß funkelnden Casoreen-Gletscher. Dort stand eine kristalline Lebensform in Gestalt einer vier Meter großen Gottesanbeterin. Das uralte Wesen, wegen dem wir die ganzen Strapazen auf uns genommen hatten. Litrak! Der Ewige, der die schlanke Körperform eines Kosmokratenroboter nachgeahmt hatte, kurz vor der Stabilisierung seiner Insektenform. Was auch immer er damit mitteilen wollte, nun stand er hoch aufgerichtet da, die Brust herausgestreckt, beide Fangarme angezogen und den dreieckigen Kopf in unsere Richtung gedreht. Auch auf die Entfernung noch sehr gut sichtbar, ganz so, als wollte er uns verhöhnen, weil ihm der Absprung gelungen war, während wir weiter auf dem torkelnden Koloss hockten und dem sicheren Untergang entgegensteuerten. Kaum, dass sich dieser Gedanke meiner bemächtigt hatte, drehte sich Litrak auch schon auf seinen aufblitzenden Hinterläufen um und hetzte mit großen Sprüngen davon, bis sich seine Gestalt in der weiß glitzernden Umgebung verlor. Zweifellos ein triumphierender Abgang, ganz so, als liefe für ihn alles nach Plan. Nur, wenn er sich jetzt lieber auf die Kraft seiner Beine verließ … warum hatte er überhaupt die Technostadt gestartet? Welche technische Möglichkeit wollte er ursprünglich nutzen? Denk an die Projektion der Silbersäule, erinnerte mich der Extrasinn an ein erst wenige Stunden zurückliegendes Ereignis. Um die Falle für Litrak vorzubereiten, transferierte Sardaengar die Silbersäulen mitsamt dieser Stadt nach Vinara Drei. Damit war zweifellos eine Transition zwischen den Spiegelwelten gemeint. Gut möglich, stimmte ich zu. In diesem Fall will Litrak zurück nach Vinara, um weitere Teile seines Körpers einzusammeln, die er einst ausgeschieden und verteilt hat, um sie als Sonden und Mentalrelais zu benut-
11 zen. Die holografische Projektion Sardaengars hatte ausdrücklich davor gewarnt, dass die Einverleibung dieser Kristalle Litrak weiter stärken würde. Dass diese Aussage stimmte, bewies die erfolgreiche Erweckungszeremonie, in der die Kristallstabträger des LitrakOrdens ihre Splitter geopfert hatten. Die größte bekannte Kristallansammlung befindet sich im »Canyon der Visionen« auf Vinara, erinnerte der Logiksektor und fügte mahnend hinzu: Sardaengars Warnung lautete: Sollte Litrak jemals der Falle entkommen, wird dieser Bereich der TaneranSchlucht sein erstes Ziel sein! Gedankenverloren fuhr ich über mein eiskaltes Gesicht. Natürlich, um dieses Potenzial anzuzapfen, musste der Kristalline eine Transition durchführen. Deshalb hatte er die in den Gletschern eingefrorene Stadt gestartet, ohne von dem Zersetzungsprozess der Braunen Pest zu ahnen, die jede technische Aktivität zu einem reinen Himmelfahrtskommando machte. Die losbrechende Eisdecke hatte Litrak mitgerissen und mit … Kommst du auch schon dahinter?, stichelte der Extrasinn, um meine Gedanken auf Touren zu bringen. Ich antwortete nicht, sondern orientierte mich an der hinter uns liegenden Gletscherformation, deren Form sich auf dem Hinweg in mein fotografisches Gedächtnis gebrannt hatte. Es dauerte nur einen Wimpernschlag bis zu der Erkenntnis, dass Litrak nach Süden rannte, in Richtung des Basislagers, bei dem sich ein Obsidiantor befand. Und falls das nicht ausreichte, gab es auch noch Malenke, das Tempelzentrum des Litrak-Ordens, mit einem weiteren Obsidiantor … Eine Vielzahl von Möglichkeiten, gefahrlos nach Vinara überzuwechseln, drängte meine innere Stimme. Lass dir gefälligst was einfallen, wie du Litrak auf den Fersen bleiben oder, besser noch, zuvorkommen kannst. In meinen Gedanken schlummerte bereits eine patzige Antwort, in der es grob darum ging, dass ich über keine magischen Fähig-
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keiten verfügte und deshalb mit vernünftigen Vorschlägen mehr anzufangen wüsste als mit einpeitschenden Bemerkungen. Ehe ich aber etwas in dieser Art – nur wesentlich schärfer – formulieren konnte, gellte ein dunkler Schrei über die eisige Plattform. Ich wusste bereits, wer ihn ausgestoßen hatte, noch ehe ich auf dem Absatz herumwirbelte und zurücklief. Eine derart volltönende Stimme besaß nur einer, aus unserer Gruppe, Lebriina, der Springerabkömmling. Als ich näher kam, stockte mir der Atem, denn die kräftige Gestalt des Großmeisters bestand bereits nur noch aus Haut und Knochen. Ohne sein feuerrotes Haar und den buschigen Schnurrbart hätte ich ihn womöglich gar nicht erkannt, denn obwohl er meines Wissens erst 60 Jahre alt war, besaß er plötzlich das von tiefen Furchen zerklüftete Gesicht eines uralten Greises. Rapider Zellverfall, kommentierte mein Logiksektor, was ich längst mit eigenen Augen sah. Wie bei den anderen. Tatsächlich war mir der nun folgende Ablauf bereits durch den Tod einiger anderer Großmeister bekannt, deren Alterungsprozess ebenfalls durch die Kristallzepter künstlich verlangsamt worden war. Ihres primitiven Zellaktivators beraubt, forderte die Natur nun innerhalb von Sekunden ihr jahrelang verdrängtes Recht.
2. Rückblende Vinara, 17. April 1225 NGZ – Li da Zoltral Die Scaffrans jaulten vor Furcht, denn solch eine Verwandlung überstieg das Vorstellungsvermögen ihrer primitiven Gehirne. Sardaengar musste diese Reaktion vorausgesehen haben, sonst hätte er diesen Schritt niemals gewagt. Seine Metamorphose verlief lautlos und innerhalb weniger Sekunden. Eben noch hatte er aufrecht gestanden, im nächsten Moment fiel er schon vornüber und verlor rapide an Körpergröße. Statt mit seinen Händen kam er mit zwei Pfoten auf, denn er hatte sich längst in einen
grauen Scaffran verwandelt, der sich in keiner Weise von den grauen Rudelmitgliedern unterschied. Kläffend fuhr er in den zähnefletschenden Angriffsring und löste bei seinen neuen Artgenossen einen solchen Schrecken aus, dass alle wild durcheinander sprangen. In diesem Gewühl verlor Li da Zoltral rasch den Überblick. Angesichts ihrer ausgefallenen Ausrüstung gab es für sie auch keine technische Möglichkeit, den Mago zu lokalisieren. Sardaengars Fähigkeiten waren ihr nicht fremd, trotzdem hatte er sie mit dieser Flucht überrascht. Verdammt, sie hätte schneller und härter angreifen müssen, um den vom Kristallmond zunehmend Beeinflussten sofort auszuschalten. Nun war es zu spät. Nun konnte sie nur noch mit grimmig verzogenem Gesicht zusehen, wie das Rudel nach allen Seiten davonstob und das Weite suchte. In welche der vier Himmelsrichtungen Sardaengar floh, ließ sich auf die Schnelle beim besten Willen nicht bestimmen, deshalb sah sie von einer Verfolgung ab. Enttäuscht strich die Beauftragte des Kosmokratenroboters Samkar einige Schweißtropfen von der Stirn und wartete, bis ihr trommelnder Herzschlag auf einen normalen Rhythmus absank. Die Hände auf die schwarzen Aggregatetuis ihres Gürtels gestützt, drückte sie den schmerzenden Rücken durch und sah zu den Türmen der Gebirgsbastion, die nur wenige Kilometer entfernt majestätisch von einem schroffen Grat in der Mitte eines pfannenartigen Talkessels gen Himmel ragten. Andere Spuren der Zivilisation gab es nicht, also machte sie sich auf den Weg in der vagen Hoffnung, dort eine Lichtbrücke etablieren zu können, über die sich der Kristallmond erreichen ließ. Der letzte Versuch, das Leuchten des Hoagh zu passieren, war leider schmählich gescheitert. Nun musste sie das Beste daraus machen, hier materialisiert zu sein. Stets auf Sardaengars Rückkehr gefasst, konzentrierte sie ihre Sinne auf seine
Die Technostadt schlummernde Kristallmondpräsenz und verfiel in einen leichten Trab. Am Himmel teilte das dunkle Bogenband des Vinara umgebenden Obsidianrings die im orangefarbenen Licht düster erstrahlende Sonne. Wolken rasten niedrig vorüber, am Horizont huschten die Glutbahnen dreier Meteoriten in die Tiefe, gefolgt von einem Aufblitzen hinter fernen Bergen. Mit schnellen, federnden Schritten verkürzte Li die Distanz zur Festung, die immer deutlicher aus der Felslandschaft hervortrat. Ein beeindruckendes Monument, scheinbar aus Stahl erbaut, doch in Wirklichkeit erschaffen aus der Psi-Materie des Kristallmondes. Fünf unterschiedlich hohe Türme bildeten die Eckpunkte des offenen Pentagons, dessen Grundfläche gut und gerne vierhundert Meter durchmaß. Die einst silberglänzenden Fassaden waren längst dunkel angelaufen. Li entdeckte zahlreiche fleckige und schartige Stellen, aber auch an Stuck und Ornamente erinnernde Strukturen, die offenbar langsam zu Staub zerfielen. Aus der Nähe betrachtet, bedurfte die ganze Anlage dringend einer Renovierung. Viele Vorsprünge, Simse und Absätze wirkten rau, insgesamt hinterließ Grataar einen unansehnlichen Eindruck. Die Rothaarige konzentrierte sich, doch die lautlosen Rückmeldungen ihres nur rudimentär funktionierenden Anzugs waren enttäuschend. Wenigstens arbeiteten einige der Sensoren noch und projizierten ihre Ergebnisse in das Bewusstsein der Frau. Grobe Schätzungen machten nun deutlich genaueren Werten Platz, während sich scheinbar Hilfslinien und Maßketten in Lis Blickfeld aufspannten und die Gebäude der Festung umgaben. Die fünf Türme schienen aus zuvor gefertigten Zylindern zu bestehen, die in mehreren Stufen übereinander gesetzt worden waren. Der größte nahm gleichzeitig die am weitesten nördlich gelegene Position in dem Fünfeck ein. Bei einem Basisdurchmesser von 130 Metern ragte er weit über 600 Me-
13 ter von der ohnehin schon vierhundert Meter hohen Klippe empor. Auf die beiden unteren Stufen, die durch einen Metallwulst verbunden waren, folgte eine Kuppel, von der eine 70 Meter hohe Turmspitze entsprang. Es handelte sich allerdings nur um ein verwinkeltes Stahlgerüst, das in einer drei Meter breiten Aussichtsplattform mit brusthohem Geländer endete. Im Inneren des Skeletts befanden sich Treppen und Leitern, die von der Wölbung bis zum Podest führten. Der Westturm war ähnlich gebaut, doch ein Stück kleiner. Seinen Dom krönte nicht nur eine mittlere Spitze, sondern auch vier Seitentürme, deren Träger und Querstreben allesamt mit transparenten Platten verkleidet waren. Ost- und Südostturm ragten etwa gleich hoch auf, Letzterer hatte allerdings keine Turmspitze, sondern eine großzügig bemessene Terrasse, von der – in Lis Bewusstsein zoomte das von den Anzugsensoren übermittelte Bild samt Maßangaben abrupt heran – eine gläserne, vier Meter hohe und zehn Meter breite Kuppel aufragte. Trotz einiger von innen beschlagener Scheiben war nun deutlich zu erkennen, dass dort Zierpflanzen aller Art wuchsen; grüne Sträucher und Rankengewächse, bunte Blüten neben roten, gelben und orangefarbenen Knospen. Eigentlich eine Oase der Entspannung, schwebte auch über diesem Wintergarten ein Hauch des Zerfalls, der Li unwillkürlich frösteln ließ. Sardaengar schien keinen Wert auf eine gemütliche Umgebung zu legen oder nicht mehr in der Lage oder willens zu sein, die Festung in Ordnung zu halten.
* Mit dem Handschuh fuhr die Arkonidin über ein halb zerfressenes Relief, das unter ihren Fingern zu rotgrauem Staub zerfiel. Vorsichtig trat sie durch die Lücke zwischen Nord- und Westturm in den großen Innenhof, in dessen Mitte grauweiße Schwaden waberten, ohne auseinander zu driften. Von
14 unsichtbaren Kräften zu einer 50 Meter hohen Kuppel aufgestaut, hatte der Nebel eine kompakte Konsistenz, die nur ab und an von blauweißen Lichtfäden erleuchtet wurde. Li traute ihren Augen nicht, als bei einem dieser Blitze ein reich facettierter Kristall durchschimmerte, der, 40 Meter im Durchmesser, wie eine Miniaturausgabe des Kristallmondes wirkte. Die Nebelschwaden, die ihn unablässig umflossen, dienten offensichtlich dazu, ihn vor neugierigen Blicken zu verbergen. Bevor sie sich mit diesem Gebilde befasste, wollte die Beauftragte jedoch zuerst die umliegenden Türme untersuchen. Tatendurstig wandte sie sich dem größten von ihnen zu, dem Nordturm. Neugierig wanderte Li einmal um den Sockel herum, ohne einen Eingang zu entdecken. Alles, was sie unterwegs sah, war glatter, aus einem Stück gegossener Stahl. Verdutzt kam sie wieder am Ausgangspunkt an und schüttelte den Kopf. Gleich darauf versuchte sie es erneut. Diesmal legte sie keine Eile an den Tag, sondern arbeitete sich sorgfältig, Schritt für Schritt, an der Wand entlang. Wenn sie dabei einen Spalt oder eine andere Unregelmäßigkeit entdeckte, strich sie mit dem Handschuh über die angelaufene Oberfläche. Auf der dem Westturm zugewandten Seite wurde sie endlich fündig. Unterschiede in den Verfärbungen und abgeplatzte Schichten führten Li auf die Spur eines haarfeinen Risses, der bogenförmig aufstieg und auf der anderen Seite mit exakt dem gleichen Schwung wieder abwärts führte. Unter normalen Umständen wäre diese exakt eingepasste Pforte mit bloßem Auge nicht zu erkennen gewesen, doch der Zahn der Zeit, der an Grataar nagte, ließ den Umriss stärker als ursprünglich gedacht hervortreten. Li drückte gegen den ovalen Block, ohne ihn auch nur einen Millimeter verschieben zu können. Nicht mal, als sie sich mit der Schulter dagegen stemmte. Mit roher Gewalt war dem Mechanismus nicht beizukommen, darum suchte sie nach verborgenen Druck-
Bernd Frenz punkten, die den Verschluss öffnen mochten. Vergeblich. Auch ihr Spezialwerkzeug, das noch auf der Vergessenen Plattform funktioniert hatte, half ihr nicht weiter. Verdrossen ließ sie von dem verborgenen Eingang ab, um sich anderweitig umzusehen. Im Uhrzeigersinn klapperte sie den östlichen, den südöstlichen und den südwestlichen Turm ab, jedes Mal mit dem gleichen niederschmetternden Ergebnis. Die verborgenen Eingänge fügten sich so gut in die Stahlzylinder ein, dass sie sich kaum ausmachen und erst recht nicht öffnen ließen. Lis Versuche, per Gedankenkontrolle zuzugreifen, schlugen ebenfalls fehl. Erst beim Westturm hatte sie Glück: An der Stelle des geringsten Abstandes zum benachbarten Südwestturm gab es am Ende einer aus nur fünf metallenen Stufen bestehenden Treppe einen spitzgotisch geformten Portalbogen von etwa 25 Metern Höhe. Ein Tor war nicht zu sehen, stattdessen führte ein Gang, von dem offenbar weder Türen noch Seitengänge abzweigten, tief ins Innere des Turmes. Verborgene Sensoren nahmen Lis Anwesenheit wahr, als sie den Gang betrat. Obwohl keinerlei Leuchtelemente zu erkennen waren, erhellte sich der Gang, und das Licht erlosch hinter ihr wieder, sobald sie etwa zehn Meter zurückgelegt hatte. Trotz des einfallenden Sonnenlichts versank der Eingang erneut in stumpfem Silbergrau. Von dem erleuchteten Abschnitt umgeben, stieß Li tiefer in den mächtigen Bau vor. Etwa 120 Schritte waren zurückgelegt, als der Gang in einen etwa 15 Meter durchmessenden Schacht mündete, dessen oberes Ende im Dunkel verborgen war. Entlang der Wandung schwang sich eine spiralig umlaufende Treppe in die Höhe und verschwand bald in der Finsternis. Durchaus möglich, dass sie hinauf zur Turmspitze reichte. Die rothaarige Frau musterte die geländerlose Wendeltreppe. Wenn sie den mehr als 600 Meter hohen Turm auf diese Weise erklimmen musste, stand ihr ein anstrengender Marsch bevor. Technisches Gerät, das ihr irgendwie
Die Technostadt nützlich sein konnte, war leider nirgendwo zu entdecken. Nicht mal der kleinste Gegenstand. Der Boden des riesigen Schachtes wirkte wie leer gefegt – eigentlich fast schon zu sauber. Entschlossen ging die Frau – weiterhin von der Lichtinsel begleitet – zum Zentrum, wo ein hellsilbernes Symbol von etwa fünf Metern Durchmesser schimmerte: ein gleichseitiges Fünfeck, dessen Eckpunkte gleich große Kreise bildeten, während in der Mitte ein kleinerer, aus Kristallen geformter Kreis eingelassen war. Ein Fünf-Planeten-Zeichen, das für Vinara und die Spiegelwelten stand. Beherzt stellte Li sich auf das Silberzeichen und hielt ihre Hand einige Augenblicke über den zentralen Kristallkreis. Zunächst geschah nichts, dann hob sich eine Plattform, deren Rand sich außerhalb der Silberkreise des Fünfecks befand, aus dem Boden. Ihre Instinkte hatten also nicht getrogen. Es war ein Fahrstuhl, der in die höher liegenden Stockwerke führte. Immer schneller stieg die Plattform den Schacht hinauf. Soweit Li erkennen konnte, gab es keine von unten auffahrende Hydraulik. Die Silberscheibe funktionierte nach dem Antigravitationsprinzip. Frei schwebend stieg sie immer weiter auf; die Dunkelheit wurde von dem »mitreisenden« indirekten Licht verdrängt. Li legte den Kopf in den Nacken und sah, dass sich der Schacht wiederholt verengte. Mit dem Kopf voran passierte sie den Engpass, der wie erwartet der ringförmigen Galerie einer neuen Etage entsprach. Probeweise trat sie rasch an den Rand der Plattform, die daraufhin an Geschwindigkeit verlor und exakt auf Höhe des Stockwerks bei einem auskragenden Steg anhielt. Im Gegensatz zum Eingangsgeschoss zweigten hier diverse Portale ab, die ringsum in die Silberwand eingelassen waren. Li wog kurz ab, ob sie eine der uneinsehbaren Räumlichkeiten den anderen vorziehen sollte, kam dann aber zu dem Schluss, dass ein Schott genauso gut wie das andere war. Die Plattform verharrte an ihrem Platz, während
15 sich die Beauftragte Samkars auf den Weg machte. Das indirekte Licht wanderte weiter mit. Das erste Schott, das Li ansteuerte, wies keinerlei Sicherheitsverriegelung auf, sondern öffnete sich selbstständig, sobald sie auf einen Meter heran war. Allzu viel Schützenswertes lagerte dort auch nicht. Nur ein paar kurios verschlungene Metallgebilde, die als Sitzgelegenheit dienen mochten. Mit trotzig zusammengepressten Lippen wandte Li sich dem nächsten Raum zu, doch das Resultat war nur noch niederschmetternder, denn dort herrschte vollends gähnende Leere. Der Mago Sardaengar musste ein Asket sein, der nicht viel Wert auf Möbel legte, oder die gemütlich eingerichteten Räume befanden sich in einem der für sie unzugänglichen Türme. Ohne sich entmutigen zu lassen, arbeitete sich Li Schott für Schott weiter. Außer weiteren Sitz- und Schlafgelegenheiten entdeckte sie jedoch nicht viel. Nur noch eine voll gestopfte Gerümpelkammer, die allerlei seltsames Gerät enthielt, dessen Nutzen ihr nicht mal ansatzweise klar war. Und natürlich jede Menge Staub und Moder, der ihr von den Wänden entgegenstarrte. Der künstlichen Beleuchtung nach zu urteilen, funktionierte zwar die Basistechnik des Gebäudes, doch mit der Umweltkontrolle schien etwas im Argen zu liegen. Die Luft roch eindeutig abgestanden und irgendwie verkommen. Der Zerfall lastete so stark in den Räumen, dass Li ihn schmecken konnte. Während der ganzen Suche fand sie kein Anzeichen von Leben. Das gesamte Gebäude schien verlassen zu sein. Auf den endlosen Fluren ließen sich nicht einmal Reinigungsroboter blicken.
