Cover DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Johannsen, Christa Die Schattenwand
Kriminalroman
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Cover DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Johannsen, Christa Die Schattenwand
Kriminalroman
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In einem, niedersächsischen Dorf sterben auf unnatürliche Weise eine junge Frau und deren kleine Tochter. Der zunächst aufkommende Mordverdacht gegen den Ehemann erweist sich als haltlos. Eine neue Version – erweiterter Selbstmord – wird erwogen. Warum aber sollte eine junge, gesunde, erfolgreiche Frau mit ihrem Kind freiwillig aus dem Leben scheiden? Auch eine Journalistin interessiert sich für diese Frage; sie entdeckt, daß die Familie zerbrechen mußte, und erfährt auch, warum. Noch ein Mensch verliert sein Leben, bevor die Tragödie von Lemdorf sich aufklärt.
Christa Johannsen
Die Schattenwand
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Verlag Das Neue Berlin
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1974 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/81/74 • LSV 7004 Lektorin: Marianne Kaufhold Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 181 0 EVP 3,-
1 Klaus Bode kam mit einer bauchigen Kanne aus der Küche und goß Tee ein. Es war Ende Januar. Dicke, nasse Schneeflocken stoben gegen das breite Fenster. Die Vorhänge waren beiseite geschoben. Gardinen gab es nicht. Der Himmel hing grau herab. Die Dame in Schwarz schwang in ihrem Drehsessel zum Tisch herum, tat Zucker in ihren Tee, hob die Tasse an die Lippen. „Gut“, sagte sie und nahm gleich noch einen Schluck. „Eigenartig, Ihr Picasso da in diesem Licht.“ „Was soll mir der Picasso! Ich – ich hol uns einen Whisky, Nathalie.“ Schweigen trat ein, während er umständlich an der Hausbar hantierte. Sie befand sich als Teil der Regalwand unter dem Bild aus des Meisters jüngster Schaffensperiode. Nathalie erschien die Gestalt des Freundes ein paar Herzschläge lang so unwirklich wie das Gemälde zwischen den Bücherrücken. Alles begann undeutlich zu werden. Sie haßte verschwommene Linien. Bode überreichte den Whisky. „Prost“, sagte er. „Ich wollte, ich wäre auch neunzig, ein rüstiger Greis, und …“ Hier brach ihm die Stimme. Nathalie dachte: Es muß furchtbar für ihn sein, um so furchtbarer … „Wie wäre es, wenn Sie die Vorhänge zuziehen und Ihre Stehlampe anknipsen würden?“ Bode trank, ging zur Hausbar, versorgte sich neu, trank, versorgte sich, dann wurde es dunkel und dann – plötzlich – hell. In dem großen Raum mit seinem Schreibtisch vor der Fensterwand, den Bücherborden, Schubladen und Schränken, den Drehsesseln, der Couch, dem rechteckigen Tisch war jetzt eine andere Atmosphäre. Bode blieb vor Nathalie stehen. „Ich bin kein Trinker“, sagte er. 7
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen“, erwiderte sie. „Am liebsten würde ich mir den Schädel einschlagen, um richtigen körperlichen Schmerz zu empfinden. So ein Schmerz ist ne solide Sache. Ich kann’s Ihnen nicht erklären, verstehen Sie …“ „Ja“, sagte Nathalie. „Wenn ich mir vorstelle, wie da dieser miese Schnee auf die Unmasse von Kränzen fällt – einige hatten Schleifen …“ Er warf sich in einen Sessel, stopfte mit fahrigen Fingern seine Pfeife, langte nach der Streichholzschachtel. „Verdammt noch mal – sagen Sie doch was!“ Was soll ich sagen, dachte Nathalie, für wie stark hält er mich eigentlich? Ich muß aufpassen. Es würgt dich in der Kehle, aber denk nicht dran. Wie ihr dagestanden habt … Und wie dann alles sehr schnell ging. Und wie die Reihe an dich kam, drei Hände voll Erde in die Gruft zu werfen … „Ich hätťs nicht fertiggebracht.“ „Was?“ fragte sie. „So eine Rede zu halten.“ „Geben Sie mir eine Zigarette.“ Das Telefon schlug an. Bode ließ es läuten, er nahm sich lange Zeit, zum Schreibtisch hinüberzugehen und den Hörer von der Gabel zu heben. „Ja?“ fragte er, hörte zu, sagte: „Wenn’s sein muß – komm her.“ Legte auf, erklärte: „Lupus in fabula, Schönredner Röpke – haben Sie was gegen seinen Besuch?“ Sie hatte sehr viel gegen Röpkes Besuch, sehr viel gegen eine Begegnung mit Biggys ehemaligem Mann, doch ließ sie sich’s nicht anmerken. Sie saß still auf ihrem Platz, trank Whisky, ohne zu wissen, daß sie guten Whisky trank, saß nur einfach da, aber ihr Gehirn raste in Kapriolen vorwärts und rückwärts. Und auf einmal wußte sie: 8
Ich bin an allem schuld. Und sie sagte laut mit einer Stimme, die ihr selber fremd vorkam: „Ich bin an allem schuld.“ Und Bode sah ihr ins Gesicht und entdeckte in ihren Augen dieses Bekenntnis widergespiegelt, das er nicht anerkennen konnte. Und er äußerte etwas, das im Zusammenhang der Geschehnisse billig anmuten mußte: „Es war die schlechte Straßenlage ihres VW. Brigitte war eine verwegene Fahrerin. Sie vergaß ständig, daß der VW für kurvenreiche Strecken ungeeignet ist. Sie traute ihm zuviel zu.“ „Machen Sie mir doch nichts vor, Klaus, sie war eine erstklassige Fahrerin, das wissen wir. Selbstverständlich trage ich die Verantwortung, denn schließlich habe ich euch beide auf den Fall aufmerksam gemacht. Sie brauchen mich nicht zu schonen.“ „Er wird gleich hier sein“, lenkte Bode ab. „Ihr gehörtet zusammen, wenn ich je etwas gewußt habe, bevor ich es im Kern erfaßte …“ Nathalie geriet ins Stocken. „Mein Gott“, sagte sie, „was hättet ihr alles gemeinsam geschafft.“ „Hören Sie auf, ja? Hören Sie bitte sofort auf!“ „Sie hat mich gefragt“, sagte Nathalie, „ob ich das Glücksgefühl in bezug auf das, was geschehen wird, kenne, auf Dinge, die man getan habe ohne Rücksicht auf die eigene Person …“ „Hören Sie auf – verdammt noch mal! Sie haben keine Ahnung …“ „Doch, Klaus, Sie täuschen sich.“ Nathalie griff nach ihrem Glas, entdeckte, daß es leer war, und sah Bode an. Er erschrak vor dem Ausdruck in ihren Augen.
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2 Peter Röpke fand einen Parkplatz in unmittelbarer Nähe des Hochhauses, in dem Klaus Bode wohnte. In Anbetracht des Wetters zog er seinen Mantel an und spannte den Schirm auf, bevor er die Fahrbahn kreuzte. Er hatte nach der Trauerfeier und seinem Nekrolog den Anzug gewechselt und mit dem Anzug sozusagen sein Gesicht. Er ähnelte jetzt rundherum einem Sportsmann, dem das Flair hansischer Tüchtigkeit und Soigniertheit anhaftete. Er sah sehr gut aus, war ein wohlerhaltener Endvierziger mit straffem, jungenhaftem Körper, dem Reputation Tugend bedeutete. Der Lift trug ihn ins einundzwanzigste Stockwerk empor. Er fand, Bodes Art zu wohnen hatte einiges für sich, wiewohl er selber … nun, er war mit seiner stilecht renovierten Villa in Blankenese eigentlich noch ganz zufrieden. Die Affäre vom frühen Nachmittag wünschte er aus seinem Gedächtnis zu löschen – bis auf seine Ansprache, die gut angekommen War und sicher Schlagzeilen machen würde. Dann, ohne ersichtlichen Grund oder Übergang, im Fahrstuhl zwischen den Etagen – das eintönige Summen täuschte das Phänomen absoluter Stille vor –, sah er alles wieder vor sich, die Jahre, die längst entschwunden waren, Brigitte. Er glaubte alles wieder vor sich zu sehen. Brigitte. Er wollte nicht erinnert sein. An seine Anfänge. An Brigitte. Brigitte … „Wir tragen hier ein Gewissen zu Grabe …“ Seine Stimme. „Wir erweisen die letzte Ehre einer Publizistin aus Engagement und Leidenschaft … Wir haben den Verlust eines Gewissens zu beklagen …“ 10
Seine wohlmodulierte Stimme. Dabei war er ihr Mann gewesen. Er sagte zu sich: Du mußt den Dingen ihren Lauf lassen, nützt ja nichts, nützt ja alles nichts. Er meinte ihr strahlendes Lächeln zu sehen. Da hielt der Fahrstuhl. Er stieg aus. Suchte die Türschilder ab. Klaus Bode öffnete – Röpke trat ein, legte Hut, Mantel und Schirm ab, präsentierte sich in dezentem Tweed, rieb sich die Hände. Die waren kalt. „Traurig der Anlaß unseres Wiedersehens.“ „Ja, traurig“, sagte Bode. „In Ohlsdorf draußen …“ „Halt den Mund, ja?“ „Fehlt dir was?“ „Mir fehlt gar nichts, wir sitzen hier sehr gemütlich zusammen. Ich brauche dich mit Frau Doktor Kotter nicht bekannt zu machen.“ „Tag, Nathalie“, sagte Röpke. „Sie gestatten?“ Und er setzte sich auf die Couch. „Trauriger Anlaß“, fuhr er fort, „ich hätte Sie gern bei anderer Gelegenheit wiedergesehen. Unsere teure Verstorbene …“ „Hören Sie auf!“ unterbrach Nathalie schroff. „Pardon“, sagte sie, „wenn ihr wollt, daß ich weggehe, gehe ich weg.“ „Mit oder ohne?“ fragte Bode. „Hast du Bourbon?“ „Bei mir gibt’s nur Scotch.“ „Dann mit“, sagte Röpke und wandte sich an Nathalie, während Bode ihm seinen Whisky kredenzte und den Soda-Siphon auf den Tisch stellte. „Ich möchte Sie bitten, mein Gast zu sein, das Haus ist groß genug. Danke, Klaus.“ Er ließ die Eisstücke klingeln. „Ich übernachte im Hotel“, sagte Nathalie. Sie sah, ohne zu lächeln, zu Röpke hinüber, sie begegnete seinem 11
