Jens K. Holm Detektiv Kim und die Spione Band 09
s&c 12/2008
Erik meint Unglück im Glück zu haben, als er bei einer Lo...
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Jens K. Holm Detektiv Kim und die Spione Band 09
s&c 12/2008
Erik meint Unglück im Glück zu haben, als er bei einer Lotterie eine Reise nach Stockholm gewinnt. Er will nicht ohne seine Freunde Kim, Katja und Brille verreisen, und so wird beschlossen, den Freifahrschein für zwei Personen gegen vier Karten nach Jönköping umzutauschen. ISBN: 3 570 07483 8 Original: Kim og spionerne Aus dem Dänischen von IRMGARD KOCH Verlag: Bertelsmann Jugendbuchverlag Erscheinungsjahr: 1972 Umschlaggestaltung: Illustrationen von ULRIK SCHRAMM
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Buch
Erik meint Unglück im Glück zu haben, als er bei einer Lotterie eine Reise nach Stockholm gewinnt. Er will nicht ohne seine Freunde Kim, Katja und Brille verreisen, und so wird beschlossen, den Freifahrschein für zwei Personen gegen vier Karten nach Jönköping umzutauschen. Dort können sie alle bei Brilles Tante wohnen. Auf der Fähre nach Schweifen fallen ihnen sofort zwei Passagiere auf, die sich merkwürdig benehmen. Die vier Freunde werden neugierig, belauschen sie, doch erfahren nur, daß die beiden nach Stockholm wollen. Warum dann aber die Männer in Jönköping auftauchen, das können sich die jungen Detektive nicht erklären. Sollten sie etwas mit den beiden geheimnisvollen Einbrüchen zu tun haben? Katja ist auch fest davon überzeugt, daß einer von ihnen sie abends verfolgt hat. Aber aus welchem Grund sollte er das getan haben? Erst Eriks Ferienfotos werden die Lösung der rätselhaften Ereignisse in der kleinen, ruhigen Stadt bringen.
Folgende Kim Bände sind bereits erschienen: Detektiv Kim aus Kopenhagen Detektiv Kim und der verschwundene Schatz Detektiv Kim und der vermißte Polizist Detektiv Kim stellt eine Falle Detektiv Kim und das geheimnisvolle Haus Detektiv Kim auf der richtigen Fährte Detektiv Kim und der schlaue blaue Papagei Detektiv Kim unter schwerem Verdacht Detektiv Kim und die Spione
Jens K.Holm
DETEKTIV KIM und die Spione
Bertelsmann Jugendbuchverlag
Originaltitel: Kim og spionerne Aus dem Dänischen von IRMGARD KOCH Illustrationen von ULRIK SCHRAMM © Grafisk Forlag A/S, Kopenhagen Alle deutschen Rechte bei der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH/ Bertelsmann Jugendbuchverlag, Gütersloh, München, Wien 1972 Gesamtherstellung Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh ISBN 3 570 07483 8 • Printed in Germany
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Manchmal weiß man beim besten Willen nicht, womit man bei einer Erzählung anfangen soll. Diese Geschichte spielt zum größten Teil in Schweden. Aber sie fing schon in Dänemark an, ja eigentlich begann sie damit, daß wir vier, Katja, Erik, Brille und ich, bei der großen Verlosung auf dem Strandfest eine Reise nach Schweden gewannen. Der Gewinn bestand ursprünglich aus zwei Freifahrkarten für eine Fahrt mit der schwedischen Staatsbahn von Kopenhagen nach Stockholm und zurück. Aber da wir ja zu viert waren und da Brille so ganz beiläufig der Gedanke kam, daß er ja eine Tante in Jönköping hat, und da auch von Seiten des Festkomitees einem Umtausch der Fahrkarten nichts im Wege stand, wurde es also die Stadt am Vättersee, die sich mit unserem Besuch brüsten konnte, und nicht die schwedische Hauptstadt. Natürlich hatten wir gewaltige Mühe, unseren lieben Eltern die Erlaubnis zu dieser Reise abzuringen. Wir mußten unsere ganze Überredungskunst und unseren ganzen Charme und was
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weiß ich sonst noch aufwenden, ehe sie überhaupt einmal bereit waren, die Angelegenheit von der positiven Seite aus zu betrachten. Außerdem war ein Brief von Brilles Tante nötig, in dem sie versicherte, daß sie für uns alle vier Platz genug habe und daß wir herzlichst willkommen seien. Dabei bin ich fest davon überzeugt, daß sie im Innersten alle froh darüber waren, uns einmal für vierzehn Tage loszuwerden. Aber sie wären ja keine richtigen Eltern, wenn sie nicht zunächst eine Menge Einwände vorgebracht hätten. Na, aber der langen Rede kurzer Sinn: wir vier dampften in der Frühe eines schönen Sommermorgens aus dem Fischerdorf ab – es war an einem Dienstag-, begleitet von den letzten zärtlichen, aber ein bißchen lästigen Ermahnungen unserer Väter, Mütter, Onkel und Tanten. Damit hatten wir die erste Etappe unserer Reise hinter uns und befanden uns jetzt auf dem Weg nach Kopenhagen, von wo aus wir das Schiff nach Malmö nehmen sollten. Noch im Lauf des Morgens kamen wir dort an und trotteten dann mit unserem Gepäck die Straße zum Hafen hinunter. Jeder von uns hatte einen Rucksack auf dem Rücken. Wir hatten auch unsere Schlafsäcke mitgenommen. Erik hatte einen Fotoapparat an einem Riemen über der
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Schulter hängen. Er gehörte seinem Vater, aber der hatte Erik erlaubt, ihn auf diese Fahrt mitzunehmen. Wir hofften alle, daß er eine ganze Menge Aufnahmen von uns machen würde, damit unsere Reise nach Schweden eine Erinnerung fürs Leben werden könnte. Das wurde sie auch, wie ihr bald erfahren werdet, obwohl das mit den Bildern nicht ganz so wurde, wie wir es uns vorgestellt hatten. Aber das erzähle ich später. Jetzt gingen wir also die Straße zum Hafen entlang, betrachteten die Schiffe, redeten miteinander und freuten uns mächtig. Wir hatten noch nicht gefrühstückt, aber Eriks Vater hatte uns etwas Geld zugesteckt, damit wir an Bord des Schiffes, das uns nach Malmö bringen sollte, Kaffee trinken konnten. Es war wirklich sehr nett von ihm, daran zu denken. Wir waren inzwischen auch ziemlich hungrig geworden und meinten, während wir am Kai entlanggingen, den Kaffee und die warmen Brötchen schon riechen zu können. Vor uns gingen zwei Männer. Es sah so aus, als ob sie auch zum Schiff nach Malmö wollten. Sie hatten keinerlei Gepäck bei sich, und als ich sie zuerst sah, dachte ich, daß es sich wohl um zwei Kopenhagener handelte, die nach Malmö fahren wollten, um sich die Stadt ein bißchen an-
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zusehen. So sahen sie nämlich aus. Es war wirklich auf den ersten Blick nichts Verdächtiges an ihnen. Als wir über die Landungsbrücke gingen, waren wir dicht hinter ihnen. Wir konnten sie nicht überholen, weil die übrigen Passagiere sich vor uns auf dem Weg zum Boot zusammendrängten. Ein paar Beamte standen an der Seite der Landungsbrücke und beobachteten die Reisenden, die nach und nach an Bord gingen. »Nun, was haben wir jetzt wohl verbrochen?« flüsterte Erik und machte sich so klein wie möglich. Brille lachte. »Wirklich nichts, weshalb sie uns zurückhalten könnten. Die sind doch wohl nur da, um aufzupassen, daß wir wirklich fortkommen. Du wirst nicht angehalten, solange du nicht versuchst, wieder in ein Land zurückzukommen. Ich könnte mir denken, daß sie nur hierhergeschickt worden sind, um hurra zu rufen, wenn du abfährst.« »Jetzt redet mal vernünftig«, forderte Katja uns auf. »Warum stehen die hier herum?« »Um aufzupassen, daß nur Dänen und Schweden und Norweger an Bord gehen. Andere Ausländer müssen erst zur Paßkontrolle.«
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Katja nickte. »Natürlich«, sagte sie, »daran hatte ich nicht gedacht.« Wir waren den beiden gepäcklosen Männern dicht auf den Fersen. Sie sprachen laut und lebhaft miteinander. Besser gesagt: der eine von ihnen, ein etwas gesetzter, rotgesichtiger, fast kahlköpfiger Mann von ungefähr vierzig Jahren sprach ununterbrochen, so daß der andere keine Möglichkeit hatte, ein Wort dazwischenzuwerfen. Ich hörte, wie er sagte: »Mutter bat uns außerdem, ein paar Mandeln und ein bißchen Kakao mitzubringen.« Da dachte ich, dann sind sie also Brüder, die beiden. Sie sahen allerdings nicht danach aus. Der zweite war schlank, fast dünn. Er war schwarzhaarig und trug eine Brille mit ziemlich starken Gläsern in einem schmalrandigen Gestell. Seine Augen waren dunkel, während die des Bruders ganz hell waren, fast wie Wasser. Aber jetzt waren wir an den Beamten vorbei und hatten die Landungsbrücke schon hinter uns. Wir stapften an Deck, raus aus dem Menschengewimmel. Nachdem wir überall herumgegangen waren und alles inspiziert hatten, waren wir endlich beruhigt, nahmen unsere Rucksäcke
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ab und stellten sie an die Reling. In ein paar Minuten sollte das Schiff abgehen. Wir lehnten nebeneinander an der Reling, redeten zusammen und sahen zu, wie die letzten Passagiere die Hafenstraße heruntereilten, atemlos und mit geröteten Gesichtern. Gerade als das Schiff ablegte, stellte ich fest, daß die beiden Männer von vorhin neben uns standen und sich genau wie wir gegen die Reling lehnten. Erik folgte meinem Blick und sagte: »Er hat haargenau so einen Fotoapparat wie ich.« Ich guckte von Eriks Leica hin zu dem Apparat, den der Dunkle der beiden Männer an einem Riemen über der Schulter trug. Erik hatte recht. »Ich finde es außerordentlich nett von deinem Vater, daß er dir den Apparat für die Reise geliehen hat«, bemerkte ich. »Vater ist schon in Ordnung, man muß ihn nur zu nehmen wissen«, antwortete Erik. »So, jetzt fahren wir!« Wir fuhren wirklich. Zunächst allerdings noch ganz langsam, aber wir entfernten uns doch immer weiter von Kai und Bollwerk. Brille stieß mich in die Seite. »Jetzt hat die Reise also angefangen«, sagte er. »In zwei Stunden sind wir in Malmö.«
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»Zwei Stunden! Du bist wohl nicht gescheit, Mann!« gab Erik ihm zur Antwort. »Die Fahrt dauert nicht länger als eine gute Stunde.« Nun stritten die beiden sich darüber, wie lange die Fahrt dauern würde. Es schien aber nicht so, als ob einer von ihnen es wirklich wüßte. Ich wußte es allerdings auch nicht. Mittlerweile hatten wir den Hafen verlassen. Ich stand an der Reling und sah zum Land zurück und hörte daher nur mit halbem Ohr auf die Diskussion der beiden. Sie endete damit, daß sie um zwei Kronen wetteten, wer recht hätte. »Was meinst du denn, Kim?« fragte Brille. Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es auch nicht«, erwiderte ich. »Ihr müßt schon jemanden fragen, der besser Bescheid weiß.« Erik guckte sich um. Der Rotgesichtige war nicht mehr da, nur der Dunkle, der mit dem Fotoapparat, stand noch in unserer Nähe. Erik wandte sich an ihn. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er höflich, »mein Freund und ich haben eine Wette abgeschlossen, wie lange die Fahrt nach Malmö wohl dauern wird. Würden Sie wohl so freundlich sein und uns sagen, wann wir dort ankommen werden?«
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Der Mann drehte sich leicht irritiert um und sah Erik fragend an, so als hätte er ihn nicht verstanden. Erik wiederholte seine Frage. Der Mann zuckte jedoch nur mit den Schultern. »Ich kann kein Dänisch«, erklärte er dann. »Ach so«, sagte Erik, »dann müssen Sie vielmals entschuldigen.« Er kam zu uns zurück. Der Mann hatte sich wieder abgewandt und starrte über das Wasser hinweg. Erik machte ein sehr geheimnisvolles Gesicht. »Habt ihr das gehört?« wisperte er uns zu. Wir nickten. »Das kapiere ich nicht«, flüsterte er weiter. Wir anderen verstanden das ebensowenig und stellten daher die verschiedensten Überlegungen an, um eine Erklärung für das Verhalten des Mannes zu finden. »Das ist doch eigenartig«, sagte Brille. »Vor zehn Minuten konnte er Dänisch noch sehr gut verstehen. Warum tut er jetzt so, als ob er es nicht beherrscht?« »Wer sagt denn, daß er vor zehn Minuten Dänisch verstehen konnte?« fragte ich. Sie guckten mich alle erstaunt an. »Ja aber, Mann, das haben wir doch selbst ge-
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hört«, antwortete Erik. »Wir hörten doch, wie sein Bruder …« »Und wer sagt, daß es sich um seinen Bruder handelt?« unterbrach ich ihn. Brille sah mich mit gerunzelten Brauen an. »Ja aber, Kim«, fuhr er mich an, »wir haben doch eben gehört, wie der Blonde sagte, daß ihre alte Mutter sie gebeten hätte, Mandeln mit nach Hause zu bringen.« »Und wer sagt, daß die Mutter alt ist?« grinste Erik. »Das muß sie doch sein, wenn sie zwei Söhne hat, die schon ein halbes Jahrhundert alt sind«, meinte Brille. »Ihr habt von dem Ganzen bis jetzt keinen Mucks verstanden«, warf ich den anderen vor. Katja lächelte. »Doch, ich habe dich schon verstanden«, sagte sie. »Das heißt, ich glaube schon zu verstehen, was du über die ganzen Vorgänge denkst. Du meinst, daß er, nämlich der Blonde, mit dem Dunklen nur deshalb Dänisch gesprochen hat, damit es so aussehen soll, als ob er auch Däne sei. Und daß er nur deshalb von ihrer Mutter gesprochen hat, damit die Leute glauben, daß es sich um zwei Brüder handelt.«
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»Genau das meine ich«, bestätigte ich Katjas Vermutung. Erik sah uns fragend an. »Ja, aber warum in aller Welt …«, fing er an. »Schscht, nicht so laut«, flüsterte Katja. »Ja, aber warum?« fragte Brille. »Weil Dänen keinen Paß nötig haben, um nach Schweden einreisen zu können«, sagte sie. »Hast du nicht gemerkt, wie laut er gerade in dem Augenblick sprach, als er an den beiden Beamten unten am Kai vorbeiging? Und als er genau vor den beiden war, sagte er das von ihrer Mutter.« »Jetzt ist mir ein Licht aufgegangen«, nickte Brille. »Das war eigentlich eine Glanzleistung.« »Eine tolle Leistung«, bestätigte Erik. Er strahlte über das ganze Gesicht. Ich konnte ihm ansehen, daß er schon wieder ein Geheimnis witterte. Das hier war nämlich wirklich geheimnisvoll. In mir wuchs bereits die Hoffnung, daß wir wieder einmal in etwas hineingestolpert waren, an dessen Aufklärung wir mithelfen konnten. Aber ich wollte lieber nicht allzu große Hoffnungen hegen. Ich sagte daher: »Vielleicht hat das Ganze gar nichts zu bedeuten. Vielleicht ist der Dunkle nur
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ein Deutscher, der bei irgendwelchen Freunden in Kopenhagen zu Besuch ist. Und jetzt machen sie diese Fahrt, um ihm Malmö zu zeigen. Den Paß kann er ja heute morgen in der Eile zu Hause liegengelassen haben. Den Trick wenden sie nur an, damit sie nicht noch einmal zurück müssen, um den Paß zu holen. So ungefähr könnte ich mir die Sache denken.« »Och«, sagte Erik, »du bist immer so pessimistisch. Außerdem glaube ich auch nicht, daß du recht hast.« »Warum nicht?« fragte Brille. Erik zog die Augenbrauen in die Höhe. »Weil ich das fühlen kann, Mann! Ich kann Verbrechen schon aus zehn Kilometer Entfernung riechen, genauso wie ein Hund ein Beefsteak wittert.« »Ein Hund kann nicht aus zehn Kilometer Entfernung ein Beefsteak wittern«, wollte Brille ihn verbessern. »Das habe ich auch nicht gesagt.« Sie fingen wieder an zu diskutieren. Katja und ich beteiligten uns nicht an der Auseinandersetzung. Wir standen an der Reling und sahen zum Land hinüber. Eine Schar schreiender Möwen flog über das Schiff hinweg. Die Luft war ganz still, selbst hier draußen über dem Sund. Son-
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nenstrahlen glitzerten in den kleinen Wellen auf dem Wasser. »Wie wäre es mit dem Morgenkaffee?« schlug ich vor. »Ich bin so hungrig, daß ich einen ganzen Ochsen vertilgen könnte«, sagte Erik. »Ich glaube nicht, daß sie uns Ochsen zum Morgenkaffee vorsetzen werden«, meinte Brille. »Aber wir können ja mal hineingehen und uns umsehen.« Einen Augenblick später hatten wir unsere Rucksäcke wieder aufgenommen und uns auf den Weg zum Speisesalon gemacht. 2
Es waren nicht besonders viele Menschen im Speisesalon versammelt. Die meisten hatten anscheinend schon Kaffee getrunken, ehe sie von zu Hause fortgegangen waren. Wir nahmen die Rucksäcke ab, und schon ein paar Minuten später standen Kaffee und frische Brötchen vor uns auf dem Tisch. Es schmeckte uns vortrefflich. Für die nächsten zehn Minuten waren wir beschäftigt. Wir saßen schweigend am Tisch, tranken Kaffee,
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aßen Brötchen und genossen alles sehr. Als Erik fertig war, wischte er sich den Mund ab und sagte: »Die beiden sind auch hier hereingekommen. Sie sitzen da drüben an der Wand und trinken ihren Morgenkaffee.« Ich folgte seinem Blick. Die beiden Männer saßen tatsächlich da und sprachen gedämpft miteinander. »Ich möchte wetten, daß sie jetzt Deutsch sprechen«, bemerkte Erik. Ich nickte. »Ja, die Dänen können nämlich Deutsch, aber die Deutschen können kein Dänisch, so sagt man wenigstens.« »Ich glaube, das sind Spione«, meinte Erik dann. »Sie sehen nämlich so aus.« »Spione sehen nicht wie Spione aus«, antwortete Brille. »Spione sehen aus wie ganz gewöhnliche Menschen. Wenn sie als Spione zu erkennen wären, dann wären sie schlecht zu gebrauchen.« »Wenn ich ein Spion wäre«, sagte Erik, »dann liefe ich nicht herum und sähe wie ein ganz gewöhnlicher Mensch aus. Das fehlte noch!« »Wenn du ein Spion wärest, dann würdest du geschnappt und erschossen, noch ehe eine Woche vergangen wäre.«
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»Es ist nicht immer so, daß Spione erschossen werden«, stellte Erik nachdenklich fest. »Manchmal begnügt man sich auch damit, sie ins Kittchen zu stecken. Im übrigen wollen wir nicht über mich, sondern über die beiden da drüben sprechen. Wenn sie keine Spione sind – was mögen sie denn dann sein?« Ich saß schweigend auf meinem Stuhl, rührte in meinem Kaffee und dachte über das Geheimnis nach. »Guckt nur mal«, fuhr Erik fort, »jetzt fangen sie aber wirklich an zu spionieren!« Wir sahen zu den beiden geheimnisvollen Männern hinüber. Der eine von ihnen hatte einen Notizblock hervorgeholt und schrieb irgend etwas auf. Brille grinste Erik an. »Er notiert nur, wieviel Brötchen du vertilgt hast, Erik. Zu Hause im alten Rußland sollen sie dann darüber staunen.« »Was?« rief Erik. »Ich habe ja gerade erst angefangen zu essen! Und wer will behaupten, daß die beiden Russen sind? Der, mit dem ich gesprochen habe, sprach Deutsch.« »Vielleicht hat er dir sofort angesehen, daß du kein Russisch verstehst«, fügte Katja hinzu. Als wir das letzte Brötchen und das letzte Stück Weißbrot aufgegessen und den letzten
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Tropfen Kaffee aus der Kaffeekanne gepreßt hatten, bezahlte Erik mit dem Geld, das sein Vater uns gegeben hatte. Gleich danach sammelten wir unsere Siebensachen zusammen und gingen wieder auf Deck. Wir befanden uns jetzt ungefähr auf halber Strecke zwischen Kopenhagen und Malmö. Ein großer Teil der Reisenden spazierte auf Deck auf und ab. »Kommt, laßt uns doch auf das oberste Deck gehen!« forderte Erik uns auf. Er war schon auf dem Weg zur Treppe. Brille folgte ihm sofort. »Laß die beiden nur laufen«, sagte ich zu Katja. Sie sah mich an und lächelte. Wir stellten uns wieder an die Reling und guckten auf das Wasser, das an der Schiffswand vorbeiglitt. Einige der Mitreisenden warfen den Möwen Brot zu. Wir blieben an unserem Platz stehen und beobachteten, wie die Möwen schreiend auf das Wasser hinunterstießen. Wir unterhielten uns dabei über die Fahrt und über alle möglichen anderen Dinge. Wir freuten uns und hofften, daß dies eine schöne Reise würde. Wir hatten vielleicht fünf oder zehn Minuten dagestanden und geschwatzt, als wir jemanden auf uns zukommen hörten.