* Entmutigt kehrte sie zu der schwebenden Plattform zurück und fuhr eine Etage höher, aber auch dort präsentierte sich ein ähnliches Bild. Spartanisch eingerichtete bis leere
16 Räume, die sich mit voll gepfropften Abstellkammern abwechselten, deren Anzahl von Etage zu Etage zunahm. Erst nach einiger Zeit ging Li auf, dass es sich bei den zusammengetragenen Gegenständen um Artefakte von den fünf Planeten des Obsidiansystems handeln musste – in Jahrhunderten und Jahrtausenden gesammelt, für einige Zeit vielleicht von Bedeutung, dann aber ausgemustert und vergessen. Die meisten waren zwar funktionsunfähig und verrotteten langsam vor sich hin, trotzdem mochten sie zur Dokumentation der unterschiedlichen Entwicklungsabschnitte dienen. So lagen, standen und hingen in den Räumen Gewehre, Bajonette, Dolche, Säbel, Schwerter, Keulen, Speere und äußerst bizarr geformte Helme. Daneben fanden sich Gasleuchter, aber auch aus Bast geflochtene Sättel samt Zaumzeug, lederne Bücher, achtlos aufgestapelte Schmuckstücke wie Armbänder, Ketten und Broschen. An unsichtbaren Fäden schwebte eine zweifellos präparierte Flugechse mit einer Flügelspannweite von mehr als zehn Metern unter der Decke. Dieses Sammelsurium deckte sich mit den Informationen, die Li auf der Vergessenen Plattform gesammelt hatte, brachte sie aber im Augenblick nicht weiter. Um Zeit einzusparen, übersprang sie die nächsten Stockwerke und schwebte bis zum letzten Haltepunkt, dem obersten Etagenring. Als die Plattform zur Ruhe kam – mittlerweile hatte Li eine Höhe von mindestens 500 Metern überwunden –, befand sie sich unterhalb einer Kuppel aus stumpfsilbernem Metall, die sich rund sechs Meter über ihrem Kopf zum Zenitpunkt emporschwang. Eine in die Wandwölbung eingeschnittene Treppe führte geländerlos nach oben. Li seufzte und stieg die stumpfen Stufen empor, die durch ein Loch in einen kreisförmigem Raum führten, dessen Durchmesser wie auch Höhe gut 50 Meter betrug – und nur so vor skurrilen Artefakten strotzte. In Regalen und Schränken, aber auch zu Haufen aufgeschichtet gab es ein wirres Sammelsurium aller Andenken und Mit-
Bernd Frenz bringsel. Li entdeckte das Modell einer Schilfbarke, kunstvolle Schnitzereien, einen Sarkophag, eine Totenmaske, verziertes Geschirr, Dutzende Amphoren und von Bastgeflecht umwickelte Flaschen, einen gelblich staubigen Vinara-Globus in einem hölzernen Gestell, eine goldene Rüstung, diverse Harnische sowie Papier- und Pergamentrollen. Weitere Waffen, Uniformen und Kleidung für unterschiedliche Wesen, Hüte, Stiefel, Gürtel. Kunstvoll verzierte Lampen und Laternen, brusthoch aufgestapelte Gemälde neben von Staub bedeckten Gobelins, Pflanzen- und Kräutersammlungen, Gläsern, Bechern und Pokalen sowie Folianten und Papierstapel, ausgestopfte Raubkatzen und Greifvögel, sonderbare Geräte und Maschinen – die Vielfalt war ebenso abstrus wie verwirrend. Von bemerkenswerter Größe war das Ausstellungsstück auf der jenseitigen Hälfte des Raumes, das an einem Drahtgeflecht von der Decke herabhing und einem in einem riesigen Spinnennetz gefangenen Tier glich. Dem zylinderförmigen Metallgerippe, von dem Fetzen der ehemaligen Verkleidung herabhingen, und den Propellermotoren nach zu urteilen, handelte es sich um ein Fortbewegungsmittel. Da es zum Tauchen ungeeignet schien, musste es sich um ein primitives Luftschiff handeln, wie es wohl im ganzen Kosmos kein zweites gab. Hinter dem Luftschiff führte eine Wendeltreppe zur nächsten Etage. Sardaengars ungewöhnlicher Sammlung keine weitere Beachtung schenkend, stieg Li hinauf und erreichte die höchste Halle des Westturms. Hier herrschte eine wesentlich angenehmere Atmosphäre als in den unteren Etagen. Das mochte an den ovalen Dachfenstern liegen, durch die genügend Licht drang, um alles sauber wirken zu lassen. Oder daran, weil der Raum bis hinauf zur konischen Decke fast völlig leer war – abgesehen von dem viersäuligen Obsidiantor im Zentrum des staubfreien Keramikparketts. Mit sechs Metern Kantenlänge erhob sich wuchtig der Block, unter dessen Deckplatte ein silberner
Die Technostadt
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Hohlspiegel zu sehen war.
3. Gegenwart Vinara, 29. April 1225 NGZ – Lethem da Vokoban Sie kippte vornüber, raste ohne Zweifel genau auf sie zu! Lethem da Vokoban zwang sich, die geschlossenen Augen wieder zu öffnen. Sein Handrücken streifte einen niedrig hängenden Nadelbaumast, als er unwillkürlich ein, zwei Schritte zurückwich. In ihrer golden funkelnden Pracht wurde die Technostadt immer größer. Die beachtliche Ausdehnung erschwerte die Einschätzung, wie schnell sie wirklich war. Der Basisdurchmesser beträgt mehr als nur tausend Meter, korrigierte er eine alte Schätzung, obwohl ein paar hundert Meter mehr oder weniger keinen Unterschied mehr machten. Wenn dieser Koloss einschlägt, sind wir auf jeden Fall geliefert! Wind kam auf und strich unangenehm über Lethems Gesicht. Staub, Rindenstücke und Baumnadeln wirbelten auf. Ein erster Vorbote der sich ankündigenden Druckwelle. Noch achtzig Meter über Grund!, durchfuhr es den Arkoniden. Das Ding hat eine gewaltige Luftverdrängung. Langsam und in größerer Höhe dahindriftend, hielten sich die Turbulenzen in Grenzen. Plötzliche Bewegungsänderungen dagegen … Die goldene Plattform, die Türmen und Gebäuden als Fundament diente, wuchs weiterhin. Lethem spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Am Horizont, vielleicht fünfzehn Kilometer Luftlinie entfernt, waren die hohen Türme von Sardaengars Gebirgsbastion zwischen schroff geformten Bergen sichtbar. Im Norden brannte weiterhin der Himmel – Vulkane spuckten Glut, Asche und Gesteinsbrocken, seit der Meteorit eingeschlagen war. Der bisher größte, den sie beobachtet hatten. Siebzig Meter!
Der Zweite Pilot der TOSOMA war sich inzwischen zwar sicher, dass die massive Basis in einiger Entfernung einschlagen würde, aber vor den berstenden Türmen und sonstigen Aufbauten gab es mit Sicherheit kein Entrinnen. Vor seinem geistigen Auge sah der Arkonide bereits die Stege und gläsernen Gebäude, Zwiebelkuppeln und verschnörkelten Ausleger auseinander platzen und wie Schrapnellgeschosse durch die Gegend fliegen. Was mochte wohl schlimmer sein? Von Scherben und Splittern zerfetzt zu werden oder unter einem Viaduktfragment zu enden? Fünfzig Meter! Die absackende Masse verdrängte die Luft schneller, als sie auf natürlichem Wege abfließen konnte. Die Druckwelle wirbelte immer mehr Sand auf und trieb ihn machtvoll vor sich her, raubte Lethem fast den Atem. Er duckte sich instinktiv, schloss die Augen. Die anfängliche Böe steigerte sich im Bruchteil einer Sekunde zu orkanartiger Wucht – dann kam der eigentliche Schlag. Zu Zehntausenden trafen Lethem Sandund Steinkörner, aber auch kleine Kiesel, Wurzelstrünke und Blätter. Sein Anzug schützte ihn zwar ein wenig vor den prasselnden Einschlägen, doch die Stirn, Wangen und alle anderen frei liegenden Stellen fühlten sich innerhalb weniger Augenblicke an, als würden sie mit einem Sandstrahlgebläse abgeschmirgelt. Schützend riss sich der Arkonide den Arm vors Gesicht und ging noch mehr in die Knie, um dem Sturm weniger Angriffsfläche zu bieten. Aus zusammengekniffenen Augen sah er gerade noch, dass sich auch Dismeeder Bonweerd niederließ. Der riesige Fonshoord, der ihnen als Reittier gedient hatte, mochte aus einem natürlichen Instinkt heraus handeln. Dankenswerterweise legte er sich aber quer zu den anstürmenden Luftmassen, so dass sein massiger Körper, achtundzwanzig Meter lang und zehn Meter hoch, einen natürlichen Windfang bildete. Den langen Hals drehte er auf die sichere
18 Seite und schmiegte ihn mitsamt dem an einen Fliegenpilz erinnernden Oberkörperkopf eng an den Leib, um Nase, Mund und Augen vor dem Schlimmsten zu bewahren. »Kommt schon!«, rief er durch das Heulen und Kreischen des Windes. »Hinter mir ist es sicherer!« Nur das, mehr nicht. Mehr war auch nicht nötig. Zwanzig Meter! Lethem stemmte sich bereits in die Höhe, die anderen folgten umgehend. Kythara, die bronzehäutige Maghalata aus Viinghodor, ihr Vertrauter Ondaix sowie die Kameraden von der TOSOMA, der Terraner Scaul Rellum Falk und der Luccianer Zanargun. Sie ignorierten das sandige Bombardement, das gegen ihre Leiber prasselte, und wankten in die Deckung des an einen Riesensaurier erinnernden Wesens. Trotz vorgehaltener Hand brannten Lethems Lungen, als würde er zerstoßenes Glas einatmen. Erschöpft brach er neben dem grün geschuppten Fonshoord in die Knie. Gerade noch rechtzeitig, um einem weiteren Anschwellen des Orkans zu entgehen. Lautes Prasseln, Klacken und Fauchen erfüllte die Luft. Ein halb zerfetzter Ast krachte gegen eine Schuppenplatte, wurde herumgewirbelt und verschwand im braunen Dunst. Über Dismeeders Zackenkamm jaulte der Wind plötzlich so laut hinweg, dass Lethem sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Der erhöhte Luftdruck ließ die Trommelfelle schmerzen. Aus tränenden Augen sah Lethem gerade noch, wie ein entwurzelter Baum in einiger Entfernung vorüberflog, als handele es sich um ein dünnes Ästchen. Dann wurde es auch schon finster. Nicht nur wegen der aufgewirbelten Staubmassen, sondern auch, weil die sinkende Technostadt einen immer bedrohlicheren Schatten warf. Der Arkonide spürte, dass jemand – Schutz suchend? – näher heranrückte. Den weichen Rundungen nach zu urteilen, die seine Schulter berührten, handelte es sich um Kythara. Er mochte die rätselhafte Var-
Bernd Frenz ganin, obwohl sie sich ihm gegenüber oft spöttisch und abweisend verhielt. Dass sie nun seine Nähe suchte, erfreute Lethem. Rasch legte er den Arm um sie und zog sie näher. Kythara ließ es geschehen, obwohl sich der Arkonide fast sicher war, dass eher sie ihm als er ihr Schutz bot. Sie war eine Varganin, kein hilfloses Mädchen … Zehn Meter? Oder weniger? Während Lethem fiebernd auf den Einschlag wartete, presste er sein Gesicht in ihr von Staub bedecktes Haar und hielt den Atem an. Er wollte lieber erschlagen werden als an den wabernden Sandschleiern ersticken. Die Luft war zum Schneiden dick. Mit der Linken fuhr er einmal hindurch. Es fühlte sich an, als würde er durch Treibsand greifen. Die Sicht lag mittlerweile bei null. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich zitternd aneinander zu klammern und den Aufprall abzuwarten. Und so warteten sie. Und warteten.
* Der Arkonide zählte innerlich bis zehn, doch nichts geschah. Zwanzig … dreißig … Die erwartete Erschütterung des Bodens blieb ebenso aus wie das Bersten und Splittern. Trotzdem wagte er sich nicht zu entspannen. Erst die Atemnot zwang ihn, seine embryonale Stellung aufzugeben. Eine Hand über die Lippen gepresst, atmete er durch die geschlossenen Finger, um möglichst viele Fremdkörper auszufiltern. Zwischen seinen Zähnen knirschte es, aber sonst erwies sich diese Technik als brauchbar. Weitere Sekunden verstrichen, ohne dass der Boden zu beben begann. Der über sie hinwegbrausende Sturm verebbte jedoch nur langsam. Schließlich trat unnatürliche Ruhe ein. Direkt neben Lethem entstand ein Luftzug; als er die Augen öffnete, sah er, dass Dismeeder den Kopf hob, um sich umzusehen. Die vier langen Tentakelarme wischten in einer fast indigniert erscheinenden Bewe-
Die Technostadt gung über staubgepuderte Schuppen. Absinkende Sandschleier behinderten weiterhin die Sicht. Lethem ließ seine Lider trotzdem ein Stück weit geöffnet, um sich zu orientieren. Sie wieder zu schließen hätte ohnehin nur noch größere Pein bedeutet, denn auf den Augäpfeln und zwischen den Wimpern kratzten und brannten feinste Körnchen. Mühsam beherrscht widerstand der Arkonide der Versuchung, sich intensiv die stark tränenden Augen zu reiben. Kythara löste sich aus seinem Griff und stieß sich kräftig von ihm ab. Lethem schmerzte ihre brüske Bewegung, und er ärgerte sich im nächsten Moment über die eigene Reaktion. Dismeeder stemmte sich auf seine zwölf Beine, der Schwanz zuckte zur Seite, die stachelbewehrte Keule am Ende polterte gegen einen Baumstamm, der sich nur als vage Silhouette vom braunen Dunst abhob. Wolken stoben auf, als sich der Riese schüttelte und die Platten hin und her schwankten. Immer mehr Staub sank zu Boden. Die Luft wurde wieder atembar, doch es blieb dunkel. Als sich Lethem aus dem Windschatten des Fonshoord löste und über dessen Schuppenkamm hinwegsah, wusste er auch, warum. Keine zweihundert Meter entfernt verdunkelte der riesige Schatten die Sonne. Zuerst dachte Lethem, die Technostadt sei gelandet, dann entdeckte er, dass sie knapp zwei Meter über der kargen Steppe schwebte: Irgendetwas hatte sie im allerletzten Moment abgebremst. Wahnsinn! So nahe wie jetzt ist wohl noch kein Viin diesen seltsamen Konstruktionen gekommen. Trotz der feinkörnigen Schleier, die inzwischen eine kilometerweite Dunstglocke bildeten, erkannte Lethem jeden einzelnen Vorsprung und Erker der aufragenden Türme am Plattformrand. Sein Blick glitt über filigrane Schnörkel und Verzierungen, an denen weiß glitzernder Efeu rankte. An anderer Stelle dieses Gebäudekonglomerats spannte sich ein Viadukt aus glasähnlichem Material, aber Lethem entdeckte auch Bau-
19 elemente, die wie weißes Porzellan glänzten, während das Gros des Materials das goldene Metall war. Die oberen Etagen der Plattform wurden von schillernden Blasen flankiert, die trotz ihres Durchmessers von 30 Metern an luftige Seifenblasen erinnerten und auf und ab tanzten, ohne mit den absinkenden Sandwirbeln in Berührung zu geraten. Arkaden und Säulenreihen wirkten ebenfalls absolut staubfrei, ganz so, als würde die Stadt durch ein transparentes Energiefeld abgeschirmt. »Ein Kraftfeld«, rief Dismeeder und malte mit drei Tentakeln Rundungen in die Luft, die mit einiger Phantasie als ovale Blase gedeutet werden konnten. Lethem nickte unwillkürlich. Auch er hatte inzwischen die Konturen entdeckt, die im aufgewirbelten Staub und Dunst eine deutliche Grenze zwischen Innen und Außen markierten. Bläuliche Funken sprangen überdies von weit auskragenden Kristallstacheln zu dieser direkt gar nicht sichtbaren »Haut« und erzeugten dort schwache Reflexionen. Nur wenige Meter oberhalb der Plattformbasis, auf einem hinter goldenen Zinnen verlaufenden Wehrgang, wurden hektische Bewegungen sichtbar. Sie stammten von den messingfarbenen Ovalrobotern, die Lethems Weg schon zum wiederholten Male gekreuzt hatten. Aufgeregt wuselten sie umher. Vielleicht waren sie auf der Suche nach Schäden. Angesichts der allgemeinen Technikblockade wirkten diese Maschinen wie ein Anachronismus. Gleichzeitig weckten sie in Lethem den Wunsch nach alten Zeiten, als er noch einen funktionstüchtigen SERUN samt aller technischer Ausstattung besessen hatte. Wie viel leichter seine Aufgabe doch wäre, wenn er wieder auf die Ausrüstung zurückgreifen könnte. Wie viele Begleiter könnten noch leben, wäre sie nie ausgefallen … Mühsam schüttelte er die Erinnerung an die Toten ab. Für Trauer fehlte die Zeit. Vielmehr galt es, auf das zu schauen, was zum Greifen nahe lag. Auf einen Bereich,
20 der tatsächlich von der allgemeinen Technikblockade ausgenommen war. »Offensichtlich hat irgendetwas den Absturz in letzter Sekunde verhindert«, bemerkte Dismeeder wenig originell. Lethem verkniff sich eine spontan-bissige Bemerkung; wer hatte schon den Mut, das einem fast dreißig Meter langem Fonshoord barsch ins Gesicht zu sagen – zumal es sich um ein hochintelligentes, friedliches und überaus sensibles Wesen handelte? Der Arkonide hustete stattdessen erst einige Kilo Steppensand ab, bevor er antwortete: »Richtig. Irgendwas oder irgendwer! So langsam mag ich bei diesen schrägen Manövern nicht mehr an Zufall glauben.« Als er kurz nach rechts blickte, sah er, dass die anderen ebenfalls zur schwebenden Stadt schauten; Zanargun seufzte sehnsüchtig: »Jetzt einen Kaffee!« »Ist vielleicht bekannt, wie diese Konstruktionen gesteuert werden?« Lethem wandte sich an Kythara, die ohne jeden Zweifel mehr über Vinara und die Spiegelwelten wusste als jeder andere. Die Maghalata löste eine kleine Staubwolke aus, als sie den Kopf schüttelte. Wie alle war sie von den Haarspitzen bis zu den Stiefeln von einer puderigen Schicht bedeckt, die sie ärgerlich abzuklopfen begann. »Über die schwebenden Städte ist nicht viel bekannt«, berichtete sie dabei. »Wie die Ovalroboter in Viinghodor oder die Silbersäulen in Mertras funktionieren sie einfach. Sie werden bereits in den ältesten Legenden erwähnt, doch niemand scheint sie jemals betreten oder gar benutzt zu haben. Vermutlich steuern sie sich selbst. Oder eine der Wartungseinheiten ist dafür zuständig.« Sie deutete auf einen der Ovalroboter, der über den Zinnen schwebte und einige durcheinander gewirbelte Silberranken neu ausrichtete. Auch in größerer Distanz waren viele dieser Maschinen zu sehen, von denen sich etliche sogar von den Trauben aus transparenten Blasen aufnehmen ließen, in ihrem Inneren eine Weile mitgetragen wurden und dann wieder die Hülle durchstießen,
Bernd Frenz ohne sie zu beschädigen. Eine riesige Fassade erstreckte sich nach rechts und links und mindestens 200 Meter in die Höhe. Vorspringende Ausleger und sich über viele hundert Meter geradlinig erstreckende Bereiche vermittelten Lethem eine Vorstellung, wie der Grundriss der Plattform aussehen musste: weitgehend rund, aber mit ausgezacktem Außenrand ähnlich einem Sägeblatt. Säulen- und Fensterreihen verteilten sich über viele Stockwerke, hinzu kamen lange Galerien und Balkone, zerklüftet erscheinende Erker aus einem porzellanartigen Material. An anderer Stelle gab es Stachelbündel auf halbkugeligen Wölbungen, senkrechte und waagrechte Wülste, tief ins Innere der Plattform reichende Nischen, einige davon dunkel, der Rest hell erleuchtet. Eins dieser »Tore« befand sich nicht einmal drei Meter oberhalb der Plattformunterseite, die weiterhin in nur wenigen Metern über dem Boden dahinglitt. »Vielleicht sollten wir versuchen, in die einzudringen?« Lethem fasste den Plan in Worte, der ihm schon seit Minuten durch den Kopf ging. »Da sie jetzt so tief schwebt, müsste es doch möglich sein. Der Abstand zur unteren Brüstung ist leicht zu überwinden, und mit etwas Glück finden wir heraus, wie die Stadt zu steuern ist.« Die Begeisterung der anderen hielt sich in Grenzen: Lethem sah skeptische Blicke, gerunzelte Stirnen und abwinkende Hände. Zu gut war der torkelnde Kurs im Gedächtnis, den die Goldene Stadt vor ihrem Beinaheabsturz vollführt hatte. Nein, das musste auch der Arkonide in Gedanken zugeben, die Technik dieser Konstruktion wirkt alles andere als vertrauenswürdig. Wer mag schon sagen, ob es nicht in Kürze doch zu einem Absturz kommt? Er strich den Sand aus seinem Schnurrbart, bis die Haare wieder ihre natürliche Farbe zurückerhielten. »Und was ist mit dem Kraftfeld?« Scaul streckte wie anklagend den Zeigefinger aus. »Ausprobieren«, murmelte Lethem, genau
Die Technostadt wissend, dass er sich bereits im Rückzugsgefecht befand. »Immerhin wäre es die Chance, endlich dem verfluchten Bann der Primitivtechnik zu entkommen.« »Vergiss es!«, knurrte Zanargun und hämmerte die Faust gegen eine Panzerplatte an Dismeeders Flanke, so dass eine Staubwolke aufwallte. »Ja, ja, ja«, zirpte daraufhin der Riese und spreizte etliche Schuppen ab. »Fester, fester, mein Freund – es juckt schrecklich und ganz und gar unangenehmst. Hätten die ehrwürdige Dame und die Herren eventuell die Güte …? Es ist mir ja außerordentlich peinlich, euch mit dem Hygieneritual der Fonshoord zu belästigen, aber dieser Staub, Sand und Dreck …« Innerlich bereits resignierend, ließ Lethem die Schultern hängen, obwohl er nicht so schnell von der einmal gefassten Idee ablassen wollte. Sein Blick irrte zu den aufsteigenden Felsmassiven, die sie bewältigen mussten, um die Bastion des Uralten Sardaengar zu erreichen. Schnee bedeckte einige umliegende Kuppen. Ihr strahlendes Weiß war der einzige helle Fleck in dieser kargen, vegetationsarmen und sehr düster wirkenden Ödnis. Der vor ihnen liegende Weg würde hart werden, vor allem aber verdammt kalt. Wasser mochte ja unterwegs zu finden sein, den einen oder anderen Gletscherabfluss würde es schon geben. Aber Wild? Oder schmackhafte Früchte? Damit sah es schlecht aus. Lethem sah sich schon gekochte Baumrinde essen. Unterdessen halfen Zanargun und Ondaix dem Fonshoord bei der Reinigung, die auf den ersten Blick eher einer brutalen Folterung entsprach, Dismeeder jedoch Laute des Entzückens entlockte – und lang gezogene Fürze, deren wahrhaft betäubender Gestank Lethem zurückweichen ließ. Nachdem er seinen Schutzanzug so gut wie möglich abgeklopft und die halblangen Haare ausgeschüttelt hatte, opferte er ein wenig Wasser aus dem Trinkschlauch, um sich Gesicht und Hände zu reinigen. Dabei
21 achtete er besonders darauf, die Augen und den Mund auszuspülen. Entzündungen waren wirklich das Letzte, was sie jetzt brauchen konnten. Bei Gehörgängen und Nasenlöchern verzichtete er auf jegliche Etikette und kratzte sie mit dem kleinen Fingernagel frei. Kythara bürstete ihre goldgelockte Mähne aus, bevor sie die Haare wieder mit einem Lederband bändigte. Diese Reinigung entsprach keiner Eitelkeit, sondern war notwendig, um die Reise gesund zu überstehen. Irgendwie musste Lethem auch noch den unter seinen Anzug gedrungenen Sand loswerden, bevor ihn die Körner wund scheuern konnten. Während er sich nach einem abgeschiedenen Ort zum Entkleiden umsah, bemerkte er, dass die wie ein drohendes Mahnmal aufragende Technostadt bereits wieder Fahrt aufnahm. Damit erübrigt sich mein schöner Plan wohl von selbst, dachte Lethem betrübt und lauschte nur mit einem Ohr dem freudigen Quieken Dismeeders, dem nun auch Scaul und Kythara den Schmutz zwischen den Platten hervorzupuhlen begonnen hatten.