sorgenvollen Blick, und jetzt lächelte sie verkrampft und empfand etwas wie Zuneigung zu ihm. „Was willst du?“ fragte Bode. „Kommentar eigentlich überflüssig. Ihr wart bis zuletzt mit ihr zusammen, aber ich hab die schönsten Jahre mit ihr verbracht. Immerhin galten wir für ein glückliches Ehepaar.“ Röpke machte ein trotziges Gesicht, das dadurch auf einmal wieder echt jungenhaft wurde. „Ich wollte, es wäre nicht passiert. Es sind genug Gerüchte umgelaufen über unsere Trennung, ich will nichts beschönigen und nichts widerrufen. Hinterher kann man seine Biographie ohnehin nicht mehr ändern.“ Und mit überraschender Wendung: „Ich möchte die nachgelassenen Manuskripte haben. Ich will sie, so wie sie sind, in meiner Zeitschrift bringen. Die erste Folge der Story …“ „Dokumentation“, berichtigte Bode. „Dokumentation“, wiederholte Röpke, „hab ich im NDR gehört – eine journalistische Glanzleistung. Ich will alles publizieren, was da ist, auf der ersten Seite.“ „Ein postumes Comeback deiner erfolgreichsten Leitartiklerin?“ „An mir hat’s nie gelegen, ich wollte niemals auf ihre Mitarbeit verzichten, ihr wißt das so gut wie ich.“ „Du Hund“, sagte Bode. Röpke befühlte mit Daumen und Zeigefinger seine Mundwinkel. „Trink nicht so viel“, sagte er. „Hol dich der Teufel mitsamt deinem Scheißblatt – du bluffst doch bloß!“ „Hört mir einmal zu, ihr beiden“, mischte Nathalie sich ein. „Es wäre vielleicht vernünftiger, ihr ließet diesen ganzen angestauten Kram – eure Emotionen – draußen. Es 12
nützt nichts, verrückt zu spielen. Geben Sie mir in Gottes Namen noch einen Whisky, Klaus.“ Sie beobachtete, wie Bode zur Hausbar ging, ihr Glas füllte, tief Atem holte. Er reckte sich dort unter dem verschatteten Picasso. Ruhiger geworden, kehrte er zurück. „Also gut“, sagte er, „fang noch mal von vorne an.“ „Womit denn?“ „Deine Sache.“ „Dann fange ich mit diesem sinnwidrigen Ereignis an. Ich kenne Biggys Fahrweise. Ich weiß nicht, woran sie gedacht hat, als sie von der Autobahn abbog. Ich kann mir aber vorstellen, was dann geschah: Glatteis, der Wagen schleudert in der Kurve, sie reißt das Steuer herum, der VW prallt auf der falschen Fahrbahnseite gegen die Barriere. Genickbruch. Aus. Weder hatte sie für die beiden Vordersitze Nackenstützen angeschafft noch den Sicherheitsgurt angelegt. So muß das gewesen sein. Ich nenn’s eine Katastrophe.“ Bode, indem er Nathalie anblickte, unterdrückte einen neuen Ausbruch. Statt dessen sagte er: „Ich nenn’s eine Tragödie.“ „Ja“, räumte Röpke gutwillig ein, „es ist tragisch. Ich meine: Dieser Tod vorm Höhepunkt ihrer Laufbahn ist – nun ja – unfaßbar, unbegreiflich. Deshalb müssen wir alles tun, um ihr wenigstens den Nachruhm zu sichern.“ „Hab ich mir doch gleich gedacht, daß du nicht zauderst, wenn du im Vorteil bist. Du willst also Geld aus ihrem Nachruhm schlagen, du ausgekochter ‚..“ „Klaus!“ mahnte Nathalie. „Laß das sein, du Blödheini! Wir beide sitzen, ob du’s willst oder nicht, im gleichen Boot.“ „Mit deinesgleichen sitze ich nie und nimmer in einem Boot!“ 13
„Ich will was für Biggy tun – verstanden? So was gibt es doch nicht nur im Märchen, daß einer anderen Sinnes wird. Ich will diese Story, Mann – es ist eine tolle Story!“ „Weil sie dabei geblieben ist“, rief Bode, „sonst wärst du doch der erste, der …“ „Klaus!“ Nathalies Stimme klang schneidend. „Seit wann“, fragte Röpke, „hast du was gegen Knüller?“ „Wenn du jetzt nicht dein verfluchtes Maul hältst …“ „Klaus“, sagte Nathalie sehr leise und fuhr immer noch leise und mit merkwürdiger Betonung fort: „Ich ahne jetzt noch nicht, für wen sie erledigt war, als sie noch lebte.“ Sie setzte ihr Glas hart auf den Tisch. „Ich will euch etwas sagen“, sprach sie, mühsam die Lippen bewegend, „sie hat mich angerufen in ihrer letzten Nacht, und gesagt hat sie: Ich bin hier fertig. Morgen mittag komm ich zu dir. Verständige Klaus, bitte – ja? Sag ihm, ich hätte nun die Lösung, die ist einwandfrei. Mein Tonband mit den letzten Interviews und … Hier brach unser Gespräch ab – leider. Ich legte kein großes Gewicht darauf, daß die Verbindung abgebrochen war. So was kommt immer mal vor. Und nun laß ich euch allein.“ „Sie sind unfair“, sagte Bode, als er ihr in der Diele in den Mantel half. „Nein“, sagte sie, „ich bin nur am Ende.“ „Aber Nathalie …“ „Beherrschen Sie sich, Klaus, und mit dem da drinnen seien Sie vorsichtig. Ich brauche Ruhe, um nachzudenken, und – Distanz, ja, die brauch ich auch.“
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3 Bode saß Stunden später allein an seinem Schreibtisch. Auf der leeren Platte lag der Schein seiner Arbeitslampe. Er öffnete die mittlere Schublade und holte eine Mappe hervor. Er war in den Inhalt der Mappe vertieft, als das Telefon anschlug. Nathalies Stimme sagte: „Gehen Sie zu Bett, Klaus.“ Den Hörer am Ohr, lehnte er sich in seinem Sessel zurück. „Behalten Sie Ihren klaren Kopf, denken Sie an Brigitte.“ „Hallo!“ rief er. „Hallo – Nathalie!“ Nathalie hatte aufgelegt. Er schloß die Augen, schluckte krampfhaft, versuchte sachlich zu resümieren. Es mißlang. Denk an deinen Nekrolog, wies er sich selbst zurecht. Er mußte das machen, es stand ihm durchaus bevor. Doch würde er es von einem Sprecher verlesen lassen. Bloß nicht Röpkes Sermon kopieren, bloß nicht. Sie war ein Mensch, der Fakten liebte, was nicht ausschließt, daß sie Ideale hatte. Denk an die Fakten. Fakten! Wäre sie jetzt bei mir, sie würde vier Eier in die Pfanne schlagen, zwei für sich, zwei für mich. Sie hatte einen gesegneten Appetit und achtete auf gerechte Teilung. Im Badezimmer lag ihre Armbanduhr. Sie fragte: Wo hab ich bloß meine Uhr gelassen? Im Bad – wo sonst? sagte ich. Und dann kam sie aus dem Bad, war angezogen, hatte die Haare toupiert, sagte: Tschüs, Klaus, ich habe zu arbeiten. Und war fort. Jedesmal hat’s mich umgeworfen, daß sie so froh war wie ich, den ganzen Tag für sich zu haben. Tage, Nächte. Keine feste Verabredung fürs nächste Mal. Nichts. Dann ihre zunehmende Wärme: Ich komm gut vorwärts in Lemdorf, 15
du! – Biggy – ein Mensch, der verschwieg, was er in Erfahrung gebracht hatte, um zu reden, als die Stunde dafür gekommen war. Wir haben sie am Nachmittag dieses tristen Tages in Ohlsdorf begraben. Ich habe sie nicht gesehen, als es geschah, habe den Ausdruck ihres Gesichtes nicht gesehen. Sie saß also am Lenkrad. Hinter dem Lenkrad. Bog von der Autobahn runter. Stimmt ja nicht, daß sie leichtsinnig war. Sie liebte ja ihr Vehikel, kannte auch seine Tücken. Gebremst hat sie nicht, nur Gas weggenommen. Fakten – man muß den Fakten nachspüren. Mich darf jetzt nur interessieren, was in der verdammten Kurve vorging. Alles andere laß jetzt nicht an dich heran … Bode legte einen Bogen Papier auf die Mappe, die er geschlossen hatte, begann zu schreiben, warf hastig Zeile um Zeile untereinander. Zwei Fragen blieben ungeklärt: Wer war der Zeuge? Was rechtfertigt meinen Verdacht? Als er sich die Zähne putzte, dachte er daran, daß Brigitte zuweilen, wenn sie bei ihm gewesen war, seine Zahnbürste benutzt hatte. Er sah sein Gesicht im Spiegel. Es war das Gesicht eines alten Mannes, das war das Unheimliche daran. 4 Von der rechten Fahrbahnseite aus hatte man einen Blick ins Tal. Links steilte Wald empor – Tannen, Birken, ein paar Lärchen dazwischen. Der VW hatte die weiß-rote Barriere durchbrochen, war gegen die Hangbefestigung 16
geprallt, hatte einen Satz nach rückwärts gemacht und mußte dann – in Schrägrichtung – zum Stehen gekommen sein. Die Frau schien unverletzt. Der Bug war zwar zerbeult, die Windschutzscheibe geborsten, doch hatte sich an der Lenksäule nichts verändert. Der junge Wachtmeister vom Streifendienst wandte sich an seinen Kollegen. „Sicher Genickbruch.“ „Sieht so aus“, sagte der, „gleich werden wir’s genau wissen.“ Die linke Wagentür klemmte, die rechte Wagentür stand offen. Auf dem rechten Vordersitz befand sich die Handtasche der Toten. Wachtmeister Nölle griff danach, zog den Paß hervor und las laut: „Strömberg, Brigitte, geboren sechsten Mai neunzehnhundertvierzig, Geburtsort Berlin, Wohnort Hamburg, Beruf Journalistin, Familienstand geschieden. – Gib die Meldung durch.“ Während sein Kollege sich entfernte, beugte er sich in den Wagen und suchte den Rücksitz ab. Unter einem modischen Mantel entdeckte er ein Reisenecessaire aus Krokodilleder, eine Reiseschreibmaschine und ein Kassetten-Tonbandgerät. An den Kofferraum konnte man nur mit Spezialwerkzeugen heran, die in der nächsten halben Stunde mit dem gesamten Apparat der zuständigen Verkehrsunfallbereitschaft unter Sirenengeheul eintreffen würden. Pflichtbewußt drehte Nölle sich nach dem Manne um, der seinen BMW zwanzig Meter weiter am Straßenrand geparkt hatte. „Wenn das hier keine sogenannte tote Abfahrt wäre, dürften Sie Ihr Auto hier nicht abstellen“, begann er. „Selbstverständlich“, erwiderte der Mann. „Im übrigen haben Sie sich richtig verhalten.“ „Wohl ebenso selbstverständlich.“ 17
Nölle stutzte. In Anbetracht der Umstände ärgerte ihn der allzu selbstsichere Ton des Mannes. Deshalb sagte er: „Es war ja eigentlich widersinnig, daß Sie umgekehrt sind, um vom nächsten Telefonanschluß aus uns zu rufen.“ „Ich besitze meinen Führerschein nicht erst seit gestern, Herr Wachtmeister!“ „Sie hätten in den Ort da unten fahren können, dann hätten Sie’s näher gehabt.“ Nölle zückte sein Notizbuch. „Der Revierposten …“ „Mann Gottes, wenn Eile not tut, begibt man sich doch nicht zu einem Revierposten, der bestenfalls Hühnerdiebstähle protokolliert!“ „Wie viele Kilometer?“ „Was wollen Sie eigentlich?“ „Wie viele Kilometer sind Sie zurückgefahren zum nächsten Fernsprecher an der Autobahn?“ „Also hören Sie: Das hab ich nun wirklich nicht registriert.“ „Es ist nämlich so“, sagte gelassen der Wachtmeister, „und ich erzähle Ihnen bestimmt nichts Neues damit, daß sich im Einflußbereich des Dornburger Revierpostens die Nervenklinik befindet, auf die unser Land Niedersachsen so stolz ist. Ihre Personalien, bitte.“ „Racke, Vorname Alfons, und falls Sie es genau wissen wollen: Nächstes Mal fahre ich vorbei.“ „Sie würden sich strafbar machen, Herr Racke, nach Paragraph …“ „Sparen Sie sich Ihre Belehrungen – hier, meine Papiere …“ Racke fingerte nervös in seinem Portefeuille, Nölle beobachtete ihn, während er ein Dokument nach dem anderen entgegennahm. Er hatte es nicht eilig, darin zu blättern. Dann freilich änderte er sein Benehmen. 18