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Es war Erik. »Na, da seid ihr ja! Wir wußten gar nicht, wo ihr geblieben wart. Wenn ihr glaubt, daß … Nun, ihr seid doch wohl nicht seekrank geworden?« Katja drehte sich nach ihm um und lachte. »Oh, das ist aber schade«, sagte Erik. »Wenn ihr seekrank wärt, hätte ich nämlich gern ein Bild von euch gemacht. Mein Vater hat mir ausdrücklich aufgetragen, daß ich immer Bilder mit Handlung aufnehmen sollte! – Wie ist es mit dir, Kim? Verspürst du nicht so eine ganz leichte Übelkeit, hm?« »Nun hör mal wieder auf damit«, entgegnete ich. Erik zuckte mit den Schultern. »Ganz wie du willst«, sagte er. »Aber laßt uns doch alle vier nach oben gehen, damit ich eins von diesen üblichen Gruppenbildern machen kann, die mein Vater ablehnt. Ihr könnt ruhig mal etwas tun, um mir eine Freude zu machen!« Er ging voraus. Brille, Katja und ich folgten ihm auf das oberste Deck. Es verging aber noch geraume Zeit, bis Erik sich entschlossen hatte, wo er uns fotografieren wollte. Schließlich hatte er den passenden Hintergrund gefunden. Wir mußten uns vor einem Rettungsboot aufstellen
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und so lange still stehenbleiben, bis Erik den Apparat eingestellt hatte. »Nun lächelt den Fotografen mal an«, forderte er uns dann auf. Er trat ein paar Schritte zurück und stieß dabei zwei englische Touristen an, die hier oben spazierengingen. »Oh, mh – äh – I beg your pardon, Monsieur«, stotterte Erik höflich. Die Engländer lächelten, halfen ihm wieder auf die Beine und setzten ihre Wanderung fort. »Ich habe doch gesagt, ihr möchtet den Fotografen anlächeln – ich habe nicht von grinsen gesprochen! So, nun haltet mal still!« Einen Augenblick später war es überstanden. Auf Deck standen ein paar Tische und Bänke. Wenn man Lust hatte, konnte man sich hier etwas servieren lassen. Man konnte sich aber auch einfach hinsetzen und die schöne Aussicht genießen. Wir entschieden uns für das letztere, ließen uns an einem der Tische nieder, stellten unsere Rucksäcke neben uns und freuten uns über den schönen Ausblick. Erik nahm den Fotoapparat von der Schulter und hängte ihn an die Rücklehne der Bank. »Du könntest uns doch schon ein bißchen von deiner Tante erzählen«, bat Katja Brille. »Tja«, sagte Brille, »da gibt es im Grunde nicht
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viel zu erzählen. Also – sie ist auch Dänin, aber sie war mit einem Schweden verheiratet, der Blomquist hieß. Er ist vor ungefähr vier Jahren gestorben, sie ist also jetzt Witwe. Sie ist eine zierliche kleine Dame und hat ein Gesicht wie eine Maus.« »Wie eine Maus?« wunderte sich Katja. »Ja, so ungefähr wenigstens. Hört mal, ich glaube, ich habe kein Talent, andere Menschen zu beschreiben.« »Du machst das großartig«, versicherte Erik ernsthaft. »Ich sehe deine Tante sehr deutlich vor mir. Mit so kleinen stechenden Augen, nicht wahr?« »Nein, nein«, fuhr Brille hoch, »nein, im Gegenteil – sie hat große, freundliche Augen – wie – wie ein …« Er saß da und wedelte mit den Händen bei dem Versuch, etwas zu finden, womit er die Augen seiner Tante beschreiben könnte. »Wie eine Dänische Dogge?« half Erik ihm. »Genau so!« sagte Brille dankbar. »Jetzt wißt ihr, wie sie aussieht.« Erik nickte. »Ja, dann hat sie sicher auch so langsame und ein bißchen gelassene Bewegungen, nicht wahr?« »Nein«, wehrte Brille ab. Er wurde immer verzweifelter.
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»Nein, nein, so ist sie wirklich nicht.« »Aber du sagtest doch, daß sie einer Dänischen Dogge gleicht.« »Ja, aber nur in den Augen, nicht in den Bewegungen. Sie hat im Gegenteil sehr lebhafte Bewegungen, wie ein – also hört mal, das ist schwer – wie ein – ein …« »Vielleicht wie eine Eidechse?« schlug ich vor. Brilles Gesicht hellte sich auf. »Jetzt haben wir’s! Genau wie eine Eidechse! Das ist … He, ich glaube, ihr sitzt da und lacht über mich!« »Wie kämen wir dazu!« sagte Erik lachend. »Wir sitzen erwartungsvoll da und freuen uns darauf, deine Tante kennenzulernen. Ist denn bisher noch niemand auf den Gedanken gekommen, mit ihr umherzuziehen und sie auf den Jahrmärkten vorzuführen?« Ich hatte meinen Kopf ein bißchen zur Seite gewandt und konnte dabei feststellen, daß die beiden Männer sich auf die Bank gesetzt hatten, die mit der Rückenlehne an Eriks und meine Bank stieß. Das war nicht weiter verwunderlich, denn zu diesem Zeitpunkt waren alle anderen Bänke und Tische längst mit Beschlag belegt. Brille hatte jetzt angefangen, alles, was er von Jönköping und seiner Umgebung wußte, zu er-
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zählen. Ich saß zwischen den anderen und hörte nur mit halbem Ohr zu. Meine Gedanken beschäftigten sich mit den beiden Männern hinter uns. Ich bemühte mich, ihre Stimmen aufzufangen. Ein einziges Mal gelang es mir. Ja, sie sprachen tatsächlich Deutsch miteinander. Irgend etwas an der ganzen Geschichte war eigenartig. Was wäre, wenn Erik recht hätte und die beiden wirklich Spione wären? Wir waren bisher die einzigen, die ihren Trick beobachtet hatten, als sie an Bord gingen. Eigentlich hätten wir uns an einen Erwachsenen wenden und ihm alles, was wir beobachtet hatten, erzählen sollen – ich denke dabei an den Steuermann oder den Kapitän oder jemand anderen von der Schiffsbesatzung. Ich wußte jedoch nur zu genau, daß wir das nicht tun würden. Wenn wir selber schon erwachsen gewesen wären, sähe die Sache ganz anders aus. Aber wenn drei Jungen und ein Mädchen kommen und solche Geschichten erzählen, dann nimmt man höchstens an, daß ihre Phantasie mit ihnen durchgegangen ist. Wir würden damit nur erreichen, daß man über uns lachte. Als das Schiff in den Hafen von Malmö einlief, standen wir auf. Wir wollten auf die andere Schiffsseite gehen, weil man dort die bessere Aussicht hatte. Drüben lehnten wir uns über die
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Reling und beobachteten die Einfahrt. Dabei kam mir plötzlich der Gedanke, daß wir ja unser Geld noch gar nicht umgetauscht hatten. Es war höchste Zeit. Wir liefen daher alle vier schnell zur Wechselstube. »Oje!« Erik blieb so plötzlich stehen, daß Brille beinahe über ihn gefallen wäre. »Was ist denn los?« erkundigte sich Brille. »Mein Fotoapparat! Den habe ich drüben auf dem Tisch liegenlassen!« »Ich kann ihn ja holen«, bot Katja sich an. »Hier ist mein dänisches Geld. Ihr könnt es für mich eintauschen. Aber ihr müßt euch jetzt beeilen!« Erik, Brille und ich liefen weiter, um unser eigenes und Katjas Geld umzuwechseln. Katja lief in die andere Richtung zurück zu dem Tisch, an dem wir gesessen hatten. Als wir die Wechselstube erreicht hatten, wurden wir sofort abgefertigt, weil alle anderen Passagiere ihr Geld schon vorher eingetauscht hatten. Wir hielten uns noch einen Augenblick dort auf und besahen uns die komischen schwedischen Geldscheine, die uns der Mann an Stelle unserer guten alten dänischen Banknoten in die Hand gedrückt hatte.
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»Glaubt ihr wirklich, daß man dafür etwas kaufen kann?« zweifelte Erik. »Die sehen so selbstgemacht aus. Wenn der Mann uns nur nicht beschummelt hat!« In dem Moment kam Katja mit Eriks Apparat. Erik atmete erleichtert auf, als er ihn sah. »Oh, hab vielen Dank! Ich hatte schon Angst, es hätte ihn jemand mitgenommen.« Er hängte ihn sich über die Schulter. Wir standen an der Reling, während das Fährschiff am Kai anlegte. Noch einen Augenblick, und wir würden unseren Fuß auf schwedischen Boden setzen. Die beiden mysteriösen Männer hatten wir längst vergessen. Wir dachten jetzt nur noch an die Ferien, die vor uns lagen, und an all das, was wir erleben würden. 3
Jönköping liegt an der Südspitze des großen Vättersees, dem zweitgrößten See Schwedens, rund dreihundert Kilometer nördlich von Malmö. Wir kamen am Nachmittag dort an und fanden – nach einem langen Marsch und nachdem wir uns oft nach dem Weg erkundigt hatten – end-
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lich das Haus, in dem Brilles Tante wohnte. Es liegt ziemlich im Westen der Stadt, oberhalb des Stadtteils Bymark. Brilles Tante bereitete uns wirklich einen sehr herzlichen Empfang. Erik, Katja und ich betrachteten sie neugierig. Sie hatte aber keinerlei Ähnlichkeit mit dem zoologischen Wundergeschöpf, auf das wir uns nach Brilles Beschreibung gefaßt gemacht hatten. Obwohl die Beschreibung auch nicht ganz abwegig war. Brilles Tante war eine kleine zierliche Dame mit lebhaften Bewegungen. Es war schon richtig, daß etwas Mausartiges in ihrem Gesicht lag und daß ihre Augen so groß und so freundlich waren wie die einer Dänischen Dogge. Zu Mittag gab es »Köttbullar« – das ist eine Frikadellenart, nur ganz rund. Hinterher bekamen wir Erdbeeren. Schwedisch heißen sie »jordgubbar«, aber sie schmecken genauso wie die dänischen. Das Haus von Brilles Tante war ein kleines zweistöckiges Holzhaus. Als sie damals an Brille schrieb, daß sie reichlich Platz für uns alle hätte, hatte sie allerdings ein bißchen übertrieben. Sie hatte wohl gemeint, daß da, wo Platz im Herzen ist, auch Platz im Haus ist. Im Erdgeschoß war nur das Eßzimmer und die Küche. Darüber war ihr Schlafzimmer, in dem jetzt für Katja eine
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Matratze auf dem Fußboden zurechtgemacht wurde. In das angrenzende Zimmer wurden Matratzen für Erik, Brille und mich gelegt. Wir protestierten dagegen und sagten, daß das nicht nötig sei, aber Brilles Tante meinte, sie hätte genug Matratzen. Nach dem Essen halfen wir alle beim Abwaschen. Es war ein bißchen eng in der kleinen Küche für so viele Menschen, aber es war schnell überstanden. Danach gingen wir auf Entdeckungsreise in die Stadt. Ich wollte, ich könnte eine anschauliche Beschreibung von Jönköping geben; nicht nur sagen, wie groß die Stadt ist, oder wie sie aussieht, sondern auch einen Eindruck von der besonderen Atmosphäre dieser Stadt vermitteln. Vor allem an den hellen Sommerabenden liegt über Jönköping eine Stimmung, die ich an keinem anderen Ort so empfunden habe, eine wunderbar leichte und helle Stimmung, für die ich jetzt, da ich sie beschreiben soll, einfach nicht die richtigen Worte finden kann. Die Stadt hat eine lange Hauptstraße, die Storgatan heißt. Hier liegen die meisten und die größten Geschäfte, und hier macht die ganze Bevölkerung ihren Abendbummel. Die Storgatan führt über eine Brücke, deren Namen ich jedoch vergessen habe. Unter
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dieser Brücke hindurch können die Schiffe, die vom Hafen am Fluß auf der anderen Seite der Stadt kommen, in den Vättersee einfahren. Am Tage ist die Stadt geschäftig und laut, mit starkem Autoverkehr in den Straßen. Sie hat viel Industrie. Es gibt dort einige Zündholzfabriken, die Zündhölzer in die ganze Welt exportieren. Viele der Häuser in Jönköping sind aus Holz, das ist ein Anblick, den wir von Dänemark her nicht gewohnt sind. Jönköping ist eine sehr alte Stadt. Es gibt dort noch viele alte Häuser, aber auch ganz neue, moderne Geschäftsgebäude. Der Vättersee ist der größte See, den ich jemals gesehen habe. Er wird von richtigen Dampfern befahren, von ziemlich großen Pötten sogar. Wenn wir sie von unserem Zimmer oberhalb von Bymark aus betrachten, sehen sie ganz klein aus, wie Spielzeugschiffe in einer großen Badewanne. Das Wetter war herrlich, deshalb gingen wir jeden Tag mit unserem Badezeug an den Strand. Die meiste Zeit verbrachten wir im Wasser. Erst am Abend bummelten wir ein bißchen herum und sahen uns die Menschen oder die Schaufensterauslagen an und beobachteten die Schiffe. Wir aßen Eis und tranken Coca-Cola und waren rundherum zufrieden. Es waren durchaus keine spannenden Ferien –
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aber wie konnten wir das auch erwarten? Während der Zeit, die wir vier uns kannten, hatten wir schon mehr Abenteuer erlebt als wohl die meisten Kinder in unserem Alter. Aber in den ersten fünf Tagen in Jönköping mußten wir einsehen, daß wir doch nur drei ganz durchschnittliche Jungen und ein ganz durchschnittliches Mädchen waren. Es passierte nichts Aufregendes oder Geheimnisvolles. Trotzdem fanden wir es herrlich. In den ersten Tagen hatte Erik seinen Fotoapparat zu Hause gelassen, aber am fünften Tag machte er ein paar Bilder von uns am Ufer des Vättersees und unten in der Stadt. Am sechsten Tag, als wir alle beim Abendessen saßen, fragte Brilles Tante, ob wir uns auch nicht langweilten. Als wir das verneinten, lächelte sie: »Ihr braucht nicht hier zu sitzen und so höflich zu tun. Palles Mutter hat mir schon oft von all den Dingen geschrieben, die er mit euch zusammen erlebt hat, nicht wahr, Palle?« »Allerdings«, antwortete Brille. »Von Verbrechern und ähnlichen Sachen, nicht wahr?« »Ja«, sagte Erik, »das ist schon richtig. Aber jetzt sieht es so aus, als ob das Glück uns verlas-
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sen hätte. Aber das macht nichts. Wir finden es hier ganz herrlich. Wir vermissen wirklich nichts.« Das war allerdings nicht ganz wahr. Wir hatten es schön, gewiß, aber wir hätten uns doch so ein kleines aufregendes Geheimnis denken können, an dem wir ein bißchen zu knabbern gehabt hätten. Brille fuhr fort: »Übrigens haben wir schon etwas Geheimnisvolles erlebt. Aber das war schon am allerersten Tag, an Bord der Fähre.« Er erzählte dann von den beiden Männern. Seine Tante hörte aufmerksam zu. »Ja aber, Palle«, sagte sie, als er geendet hatte, »das können doch auch zwei ganz gewöhnliche Touristen gewesen sein, die nach Malmö fahren wollten, um dort ein paar Mandeln zu kaufen. Dabei kann ich wirklich noch nichts Geheimnisvolles finden.« »Ich glaube aber, daß es geheimnisvoll war«, erwiderte Brille. »Wir waren ganz traurig darüber, daß wir sie nicht weiter verfolgen konnten.« »Verfolgen?« fragte Brilles Tante. »Meinst du, zurück nach Kopenhagen?« »Nein. Sie sind nämlich nicht nach Kopenhagen zurückgefahren. Wir haben sie auf dem
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Bahnhof in Malmö noch einmal getroffen, und da hörten wir, daß sie Fahrkarten nach Stockholm kauften. Zwei einfache Fahrkarten.« »Darum sieht es nicht so aus, als ob sie so bald nach Kopenhagen zurück wollten«, ergänzte Katja. »Das ist allerdings eigenartig«, meinte Brilles Tante. »Und ihr sagt, daß sie keinerlei Gepäck bei sich hatten?« »Gar keins. Noch nicht einmal eine Aktentasche. Nichts anderes als einen Fotoapparat, eine Leica, genau dieselbe wie Eriks. Sie hatten noch nicht einmal Mäntel bei sich.« »Das ist wirklich merkwürdig. Man reist doch nicht von Kopenhagen nach Stockholm ohne Gepäck oder Mäntel«, wunderte sich Brilles Tante. »Nicht wahr, das findest du auch?« fragte Brille. »Es muß etwas Geheimnisvolles dabei sein. Erik meint, es handelt sich um Spione.« »Das sind sie auch«, warf Erik ein. »Davon bin ich fest überzeugt.« »Ach, hört doch auf damit«, sagte ich. »Das können wir niemals aufklären. Wir werden die beiden ja gar nicht mehr wiedersehen.« »Nee, leider nicht«, seufzte Erik. Brilles Tante schüttelte lächelnd den Kopf.