* Zuerst war die Bewegung zu langsam gewesen, um sie richtig zu erkennen, aber nun bemerkte Lethem, dass sich die Riesenplattform wirklich immer weiter entfernte. Gleichzeitig stieg das goldene Gebilde einige Meter höher und folgte, die geringe Höhe beibehaltend, dem zuvor eingeschlagenen Kurs. Ein wahrhaft imposanter Anblick – trotz des Schritttempos! Wie bequem sich doch auf diese Weise Berge und Täler überwinden ließen. Nach all den Strapazen der letzten Wochen hätten wir uns das wirklich verdient, dachte Lethem. Sofern die Goldene Stadt nicht erneut irgendwelche Schlenker vollführte, steuerte sie ohnehin die gewünschte Richtung an. Nur eine Handbreit von der riesigen Sil-
22 houette entfernt zeichnete sich nun im Hintergrund die schroffe Klippe ab, auf der Grataar, Sardaengars Festung, thronte. Von einer schroffen Klippe wuchsen fünf Türme empor. Eine Enklave der Zivilisation inmitten dieser unwirtlichen Region. Vor allem aber ein erhabener Anblick, der auch auf die Entfernung vom Triumph über die karge Natur kündete. Einige Turmstellen glänzten in der Sonne, andere, die ebenfalls im Reflektionswinkel lagen, dagegen nicht. Falls die Hüllen aus Metall bestanden, mussten sie im Laufe der Jahrhunderte oder Jahrtausende oxidiert oder stumpf angelaufen sein. Genaueres würde sich erst zeigen, sobald sie näher heran waren. »Wenn wir uns beeilen, können wir doch noch auf die Stadt aufspringen«, schlug Lethem den anderen mit einem letzten Versuch vor. »Das erspart uns vielleicht den beschwerlichen letzten Abschnitt der Reise.« Die Folianten, die sie in der Schwarzen Perle von Helmdor gestohlen hatten, beschrieben einen gefährlichen Aufstieg über schmale Serpentinen, die ein Fonshoord von Dismeeders Größe vermutlich nicht bewältigen konnte. »Du lässt nicht locker, wie? Bist du lebensmüde?«, sprach Ondaix aus, was wohl alle dachten. »Willst du mit aller Gewalt in den Tentakelarmen der Roboter enden? Oder vergebens gegen das Kraftfeld anrennen? Oder – sollte es zu überwinden sein – auf tausend Meter aufsteigen und dann zu Boden krachen? Nein danke, da vertraue ich lieber meinen eigenen Füßen.« Missmutig sah der bullige Springer auf seine verdreckten Stiefel. Lethem hörte nur mit halbem Ohr zu, dass auch die anderen lieber den beschwerlichen Fußweg statt des unbekannten Risikos wählten. Mit einem Achselzucken nahm er die Abstimmung hin. Dass er formal die Gruppe anführte, hatte bei so einem wichtigen Punkt wenig zu bedeuten. Schon gar nicht, wenn die anderen mit Kythara übereinstimmten, der Maghalata, die insgeheim die Fäden zog.
Bernd Frenz Die Weise aus Viinghodor, die von der hiesigen Bevölkerung wie eine Heilige verehrt wurde, verfügte über eine natürliche Führungspersönlichkeit, ein beeindruckendes Charisma, dem sich auch Lethem nicht entziehen konnte. Wieder einmal plagten ihn Selbstzweifel. Er dachte an die Toten, an Tasia und Enaa, an Cisoph und Hurakin und … fragte sich zum ungezählten Mal, ob er richtig handelte. Sicher, er war stets bereit, Risiken einzugehen. Doch sie waren kalkuliert, keineswegs Ausdruck von Leichtsinn. Dass ich bereit bin, bis an die Grenze zu gehen, ist eine Sache, dachte der Arkonide selbstkritisch. Doch meine Grenze ist nicht die der anderen; das muss ich berücksichtigen – und akzeptieren. Dass er sich dem Wunsch der anderen ohne weiteres Murren beugte, entlockte Kythara immerhin ein Lächeln. Wenigstens etwas. Gleich darauf schaukelte Dismeeders Oberkörperkopf vor Lethem auf und ab, und ein Tentakelarm legte sich vertrauensvoll um seine Schultern. Der Arkonide zuckte unbewusst zusammen, denn die plötzlich vor ihm aufklaffenden Kiefer waren von der Größe und der Kraft her durchaus in der Lage, ihn mit einem einzigen Biss in zwei Hälften zu teilen. Außerdem stank der Bursche – intelligent und feinfühlig oder nicht – bestialisch aus dem Maul. Aber das behielt Lethem lieber für sich und sprach es wohlweislich nicht laut aus. »Kein Grund zur Wehmut, mein zweibeiniger Freund«, tröstete der Fonshoord mit einer hellen Stimme, die in krassem Widerspruch zu seinem massigen Körper stand. Klang da etwa Mitleid mit, das Bedauern eines überaus sensiblen, aber von der Natur geradezu überschwänglich ausgestatteten Riesen jemandem gegenüber, der nur zwei statt zwölf Beine und nur zwei Arme statt vier Tentakel hatte? Frösteln befiel Lethem. »Steigt einfach auf, meine Kleinen. Ich bringe euch sicher ans Ziel, so wahr ich Dismeeder Bonweerd heiße.« Sechs Beine knickten ein, um ihnen den Aufstieg zu erleichtern. Dass der herum-
Die Technostadt
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zuckende Schwanz unterdessen einen Baum fällte, dessen Stamm mindestens vierfachen Schenkeldurchmesser erreichte, entlockte dem Fonshoord einen leisen Laut des Bedauerns, der vom Krachen und Bersten nahezu komplett übertönt wurde. Lethem sah von Dismeeder zu dem Baumstumpf, hob die Schultern und seufzte.
denfalls nur Roboter zu sehen.« »Falls wirklich jemand hinter diesem Kurs steckt, muss er schon längere Zeit versuchen, auf die Kontrollen der Stadt zuzugreifen. Anders ergeben die Beinahabstürze der letzten Tage keinen Sinn.« »Du hast Recht. In diesem Fall wäre die Antwort auf unsere Fragen wohl in der Vergangenheit zu finden.«
* Schon nach wenigen Minuten schmerzte der Hintern des Zweiten Piloten der TOSOMA, als hätte er den Ritt nie unterbrochen. Um die scheuernden Bewegungen auf dem geflochtenen Sattel so gering wie möglich zu halten, krallte er sich mit Händen und Füßen in der zerfurchten, von Platten und Schuppen bedeckten Lederhaut des Fonshoord fest. Trotz dieser Unannehmlichkeiten beschwerte er sich mit keinem Wort, denn Dismeeders lockerer Trab reichte tatsächlich aus, den Anschluss an die dahintreibende Stadt zu halten. In respektvollem, aber gleich bleibendem Abstand folgten sie dem goldglänzenden, von schillernden Blasen umwölkten Koloss, der, wie magnetisch angezogen, auf Sardaengars Bergfeste zusteuerte. Zur Seite wallende Staubschleier kennzeichneten den Weg, deshalb ritten sie ein Stück versetzt zur Stadt. Der Schwebekurs blieb weiterhin stabil, ganz so, als wären alle technischen Schwierigkeiten behoben. »Vorsicht, ich traue dem Frieden nicht«, warnte die hinter Lethem sitzende Varganin, die wieder einmal jeden seiner Gedanken zu spüren schien. »Es ist sicher kein Zufall, dass diese Stadt das gleiche Ziel wie wir ansteuert.« Lethem sah über die Schulter und nickte. Ihm war längst der gleiche Gedanke gekommen. »Vielleicht gibt es noch eine andere Expedition, die sich um Vinaras Zukunft sorgt?«, sprach er eine seiner vielen Vermutungen aus. »Fragt sich nur, wer das sein sollte. Auf den Gängen und Stegen der Stadt sind je-
4. Rückblende Vinara, 17. April 1225 NGZ – Sardaengar Sardaengar lief. Mit weit ausgreifenden Sprüngen jagte er über Felsen und Geröll. Der Körper des Scaffrans, dessen Gestalt er beibehielt, gab ihm Kraft – und verschleierte, zumindest für den Augenblick, die Schwäche, die in seinem Geist wütete. Weg, dachte er. Ich muss weg von hier. Er spürte das spröde Gras unter seinen Pfoten und den harten, steinigen Boden. In einiger Entfernung ragte die Silbersäule wie ein fremdartiges Gebilde aus der Landschaft. Sie war Sardaengars Ziel, von ihr erhoffte er sich eine Flucht von diesem Ort. Sein Atem ging stoßweise, die Muskeln zitterten. Der Einfluss des Kristallmondes dehnte sich wieder aus. Sardaengar glaubte einen Sog zu spüren, der ihm die Stärke raubte und an ihre Stelle etwas Dunkles, Wisperndes setzte, das seine Gedanken vergiftete. Er könnte Dinge tun in dem Körper dieser Bestie. Böse, gewalttätige Dinge und … Sardaengar drängte die Gedanken zurück, die aus dem Dunkel seines Geistes aufstiegen. Die Säule war jetzt so nah, dass er sie nicht nur sehen, sondern auch riechen konnte. Sie roch leblos, metallisch und irgendwie bitter. Ein schlanker Zylinder von 150 Metern Höhe und 25 Metern Durchmesser, dessen Fassade in keiner Weise verziert war, keine Aufbauten, Nischen oder Balkone aufwies. Sardaengar jedoch wusste, dass er es mit dem Produkt einer hoch entwickelten Tech-
24 nik zu tun hatte, aus unzähligen Nanomodulen bestehend, die komplex miteinander vernetzt waren und einzeln, in Gruppen oder als komplette Säule ihre Funktion erfüllten. Normalsterblichen verschloss sich der Zugang zu den Silbersäulen. Für sie blieben es monolithische Gebilde ohne Türen oder sonstige Eintrittsmöglichkeiten. Für den Herrn der Welten galten diese Beschränkungen nicht. Er blieb stehen, konzentrierte sich und warf einen letzten Blick über die Berglandschaft. Die rothaarige Angreiferin konnte er nirgends entdecken. Es war ihr anscheinend nicht gelungen, ihm zu folgen. Vielleicht hatte sie es erst gar nicht versucht. Einen Moment konzentrierte sich der »Mann der tausend Gestalten«, dann richtete er sich als Humanoider aus dem Tierkörper auf. Er taumelte, wäre beinahe gestürzt, als sein Gleichgewichtssinn mit Schwindel auf die plötzliche Änderung der Perspektive reagierte. Auch das schob er auf den wachsenden Einfluss des Kristallmondes. Normalerweise bemerkte er solche Dinge kaum. Sardaengar fing sich, dann ging er direkt auf die matte Silberwand zu. Beim Eindringen spürte er durchaus einen Widerstand, konnte ihn jedoch mühelos überwinden. Das Material der Nanomodule umfloss ihn wie Quecksilber. Während er den kuppelförmigen Saal erreichte, dachte er an seinen ersten, gescheiterten Versuch, die Säule geistig zu steuern. Eigentlich konnte er mit ihrer Hilfe sämtliche Obsidiantore kontrollieren, sie aktivieren, blockieren und die Transportrouten sogar umleiten. Doch je instabiler die Struktur der Obsidian-Kluft wurde, desto weniger konnte er sich wirklich auf die Funktionen verlassen. Er wagte sich kaum vorzustellen, was geschah, wenn sich die Module mitten in einer Transition desaktivierten. Würden die Körpermoleküle dann für alle Zeiten aufgelöst zwischen den Dimensionen treiben? Mühsam schüttelte er den Gedanken ab und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Hier im Inneren der Säule spürte er den Sog des Kristallmondes stärker als zuvor. Er hat-
Bernd Frenz te befürchtet, dass es so sein würde. Ich muss ihm trotzen, dachte Sardaengar angestrengt. Die Aura der unbekannten Angreiferin – ausgestattet mit der Ausstrahlung eines Imaginären! – hatte ihm einen Augenblick der Klarheit beschert, den es auszunutzen galt. Ich muss handeln, muss Atlan erreichen, bevor der Anschlag auf das Luftschiff umgesetzt wird. Das ist die Aufgabe, die ich zu erfüllen habe, egal, wie schwer sie mir auch fallen mag. Sardaengar bemerkte, wie seine Gedanken wanderten. Er konzentrierte sich erneut, versuchte an nichts anderes zu denken als an sein Ziel. Es überraschte ihn beinahe selbst, als sich die Verbindung zwischen seinem Geist und der Säule stabilisierte. Er tastete sich an den Routen entlang. Einige zerfaserten wie Rauch unter seinen Gedanken, doch dann fand er endlich den Weg, der ihn auf Vinara Drei nach Aroc bringen würde. Ohne zu zögern, trat er einen Schritt vor.
* Das Licht der Morgensonne blendete Sardaengar. Er wusste sofort, dass er am falschen Ort angekommen war. Es musste eine Strukturschwankung oder einen anderen Einfluss gegeben haben, inmitten der Transition. Nun, zumindest war er vollständig materialisiert, das war besser als gar nichts. Trotzdem hatte er nicht die geringste Ahnung, wo er sich eigentlich befand. Sardaengar wusste nur, dass es laut war. Überall brüllten, lachten, fluchten und redeten Stimmen durcheinander, und in der Luft lag ein Geruch nach Rauch und Fisch. Sardaengar blinzelte, wartete, bis sich seine Augen der Helligkeit angepasst hatten. Hoch über ihm spannte sich das Obsidiantor als eine gewaltige Brücke; zweihundert Meter hoch, fünfzig Meter dick, vierhundert Meter von einem Pfeiler zum gegenüberliegenden. Kunstvolle Reliefs bedeckten die Fassade, schilderten Höhepunkte und Katastrophen aus der Geschichte der Stadt. Sardaengar sah Armeen, die siegreich die Köp-
Die Technostadt fe ihrer Feinde schwenkten, und Brände, deren Flammen bis zum Himmel loderten. Mitten zwischen den Darstellungen entdeckte er sich selbst, »den Uralten«, wie man ihn hier und anderswo nannte, und Litrak, der den Beinamen »der Ewige« trug. Die Reliefs sprachen vom Kampf der Götter. Avoné – der Torfelsen von Giascon. Ich bin in Giascon auf Vinara Zwei, dachte Sardaengar enttäuscht, weit von meinem Ziel entfernt. Er drehte sich um, blickte hinaus auf das Meer, drehte sich weiter und musterte die rund fünf Kilometer entfernte Stadt am jenseitigen Ufer der Avoné-Bucht, die sich über die Gia-Halbinsel erstreckte. Dutzende Pontonboote lagen nebeneinander, bildeten eine Verbindung zwischen Ufer und Tor und reihten sich an den anschließenden Kais entlang. Während er zusah, trennten sich die Boote, um einem großen Segelschiff Zugang zum Hafen zu gewähren. Matrosen lehnten an der Reling und sahen nach unten auf die kleinen flachen Boote. Ihre roten Augen blickten spöttisch. Die meisten Wesen, die Sardaengar entdeckte, gehörten dem Volk der Cheborparner an. Rund zwei Meter groß, hatten sie einen Kopf wie ein Ziegenbock und dunkles, mit hellen Flecken gesprenkeltes, drahtiges Fell. Ihre Füße erinnerten an Hufe, und obwohl ihre Finger deutlicher ausgebildet waren, erledigten sie alle komplizierteren Tätigkeiten mit den feingliedrigen Greifzungen, die aus ihren drei Nasenlöchern ragten. Ihre Stimmen waren laut und klangen ein wenig meckernd. Das Segelschiff glitt an den Pontons vorbei. Ein grünhäutiger, vierarmiger Manoler, der nur knapp über einen Meter groß war, stand auf den Zehenspitzen und hielt den Matrosen gegrillte Fische entgegen. Ein Cheborparner reckte sich so weit über die Reling, dass er danach greifen konnte. Mit einem Tentakel warf er dem Manoler einige Lithras-Perlen ins Boot. Der bückte sich hastig und fluchte, als er den Betrag zusammenzählte. Der Matrose lachte. Dann
25 schloss sich die Lücke der Pontons. Sardaengar kannte die Hafenstadt mit ihren breiten Kanälen, den steinernen Brücken und den geschäftigen Barken, die die Hauptstadt des Reiches Benistancé am PenadocBinnenmeer war. Eine wohlhabende, an manchen Stellen sogar prunkvolle Stadt, in der fast eine halbe Million Einwohner lebten. Auf Vinara Zwei – hoch im Nordosten des Kontinents Viina. Der Herr der Welten stützte sich an einem Pfeiler des Avoné ab; er war zu geschwächt, um noch einmal das Tor zu betreten und einen weiteren Versuch zu unternehmen. Raunen und Flüstern schien seinen Schädel zu erfüllen, blendend weißes Licht verdichtete sich zum Bild des Kristallmondes Vadolon, dessen Verlockungen sein Bewusstsein überschwemmten und klare Gedanken verhinderten. Mühsam rang Sardaengar um Konzentration, verdrängte die Visionen mit nachlassenden Kräften. Zu eng und intensiv umschlang ihn der Körper, fesselte ihn, glich längst einem Gefängnis. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich irgendwo in der mittelalterlichen Stadt einzuquartieren und so lange zu rasten, bis er sich erholt hatte. Wenn er sich unter dem ständig steigenden Einfluss des Kristallmondes überhaupt erholen konnte. »Geht es dir gut?« Sardaengar sah blinzelnd auf, als er die meckernde, knarrende Stimme hörte. Er entdeckte eine alte Cheborparnerfrau, die auf dem ersten Pontonboot hockte. Einer der Tentakel, die aus ihrer Nase ragten, rührte mit einem Holzlöffel in einem dampfenden Kessel, während ihre Hände Holz auf die Feuerstelle legten. Trübe Augen musterten ihn, während der alte Cheborparner, der sich neben der Frau auf die Ruderstange stützte, im Stehen zu schlafen schien. Sardaengar bemerkte in einem Augenblick irrealer Klarheit, dass die Hörner abgebrochen waren. »Ja«, murmelte er schwerfällig. »Mir geht es gut.« »Wirklich? Du siehst nicht so aus.« Der Tentakel rührte hektischer mit dem Löffel.
26 »Ein Teller Suppe würde dir sicher helfen.« »Nein danke. Ich habe keine Zeit.« Sardaengar ließ den Pfeiler los und wankte auf die Boote zu. Seine Knie zitterten. Die Schwäche höhlte ihn von innen aus, das eigene, wahre Ich schien zu immer kleinerer Zwergengröße zu schrumpfen. Er fragte sich, wann nichts mehr von ihm übrig sein würde. Nichts mehr vom Herrn der Welten, vom Uralten, vom Mann der tausend Gestalten … Er knickte ein, konnte sich jedoch mit den Hinterläufen abfangen. Sein Rücken wölbte sich. Schuppen rieben gegeneinander wie staubiges Pergament. Fauchen und Knurren entrann seiner Kehle, von der langen Zunge troff Geifer. Die alte Frau schrie. Der Mann neben ihr zuckte so heftig zusammen, dass sein Arm vom Ruder abrutschte und er über den Bootsrand ins Wasser fiel. Überall drehten sich schwarze Ziegenköpfe um, starrten rote Augen auf das Schauspiel, das sich ihnen bot. Sardaengar roch die aufsteigende Panik mit seiner Schlangenzunge, spürte sie im nächsten Moment durch seidene Haut, sah sie dann aus einem seiner 16 Augen, während die anderen auf das Meer, in den Himmel, auf die Tentakel an seinen Hüften und die Berge am Horizont blickten. Alles verschwamm, wurde zu einem irrsinnigen Wirbel widerstrebender Gliedmaßen, fremder Sinne und verzerrter Wahrnehmung. Verzweifelt kämpfte Sardaengar darum, seine Form zu bewahren, irgendeine Form zu bewahren – aber er hatte die Kontrolle über seinen wild morphenden Körper verloren. Ringsum hörte er das Geschrei der Cheborparner. Wie uralte Teufelsdarstellungen der Terraner tanzten ihre Ziegenkörper um ihn, während sich ihre Stimmen überschlugen. »Dämon!«, hörte er sie schreien. »Ein Dämon!« Sie werden mich umbringen. Der Gedanke mobilisierte Sardaengars letzte Kraftreserven. Mit aller Macht, die er noch über seinen
Bernd Frenz Körper besaß, zwang er ihn, in der Gestalt zu verharren, die er gerade angenommen hatte. Sein Raubtierkopf nahm jeden Geruch und jede Bewegung überdeutlich wahr. Sein Reptilienschwanz zuckte, während seine Tatzen und Hufe nervös über den Boden tänzelten. Mehrere Cheborparner, die eben noch mit Knüppeln und Speeren auf ihn zugegangen waren, wichen wieder zurück. Sardaengar nutzte die Lücke, die sich zwischen ihnen auftat. Mit einem Sprung war er an ihnen vorbei, galoppierte über die schwankenden Boote hinweg. Teller zerplatzten unter seinen Hufen, sein Reptilienschwanz wischte hölzerne Unterstände und aufgehängte Wäsche hinweg. Cheborpaner, Manoler und Hasproner sprangen in Panik zur Seite. Einige hielten ihm Speere entgegen, verloren aber im letzten Moment den Mut. Sardaengar brüllte unwillkürlich wie ein Raubtier, damit das auch so blieb. Das Ufer kam mit jedem Schritt näher. Der Lärm der Händler, die dort an Ständen ihre Waren anboten, hatte bisher verhindert, dass jemand etwas von dem Spektakel auf den Booten bemerkte, aber jetzt blickte der erste Cheborparner herüber und stieß seinen Begleiter an. Sardaengars Blicke suchten nach einer Fluchtmöglichkeit. Es war diese kurze Unaufmerksamkeit, dieser Blick zum Ufer, der die Flucht beendete: Etwas schlug mit solcher Härte gegen Sardaengars Kopf, dass seine Beine sofort unter ihm nachgaben. Schwer stürzte er auf das Deck des vorletzten Bootes, schlug inmitten von ausgenommenen Fischen und dreckigem Geschirr auf. Er hörte das Johlen der Menge, dann wurde es dunkel.