Bürgermeister, las er, Abgeordneter des Kreises … Und da war auch noch das Mitgliedsbuch der CDU. Er selbst gehörte keiner Partei an. Er verbarg seine Überraschung schlecht, als er sagte: „Aber Sie sind ja in dieser Gegend beheimatet!“ „Haben Sie was dagegen?“ „Nein, gar nicht – ich meine nur: Es hätte doch nahegelegen, daß ein mit der Örtlichkeit Vertrauter …“ „Sie haben vollkommen recht, Wachtmeister! Ich hätte Erste Hilfe dort unten anfordern sollen. Schon mal von Schockwirkung gehört? Das gibt’s doch – oder? Ich hab einfach nicht dran gedacht.“ Weil ihm nichts Besseres einfiel, fragte Nölle: „Kannten Sie die Tote, Herr Bürgermeister?“ Racke ließ eine Pause verstreichen, blickte die Straße entlang auf die überhöhte Kurve. Von der Sonne war nichts mehr zu sehen. Der Nebel verdichtete sich wieder. Die Straße war leer. Hinten in ihrem zerbeulten Käfer saß die Strömberg, saß da in einer Haltung, als lebte sie noch. „Ja“, erwiderte er leise, „ich kannte sie. Wir hatten uns gestern abend verabredet, diese Tour gemeinsam zu machen. Ich hab mit ihr Abendbrot gegessen – das war gestern …“ „Danke“, sagte Nölle, „es erklärt …“ Er wollte fortfahren, doch in diesem Moment raste die Wagenkette von oben herbei, und wenige Minuten später herrschte am Unfallort geschäftiges Treiben. 5 Kommissar Weinheim von der Kriminalpolizei empfing den Wachtmeister vom Streifendienst mit gemischten 19
Gefühlen. Einmal fürchtete er zusätzliche Strapazen – seine Leber war nicht in Ordnung –, zum anderen mochte er die Beflissenheit gewisser junger Leute nicht, die, wie er meinte, nur an ihre Karriere dachten. In seinen besten Jahren hatte er sich gerade in verfahrenen Geschichten hervorgetan, doch war seine Methode zu redlich gewesen, um nicht für verurteilenswert befunden zu werden von den damaligen übergeordneten Dienststellen. Weinheim hatte den Laden satt, wie er gelegentlich im Freundeskreise äußerte, er sehnte seine Pensionierung herbei. „Was wollen Sie?“ fragte er schroff. „Setzen Sie sich hin. Meinetwegen können Sie rauchen, ich“ – er legte seine rechte Hand behutsam auf die Gegend unterhalb seiner Rippen – „hab mir das Rauchen abgewöhnt.“ „Herr Kommissar“, begann der Wachtmeister. „Heißen?“ „Nölle, Herr Kommissar.“ „Schießen Sie los, aber fassen Sie sich kurz.“ „Herr Kommissar waren doch mit dem Fall Altmann in Lemdorf befaßt.“ „Das war kein Fall, das war eine Kette von Mißverständnissen. Wenn sich die Meinungsmacher, diese Pressehyänen, nicht eingemischt hätten, wäre kein Hahn auf den Misthaufen gestiegen, um danach zu krähen.“ „Gestatten, Herr Kommissar – haben Herr Kommissar die Morgenzeitungen gelesen?“ „Überflogen. Ich bin über Sechzig. Mir genügt’s, daß ich mich gegen die Bagage abschirmen muß, die mir in meine Untersuchungen dreinredet und mich allerorten stört. Kommen Sie zur Sache, Wachtmeister.“ 20
„Die Journalistin Strömberg, die damals in Lemdorf recherchiert hat …“ Kommissar Weinheims Augen unter dichten Brauen in dem breitflächigen Gesicht wurden scharf. „Ja?“ fragte er. „Zufällig hab ich neulich die erste Folge ihrer Reportage über die Affäre Altmann gehört. Mein Kollege hatte NDR drei eingeschaltet – den UKW-Sender. Im allgemeinen hören wir NDR zwo. Wegen der Musik“, fügte er hinzu. „Wir hatten Dienst auf unserm Streckenabschnitt.“ „Wann war das?“ „Vor zehn Tagen, Herr Kommissar, nachts. Der Rapport war … also, er hat mir großartig gefallen.“ „Ihre private Meinung können Sie für sich behalten. Weiter.“ „Wenn Herr Kommissar die Morgenzeitungen gelesen hätten, den lokalen Teil, wäre Herrn Kommissar nicht entgangen, daß sie sich totgefahren hat.“ „Wer, zum Teufel!“ „Die Journalistin Strömberg.“ „Soll vorkommen.“ „Ich möchte behaupten, sie ist der Sache Altmann auf eigene Faust nachgegangen.“ „Hätte sie bleibenlassen sollen.“ „Verzeihung, Herr Kommissar, ich wollte nur nichts versäumen. Es lag nämlich überhaupt kein Anlaß dafür vor, daß sie sich totfahren mußte. An dem Morgen war die Autobahn zwar teilweise mit Glatteis überzogen, aber die Abfahrt in Richtung Dornburg – sie wird selten benutzt – war auf Grund des Dornburger Streudienstes, der nach meiner Erfahrung immer funktioniert, was mit der Klinik in Zusammenhang stehen mag, ohne jeden Fehl – das heißt intakt.“ 21
„Wo haben Sie Deutsch gelernt, Wachtmeister?“ Nölle räusperte sich gedämpft. „Wie meinen?“ fragte er. „Wissen Sie“, sagte Weinheim, griff in die Brusttasche, holte eine Zigarre heraus, deren Kuppe er abbiß, bevor er sie in Brand setzte, „wissen Sie“, fuhr er paffend fort, „das Ganze klingt ein bißchen wirr, außerdem schätze ich Tote nicht, ich hab zuviel davon verkraften müssen, ich laß sie daher gern in Ruhe.“ Und mit einem Blick, der, wie Nölle später erzählte, so plötzlich zugestoßen hätte – er sagte tatsächlich zugestoßen –, daß er ihm direkt an die Nieren gegangen wäre, befahl der Kommissar streng: „Berichten Sie der Reihe nach.“ 6 Im Polizeipräsidium der Landeshauptstadt war der Lift gerade nach oben unterwegs. Weinheim kam auf die ausgefallene Idee, daß er Bewegung brauche, vielleicht war es eine unbewußte Reaktion: Er hatte exquisit zu Mittag gegessen, statt ein Schonkost-Gericht zu wählen. Nun rührte sich seine Leber wieder. Er meinte, der Druck müßte nachlassen, wenn er die Treppen bezwang. Er erreichte seine Etage, ging den Korridor entlang und war außer Atem, als er das Vorzimmer zu seinem Büro betrat. Fräulein Hollriegel saß auf ihrem Platz. „Mahlzeit“, sagte er, „mieses Wetter heute.“ „Es pustet ein bißchen“, erwiderte Fräulein Hollriegel und betrachtete aufmerksam ihren Chef, der seinen Mantel auszog und weghängte. „Mokka gefällig?“ „Graupelschauer – wie im April.“ 22
Er verschwand hinter der Polstertür. Bald darauf knackte es in der Sprechanlage. „Lassen Sie sich hereinpusten“, tönte seine Stimme. Fräulein Hollriegel klemmte eine Akte unter den Arm, griff nach ihrem Stenoblock und eilte hinüber. Weinheims Rechte langte über den Schreibtisch. „Geben Sie her, Mädchen.“ „Bitte“, sagte Fräulein Hollriegel. Weinheim faltete die Hände über dem Hefter, ohne ihn zu öffnen. Dann fragte er: „Haben Sie die Morgenzeitungen gelesen?“ „Nein, Chef, aber es spricht sich herum. Ich bin eine leidenschaftliche Hörerin, zumal morgens in meinem Bett. Sonst käme ich nie aus den Federn.“ „Und was hat Sie heute aus den Federn gepustet?“ „Vielleicht die Tatsache, daß die Lemdorfer Geschichte ihren zwangsläufigen Abschluß gefunden hat.“ „Wie das?“ „Nicht mal Ihnen zuliebe kann ich von einem natürlichen Abschluß reden. Darf ich Ihnen einen Mokka zelebrieren?“ „Nein“, rief Weinheim, „zum Teufel, ich soll doch nicht! Was für eine Meldung war das denn – mit oder ohne Kommentar?“ „Der wird ganz gewiß folgen, nehme ich an. Doch wird er ebenso gewiß nicht in Ihren Kompetenzbereich fallen. Sie brauchen keine neuen Angriffe zu fürchten: Was gedenkt das zuständige Dezernat der Kriminalpolizei zu unternehmen und so weiter.“ „Raus“, sagte Weinheim sanft. „Vergessen Sie meinen Mokka nicht. Noch eins: Beordern Sie Spengler her.“ Fräulein Hollriegel äußerte ein denkwürdiges „Danke, Chef“, bevor sie auf ihren langen Beinen davonstelzte. 23
Eine gute Stunde arbeitete der Kommissar, seinen Mokka in kleinen, vorsichtigen Schlucken genießend, konzentriert an dringlichen Fällen, indem er die toten Punkte zu erfassen versuchte. Zwischendurch dachte er darüber nach, daß die Möglichkeiten des Apparates bei aller Akribie in einem Mißverhältnis standen zur Vielzahl der aufzuklärenden Verbrechen. Er brauchte keine Statistik zu Rate zu ziehen, um sich schlüssig darüber zu werden, daß sogar kapitale Delikte ungeahndet blieben. Er haßte den Berufsstand Gerichtsreporter, gleichviel welcher Couleur, weil er sich in seinem eigenen Stande überfordert und geschmäht fühlte. Es kam ihm mitunter vor, als hätte er aufgehört, Jäger zu sein, und sei zum gejagten Wild einer Meute geworden, die in der Überzahl war. Von jedem Zeitungskiosk schrie ihn jene leichtfertig in Fettdruck aufgegebene Kolumne „Was unternimmt die Mordkommission?“ gellend an. Sie machte ihn rasend. Sie traf seinen Lebensnerv, denn er war nie gleichgültig gewesen, so ein abgebrühter Hund, der vom Urlaub redete oder vom Null ouvert am Stammtisch, während Fotografen und Gerichtsmediziner ihres traurigen Amtes walteten. Manchmal sagte er beim Freitagabend-Skat in dem gemütlichen Lokal der Witwe Schröder: „An meiner geschwollenen Leber sind nur diese vorlauten Burschen von der Presse schuld.“ Die Sprechanlage meldete sich mit rotem Licht. Die Stimme der Hollriegel kam: „Herr Spengler, Chef.“ „Soll reinkommen“, befahl er grob. „Ja, also – guten Tag auch, Spengler“, sagte er, als sein Mitarbeiter im Besuchersessel Platz genommen hatte, „schön, daß Sie endlich da sind. Sagen Sie mal – Sie sind doch ein junger Mann –, können Sie mir erklären, warum ein junger Mann in der dritten Person Mehrzahl mit mir verkehrt?“ 24