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»Nein, ich glaube wirklich nicht, daß es hier in Jönköping etwas gibt, hinter dem ihr herspionieren könnt.« Brille stieß einen Seufzer aus. »Das glaube ich auch nicht, Tante. Jönköping ist eine sehr stille Stadt.« »Sehr, sehr still«, gab seine Tante zu. Wir aßen schweigend weiter. Dann sagte sie: »Warum versucht ihr nicht mal, ein paar kleine schwedische Kameraden zu finden? Das könnte doch ganz lustig werden.« Niemand antwortete. Die Stille war schon fast bedrückend. Katja, Brille, Erik und ich schielten uns gegenseitig an und hielten unsere Köpfe über die Teller gebeugt. Schließlich sagte Brille: »Mh? – Och ja, das könnte vielleicht ganz lustig sein.« 4
Nach dem Mittagessen gingen Katja und Brille in die Küche, um abzuwaschen. Erik und ich dankten für das Mittagessen und stiefelten sofort los. Wir wollten in der Stadt Kinokarten für uns alle besorgen. Danach wollten wir noch ein bißchen
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bummeln und dann zurückgehen, u Katja und Brille abzuholen. Erik war ganz außer sich. »Ein paar kleine schwedische Kameraden finden! Was soll das bedeuten? Ein paar kleine … Ach, darüber brauchen wir gar nicht zu reden!« Ich mußte lächeln. »Brilles Tante meint es gut«, sagte ich. Erik nickte. »Natürlich meint sie es gut«, gab er zu. »Aber sie braucht doch deshalb nicht mit uns zu sprechen, als ob wir noch in den Kindergarten gingen! Für wie alt mag sie uns wohl halten? Für fünf Jahre? Kleine schwedische Kameraden, daß ich nicht lache!« Als wir die Eintrittskarten gekauft hatten, gingen wir über die Brücke und bogen nach links zum Jachthafen ein. Wir gingen am Ufer entlang und betrachteten die einzelnen Boote, die längs der Mole lagen. In einem davon, einem alten Motorboot, saß ein Mädchen in unserem Alter. Es war blond und sehr hübsch. »Hej!« rief Erik. Das Mädchen sah auf und lächelte. »Hej!« antwortete es dann. Ich sagte auch hej. Das junge Mädchen war damit beschäftigt, den alten Anstrich des Bootes
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mit einem Stück Sandpapier an einigen Stellen abzureiben. Sie trug eine verschossene blaue Matrosenhose und ein kariertes Hemd, das am Hals offenstand. Wir blieben vor ihr stehen. »Wenn ich Schwedisch könnte«, rief Erik ihr zu, »würde ich dich fragen, was du da unten tust.« Sie lachte. »Wenn du Schwede wärest, dann wärest du so intelligent, daß du gar nicht zu fragen brauchtest. Kannst du nicht sehen, daß ich den alten Anstrich abkratze?« Erik grinste. »Okay«, sagte er. »Doch, das kann ich tatsächlich sehen. Ich habe im Grunde auch nur gefragt, um mit dir ins Gespräch zu kommen.« »Rede nur weiter«, rief sie zurück. »Ich saß sowieso hier und langweilte mich.« Wir setzten uns auf die Mole und ließen die Beine ins Wasser baumeln. Da saßen wir also und redeten wohl eine Viertelstunde lang mit ihr. Sie wollte unsere Namen wissen und sagte, daß sie selber Maj-Brit hieße. Erik behauptete, das sei ein schöner Name. Aber schließlich standen wir auf und sagten, daß wir hofften, sie ein anderes Mal wiederzutreffen. Wir verabschiedeten uns von ihr und gingen über die Mole wieder stadtwärts.
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Mitten auf der Mole standen zwei Jungen in unserem Alter; Sie sahen irrsinnig unfreundlich aus. Als wir schon ganz in ihrer Nähe waren, merkten wir, daß sie überhaupt nicht daran dachten, zur Seite zu gehen, um uns vorbeizulassen. Wir mußten deshalb stehenbleiben. »Habt ihr vielleicht vor, den ganzen Abend hier herumzustehen?« erkundigte Erik sich. Sie antworteten nicht. Sie hatten beide mürrische, verbissene Gesichter. Sie glichen einander. Ich schloß daraus, daß es wohl Brüder waren. Vielleicht sogar Zwillinge. Wir wußten nicht so recht, was wir tun sollten. Wir konnten nicht an den beiden vorbeikommen. Wenn wir aber versuchten, uns um sie herumzuschlängeln, dann würde das damit enden, daß wir ins Wasser purzelten. »Seid so nett und geht ein bißchen zur Seite«, forderte Erik sie auf. Sie antworteten nicht, blieben stehen und starrten uns an. Sie sahen jetzt fast noch finsterer aus als vorher. »Was bildet ihr euch eigentlich ein?« fragte Erik. »So zwei – mh? – so zwei – Schweden!« Der eine von den beiden ballte die Fäuste. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen und sagte:
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»Sie können nichts dafür, daß sie Schweden sind.« »Natürlich können sie was dafür«, erwiderte Erik. Ich glaubte sehen zu können, wie das Nationalgefühl in ihm wach wurde. »Natürlich können sie was dafür«, wiederholte er. »Wir hätten ihnen niemals Skåne überlassen sollen! Mein Gott, waren wir dumm! Und Halland!« »Und Blekinge«, ergänzte ich. »Eben! Solche Riesenidioten sind wir gewesen. Wir sind immer zu entgegenkommend, das ist das einzige, was wir können. Und jetzt sehen wir, was wir davon haben! Wir treten ihnen Skåne, Halland und Blekinge ab, und was geschieht? Sie stellen sich uns einfach in den Weg und werden frech. Könnt ihr nicht mal zur Seite gehen, hm?« Der eine der beiden Brüder holte ein Päckchen Kaugummi aus seiner Tasche und stopfte sich mehrere Stücke in den Mund. Er warf das leere Päckchen ins Wasser und fing an zu kauen. »Tolle Burschen, was?« stellte Erik fest. »Benehmen sich wie Amerikaner.« »Die sind hartgesotten«, erwiderte ich. »Ein paar unverschämte Kerle«, schimpfte Erik. »Macht, daß ihr fortkommt! Sonst werden
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wir euch mal zeigen, wie man eine schwedische Jugendmannschaft behandelt.« Der andere der beiden Brüder kniff die Augen zusammen und hielt uns seine Fäuste entgegen. »Und wie behandelt ihr eine schwedische Jugendmannschaft?« erkundigte er sich, fast ohne den Mund aufzumachen, so auf Gangstermanier. »Liest du niemals Zeitungen?« fragte Erik zurück. »Die schwedische Jugendmannschaft versteht vom Fußballspielen nicht mehr als ein Haufen Kindergartenkinder. Es ist rein zum Lachen!« Der erste der beiden tat einen Schritt auf uns zu. »Sag das noch einmal!« »Das will ich gerne tun«, antwortete Erik. »Die schwedische Jugendmannschaft ist ein Haufen Straßenjungen, die zittern und beben wie ein Klecks Gelee, wenn sie nur einen Dänen auf einem Amateurfoto sehen! Jetzt wißt ihr Bescheid!« Im nächsten Augenblick war die Balgerei in vollem Gange. Es wurde eine von den Raufereien, von denen man später, wenn man ein sehr alter Mann geworden ist, an langen, dunklen Winterabenden seinen Enkelkindern erzählt. Eine von den Rau-
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fereien, meine ich, bei denen wirklich etwas geschieht. Sie war voll von dramatischen und gefährlichen Situationen. Die gefährlichen Momente rührten daher, daß wir uns dicht am Rand der Mole verprügelten, das klare, tiefe Wasser des Vättersees gleich neben uns. Und es wurde eine sehr ausgedehnte Rauferei. Das kam daher, daß wir vier ungefähr gleich stark waren. Keiner von uns wurde geschlagen, und keiner von uns gab nach. Wir schlugen uns so lange, bis wir keine Luft mehr bekamen und unsere Knie vor Anstrengung zitterten. Erik und ich ließen uns auf die Mole niederfallen. Die beiden Brüder folgten unserem Beispiel. Sie setzten sich ein paar Meter von uns entfernt hin, schielten zu uns herüber und wischten das Blut von ihren Wunden ab. Sie hatten viele Wunden. Wir aber auch. Erik hatte eine Schramme über einem Auge, aus der das Blut über sein Gesicht lief. Meine Knöchel bluteten. Unsere Sachen waren arg mitgenommen, aber nicht mehr als die der beiden Brüder. Wir waren schmutzig und verschwitzt und blutig und sahen alle vier gefährlich aus. Wir fühlten uns als Todfeinde, und sobald wir wieder zu Kräften gekommen sein würden, würden wir wieder aufeinander losgehen.
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Da stand plötzlich Maj-Brit vor uns. Sie hatte die Hände in die Seiten gestemmt. »So ein paar Dummköpfe!« rief sie. »Jungen sind die größten Dummköpfe, die man auf der Welt findet. Ihr solltet euch schämen – das solltet ihr wirklich!« Sie wusch uns ordentlich die Köpfe, nicht nur Erik und mir, sondern uns allen vieren. Wir saßen da und waren zunächst viel zu erschöpft, um ihr überhaupt antworten zu können. Sie sagte noch einmal, daß Jungen die verdrehtesten Wesen auf der ganzen Welt seien. Sie behauptete, daß wir niemals in Frieden leben könnten und niemals an etwas anderes als an Schlägereien dächten.
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»Jetzt hör aber mal auf und halt den Mund!«, sagte einer der Schweden. »Sind Mädchen vielleicht besser?« fragte Erik. »Ihr denkt an nichts anderes als an eure Kleider und ähnliche Sachen.« »Genau!« sagte der andere der beiden Brüder. »Kleider und Kleider und nochmals Kleider – ach, ich mag gar nicht daran denken!« »Das tun wir nicht!« »Das tut ihr doch!« rief Erik. »Wir tun es nicht!« »Ach, nun hört doch schon auf«, sagte der erste der Brüder. Je mehr Maj-Brit uns ausschimpf-
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te, um so weniger böse wurden wir vier aufeinander. Sie hatte das geschaffen, was man die dritte Front nennt. Je mehr sie auf uns und auf Jungen im allgemeinen schimpfte, um so enger hielten wir zusammen. Schließlich aber schwieg sie, völlig außer Atem. Der eine der Brüder lächelte. »Mädchen sind schon anstrengend«, sagte er zu uns gewandt. »Das sind sie wirklich«, gab Erik ihm recht. »Aber man kann sie trotzdem nicht entbehren.« »Kann man das wirklich nicht?« fragte der zweite Bruder. »Die da könnten wir ganz gut entbehren.« Er nickte ganz sorgenvoll zu Maj-Brit hin, die sich zwischen ihm und Erik auf die Mole hatte plumpsen lassen. »Warum gerade sie?« forschte Erik nach. »Ich meine eher, daß …« Seine Stimme klang ein wenig überrascht. Ich konnte das gut verstehen, denn Maj-Brit war wirklich ein sehr nettes und hübsches Mädchen. »Mein Gott, ist es dir denn noch nicht aufgegangen?« sagte der andere Bruder. »Was denn?« fragte Erik völlig unbefangen. »Die da, das ist doch unsere Schwester.« Erik mußte lachen.