5. Gegenwart Vinara III, 29. April 1225 NGZ – Atlan Zu hilflosen Beobachtern degradiert, mussten wir mit ansehen, wie die Muskulatur des Springers schwand, bis seine Gliedmaßen nur noch aus mit Haut bespannten Knochen bestanden. Die Wangen fielen noch
Die Technostadt weiter ein, und das Fleisch dehydrierte, bis es durchscheinend wurde und zu Staub zerbröckelte. Selbst vor dem Schädel und den übrigen Knochen machte der Prozess nicht Halt. Immer mehr fiel alles in sich zusammen, bis eine Wolke grauen Pulvers unter der mit Fell umrandeten Kapuze hervorstob. Ohne die Stütze des Skeletts sackte Lebriinas Mantel in sich zusammen wie ein halb gefüllter Sack Mehl. Weitere Staubwolken drangen hervor und nebelten den eingefallenen Stoffhaufen ein. Die anderen Viin, die ihn eben noch umdrängt hatten, sprangen entsetzt und angewidert zur Seite, um nicht versehentlich seine pulverisierten Überreste einzuatmen. Lelos Enhamors Gesichtszüge entgleisten dabei wesentlich stärker als die der anderen. Zuerst dachte ich, unser Expeditionsleiter würde ein ähnliches Schicksal für sich selbst befürchten, obwohl er wesentlich jünger als die verstorbenen Kristallstab-Träger war, doch dann begannen seine roten Augen von innen heraus zu leuchten, und er deutete mit anklagender Geste in meine Richtung. »Kristallprinz!«, grollte er dabei mit völlig veränderter Stimme. »Was hast du getan? Litrak ist frei! Wer soll ihn jetzt noch aufhalten?« Ich fühlte, wie mein ohnehin blutleeres Gesicht noch weiter erblasste. Nicht wegen der ungerechtfertigten Anschuldigung, sondern weil mich der Viin mit einem Titel angesprochen hatte, den er unmöglich kennen konnte. Tamiljon und Caless Lilak gebärdeten sich ebenfalls, als wäre ihnen ein Geist begegnet. Beide schrien wild durcheinander, aber während die Stimme des Blues vor Aufregung in den Ultraschallbereich abglitt, war der Humanoide genau zu verstehen. »Sardaengar spricht aus ihm«, kreischte er, offensichtlich mit der Stimme und den Umständen des Kontaktes vertraut. »Lelos ist ein Verräter! Er ist der Perlenschleifer in unseren Reihen!« Der unmenschlich verzerrten Miene des Großmeisters nach zu urteilen, traf diese
27 Einschätzung tatsächlich ins Schwarze. Irgendeine fremde Macht schien von ihm Besitz ergriffen zu haben. Für einen Moment fehlten mir die Worte. Wie so oft in den letzten 10.000 Jahren nutzte mein Logiksektor die Gelegenheit, um vorwurfsvoll zu wispern: Sardaengar scheint dich persönlich zu kennen. Kann es sein, dass du ihm in der Vergangenheit schon einmal auf die Füße getreten bist?
6. Rückblende Vinara, 17. April 1225 NGZ – Sardaengar »Wer bist du? Deinen Namen, Dämon!« Die Stimme riss Sardaengar endgültig aus dem Dämmerschlaf. Er hatte bereits vor einiger Zeit das Bewusstsein so weit wiedererlangt, dass er die Welt um sich wahrnahm, obwohl sie weit entfernt vorbeizugleiten schien. Man hatte ihn getreten, geschlagen, schließlich gefesselt und auf einen Karren geworfen. Sein Anblick erregte zunächst kaum Aufmerksamkeit, denn in einem Vielvölkerstaat wie Benistancé war man an seltsame Gestalten gewöhnt. Mit ihren Rufen »Dämon! Dämon!« und der mit jedem Meter weiter ausufernden Schilderung seiner Gräueltaten sorgten seine Bewacher jedoch dafür, dass sich das schon bald änderte. Als der Karren vor einem Nebentor des Akradelz, des Großfürstenpalasts, anhielt, war die Menge um das Dreifache angewachsen. Es war ein prunkvolles Gebäude, dessen Außenmauern vollständig von Wasser umgeben waren. Sardaengar hatte die fein gearbeiteten Plastiken bemerkt, die hohen Mauern und die blühenden Gärten, aus denen der Innenhof bestand. Als sein Karren über das Kopfsteinpflaster ins Innere rollte, hatten sich nach und nach die Fenster geöffnet, und Höflinge waren in die Gänge geströmt. Jeder wollte den gefangenen Dämon sehen. Nur noch vier seiner ursprünglichen Bewacher waren bei ihm, als man Sardaengar in den riesigen Audienzsaal gerollt hatte.
28 Stattdessen umgaben ihn fast 20 bewaffnete Soldaten mit glänzenden Brustpanzern und mit Federn verzierten Helmen. Es steckten ausnahmslos Cheborparner in diesen Rüstungen. »Nenne uns deinen Namen, Dämon!«, wiederholte der Manoler vor ihm. Er trug eine dunkle Kutte mit spitzer Kapuze. Um seinen Hals hingen Amulette, die ihn als Priester kennzeichneten. Innerlich zuckte Sardaengar zusammen. Ein Selonad-Priester! Selonad, die im Pyramidentempel der auf nordwestlich von Giascon gelegenen Laguneninsel Eian verehrte weibliche Inkarnation Litraks! »Ich bin … kein Dämon.« Es fiel Sardaengar schwer, mit der Raubtierschnauze Wörter zu bilden. Hinzu kam, dass er sich kaum auf die Vorgänge im Audienzsaal konzentrieren konnte; die Attacken des Kristallmondes hielten ungebrochen an. Er benötigte seine ganze Kraft, um sich dagegen zu wehren. Zum Glück gab es keine unkontrollierten Gestaltwechsel mehr. »Ach!«, rief der Manoler. »Ein Wesen wie du, ein sprechendes, groteskes Ungeheuer, eine Parodie auf die Schöpfung der Götter, behauptet, kein Dämon zu sein! Wie erklärst du dann den Wandel deiner Gestalt?« Schwarze Ziegenköpfe neigten sich Sardaengar entgegen, rote Augen starrten ihn an. Seine Gedanken glichen zähem Sirup, waren langsam und träge. Sosehr er sich auch bemühte, ihm fiel keine Erklärung ein, die seine abergläubischen Ankläger akzeptieren würden. »Es ist eine … Krankheit«, antwortete er schließlich schwerfällig. »Bei Selonad! Eine Krankheit, die man Besessenheit nennt! Besessen von den bösen Kräften des Dunklen Sardaengar!« Die Reaktion des Manolers rief zustimmendes Nicken hervor. Einer der Cheborparner trat einen Schritt zurück, als habe er Angst, sich anzustecken. »Was hat dieser Tumult zu bedeuten? Erhebt sich das Volk gegen mich?«
Bernd Frenz Die meckernde, leicht gelangweilt klingende Stimme kam unvermittelt aus dem Hintergrund. Als wäre allein ihr Klang ein Befehl, verneigten sich alle Anwesenden. Sardaengar drehte mühsam den Kopf, bis die Fesseln in sein Fleisch schnitten, und sah zum Portal. Dort stand, umgeben von Leibwachen, Ratgebern, Priestern und Beamten, Marains, der Großfürst von Giascon. Er war klein für einen Cheborparner, reichte den meisten seiner ohnehin besonders groß gewachsenen Soldaten gerade mal bis zu den Schultern. Sein schwarzes Fell schimmerte seidig, und die Hörner waren poliert und mit goldenen Punkten verziert. Eine bunte, reich bestickte Robe spannte sich über seinen spitz vorstehenden Bauch, und einige der silbernen und goldenen Ketten, die er trug, wurden zum Teil von dem breiten Doppelkinn verdeckt. »Großfürst Marains, Ihr ehrt uns mit Eurer Anwesenheit!« Der Priester hob vorsichtig den Kopf. Marains blickte an ihm vorbei auf Sardaengar. »Ist das der Dämon, der die ganze Stadt verrückt macht?« »Ja, mein Fürst.« »Was hat er getan?« »Dies sind die Zeugen.« Der Manoler zeigte auf die vier Bewacher, die den Karren mit ihrer Beute bis in den Audienzsaal geleitet hatten. Zwei von ihnen waren Cheborparner, die anderen beiden gehörten anderen Völkern an. Bei einem handelte es sich um einen Hasproner, ein knapp ein Meter vierzig großes Wesen mit breitem, humanoid wirkendem Oberkörper und einer unteren Körperhälfte, deren zotteliges Fell und gespaltene Hufe mehr an eine Ziege erinnerten. Breite Knochenkämme entsprangen dem Schädel, die Augen zuckten nervös. Hasproner waren bekannt für ihre mathematischen Fähigkeiten und ihr fotografisches Gedächtnis. Die Kleidung dieses älteren Mannes ließ darauf schließen, dass er seinen Lebensunterhalt als Händler verdiente. Direkt neben ihm stand ein Chretkor. Er war ebenso groß wie der Hasproner, aber
Die Technostadt sein nackter, hagerer Körper war wie bei allen Angehörigen seines Volks völlig transparent. Sardaengar konnte die inneren Organe erkennen, das Skelett, sogar einen Teil der Muskelfasern. Das Blut war ebenso transparent wie die Adern, durch die es floss. Eine Eigenart des Metabolismus bedingte, dass die Körper einerseits rasch auskühlten und bei Außentemperaturen von unter zwanzig Grad träger wurden, andererseits bei höheren Gradzahlen an Reaktionsschnelligkeit gewannen. Chretkor waren beliebte Artisten und Gaukler, die jedoch ständig in der Gefahr lebten, in ein Kältekoma zu fallen oder ihren Körper zu überhitzen. Ein Cheborparner trat vor. Er trug nur einen Lendenschurz und hatte verfilztes, dreckiges Fell. »Ich habe gesehen, was passiert ist, Herr.« Marains setzte sich auf einen hohen dunklen Holzthron, in dessen Kissen er beinahe versank. Ein Diener stellte sich ungefragt mit einem Tablett neben ihn. Darauf standen eine Weinkaraffe, ein gefüllter Kelch und ein Teller voller gegrillter Fische. Die Höflinge nahmen ihre Plätze ein wie Schauspieler auf einer Bühne. »Dann rede«, befahl der Großfürst mit einer nachlässigen Geste, »bevor der Schlaf mich übermannt!« »Ja, Herr.« Der Cheborparner schluckte und räusperte sich. »Der Dämon tauchte am Avoné auf, um uns zu täuschen, aber Selonad zwang ihn, uns seine wahre Gestalt zu offenbaren.« »Gelobt sei Selonad«, unterbrach der Manoler. »Gelobt sei Selonad«, wiederholten die vier Zeugen. »Als der Dämon sah, dass er uns nicht täuschen konnte, griff er an«, fuhr der Cheborparner fort. »Eine alte Frau verbrühte er mit ihrer eigenen Suppe, dann stieß er einen alten Mann ins Wasser. Er versenkte zwei Boote und aß all meine gegrillten Fische. Er beschmutzte die Wäsche auf einem Boot und zerstörte das Deck. Er hätte uns alle umgebracht, hätte ich ihm nicht ein Paddel über
29 den Kopf gezogen.« »Gelobt sei Selonad.« Beinahe hektisch trat der Cheborparner zurück. Marains trank einen Schluck Wein und gähnte. »Haben die anderen Zeugen das Gleiche gesehen?« Der andere Cheborparner und der Chretkor nickten. »Ja, mein Fürst. Kronoul spricht die Wahrheit.« Marains' Blick fiel auf den Hasproner. »Und was ist mit dir?« Der ältere Mann kratzte sich nachdenklich an seinem Kinnbart. »Nein, mein Fürst, ich habe nichts von diesen Taten gesehen. Ich sah eine alte Frau, die mit dem Suppenkessel nach dem Dämon werfen wollte und ausrutschte. Ich sah einen alten Mann, der vor Schreck ins Wasser fiel. Ich sah ein Boot, dessen Ladung verrutschte, als der Dämon darauf sprang, und ein Boot, in dessen aufgehängter Wäsche er sich verfing. Ich sah ein Brett, auf dem sechsundzwanzig Fische lagen, und den Cheborparner, der es stahl. Und dann sah ich, wie der Dämon gegen einen Balken prallte und zusammenbrach. Mehr habe ich nicht gesehen, mein Fürst.« Stille senkte sich über den Audienzsaal. Ein Chretkor-Höfling reckte sich zu Marains hinauf und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sardaengar beobachtete, wie sein Kehlkopf auf und ab hüpfte und sein Kiefer sich bewegte. Er wünschte, er hätte etwas zu seiner eigenen Verteidigung beitragen können, aber er benötigte seine volle Kraft für den Kampf gegen die Ausstrahlungen des Kristallmondes. Raunen und Flüstern drangen immer lauter aus dem blendend weißen Licht, das Sardaengars Bewusstsein umfing. Für einen Augenblick glaubte er den Kristallmond zum Greifen nah vor sich zu erkennen und mobilisierte alle Abwehrkräfte. Nur zögernd klang das Wispern ab, das Licht verblasste etwas. Es war nur ein kurzfristiger Erfolg, dessen war sich Sardaengar sicher. Der Großfürst neigte schließlich den Kopf und stellte seinen Weinkelch zurück auf das Tablett.
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»Die Aussage eines Hasproners«, begann er, »wiegt schwerer als die eines anderen Untertanen. Wir alle wissen das. Allerdings zweifelt auch er nur die Taten des Dämons an, nicht seine Existenz. Daher fällen wir folgendes Urteil: Dem Angeklagten bleibt das reinigende Feuer zunächst verwehrt, bis wir Gewissheit über seine Herkunft und den Grund seines Hierseins haben. Zu diesem Zweck soll er im Gefängnis Lirail befragt werden.« Er griff zu einem gegrillten Fisch. »Und nun entfernt den Angeklagten. Sein Anblick beleidigt meine Augen.« Die Bewacher wendeten den Karren. Kronoul schüttelte den langen, behaarten Kopf, während er Sardaengar nach draußen fuhr. »Der Hasproner hat dir keinen Gefallen getan, Dämon«, sagte er leise. »Das Feuer wäre besser für dich gewesen. Alles ist besser als das Lirail.« Er klang beinahe so, als bedauere er das Wesen, das er noch vor kurzem hatte töten wollen.
* Es war Sardaengars letzte klare Erinnerung: Man hatte ihn in Ketten gelegt und direkt vom Palast des Großfürsten auf ein Boot gebracht. Jetzt fuhr es über den Kanal Donan auf eine Insel zu, die von einem gewaltigen, gut hundert Meter hohen, trutzigen, achteckigen Bau beherrscht wurde. Türme mit Zwiebelkuppeln überragten die Mauern um weitere dreißig Meter. So hoch und breit das einzige Tor auch war, es wirkte neben ihnen wie eine kleine Tür. Sardaengar betrachtete die leichten Wellen des Kanals, in denen sich das Sonnenlicht brach. Der Wind spielte mit dem langen Fell seiner Mähne. Alles war so klar, als würde es gerade erst geschehen. Doch das tat es nicht. Es war nur einer der zahlreichen Schutzmechanismen, hinter denen sich Sardaengar vor dem Einfluss des Kristallmondes und den Schmerzen der Folter verbarg. Er war in eine tiefe Trance gefallen, in der selbst die
Folterknechte ihn nicht mehr erreichen konnten. Manchmal spürte er ihre glühenden Eisen und die Metallringe, die sie um seine Gliedmaßen legten. Manchmal hörte er sogar ihre meckernd gebrüllten Fragen, doch meistens war er allein mit seinen Erinnerungen. Die Folter kostete ihn nur Kraft, mehr nicht. Der Herr der Welten wusste nicht, wie lange er bereits im Gefängnis saß. In diesem Trakt gab es keine Fenster, und die Wände waren meterdick. Er schätzte, dass rund zehn Tage seit seiner Gefangennahme vergangen waren, doch mit Sicherheit konnte er das nicht sagen. Zu sehr war er mit sich selbst beschäftigt. Er hatte den Angriffen des Kristallmondes nur noch wenig entgegenzusetzen. Selbst in seine Trance verfolgte der Mond ihn, jagte ihn durch seinen Geist und versuchte, in seine ureigenste Essenz einzudringen. Sardaengar baute seine Erinnerungen wie Verteidigungswälle um diese Essenz auf. Er verlor sich in ihnen, glitt durch die Jahrtausende so mühelos, wie ein Vogel durch die Luft glitt. Er war wieder auf Larsaf II oder Larsa, wie man die Venus damals nannte. Seit einem Arkonjahr hielt er sich dort auf, arbeitete als Chefmathematiker im Forschungszentrum der Kolonie. Wie war noch gleich sein Name? Trento, ja, das war es. Er nannte sich Trento, und sein oberster Vorgesetzter war der von allen gehasste und gefürchtete Tato Amonar da Cicol. Amonars Ehrgeiz schien keine Grenzen zu kennen. Er hatte die Kolonie im Larsaf-System aus dem Nichts gestampft, Städte und Raumhäfen anlegen und sogar ein Robotgehirn von solchen Ausmaßen bauen lassen, dass alle Wissenschaftler und Mathematiker damit beschäftigt waren, den Automaten zu perfektionieren. Die Kolonisten zählten für Amonar nicht. Er schreckte nicht einmal davor zurück, sich seinen Ruhm mit ihrem Leid und Blut zu erkämpfen. Ein Kolonist, dessen Name Trento nicht kannte, sorgte mit seinem Hilferuf schließ-
Die Technostadt lich dafür, dass Kristallprinz Atlan in das System geschickt wurde, um sich selbst ein Bild der Lage zu machen. Maßlose Übergriffe und unnötige Härten fanden innerhalb von vier Pragos ebenso ein Ende wie der offensichtliche Versuch, in dem abseits gelegenen Sonnensystem einen Staat nach eigenen Vorstellungen aufzubauen. Die Truppen hatten hart und unerbittlich zugeschlagen, als Amonar ergebene Soldaten versucht hatten, ihren Herrn zu verteidigen. Waffen waren eingesetzt worden, die der Tato ohne Wissen des Großen Rates bei den Mehandor eingekauft und im Festungsring des noch unvollendeten Robotgehirns installiert hatte. Während ein Folterknecht seine Eisen im Feuer erhitzte und andere sich mit der Winde der Streckbank beschäftigten, dachte Sardaengar scheinbar völlig unberührt: Ich weiß sogar noch das Datum. Es war der 15. Prago des Messon 10.512 da Ark. An diesem Tag traf ich den Kristallprinzen des Tai Ark'Tussan persönlich bei einem Empfang in meinem Haus. Ein ordentliches Haus, wenn auch nicht vergleichbar mit dem, das Amonar sich errichtet hatte. Das Administrationsgebäude in der Hauptstadt, die der Tato nach sich selbst Amonaris genannt hatte, war natürlich mit weitem Abstand der prunkvollste Trichterpalast. Atlan, als Has'athor der Kommandeur des 132. Einsatzgeschwaders, kam in Begleitung des Kommandanten der TOSOMA … Etwas zischte und schmorte. Fürchterlicher Gestank breitete sich aus. Irgendwo knackte es, Stimmen brüllten durcheinander. Flackernder Fackelschein schuf bewegte Schatten, die auf bizarre Weise ein Eigenleben zu entfalten schienen, Tiefe und Substanz gewannen und zu kichernden und geifernden und Sardaengar verhöhnenden Gestalten heranwuchsen. Sie unterhielten sich, sprachen lange über die Fortschritte der Kolonie, über Amonar aus dem bis dahin eher unbedeutenden Khasurn der da Cicol und seine ehrgeizigen Visionen. Es war eine freundliche,
31 wenn auch meist oberflächliche Unterhaltung, doch Trento entgingen weder Atlans subtile Fragen noch seine Sorge um die Kolonie. Für einige Augenblicke roch Sardaengar sein eigenes verbranntes Fleisch, fühlte zersplitterte Knochen, ausgerenkte Gelenke und halb zerquetschte Finger. Für Augenblicke durchzuckte ihn, als schwebe er über sich, der erschreckende Anblick des eigenen, geschundenen Körpers – ein Bild, das fast augenblicklich von jenem aus der fernen Vergangenheit ersetzt wurde. Als Trento war er ein sehnig schlanker Arkonide gewesen, gepflegt die silbrig weißen, schulterlangen Haare, markant das Kinngrübchen … Eine Gestalt, die nicht einmal neben dem Kristallprinz eine schlechte Figur gemacht hat, durchfuhr es Sardaengar mit einem Anflug von Eitelkeit. Du hast sie gerettet. Du hast Amonar nach Arkon bringen lassen und die Kolonisten gerettet – und der scheußliche Geruch reizte zum Würgen, so dass … … die Erinnerung verwehte, kurz dem Schmerz von Schlägen und der Brandeisenfolter Platz machte, dann aber wieder ersetzt wurde durch die Bilder aus der Zeit auf Larsaf III, durch die jahrtausendelange Wanderung. So viel hatte er gesehen, so viele Gestalten angenommen. Er erinnerte sich an Atlantis, an die Pracht und den katastrophalen Untergang, an Primitive und Seuchen, die die Städte entvölkerten, und Kriege, die das Land verwüsteten. Die Erinnerungen reihten sich aneinander, und er tauchte durch sie hindurch, tiefer, immer tiefer hinein in seine Vergangenheit und seine ureigenste Identität. Hinter all den Gestalten, den Persönlichkeiten, den Jahrtausenden verbarg sich doch nur einer, der … Sardaengar schrak hoch, als etwas wie ein heißes Messer in seinen Geist stach. Im ersten Moment glaubte er, die Folter habe ihn jetzt doch erreicht, doch dann erkannte er, dass er längst wieder allein in seiner Zelle lag. Der Schmerz verwandelte sich in Entsetzen, als Sardaengar plötzlich begriff, was geschehen war, welche schreckliche Tat ihn
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aus seiner Trance gerissen hatte. Litrak ist frei! Der Gedanke ließ seinen Körper erbeben. Atlan hat ihn aus der Eisgruft befreit. Mit unendlicher Mühe nahm Sardaengar seine letzten Kräfte zusammen, mobilisierte Reserven, deren Existenz er nicht einmal geahnt hatte. Er wusste, dass er nach diesem gewaltigen Akt nichts mehr übrig haben würde, um den Kristallmond zu bekämpfen, doch das interessierte ihn nicht mehr. Seine paranormalen Sinne schossen aus ihm heraus, fanden den Geist von Lelos Enhamor und gruben sich in ihn hinein. Sardaengar sah Atlan durch dessen Augen, spürte, wie Enhamors Mund sich öffnete, um seine Worte zu sprechen. »Kristallprinz!«, keuchte er mit Enhamors Stimme. »Was hast du getan? Litrak ist frei! Wer soll ihn jetzt noch aufhalten?« Atlan schien antworten zu wollen, doch in diesem Moment brach die Verbindung ab, und Sardaengar fiel entkräftet in sich zusammen.