Spengler wußte wieder einmal nicht, worauf der Chef hinauswollte. „Vielleicht“, erwiderte er auf gut Glück, „war sein Vater Stabsfeldwebel.“ Weinheim nickte beifällig. Sagte: „Sie haben sicherlich Zeitung gelesen. Klären Sie mich mal auf, Spengler. Was gibt’s Neues?“ „Außenpolitisch …“ „Weiß ich selber.“ „Innenpolitisch …“ „Zur Sache, ja?“ „Wenn Sie unsern speziellen Dienst meinen – nichts, Chef, jedenfalls nichts von Belang. Jahreszeitlich bedingt, steigt die Quote der tödlichen Autounfälle, und die fallen wohl kaum in unser Ressort.“ „Ich will weder dem Verkehrsminister ins Gehege kommen noch unsere prestigebesessenen Bundesbürger diskreditieren, das besorgen sie selber. Sprachen Sie von Autounfällen mit tödlichem Ausgang? Merkwürdige Assoziation, mein lieber Spengler! Da es vorderhand nichts Brandeiliges für Sie zu tun gibt“, Weinheim setzte seine Brille auf, „lautet mein Vorschlag dahin, Sie fahren mal zum Unfallort …“ „Unfallort, Chef?“ „Tatort kann man das doch noch nicht nennen – oder? Sehen Sie sich mal ein bißchen in der Gegend um. Ich an Ihrer Stelle würde die Heilstätte Dornburg mit unter die Lupe nehmen. Aber ich hab Sie ja überhaupt nicht ins Bild gesetzt, da haben wir’s wieder – ich werde alt. Übrigens: wer weckt Sie am Morgen?“ „Meine Wirtin, Chef, und zwar durch wiederholtes Klopfen an meine Zimmertür.“ „Und danach?“ „Schalte ich meinen Super auf Vollgas.“ 25
„Ihr Radiogerät?“ „Jawohl, Chef.“ „Ausgezeichnet. Wie lautete der Bericht heute früh?“ „Falls wir beide das gleiche im Auge haben, Chef …“ Spengler ließ eine geraume Weile verstreichen. Er hatte den Kommissar zu respektieren gelernt, obgleich ihn dessen Methoden anfangs als reichlich antiquiert angemutet hatten. Später hatte er entdeckt, daß Weinheim nie zurechtgekommen wäre mit diesem Übermaß an Arbeitslast, hätte er sich nicht abgeschirmt mit dem Panzer aus Skurrilität und Jargon. Es hatte in ihrer Beziehung durchaus eine Phase gegeben, in welcher er den Alten mitsamt seinen Eigenarten rigoros abgelehnt hatte. Dann freilich hatte er ihn – widerwillig zunächst – anerkennen müssen des seltenen Talentes halber, noch in ausweglosen Situationen hartnäckig Ansätze zu erforschen, mochten die so geringfügig sein, wie immer sie wollten. Außerdem wußte er, daß der Alte seinen Vorgesetzten unbequem war. Es gab Jüngere, die nachdrängten. Und da er ein tiefes Interesse für Menschen hatte, für all die Dinge, die unter der Oberfläche lagen, hatte er Weinheim im Laufe der Zeit immer besser verstanden. Er, Spengler, wollte nicht mit den Hasen laufen und gleichzeitig mit den Hunden hetzen. Es war nun geschehen, er liebte seinen Chef. „Die Erklärung in der Presse? Dürre Worte, Herr Kommissar. Ich höre weder das Gras wachsen noch die Flöhe husten, und Sie sind alles andere, nur nicht alt. Fräulein Hollriegel gab mir draußen ein paar Fingerzeige. Ich will stante pede aufbrechen und in Dornburg Nachlese halten.“ „Ja – gut, Spengler.“ 26
„Wie hieß doch gleich der Wachtmeister, der bei Ihnen war?“ „Fragen Sie Fräulein Hollriegel, die notiert doch alles.“ 7 Nölle parkte den Wagen und führte Spengler die Kehre hinaus. Es nieselte leicht bei null Grad. Als sie ihr Ziel fast erreicht hatten, kam von unten der Streudienst. „Aber es friert doch gar nicht“, sagte Spengler. „Die sind hier sehr pingelig“, erwiderte Nölle, „das hab ich dem Herrn Kommissar auch gesagt. Dabei ist das hier wirklich ne tote Abfahrt: zwei-, dreimal pro Tag ’n Krankenwagen. Im allgemeinen reisen neue Patienten über die Bundesstraße an.“ „Sie sind gut informiert, Wachtmeister.“ „Ach, wissen Sie, man macht seine Beobachtungen, das bringt der Dienst so mit sich.“ „Okay. Und wo befand sich das Fahrzeug?“ „Hier“, sagte Nölle und deutete einen Punkt auf der Straße an, „schräg zur Fahrbahnmitte“, und da Spengler kaum hinschaute, ergänzte er: „Die Kollegen von der Verkehrsunfallbereitschaft haben alles ausgemessen und geprüft.“ „Klar“, sagte Spengler und sah den Hang empor. „Leichen mit unzweideutigen Genickbrüchen schafft man baldmöglichst fort.“ Er trat an den Straßenrand und schaute ins Tal. Insgeheim deklamierte er aus einem zweifellos existenten Werbeprospekt: Den Besucher grüßen schon von weitem die alte ehrwürdige Dorfkirche und die markanten Türme des von dichten Baumkronen umgebenen Schlosses, dessen Barockfassade den Kern des Ortsbildes 27
ausmacht. Park und Schloß bilden zugleich den Mittelpunkt des weitgedehnten Komplexes des psychiatrischen Klinikums, welches mit einem Kostenaufwand von dreißig Millionen von der Landesregierung erstellt wurde. Im Umkreis dieser Baueinheit reihen sich behäbige Bauerngehöfte, schöne, alte Fachwerkhäuser, Perlen niedersächsischer Tradition … Die Dorfstraße dort unten krümmte sich wie eine Schlange. Am Bahnhof rechts wartete ein Güterzug. Historische Bierstube, meditierte Spengler, die gibt’s bestimmt, dazu ein Waldbad und Tennisplätze – letztere natürlich im Park. Und im einzigen renommierten Hotel oder gar in einem Seitenflügel des Schlosses übernachten die Angehörigen der Patienten, soweit sie zahlungskräftig sind. „Versetzen wir uns in die Lage des Zeugen“, sagte er, „was hätten Sie an seiner Stelle getan?“ „Ich weiß ja nicht“, sagte Nölle, „ich war ja wohl zum nächsten Telefon gerannt.“ „Und ich“, sagte Spengler, „hätte den ersten Gang eingelegt, statt umständlich zu wenden.“ „Die Schockwirkung muß man ihm schon zugute halten.“ „Freilich, zumal er … Wie hieß er doch gleich?“ „Racke.“ „Zumal er die Dame ja kannte. Überlegen Sie: Wenn man geschockt ist, wohin fährt man da?“ „Weiter“, erklärte der Wachtmeister, „ich meine vorwärts.“ „Sollte man annehmen. Aber die Verhaltensweisen der Menschen in extremen Situationen … Gehen wir mal vorerst nicht ins Detail. Tun wir mal, was wir beide für das Natürliche halten, fahren wir vorwärts. Ich schätze, in Dornburg gibt es was, das Dornburger Hof oder ähnlich heißt, da werden wir hinterher einkehren.“ 28
„Ein Helles möcht ich heute ganz gerne trinken an meinem freien Tag, Herr …“ „Kollege, wenn ich bitten darf.“ Spengler setzte sich bequem zurecht. „Muß langweilig sein, immer abstinent. Cola und Kaffee, mal Kaffee, mal Cola – muß Ihnen ja schon zu den Ohren rauskommen! Also retour fahr ich.“ Der starke Wagen schoß bis zur Kreuzung. Nölle bremste behutsam, bog dann rechts ein. Tausend Meter weiter, unmittelbar am Ortseingang, stand ein Wegweiser mit einem roten Kreuz über der Aufschrift. Sie bogen abermals nach rechts ab und rollten in einem Tunnel entlaubter Bäume dahin. Die Privatstraße endete auf einem Parkplatz. „Was nun?“ fragte Nölle. „Kleine Plauderei mit dem Pförtner.“ „Würde ich auch vorschlagen.“ „Also los.“ Der Pförtner war ein alter Mann und kauerte wachsam hinter seinem Schiebefenster. Eine Schranke sperrte die Zufahrt in den inneren Distrikt der Heilstätte ab. Jeder Passant mußte auf schmalem Gehsteig an ihm vorbei. „Sie wünschen?“ Bevor Spengler antworten konnte, sagte Nölle: „Neulich trug ich Uniform. Man sieht dann anders aus, und Sie haben ja auch gleich auf den Knopf da gedrückt und die Schranke hochgehievt.“ Spengler wunderte sich, strich seinen Bart, eine Art Schifferkrause, die sein schmales Gesicht umrahmte, kratzte das Gelock an seinen Wangen, hörte zu. Er beobachtete den Wachtmeister, der barhäuptig war und glattrasiert und einen sportlichen Anorak trug. „Zigarette?“ fragte Nölle. 29
Der Zerberus nahm dankend an, Nölle hielt sein Feuerzeug über den schmalen Tisch, auf dem ein großformatiges Buch aufgeschlagen lag. „Ach“, sagte der Alte, stand mühsam auf, verbarg die Zigarette wie etwas Unziemliches in der hohlen Hand, „falls Sie zu Frau Oberärztin wollen – Frau Oberärztin sind nach Hamburg gefahren, zur Beerdigung. Sie erwartete an jenem Unglückstag den Besuch einer Dame – Sie wissen schon. Frau Oberärztin hatten mich durchs Telefon instruiert. Beinhorn, hat sie gesagt, es ist kaum notwendig, daß ich Sie darum bitte, aber lassen Sie Frau Strömberg passieren, sobald sie eintrifft. Wir haben hier unsere besonderen Bestimmungen. Ich kannte Frau Strömberg, eine freundliche Person, sie war recht häufig hier. Frau Oberärztin vertrat so etwas wie Mutterstelle an ihr.“ „Traurig“, sagte Spengler. Er verzichtete darauf, seinen Ausweis zu präsentieren. „Was kann ich sonst noch für die Herren tun?“ „Das muß ein harter Schlag für …“ Spengler sah den Alten sowohl teilnehmend als freundlich abwartend an. „Ja, ja“, erwiderte der, „ein sehr harter Schlag für unsere Frau Doktor Kotter. Wir rechnen spätestens morgen mit ihrer Rückkehr.“ Nölles offenes Gesicht drückte einigen Triumph aus, als er sich an Spenglers Seite zum Gehen wandte. Spengler fragte: „Warum haben Sie nun eigentlich den Leiter der Mordkommission um eine Unterredung gebeten?“ „Finden Sie, daß ich voreilig gehandelt habe?“ „Ganz und gar nicht, Wachtmeister, Sie haben getan, was logisch ist, obgleich man damit zuzeiten nicht weiterkommt beziehungsweise sich in die Nesseln setzt. 30