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»Dann ist es etwas anderes«, gab er zur Antwort. »Übrigens ist sie sehr hübsch.« »So, findest du?« wollte der erste Bruder wissen. »Ja, wirklich«, sagte Erik. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und lächelte ihn an. Er fragte: »Wie heißt ihr übrigens, falls wir uns noch einmal begegnen sollten? Ich heiße Erik, und der da heißt Kim.« »Ich heiße Stig«, sagte der, der uns am nächsten saß, »und mein Bruder heißt Gösta. Unsere Schwester heißt Maj-Brit.« Wir blieben sitzen und schwatzten miteinander. Die beiden Brüder entpuppten sich jetzt als zwei sehr nette Burschen, sie waren nur viel zu ernst. Ich glaube, während der ganzen Zeit, die wir uns zusammen unterhielten, haben sie nicht ein einziges Mal gelacht. Das tat dagegen MajBrit. Sie lachte oft, auch wenn sie keinen rechten Grund dazu hatte. Stig sagte, daß Jönköping eine todlangweilige Stadt sei, in der niemals auch nur das Geringste passiere. »Das haben wir auch schon gemerkt«, erwiderte ich. »Wir sind nämlich verwöhnt«, erklärte Erik. »Wir pflegen immer eine Menge spannender Sa-
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chen zu erleben, Kim und ich und noch einer, der Brille heißt. Außerdem gehört noch ein Mädchen zu uns, das Katja heißt. Wißt ihr, wer wir sind? Wir sind die Hauptpersonen in einer Jugendbuchserie, die ›Kim-Bücher‹ heißt.« »Das ist ja wohl gelogen, was?« fragte Gösta. »Das ist nicht gelogen, nicht wahr, Kim?« »Nee«, sagte ich, »aber darüber brauchen wir jetzt nicht zu sprechen.« »Warum nicht?« wollte Erik wissen. »Kim schreibt die Bücher. Erst erleben wir alles mögliche, und hinterher setzt Kim sich hin und schreibt alles auf. Habt ihr noch nie eins von den Kim-Büchern gelesen?« »Nee«, gestand Stig. »Dann müßt ihr das aber mal tun. Sie handeln alle miteinander von uns und unseren Erlebnissen. Wir haben bereits Diebe und Mörder und ausländische Agenten gefangen und alles mögliche sonst noch. Sind die Kim-Bücher eigentlich ins Schwedische übersetzt, Kim?« Ich nickte. »Dann müßt ihr sie unbedingt lesen. Und ihr müßt Katja und Brille kennenlernen. Können wir uns nicht für morgen verabreden? Was haltet ihr davon?« Das hielten alle drei für eine gute Idee. Wenn
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das Wetter gut würde, wollten sie aufs Wasser und eine Motorbootfahrt machen. Wenn wir Lust hätten mitzufahren, dann … Wir sagten natürlich, daß wir das schrecklich gern tun würden. Dann fragte Stig noch: »Was ihr da von den Verbrechern gesagt habt: es handelt sich dabei doch nicht um richtige Verbrecher, oder? Ich meine, in Wirklichkeit laufen Jungen und Mädchen doch nicht herum und fangen Verbrecher.« »Normalerweise tun sie das auch nicht. Aber wir, wir bringen das fertig.« Gösta stöhnte. »Wenn wir das doch auch mal könnten«, seufzte er. Die beiden Jungen waren nämlich ganz richtige Zwillinge, es kam daher selten vor, daß einer von ihnen ich sagte. Sie sagten immer wir. »Wir haben uns immer schon gewünscht, mal bei so einer Sache dabeizusein, nicht wahr, Stig?« Stig nickte finster vor sich hin. »Allerdings.« »Unser Vater ist Polizeibeamter«, erklärte Gösta uns. »Kriminalbeamter«, verbesserte Stig. »Aber hier in Jönköping geschieht ja nie etwas.« Nun, das Ganze endete damit, daß wir fünf die besten Freunde wurden. Erik sagte, daß er,
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wenn er es richtig überlege, doch zugeben müsse, daß er sich im Hinblick auf die schwedischen Jugendmannschaften geirrt habe. Er könne sich jetzt erinnern, daß sie die Dänen ein paarmal geschlagen hätten. »Und was Skåne, Halland und Blekinge angeht«, fügte er hinzu, »Schwamm drüber! Ich meine: Behaltet das alles ruhig.« »Dafür danken wir dir«, sagte Gösta vollkommen ernst. Erik winkte mit der Hand ab. »Darüber brauchen wir nun nicht mehr zu reden. Das ist erledigt!« Wir verabredeten, daß wir uns am nächsten Tag gegen zehn Uhr auf der Mole treffen wollten. Daraufhin verabschiedeten Erik und ich uns und liefen mit Riesenschritten nach Hause. Als wir dort ankamen, schlug Brilles Tante entsetzt die Hände zusammen. Katja und Brille starrten uns ganz erschrocken an. Jetzt erst ging es uns richtig auf, wie gefährlich wir aussahen, mit Schmutz und Blut am ganzen Körper, mit zerrissener Kleidung und mit völlig zerzausten Haaren. »Was ist denn nur geschehen, Kinder?« fragte Brilles Tante. Erik grinste. »Ach«, sagte er dann, »Kim und ich sind draußen gewesen und haben Ihren Rat befolgt. Wir haben uns ein paar kleine schwedische Kameraden gesucht!«
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Nach der Kinovorstellung bummelten wir noch ein bißchen durch die Stadt. Erik und Brille wollten gern zu dem großen Hafen und sich da ein bißchen umsehen. Dazu aber hatten Katja und ich keine rechte Lust, deshalb trennten wir uns. Vorher hatten wir noch vereinbart, daß Brille und Erik den Schlüssel auf dem kleinen Vorsprung über der Haustür lassen sollten, damit wir selber aufschließen konnten, wenn wir nach Hause kamen. Es schien nämlich ziemlich sicher, daß die beiden vor uns zu Hause sein würden. Sie hatten, wie sie erzählten, ein paar Bücher, die sie gern lesen wollten. Katja und ich gingen in östlicher Richtung über die Hauptstraße, und ich erzählte ihr dabei von Maj-Brit und ihren beiden Brüdern. Erik und ich hatten schon ein bißchen von ihnen erzählt, aber nicht allzuviel, weil wir uns beeilen mußten, um nicht zu spät ins Kino zu kommen. Zwischendurch blieben wir manchmal vor einem Schaufenster stehen und sahen uns die Auslagen an. Schließlich gingen wir den gleichen Weg zurück, diesmal aber auf der anderen Straßenseite. Es waren viele Menschen unterwegs, der Abend war nämlich mild und mondhell.
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Als wir in die Nähe der Brücke kamen, gingen wir auf die Mole hinaus und blickten über den Vättersee. Das Wasser glänzte im Mondlicht und bewegte sich fast gar nicht. Drüben über dem anderen Teil der Stadt stand der Mond groß und rund und weiß. Nach etwa einer halben Stunde gingen wir zur Storgatan zurück und machten uns ganz gemächlich auf den Heimweg. Katja sah sich im Gehen ab und zu um. »Warum guckst du dich um?« erkundigte ich mich. Sie schüttelte den Kopf. »Och, nur so«, sagte sie. Wir gingen weiter. Aber schon nach kurzer Zeit sah sie sich wieder um. Ich tat es diesmal auch, aber ich konnte beim besten Willen nichts Ungewöhnliches entdecken. »Du, Kim«, flüsterte sie mir zu, »du wirst vielleicht denken, ich sei verrückt, aber ich glaube, daß wir von einem Mann verfolgt werden.« »Wir werden verfolgt?« wunderte ich mich. »Warum, in aller Welt, sollte wohl jemand auf den Gedanken kommen, uns zu verfolgen?« »Darüber wundere ich mich ja auch. Aber ich bin ziemlich sicher, daß der Mann uns beschattet. Er hat sich nämlich in einem Hauseingang
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versteckt, als ich mich zum letzten Mal nach ihm umdrehte.« »Ich habe aber niemand Verdächtiges gesehen. Wie sieht der Mann denn aus?« »Er hat einen grauen Anzug an. Ich habe ihn ja auch nur von weitem gesehen. Dem Aussehen nach kann er so etwa fünfzig Jahre alt sein. Außerdem ist er ziemlich groß. Und er ist dunkel.« »Komm«, schlug ich vor, »laß uns weitergehen.« Ich glaubte das, was Katja sagte, nicht recht. Höchstwahrscheinlich war es nur ihre Phantasie, die mit ihr durchging. Wer sollte schon ein Interesse daran haben, uns zu verfolgen? Wir gingen also ein ganzes Stück weiter, ohne uns noch ein mal umzusehen. Schließlich kamen wir an die Stelle, an der es anfängt, stiller auf der Hauptstraße zu werden. Hier sind kaum noch Menschen und auch fast gar keine Geschäfte mehr, nur noch Wohnblöcke und Bürohäuser auf der einen Seite der Straße und das Eisenbahngelände mit der Gepäckabfertigung, mit Weichen und ähnlichem auf der anderen Seite, zwischen Straße und See. Ich wandte mich jetzt unvermittelt um, und da konnte ich feststellen, daß Katja recht hatte. Ein gutes Stück hinter uns, drüben auf der anderen Straßenseite, war eine schwarze Erscheinung plötzlich in der Dunkelheit verschwunden.
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»Hast du ihn gesehen?« fragte Katja. Ich nickte. Der Mann war zu weit von uns fort, so daß ich nicht erkennen konnte, wie er aussah. Er wirkte nur wie ein Schatten. »Das ist ja eigenartig«, sagte ich. »Da siehst du, daß ich recht hatte«, freute Katja sich. Ich nickte wieder. »Wir wollen uns gar nicht darum kümmern«, schlug ich vor. Wir gingen also weiter. Katja hatte ein wenig Angst. Ich aber nicht, denn da war ja nichts, wovor man sich fürchten mußte. Der Mann konnte uns ja gar nichts anhaben, fand ich. Ich faßte einen Entschluß. »Komm«, sagte ich zu Katja, »laß uns ein Stück zurückgehen.« Sie überlegte einen Augenblick. »All right«, stimmte sie dann zu. Wir überquerten die Straße und machten uns auf den Weg zur Stadt zurück. Wir gingen schnell. Ein Stück vor uns tauchte ein Mann aus der Dunkelheit auf und schlug denselben Weg ein wie wir. »Bist du dafür, daß wir ihn überholen?« »Ja«, flüsterte ich zurück, »ich möchte nämlich gern wissen, wie er aussieht.« Wir gingen also noch ein bißchen schneller. Daraufhin beschleunigte der Mann vor uns auch
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seine Schritte. Er trug eine graue Kombination. Er war barhäuptig und dunkelhaarig und ziemlich groß. Nach einigen Minuten näherten wir uns wieder dem erleuchteten Teil der Storgatan. Und da war der Mann plötzlich verschwunden. Wir blieben stehen. »Er muß irgendwo zwischen den Häusern hindurchgeschlüpft sein«, meinte Katja. Nachdem wir wohl fünf Minuten gewartet hatten und der Mann immer noch nicht wieder aufgetaucht war, drehten wir uns um und schlugen den Heimweg ein. Wir kamen an einem Würstchenverkäufer vorbei, der in seiner Würstchenbude saß und sich langweilte. Da wir hungrig geworden waren, gingen wir zu ihm hin und kauften für jeden von uns ein Paar Würstchen. Er freute sich, daß Kunden zu ihm kamen. Wir unterhielten uns ein Weilchen mit ihm und gingen dann weiter. Ich guckte mich noch ein paarmal um, konnte aber nichts Verdächtiges mehr feststellen. Als wir beinahe zu Hause waren, fragte Katja: »Bist du wirklich überzeugt, daß wir den Mann abgeschüttelt haben?« »Ich bin ziemlich sicher«, sagte ich. »Aber wir wollen nicht mehr davon sprechen. Es macht
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bestimmt nichts, wenn er weiß, wo wir wohnen.« Wir gingen durch den kleinen Garten vor dem Haus. Bei Brille und Erik war kein Licht. Nur im Zimmer von Brilles Tante war es hell. »Die beiden sind noch nicht zu Hause«, stellte Katja fest. Das Licht über der Haustür brannte. Ich stellte mich auf die Zehen und griff nach dem Schlüssel auf dem Vorsprung über der Tür. Dann schloß ich auf. Da faßte Katja mich plötzlich am Arm. »Was ist los?« »Da unten am Gartentor! Da unten am Gartentor hat sich etwas bewegt. Draußen vor dem Tor, meine ich.« »Das war wahrscheinlich eine Katze«, beruhigte ich sie. »Nein, Kim, es war ein Mensch.« »Und was soll das?« fragte ich. Ich war ein bißchen ärgerlich auf Katja, weil sie die ganze Sache so dramatisierte. »Da ist jemand am Gartentor vorbeigeschlichen.« »Unsinn«, sagte ich. »Es mag schon sein, daß jemand da vorbeigegangen ist. Aber das ist doch wirklich nichts Besonderes. Hier an diesem Weg stehen eine ganze Reihe Häuser. Vielleicht ist es
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jemand gewesen, der auf dem Weg nach Hause war.« Ich zog den Schlüssel aus dem Schloß und legte ihn auf den Vorsprung zurück, damit Brille und Erik die Tür öffnen konnten, wenn sie nach Hause kamen. Dann gingen wir hinein. Aber Brille und Erik waren schon lange zu Hause. Sie saßen mit Brilles Tante zusammen und tranken Tee. Katja holte auch für uns zwei Tassen und goß uns Tee ein. Wir saßen um den Tisch herum und unterhielten uns. Weder Katja noch ich sagten ein Wort davon, daß wir von einem geheimnisvollen Mann verfolgt worden waren. Wir wollten Brilles Tante nicht beunruhigen. »Habt ihr etwas Spannendes erlebt?« erkundigte Brille sich. »Absolut nichts«, schwindelte Katja. Kurz nach zehn Uhr sagten Brille, Erik und ich gute Nacht und zogen uns in unser gemeinsames Zimmer zurück. Wir hatten kaum die Tür hinter uns zugezogen, als ich auch schon anfing, von dem Mann zu berichten, der Katja und mich beschattet hatte. Die beiden hörten mit gespitzten Ohren zu. Eriks Augen strahlten. »Ich werd’ verrückt, Mann! Endlich etwas Spannendes!«
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»Auf diese Art und Weise bekommst du vielleicht doch noch Stoff für dein nächstes Buch, Kim«, sagte Brille vergnügt. »Es sieht fast danach aus«, erwiderte ich. Es war Nacht, und das Mondlicht fiel in breiten Streifen durch das Fenster. Ich wußte nicht, wovon ich aufgewacht war. An meiner Seite lagen Erik und Brille und schliefen ruhig. Ich aber war hellwach und horchte auf ihre Atemzüge. Andere Geräusche waren nicht zu hören. Im ganzen Haus war es still. Die ganze Welt war still. Es mochte wohl kurz vor drei Uhr sein. Ich lag da und hoffte, daß das Wetter morgen gut sein würde, damit wir mit Gösta und Stig und MajBrit die geplante Fahrt unternehmen konnten. Natürlich dachte ich zwischendurch auch einmal an den Mann, der uns gefolgt war. Aber jetzt, als ich in aller Ruhe noch einmal darüber nachdachte, kam es mir immer mehr so vor, als ob das Ganze gar nicht so geheimnisvoll gewesen war, wie es zuerst den Anschein hatte. Es würde sich schon eine ganz natürliche Erklärung dafür finden. Wer sollte schon ein Interesse daran haben, gerade uns zu verfolgen? Da hörte ich ein Geräusch aus dem Zimmer unter uns. Ich blieb still liegen, hielt den Atem
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an und lauschte so intensiv ich nur konnte. Da war es wieder: ein knarrender Laut, so, als ob jemand auf ein Dielenbrett trat. Ich lag unbeweglich da und wagte kaum zu atmen, bis ich schließlich über mich selber lachen mußte. Mein Gott, in einem Holzhaus gab es nachts wohl immer Geräusche durch irgendwelche Dielenbretter, die arbeiteten, wenn die Temperatur sich änderte. Die geheimnisvollen Laute waren höchstwahrscheinlich auch in den vergangenen Nächten dagewesen, aber da hatte ich sie einfach verschlafen. Jetzt knarrte es wieder. Ich blieb still liegen und dachte, daß es für Menschen mit schwachen Nerven schwer sein mußte, in einem Holzhaus zu wohnen. Wenn ich schwache Nerven hätte, würde ich die Laute, die ich jetzt hörte, bestimmt für schleichende Schritte oder knarrende Türen gehalten haben. Das letzte Geräusch erinnerte sehr an eine knarrende Tür. »Du hast zuviel Phantasie, alter Freund«, sagte ich zu mir selber. In dem Moment hörte ich, wie unter mir etwas auf den Fußboden fiel. Es war kein starkes Geräusch. Ich wickelte mich aus meinem Schlafsack und setzte mich auf. Jetzt war nichts mehr zu hören. Ich blieb eine Weile still sitzen und
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horchte nach unten. Ich saß da und wünschte, Brille und Erik hätten einen Augenblick lang aufgehört, so laut zu atmen, damit ich ungestörter hätte lauschen können. Ich sah zur Tür – und da spürte ich, wie sich mir die Haare sträubten, denn da, durch den Spalt unter der Tür, sah ich einen schwachen Lichtschein, nur einen Augenblick lang, dann verschwand er wieder. Nun bestand kein Zweifel mehr. Da unten war jemand! Ich faßte mit der Hand nach Eriks Schulter und schüttelte ihn vorsichtig. »Erik, wach auf!« flüsterte ich ihm ins Ohr. Er drehte sich mit einem Knurren um und richtete sich dann ganz verschlafen auf. »Was ist denn los?« murmelte er. »Da unten sind Diebe.« »Ach, du bist nicht ganz gescheit«, sagte er dann. Er legte den Kopf wieder zurück und wollte weiterschlafen. »Erik, ich meine es ernst«, sagte ich. »Da unten ist jemand.« Er richtete sich wieder auf. »Ist das wirklich wahr?« »Es ist wahr. Sei so gut und wecke Brille.« Während Erik Brille weckte und ihm die Situation erklärte, stand ich schon auf und zog Hose
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und Schuhe an. Ich war mir noch nicht richtig klar darüber, wie wir die Sache anpacken sollten. »Wo ist die Taschenlampe?« flüsterte ich. »Die ist drinnen bei Katja!« »Dann müssen wir ohne fertig werden.« »Was willst du denn tun?« flüsterte Brille. Ich schüttelte den Kopf. »Die Tür knarrt, sobald man sie nur ansieht. Wenn wir sie aufmachen, können die da unten uns sofort hören«, sagte Erik. Er und Brille waren dabei, sich anzuziehen. »Wie wäre es mit dem Fenster?« fragte Brille. Ich hatte auch schon daran gedacht. Ich stand deshalb schon am offenen Fenster und sah hinunter. Es war nicht sehr tief bis da unten, nicht tiefer, als wir springen konnten. Ich setzte mich auf die Fensterbank und schwang die Beine heraus. »Ich springe zuerst. Dann laufe ich zur Haustür. Brille kann die Küchentür übernehmen, und du, Erik, kannst an das Gartentor laufen.« »Okay, Boß«, sagte Erik. Ich stieß mich mit den Händen ab und sprang. Als ich unten war, wartete ich nicht, bis die beiden anderen mir nachgekommen waren. Ich war mir darüber klar, daß der Dieb den Aufschlag gehört haben mußte, mit dem ich auf