7. Gegenwart Vinara III, 29. April 1225 NGZ – Atlan Mal wieder typisch, Beuteterraner!, fuhr der Logiksektor fort. Es gibt wirklich keinen Teil der Galaxis, in dem dein schlechter Ruf nicht bereits Legende ist! Während die spöttische Bemerkung unerwidert in mir verhallte, überlegte ich, woher Sardaengar mich kennen konnte. Hatte er vielleicht nur von mir gehört? Nein, dafür klangen seine Worte zu direkt, zu anklagend, ja … zu persönlich. Die Holoprojektion in der Silbersäule hatte ihn in der Gestalt eines Varganen gezeigt, mit den Erinnerungen Nevus Mercova-Bans war die Existenz eines lemurischen Tamrats namens Sardaengar verbunden, auf den Vinara-Welten galt der Herr der Welten als Uralter. Konnte es sein, dass ich ihm in den Jahrtausenden direkt begegnet war? Doch wo und wann? Auf der Erde? Stammte gar von
Sardaengar das Nachstellen der »Lakehurst-Katastrophe«? Natürlich wollte ich ihn fragen, wo wir uns schon einmal begegnet waren, doch es war sinnlos. Lelos Enhamor, durch den Sardaengar gesprochen hatte, schüttelte verwirrt den Kopf, während sich seine Grimasse allmählich glättete. Dem Moment der Erleichterung, wieder Herr über seinen Körper zu sein, folgte der Augenblick des Erschreckens, als ihm klar wurde, welche Konsequenzen die telepathische Botschaft seines Herrn mit sich brachte. Lelos' Muskeln spannten sich vor Schreck an, bis er in völlig unnatürlicher Haltung vor uns stand. Beide Arme halb erhoben, Hände und Finger klauenförmig verkrampft, sah er von einem zum anderen, ohne den Kopf zu bewegen. Nur die Blicke seiner ängstlich leuchtenden Augen wanderten von links nach rechts und wieder zurück. Seine Lippen formten tonlose Worte, vermutlich im Vorgriff auf eine beschwichtigende Erklärung, die ihm erst noch einfallen musste. Damit würde er seine Ordensbrüder allerdings kaum beruhigen können. »Elender Perlenschleifer!« Caless Lilaks blauer Tellerkopf zuckte angriffslustig vor. »Du bist also der Verräter, der immer wieder unsere Pläne durchkreuzt! Weißt du eigentlich, wie viele unserer Brüder und Schwestern wegen dir sterben mussten?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stürzte sich der grazile Blue auf Lelos, packte ihn am Mantelkragen und schleuderte ihn zu Boden. Noch während der Großmeister über die Scholle schlitterte, trat Caless mit seinen kurzen Beinen auf das wehrlose Opfer ein. Ich lief zu den beiden, um die nutzlose Auseinandersetzung zu beenden, doch ehe ich den Blue zurückhalten konnte, winkelte er den Arm an und schlug mir in einer zielgenauen Rückwärtsbewegung den Ellbogen ins Gesicht. Ein kurzes Aufflackern von Caless' hinterem Augenpaar warnte mich gerade noch rechtzeitig, so dass der Stoß die Stirn statt des Nasenbeins traf. Trotzdem zuckte ein
Die Technostadt heller Blitz durch meinen Kopf. Verdammt, ich hatte die Aggressivität des Einhundertjährigen unterschätzt. Und glatt vergessen, wie schwierig es war, jemanden überraschend anzugreifen, der Augen im Hinterkopf hatte. Als sich mein Blickfeld wieder klärte, hatte Lelos die Gelegenheit genutzt, um aufzuspringen und sich zur Wehr zu setzen. Mit beiden Händen packte er den schlauchdünnen, knochenlosen Hals seines Kontrahenten und zerrte ihn vor und zurück, bis der Diskuskopf ins Schwingen geriet. Gänzlich unbeeindruckt von der Gegenwehr, schlug der Blue weiter wie rasend auf Lelos ein. Schlag um Schlag prasselte nieder, bis der Arkonide von dem Hals ablassen musste und die Fäuste zum Schutz vors Gesicht hob. Lilak ergriff die Handgelenke des Großmeisters und zerrte ihn mit brachialer Gewalt über die glatte Eisfläche. Ich hegte nicht den geringsten Zweifel an der Absicht des Blues. Er wollte den Verräter seines Ordens kurzerhand in die Tiefe befördern. Während ich den Kopf schüttelte, um die Funken und Sterne zu vertreiben, die der Stoß hatte aufleuchten lassen, sah ich zu Tamiljon hinüber und musste feststellen, dass von ihm keine Hilfe zu erwarten war. Der Kampf auf Leben und Tod, der sich vor seinen Augen abspielte, schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren. Den Kopf zur Seite geneigt, stand er geistesabwesend da, wie jemand, der einer fremden Stimme lauschte. Fluchend setzte ich Lelos und dem Blue nach, um das Schlimmste zu verhindern. Pass auf dass du nicht zwischen die Fronten gerätst, warnte mein Extrasinn. Das hier ist nicht die richtige Arena für Heldentaten. Mir war klar, worauf der Logiksektor hinauswollte. Im nächsten Augenblick wurde seine Befürchtung bestätigt, als ich auf einen spiegelglatten Abschnitt geriet. Eine kalte Böe strich von hinten über die Plattform und drohte mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Mit einem langen Satz landete ich auf einer gefrorenen Schneedecke, die so stumpf
33 war, dass ich Halt auf ihr fand. Meine Reflexe funktionierten also einwandfrei, doch die Rutschpartie war mir eine Warnung. Wir alle bewegten uns auf instabilem Grund. Die Schwebende Stadt konnte jederzeit wieder zu torkeln beginnen, eine Aussicht, die angetan war, mir den Angstschweiß auf die Stirn zu treiben. Hinzu kam, dass wir uns auf einer fragilen Eisbrücke befanden, unter der eine alles zerfressende braune Masse brodelte. »Reißt euch zusammen!«, rief ich Lelos und Caless zu. »Wir müssen zusammenhalten, sonst gibt es für uns keine …« Meine Warnung stieß nicht nur auf taube Ohren, sie erfolgte auch zu spät. Beide Männer, die zwei Schritte vom Schollenrand entfernt erbittert miteinander rangen, bekamen die Tücke des Untergrundes zu spüren. Zuerst vernahm ich nur ein Knistern, das das Keuchen der gegeneinander Kämpfenden genauso übertönte wie meine Warnung. Dann platzte das Eis um sie herum auf. Scharfkantige Splitter schnellten in die Höhe, breite Risse entstanden. Die Brüche breiteten sich ringförmig aus, bis der Boden unter den beiden abrupt nachgab. Schreiend sackten sie einen Meter in die Tiefe, knickten zur Seite und verschwanden aus meinem Gesichtsfeld. Jegliche Vorsicht – und den Rat meines Logiksektors – missachtend, eilte ich auf die eingebrochene Stelle zu. Nach wenigen Schritten erkannte ich, dass es sich um einen großen, halbrunden Lufteinschluss handelte, der nur von einer dünnen Eisdecke abgedeckt worden war. Für Lelos und Caless hatte sich der auf zwei Meter abfallende Kanal in eine Rutschbahn verwandelt, der sie mit Schwung über den Schollenrand hinausbeförderte. Ich stöhnte leise auf, als die beiden tief unter mir auf dem Plattformfundament der Goldenen Stadt aufschlugen. Einige Stränge des brodelnden Shainshar schossen ihnen entgegen, hungrigen Schlangen gleich, die sich aus dem ätzenden Sud emporstreckten, um den ersten Bissen zu erhalten. Eine völ-
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lig unnötige Gier, rein von Instinkten gesteuert, denn schon eine Zehntelsekunde später tauchten die beiden tief in die braunen Fluten ein. Sie verschwanden vollständig darin. Was das Shainshar einmal aufgesogen hatte, gab es nie wieder her. Die braune Masse bildete zwei Ausstülpungen, die mich von der Größe und Form her fatal an die beiden Körper der Ordensmitglieder erinnerten. Rasend schnell flossen sie ins Zentrum des mehrere hundert Quadratmeter umfassenden Pfuhls und lösten sich dabei schon auf. Ich ahnte, was mit den beiden Männern geschah. Doch der Verdauungsprozess dauerte nur wenige Sekunden, dann fiel die Aufwölbung in sich zusammen, und die Wucherungen suchten wieder vor Ort nach neuen Beutestücken. Erschüttert wandte ich mich ab. Nicht wegen des unbarmherzigen Shainshar, das nur seiner Konditionierung folgte, sondern weil die beiden Männer ihren Tod selbst verschuldet hatten und er völlig unnötig gewesen war. Meist ist der Mensch des Menschen größter Feind – Homo Homini Lupus, dachte ich in Anlehnung an den alten terranischen Ausspruch. Dabei wäre es viel wichtiger gewesen, einen gemeinsamen Weg aus der Misere zu finden. Dass Lelos und Caless jetzt fehlten, würde uns vielleicht noch in arge Schwierigkeiten bringen. Mit dieser Meinung schien ich allerdings allein dazustehen. Zumindest Tamiljon, der sich die ganze Zeit keinen Millimeter von der Stelle gerührt hatte, zeigte nicht das geringste Anzeichen von Trauer. Im Gegenteil. Er begann schallend zu lachen.
* Ich bemühte mich um ein möglichst ausdrucksloses Gesicht, als ich mich dem schwarzhäutigen Viin näherte. Ich schlenderte mehr, als dass ich ging, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Er sollte glauben, dass mich der Tod unserer Kameraden genauso
wenig berührte wie ihn. Gut, lobte der Extrasinn. Auf ein weiteres Gerangel, wie es Lelos und Caless ins Unglück gestürzt hat, kannst du wirklich verzichten. Als ich eine Armlänge von Tamiljon entfernt war, blieb ich stehen und kratzte mich scheinbar gedankenverloren an der Schläfe. Der Viin in dem schwarzen Lederoverall, der fast Ton in Ton mit der Haut des Mannes harmonierte, hatte sich noch nicht beruhigt. Ein Blick in seine vor Hohn triefende Miene verriet mir, dass er keineswegs aus einem Schock heraus lachte. Scheinbar schien ihn der tödliche Sturz von Lelos und Caless tatsächlich zu amüsieren. Ich ballte die andere Hand zur Faust und schlug ansatzlos zu. Genau auf den Punkt und zu schnell, als dass Tamiljon noch zu einer Abwehr fähig gewesen wäre. Ich traf ihn genau an der Kinnspitze, und er sank besinnungslos zusammen. Schnell sprang ich vor, fing ihn auf und ließ ihn sanft zu Boden gleiten, bevor er mit dem Hinterkopf auf dem Eis aufschlagen konnte. Ich wollte ihn ruhig stellen, nicht ernsthaft verletzen. Lass dir nicht zu viel Zeit, mahnte der Logiksektor. Euer derzeitiger Aufenthaltsort beinhaltet viele Risiken. »Mir bleibt keine andere Wahl«, hielt ich laut dagegen, während ich den Viin vorsichtig auf das Eis bettete. Kaum von der Last befreit, warf ich einen nachdenklichen Blick auf mein Quecksilberarmband. In den vergangenen Stunden hatte es meinen gedanklichen Anordnungen Folge geleistet, nun galt es auszuprobieren, wie weit die Kontrolle wirklich reichte. Ich brauchte einen Augenblick, um meine psychischen Schwingungen auf die Nanomodule einzustellen, dann spürte ich ein leichtes Prickeln unter der Schädeldecke. Der Kontakt war etabliert. In Gedanken formulierte ich eine Reihe von Befehlen, nicht nur in Worten, auch in Gefühlen und Bildern. Die Reaktion erfolgte prompt. Ein Teil der Partikel verließ das Armband und gruppierte sich zu einem silbrigen Faden,
Die Technostadt der in einem leichten Bogen zu Tamiljon sprang. Ich erteilte einen weiteren Befehl, und die Module sammelten sich an seinem Kehlkopf, um von dort nach links und rechts zu strömen, bis die beiden Enden sich vereinigten. Innerhalb weniger Sekunden entstand ein hauteng anliegendes silbernes Halsband. Über meine gedankliche Verbindung programmierte ich das »Schmuckstück« auf seine bevorstehende Aufgabe und beugte mich dann über den Bewusstlosen, dessen Augäpfel bereits unter den Lidern zu wandern begannen. Ein paar Ohrfeigen weckten ihn auf. Er schüttelte sich, schien einen Augenblick lang nicht zu wissen, wo er sich befand oder was geschehen war. »Was … soll das?«, protestierte er schließlich und richtete sich schwerfällig auf. »Bist du verrückt geworden?« Seinem empörten Blick nach zu urteilen, sah er sich tatsächlich als Opfer einer Ungerechtigkeit und verstand nicht, womit er eine so grobe Behandlung verdient hatte. Allerdings wirkte er wieder ganz normal. Falls er unter einem fremden Einfluss gestanden hatte, war er verschwunden. Aber unter welchem Einfluss sollte er gestanden haben? Dass er ein falsches Spiel mit mir trieb und mir nie die ganze Wahrheit gesagt hatte, war mir schon lange klar. Hatte Sardaengar etwa auch ihn übernommen? Oder … Ich dachte an den Kristallsplitter, der ihm in den Hals eingedrungen war, als Litrak in der Eisgruft erwacht war. Dann gönnte ich ihm ein Lächeln der kältesten Art. »Schluss mit dem Theater. Seit wir uns kennen, suchst du nur deinen Vorteil und verschweigst mir, was du kannst. Ich habe die Nase voll von deiner Geheimnistuerei. Du wirst mir alles verraten, was du weißt.« Tamiljon öffnete den Mund, doch bevor er die Lüge aussprechen konnte, die ihm wohl auf den Lippen klebte, setzte ich hart nach. »Du bist Telekinet, nicht wahr?« Seine Pupillen weiteten sich vor Schreck, doch statt zu antworten, schluckte er nur trocken. Das war auch eine Möglichkeit, ein Einge-
35 ständnis zu machen, doch es reichte mir nicht. Ich grinste kühl. »Glaub mir, du wirst reden. Mach es dir nicht unnötig schwer.« Seine Lippen pressten sich trotzig zusammen. Ich konnte förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Dann zog sich das Silberband um seinen Hals plötzlich zusammen. Tamiljon riss die Augen auf; die Luft wurde ihm knapp. Röchelnd versuchte er, mit den Fingern unter das flexible Band zu fassen, doch gegen die Nanotechnik kam er nicht an. Zwischen seiner Haut und dem silbrigen Material war nicht einmal ein Millimeter Zwischenraum. »Ach ja«, entschuldigte ich mich scheinheilig. »Dein neues Schmuckstück reagiert auf jegliche Psi-Aktivität. Sobald du deine paranormalen Fähigkeiten einsetzt, schnürt es dir die Luft ab.« Seine Fessel lockerte sich wieder, und er atmete in tiefen Zügen ein, als hätte er schon seit Jahren und nicht erst seit Sekunden darauf verzichten müssen. »Du bist wahnsinnig«, krächzte er. »Nein, nur ungeduldig.« Manchmal würde ich Tamiljon durchaus zustimmen, meldete sich der Extrasinn süffisant zu Wort, fügte aber rasch hinzu: Allerdings nicht im Moment. Im Gegenteil. Deine Taktik scheint aufzugehen. Diese Beobachtung deckte sich mit meiner. Dass Tamiljon der Verlust seiner Parasinne zutiefst verunsicherte, war nicht zu übersehen. Nervös rutschte er auf dem Eis zurück und sah ängstlich zu mir hoch. Er spürte, dass ich ihn durchschaut hatte und nicht lockerlassen würde, bis ich alles über ihn wusste. »Also?«, schnauzte ich. »Beeil dich lieber! Niemand weiß, wann die Stadt wieder ins Trudeln gerät. Oder wir in wärmere Gefilde abdriften und unser kleines Vogelnest zu schmelzen beginnt. Ein paar Grad reichen schon, um das Eis an den Türmen zu lockern. Den Rest besorgen die Vibrationen. Dann fallen wir mit der Scholle, auf der wir stehen, in den Pestmoloch unter uns.« Selbst mir lief es kalt über den Rücken,
36 als ich unsere Zukunft so düster ausmalte. Tamiljon stürzten meine Worte jedoch in Panik. Seine Pupillen, die wie schwarze Inseln auf den gelblichen Augäpfeln schwammen, glitzerten feucht. »Verdammt, was willst du von mir?«, flüsterte er. »Die Wahrheit!« »Ja! Ja!« Seine Worte hallten über die Eisfläche und übertönten sogar den laut pfeifenden Wind, der zwischen den Türmen entlangstrich. »Ich bin Telekinet! Du weißt es doch längst! Warum fragst du noch?« »Weil ich wissen will, warum du gelacht hast, statt deinen Ordensbrüdern zu helfen. Du hättest ihren Absturz verhindern können!« Ein Ausdruck der Verwunderung legte sich auf Sein Gesicht, dann ein Anflug von Entsetzen, als würde er sich plötzlich an etwas erinnern, was seit Äonen in den tiefsten Kammern seines Gedächtnisses begraben lag. »Ich … soll gelacht haben?«, fragte er nach kurzem Zögern, doch ich spürte genau, dass er sich mit Schaudern an seine Reaktion erinnerte. Es sprach für ihn, dass er jetzt ein schlechtes Gewissen bekam, doch ich war nicht bereit, weitere Lügen durchgehen zu lassen. Ich runzelte die Stirn und bedachte ihn mit einem harten Blick, den ich mir in zahllosen Verhören angeeignet hatte. Als Lordadmiral der USO und bei anderen Gelegenheiten … »Du atmest wohl nicht besonders gern?« Tamiljon rang sofort nach Luft, obwohl ich dem Halsband noch gar keinen Befehl erteilt hatte. »Warum hast du deine Kräfte nicht eingesetzt?« Mehr Druck musste ich nicht ausüben. Sein Wille war gebrochen. Mehrmals setzte er zu einer Antwort an, brachte jedoch keinen Ton über die Lippen, bis es endlich aus ihm herausplatzte: »Meine Gabe lässt sich nicht ohne weiteres nutzen. Um sie zu wecken, muss ich die Lebenskraft eines in-
Bernd Frenz telligenten Wesens anzapfen und umwandeln. Solange ich allein auf mich gestellt bin, nutzt sie mir nichts. Deshalb war ich auch hilflos, als mich die Termiten gefangen hielten! Ihre niedere Energie ließ sich nicht umwandeln. Mir waren die Hände gebunden, bis ihr gekommen seid!« Sein Redefluss, der sich eben noch mit jedem Wort gesteigert hatte, riss abrupt ab, als fürchtete er, schon zu viel erzählt zu haben. Vielleicht lag es an einem verräterischen Zucken meiner Augenbrauen, denn sein Geständnis löste in mir eine ganze Reihe von Überlegungen aus, die einige Vorkommnisse der jüngsten Vergangenheit in ein neues Licht rückten. »Jorge Javales«, erinnerte ich mich an meinen terranischen Begleiter, der die Entführung in den Termitenbau nicht überlebt hatte. »Es war mir damals schon ein Rätsel, warum er so rasch im Kokon erstickt ist. Dabei starb er in Wirklichkeit, weil du ihm Vitalenergie zu deiner eigenen Rettung abgezogen hast!« »Und zu deiner!«, erwiderte Tamiljon rasch, um sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, er hätte aus rein egoistischen Motiven gehandelt. Ich sah ihn scharf an. »Ich wollte deinem Begleiter kein Leid antun«, fügte er deshalb leise hinzu. »Das musst du mir glauben! Du weißt doch, wie es war … in diesem Kokon gefangen! Ich wollte mich befreien, geriet in Panik … Ich habe die Kontrolle verloren und Javales mehr Kraft abgezogen, als er ertragen konnte. Er war ja auch eingesponnen und musste um sein Überleben kämpfen! Das habe ich nicht bedacht … Es tut mir wirklich Leid. Ich wollte, ich hätte ihn ebenfalls befreien können.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern ab. Aus seinen Augenwinkeln quollen Tränen, die zu beiden Seiten seiner schmalen Nase feuchte Spuren hinterließen. Die Reue des Mutanten wirkte absolut echt. »Hätte ich dich damals schon gekannt, hätte ich mich natürlich an dich gehalten, denn deine Kraft ist ja unerschöpflich!« In seinem Eifer, sich reinzuwaschen, of-
Die Technostadt fenbarte Tamiljon ungewollt ein weiteres dunkles Geheimnis. Mein Verständnis für den reuigen Telekineten verpuffte schlagartig. Er hat mit seinen Sinnen die Kraft des Zellaktivators gespürt und dich von da an als wandelnde Batterie missbraucht, bestätigte der Extrasinn meinen Verdacht und konnte ihn obendrein durch fotografisch exakte Erinnerungen beweisen. Sowohl bei dem Absprung vom Obsidiantor als auch aus dem Zeppelin hast du eine ungewöhnlich hohe Belastung gespürt, die der Chip ausgleichen musste. Mir fielen weitere Gelegenheiten ein, bei denen es zu solchen Schwächeanfällen gekommen war. Übelkeit stieg in mir auf, wenn ich nur daran dachte, wie tief Tamiljon »in mir« gewühlt hatte, sich der Kraft meines Zellaktivators bedient hatte wie ein Parasit. Ich fühlte mich besudelt, ja regelrecht missbraucht. Schweig!, herrschte ich den Logiksektor an. Du hättest sofort darauf kommen müssen, dass Tamiljon ein Telekinet ist, der auf Vitalenergie intelligenter Wesen angewiesen ist. Die Umstände meiner Befreiung waren ja seltsam genug. Es gab Dutzende von möglichen Erklärungen, wie deine Befreiung erfolgt sein könnte. Hätte ich sie dir alle aufgezählt, hättest du mich wieder einmal als Labersektor beschimpft. Ich schnaubte und wandte mich an Tamiljon. »Deshalb hast du stets meine Nähe gesucht. Um nach Belieben Kraft aus mir zu schöpfen, mich auszusaugen und für deine Zwecke zu benutzen!« Mein Zornausbruch entfachte erneut seine Angst. »Aber dir wurde dabei kein Schaden zugefügt. Zumindest kein dauerhafter …« »Ach ja? Warum hast du mir nichts davon erzählt, wenn das alles so harmlos ist?« Tamiljon versuchte, meinem Blick standzuhalten, doch es gelang ihm nicht. Betreten sah er zu Boden. Das darauf folgende unangenehme Schweigen setzte ihm vielleicht noch stärker zu als meine scharfen Attacken.