Heikle Angelegenheit, verdammt noch mal“, setzte er fort, während Nölle den Motor anließ. „Sie haben sich Ihr Pils redlich verdient.“ Er fügte gedankenverloren hinzu: „Diese Frau Doktor Kotter – nicht wahr –, man kann sie nicht einfach so mir nichts, dir nichts überspringen.“ 8 Ein Besucher, ja. Polizei. Kriminalassistent Spengler. Nannte sich wie der Philosoph, der den Untergang des Abendlandes zusammengesponnen hatte. Doch dieser hier hieß Joachim mit Vornamen, das war kein Oswald. Nathalie Kotter stand auf und ging ins Wartezimmer. Es erhielt sein Licht indirekt durch Glaswände von den Räumen her, die gegen den Park lagen. Ein schwarzlackierter Pfeiler in der Mitte kontrastierte mit dem gelben Teppichboden. Auf der langen Polsterbank saß ein Mann. Er legte eine Illustrierte auf die Glasplatte des Tisches zurück und erhob sich. Sein dunkles Haar war gepflegt. Er trug einen Bart, der sorgfältige Behandlung verriet. Der Anzug des jungen Mannes war ebenfalls dunkel, nur die Krawatte leuchtete farbenfroh. „Herr Spengler?“ „Sehr freundlich von Ihnen“, Spengler verneigte sich, „mir Ihre Zeit zu opfern, Frau Doktor.“ Er folgte ihr in ihre Ordination, ließ sich auf einen Wink im Sessel nieder und sah sich um. „Ein behaglicher Raum“, sagte er höflich, „ganz anders als die sonst üblichen Sprechzimmer.“ „Wir haben es hier nicht mit üblichen Patienten zu tun. Was führt Sie zu mir?“ „Ich will gleich zur Sache kommen – das heißt, so ohne 31
Umschweife geht das gar nicht. Ich muß Ihnen zuvor erklären – nein, richtiger: Sie wissen ja, was passiert ist.“ „Da bin ich aber sehr überrascht. Sollte sich die Polizei wider Erwarten doch noch Gedanken machen – nachträglich, wo doch längst alle Messen gesungen sind?“ Spengler betrachtete verstohlen Nathalies Gesicht. Er entdeckte das zarte Faltengeflecht darin. Es verriet ihre Jahre. Dann entdeckte er ihre jung gebliebenen Augen. Von den Augen ging eine seltsame Faszination aus. „Sie kennen Kommissar Weinheim nicht“, entgegnete er verlegen. „Möchten Sie einen Tee?“ „Kommissar Weinheim ist in vieler Hinsicht bemerkenswert. Er schafft sich mit Vorliebe Unannehmlichkeiten.“ Spengler wechselte die Beinhaltung. „Sie dürfen mich nicht überschätzen“, fuhr er fort, „ich bin ein kleines Tier. Weinheim scheucht seine jungen Leute gern herum, um sie zu erproben.“ Hier lächelte er entschuldigend. „Wir müssen den Fall Strömberg aufrollen, dahin lautet meine Order. Ich hoffe, Sie unterstützen mich. Jeder Fingerzeig ist wichtig. Ich bin engagiert des Alten wegen – und auch sonst.“ „Wie soll ich das letzte verstehen?“ Spengler wandte langsam den Kopf. „Es gibt bisher nur vage Vermutungen, man kann nicht von vorherein vorgehen mit der fixen Idee gewaltsamer Tod – nicht wahr? Wer hätte daran Interesse haben können? Sehen Sie, eine Tat muß doch einen Sinn haben. Diese merkwürdige Geschichte wurde eigentlich aufgegriffen von einem simplen Wachtmeister der Verkehrspolizei. Er begleitete den – den Rettungswagen hierher. Erinnern Sie sich?“ „Ich erinnere mich nicht an Einzelheiten.“ 32
„Verständlich, gnädige Frau. Des Menschen hervorstechende Eigenschaft ist die Fähigkeit, sich zu wundern. Einige stellen sogar Fragen.“ Nathalie lächelte über den lehrhaften Ton des Kriminalassistenten, aber sein Eifer gefiel ihr. „Demzufolge“, erklärte sie, „gäbe es in hiesigen Breiten wenig Menschen …“ „Genau“, fiel Spengler ein, „sie verdrängen die Lust zu fragen, um ruhig schlafen zu können.“ „Da befinden Sie sich aber sehr im Irrtum, so ruhig ist der Schlaf gar nicht; wäre er’s, wir brauchten beispielsweise diese Klinik hier nicht zu vergrößern – zugunsten schlafloser Patienten, die freilich im allgemeinen über gesicherte Einkünfte verfügen.“ „Jedenfalls“, Spengler lehnte sich zurück und blickte angestrengt zur Decke, „dieser simple Wachtmeister stellte Fragen.“ Beiläufig fuhr er fort: „Darf ich fragen, und – was schwerer wiegt – werden Sie antworten?“ Nathalie sagte: „Kommen Sie mit, mein Haus liegt ein bißchen abseits. Ich habe Appetit auf meinen Tee, er schmeckt mir besser als jeder andere. Ich werde antworten – und, was schwerer wiegt“, wiederholte sie ohne Ironie, „ich will, ja, ich will sprechen.“ 9 Spengler, in seinem Käfer, der dem der Strömberg aufs Haar glich, fuhr Stunden später zur Autobahn hinauf. Er fuhr vorsichtig, es war Nacht, es fror leicht bei östlichem Wind. Das Land öffnete sich in der Tiefe mit Erde und Wasser. Die Lichter schimmerten spärlich dort unten. Ein schmaler 33
Silbermond beschien die Szene: Bach und Teich, den stummen Park, die Äcker, das Dorf. Er huschte durch Wolken von Zeit zu Zeit, dann wurden die Schatten lang. Es war Bewegung in der Luft trotz der Stille, die Spengler für trügerisch hielt. Die Straße wendete sich jäh, und als scharfer Schnitt tauchte vor ihm das Betonband auf, seine Scheinwerfer fingen es ein. Spengler hielt am äußersten Punkt des spitzen Winkels an. Um diese späte Stunde war das Betonband leer. Auf der Gegenfahrbahn rauschte ein schwerer Lastzug vorbei. Spengler hatte den Motor abgestellt, sein Gesicht war fahl im schwachen Schimmer des Armaturenbretts, er hätte gern einen Gefährten neben sich gehabt. Nölle fiel ihm ein. Er hätte ihn ausfragen mögen nach Bremsspuren in Streusand und Schneematsch, obgleich solche Dinge gar nicht in Nölles Kompetenzbereich fielen. Die Männer von der Verkehrsunfallbereitschaft hatten Blockierspuren registriert und mittels Kreide fixiert, hatten Radstände geprüft, hatten gemessen und fotografiert. Sie waren Spezialisten auf ihrem Gebiet, nüchterne Routiniers. Manchmal, meinte Spengler, konnte der erste unbefangene Augenschein mehr bedeuten. Er rauchte eine Zigarette und rekapitulierte. Noch wußte er nicht, was er dem Alten berichten würde – vor allem: wie er es berichten würde. Er wußte nur, daß von seiner Verhaltensweise sehr viel abhing. Spengler, an der Wegscheide, dachte an die Schwerfälligkeit des Apparates, den gewohnheitsmäßige Komponenten bestimmten; mit aufgerührtem Gewissen dachte er an Weinheim, der kränker war, als er zugeben wollte, dann dachte er ein bißchen auch an seine eigenen Chancen. Ohne Übertreibung, er hatte das Zeug zu einem guten Kriminalisten. Aber er war ein gebranntes Kind. Und dies hier war – 34
unter solchem Aspekt – keine rechte Chance. Ließ er sich zu tief ein, würde er möglicherweise die Gelegenheit, hinaufzukommen, wieder einmal verspielen. Zudem blieb der Alte ein Unsicherheitsfaktor. Ging die Sache schief, würde er sich unter Umständen rechtzeitig zurückziehen und ganz der soignierte Herr sein, der für nichts einstand. Vielleicht aber sah er – trotz allem – den Alten falsch. Warum es nicht drauf ankommen lassen und – zum Teufel, hol euch doch alle der Teufel! – unter die Oberfläche steuern? Er schnippte seinen Zigarettenstummel aus dem Seitenfenster. Und da auf einmal traten Menschen aus den Kulissen hervor auf die Bühne, und das geschah außerhalb der gängigen Dramaturgie. Spengler startete, fuhr wild entschlossen an, drückte das Gaspedal ganz durch. Der Alte hatte sich, falls man Fräulein Hollriegel glauben durfte, bald nach Nölles Besuch mit dem Leiter der Kriminaltechnik in Verbindung gesetzt und hatte erfahren, daß beide Fahrzeuge sichergestellt worden wären. Regine hatte von sich aus hinzugefügt: „Solche Untersuchungen ziehen sich immer etwas hin – also grünes Licht für uns in der Zwischenzeit.“ Sie hatte tatsächlich „für uns“ gesagt. Spengler hetzte den Käfer durch die Nacht und entwarf den Text für seinen Rapport. Zwischendurch sah er die Strömberg vor sich, die er nicht kannte. Es genügte ihm, daß er ihre Geschichte im Ohr hatte. 10 Heimgekehrt, duschte Spengler, um sich danach zu kurzer Ruhe auf der Couch auszustrecken. Er lag entspannt, fand aber keinen Schlaf. Die Badezimmertür klappte leise, also 35
war seine Wirtin schon aufgestanden. Ihr anderer Mieter hatte diese Woche Frühschicht. Spengler begann an seinem Bericht zu feilen, der so knapp wie möglich erstattet werden mußte. Er rekonstruierte Fakten, die in einer anderen Richtung, sozusagen gegen den Zeitstrom liefen. Der Zustand, in dem er sich befand, trug dazu bei, daß er sich schwebend wähnte zwischen Müdigkeit und äußerster Wachheit des Bewußtseins. Er bewegte sich schließlich auf mehreren Ebenen zugleich. Vor dem Unglück an der Dornburger Autobahnabfahrt hatte sich die Tragödie von Lemdorf abgespielt, nach deren Ursprüngen zu fahnden nicht Angelegenheit des Landeskriminalamtes gewesen war. Dadurch komplizierten sich die Dinge. Spengler warf sich herum, der Morgen dämmerte, er hatte Appetit auf starken, heißen Kaffee und – daneben – eine verzehrende psychische Sehnsucht, die andrängende Gedankenflut endlich loszuwerden. Er begehrte dazusein, und er begehrte, sich fallenzulassen, zu verschwinden. Indessen kreuzten einander allmählich zwei Abläufe. Weinheims damalige Erkundungen in Lemdorf – er hatte sie miterlebt – durchdrangen immer nachdrücklicher die Ergebnisse seiner eigenen jüngsten Ermittlung. Eine Serie von Unheil und Verhängnis bildete sich heraus. Er betrachtete sie aus der umgekehrten Perspektive des späteren Augenblicks. Manche seiner Amtskollegen verwarfen rigoros, einige seiner Vorgesetzten kritisierten unzufrieden seine hervorstechende Eigenschaft, die Phantasie. Er allein wußte, was sie zuweilen wert war. Im Umgang mit Weinheim, der selber oft eigenwillig vorging, hatte er sie hintanzusetzen 36