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dem Gartenweg ankam. Ich raste zur Haustür. Sie stand weit offen. Hinter mir hörte ich, wie Brille und Erich sich herunterfallen ließen. Ich hatte Gummisohlen unter meinen Schuhen. Durch die Dunkelheit hinter der offenen Tür schlüpfte ich in die kleine Diele, in der die Mäntel und die Regenkleidung hingen. Ich versteckte mich in einer Ecke, blieb still stehen und hielt den Atem an. Ich wagte nicht, weiter in das Zimmer hineinzugehen. Auch die Tür zum Wohnzimmer stand einen Spalt breit offen. In der nächsten Sekunde wurde sie weit aufgerissen. Ein Mann stand einen Augenblick unentschlossen auf der Schwelle zwischen Wohnzimmer und Diele. Er leuchtete mit einer Taschenlampe die ganze Diele ab und entdeckte mich dabei. Ich weiß genau, daß ich mich auf ihn hätte stürzen müssen. Aber das wagte ich nicht. Außerdem glaubte ich, daß da zwei Personen wären. Er leuchtete mich also an und war dann mit zwei Sprüngen an der Haustür. Ich konnte ihn nicht erkennen, weil mir das Licht direkt in die Augen fiel. Ich konnte ihn überhaupt erst sehen, als er dicht an der Haustür war. Da sah ich ihn in dem Spiegel, der an der Wand hing, aber nur bei schwacher Beleuchtung, in dem geringen Wider-
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schein nämlich, der von der Taschenlampe auf sein Gesicht fiel. Im nächsten Augenblick war er aus der Tür hinaus und weg. Er lief aber nicht zum Gartentor hinunter. Er sprang über die niedrige Hecke auf das Nachbargrundstück und verschwand. Brille, Erik und ich liefen wohl eine halbe Stunde lang durch die ganze Gegend, schließlich gaben wir aber doch die Hoffnung auf, ihn noch einmal wiederzusehen. Wir gingen zum Haus zurück. Die Tür stand noch immer offen. »Nein, wie frech der doch war«, sagte Erik. »Seht mal her, er hat unseren Schlüssel benutzt. Warum hast du den auch nicht mit hereingenommen, Kim?« »Als wir zurückkamen, wußten wir ja nicht, daß ihr beide schon zu Hause wart. Deshalb habe ich den Schlüssel wieder auf den Vorsprung gelegt. Und nachher habe ich ihn ganz vergessen.« »Wie konnte der Mann aber wissen, daß da ein Schlüssel lag?« überlegte Brille. »Ach, ich glaube, ich weiß es: es war derselbe Mann, der Katja und dich verfolgt hat!« »Genau«, sagte ich. »Katja behauptete ja, daß jemand unten am Gartentor gewesen sei, als ich die Haustür aufschloß. Aber ich meinte, sie hätte Gespenster gesehen.«
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»Ich kann es trotzdem noch nicht verstehen«, fuhr Brille fort. »Warum sollte wohl jemand bei meiner Tante einbrechen? Ich glaube nämlich nicht, daß sie etwas besitzt, das sich zu stehlen lohnt. Vielleicht ein paar Silbersachen oder so etwas, aber das ist auch alles.« »Wir sollten lieber einmal nachsehen, was der Mann gestohlen hat«, schlug Erik vor. Wir schlichen uns in das Wohnzimmer und schalteten das Deckenlicht an. Die Schubladen der Kommode waren halb herausgezogen. Man konnte sehen, daß der Dieb den Inhalt durcheinandergeworfen hatte. Es sah aber nicht so aus, als ob da etwas fehle. »Guckt mal in die Silberschublade«, sagte Brille. Erik zog die Silberschublade heraus. »Da fehlt auch nichts«, meinte er. »Es sieht fast so aus, als ob wir ihn gestört hätten, ehe er überhaupt etwas fortnehmen konnte. Aber was machen wir nun? Ich meine: sollen wir deiner Tante etwas davon sagen, oder sollen wir das Ganze für uns behalten? Ich schlage vor, wir versuchen, die Angelegenheit aufzuklären.« »Wenn nichts gestohlen worden ist, besteht eigentlich kein Grund, meine Tante nervös zu machen«, meinte Brille. »Laßt uns nur die Schub-
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laden ein bißchen aufräumen, ehe wir wieder zu Bett gehen.« Eine halbe Stunde später lagen wir in unseren Schlafsäcken. Alle Spuren von dem Dieb waren entfernt. »Ich möchte ja doch wissen, wer das war«, fing Brille an. »Ich weiß es«, sagte ich. Die beiden setzten sich mit einem Ruck auf. »Was hast du da gesagt?« »Ich weiß genau, wer es war«, wiederholte ich. »Ja, aber warum hast du uns das denn nicht schon eher erzählt?« »Weil ich fürchtete, daß ihr es mir nicht glauben würdet. Es klingt nämlich ganz unwahrscheinlich.« »Hast du denn gesehen, wer es war?« »Ja. Zuerst konnte ich ihn allerdings nicht erkennen, weil er mir mit der Taschenlampe direkt ins Gesicht leuchtete. Aber als ich den Kopf zur Seite drehte, um aus dem Lichtkegel herauszukommen, konnte ich ihn im Spiegel sehen, der unten in der Diele hängt.« »Deutlich?« »Nein, nicht ganz deutlich. Aber deutlich genug. Ich bin eigentlich ganz sicher, daß er es war.«
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»Wer? Nun sag es doch endlich!« bedrängte Erik mich. »Es war der eine von den beiden Männern, die auf dem Schiff nach Malmö waren. Der Dunkelhaarige, der, der Deutsch sprach.« Es dauerte eine Weile, ehe sie antworteten. Dann sagte Brille: »Aber das ist doch unmöglich, Kim. Was sollte der denn wohl hier?« »Das weiß ich auch nicht. Aber er war es. Und er muß es auch gewesen sein, der Katja und mich gestern abend verfolgt hat.« Ich merkte wohl, daß sie mir nicht recht glaubten. Das war es ja, was ich befürchtet hatte. »Ihr glaubt mir wohl nicht?« Erik schüttelte langsam den Kopf. »Natürlich glauben wir, was du sagst. Aber könnte es nicht jemand gewesen sein, der Ähnlichkeit mit ihm hat? Ich meine, weil du ihn ja nicht ganz deutlich gesehen hast, oder? Es war doch dunkel, und das Ganze ging so schnell vor sich.« »Er war es«, sagte ich voller Überzeugung. »Okay, okay, wir wollen morgen weiter darüber sprechen.«
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Am nächsten Morgen wachte ich bei hellem Sonnenschein auf. Sobald ich die Augen aufgeschlagen hatte, fielen mir die Ereignisse der Nacht wieder ein. Ich drehte den Kopf zur Seite und stellte fest, daß Erik schon auf seiner Matratze saß und im Begriff war, den alten Film aus seinem Fotoapparat zu nehmen. Er grinste mich an. »Nein, wie verschlafen du aussiehst!« »Das bin ich auch. Was machst du denn da?« »Ich nehme den alten Film aus dem Apparat. Ich will sehen, daß ich mir heute einen neuen kaufe.« »Hast du vor, den Apparat heute mitzunehmen?« Erik nickte. »Es ist ja wohl allmählich Zeit, daß ich ein paar vernünftige Aufnahmen mache.« Er runzelte die Stirn und guckte seinen Apparat an. »Das hier verstehe ich allerdings nicht. Als ich von zu Hause fortging, sagte mein Vater, daß mindestens noch zehn Bilder auf dem Film wären. Ich meinte, ich hätte auf unserer ganzen
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Fahrt noch nicht mehr als fünf oder sechs Bilder aufgenommen, und jetzt ist der Film schon zu Ende.« »Ich glaube auch, daß du noch nicht mehr gemacht hast«, sagte ich. Aber ich war noch viel zu verschlafen, um weiter darüber nachzudenken. »Wie spät ist es?« »Kurz nach acht«, antwortete Erik. Brille war inzwischen auch wach geworden. Er richtete sich auf und blinzelte mit den Augen. Wenn er seine Brille nicht trug, sahen seine Augen immer ganz klein aus. Jetzt klopfte es an die Tür. Es war Katja. Sie war schon vollständig angezogen. »Na, ihr habt ja einen gesunden Schlaf, ihr Murmeltiere«, sagte sie. »Ich bin schon ein paarmal hier oben gewesen und habe an der Tür gehorcht, aber ihr habt immer noch geschlafen.« »Wo ist meine Tante?« fragte Brille. »Sie ist unten in der Küche und kocht Kaffee.« »Dann komm ’rein. Wir müssen dir was erzählen.« Katja kam zu uns ins Zimmer, und wir fingen alle drei gleichzeitig an zu berichten, was in der Nacht geschehen war. Sie saß mit großen runden Augen da und hörte uns zu.
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»Kim ist der Meinung, daß es einer von den beiden ist, die wir auf dem Schiff gesehen haben«, erklärte Brille. »Er war es«, sagte ich mit Nachdruck. »Und er war es auch, der Katja und mich gestern abend verfolgt hat.« Katja nickte eifrig. »Das glaube ich auch. Er hatte nämlich die gleiche Größe.« »Er war es«, wiederholte ich. Ich war froh, daß wenigstens Katja mir glaubte. Wir saßen etwa zehn Minuten zusammen und redeten hin und her, aber davon wurde die ganze Angelegenheit nicht weniger geheimnisvoll. Keiner von uns konnte verstehen, warum der Mann uns bis nach Jönköping verfolgen sollte, nachdem wir mit eigenen Ohren gehört hatten, wie er eine Fahrkarte nach Stockholm verlangte. Oder warum er überhaupt ausgerechnet uns verfolgte. Brilles Tante rief von unten herauf, daß der Kaffee fertig sei, und fünf Minuten später waren wir gewaschen und angezogen und liefen die Treppe hinunter. Es war kurz nach neun Uhr, als wir fortgingen. Brilles Tante hatte für jeden von uns ein Proviantpaket fertiggemacht. Wir hatten unsere Bade-
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sachen mitgenommen, und Erik hatte seinen Fotoapparat über die Schulter gehängt. Es sah ganz so aus, als hätten wir einen schönen Tag vor uns. Wir hatten noch viel Zeit und schlenderten deshalb noch ein bißchen über die Storgatan. Dabei kam Erik auf den Gedanken, hier einen Film für seinen Apparat zu kaufen. Wir gingen darum ein Stück zurück bis zu einem Fotogeschäft, das wir im Vorbeigehen bemerkt hatten. »Dann kannst du den alten Film ja gleich zum Entwickeln dalassen«, schlug ich vor. »Das kann ich leider nicht«, erwiderte Erik, »den habe ich nämlich zu Hause auf der Matratze liegenlassen.« Wir drängelten uns alle vier in das Geschäft. Wir hatten kaum Platz darin, denn es war nicht besonders groß. Erik kaufte einen neuen Film. Als wir den Laden wieder verließen, wären wir beinahe über Gösta gestolpert. »Tut so, als ob ihr mich nicht kennt«, flüsterte er uns zu. Wir sahen uns ein bißchen verdutzt an und gingen dann in die entgegengesetzte Richtung. Wir verstanden sein eigenartiges Benehmen nicht, es mußte aber wohl etwas zu bedeuten haben. Wir gingen an der Brücke vorbei zum Jachtha-
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fen. Draußen im Boot saßen bereits Stig und Maj-Brit. »Hej!« rief Maj-Brit. »Jetzt sind wir ja bald alle zusammen. Gösta kommt auch gleich. Er ist eben noch einmal in die Stadt gegangen.« »Wir haben ihn schon getroffen«, sagte Erik. Und dann erzählten wir, was geschehen war. Maj-Brit seufzte. »Gösta ist immer schon ein bißchen komisch gewesen. Wenn er nur keinen Sonnenstich gekriegt hat!« Aber Gösta hatte keinen Sonnenstich bekommen. Einen Augenblick später kam er über die Mole gelaufen. »Hej«, rief er, »jetzt wollen wir aber sofort losfahren!« Stig ließ den Motor an. Wir setzten uns im Boot zurecht. Es war reichlich Platz für uns alle. Gösta machte die Vertäuung los und sprang an Bord, als das Boot schon von der Mole fortglitt. Wir sahen ihn fragend an. »Was war denn nun los?« fragte Erik. »Ihr wurdet von einem Mann verfolgt.« »Von einem dunkelhaarigen Burschen mit Brille?« forschte Katja eifrig. »Groß, schlank?« Gösta schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil«, erwiderte er. »Dieser
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Mann war eher klein. Er war kahlköpfig und hatte ein ziemlich rotes Gesicht.« »Kim, dann sind sie alle beide hier!« Katjas Augen strahlten. Gösta und Stig guckten uns fragend an. Sie verstanden natürlich keine Silbe. »Wartet noch, bis ich das Boot aus dem Hafen herausgebracht habe«, bat Stig. »Dann können wir ungestörter reden.« Als wir ein Stück weiter draußen auf dem Vättersee waren, erzählten wir den dreien die ganze Geschichte. Wir fingen bei der Fahrt von Kopenhagen nach Malmö an, und als wir damit fertig waren, berichteten wir von dem, was Katja und ich am vergangenen Abend erlebt hatten. Zum Schluß erzählten wir dann von dem nächtlichen Einbruch. Stig hatte den Motor abgestellt. Wir trieben ganz langsam auf der Stelle. »Das klingt ganz unglaublich«, sagte Maj-Brit. »Wie stellt ihr es nur an, daß ihr immer so viel erlebt?« »Wir erleben niemals etwas«, sagte Gösta traurig. »Doch, jetzt erlebt ihr auch etwas«, erwiderte Erik. »Ihr hättet es der Polizei melden sollen«, meinte Stig.
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Erik guckte ihn ärgerlich an. »Und was dann, Mann? Was, glaubst du, würde dann geschehen? Nicht das geringste! Ich meine: Nichts, worüber wir uns freuen könnten. Es wäre doch viel schöner, wenn wir den Mann selber erwischen könnten.« Maj-Brit war sofort Feuer und Flamme. Ihre beiden Brüder aber saßen da und sahen so finster und abweisend aus wie immer. »Solange wir nicht alles aufgeklärt haben, dürft ihr aber eurem Vater nichts davon erzählen«, verlangte ich. »Wollt ihr das versprechen?« Sie nickten alle drei. »Natürlich sagen wir nichts«, versprach Gösta. »Vater wird wild, wenn er dahinterkommt«, fuhr Stig fort. »Nicht, wenn wir kommen und den Mann abliefern«, meinte Maj-Brit. »Er wird trotzdem ärgerlich werden«, sagte Stig. »Du kennst ihn doch. In Jönköping passiert niemals etwas. Wenn jetzt endlich einmal etwas geschieht, möchte er auch gern dabeisein.« Erik grinste wieder einmal. »Dabeisein kann er, wenn wir anderen fertig sind. Ich will damit sagen: wenn wir alles aufgeklärt haben.« Wir sprachen lange über die Angelegenheit.
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Während der ganzen Zeit lagen wir mit abgestelltem Motor auf dem Wasser und trieben immer weiter von der Stadt weg. Ab und zu fuhren einmal andere Boote an uns vorbei. Nachdem wohl eine Stunde so vergangen war, startete Stig den Motor aufs neue und nahm Kurs auf das nordöstliche Ufer. Während wir uns unterhalten hatten, hatte Erik den neuen Film in seinen Apparat eingelegt. »Und du bist ganz sicher, daß dieser rotgesichtige Däne uns verfolgt hat, Gösta?« fragte ich. »Ganz sicher. Er verfolgte euch, und ich verfolgte ihn. Jedesmal, wenn ihr stehenbliebt, blieb er auch stehen. Er ging erst zurück, als er sah, daß ihr in das Fotogeschäft gingt.« Erik ging in den Vorsteven und machte ein Bild von uns. Gösta seufzte: »Ach, wenn wir doch auch an unseren Fotoapparat gedacht hätten! Aber Stig vergißt ihn immer.« »Du hast ihn vergessen«, wehrte sich Stig. »All right«, gab Gösta nach. »Wir haben ihn eben beide vergessen. Wir sind nämlich Amateurfotografen«, erklärte er uns. »Wir haben eine Contax; die haben wir zur Konfirmation bekommen.« »Die beiden gehen sehr geschickt damit um«,
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sagte Maj-Brit. »Sie haben schon bei zwei oder drei Foto-Wettbewerben Preise bekommen.« Gösta zog die Schultern hoch. »Diesmal werden wir wohl keinen bekommen«, sagte er. »Ihr müßt wissen, daß am Samstag eine Ausstellung stattfindet, auf der die besten Aufnahmen vom Sommer ausgewählt werden sollen. Wir haben ein paar Bilder eingeschickt, aber sie sind nicht besonders gut. Diesmal gewinnen wir auf keinen Fall etwas.« »Wir hätten heute unseren Apparat mitnehmen sollen, dann hätten wir vielleicht noch eine Chance gehabt. Die Einsendefrist läuft erst Freitag abend ab.« »Ich kann euch gern einmal meinen Apparat leihen«, bot Erik an. »Wirklich?« »Ja, natürlich.« »Wir bezahlen dir dann den Film.« Erik lehnte mit einer Handbewegung ab. »Darüber können wir später noch reden.« Wir fuhren an der Ostküste des Sees entlang und genossen die Sonne, die Aussicht und die angenehme Gesellschaft. Erik saß die ganze Zeit ruhig da und sah Maj-Brit an. Es lohnte sich aber auch, sie anzusehen. Sie hatte ganz helles
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Haar, das weich und glänzend war und an Honig oder reifes Korn oder so etwas Ähnliches erinnerte. Wir fuhren ganz nahe an der Küste entlang, so nah wir überhaupt konnten. Der Boden, der später steil ins Wasser abfiel, war in der Nähe des Ufers ziemlich seicht. Wir brauchten jedoch keine Angst zu haben, auf Grund zu geraten. Das Wasser war immer noch tief genug. Wir glitten ganz langsam an dieser abfallenden Stelle entlang. Am Ufer standen Bäume, die ihre Zweige weit über das Wasser streckten. Als wir uns genau unter einem dieser Bäume befanden, sprang Brille auf und ergriff einen dicken Ast. Das Boot glitt unter ihm weg. Stig stellte den Motor ab und ließ uns zurückgleiten. Brille hing an seinem Ast und lachte. »Halt dich noch einen Augenblick fest«, rief Erik. »Ich will schnell ein Bild von dir machen. Bleib so hängen!« Er stellte in aller Eile seinen Apparat ein. Die beiden Brüder saßen daneben und sahen ihm neidisch zu. »Jetzt bin ich soweit«, sagte Erik. »Ich auch«, antwortete Brille. »Bitte recht freundlich!« Brille lächelte.