37 Ich spürte, wie unbehaglich er sich fühlte, dachte aber gar nicht daran, die Stille zu brechen. Tamiljon sollte noch eine Weile schmoren. »Die Chance war einfach zu verlockend«, sagte er schließlich, ohne zu mir aufzusehen. »Ich wollte so gern ein Wächter werden, wie Hyancaran, mein Herr, doch dazu musste ich das Wohlwollen der Großmeister erlangen. Ich habe sofort deine machtvolle Aura gespürt, und die Begegnung mit dir erschien mir wie ein Wink Litraks, eine einmalige Gelegenheit, in den Ordensrängen aufzusteigen.« Als unsere Blicke sich trafen, liefen ihm wieder Tränen übers Gesicht. Sie schienen ihn nicht zu stören; vielleicht bemerkte er sie auch gar nicht. Der Ausdruck in seinen Augen wirkte entrückt, als würde er durch mich hindurch seine eigene Vergangenheit in weiter Ferne bildlich ablaufen sehen. »Und ich habe Recht behalten.« Seine Stimme klang gebrochen; Triumph schwang jedenfalls nicht in ihr mit. »Acazar Cateireo hat mich wegen meiner Verdienste vom Helfer zum Meister des Ordens befördert.« »Du warst zuvor also gar kein Kristallstab-Träger?«, warf ich ein, um seinen Redefluss in interessantere Bahnen zu lenken. »Nein«, gestand er leise. »Ich wurde noch nicht für würdig befunden. Nur besonders befähigte Geister durften Litraks Ehrenstab führen, etwa mein Herr Hyancaran, der ihn mir kurz vor seinem Tod anvertraut hat. Zuvor war ich nur sein Diener, der ihn auf all seinen Reisen begleitet hat.« Anvertraut?, lästerte der Extrasinn. Er wird wohl eher die Gunst der Stunde genutzt und den Stab an sich genommen haben. Insgeheim stimmte ich dieser Einschätzung zu. »Dann bist du also nie ein Wächter gewesen?« »Die wahren Wächter …« Tamiljons Stimme klang geradezu kläglich. »Die wahren Wächter«, nahm er einen zweiten Anlauf, »die Litrak persönlich ausgewählt hat, sind … bereits seit Äonen tot. Selbst Hyan-
38 caran war nur ein Kristallstab-Träger. Nach seinem Tod war ich auf mich allein gestellt gewesen. Aber Hyancaran hat mir viel von seinem Wissen verraten. Ich habe versucht, auf eigene Faust zu handeln, und gelernt, die Obsidiantore gezielt mit dem Stab zu steuern …« Ich atmete tief ein. Endlich erhellte sich für mich ein Teil der Hintergründe. Ich wünschte, ich hätte schon früher eine Möglichkeit gehabt, Tamiljon zum Reden zu zwingen. Doch seine paranormale Fähigkeit hatte ich erst mit Hilfe der erbeuteten Nanotechnologie ausschalten können. Davor war ich dem dunkelhäutigen Mutanten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen. Es war kontraproduktiv, doch ich fragte mich, ob es Tamiljon möglich gewesen wäre, mich zu töten, indem er mir Vitalenergie abzog. Seine Parafähigkeit gegen meinen Zellaktivator … wer hätte den Sieg davongetragen? Wäre die Vitalenergie im Chip irgendwann erschöpft gewesen, oder wäre Tamiljon an der aufgenommenen Lebenskraft zugrunde gegangen, an einem Übermaß von Sättigung geradezu geplatzt? Ich verdrängte den Gedanken und hörte Tamiljon zu. Einmal ins Reden gekommen, zeigte er sich überraschend offen und ehrlich. Einige Dinge behielt er aber trotz beharrlichen Nachfragens weiter für sich. Etwa, woher seine Gleichgültigkeit beim Tod der Ordensbrüder herrührte. Darauf konnte oder wollte er mir keine Antwort geben, wobei ich nach einiger Zeit durchaus zur ersten Möglichkeit tendierte. Überhaupt fragte ich mich, wie ich Tamiljon nun einschätzen sollte. Einerseits konnte ich seine Motive verstehen. Er hatte sich sein Leben lang zurückgesetzt gefühlt und schließlich die sich ihm bietende Chance mit aller Macht nutzen wollen. Andererseits durfte ich nicht vergessen, dass er mich hintergangen und für seine Zwecke vor den Karren gespannt hatte. Wie sollte ich also mit ihm verfahren? Ich wusste es nicht. Aber ich kam nicht mehr dazu, eine Entscheidung zu fällen.
Bernd Frenz Noch während ich mit mir rang, spürte ich eine Veränderung. Zuerst befürchtete ich, die Technostadt geriete erneut ins Trudeln, doch dann überfiel er mich schon – der schreckliche und doch vertraute Schmerz einer Entstofflichung. Verdammt! Litrak hatte also nicht nur die Stadt gestartet, sondern auch den Sprung programmiert, der nun mit einiger Verzögerung ausgeführt wurde. Ich erstarrte mitten in der Bewegung, während in meinem Inneren die Hitze explodierte. Die Transition wurde durchgeführt. Und niemand wusste, wohin.
8. Rückblende Vinara, 17. April 1225 NGZ – Li da Zoltral Bei dem silbernen Hohlspiegel handelte es sich um einen Holoprojektor, das erkannte Li sofort. Sie trat näher heran und strich mit der Hand über die raue Deckplatte des runden Gebildes. Die Berührung blieb nicht ohne Folgen. Ein leises Summen erklang, und im Fokus des Hohlspiegels glomm ein blauweißer Glanz auf, der sich über die gesamte Innenwandung ausbreitete. Li spürte ein Prickeln unter ihren Schläfen. Tastend und forschend, aber nicht unangenehm. Eher passiv – und auf Anweisungen wartend. Sie lächelte schwach. Sie kannte sich mit Nanomodultechnik aus, hatte schon oft mit ihr gearbeitet. Außerdem hatte sie ihr Auftraggeber gut instruiert. Sie brauchte nur Sekunden, um ihre Gedanken auf die Kontaktfrequenz einzustimmen. Der Rang einer Beauftragten des Kosmokratenroboters Samkar verschaffte ihr problemlos Zugang zu allen gespeicherten Daten. Ihre Sinne stießen tief in das neurale Geflecht der Gebirgsbastion vor und forderten Informationen über die Vergessene Plattform an. Leise knisternd baute sich ein Spannungsfeld in dem nach innen gewölbten Spiegel auf. Der blauweiße Glanz verstärkte sich. Winzige Energiebögen schnellten hoch
Die Technostadt und verschwanden wieder. Dann fuhr ein vielfarbiger Lichtstrahl aus dem Fokus der konkaven Silberschüssel und projizierte neben ihr ein Abbild der schwarzen Quaderplattform in die Luft. Ortung einer machtvollen Aura, pulsierte es durch ihr Bewusstsein. Es handelt sich um die Ausstrahlung eines Imaginären. Damit konnte nur sie gemeint sein. Sehr interessant. Sardaengar hatte sich also der aufgetauchten Station gründlich gewidmet. Wie selbstverständlich rief Li weitere Daten und Bilder ab, um den Geheimnissen dieses seltsamen Herrschers auf die Spur zu kommen. Zu ihrer Überraschung stieß sie dabei auch auf eine Ortung des Arkoniden Atlan, der auf Vinara Vier, einer der vier Spiegelwelten, materialisiert war. Den Daten zufolge hatte Sardaengar mit seinen Parasinnen Atlans Ritteraura gespürt, und mehr noch – er kannte den Arkoniden sogar persönlich. Außerdem beobachtete der Uralte die Expedition einiger TOSOMA-Besatzungsmitglieder unter der Leitung von Lethem da Vokoban. »Eine Verkettung von Zufällen«, murmelte Li. »Zuerst die Aktivierung der Bewusstseinstransferanlage, deren Emissionen die Vergessene Positronik anlockten und die unkontrollierte Transmitterzone im Zentrum des Sonnentransmitters entstehen ließen. Dann öffneten sie den Zugang zur ohnehin löchrig gewordenen Obsidian-Kluft. Was daraus erwachsen kann, ist nicht abzusehen.« Aber die offensichtlichen Folgen waren schon bedeutsam genug gewesen, um Samkar reagieren zu lassen. Deshalb hatte er sie ausgeschickt, das Schlimmste zu verhindern. Während sie weiter das Schnittgewitter schnell wechselnder Projektionen verfolgte, wuchs in ihr die unangenehme Befürchtung, der gestellten Aufgabe allein nicht gewachsen zu sein. Atlans Hilfe mochte in diesem Fall unentbehrlich sein. Blieb nur zu hoffen, dass der Arkonide sich richtig verhielt und nicht wieder seine übliche Renitenz an den Tag legte, die alles nur noch schlimmer
39 machte. »Wenn wir scheitern, sind die Bewohner der Obsidian-Kluft verloren«, murmelte sie leise; die stetig auf sie einströmenden Informationen machten es fast unmöglich, einen eigenen Gedanken zu fassen. »Und die Gefahr ist noch viel größer. Der Hyperspeicher der On- und Noon-Quanten ist durchlässig geworden, wie Samkar es befürchtet hat.« Sie vermutete, dass es dem Roboter der Kosmokraten hauptsächlich um diese Quanten ging. Sie stellten eine Gefahr dar, die mehr als nur eine Galaxis vernichten konnte. Zur Beseitigung eines vergleichbaren Unheils hatten die Kosmokraten sogar einmal eine Materiequelle manipuliert. Damals, um BARDIOCS Sporenschiff PAN-THAU-RA … Der aufblitzende Gedanke brach ab. Die Daten in Sardaengars Speicher ergänzten Lis bisherige Kenntnisse bis ins Detail. Vor Äonen waren tatsächlich große Teile von Litraks Bewusstsein mit der Hypertronik verschmolzen, dem Rechner des Kristallmondes. Später hatte die Psi-Materie einen kristallinen Körper erschaffen, der allerdings noch handlungsunfähig war. Doch die gesamte Obsidian-Kluft, ursprünglich als eine Art Backup-System geschaffen, war nun in Aufruhr geraten. Kräfte drohten freigesetzt zu werden, deren Macht sogar für sie eine kaum verstellbare Dimension erreichte. PsiMaterie mit dem Volumen eines Mondes! Wenn Litrak wirklich erwachte, würde das Chaos noch viel schlimmer werden. Li versuchte, den Kern des Kristallmondes mit Hilfe der Modultechnik zu erreichen – und fluchte schon nach wenigen Sekunden leise auf. Jedes Mal, wenn sie sich auf die Hypertronik konzentrierte, erschien nur ein schattenhafter, walzenförmiger Körper, mit dem sie unbewusst – von dem ihr mitgegebenen Wissen geprägt – die Farbe Kobaltblau assoziierte. Die Befürchtung wurde zur Gewissheit. Wenn sie die letzten Geheimnisse des Backup-Systems lösen wollte, musste sie den Kristallmond aufsuchen und direkt zur Hypertronik vordringen. Doch die Geräte ih-
40 res Anzugs waren nahezu vollständig ausgefallen. Sie musste also nach neuen Wegen suchen. Konnte ihr dabei das Obsidiantor helfen? Noch während sie über die Frage nachdachte, formte sich neben ihr ein holografischer Querschnitt der Anlage, und die pulsierende Stimme in ihrem Kopf meldete: Negativ. Obsidiantore dienen nur zum Wechsel zwischen den Spiegelwelten. Verwandte Themen: Silbersäulen, Goldene Technostädte … Die Silbersäulen kannte sie bereits, über die Städte, die als schwebende Plattformen dargestellt wurden, wusste sie dagegen kaum etwas. Von den angebotenen Mentalzugriffen entschied sie sich spontan für die Realzeit-Fernaufnahme einer nur wenige hundert Kilometer entfernt schwebenden Wolkenstadt. Völlig unbefleckt von biologischem Leben, beherbergte sie lediglich eine Vielzahl von Reinigungs- und Reparaturrobotern, die die Systeme in einwandfreiem Zustand hielten. Li pfiff leise auf. Die auf sie einströmenden Daten verrieten ihr, dass die Goldenen Technostädte ursprünglich aus der PsiMaterie des Kristallmondes materialisiert waren, genau wie die Silbersäulen, Ovalroboter und praktisch alle anderen technischen Gegenstände auf den Vinara-Planeten. Durch von außen hinzugekommene Fremdkomponenten waren sie aber längst zu etwas Eigenständigem geworden. Eine weitere wichtige Information hätte sie in der beachtlichen Datenfülle fast übersehen: Innerhalb des Kraftfeldes, das die Schwebende Stadt umgab, existierte keine Technikblockade! Spontan entschloss sie sich, diesen Umstand zu nutzen. Gewähre Zugang zur Steuerung, trug sie den Nanomodulen auf. Sekunden später wurde der Kontakt etabliert. Rechts oberhalb der Totale, die die Stadt in einer Realzeit-Fernaufnahme zwischen den Wolken zeigte, entstand ein rechteckiger Ausschnitt, der Steuerungselemente, Höhenmesser und einen künstlichen Horizont zeigte. Der Zugriff erfolgte über Gedankenbe-
Bernd Frenz fehle. Doch plötzlich stieß sie auf Schwierigkeiten. Sie erreichte zwar die Steuerung, doch die reagierte bestenfalls schwerfällig, schien sich sogar gegen den fremden Einfluss zu wehren. Auf der Holodarstellung verfolgte Li, wie die aufragenden Goldtürme ins Wanken gerieten. Einen Moment lang befürchtete sie, sie würden abbrechen. Dann erkannte sie, dass die Schwingungen von der Basisplattform ausgingen. Sie versuchte gegenzusteuern, doch da ihre Befehle nur mit Verzögerung umgesetzt wurden, erreichte sie genau das Gegenteil. Die gesamte Stadt geriet ins Trudeln und verlor an Höhe. Mit Wucht durchstieß sie tiefere Wolkenformationen, die unter dem anstürmenden Volumen zur Seite wallten und zerfaserten. Li verspürte ein unangenehmes Ziehen unter der Schädeldecke, das immer stärker wurde, als sie dem Fall entgegenzuwirken versuchte. Sie erreichte mit ihren Bemühungen nur, dass sich die Technostadt nach vorn neigte und noch schneller abstürzte. Die schillernden Sphären, die mehrere Türme umperlten, lösten sich von den Wänden und stiegen nach oben, bis sie sich an dem alles umgebenden Kraftfeld sammelten. Mittlerweile schwitzte Li heftig. Auch wenn es an Bord der Plattform keine humanoide Besatzung gab … der Absturz eines so großes Gebildes würde verheerende Folgen haben! Tausende von Viin würden das Leben verlieren, selbst wenn die Technostadt in einer entlegenen Bergregion zu Boden ging. Und wenn sie den Kontakt in diesem Augenblick löste, würde die Stadt abstürzen! Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen und kämpfte gegen den Schmerz in ihrem Schädel an. Li konzentrierte sich nur darauf, die Stadt wieder ansteigen zu lassen. Aus den Augenwinkeln bemerkte die Frau am unteren Rand der Totale eine Bewegung. Zuerst glaubte sie, sich zu täuschen, doch dann erkannte sie mehrere Humanoide auf … Reitechsen. Eine Karawane? Sie konzentrierte sich wieder, und es gelang ihr, den Sinkflug endlich zu verlangsa-
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men, wenngleich der Kurs weiterhin torkelnd verlief. Vorsichtig zog sie sich aus der Steuerung zurück, und das Trudeln der Stadt ließ tatsächlich nach. Erleichtert wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Sie war ihrem Ziel zwar nicht näher gekommen, hatte jedoch eine sich anbahnende Katastrophe verhindern können. Die Rothaarige löste die Verbindung zu den Nanomodulen und verschnaufte kurz. Viel Zeit zur Erholung blieb ihr nicht, das Erreichen des Kristallmondes hatte weiterhin höchste Priorität. Da sie die Möglichkeiten des Holoprojektor ausgeschöpft hatte, konzentrierte sie sich auf ein anderes Artefakt der Bergfestung, über das sie in den letzten Minuten einiges erfahren hatte. Von neuer Hoffnung beseelt, verließ sie die Turmkuppel und fuhr mit dem Antigravlift in die Tiefe.
* Im Innenhof angekommen, spürte Li da Zoltral, wie sich ihre Nackenhärchen aufrichteten. Schon beim ersten Anblick des Nebeldoms, der allen Naturgesetzen zum Trotz nie seinen angestammten Platz verließ, hatte sie eine nervöse Unruhe verspürt. Mit einem Mal wusste sie, dass es sich bei der facettierten Kristallkugel um einen Ableger des Kristallmondes handelte! Die am Rand von Lis Wachbewusstsein raunende Nanotechnik der Gebirgsbastion vermittelte überdies die Information, dass der Kristall parallel zum wachsenden Einfluss des Kristallmondes auf Sardaengar ebenfalls größer geworden war. Wiederholt war Psi-Materie über die weißen Lichtbrücken abgeflossen und hatte sich dem Kondensationskern in dem Nebeldom angelagert. Schritt für Schritt hielt Li auf die dichten Schwaden zu und drang in sie ein, bis sie die ersten Facetten aufblitzen sah. Da das vierzig Meter durchmessende Objekt aus materialisierter Psi-Energie bestand, suchte sie auf dem gleichen Weg Kontakt wie bei den Nanomodulen. Schon bald spürte die Abge-
sandte Samkars eine fremde Präsenz, die sich auf sie einließ, jedoch ganz anders, als sie erwartet hatte. Plötzlich wurde sie von einer gleißenden, allumfassenden Helligkeit geblendet, die sie kreisförmig umgab. Wie schon bei der Flucht von der Vergessenen Plattform fühlte Li sich als Teil einer Lichtsäule. Doch auch diesmal war es keine normale Transition, kein normaler Transmitterdurchgang. Unbegreifliche Kräfte zerrten an ihrem Körper, der eindeutig nicht entstofflicht wurde. Jedenfalls nicht richtig. Sie hatte das Gefühl, in einem unbekannten Medium zu treiben, einer Mischung aus Luft und verdicktem Wasser, die sie zwar atmen konnte, die aber jegliche Bewegung unmöglich machte, sie an Ort und Stelle hielt. Eine Ewigkeit lang. Sie bemerkte, dass Zeit verging … Doch sie war hilflos, kam nicht gegen die Kraft an, die sie hielt, fand keinen Weg aus diesem seltsamen Medium. Es war wie beim ersten Mal. Gedanken in substanzlosen Dimensionen, gefangen im weißen Licht. Real und doch nicht. Wissen – Wollen – Wirken. Li bemühte sich verzweifelt, aus Gedanken konkrete, feste, substanzielle Wirklichkeit werden zu lassen – und scheiterte. Es war ein stummes Ringen, kräftezehrend und ermüdend, obwohl nicht einmal klar war, ob es da noch einen Körper gab, der ermüden konnte. Bildete sie es sich nur ein? Gewann Imagination Gestalt? Warum funktionierte es dann nicht besser? Lag es an dem Kristallmond und seiner gewaltigen Menge Psi-Materie? Oder gar an den durch die löchrigen Blasen entkommenden Onund Noon-Quanten? Abermals ein verzweifelter Versuch, gegen das weiße Licht anzurennen, es niederzuringen. Und abermals das Scheitern, die Niederlage, die Demütigung. Und das wieder und immer wieder, bis …
* Die Veränderung kam völlig abrupt. Zu-
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erst war da gar keine Wahrnehmung, dann flossen plötzlich feurige Lohen durch ihre Adern. Alarm!, gellte es in Lis Kopf. Technostadt auf Kollisionskurs! Erst nach einer geraumen Weile begriff sie, dass die Nanomodule einen Kontakt zu ihr hergestellt hatten. Was ihr die Technik übermittelte, raubte ihr fast den Atem. Die Goldene Technostadt, die sie zu steuern versucht hatte, befand sich weiterhin außer Kontrolle. In Gedanken erschien ihr bereits die bekannte Totale, auf der sich abzeichnete, wie die schwebende Plattform geradezu magnetisch von Grataar angezogen wurde. Wie war das möglich? Ein Blick auf das Chronometer – einen der wenigen noch funktionstüchtigen Ausrüstungsgegenstände – verriet Li, dass inzwischen der 29. April 1225 NGZ angebrochen war. Fast hätte sie laut aufgeschrien. Zwölf Tage! Sie hatte zwölf Tage verloren! In dieser Zeit konnte alles Mögliche passiert sein. Ein irrwitziger Gedanke kam ihr. War es nicht vorstellbar, dass Sardaengar diese Kollision eingeleitet hatte, um ihre Pläne zu durchkreuzen?