gelernt. Dennoch: jetzt kam sie ihm zu Hilfe. Er mußte Zuflucht nehmen zu jener schwer erklärbaren Kraft der Einsicht, die ihn wieder einmal befähigte, Geflechte von Beziehungen zu durchstoßen. Sein Intellekt rastete im richtigen Moment ein: Bestanden nicht sehr viele Beziehungen zwischen Menschen auf Grund von Vorurteilen, Irrtümern und Lügen? Lemdorf war ein ideales Plätzchen zum Wohnen. Einfach ideal. Alles so sauber und ordentlich, keine Luftverschmutzung, kein überflüssiger Lärm. Nette Leute mit netten Häusern, netten Wagen, netten Gärten, netten Misthaufen, vielleicht sogar mit sauberen, netten, artigen Kindern. Und da war nun plötzlich durch irgendwen und irgendwann – er bediente sich tatsächlich dieser ihm so verhaßten Floskeln – alle Nettigkeit, alle traditionelle Ordnung in Frage gestellt worden. In einem Ort mit Namen Lemdorf. Der stand für viele. In so einem Ort hatte die Störung uralt vertrauter Gewohnheiten deren Gebrechlichkeit an den Tag gebracht. Das war der Überlegung wert. Das rührte – vielleicht – an den Kern der Angelegenheit. Bevor seine Wirtin bei ihm anklopfte, warf Spengler die Decke weg und setzte seine Füße auf den Teppich. Und dann wurde an seine Tür gepocht, er sagte mit seiner gewöhnlichen Morgenstimme „Ja“, und nun roch er auch schon den Duft des frisch gefilterten Kaffees und freute sich auf Brötchen, Butter, Honig, das Dreiminutenei. Trotzdem dachte er weiter. Sein Gehirn, einmal angekurbelt, lief auf vollen Touren. Doppelter Mord – Der erste Mord, überlegte er, war nicht nur die Veranlassung, er war die Vorausnahme des zweiten, durch den abgeschlossen wurde, was der andere angefangen hatte. Du bist total verrückt, wies er sich selbst zurecht, du hast dich da in eine Sache eingelassen, bist im Begriff … 37
„Morgen“, sagte er laut. „Wenn wir Sie nicht hätten, Mutter Grabowski.“ … dich in eine Sache einzulassen … „Sie sehen blaß aus“, sagte Frau Grabowski, „sind ja auch spät genug nach Haus gekommen. Nun trinken Sie erst mal Ihr Juice.“ Er trank sein Juice, trank seinen Kaffee, löffelte sein Ei, füllte mechanisch seinen Magen, war mit seinen Gedanken woanders. Der Briefträger von Lemdorf tauchte vor ihm auf, das dürre Männchen, der Kronzeuge, und es war jener Septembermorgen des Vorjahres, der sich mit einer strahlenden Sonne herausgeputzt hatte. Er aß sein Brötchen und hörte den Briefträger, der wichtigtuerisch behauptete, Ungewöhnliches habe in der Luft gelegen. Spengler war damals gerade in Weinheims Dezernat beim Landeskriminalamt untergekommen, probeweise, nachdem er sein Jurastudium kurz vor dem Referendarexamen abgebrochen, als einfacher Polizist Streifendienst gemacht und endlich die Polizeischule mit gutem Erfolg absolviert hatte. Staatsanwalt zu werden war ursprünglich sein Berufsziel gewesen. Unterwegs war ihm das Geld ausgegangen, doch hatte dieser Umstand seinen Entschluß kaum beeinflußt. Er hatte zu oft erleben müssen, wie die öffentliche Anklage mit armen Teufeln und mißliebigen Elementen umsprang, hatte zu häufig das Doppelgesicht richterlicher Moral entdeckt. Darüber hatte er sein Zutrauen zur Unantastbarkeit der Gesetze verloren. Den Ausschlag hatte ein gravierender Fall gegeben: Ein in seinem Beisein rechtskräftig zu langer Haft Verurteilter war bei einem Fluchtversuch im Justizgebäude von Wachmannschaften erschossen worden. Später hatte sich seine Unschuld herausgestellt. Weil der angebliche Delinquent tot war, vertuschte man die Affäre. 38
Spengler vergaß sie nie, er konnte nicht vergessen. Er wußte, daß er der Mühle offizieller Gerichtsbarkeit nie gewachsen sein würde. Er hatte anklagen wollen um der Gerechtigkeit willen. Er hätte verteidigen mögen des Rechtes halber, uneingeschränkt von Konventionen. Er ahnte, daß er sich nie durchsetzen würde mit seinen Auffassungen. Und so hatte er sich dem Gebiet zugewendet, von dem er hoffte, hier müßte es ihm gelingen, Schuldige zu überführen und Unschuldige zu entlasten, bevor sie in die Fänge des Staatsanwalts gerieten. Cand. jur. Joachim Spengler war auch Mitglied einer extrem linksgerichteten Intellektuellengruppe gewesen, niemand hatte ihm das übelgenommen oder gar angekreidet, gehörte es doch beinahe zum guten Ton, gegen alles und jeden zu frondieren, solange man an einer Uni immatrikuliert war. Aber nun haftete ihm bei manchen seiner Vorgesetzten ein Odium an. Dabei wollte er lediglich seine Ideale mit der Wirklichkeit konfrontieren, wollte Verbrecher verfolgen – und mehr noch: ihre Taten erkennen aus ihrem Charakter, ihrer persönlichen Existenz in so oder so gearteter Umwelt. Wenn er eines aus Studium und Erfahrung begriffen hatte, dann dies: Die Handlungen der Menschen wurden von ihrer Biographie und ihren Beziehungen zur Umwelt bestimmt. Der Briefträger wäre, so hatte der damals ausgesagt, wie jeden Tag durchs Dorf gefahren, hätte hier und da angehalten, um Zeitungen und Briefe auszuliefern, hätte hier und da mit den Leuten geschwatzt. „Ich kam also zum Grundstück der Altmanns. Stellen Sie sich das vor, Herr Kommissar“, Spengler hatte den Tonfall des Männchens deutlich im Gedächtnis, „ich hab mein Fahrrad gegen den Gartenzaun gelehnt, hab die Gartenpforte geöffnet und bin über den Plattenweg aufs 39
Häuschen zugeschritten. Vorbei an Franz Altmanns Dahlienstöcken, den vielfarbig blühenden. Es ist mir alles wie auf dem Präsentierteller dargereicht worden, falls Sie mich gütigst verstehen wollen, Herr Kommissar. Das Verhallen der Kirchturmglocke ist darüber gewesen, sie hatte gerade die neunte Stunde ausgeschlagen.“ „Sie haben zweifellos ein poetisches Gemüt. Lesen Sie viel?“ hatte Weinheim gefragt. „Lesen ist mein Hobby“, hatte das Männchen erwidert. Es war sonnenklar, daß es sich als Amtsperson fühlte und dementsprechend behandelt zu werden wünschte. „Darf ich fortfahren?“ „Bitte“, hatte Weinheim gesagt. „Ja – also, ich hab mehrmals geklingelt, dann hab ich auf die Klinke gedrückt. Die Haustür war unverschlossen wie öfter. So bin ich in den Vorflur eingetreten und hab dort von meinem Vorhandensein durch lautes Rufen Kunde gegeben.“ Spengler erinnerte sich: Weinheim hatte geseufzt. „Als auch jetzt nichts erfolgte, schaute ich in Küche und Stube, die waren leer. Dann bin ich die Treppe rauf, die Schlafzimmertür stand einen Spalt breit offen. Mir verschlug’s den Atem. Da lagen auf dem Ehebett zwei reglose Gestalten. Ich war wie gelähmt, ich hab einfach nicht die Kraft zum Rückzug gehabt.“ Weinheims Stimme: „Wo haben Sie gestanden?“ „Wie festgewurzelt …“ „Wo, mein lieber Postrat, wo?“ „Sekretär, Herr Kommissar, Postsekretär Hagemeister. Am Fußende des Lagers stand ich und starrte auf Frau Altmann und die kleine Renate. Dann erschien Herr Altmann aus dem Bad nebenan, ging zum Fenster, als wär ich Luft, ließ sich auf den Stuhl fallen …“ 40
„Weiter!“ „Ich bemühe mich, präzise zu sein, Herr Kommissar. Sie brauchen mich nicht fortwährend zu unterbrechen. Altmanns Verhalten mutete mich seltsam an.“ „Warum?“ „Er unternahm nichts.“ „Fürchteten Sie sich vor ihm?“ „Das möchte ich nicht gerade behaupten, aber besonders wohl war mir auch nicht.“ „Kunststück.“ Der Briefträger hatte von sich aus einen bezeichnenden Kommentar geliefert: „Er ist ein Klotz von einem Kerl, und ich …“ „Sie sind ne halbe Portion, womit ich gegen Ihre Statur nichts gesagt haben will. Bitte, Herr Sekretär, weiter im Text.“ „Ich bin dafür bekannt, daß ich mit allen Leuten gut auskomme. Das bringt der Beruf so mit sich, man muß sich anpassen, nicht wahr? Ich ging also zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter und riet ihm, die Polizei zu verständigen. Ich würde das gern für ihn tun, sagte ich. Da ist er aufgesprungen und hat so einen Blick gehabt – wie ein gehetzter Wolf. Da bin ich die Treppe runter und über den Plattenweg zurück zu meinem Fahrrad und habe beim Revierposten Meldung erstattet. Bloß meine Pflicht hab ich im Auge gehabt. Und nun hat man ihn abgeführt, von seinen Dahlien und Rosen weg.“ Weinheims Stimme: „Sie vergessen die Frau und das Kind.“ „Nein, Herr Kommissar, eben nicht – es ist doch wohl leider gewiß …“ „Nichts ist gewiß. Warum habt ihr nicht schleunigst einen Arzt herbeordert? Sie sitzen doch in Ihrem Laden an der Quelle. Warum haben Sie hier in der Post nicht 41
sämtliche Leitungen gedrosselt, falls das überhaupt nötig gewesen wäre. Mann! In derlei brandeiligen Fällen alarmiert man unter Umständen die Feuerwehr. Sollten Sie eigentlich wissen!“ „Ich hab ohne Verzug Meldung erstattet, und laut Weisung von Polizeimeister Matthes …“ „Schnickschnack!“ hatte Weinheim gerufen, war nach draußen gestürmt mit Spengler im Gefolge, hatte kurz angebunden „Retour“ gesagt zum Fahrer des Dienstwagens, Spengler sah sich auf dem Rücksitz, und der Chef sagte: „Nichts ist in einem Mordfall klar, falls dies überhaupt einer ist.“ Spengler rückte mechanisch sein Frühstücksgeschirr zusammen. Ganz langsam begann sein Verstand kaleidoskopisch Einzelheiten zu erfassen, die bunten Steine rutschten noch weg, wechselten beständig die Form. „Warum“, hörte er Weinheim den behäbigen Ortspolizisten am Ort der Ereignisse fragen, „habt ihr den Altmann festgenommen und auch gleich abtransportiert? Den hättet ihr doch hierbehalten können, bis wir eingetroffen wären vom Landeskriminalamt. Traut ihr ihm denn einen Doppelmord ohne weiteres zu, haltet ihr ihn für einen zu allem fähigen Kapitalverbrecher?“ Spengler, die Ellenbogen aufgestützt, das Kinn in den Händen, war nur noch körperlich anwesend im unaufgeräumten Zimmer seiner Wirtin, die weitab ihren Staubsauger schnurren ließ. In Wahrheit attackierte Weinheim diesen Dickbauch, diesen Revierposten. Er gewährte ihm keine Pause, saß in der Wohnküche der Familie Altmann, löschte mit einer Handbewegung den ortsgewaltigen Polizisten aus, als der Arzt eintrat. „Na, Doktor?“ fragte er. „Das Kind ist leider tot.“ „Demnach lebt die Frau?“ 42