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Er lächelte so lange, bis der Ast abbrach. Im Herunterfallen vergaß er das Lächeln jedoch. Er verschwand mit einem Platschen, das man bis hin nach Jönköping hören konnte, im Wasser, vollständig angezogen, die Hände immer noch fest um den Ast geklammert. Erik stieß einen Freudenschrei aus. »Ich hab’ ihn so geknipst! Mann, ich hab’ ihn so geknipst! Das finde ich großartig! Ach, Brille, mach das doch noch einmal! Habt ihr das gesehen? Nein, wie wundervoll! Ich habe genau im richtigen Moment abgedrückt!« Wir konnten alle nicht antworten. Wir waren ganz krank vor Lachen. Brille tauchte mit einem ganz erstaunten Gesichtsausdruck aus dem Wasser auf und kroch dann langsam und vorsichtig den Hang hinauf. Erik konnte vor Begeisterung beinahe nicht stillstehen. »Ach, das ist vielleicht ein Bild geworden! Jetzt braucht mein Vater sich seines Sohnes nicht mehr zu schämen! Auf dem Bild passiert ja wohl genug!« Brille schüttelte sich wie ein nasser Hund und lachte zu uns herunter. »Das hattet ihr nicht erwartet, was?« »Du selber aber auch nicht«, rief Erik. »Ich ha-
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be soeben das beste Bild aller Zeiten gemacht. Dafür bedanke ich mich bei dir, Brille.« »Ach, das war doch nichts Besonderes«, wehrte Brille ab. »Wenn wir das nur gewesen wären«, seufzte Stig. »Dann könnten wir das Bild noch mit zur Ausstellung geben.« »Das ist überhaupt eine Idee«, antwortete Gösta. »Wenn wir es schnell entwickeln, können wir es noch hinschicken.« »Ja, aber ich bin doch da nicht Mitglied«, wandte Erik ein. »Das kannst du ja werden«, sagte Stig. »Das brauchst du nur uns zu überlassen. Das bringen wir schon in Ordnung. Wir brauchen nur mit dem Ausstellungsleiter darüber zu sprechen.« Erik strahlte über das ganze Gesicht. »Glaubt ihr wirklich, daß sich das machen läßt?« Gösta nickte. »Das kannst du ruhig uns überlassen«, sagte er. »Hört mal, seid ihr gar nicht hungrig? Wir sind es nämlich.« »Ich auch«, sagte Maj-Brit. Wir warfen Brille das Tau zu. Er fing es auf und befestigte es unten an einem Baumstamm. Dann half er uns aus dem Boot. Wir nahmen
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unsere Proviantpakete mit, legten uns in das weiche Gras, schwatzten drauflos und vertilgten unsere Vorräte. Wir sprachen von unserem großen Geheimnis, über Eriks Bild und über die Fotoausstellung am Samstag. Als wir alles aufgegessen hatten, gingen wir ins Wasser. Danach legten wir uns wieder in den Sand, bis es schließlich Zeit wurde, die Rückfahrt anzutreten. Es war ein rundherum gelungenes Unternehmen. Wenn ich nicht noch mehr davon erzähle, dann nur deshalb, weil sich nichts mehr ereignete, was für diese Geschichte von Bedeutung ist. Außerdem würde der Platz viel zu knapp, wenn ich erst einmal anfinge, alles zu erzählen, was sonst noch geschah. Wir kamen gegen halb sechs nach Hause, bärenhungrig und mit erhitzten Köpfen. Gegen Abend fing es an, in Strömen zu regnen. Wir machten es uns im Haus gemütlich, saßen mit Brilles Tante zusammen und tranken Tee. Es regnete die ganze Nacht. Zum Glück verlief sie ohne irgendwelche dramatischen Ereignisse.
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Am nächsten Morgen regnete es immer noch. Aber gegen zehn Uhr rissen die Wolken auf, und die Sonne kam heraus. Katja, Brille, Erik und ich gingen zur Stadt hinunter, um zu sehen, ob wir die Zwillinge und ihre Schwester treffen würden. Wir kamen an dem Fotogeschäft vorbei, in dem wir am vergangenen Tag gewesen waren. Vor dem Geschäft war ein kleiner Menschenauflauf. Wir stellten uns dazu und versuchten etwas zu erfahren. Vor uns stand ein Junge in unserem Alter. Erik tippte ihn auf die Schulter: »Was ist da los?« »Da ist heute nacht eingebrochen worden. Die Polizei ist jetzt da und spricht mit dem Besitzer. Man glaubt, daß ein Geistesgestörter den Einbruch verübt hat. Und das glaube ich auch.« »Warum?« fragte Katja. Der Junge zeigte auf die Fotoapparate im Schaufenster. »Weil er die Apparate alle liegenlassen hat. Er hat keinen einzigen mitgenommen.« »Das ist ja eigenartig«, wunderte Brille sich. »Der war sicher geistesgestört«, sagte der schwedische Junge.
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»Man sagt, daß er überhaupt nichts gestohlen hat. In der Kasse waren vierzig Kronen, auch die hat er nicht genommen. Er war bestimmt …« »Geistesschwach«, ergänzte Erik. »So, nun wissen wir Bescheid. Übrigens kann es schon sein, daß du recht hast.« Dann gingen wir weiter. Wir kamen an der kleinen Grünanlage an der Nordseite der Storgatan vorbei. In dieser Anlage steht ein Pavillon, an dem man Eis und Sprudel und andere Erfrischungen kaufen kann. Vor dem Pavillon stehen Tische und Stühle. »Wie wär’s mit einer Coca-Cola?« fragte Brille. »Ich stifte sie.« Das nahmen wir gern an. Wir setzten uns an einen der Tische. Brille ging zum Pavillon und kam mit vier Flaschen Coca-Cola und vier Gläsern zurück. Während wir da saßen, beobachteten wir ein zahmes Eichhörnchen, das in den Bäumen herumsprang oder sich auf einen Ast setzte und darauf wartete, daß die Menschen an den Tischen ihm Brot zuwerfen würden. Ich faßte nach Eriks Arm. »Was gibt’s?« »Ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube, ich habe eben einen von den beiden Männern wie-
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dergesehen – und zwar den Dänen –, da drüben an dem Strauch.« »Ich kann nichts sehen.« »Jetzt sehe ich ihn auch nicht mehr«, mußte ich zugeben. »Aber vor einem Augenblick war er da. Vielleicht war es auch nur jemand, der ihm glich.« Wir beobachteten ein paar Minuten lang die Stelle, dann aber dachten wir nicht mehr an den Mann. Erik hatte seinen Fotoapparat abgenommen und auf den Tisch gelegt. Er machte die braune Lederhülle auf und sagte: »Da drinnen ist mein Meisterstück. Das Bild wird die ganze Menschheit in Staunen versetzen, und mich, Erik Birk, wird es in der ganzen zivilisierten Welt berühmt machen!« »Wenn du dadurch berühmt wirst, werde ich es auch«, meinte Brille. Erik erwiderte: »Ach was. Wenn es auf den Pfarrer herunterregnet, dann tropft es auf … oh!« Er brach unvermittelt ab, denn aus der Storgatan drang plötzlich lauter Lärm zu uns herüber. Zwei Autos waren zusammengestoßen. Das eine war ein Milchauto, das andere ein Lieferwagen. Es gab einen enormen Krach, weil drei oder vier Kästen mit Milchflaschen auf die Fahrbahn kipp-
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ten. Alle Leute um uns herum sprangen auf. Wir natürlich auch. Einen Augenblick später liefen wir schon mit Riesenschritten zur Unglücksstelle hin. Es hatte sich schlimmer angehört, als es war – glücklicherweise. Der Fahrer des Lieferwagens hatte eine tiefe Schramme auf der Stirn abbekommen, weil er mit dem Kopf gegen den Rückspiegel gestoßen war. Der Fahrer des Milchwagens war mit dem Schrecken davongekommen. Wir standen mitten in dem Menschenauflauf, der im Handumdrehen zusammengeströmt war, und guckten uns das Unglück an. Wir hatten wohl schon fünf bis sechs Minuten da gestanden, als Katja plötzlich Erik am Arm faßte. »Erik! Dein Fotoapparat!« Erik griff erschrocken nach seiner Schulter, wo der Riemen hätte sein müssen, wenn er den Apparat umgehängt hätte. »Den – den habe ich drüben auf dem Tisch liegenlassen«, sagte er. Wir versuchten, uns aus der Menschenmenge herauszudrängen. Das war aber nicht ganz leicht. Wir waren unter den ersten gewesen, die an die Unglücksstelle kamen, deshalb standen wir jetzt ganz in der Mitte. Schließlich aber glückte es uns. Wir liefen so schnell wir konnten durch die
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Anlage und blieben erst vor unserem Tisch stehen. Der Apparat lag nicht mehr dort. Ich habe selten gesehen, daß Erik einmal wirklich niedergedrückt gewesen ist. Aber diesmal war er es. Wir waren es alle. Eine Leica ist nämlich eine ziemlich teure Kamera. »Ich habe meinem Vater versprochen, gut auf den Apparat aufzupassen«, sagte Erik. Keiner von uns konnte antworten. Was sollten wir auch sagen? Im Baum über uns stieß das kleine zahme Eichhörnchen einen zischenden Laut aus. »Laßt uns doch die Dame drüben im Pavillon fragen«, schlug Katja vor. Das machten wir, aber sie hatte nichts gesehen. Es sei schon möglich, daß jemand an unserem Tisch gewesen war, meinte sie, aber sie hätte nicht richtig darauf geachtet. Wir gingen ganz entmutigt zurück und setzten uns wieder hin, um unsere Coca-Cola auszutrinken. Brille seufzte. »Dann werden wir beiden diesmal noch nicht weltberühmt, Erik.« »Nee. Oh, was bin ich doch für ein Idiot!« »Wir anderen aber auch«, tröstete ich ihn. »Wir haben alle miteinander nicht an den Apparat gedacht.« Ein Krankenwagen näherte sich jetzt mit lau-
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tem Gedröhne und mit heulender Sirene, um den Fahrer des Lieferwagens abzuholen. Einen Augenblick später startete er wieder und rollte ganz ruhig auf dem gleichen Weg zurück, auf dem er gekommen war. Auf der Straße hatte man angefangen, die Glasscherben zusammenzuschaufeln. Der ganze Verkehr wurde aufgehalten. Ein paar Polizeibeamte liefen dazwischen herum und machten Aufzeichnungen. Solange das nicht geschehen war, konnten die Wagen nicht an den Straßenrand gefahren werden. Erik seufzte. »Ach, ich Riesenidiot!« wiederholte er. Vom Bürgersteig her rief jemand »hej«. Wir guckten hin. Es war Gösta. Er lief auf unseren Tisch zu. »Hej, hej«, rief er. »Habt ihr gesehen, daß … Aber was ist denn passiert?« »Eriks Fotoapparat ist geklaut worden«, sagte Katja. »Hier?« »Ja. Wir waren fortgegangen, um uns die Autos, die da zusammengestoßen waren, anzusehen. Als wir zurückkamen, war der Apparat weg. Erik hatte ihn auf dem Tisch liegenlassen.«
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Gösta setzte sich auf einen freien Stuhl. »Habt ihr es schon der Polizei gemeldet?« Brille schüttelte den Kopf. »Was kann uns das nützen, Gösta? Außerdem ist es unsere eigene Schuld. Man kann keinen teuren Fotoapparat liegenlassen und damit rechnen, daß er noch da ist, wenn man zurückkommt.« Jetzt schüttelte Gösta den Kopf. »Meine Güte, das ist aber ärgerlich«, meinte er. Erik angelte einen Film aus seiner Tasche. »Du sagtest, daß ihr ihn für mich entwickeln wolltet, Gösta.« Göstas Gesicht hellte sich auf. »Ist das der von gestern? Oh, das ist aber noch ein glücklicher Zufall, daß …« »Nein, der ist es nicht. Wenn er es doch wäre! Dies ist der Film, der noch im Apparat war, als mein Vater ihn mir mitgab. Die ersten Aufnahmen hat er noch selber gemacht, die letzten habe ich jetzt auf unserer Fahrt gemacht. Gestern im Boot habe ich einen neuen Film eingelegt, kannst du dich nicht mehr daran erinnern?« Gösta pfiff. »Ja, doch, jetzt erinnere ich mich. Das bedeutet also auch, daß der Dieb deine Aufnahme von Brille hat?« »Ja.«
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»Das ist natürlich dumm. Die hätte ich sonst heute für dich entwickelt. Solltest du den Apparat aber wiederbekommen, dann …« Erik schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Den kriege ich auch nicht wieder.« »Na ja, aber wenn du ihn noch mal wiederbekommen solltest, dann …« »Aber ich bekomme ihn nicht wieder zurück. Darüber brauchen wir gar nicht mehr zu sprechen.« Gösta schwieg ganz erschrocken. Erst ein wenig später sagte er: »Wir haben übrigens mit dem Leiter des Fotoklubs gesprochen, Erik. Die Sache ist in Ordnung. Ich habe eine Mitgliedskarte für dich mitgebracht. Aber du hast jetzt vielleicht gar kein Interesse mehr daran?« »Laß mich damit in Ruhe«, gab Erik zur Antwort. »Ich meine: Ich danke dir. Es war wirklich nett von dir, die Sache in die Hand zu nehmen, aber ich habe ja jetzt keine Verwendung mehr dafür.« »Allerdings nicht«, gab Gösta zu. »Immerhin, ich nehme diesen Film mit nach Hause und entwickele ihn.« »Das eilt ja nun nicht«, sagte Erik. »Es ist nichts Besonderes auf dem Film.« »Ich gehe ja sowieso nach Hause und entwi-
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ckele heute nachmittag oder heute abend. Da kann ich dann gleich alles zusammen machen.« Wir waren alle ziemlich niedergeschlagen, als wir nach Hause gingen. Gösta begleitete uns ein Stück, dann sagte er auf Wiedersehen und ging zurück. Wir hatten das Gefühl, daß das, was uns zugestoßen war, einer Katastrophe gleichkam. Wir fürchteten, daß uns die ganzen Ferien verdorben waren. Wenn wir ein paar Jahre jünger gewesen wären, hätten wir sicher angefangen, laut zu heulen. Schweigend gingen wir über die WestStorgatan, an dem Eisenbahngelände entlang. Ich ging neben den anderen her und überlegte, wie wir Eriks Vater den Verlust beibringen sollten, wenn wir wieder in Dänemark waren. Wenn der Autounfall nicht passiert wäre, hätte Erik seinen Apparat noch. Warum konnten die Leute auch nicht ordentlich Auto fahren? Im Weitergehen wurde ich immer zorniger auf den Fahrer des Milchwagens. Wenn der sich gründlich orientiert hätte, ehe er überholte, dann brauchten wir jetzt nicht so traurig hier entlang zu laufen. Wenn nicht … Da rief jemand »hej« hinter uns. Wir gingen
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einfach weiter, weil wir nicht annahmen, daß der Ruf uns gelten könnte. »Hej!« Jetzt drehte ich mich um und sah einen kleinen Jungen von acht bis zehn Jahren. Er lief, so schnell er konnte, hinter uns her. »Hej!« rief er noch einmal. »Wartet doch mal!« Wir blieben stehen. Und guckten. Und dann sahen wir zuerst uns an – dann den Jungen, der jetzt schon ganz nah bei uns war. Er blieb vor uns stehen und holte tief Atem. »Bitte«, sagte er und hielt uns Eriks Apparat entgegen, »ein Mann hat mich angesprochen und mich gebeten, euch diesen Apparat hier zu geben. Er sagte, ihr hättet ihn auf einem Tisch in der Anlage liegenlassen. Seid ihr Dänen?« Erik konnte nur nicken. Er war vor Verblüffung ganz stumm geworden. Der Junge holte noch einmal tief Atem. »Der Mann war auch Däne. Er hat mir nur dafür, daß ich mit dem Apparat hinter euch herlaufe, zwei Kronen gegeben. Kennt ihr ihn?« Erik schüttelte nur den Kopf. Er hielt den Apparat in den Händen und guckte ihn an. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu können.