9. Gegenwart Vinara III, 29. April 1225 NGZ – Atlan Als der Entzerrungsschmerz allmählich nachließ, spürte ich einen warmen Hauch, der über meine eiskalten Gesichtszüge strich. Doch nicht nur die Temperatur hatte sich verändert, auch die Landschaft sah jetzt völlig anders als noch vor wenigen Sekunden aus. Das Blauweiß des Casoreen-Gletschers war einem gelbbraun eingefärbten Land gewichen, dessen Horizont sanft gewellt war. Beim Anblick dieses Wüstenpanoramas trocknete mein Mund unwillkürlich aus. Ich schirmte die Augen mit der Hand ab und legte den Kopf zurück. Verdrans oran-
gefarbenes Licht brannte grell und unbarmherzig auf uns nieder. Unter meinem schweren Mantel wurde mir augenblicklich warm, und ich warf ihn ab. Der am Himmel prangende Glutball trieb bereits Schweiß aus allen Poren. Nach kurzer Zeit fühlte sich mein Haar an, als hätte ich gerade geduscht. Die Technostadt zog weiterhin torkelnd durch den Himmel, und zu meiner Erleichterung endeten die Sanddünen einige Kilometer entfernt an einer wie mit dem Lineal gezogenen Linie, hinter der fruchtbares Marschland begann. Als wir näher kamen, erkannte ich, dass sich dort große, genau umrissene Felder ausbreiteten. Hülsenfrüchte wuchsen auf ihnen, aber auch goldgelbes Korn, dessen Ähren sanft im Wind wogten. Dort, wo die Äcker brachlagen, wirkte der Boden dunkel und schwer. Ein ausgeklügeltes System von Wassergräben und Schöpfrädern sorgte dafür, dass die natürlichen Überschwemmungsgebiete um ein Vielfaches erweitert wurden. Der Ursprung dieses Nahrungsreichtums lag nicht weit von uns entfernt – ein breiter, schlammbrauner Fluss, der aus dem Norden kam und nach Süden floss. Die unbefestigten Ufer wurden von Schilf und grünen Binsen gesäumt. Ich sah gelegentlich auch Obstbäume und hoch aufragende Palmen; in der Ferne waren im Sonnenlicht glitzernde Seitenarme und mehr als zehn Kilometer entfernt, jenseits des Flusses und einer schmalen, lang gestreckten Landbrücke, sogar die ausgedehnte Fläche eines Sees zu erkennen. Am nördlichen Horizont, mit der weiterfliegenden Technostadt langsam näher kommend, glaubte ich die Silhouette einer ausgedehnten Stadt zu erkennen und fühlte mich unwillkürlich an meine hassgeliebte Barbarenwelt, Verbannungsort für endlos erscheinende Jahrtausende, erinnert. Spätestens seit ich den exakten Nachbau des Luftschiffs HINDENBURG betreten hatte, wunderte es mich nicht mehr, hier in der Obsidian-Kluft auf perfekte Kopien terranischer Entwicklungsstufen zu stoßen. Diese hier er-
Die Technostadt innerte frappierend an das Nildelta des alten Ägypten, zur Zeit der Pharaonen, die ich selbst miterlebt hatte. Menefru-Mirê im Land der Romêt – Narmer-Menes – seine entzückende Schwester Nerfermeryt – die Säulen der Ewigkeit – die Überflutungen des Hapi -raschelnde Binsenmarkschreibblätter … Genug!, schnarrte energisch die Stimme des Logiksektors durch die rasch wechselnden Bilder und Szenen. Für Sekundenbruchteile schwoll der Druck emporgeschwemmter Erinnerungen fast zur schmerzhaften Intensität an, sank aber augenblicklich wieder auf ein erträgliches Maß ab. Ich riss mich los, konzentrierte mich auf die Gegenwart. Einige weiß getünchte Flachbauten, die den ortsansässigen Bauern als Unterkunft dienten, bestätigten meinen Eindruck. Ebenso die Esel, Büffel und Ziegen, die in Gehegen grasten oder Schöpfräder antrieben. Vor allem natürlich die markante Grenze zwischen Wüste und Flusstal. Haine mit hochstämmigen, an Palmen erinnernden Bäumen breiteten sich aus, lockerten in größerer Entfernung immer mehr auf und machten kleinen Gruppen von Gebüsch Platz, zwischen denen eine braune Sandhose aufstieg. Humanoide waren nicht zu sehen. Nur eine schlanke Feluke, die mit eingezogenem Segel flussabwärts trieb, beide Netzbäume in die Fluten gesenkt. Da wir Richtung Norden flogen, verschwand das Boot schnell aus unserer Sicht, ohne dass ich die Besatzungsmitglieder genauer ausmachen oder gar erkennen konnte, was für eine Kleidung sie trugen. Meine eigene war jedenfalls zu dick für dieses Klima. Auch die Eisscholle, die die Technostadt bei ihrem Start mit in die Höhe gerissen hatte und auf der wir standen, würde diesen Temperaturen auf Dauer nichts entgegenzusetzen haben; ebenso das restliche Eis, das noch an dem Gebilde klebte. Das Eis unter meinen Füßen taute und glänzte feucht. In Rissen bildeten sich bereits Rinnsale, überall tropfte und plätscherte es. Ein leises Stöhnen riss mich aus meinen
43 Gedanken. Tamiljon! Dank meines Zellaktivators hatte ich die Nachwirkungen der Transition schneller überstanden, doch nun war auch er wieder zu sich gekommen. Er hatte sich aufgerichtet und massierte seine Schläfen, um die Schmerzen zu vertreiben. Dann folgte ein wohl unbewusster Griff an den Hals, wo der Litrak-Splitter eingedrungen war, ohne Spuren zu hinterlassen. Als Tamiljon unsere Umgebung bewusst wahrnahm, riss er die Augen auf, und tiefe Linien zerfurchten seine Stirn. Zuerst dachte ich, seine Sorge würde der beträchtlichen Hitze gelten, doch dann setzte er zum Sprechen an. Er musste sich mehrmals räuspern, bevor er ein Wort über die Lippen brachte. »Ich glaube, wir sind auf Vinara Fünf gelandet! Im Reich Tanalagan. Und das ist gar nicht gut …« Mit seinem Meister Hyancaran hatte er alle fünf Planeten bereist, er kannte sich also bestens aus. Warum ihm gerade diese Welt so wenig behagte, konnte er mir allerdings nicht mehr erklären. Im nächsten Augenblick erfüllte ein lautes Krachen die Luft und ließ den Boden unter unseren Füßen vibrieren. Ich befürchtete für einen Moment, die Scholle würde in die Tiefe stürzen, sah dann jedoch, dass das Eis an einer anderen Stelle gebrochen war. In etwa 50 Metern Entfernung löste sich auf halber Höhe der funkelnde Mantel eines Turms und rutschte unter lautem Getöse auf das Fundament der Schwebenden Stadt. Mitten in den brodelnden Sumpf aus braunen Pestorganismen, die in hohen Fontänen zur Seite spritzten. Nur um Sekunden später an der frei gewordenen Stelle emporzuwachsen und ihr Zersetzungswerk wieder aufzunehmen. An anderen Stellen der Technostadt brach schmelzendes Eis herab. Halb zerfressene Metallbrocken folgten, noch mit ShainsharWucherungen besetzt. In einem dichten Hagel polterten sie über die Plattform hinaus und fielen in die Tiefe. Im Zentrum der Plattform sank zeitlupenhaft der Achteck-
44 turm in sich zusammen. Die Kuppel behielt zwar noch eine Weile ihre Form, doch auch ihr stand die Auflösung bevor. Erste Dellen und Brüche waren schon zu sehen … Ich fluchte leise. Wir verteilten mit den Trümmer- und Eisbrocken tödliche Grüße über das Land am Strom. Aber soweit ich es verfolgen konnte, schlugen die Geschosse nur in leere Felder ein. Sie begruben Früchte und Halme unter sich, vielleicht auch ein paar Kleininsekten. Intelligentes Leben schien dagegen verschont zu bleiben … Fragte sich nur, wie lange. Aber das war kein Trost. Tamiljon hatte es ebenso erkannt wie ich. Langsam wurde es mehr als nur ungemütlich. Überall dort, wo das schützende Eis abschmolz und aufbrach, eroberte die Braune Pest neue Bereiche. Nicht mehr lange, und die Stadt wird einfach unter uns zusammenbrechen! Der Boden begann so stark zu schwanken, dass wir den Halt verloren. Ich schlug der Länge nach hin. Tamiljon erging es nicht besser. Als ich mich auf den Bauch wälzte und alle vier Glieder von mir streckte, um möglichst viel Reibungsfläche zu bekommen, geriet die Technostadt stärker denn je ins Trudeln und schien sich in ein wild bockendes Reittier zu verwandeln. Plötzlich sackte sie auf einen Schlag ab. Ich wurde von der nassen Oberfläche hochgeworfen. Als ich wieder aufprallte, schien die Stadt sich zu fangen, doch von einem stabilen Kurs konnte keine Rede sein. Ich richtete mich auf die Ellbogen auf und sah, dass die Riesenplattform auch weiterhin sank. Unter mir krachte es laut. Eis splitterte, und immer mehr Gebäudeabschnitte lösten sich in krümelige Bestandteile auf. Mein Magen zog sich zusammen; Hitze und Kälte wechselten rasend in mir, der Zellaktivator pochte heftiger. Die Stadt stürzt ab!, bekräftigte der Extrasinn, während wir in geringer Höhe über das Flussdelta hinwegflogen. Ihre Geschwindigkeit ist zwar nicht besonders hoch, aber sie wird sich trotzdem tief in den Boden bohren! Staub, Wassertropfen und Pflanzenteile
Bernd Frenz formten bereits eine ausgedehnte Schleppe, die hinter der Technostadt aufgewirbelt wurde. Luftverdrängung und Sogwirkung waren bei einem Körper dieser Größe gewaltig. Jetzt noch auf eine Stabilisierung des Kurses zu hoffen wäre sträflicher Leichtsinn gewesen. Außerdem würde die Scholle, auf der Tamiljon und ich lagen, jeden Moment so weit angetaut sein, dass sie sich von den Türmen löste. Und nicht nur das Abtauen des Eises war ein Problem, sondern auch die mit dem Start der Technostadt aus dem Gletschergrab insgesamt verloren gegangene Stabilität der Eisschichten, die durch die ruckenden Flugbewegungen weiter gelockert wurden … »Wir müssen abspringen!«, rief ich. »Ich desaktiviere die Parafessel, dann kannst du meine Kräfte anzapfen.« »Was?« Der Viin sah mich nur verwirrt an, während ich den Nanomodulen den gedanklichen Freigabebefehl erteilte. Offensichtlich machten ihm immer noch die Auswirkungen der Entstofflichung zu schaffen, oder er hatte Mühe, seine Angst im Zaum zu halten. Wie auch immer, es wurde Zeit, dass Tamiljon wieder zu sich kam. Sonst war es um uns beide geschehen. Kurz entschlossen rappelte ich mich auf, packte ihn an der Schulter und zerrte ihn einfach mit an den der Fluss-Seite zugewandten Schollenrand. Unter uns zogen abwechselnd grüne und gelbe Felder dahin. Die lehmbraunen Wasserfluten wären mir jetzt lieber gewesen, aber die lagen noch gut 500 Meter entfernt. Leider konnte ich den Kurs der trudelnden Stadt nicht beeinflussen. »Du musst unseren Sturz abfangen!«, schärfte ich Tamiljon ein. Er wirkte immer noch benommen. »Sonst brechen wir uns den Hals!« Von der Oberseite der Technostadt betrug die Distanz zum Boden gut 250 Meter, die Unterseite war vielleicht noch 50 Meter von ihm entfernt. Immer näher kam sie dem weichen Marschboden, der bei einer entsprechenden Aufschlaggeschwindigkeit hart wie
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Granit wirken würde. Mir war klar, dass ich umgehend handeln musste! Ich kämpfte gegen den Fahrtwind an, schlang Tamiljons linken Arm über meine Schulter, schleppte ihn zum Schollenrand und trat mit ihm darüber hinaus, stieß mich ab, und … … wir fielen.
* Als ich den Kopf drehte, sah ich, dass die absinkende Stadt weiterhin schräg durch den Himmel raste; ein unförmiges Gebirge, dessen wahre Größe mir erst jetzt so richtig bewusst wurde. Sie stand einem Großraumer in nichts nach! Du hast zu hoch gepokert!, zischte der Extrasinn vorwurfsvoll. Neben mir schrie Tamiljon auf, laut und gellend, als würde ihm unsere Lage erst jetzt so richtig bewusst. Dann reagierte er. Endlich! Ich spürte, wie etwas in mich griff und an mir zerrte, an meiner Kraft, meiner Essenz. Der Zellaktivator hämmerte heftig, um die verloren gehende Lebensenergie zu kompensieren. Nur Sekundenbruchteile später wurde unser Sturz abrupt abgebremst. Dann packte uns eine unsichtbare Kraft und zerrte uns zum Fluss. Es fühlte sich an, als würde eine Sturmböe unter uns fahren, um uns zum rettenden Nass zu tragen. In Wirklichkeit wirkten telekinetische Kräfte auf uns ein. Tamiljons dunkles Gesicht verzerrte sich, während er seine gesamte Konzentration darauf ausrichtete, uns dem tödlichen Sog der Schwerkraft zu entreißen. Von unsichtbaren Fäden gehalten, sanken wir schräg durch die Luft. Tamiljons Fähigkeiten waren nicht mit denen Guckys oder eines anderen Mutanten der alten Garde vergleichbar. Er konnte nicht frei schwebend auf der Stelle balancieren, sondern nur den Sturz verzögern. Doch das genügte schon, um einen anschwellenden Glutball in meiner Brust zu
entzünden. Das Pochen des Zellaktivators wurde zum schmerzhaften Stakkato. Wir hielten genau auf das Flussufer zu. Meine Hoffnung, das Wasser noch zu erreichen, erfüllte sich nicht. Ein weit gestrecktes Binsenfeld breitete sich unter uns aus. Tamiljon schrie verzweifelt und völlig erschöpft auf. Ich spürte, wie sich die Kraft auflöste, die mich gerade noch in der Luft gehalten hatte. Gleichzeitig erlosch das Feuer in meiner Brust, und ich nahm nur noch wohltuende Impulse des Zellaktivators wahr. Ich hieß sie so willkommen wie nur selten zuvor in meinem Leben, denn wegen der abgezogenen Lebensenergie fühlte ich mich völlig ausgelaugt, wie eine leere Hülle. Mit einer Geschwindigkeit, wie man sie vielleicht nach einem Sprung aus vier Metern Höhe erreichte, schlug ich zwischen hoch aufragenden Halmen ein. Der Stoß, mit dem meine Stiefel den Grund berührten, zog sich von den Fersen über die Wirbelsäule bis hinauf in den Kopf. Obwohl ich sofort bis zur Brust im Morast versank, war die Landung nicht gerade sanft ausgefallen. Eine stinkende, lauwarme Brühe klatschte mir ins Gesicht, dann kippte ich nach hinten und tauchte vollständig in den Morast ein. Ich hielt Augen und Mund geschlossen und kraulte mit den Armen, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Schließlich stieß ich gegen ein Bündel Binsenhalme, an dem ich mich festklammerte und in die Höhe zog. Laut prustend durchbrach ich die Oberfläche. Lautes Husten, Spucken und Schnauben verriet mir, dass es Tamiljon zwar nicht besser ergangen war als mir, er den Sturz aber ebenfalls überlebt hatte. Ich wischte mir Schlamm aus den Augen und reckte den Kopf. Das Delta wurde verdunkelt von dem gewaltigen Schatten, den die vormalige Eisgruft warf, die sich einige tausend Meter weiter in den Boden bohrte. Die doppelmannshohen Gräser, die uns umgaben, nahmen mir einen Großteil der Sicht, doch ich hörte ein lautes Donnern und konnte mir buchstäblich vorstellen, wie sich die
46 Vorderkante des Stadtfundaments in Morast, Binsen, Schilf und Wasser grub. Diesem Schlag hatte das vom Shainshar zerfressene Gebilde nichts mehr entgegenzusetzen. Mit einem hässlichen Krachen, das das gesamte Delta zu erfüllen schien, brach es auseinander. Türme, Zwiebeldächer, Erker und Balkone – alles wirbelte plötzlich durch die Luft. Die Unterseite der Plattform schlitterte weiter und schob eine mächtige Bugwelle aus Marschboden, Schlamm und Pflanzen vor sich her. Mehrere Gebäudeteile krachten in den Uferbereich. Schlammbraune Wogen türmten sich auf, Sprühwasserwolken vernebelten die Absturzstelle. Die eintauchenden Trümmer verdrängten so viel Wasser, dass die Fluten und Brecher auch wenig später über uns hinwegtosten. Wir wurden von den Füßen gerissen und untergetaucht. Mein Zellaktivator hämmerte schmerzhaft – aber der Absprung hatte uns das Leben gerettet. Wären wir auf der Stadt geblieben, hätte es uns zerrissen. Wo sie eingeschlagen war, blieb keine Krume auf der anderen. Auf einer riesigen Fläche wurde alles aufgewühlt und unter metallenen Trümmern begraben. Durch eine Lücke in den schwankenden Binsen sah ich die himmelhoch wirkende Wand aufragen. Riesigen Wasser- und Schlammfällen gleich prasselten unglaubliche Massen die Fassaden entlang in die Tiefe. Weiterhin brachen hausgroße Eisbrocken ab, polterten über Erker, durchschlugen brüchige Balkone, zerfetzten Ausleger. An anderer Stelle sank die Technostadt langsam in sich zusammen, Shainshar-Ströme quollen Blasen werfend aus Rissen und Spalten, die immer weiter aufklafften. Lautlos zerplatzten einige der bis zu 30 Meter durchmessenden Blasen. Ein letzter Goldturm am Zackenrand der Plattform sank zusammen, gewaltig brodelnde, aufquellende, nach allen Seiten drängende braunschwarze Wolken aufwirbelnd. Wasser und Morast befanden sich immer noch in Aufruhr, während Tamiljon und ich
Bernd Frenz schnaufend Richtung Ufer wateten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die aufgeschlagenen Massen endlich zur Ruhe kamen. Machtvolles Knacken kündete noch minutenlang von sich entspannendem Metall. Trotzdem liefen bereits die ersten Einheimischen zusammen, um fassungslos zu dem Trümmerberg aufzusehen. Ihr äußeres Erscheinungsbild wirkte völlig anders als erwartet und doch seltsam vertraut. Eisiger Schrecken durchfuhr mich, als ich erkannte, was für Wesen dort zusammenströmten. Eins steht fest, mein Lieber, bemerkte mein Extrasinn trocken. Das hier ist ganz bestimmt nicht der »Canyon der Visionen«! Litrak scheint bei der Programmierung gepfuscht zu haben – oder etwas anderes ist schief gegangen. Wieder traf seine Stichelei mitten ins Schwarze. Ich unterdrückte einen Fluch, der mir auf der Zunge lag, und befahl den Nanomodulen des Silberhalsbandes, wieder mit einer Kontraktion zu reagieren, falls Tamiljon seine telekinetischen Kräfte einsetzte. Dann wandte ich mich den Wesen zu und erstarrte.
10. Gegenwart Vinara, 29. April 1225 NGZ – Lethem da Vokoban »Oh, oh!« Dismeeder verlangsamte die Schritte seiner zwölf Beine. »Ich hege beträchtliche Zweifel, dass das gut gehen wird!« Lethem murrte unwillig; er schätzte die Situation wesentlich positiver ein. Die Unterseite der Technostadt sank zwar so tief ab, dass sie schon fast den Boden berührte, aber der Vorgang wirkte sehr kontrolliert, wie von einem erfahrenen Piloten ausgeführt. »Vielleicht handelt es sich ja um eine Einladung«, versuchte er, den anderen seine Idee schmackhaft zu machen. »Wenn wir jetzt aufschließen, können wir gefahrlos hinaufklettern.« Für die Formulierung gefahrlos musste er sich von allen Seiten verächtliches Schnau-
Die Technostadt ben anhören, selbst von Dismeeder. »Wenn wir die Chance jetzt nicht nutzen, ist es zu spät. Falls die Technostadt wirklich von der Gebirgsbastion angezogen wird und wir die Kollision nicht verhindern, ist unsere lange Reise sinnlos gewesen.« Er sah Kythara an. »Hast du das schon mal überlegt?« Das Argument schien der Maghalata tatsächlich zu denken zu geben. Ondaix hingegen schimpfte ihn einen Narren. »Lieber eine Reise umsonst, als erschlagen und zerfetzt zu werden«, fasste er seine Sicht der Dinge zusammen. »Und darauf zu warten, dass dir stattdessen Meteoriten auf den Schädel fallen?« Lethem spürte Zorn in sich aufsteigen. Zorn und einen festen Entschluss. »Dann gehe ich eben allein an Bord! Ihr könnt gern in sicherer Entfernung warten, bis ich die Steuerung unter Kontrolle bekommen habe. Lieber sterbe ich bei dem Versuch, als untätig auf das Unvermeidliche zu warten.« »Kommt nicht in Frage!«, protestierte Zanargun. Scaul Falk blickte betreten zu Boden. Kythara betrachtete ihn nachdenklich. Lethem sah die anderen herausfordernd an. Er war der offizielle Expeditionsleiter; Zanargun und Scaul Rellum Falk unterstanden als Besatzungsmitglieder der TOSOMA seinem Kommando. Er würde ihnen nicht befehlen, ihn zu begleiten, aber … Falk räusperte sich, dann sagte er leise: »Ich lasse dich nicht allein gehen.« Zanargun fluchte ungehalten, nickte dann aber. »Dir ist es wirklich ernst?«, fragte Kythara. »Ihm ist es ernst!«, murrte Ondaix und stieß eine deftige Verwünschung aus. »Ich weiß nicht, ob ich an den untersten Balkon herankomme«, meldete sich Dismeeder zu Wort. »Klettern ist nicht gerade eine meiner Spezialitäten, aber ich werde es wohl oder übel versuchen müssen.« Lethem musste unwillkürlich lächeln. »Bring uns zunächst heran und unterstütze uns beim Aufstieg, dann sehen wir weiter. Meinst du, du bekommst das hin?«
47 Der Fonshoord machte ein Geräusch, das wohl ein Gelächter sein sollte, aber an den Donner eines Gewitters erinnerte, und setzte sich in Bewegung. Er gewann rasch an Geschwindigkeit und jagte schließlich so schnell über die Steppe, dass Lethem sich an seinen Rückenschuppen festkrallen musste, um nicht aus dem Bastsattel geworfen zu werden. Die Technostadt bewegte sich nur noch sehr langsam und verdunkelte den Himmel. Eine riesige, mehrere Kilometer durchmessende und einige hundert Meter hohe goldene Plattform von unregelmäßigem Grundriss. Lethem starrte zu den bizarr geformten, zierlichen Türmchen und verschnörkelten Aufbauten in Glas und Porzellan hinauf, musterte den Verlauf von zierlichen Brücken und perlmuttern schimmernden Viadukten, marmornen Arkaden, Säulenreihen und Zwiebelkuppeln. Die überaus reichhaltig gestalteten Fassaden der Sägeblattkanten wiesen Balkone, Erker und Terrassen auf; etliche glichen förmlich hängenden Gärten. Von den langen Kristallstacheln, die in alle Himmelsrichtungen ragten, zuckten weiterhin blauweiße Entladungen und Lichtbögen, und die an Seifenblasen erinnernden Sphären umperlten in Gruppen die Plattform, trieben mit ihr dahin, landeten, verschwanden wiederholt spurlos, entstanden wieder und stiegen auf. Aus der Nähe waren die goldenen Ovalroboter ganz deutlich zu erkennen, dieselben Modelle, denen sie bereits in Viinghodor begegnet waren: golden-metallische Außenhaut, ein reich facettierter Rubin als obere Polkalotte, zwölf unterarmdicke Tentakel ober- und unterhalb des Äquators. Es war reiner Zufall, dass Lethem die Bewegung auf einem der Hügel, den die Stadt passierte, überhaupt bemerkte. Ein goldenmetallisches Schimmern irritierte einen Augenblick lang. Lethem sah genauer hin, bemerkte über dem Glitzern einen roten Fleck. Und dann … erhob sich der Farbklecks vom Boden, jagte durch die Luft – genau auf sie zu. Aus dem Schimmern wurde ein enger
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Bernd Frenz
Schutzanzug aus Pailletten von Fingernagelgröße, der eng einen schlanken Körper umschloss, aus dem Rot ein Haarschopf. Lethem riss die Augen auf, das Blut schien in seinen Adern zu gefrieren. Er kannte die Gestalt. Jedes Besatzungsmitglied der TOSOMA wusste, um wen es sich handelte, obwohl sie ihr nie persönlich begegnet waren. »Das … ist unmöglich!«, keuchte er. »Li … Li da Zoltral!«
* Die Frau, die Atlan auf Arkon kennen gelernt hatte. Die ihn auf der ATLANTIS und der TOSOMA nach Omega Centauri begleitet hatte. In diese Frau hatte sich Atlan unsterblich verliebt. Die Frau, die in der Stahlwelt des Sonnentransmitters gestorben war und deren Leiche der Kosmokratenroboter Samkar mitgenommen hatte … Und jetzt war sie hier, in der ObsidianKluft, und zwar in der Nähe der Bergfestung, die auch ihr Ziel war und die sie erreichen mussten, wollten sie Vinara je wieder verlassen. Was wird hier gespielt? Wie ist die Tote hierher gekommen? Von wegen tot; quicklebendig ist sie! Mit einem Mal dämmerte Lethem, dass er einer Sache auf der Spur war, die seinen Horizont gewaltig überschritt. Dass es vielleicht kein Zufall gewesen war, dass die TOSOMA in die Obsidian-Kluft verschlagen worden war. Dass vielleicht Samkar noch immer seine Hände im Spiel hatte. Lethem bezweifelte nicht, dass es der Technik der Kosmokraten möglich war, eben Verstorbene wieder zum Leben zu erwecken. Oder zumindest mit Hilfe eines Multi-Duplikators oder eines vergleichbaren Geräts so viele Lis herzustellen, wie es beliebte. Aber eins war klar: Samkar hatte die Frau zu sich geholt, und dass sie ausgerechnet hier und jetzt auftauchte, konnte unmöglich ein Zufall sein. Tausend Gedanken schossen dem Zweiten Piloten der TOSOMA durch den Kopf. Hat Li wertvolle Informationen, die uns weiterhelfen können? Davon war er
überzeugt. Will sie auch zu Sardaengar vordringen? Das war gut möglich. Vielleicht hat sie aber auch ein ganz anderes Ziel, einen ganz anderen Auftrag … Lethem fluchte. Wie er die Lage einschätzte, würde keine Zeit für Fragen bleiben. Sie hatten die Technostadt fast erreicht. Li schien nicht im Geringsten überrascht zu sein, ihnen hier zu begegnen. Fast hatte es den Anschein, als hätte sie von ihrer Anwesenheit gewusst. Furchtlos hielt sie auf Dismeeder zu. Aber … Erst jetzt registrierte Lethem so richtig, dass die Geräte von Lis seltsamem Paillettenanzug funktionieren mussten. Kosmokratentechnik …? Der Fonshoord preschte ungerührt weiter; vielleicht hatte er die sich nähernde Gestalt gar nicht bemerkt. Ziemlich unsanft setzte sie neben Lethem auf dem Rücken des Riesen auf und krallte sich an den Schuppen fest, um nicht sofort wieder den Halt zu verlieren. »Schnell!«, rief sie. »Wir müssen auf die Stadt, bevor es zu spät ist!« Dismeeder stieß einen undefinierbaren Laut aus, die zwölf Beine trommelten noch lauter ihren Takt. Schnell holte der Fonshoord auf. Doch als sie die goldglänzende Fassade beinahe erreicht hatten, geschah es.