Der Arzt war jung, munter und machte einen fähigen Eindruck. „Noch“, entgegnete er, „Schlafmittelvergiftung, Kommissar. Sie liegt in einem tiefen Koma, so ziemlich alle Reflexe sind negativ. In diesem Stadium steht es eins zu hundert. Sicher haben die Leute hier sie auch für tot gehalten. So sind die Leute nun mal, da kann man nichts machen.“ „Trotzdem hätte zuallererst ein Medizinmann hergemußt. Was meinen Sie, Doktor?“ „Wir konnten unseren Arzt nicht erreichen“, mischte sich der Revierposten ein, „nur seine Sprechstundenhilfe. Sie sagte, er wäre unterwegs auf Krankenbesuchen, und wie der Herr Doktor hier sagt, wir hielten Frau Altmann für ermordet, ihre Haut war ganz kalt, ihr Puls schlug nicht mehr. Ich dachte, da war nichts mehr zu retten, für mich lag das auf der Hand.“ „Soso“, sagte Weinheim, „wir unterhalten uns später.“ Er hielt inne. „Und Sie, Doktor?“ fragte er. „Ich habe alles Notwendige veranlaßt, Kommissar, glücklicherweise ist Ihr Fahrzeug ja mit ’ner Funkanlage ausgestattet.“ Da sauste ein Krankenwagen heran, wirbelte Staub auf, der in der Sonne glänzte. Zwei weißbekittelte Männer näherten sich hurtig mit einer Trage, verschwanden über die Treppe nach oben, kehrten hurtig wieder. Sie brachten die Trage mit der in Decken eingehüllten Sterbenden im Geschwindschritt über den Plattenweg und schoben sie in das Auto, bevor sie die Türflügel schlossen, links und rechts in ihre Kabine einstiegen und davonpreschten mit Martinshorn, Blaulicht und flatternder Rotkreuzflagge. Weinheim stand im Hauseingang. Er schien zu frösteln in seinem Trenchcoat inmitten der Wärme von 43
herbstlichem Blühen und nachsommerlichem Duft. Spengler fiel auf, daß es keine Ansammlung von Neugierigen gab. Kein Mensch zeigte sich auf dem unbefestigten Fahrweg zum Dorf, auch die Durchgangsstraße war so leer, als wäre das Dorf ausgestorben. Die Aufwendigkeit des Krankenwagens erschien ihm absurd. „Na?“ frage Weinheim. „Fertig, Herr Kommissar.“ Weinheim betrachtete die Virginia in der Hand des Kreisstadtphysikus. „Riecht gut“, konstatierte er, „ich würde auch gern … Sagten Sie fertig, Spengler?“ „Auf dem Sims über dem Waschbecken lag eine leere Phiole – ohne Etikett. Im Apothekenschränkchen, das verschlossen war, fand ich den üblichen Krimskrams.“ Sie bestiegen den Wagen. „Worauf tippen Sie?“ Weinheim lächelte hinterhältig. Der Fahrer legte den Gang ein, Spengler rückte sich auf seinem Platz zurecht. Ihm war viel daran gelegen, einen guten Eindruck zu machen. Er hatte ja gerade erst bei Weinheim angefangen, und wie auch immer seine private Meinung über Weinheim war, er war sein Chef und hatte die Befugnis, ihm auf den Zahn zu fühlen. „Es könnte sich um Mord handeln“, erklärte er vorsichtig. „Leider,“ erwiderte Weinheim, „legen die Selbstmörder kein übergroßes Gewicht darauf, uns aufzuklären. Das erschwert unsere Arbeit ungemein. Es gibt in sich häufender Zahl Morde …“ Hier brach er ab. „Fahr schneller“, heischte er den Chauffeur an, „du weißt, ich liebe die Schnelligkeit starker Maschinen.“ Der Himmel über dem Dorf – Spengler erinnerte sich genau – hatte einer Glocke aus Glas geglichen. Niemals, so meinte er jetzt, hatte er das, was man mit Abgeschiedenheit bezeichnete, in seiner sinnlichen Bedeutung so 44
stark empfunden wie an jenem Septembernachmittag, in dessen golddurchwirkten Schatten sich alles verbarg. 11 Weinheim war bei seinem Arzt gewesen, um sich Befunde abzuholen und neu mit Rezepten versorgen zu lassen. Der erste richtige Herbstnebel sperrte den Tag aus. Im Amt brannten noch sämtliche Lampen. Fräulein Hollriegel, unterm Neonlicht, plauschte mit Assistent Spengler, als er das Vorzimmer betrat. „Morgen“, sagte er. „Na, Spengler?“ „Meine Zeit ist um, Chef.“ „Haben Sie was erreicht?“ Spengler nieste. „Verzeihung, Chef.“ „Wie weit sind Sie?“ Spengler nieste abermals. „Am Ende“, erwiderte er und spürte sogleich, daß dies das Äußerste war, was der Kommissar vertrug. Er öffnete den Mund, um den Eindruck seiner Worte abzuschwächen. Weinheim hinderte ihn mit einer Handbewegung, sagte dann „Prost“ und erklärte gar nicht einmal übellaunig: „Selber sind Sie wohl nicht auf den Geschmack gekommen? Ihre Haare sind lang genug …“ Spengler riß die Perücke herunter, und nun paßte seine sonstige Aufmachung nicht mehr so recht zu seinem Kopf. Weinheim beschaute sich das Phänomen genauer. Sein properer Assistent trug verwahrloste Kleider. „Man möchte meinen, Sie stinken.“ „Hab ich auch gedacht“, sagte Fräulein Hollriegel, „vollkommener Effekt, wenn er die Perücke dazunimmt. Außerdem hat er sich erkältet.“ 45
„Mein Arzt vorhin war mit mir zufrieden, also, Regine – Mokka, ja?“ „Sofort, Chef.“ „Und Sie, Spengler? Haben Sie im Freien genächtigt?“ „So ist es, Chef.“ „Da möchten Sie wohl ganz schnell nach Hause, ja?“ „Im Moment hab ich keinen sehnlicheren Wunsch.“ Die Tür schnappte hinter den beiden ungleichen Männern zu. Fräulein Hollriegel nahm den Wassertopf vom Fensterbrett, stelzte den Korridor hinunter, ihn frisch zu füllen, unterhielt sich kurz mit einer Kollegin, legte, zurückgekehrt, den Tauchsieder ein. Dabei sann sie über Spenglers jüngste Aktion nach. Im Turnus hatte er sie mit anderen jungen Kriminalbeamten teilen müssen. Ein bißchen tat er ihr leid. Sie fand ohnedies, Weinheim hetzte ihn zuviel herum, setzte ihn auf zu dünne Spuren an. Wenn sie ehrlich war, mochte sie ihn gern. Er war auf eine besondere Weise liebenswürdig, war anders als die jungen Leute ihrer Bekanntschaft, ja, sie mochte ihn, weil er sie ernst nahm, weil er ihr zuhörte, ohne ihr gleich über den Mund zu fahren; sie wußte noch nicht, wo sie ihn unterbringen sollte, sie bewunderte seinen Eifer und seine Kenntnisse, ohne ihm das zu zeigen, und sie bedauerte, daß er keinen so recht an sich heranließ. Nach ihrer Auffassung verbarg Assistent Spengler hinter seiner polierten Fassade eine Enttäuschung, vielleicht einen Kummer. Er hatte Jura studiert, hieß es. Sie konnte ihn sich gut vorstellen als Rechtsanwalt oder gar Strafverteidiger. Warum hatte er wohl sein Studium abgebrochen? Ob nur aus finanziellen Erwägungen? Waren ihm wirklich bloß die Mittel ausgegangen? Das Wasser siedete. Regine tat eine gehörige Portion Kaffeepulver in Weinheims Blümchenkanne und goß auf. Sie liebte Weinheim, zuweilen sah sie in ihm ihren 46
Vater. Ihren leiblichen Vater kannte sie nicht, der war drei Monate vor ihrer Geburt neunzehnhundertfünfundvierzig an der sogenannten Donaufront, unweit von Budapest, gefallen. Sie drückte die Taste der Sprechanlage. „Ihr Mokka, Chef.“ Weinheims Stimme krächzte: „Rein mit ihm, bringen Sie zwei Tassen und, Mädchen, die Sache Lemdorf …“ Die Dienstbesprechung lief weiter, während sie einschenkte. Selbstverständlich blieb sie außerhalb der Debatte. Sie war eine fleißige Arbeiterin und wurde wegen ihrer Zuverlässigkeit hochgeschätzt. Sie selber hielt sich nicht ausschließlich für eine Sekretärin, die unter anderem guten Kaffee zu bereiten verstand. Ihr Geist war zu beweglich dafür. Sie mußte ganz einfach teilnehmen. Wie sonst hätte sie ihren beruflichen Obliegenheiten mit Lust nachgehen können? Kurz: Regine Höllriegel trat nicht früh ihren Dienst widerwillig an, um sich acht Stunden lang auf den Feierabend zu freuen. Sie war auch nicht fortwährend auf der Suche nach einem besseren Job. Es genügte ihr vollauf, daß die unerbittliche Arbeitsmaschine Weinheim zuzeiten ihre Meinung erbat. Damit bestätigte er die Qualitäten seiner Sekretärin. Der Kommissar schloß die Unterlagen, die sie mitgebracht hatte, mit seiner Unterschrift, klappte die Mappe zu und reichte sie ihr über den Schreibtisch. „Erledigt“, sagte er. „Mir jedenfalls tun die Altmanns leid“, sagte Fräulein Hollriegel, indem sie die Akte unter den Arm klemmte, „der Mann ist nun auf freiem Fuß, aber was wird werden, wenn die Frau heimkommt? Das Kind bleibt ja tot.“ Weinheim sah sie groß an. „Wir haben Vordringliches zu besorgen“, entgegnete er gütig, nachsichtig. 47
„Ich weiß ja nicht.“ Weinheim, in Fräulein Hollriegels Gesicht vertieft, blondes Haar fiel lang darüber, sagte sanft: „Aber Regine …“ „Zu Ihrer Orientierung“, wandte er sich nach einer Pause an Spengler, „Sie waren ja damals in Lemdorf dabei. Die Altmann hat ihr Gedächtnis verloren gehabt. Sie hatte ja fuderweise Veronal geschluckt. Also sie konnte ihren Mann voll entlasten.“ „Hat sie ihr Gedächtnis wiedergefunden?“ „Mit Hilfe der Dornburger Fachärzte, jawohl.“ „Prima“, sagte Fräulein Hollriegel, „da hat man nun alles versucht, nur um sie so schnell wie möglich unter Anklage stellen zu können.“ „Ihre Gefühle in Ehren, Regine, immerhin bleibt die Altmann am Totschlag ihres Kindes schuldig. Für uns ist der Fall aufgeklärt – verstanden? Weiter, Spengler! Bis jetzt scheint mir Ihre Ausbeute so mager wie alles, was bei dem großangelegten Coup bisher herausgesprungen ist. Der Kriminalrat mag einen glänzenden Einfall gehabt haben, die Ergebnisse – gleich Null. Der kreißende Berg hat wieder mal ne Maus geboren. Sind Sie wenigstens an diese Ratten, die Zwischenhändler, rangekommen?“ Fräulein Hollriegel, aufrecht, eins sechsundsiebzig groß, verließ den Raum, nicht ohne ihre Mähne nach hinten zu schütteln. Geraume Weile danach erschien Spengler im Vorzimmer. „Ihre Perücke“, sagte Fräulein Hollriegel. Spengler stopfte das Ding in seine Manteltasche. Er hustete erbärmlich. „Ich an Ihrer Stelle“, sagte Fräulein Hollriegel, „würde zwei Aspirintabletten nehmen, heiße Zitrone trinken, schleunigst ins Bett gehen und tüchtig schwitzen.“ 48