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»Also dann auf Wiedersehen«, sagte der Junge. »Ich muß wieder gehen.« »Halt«, rief ich, »warte noch mal.« Der Junge kam zurück. »Der Mann bat mich nur, den Apparat abzuliefern«, erklärte er uns. Ich fragte ihn: »Wie sah der Mann aus?« »Das weiß ich nicht.« »Hatte er einen dunklen oder einen hellen Anzug an?« »Einen hellen«, antwortete der Junge. »Er hatte eine Glatze.« »Und ein rotes Gesicht?« fragte Brille. Der Junge nickte eifrig. »Und er sprach Dänisch?« »Ja.« »Und er sagte nur, daß du den Apparat abliefern solltest?« Der Junge nickte wieder. »Sonst hat er nichts gesagt?« »Nein.« »Okay. Jetzt kannst du gehen.« Der Junge lief fort. Mit der Hand umschloß er das Zweikronenstück, das der Mann ihm gegeben hatte. Wir standen immer noch an der gleichen Stelle. Wir standen da und starrten auf den Apparat.
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Erik sagte: »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.« Wir anderen konnten uns auch keinen Vers darauf machen. Wir waren nur alle sehr erleichtert. Am liebsten hätten wir getanzt und gesungen und gelacht und geschrien und geheult. Aber wir taten nichts von alledem, sondern gingen ganz still nach Hause. »Jetzt werden wir doch noch weltberühmt, Brille«, freute sich Erik. »Großartig«, erwiderte Brille. »Das haben wir aber auch verdient!« 8
An diesem Abend fing es gegen acht Uhr wieder an zu regnen. Brilles Tante war fortgegangen, um bei irgendwelchen Bekannten in der Stadt einen Besuch zu machen. Katja, Brille, Erik und ich waren allein im Haus. Wir saßen unten im Wohnzimmer und fühlten uns sehr wohl. Wir tranken Tee, klönten und waren in glänzender Stimmung. Erik hatte seinen Fotoapparat aus der Tasche genommen und ihn vor sich auf den Tisch gelegt. Es schien uns, als ob er immer noch
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nicht glauben könnte, daß er ihn wieder zurückbekommen hatte. Ab und zu nahm er ihn in die Hand und drehte und wendete ihn hin und her. Wir sprachen von allem möglichen, vor allem natürlich über das Geheimnis um die beiden Männer, die uns bis nach Jönköping verfolgt hatten. Der einzige, der nicht zuhörte, war Erik. Ich glaube, er hatte zum erstenmal alles vergessen, was mit Kriminalgeschichten und Geheimnissen zu tun hatte. Er war ganz von seinem Fotoapparat in Anspruch genommen. Zwischendurch sprach er auch einmal davon. Nicht nur von dem Apparat, sondern auch von dem Bild, das er damit gemacht hatte. Es klang beinahe so, als sei er mehr an dem Fotowettbewerb als an unserem Geheimnis interessiert. Der Regen schlug gegen die Fensterscheiben. Das war genau das Wetter, bei dem man am liebsten zu Hause bleibt. Erik nahm wohl zum zwanzigsten Mal den Apparat in die Hand und betrachtete ihn. »Ich kann es wirklich nicht verstehen«, sagte er plötzlich. Dann schwieg er wieder und sah gedankenvoll auf seinen Apparat. »Was kannst du nicht verstehen?« fragte ich. »Irgend etwas ist hier nicht in Ordnung«, ant-
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wortete er. »Heute vormittag waren nur noch zwei Bilder auf dem Film.« »Und jetzt?« wollte Brille wissen. »Und jetzt … Nein, das kann doch gar nicht stimmen!« »Nun sag es schon«, drängte Katja ihn. »Jetzt sind es noch sieben!« »Das ist doch unmöglich«, sagte Brille. Erik sah ganz unglücklich aus. »Das meine ich ja auch«, sagte er. »Aber ihr könnt ja selber einmal nachsehen.« Wir guckten alle der Reihe nach. Erik schien wirklich recht zu haben. »Der mit dem rosigen Gesicht muß den Film um fünf Bilder zurückgedreht haben«, sagte ich. Erik schüttelte den Kopf. »Das kann man nicht. Man kann einen Film nicht mehr zurückdrehen, wenn er einmal im Apparat ist. Man kann ihn nur weiterdrehen.« Wir hatten von vornherein den Sinn der ganzen Sache nicht verstanden. Wir hatten nicht begriffen, warum die beiden Männer uns nach Jönköping gefolgt waren. Es war uns nicht klar, warum sie hier ins Haus eingebrochen waren. Wir begriffen nicht, warum sie Eriks Leica fortgenommen und später wieder zurückgegeben hatten – und jetzt war es uns schleierhaft, wie es
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statt der zwei Bilder, die heute morgen noch auf dem Film waren, auf einmal sieben sein konnten. Wir sahen zwar noch immer keinen Sinn in all den Ereignissen, aber allmählich dämmerte es uns allen doch, daß die ganze Geschichte etwas mit dem Fotoapparat zu tun haben mußte. »Was mag nun mit dem Bild von Brille geschehen sein?« überlegte Erik. »Wenn jemand den Film aus dem Apparat herausgenommen hat, ist es sehr wahrscheinlich verdorben.« In dem Moment klopfte es an der Tür. Brille stand auf, ging zur Tür und öffnete. Gösta stand draußen. »Hej!« rief er. »Hej!« antwortete Erik. »Gösta, ich habe den Apparat wiederbekommen!« Wir erzählten ihm, wie alles zugegangen war. Gösta stand mitten im Zimmer und hörte zu. Er war genauso froh wie wir, daß der Apparat wieder da war. Gösta glich einer nassen Ratte. Das Wasser lief nur so an ihm herunter. Er hatte keinen Regenmantel an. »Ich hoffe, daß ich nicht störe«, sagte er. »Ich wollte nur mal eben bei euch hereingucken. Ich habe nämlich Eriks Film entwickelt.«
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»Deswegen hättest du doch nicht extra herzukommen brauchen«, meinte Erik. »Ich hatte gerade nichts anderes vor. In der Dunkelkammer war nichts mehr zu tun, und Stig und Maj-Brit sind ins Kino gegangen. Den Film, der da läuft, habe ich aber schon gesehen.« Er setzte sich auf den Stuhl, den ich ihm inzwischen hingeschoben hatte. Katja holte noch eine Tasse für Gösta und goß ihm Tee ein. »Danke schön«, sagte Gösta. »Hör mal, Erik, was macht dein Vater eigentlich?« »Wie meinst du das?« »Ich meine, was für einen Beruf hat er?« »Er ist Direktor.« »In einer Raketenfabrik?« »Nein, in einer Wollwarenfabrik. Warum meinst du, daß …?« »Nun, ich schloß das aus seinen Bildern«, antwortete Gösta. Wir sahen ihn ganz verständnislos an. Er nahm ein Päckchen aus seiner Hemdentasche und packte es vorsichtig aus. »Sie sind noch etwas feucht«, entschuldigte er sich. »Ich hatte keine Zeit mehr, sie ganz trocknen zu lassen.« Er breitete die Abzüge vor uns auf dem Tisch aus.
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»Auf dem einen da seid ihr«, sagte er. »Das habt ihr anscheinend schon hier in Jönköping aufgenommen. Und das da auch. Und auch die beiden da. Die anderen muß dein Vater aufgenommen haben, ehe er dir den Apparat lieh.« Erik sah sich die Bilder an. »Das da aber nicht!« rief er dann. »Auf den meisten war ich selber drauf. Und meine Tante Karen. Und mein Onkel Alfred und … Diese Bilder hat mein Vater niemals aufgenommen. Die stellen ja …« »Raketen dar«, ergänzte Brille. »Abschußrampen für Raketen.« Wir sahen auf die Bilder, dann guckten wir uns der Reihe nach an, dann wieder die Bilder. »Sie sind nicht besonders klar«, stellte Gösta fest. »Ich nehme an, daß sie aus großer Entfernung aufgenommen worden sind, mit einem Teleobjektiv.« »Die Bilder hat mein Vater bestimmt nicht gemacht. Er interessiert sich nicht im geringsten für Raketen!« »Ich komme da nicht mehr mit«, sagte Gösta. »Diese Bilder sind von euch, daran besteht doch gar kein Zweifel.« »Allerdings«, antwortete ich, »aber der Rest nicht.«
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Gösta kratzte sich am Kopf. »Aber sie sind doch auf ein und demselben Film.« Wir saßen lange stumm, ganz stumm da und dachten nach. Plötzlich fragte Brille: »Du, Katja, kannst du dich noch daran erinnern, daß Erik seinen Apparat auf dem Schiff nach Malmö vergessen hatte?« Katja nickte. »Ja, ich bin nämlich zurückgelaufen und habe ihn geholt.« »Genau«, bestätigte Brille. »Entsinnst du dich auch noch, ob die beiden Männer da noch an dem Tisch neben uns saßen?« »Ja, das glaube ich wohl. – Doch, sie saßen bestimmt noch da.« »Und wo hast du den Apparat weggenommen?« Sie guckte ihn ein bißchen überrascht an. »Von der Bank, auf der er lag, natürlich.« »Aber er lag doch gar nicht auf der Bank«, sagte Erik. »Daran erinnere ich mich deutlich. Er hing über der Rückenlehne.« »Richtig«, fuhr Brille fort. »Das war es, worauf ich hinaus wollte. Katja, es war gar nicht Eriks Apparat, den du geholt hast. Es war der von den beiden Männern. Keiner von uns hat
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es gemerkt, weil die Apparate ganz gleich aussehen.« Er lächelte ganz glücklich. »Und damit haben wir die Erklärung für das ganze Geheimnis«, schloß er. Ganz langsam schien uns allen die Sache klarer zu werden. »Dann stammen die Aufnahmen auch von den beiden Männern«, stellte Gösta fest. »Ja, und darum ist es auch nicht verwunderlich, daß sie die gern wiederhaben wollen.« »Spionage?« »Ja, natürlich. – Die beiden haben die Verwechslung der Apparate erst bemerkt, als sie schon in Stockholm waren.« »Das glaube ich auch. Aber woher konnten sie wissen, daß ihr in Jönköping seid?« wunderte sich Gösta. »Sie saßen auf dem Schiff nach Malmö gleich neben uns«, erklärte ich ihm. »Und da redeten wir von Brilles Tante und von unseren Ferien hier. Und bestimmt haben wir ziemlich laut gesprochen. Es konnte ihnen gar nicht entgehen, wohin wir wollten.« »Und dann sind sie euch nach Jönköping nachgefahren, als sie feststellten, daß die Apparate vertauscht worden waren. – Dann war es wohl
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auch der Apparat, den sie gesucht haben, als sie in der Nacht hier im Haus einbrachen?« »Ha, ha«, lachte Erik. »Der lag die ganze Nacht neben meiner Matratze.« »Das Fotogeschäft!« rief Brille plötzlich. »Da ist doch letzte Nacht eingebrochen worden! Das sind sie natürlich auch gewesen. Sie sind uns bis zu dem Geschäft nachgegangen, und dann haben sie wohl angenommen, daß Erik den Film zum Entwickeln dalassen würde. Deshalb ist auch in dem Geschäft nichts gestohlen worden. Sie haben nur nach dem Film gesucht.« »Und als sie ihn nicht fanden«, ergänzte ich, »glaubten sie, daß er noch im Apparat sei. Darum haben sie den Apparat an sich genommen, als wir ihn heute vormittag auf dem Tisch liegenließen.« »Warum haben sie aber wohl den anderen Apparat nicht gleich auf den Tisch gelegt?« überlegte Katja. Wir dachten darüber nach. »Weil es der Däne war, der den Apparat an sich genommen hatte. Er konnte den anderen aber nicht abliefern, solange er nicht mit dem zweiten Spion, dem, der Deutsch spricht, verhandelt hatte.« »Warum haben sie ihn überhaupt zurückgegeben?« fragte Katja.
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»Damit wir die Sache nicht der Polizei meldeten«, meinte Erik. »Sie wollten anscheinend nichts riskieren.« »So wird es sein«, sagte Gösta. »So hängt das wohl zusammen.« Wir setzten uns nebeneinander und sahen uns die Aufnahmen der Spione an. Auf einmal war alles wieder in Ordnung. Das Geheimnis war aufgeklärt! »Dann hattest du doch recht, als du annahmst, die beiden seien Spione«, wandte Brille sich an Erik. »Ich habe immer recht«, grinste Erik. »Oder wenigstens fast immer«, fügte er bescheidener hinzu. Plötzlich aber fuhr er hoch. »Hört mal, das würde ja auch bedeuten, daß die Banditen mein schönes Bild von Brille mitgenommen haben?« Brille nickte. »Damit wirst du dich wohl abfinden müssen, Erik.« Erik raufte sich die Haare. »Das ist ja zum Verzweifeln! Wir müssen sie noch erwischen!« Im selben Augenblick klopfte jemand an die Haustür. Brille erhob sich und machte auf.
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Diesmal standen Stig und Maj-Brit draußen. Auch sie hatten keine Mäntel an und waren genauso naß wie Gösta. »Wir haben sie gesehen«, rief Stig, sobald er im Zimmer war. »Sie fielen uns gleich auf, als wir aus dem Kino kamen, und dann sind wir bis zum Bahnhof hinter ihnen hergegangen. – Oh, hast du deinen Apparat zurückbekommen?« »Dies ist nicht mein Apparat«, erklärte Erik. »Aber das werdet ihr alles später erfahren.« »Zum Bahnhof?« erkundigte sich Gösta. Maj-Brit nickte eifrig. »Wir vermuten, daß sie heute abend noch abreisen. Wir beobachteten nämlich, wie sie Fahrkarten nach Stockholm lösten.« Erik sprang auf. »Mein Foto!« rief er. »Wann geht der Zug?« »Zehn Uhr siebzehn«, sagte Stig. »Und wie spät ist es jetzt?« Brille sah auf seine Uhr. »Viertel vor zehn.« »Sie sitzen jetzt drüben in der Bahnhofsgaststätte«, sagte Stig. Erik rief: »Los, hin! Es ist allerhöchste Zeit!« »Wofür ist es allerhöchste Zeit?« fragte MajBrit.
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»Wir haben jetzt keine Zeit, dir das zu erklären. Das können wir dir auf dem Weg zum Bahnhof erzählen.« Gösta meinte noch: »Wir müssen Vater erwischen! Wir müssen ihn sofort erwischen! Kommt!« Eine Minute später liefen wir schon durch den Regen zur Stadt hinunter. 9
Die Bahnhofsgaststätte war fast leer. Wir stellten uns in die Tür und schauten hinein. Tatsächlich, da saßen sie, ganz hinten in der Ecke. Der Dunkelhaarige hatte den Fotoapparat über der Schulter hängen. Sie sahen recht froh und zufrieden aus. Sie glaubten anscheinend immer noch, daß sie den richtigen Apparat und den richtigen Film hatten. Es war fast zehn Uhr. Gösta hatte seinen Vater angerufen und war dann wieder zu uns gekommen. Maj-Brit fragte ihn: »Was hat Vater gesagt?« »Ich habe ihm die Sache nur in groben Zügen erklären können.«
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»War er böse?« Gösta zuckte mit den Schultern. »Du weißt doch, wie er ist.« »Vater ist schon in Ordnung«, sagte Maj-Brit. »Das ist er bestimmt«, bestätigte Stig. Trotzdem waren wir ein bißchen ängstlich, als er ein paar Minuten später auftauchte. Er war genauso naß wie wir alle. Er war groß und ernst und sah etwas abweisend aus. Er begrüßte uns auch nur ganz knapp, obwohl er uns doch zum erstenmal sah. Wir gingen alle in eine Ecke des Wartesaales, und Stig und Gösta erklärten ihrem Vater flüsternd die Situation. Die Zwillinge waren glänzend aufeinander eingespielt. Sobald der eine aufhörte zu erzählen, fing der andere an. Als sie fertig waren, sagte ihr Vater: »Und was erwartet ihr jetzt in dieser Angelegenheit von mir?« »Kannst du sie nicht einfach festnehmen, Vater?« meinte Maj-Brit. »Aus welchem Grund?« gab er zurück. »Weil sie Spione sind.« Der Vater schüttelte den Kopf. »Wie wollen wir das beweisen?« »Die Aufnahmen, Vater!« flüsterte Gösta. »Die Bilder habt ihr. Sie werden einfach ab-
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streiten, daß sie sie kennen. Wenn sie die Aufnahmen in ihrem Apparat hätten, dann sähe die Sache schon anders aus.« »Uff«, sagte Erik. »In dem Apparat, den sie jetzt bei sich haben, sind nur eine ganze Reihe Aufnahmen von uns und von Jönköping und von Brille, wie er gerade ins Wasser fällt.« »Eben«, sagte der Kriminalbeamte. »Das ist keine Handhabe für eine Festnahme. Außerdem ist es ihr eigener Apparat.« Ich nickte. Er zuckte die Schultern. »Könnte man eine Festnahme nicht mit dem Einbruch bei Brilles Tante begründen?« fragte Stig. »Können wir beweisen, daß sie es waren?« fragte sein Vater zurück. Wir schüttelten die Köpfe. »Leider nicht. Wir haben ja auch hinter dem Einbrecher, der im Haus war, wieder aufgeräumt, und meine Tante hat inzwischen saubergemacht und Staub geputzt und auch sonst Ordnung gemacht«, sagte Brille. »Wenn wirklich Fingerabdrücke dagewesen sind, sind sie jetzt auf jeden Fall weg.« »Ihr seht es also ein.« Ja, wir sahen es ein.