* Ein Licht blitzte hinter den Berggipfeln im Norden sonnengrell auf, gefolgt von einer zunächst lautlos aufsteigenden, an einen riesigen Atompilz erinnernden Wolke, die schnell bis in die Hochatmosphäre Vinaras emporkletterte. »Ein Asteroideneinschlag«, keuchte Li. »Diesmal ein dicker Brocken, mindestens tausend Meter Durchmesser!« Bei dieser Größe … Lethem versuchte die Wirkung abzuschätzen. Mehrere Milliarden Tonnen. Hohe Aufschlaggeschwindigkeit. Verdammt, da kommt einiges zusammen; der Krater muss viele Kilometer Durchmesser … Dismeeders Versuch, den Arkoniden mit Hilfe der Tentakelarme auf einen der unte-
Die Technostadt ren Balkone zu heben, scheiterte mehrfach an dem transparenten Schutzfeld, das die Technostadt umgab. Doch weitere Bemühungen waren nicht notwendig. Lethem spürte, wie er von einer unsichtbaren Kraft ergriffen wurde. Er legte den Kopf zurück und sah, dass mehrere Ovalroboter direkt über ihnen schwebten. Wollen sie uns mit einem Antigrav- oder Traktorstrahl hinaufheben? Aber dann … dann müsste Li zumindest eine rudimentäre Kontrolle über die Roboter haben! Schon rasten die mörderische Druckwelle und erste Trümmer des Einschlags heran – und prallten von einem Leuchten ab. Aber neben ihm zuckte Li da Zoltral zusammen. Blut rann plötzlich über die Anzugpailletten. Lethem riss den Kopf herum, als er den blauweißlichen Schimmer bemerkte, der sich unvermittelt hinter ihnen schloss. Das Schutzfeld? Wahrscheinlich. Die Erschütterung des Einschlags hatte sich mit erschreckender Geschwindigkeit bis zu ihnen fortgepflanzt. Ein Zeichen dafür, wie nahe er erfolgt war. Goldene Entladungen zuckten durch den Himmel, ein energetisches Gewitter ließ die Luft in der Schutzfeldblase knistern. Als die Ovalroboter sie auf der Oberfläche der Stadt absetzten, wurde der Himmel bereits von einer riesigen Dreck- und Staubwolke verdunkelt. Blitze zuckten neben glühenden Brocken durch das brodelnde Schwarz aus zerschmettertem Gestein, Staub und Asche. Ruheinseln in diesem Chaos gab es nicht – abgesehen von der Goldenen Technostadt sowie der Gebirgsbastion, die nur noch als Schemen unter einer gewaltigen grellweißen Kuppel zu erkennen war … Im nächsten Augenblick stieg die Technostadt rasend schnell empor, drang in die Wolken ein. Erstaunt bemerkte Lethem, dass sein Multifunktions-Armband wieder volle Funktionsbereitschaft signalisierte. Li aber winkte schwach ab: »Die Technikblockade ist nur in unmittelbarer Nähe der Technostadt unwirksam. Das … gilt auch … für meinen
49 Anzug.« Sie hustete Blut. Etwas hatte ihren Oberkörper getroffen und ohne Zweifel die Lunge verletzt. Lethem befürchtete, dass sie gegen eine Ohnmacht ankämpfte. »Die Insel der Verdammten«, rief er beschwörend. »Wir müssen nach Viinghodor! Vielleicht können wir die TOSOMA …« Er brach ab, als er bemerkte, wie sinnlos der Vorschlag war. Eine nur zeitweise im Bereich der Plattform funktionierende Technik nutzte ihnen nicht viel. Kythara wollte sich um die Verletzte kümmern, doch Li wehrte mit brüchiger Stimme ab: »Medofunktion … schon aktiviert. Leider bekomme ich keine vollständige Kontrolle über die Technostadt. Und meine Geräte zeigen an, dass es weitere schwere Einschläge gegeben hat … werden noch stärkere folgen!« Ihr schienen die Sinne zu schwinden. Mühsam rappelte sie sich noch einmal auf. »Sardaengar«, flüsterte sie schwach. »Auf Vinara Zwei.« Sie spuckte Blut. Lethem befürchtete, dass ihre Verletzung schwerer war, als er anfangs angenommen hatte. Vielleicht sogar tödlich. Würde sie … erneut sterben? Dann kam schon der Entzerrungsschmerz einer unversehens eingeleiteten Transition.
11. Gegenwart Vinara, 29. April 1225 NGZ – Sardaengar Die Folter hatte Sardaengar schwer zugesetzt, und sein inneres Ringen mit dem Kristallmond raubte ihm zusätzlich jegliche Kraft. Benommen dämmerte er in seiner Zelle vor sich hin, ohne ein Gefühl für die Zeit, die langsam, aber stetig verrann. In diesem angeschlagenen Zustand nahm er kaum den Tageswechsel wahr, obwohl wiederholt die Sonne durch ein vergittertes Loch an der Decke schien und ein schmales, von dünnen Schattenlinien unterteiltes Rechteck auf den nackten Boden malte. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass
50 man ihn offenbar in einen anderen Kerker verlegt hatte, denn in seiner ersten Zelle hatte es gar keine Fenster gegeben. Wenn er seine gesamte Konzentration aufbrachte, was ihm sehr schwer fiel und nur selten gelang, kam er zu dem Schluss, dass seit seiner Festnahme fast vierzehn Tage vergangen sein mussten, aber dieses Wissen schwand stets wieder nach kurzer Zeit. Irgendwann wurde die Zellentür geöffnet. Hände zerrten ihn grob über den Boden. Der Kristallmond nagte inzwischen so stark an ihm, dass er die Worte der Folterknechte kaum verstand. Sie schnauzten barsch etwas von Urteil und Reinigung. Kurze Zeit später knarrte Holz unter seinem Gewicht, und ein Karren wurde über Kopfsteinpflaster gezogen. Irgendwo sang jemand. Sardaengar versuchte, die Augen zu öffnen und durch den Nebel zu blicken. Er spürte Fesseln an Armen und Beinen, einen Balken an seinem Rücken. Der Boden, auf dem er jetzt stand, schwankte, als wäre er an Bord eines Schiffes. Erst als der Nebel sich lichtete, erkannte Sardaengar, dass man ihn an keinen Mast gebunden hatte, sondern auf einen Scheiterhaufen. Ein Cheborparner, der eine Kapuze trug, aus der seine Hörner grotesk hervorragten, hielt eine brennende Fackel in der Hand. Sardaengar blickte nach oben, in den wolkenverhangenen Himmel, und fragte sich, ob es tatsächlich so enden würde. Ob er sein Leben ohne Kampf, kraftlos und erschöpft, aufgeben musste. Der Cheborparner schob die Fackel zwischen zwei Reisigbündel zu Sardaengars Füßen. Die dünnen, mit welkem Laub behangenen Äste brannten sofort. Flammen sprangen auf die Holzscheite über, breiteten sich knisternd aus. Eine frische Böe, die über den Richtplatz strich, fachte das Feuer zusätzlich an. Beißender Qualm breitete sich aus, Funken sprühten aus platzendem Geäst, verwirbelten im bizarren Reigen zwischen hellen und dunklen Schwaden.
Bernd Frenz Sardaengar spürte die Hitze unter den Fußsohlen. Rauch brannte in seinen Lungen. Hustend und würgend zerrte er an seinen Fesseln. Der Körper reagierte nicht auf die geistigen Kräfte, hatte sich zu sehr manifestiert, war nun ein materielles Gefängnis, verwundbar und … sterblich. Und die Flammen leckten immer höher …
12. Gegenwart Vinara V, 29. April 1225 NGZ – Atlan Ich drängte die aufkeimende Panik zurück und atmete tief und gleichmäßig ein und aus. Seitdem ist viel Zeit vergangen!, versuchte auch der Extrasinn mich zu beruhigen. Ziehe keine voreiligen Schlüsse und verhalte dich, wie du dich gegenüber dir völlig unbekannten Lebewesen verhalten würdest. Ändern kannst du sowieso nichts. Das klang logisch und plausibel, war aber leicht gesagt. Das Entsetzen, das ich verspürte, beruhte vielleicht auf einem Urinstinkt meines Volkes. Selbst mir fiel es nicht leicht, dagegen anzukämpfen. Das Gros der hiesigen Einwohner bestand aus etwa zwei Meter großen Insektoiden, die bis auf den aufrechten Gang kaum an Humanoide erinnerten. Das begann schon bei den Gliedmaßen, von denen sie insgesamt sechs Stück hatten. Die beiden unteren benutzten sie als Beine, die vier anderen dienten als Arme. Das Äußere war mir nur allzu gut bekannt, und es würde bei allen Arkoniden unangenehme Erinnerungen wecken. Denn bei diesen Wesen handelte es sich um Vecorat. Diese Bezeichnung war nur eine Abkürzung. Meine Vorfahren hatten dieses Fremdvolk in Ergänzung seiner vokallosen Sprache VeCoRat XaKu-ZeFToNaCiZ genannt. Bei anderen Völkern waren die Insektoiden als Individualverformer bekannt. Das war, genau genommen, weniger eine Bezeichnung für diese Spezies an sich als für die kollektive Fähigkeit der Vecorat, rein geistig den eigenen Individualkörper zu verlassen und auf einen anderen überzuspringen
Die Technostadt – wobei es zum Austausch mit dem Bewusstsein des Opfers kam, das im VecoratKörper zur Handlungsunfähigkeit verurteilt war. Eine fürwahr beängstigende Fähigkeit, die diese Geschöpfe zu »Erzfeinden« der Arkoniden gemacht hatte. Mehrmals hatten die Vecorat versucht, das Große Imperium zu unterwandern. Offene Kriegführung lag ihnen nicht, zumal ihre Fähigkeit sie dazu prädestinierte, verstohlen und im Geheimen vorzugehen. Mehrere massive Angriffswellen der Individualverformer hatten bei meinen Vorfahren fast eine Hysterie hervorgerufen. Eine verständliche Reaktion – wie sollte man sich gegen einen Gegner wehren, der aus dem Hinterhalt zuschlug, aus dem Dunkel der Entfernung, der mit rein geistigen Kräften kämpfte und gar nicht körperlich in Erscheinung treten musste, um seine Gegner zu unterwandern und schließlich zu übernehmen? Einmal, zur Zeit von Imperator Barkam I. um 4000 da Ark nach arkonidischem Zeitmaß, hatten die IV das Tai Ark'Tussan an den Rand des Abgrunds getrieben. Nur dem Eingreifen der allerersten Großen Feuermutter war es damals zu verdanken gewesen, dass ihr Invasionsversuch aufgedeckt und abgewehrt werden konnte. Sie hatten später weitere massive Vorstöße dieser Art unternommen und sich damit letztlich zu den »Erzfeinden« der Arkoniden entwickelt. Vor rund 3000 Erdjahren hatten sie sich auch gegen Terra gewandt, waren aber zurückgeschlagen worden und danach für Jahrhunderte von der galaktischen Bühne verschwunden, bis die USO im 25. Jahrhundert wieder auf sie gestoßen war … Und nun begegnete ich nach all dieser Zeit hier in der Obsidian-Kluft erneut Vertretern dieser Spezies! Allerdings wurde diese Gegend nicht ausschließlich von Vecorat bewohnt; wie in fast allen Regionen, die ich bislang kennen gelernt hatte, befanden sich auch Humanoide unter der Bevölkerung, Nachkommen von Lemurern, Arkoniden, Akonen und Menschen. Trotzdem ergriff ich Tamiljon und zerrte
51 ihn tiefer in die Deckung von Schilf und Binsen nahe einem leicht erhöhten Damm. Er schüttelte sich, folgte mir aber scheinbar willenlos; Erklärungen waren angesichts seines Zustands überflüssig. Er hatte den Absturz der Technostadt noch längst nicht verdaut – sofern sein Zustand nicht auch andere Gründe hatte. Ich sah, dass der Zustrom der Neugierigen weiter anhielt. Die meisten Wesen näherten sich auf dem aus dem Morast und Schilf ragenden Damm. Unmittelbar vor mir erklang ein Geräusch. Ich duckte mich in den Schutz einiger hoher Pflanzen, doch das Rascheln der Rispen verriet mir, dass sich einige der Bewohner dieser Region in unmittelbarer Nähe befanden. Ich kauerte mich nieder und zwang Tamiljon ebenfalls in Deckung. Die Einheimischen mussten unseren Absprung beobachtet haben. Suchten sie nach uns? Was würde geschehen, wenn sie uns den Individualverformern auslieferten? Wenn einer von ihnen mich übernahm, war meine Mission beendet. Dann konnte ich nur noch auf ein Wunder hoffen. Es würde mir wohl kaum gelingen, mich aus eigener Kraft wieder zu befreien. Noch während ich überlegte, ob sich ein Rückzug zur Technostadt lohnte, wuchs plötzlich das erste Paar braun gebrannter Beine vor uns auf, während Hände Schilfbündel zur Seite drückten. Ein halbwüchsiger Junge, der einen weißen, bis zu den Knien reichenden Lendenschurz trug, von einem geflochtenen Bastgürtel gehalten. Der Kleine verriet mit keinem Wort seine Entdeckung, doch so, wie er erstarrte, wussten seine nachrückenden Begleiter sofort, dass er etwas entdeckt hatte. Ich fluchte leise und überlegte, ob ich mich aufrichten sollte. Sonst würde es so aussehen, als wären wir geflohen. Und das würde unsere Position nicht unbedingt stärken. Weitere Personen näherten sich, Männer und Frauen in einfachen Schürzen und Hemdkleidern, überwiegend schlicht weiß, nur selten mit braunen Streifen oder Mustern versehen.
52 »Hier sind sie«, rief ein hagerer Mann, dem die Sonne und das Alter tiefe Furchen ins Gesicht geschnitten hatten. Der Ruf wurde von vielen Stimmen weitergetragen, keineswegs aufgeregt oder feindselig, sondern gleichmütig, fast ein wenig schicksalsergeben. Einige Insektoiden, die nicht weit entfernt standen, machten ebenfalls keine Anstalten, über mich herzufallen. Ich betrachtete sie genauer. Kein Zweifel, es handelte sich um Vecorat. Ihre vier Arme endeten in Ballenpfoten mit Saugnäpfen und Krallen, die grünlich grauen Brustpanzer waren hart und fest, der Leib war mit feinen Haaren bedeckt. Große Facettenaugen an spitz zulaufenden Köpfen, auf denen jeweils zwei lange, schimmernde Fühler saßen, starrten mich an, ohne dass ich eine Regung in ihnen ausmachen konnte. Die ruhige Art, mit der uns alle Einheimischen begegneten, nährte meine Hoffnung, mit heiler Haut davonzukommen. Da wir ohnehin viel zu erschöpft für eine Flucht waren, stand ich auf und bedeutete Tamiljon, es mir gleichzutun. Wir reinigten uns, so gut es ging, von den Spuren des Morasts, der an unserer Bekleidung klebte. Gespannt wartete ich ab, was nun geschehen würde. Beruhige dich, riet mir der Extrasinn. Lass dich nicht von der kollektiven Angst deines Volkes beeinflussen. Noch gab es keinerlei Feindseligkeiten. Die Einheimischen scheinen eher neugierig zu sein, wer den Absturz überlebt hat. Eine Technostadt hat für sie eine fast mythische Bedeutung. Denk an die vielen Legenden und Erzählungen. Unter den Viin auf dem Damm entstand plötzlich Bewegung. Wortlos bildeten sie eine Gasse, und ich sah eine Frau, die sich mit gemessenen Schritten näherte, eine Humanoide mit samtbrauner Haut und tief schwarzem Haar. Eine Akonin?, durchfuhr es mich. Sie ging sehr bedächtig, wie in Trance, und alle anderen schienen ihr mit Hochachtung zu begegnen. Ehrfürchtig traten sie zurück und verbeugten sich vor ihr. Sie besitzt offenbar großen Einfluss, wisperte der Logiksektor. Es könnte von Bedeu-
Bernd Frenz tung für euer Überleben sein, ihr Wohlwollen zu gewinnen. Mir waren bereits ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen, und ich bemühte mich um ein freundliches Lächeln, während sie näher trat und dann drei Schritte entfernt am Rand der Dammkrone stehen blieb. Ob sie meine Mimik überhaupt zur Kenntnis nahm, war nicht genau zu erkennen. Obwohl ihre dunkelbraunen Mandelaugen auf uns ruhten, wirkte sie völlig entrückt. Die Schaulustigen schlossen hinter ihr auf, um das sich anbahnende Gespräch mit anzuhören. Immerhin, eine sichtbare Reaktion. Dabei wären angesichts des spektakulären Absturzes überschäumende Reaktionen mit Geschrei und wilden Gesten viel normaler gewesen. Die knabenhaft gebaute Akonin richtete den Blick auf mich, doch es hatte den Anschein, als schaute sie in weite Ferne und ich stünde nur zufällig im Weg. Sie war kleiner als ich, knapp dreißig Jahre alt und trug ein bodenlanges weißes Kleid. Der bunte Kragenhalsschmuck glich exakt jenen, die ich aus meinen Erinnerungen an Ägypten kannte. Das galt auch für ihre krempenlose Kopfbedeckung, die der ähnelte, die einst Nofretete getragen hatte. »Ich bin die Seherin von Yandan«, verkündete die Frau mit leiser Stimme und rieb dabei nervös mit Daumen und Zeigefinger über eine etwa zehn Zentimeter durchmessende Riesenperle aus poliertem Schneeflockenobsidian, die sie an einer Kette um den Hals trug. »Ich weiß nicht, wer du bist, Fremder, doch ich kenne dein Ziel. Im Traum habe ich Sardaengar und Litrak gesehen, die allen Welten drohenden Gefahren. Ich werde euch zum Canyon der Visionen begleiten.« Verblüfft schnappte ich nach Luft. Ich wusste nicht, was ich von dieser Eröffnung halten sollte, doch sie war mir auf jeden Fall lieber als eine mit Fackeln und Heugabeln bewaffnete Meute, die nach Rache für einige Hektar zerstörten Ackerlandes dürstete, auch wenn angesichts der gerade abgestürzten
Die Technostadt
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Stadt Rache an zwei im Morast stehenden Fremden das geringste Motiv der Menge sein dürfte. Viel wichtiger war jedoch der Umstand, dass diese »Seherin von Yandan« offensichtlich von meiner selbst gestellten Mission wusste. Und das, obwohl der Canyon auf Vinara Eins lag, während wir uns auf Vinara Fünf befanden. Dutzende Fragen wühlten mich auf, doch es war kaum ratsam, sie sofort zu stellen. »Ich bedanke mich für das großzügige Angebot«, sagte ich bedächtig. »Wie komme ich denn zu dieser großen Ehre?« Die Seherin ließ den Blick ungerührt auf mir ruhen, ohne zu antworten. Aus einem mir nicht nachvollziehbaren Grund wich der entrückte Glanz plötzlich aus ihren Augen. Ihre Pupillen fokussierten mich, als würde sie erst jetzt sehen, wen sie wirklich vor sich hatte.
War ihr soeben klar geworden, dass wir zweifellos etwas mit der Katastrophe zu tun hatten, die der Absturz der Technostadt über diese Region gebracht hatte? Ich wappnete mich innerlich auf jeden möglichen Vorwurf, den sie uns machen könnte, doch mit ihrem nächsten Satz hatte ich wirklich nicht rechnen können. »Weißt du, wo mein Freund Cisoph Tonk ist?«, fragte sie leise. Nein, wäre wohl die ehrlichste und einfachste Antwort gewesen, doch die brachte ich nicht über die Lippen. Dazu wirbelte zu viel in meinem Kopf durcheinander. Etwa die Frage, woher eine Einheimische der Spiegelwelt Vinara Fünf ein Besatzungsmitglied der TOSOMA kannte.
ENDE
Nachdem sich Lethem da Vokoban und seine Begleiter von ihrem Schock erholt haben, versuchen sie, die Oberfläche der Technostadt zu erreichen. Kaum angekommen, wartet eine neue Überraschung auf die Gruppe. Eine Transition versetzt Atlan und Tamiljon in eine unbekannte Gegend und nicht, wie erhofft, in den »Canyon der Visionen«. Arndt Ellmer berichtet in seinem Roman BRAUNE PEST über die weiteren Abenteuer des Unsterblichen und seiner Freunde. Band neun dieser zwölfbändigen Miniserie erscheint in zwei Wochen überall im Zeitschriftenhandel.