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»Außerdem ist es nicht so einfach, zwei Männer festzunehmen, weil sie Spione sind. Sie haben nämlich bis jetzt keine Spionage gegen Schweden betrieben. Sie kamen aus Dänemark, hatten die Bilder also schon vorher aufgenommen. Die Bilder brauchen noch nicht einmal aus Dänemark zu stammen. Sie können genausogut in Westdeutschland, Frankreich, Holland oder Belgien oder in welchem fremden Land auch immer aufgenommen worden sein. Das ist nicht so einfach, wie ihr denkt.« »Aber der Dunkelhaarige hat doch keinen Paß«, fuhr ich fort. »Deswegen müßte man ihn doch festnehmen können.« Der Vater der Zwillinge sah mich an und zuckte mit den Schultern. »Das kannst du auch nicht mit Sicherheit behaupten. Höchstwahrscheinlich hat er einen Paß. Wenn er ihn bei der Paßkontrolle in Kopenhagen und Malmö nicht vorgezeigt hat, kann es sein, daß er ihn nicht gestempelt haben möchte.« »Du kannst ihn aber doch festnehmen, weil er ungesetzlich hier ins Land gekommen ist.« »Das könnte ich«, gab der Beamte zu. »Aber ich weiß jetzt schon, was dann geschieht: dann besteht er darauf, daß niemand da war, der sei-
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nen Paß kontrollieren wollte, als er einreiste. Und dann bleibt uns nichts anderes übrig, als ihn mit einer Verwarnung zu entlassen. Vielleicht können wir ihn ausweisen, aber das ist auch alles. Natürlich ist das schade. Ich würde die beiden gern ein paar Tage festhalten, um Gelegenheit zu haben, ihre Verhältnisse ein bißchen näher zu untersuchen. Es wäre schon viel wert, wenn ich ein Bild von ihnen hätte, das ich nach Dänemark, Westdeutschland und in andere Länder schicken könnte. Es würde schon genügen, wenn wir ihnen irgend etwas anhängen könnten, nur eine Kleinigkeit, eine Rauferei oder sonst etwas. Dann könnten wir sie nämlich lange genug festhalten, um sie gründlich zu überprüfen.« Wir standen da, traurig und mutlos. So etwas Dummes. Da drinnen saßen zwei Männer, von denen wir wußten, daß sie Spionage trieben, und nun sah es plötzlich so aus, als ob es keine Möglichkeit gäbe, sie festzunehmen. Wir blieben stumm, bis Gösta plötzlich bat: »Erik, leih mir deinen Apparat für einen Augenblick.« Ich merkte jetzt überhaupt erst, daß Erik seinen Apparat mitgenommen hatte. Warum er das getan hatte, weiß ich allerdings nicht. Vielleicht
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nur, weil er nicht wagte, ihn einfach zu Hause liegenzulassen. Erik guckte Gösta fragend an, dann nahm er den Apparat von der Schulter und reichte ihn ihm hin. Göstas Vater fragte: »Was willst du damit?« »Du sagtest, daß du gern ein Bild von den beiden haben möchtest, Vater. Das sollst du bekommen. Wieviel Bilder sind noch drauf, Erik?« »Sieben.« »Prima. Du wirst sieben Bilder von ihnen bekommen, Vater.« »Ich gehe mit dir«, bot Stig an. »Okay. Ihr anderen könnt in der Tür stehenbleiben und abwarten, was daraus wird.« Und weg waren sie. Ihr Vater machte den Eindruck, als ob er protestieren wollte, aber ehe er überhaupt dazu kam, waren die beiden schon im Wartesaal. Wir stellten uns in die Tür und beobachteten von da aus, wie die Zwillinge ganz gelassen durch das Lokal zu der Ecke gingen, in der die Spione saßen und Bier tranken. Katja drückte meinen Arm. Wir waren alle gespannt, was nun geschehen würde. Wir sahen, daß die beiden Männer überrascht aufblickten, als die Zwillinge sich vor ihrem Tisch auf stellten. Wir konnten auch
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sehen, daß der eine von ihnen etwas sagte, aber wir konnten nicht hören, was. Gösta hatte den Apparat hinter seinem Rücken versteckt. Jetzt zog er ihn plötzlich hervor und fing an zu fotografieren. Wir sahen, daß er sich beeilte, um den Apparat immer wieder für die nächste Aufnahme fertig zu haben. Die beiden Männer waren aufgesprungen. Sie riefen irgend etwas, aber Gösta nahm seelenruhig das nächste Bild auf. Die Männer traten einen Schritt auf ihn zu. Gösta reichte Stig den Apparat, der mit der gleichen Seelenruhe in den Apparat guckte und dann abdrückte. Er drehte den Film weiter und reichte Gösta den Apparat zurück, gerade in dem Augenblick, als der Dunkelhaarige ihn angreifen wollte. Gösta fotografierte wieder. Jetzt wurden die beiden Männer wütend. Gösta und Stig zogen sich, immer noch fotografierend, zurück, bis die beiden Männer sie einholten und sie angriffen. Der eine von ihnen, der Däne, riß Stig den Apparat aus den Händen und schleuderte ihn mit aller Gewalt gegen die Wand. Vom Büfett her stürzte eine Kellnerin herbei. »Meine Herren!« rief sie. »Meine Herren!« Erik grinste den Kriminalbeamten an. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »aber fällt das nicht unter Rauferei oder so etwas Ähnliches?«
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Der Vater von Maj-Brit und den Zwillingen lächelte. Er machte die Tür ganz auf und betrat das Lokal. Wir folgten ihm auf den Fersen. Der dunkelhaarige der beiden Männer trat mit dem Fuß gegen den auf dem Boden liegenden Apparat. Er flog gegen die gegenüberliegende Wand und zerbrach mit einem häßlichen Geräusch. »Einen Augenblick, meine Herren, Polizei. Ich muß Sie bitten, mir ganz ruhig zu folgen.« Die beiden Männer erstarrten vor Überraschung. Gösta und Stig traten einen Schritt zurück. Sie waren sich offenbar über die Rolle, die sie zu spielen hatten, klar. Es kam darauf an, daß sie den Polizeibeamten in diesem Augenblick nicht mit »Vater« anredeten. »Ich habe beobachtet, wie Sie den beiden Jungen den Fotoapparat abnahmen und ihn zerstörten. Sie müssen mitkommen und eine Erklärung dafür abgeben.« Der Däne sagte: »Aber wir wollen jetzt gleich abreisen.« Der Polizeibeamte zuckte mit den Schultern. »Dann müssen Sie Ihre Reise eben verschieben. Die Sache muß geklärt werden.« Der Dunkelhaarige wandte sich in deutscher Sprache an den Dänen.
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Daraufhin sagte der Däne: »Wir wollen den Apparat, den wir kaputtgemacht haben, gern ersetzen. Wir haben hier genau den gleichen. Wir …« Der Vater der Zwillinge rief die beiden her. Sie kamen ins Helle, wie gewöhnlich unfreundlich und mit lauerndem Blick. Der Dunkelhaarige reichte ihnen seinen Fotoapparat. Gösta streckte die Hand aus und nahm ihn an. »So, dann können wir jetzt wohl zu unserem Zug gehen«, meinte der Däne. »Nein, das können Sie nicht«, antwortete der Kriminalbeamte. »Sie müssen mit mir zur Polizeistation kommen.« Er wandte sich an den Dunkelhaarigen. »Darf ich Ihren Paß sehen?« Der Mann sah ihn fragend an. Der Beamte wiederholte die Aufforderung in deutscher Sprache. Der Mann blieb auch jetzt verwirrt. An seiner Stelle antwortete der Däne: »Mein Freund hat seinen Paß im Zug verloren.« Der Vater unserer Freunde lächelte ironisch. »Seien Sie bitte so freundlich und folgen Sie mir. Hier geht es entlang.« Die beiden Männer folgten ihm schweigend.
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Wir standen draußen vor dem Bahnhof und sahen zu, wie der Vater von Maj-Brit, Stig und Gösta mit den beiden Männern in einem Taxi fortfuhr. Es regnete Bindfäden. Wir standen auf der Treppe, völlig durchweicht und ganz erschöpft von allem, was wir in so kurzer Zeit erlebt hatten. Als sie fort waren, gingen wir noch einmal zurück und hoben den Apparat vom Fußboden auf. Er sah arg mitgenommen aus. »Ich glaube, wir können den Film retten«, meinte Gösta. »Wir müssen sofort nach Hause gehen und ihn gleich entwickeln. – Ach je, nun haben wir auf einmal zwei Apparate.« »Den einen müssen wir bei der Polizei abliefern«, sagte Stig, »Vater hat das nur vergessen, als er fortging.« »Aber vorher werden wir den Film noch herausnehmen«, erklärte Erik. »Ich will doch mein Meisterstück haben!« Stig war schon dabei, den Film ganz abzudrehen und aus dem Apparat herauszunehmen. Gösta lächelte sogar ein wenig. Keiner der beiden Brüder hatte bis dahin schon einmal gelächelt. »Bis morgen abend werden wir ihn wohl noch fertig haben. Dann können die Bilder trotz allem noch mit zum Fotowettbewerb.«
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»Was meinst du mit morgen abend?« erkundigte Stig sich. »Die Ablieferungsfrist läuft morgen abend ab, Freitag, Punkt zwölf Uhr nachts, du Dummkopf. Hast du das schon vergessen?« »Du bist gut!« »Warum?« »Weil heute schon Freitag ist, du Schlaumeier!« »Schon Freitag!« Wir anderen nickten. »Ja, aber dann … Ich werde verrückt! Dann müssen wir uns aber beeilen!« Es war gerade siebzehn Minuten nach zehn. Die Zwillinge sausten ab. Wir standen wieder im Regen. »Nun?« sagte Erik. »Wir müssen wohl Maj-Brit nach Hause bringen?« »Das ist eine gute Idee«, antwortete ich. Da sah ich plötzlich, daß Erik mir zublinzelte, und ich fuhr fort: »Das heißt: es besteht ja eigentlich kein Grund, daß wir alle mitgehen.« Erik lachte mich strahlend an. »Dann will ich das mal übernehmen. Komm, Maj-Brit!« Maj-Brit sagte gute Nacht, und dann verschwand sie mit Erik im Regen.
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Ich schüttelte mich. »So, nun müssen wir aber auch dafür sorgen, nach Hause zu kommen.« Brille, Katja und ich gingen durch die leere Storgatan nach Hause. »Und dann heißt es, daß in Jönköping niemals etwas los ist!« 10
Wir gingen umher und sahen uns die Bilder an. Es war Samstag abend, und wir waren in der Fotoausstellung. Es waren nicht viele Besucher in unserem Alter da. Die meisten waren erwachsen und sahen so schwedisch und so ernst aus. Erik zeigte auf ein Bild. »Das da ist auch sehr gut«, meinte er. Ich grinste. »Nicht so gut wie deins«, sagte ich. »Nein, sicher nicht, aber immerhin.« Eriks Bild von Brille war viel erfolgreicher, als wir uns vorher vorgestellt hatten. Die Menschen tummelten sich in Scharen vor dem Bild. Stig und Gösta hatten es auf ein ziemlich großes Format vergrößert und auf Karton aufgeklebt.
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Brille hatte auf dem Bild einen eigenartigen Ausdruck. Man sah ihn halb im Wasser hängen und den Ast über seinem Kopf festhalten. Aber auch abgesehen vom Motiv und der Lebendigkeit war das Bild unwahrscheinlich gut geraten, rein vom Fotografischen her. Es war so scharf, wie man es sich nur wünschen konnte. Auch die Details waren klar und deutlich: die Wassertropfen, die von dem Wasserfall, der um Brille herum entstanden war, in die Luft geschleudert worden waren, die Rinde des Astes, einfach alles. Gleich daneben hing ein ebenso großes Bild. Es zeigte die beiden Spione, als sie gerade von ihrem Tisch im Bahnhofsrestaurant aufsprangen, zornig, mit verzerrten Gesichtern. Es war ein gelungenes Bild, und es erregte Aufsehen. Die fotografische Qualität war nicht besonders gut, weil das Licht nicht stark genug gewesen war. Aber die Besucher scharten sich vor ihm zusammen. Dies Bild und das von Erik waren ohne Zweifel die Fotos, die das größte Aufsehen erregten. Während wir darauf warteten, daß die Jury ihr Urteil fällte, gingen wir in dem großen Saal umher und sahen uns die anderen Bilder an. Katja und ich gingen nebeneinander, und Erik und Maj-Brit waren die ganze Zeit über dicht hinter uns. In etwas größerem Abstand schlen-
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derten Brille, Stig und Gösta hinter uns her. Katja lächelte mich an. »Nun wäre das letzte Geheimnis also auch aufgeklärt«, sagte sie. Ich nickte. »Und wir haben noch eine ganze Woche Zeit hier oben.« Ich nickte wieder. »In der wir herumstromern und Ferien machen werden.« »Ja«, stimmte ich zu. »Und in der gar nichts Geheimnisvolles mehr passieren wird.« »Das wissen wir noch nicht.« »Aber das hoffen wir.« »So?« »Ja«, sagte sie. Ich dachte einen Augenblick nach. »Ja, vielleicht hoffen wir das.« »Man soll nicht die ganze Zeit herumlaufen und Geheimnisse aufdecken«, meinte Katja. »Nein? Nein, vielleicht sollte man das wirklich nicht«, gab ich zu. »Man muß auch Zeit haben und zu sich selber kommen, nicht wahr?« »Ja.« »Und Spaziergänge und solche Sachen machen.«
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Ich nickte. »Lange Spaziergänge.« »Aber nicht so lange, daß die Füße wund werden«, sagte ich. Sie guckte mich an und schüttelte den Kopf. »Du bist auch nicht die Spur romantisch«, meinte sie dann. »Doch, das bin ich wohl. Nur nicht, wenn ich wunde Füße habe. Wir können uns doch auch damit begnügen, einige kurze Spaziergänge zu machen, nicht wahr?« »Ja«, sagte sie. »Eine ganze Menge Spaziergänge«, sagte ich. »Wir beiden?« »Ja.« »Das ist herrlich«, erwiderte Katja. Das fand ich auch. Wir gingen wieder zu den anderen. Erik und Maj-Brit sahen so aus, als ob sie es sich auch herrlich vorstellten, zusammen spazierenzugehen. Vielleicht ist das etwas, was ansteckt. In diesem Moment stieg ein Mann auf das Podium und läutete mit einer Glocke. »Meine Damen und Herren«, fing er an. Wir gingen näher. »Nachdem die Jury beraten hat, ist sie sich darüber einig geworden, den Jahrespreis unserem allerjüngsten Mitglied zuzusprechen. Es ist
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erst vorgestern Mitglied in unserem Klub geworden. Wir haben hiermit die Ehre, den ersten Preis Herrn Erik Birk aus Dänemark zu überreichen.« »Hurra!« rief Erik. Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann fingen auch die Besucher an, hurra zu rufen. Der Redner forderte Erik durch eine Handbewegung auf, auf das Podium zu kommen. Erik strahlte über das ganze Gesicht und kletterte hinauf. Der Herr fuhr fort: »Der zweite Preis fällt auf ein Bild, das ganz gewiß strengen fotografischen Anforderungen nicht entspricht, sich dafür aber durch die Kraft seines Motivs auszeichnet. Es ist von unseren jungen Mitgliedern Gösta und Stig Lövkvist aufgenommen worden. Würden die Zwillinge wohl auch hier heraufkommen?« Gösta und Stig kletterten auch auf das Podium und stellten sich neben Erik. Sie machten Gesichter wie zwei Verbrecher, die auf ihr Verhör warten. Der Herr ergriff von neuem das Wort, aber wir hörten nicht mehr richtig zu, als er den dritten Preis und alle Sonderpreise verteilte. Als alle Preisträger auf dem Podium versammelt waren, wandte er sich an Erik: »Und jetzt kommt die Preisverteilung. Kom-
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men Sie bitte einen Schritt näher, junger Mann. Bitte, das hier ist der erste Preis des Fotoklubs.« Er überreichte Erik einen Silberkelch. Erik bekam vor Freude einen ganz roten Kopf. Der Herr war aber noch nicht fertig. »Und außerdem ein Teleobjektiv für Ihren Apparat. Bitte sehr.« »Oh, vielen Dank«, konnte Erik nur hervorbringen. »Und einen Blumenstrauß im Namen der Stadtverwaltung.« »Nee, oh – also vielen Dank«, stotterte Erik. »Das ist wirklich zu viel.« Der Herr lächelte. »Das ist es nicht, junger Mann. Das ist ehrlich verdient. Aber wie wäre es, wenn Sie auch ein paar Worte an das Publikum richten würden?« »Oh, ich?« fragte Erik. Jetzt war er tomatenrot im Gesicht. Er dachte einen Augenblick nach, dann lächelte er. »Okay«, sagte er. Er trat einen Schritt vor und stand jetzt dicht am Rande des Podiums. Die Besucher klatschten in die Hände. »In meinem eigenen und im Namen des dänischen Volkes möchte ich gern …«
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