„Können Sie sich vorstellen“, fragte er, das Fieber rumorte in ihm, „ich meine, fänden Sie’s nachahmenswert, mit ’ner Gitarre am Mittellandkanal entlangzuschlendern, jetzt, in dieser unwirtlichen Jahreszeit?“ „Nein“, versetzte Fräulein Hollriegel. „Danke schön, Regine, ich glaube, ich hab nur Pyramidon zu Hause.“ „Macht nichts.“ „Wiedersehen, Regine.“ „Gute Besserung“, sagte Fräulein Hollriegel. Spengler seifte seinen zwangsmäßigen Aufenthalt unter rauschgiftsüchtigen Jugendlichen herunter, dann lag er still in Frau Grabowskis Badewanne. Plötzlich sah er Regine vor sich. Wenn nun Regine auch einmal – vielleicht aus Neugier … Er riß mühsam die Augen auf, stellte sich hin und drehte die kalte Dusche an. Das bekam ihm gar nicht gut. Ihm wurde schwindlig davon. Schlotternd schlüpfte er in seinen Bademantel, tappte über den Korridor in sein Zimmer, es gelang ihm gerade noch, seinen Pyjama anzuziehen und sich hinzulegen. Jemand stützte ihm den Kopf, er spürte Bitteres auf seiner Zunge, dann trank er in durstigen Zügen: heiße Zitrone. „Danke, Frau Grabowski.“ Seine Stimme klang wie in Watte verpackt. Was war eigentlich los mit ihm, was war geschehen? Unter diesen Scharen von Außenseitern – er. Aber vorher … man hat dich und deinesgleichen konfrontiert, um eure Energien wachzurufen … die andern hat das kaum berührt, du hast ein zarteres Gemüt, deine fortwährende Anfechtung, Junge! Der Panzer ist durchlässig, Junge. Taugt zu nichts, darunter kriegst du immer wieder Gänsehaut. Ein Mädchen – bißchen jünger als Regine – im 49
Leichenschauhaus. Der Wärter, so ein abgebrühter Kerl, hat die Bahre aus dem Kühlfach gezogen. Darauf lag sie, nackt, als ob sie schliefe. Die andern, diese Schweine, haben Bemerkungen gemacht. Und du stiertest auf den glatten, runden Einschuß – den Herzschuß … „Ich laß das Fenster offen, Herr Spengler, und dreh die Heizung auf.“ „Ja, vielen Dank, Frau Grabowski.“ Bevor er einschlief, hatte er einen klaren Moment. Er wunderte sich über Regines Reaktion auf den Fall Altmann. Das ist ein klarer Fall, dachte er, an dem gibt’s doch nichts zu deuteln. „Fräulein Hollriegel“, sagte er streng. 12 Sie fuhren durch Blankenese. Kleine Häuser standen gestaffelt übereinander in steil zum Strom abfallenden Gärten, der hier so breit war, daß man das gegenüberliegende Ufer nur in Umrissen ausmachen konnte. Die Autoschlange auf der Elbchaussee hatten sie hinter sich gelassen. Biggy Strömberg parkte ihren VW auf dem Plateau neben dem Restaurant Süllberg. Frau Dr. Kotter stieg aus, wartete mit den Händen in den Taschen ihres Kamelhaarmantels, bis Biggy ihr Fahrzeug abgeschlossen hatte, sagte, bevor sie sich zum Gehen anschickte: „Knöpf deine Jacke zu.“ „Jawohl, Mama“, erwiderte Biggy mit einem Unterton liebevollen Spotts, „aber ich friere nicht.“ Sie gingen unter dickstämmigen Buchen über Kopfsteinpflaster, erreichten in leichtem Anstieg den Eingang. Im Vestibül umfing sie wohlige Wärme. 50
„Bitte, die Damen“, sagte der herbeieilende Empfangschef. „Fensterplatz drüben bitte – ist Ihnen doch recht?“ Es war ein kleiner Tisch übereck für zwei Personen, man sah durch das weiche Spiegelbild der Scheibe graues Wasser, auf dem ein winziges Lotsenboot einen riesigen Dampfer zog. Der Oberkellner reichte Nathalie die Karte und beugte sich dann zu Brigitte, die Speisenliste aufgeschlagen auf der flachen Hand. Leicht vertrauliches Lächeln. „Darf ich Ihnen behilflich sein, Frau Röpke?“ „Trinkst du auch einen Martini?“ fragte Brigitte. Nathalie nickte. „Zwomal dry Martini, Herr Sörensen.“ „Versteht sich“, sagte der graumelierte Herr Sörensen im grünen Frack. „Ich würde vorschlagen – als Vorspeise vielleicht …“ „Wir möchten Rindfleischsuppe mit Markklößchen“, bestimmte Brigitte, „und hinterher den Schmorbraten nach Art des Hauses mit viel Gemüsen. Was hältst du davon?“ „Einverstanden“, sagte Nathalie. „Nach Ihrem Belieben, Frau Röpke.“ Herr Sörensen entfernte sich. Ein dunkelhaariger graziler Jüngling, den Brigitte mit „Hallo, Juan amico, cómo está usted?“ begrüßte, woraufhin ein freudiges „Gracias, Señora“ erfolgte, servierte die Martinis und brachte dann die traditionellen Hamburger Rundstücke nebst Butter zum Magenaufschließen. „Zum Wohl“, sagte Brigitte. „Prosit“, erwiderte Nathalie. „Das Menü hier bezahl selbstverständlich ich.“ „Irrtum! Auf dem Süllberg, überhaupt in Hamburg – ein für allemal – bist du mein Gast.“ Brigitte biß mit 51
prachtvollen Zähnen ins Weißbrot. „Komisch“, sagte sie, „für die Ganymeds in so Lokalen bleibe ich Peters Frau, das muß an seinen Umsätzen liegen.“ Nathalie schaute sich um. Schräg links hinter ihr an der mittleren Fensterwand tafelten vier Männer, die englisch sprachen. Ihr Lachen wurde von mildem Gläserklirren untermalt. Offenbar wurde da ein Geschäftsabschluß besiegelt. Wie in Vorväterzeiten, dachte Nathalie. Es mochte sich um Millionenbeträge handeln, zuzutrauen war’s den Herren in ihren dunklen Anzügen, exquisiten Hemden und dezenten Krawatten. Der spanische Kellner eilte mit der Suppe herbei. Während sie löffelten, tauchte Herr Sörensen erneut auf, diesmal mit einer saffianledernen Mappe. Brigitte winkte ab. „Den leichtesten Mosel, den Sie haben, für mich eine Selters dazu, ich muß fahren.“ „Darf ich diesen empfehlen?“ „Okay, Herr Sörensen, wir verlassen uns ganz auf Sie.“ Juan, der Spanier, von einem Boy assistiert, zelebrierte den Hauptgang. Der Wein wurde im Kühler herbeigetragen. Die Gläser beschlugen, als sie gefüllt wurden. Nathalie beobachtete, wie Biggy die Probe kostete und beifällig nickte, wie tiefbraune Sauce über den Braten floß. Sie betrachtete die Salatplatte auf dem Anstelltisch, und sie dachte an Biggys Eltern und wie die von der Gier nach einem trockenen Brotknust geplagt gewesen sein mochten – damals. Aber das Wort damals war kein Stichwort. Ihre Gewißheiten waren nicht ohne Voraussetzungen übertragbar. Auch sie – dieses Eingeständnis war vonnöten – mußte jüngeren Menschen gegenüber sparsamer werden im Umgang mit Vergleichen, zumal ja wahrlich kein Mangel an rüden Tatsachen herrschte. 52
„Ich stelle fest“, sagte Brigitte, „du bist recht schweigsam.“ „Als du im Oktober bei mir warst …“, setzte Nathalie entschlossen an. „Jetzt haben wir November – man merkt’s.“ „Könntest du mir bitte mal uneingeschränkt zuhören?“ „Na, endlich – mit dem größten Vergnügen.“ „Vergnügen ist wenig dabei.“ Brigitte, wider Erwarten gespannt, blickte auf. „Ich weiß nicht, wie ich mich dir erklären soll“, sagte Nathalie. „Versuch’s“, riet Biggy. „In meiner Abteilung ist eine Patientin gestorben. Du müßtest dich eigentlich erinnern, es gab mal für kurze Zeit einen Fall Altmann, ich erzählte dir auch einiges.“ „Allmählich dämmert’s – ja, du gingst häufig nachts noch hinüber.“ „Als Todesursache habe ich Herz-Kreislauf-Versagen angegeben.“ „Was heißt angegeben? Bei deiner Gewissenhaftigkeit …“ „Meine Gewissenhaftigkeit tut hier nichts zur Sache. Epikrise nennen wir die Endbeurteilung einer Erkrankung, und damit hört’s auf – oder fängt’s an.“ „Für dich hat’s demnach angefangen“, stellte Brigitte fest. „Ich bin mir nicht schlüssig“, entgegnete Nathalie. „Wir Psychiater“, setzte sie fort, „sind an alle möglichen Anomalien gewöhnt, wir sind hartgesotten, uns kommt vieles unter, außerdem habe ich viel zuviel zu tun, ich muß zu vieles erwägen und entscheiden in meinem Bereich zwischen einer Überzahl von Neurotikern und – Fachidioten, letztere bilden leider das Gros meiner Kollegen. Kurz und gut: Dieser spezielle Fall 53
erscheint mir rätselhaft. Ich komme mit seiner Vorgeschichte nicht klar.“ „Der Anamnese.“ Nathalie lächelte über Biggys Eifer, sich medizinisch auszudrücken. Sie sah mehr darin als nur den Versuch, sie ihrer Aufmerksamkeit zu versichern. „Hier möchte ich nun lieber Vorgeschichte sagen. Jede Anamnese bleibt doch immer Stückwerk trotz aller raffiniert angewandten analytischen Methoden. Ich hab mich bemüht und muß nun eingestehen, daß die Vorgeschichte, verstehst du, die Vorgeschichte, stärker war. Sie führte von mir und meinen Mitteln weg auf den Friedhof. Dieses bedauernswerte Geschöpf, die Altmann, tat schließlich das Beste, was sie tun konnte: Sie schied doch noch aus dem Leben.“ „Mir scheint“, sagte Biggy, „du hast es nötig, mal freiweg von der Leber zu reden.“ „Ich weiß nicht, ob es das ist. Ich will ja mich nicht befreien, mit mir ist alles in Ordnung. Ich frage dich: Welche Umstände könnten dich veranlassen, Hand an dein Kind und an dich selbst zu legen?“ „Überhaupt keine“, antwortete Biggy schnell. „Eine spontane Reaktion – gut, denk bitte tiefer darüber nach.“ „Wenn ich ein Kind hätte“, sagte Brigitte, „würde ich mein Kind niemals ins Jenseits befördern, geschweige denn mich selbst, weil mein Kind mich ja braucht.“ „Siehst du, genau hier ist der Punkt, wo die Geschichte zweifelhaft wird.“ „Vielleicht war sie krank.“ Nathalie beachtete den Einwurf nicht. Sie sagte: „Ich hab stundenlang am Bett der Altmann gesessen, ich hab mit ihrem Mann gesprochen nach seiner Haftentlassung, ich fand, er war ein guter Mann, vielleicht ein bißchen 54
beschränkt, gemessen an ihrem Intelligenzgrad, aber er war ein guter Mann. Übrigens kamen sie auf abenteuerliche Art von drüben.“ „Aus der DDR?“ „Aus Sachsen, ja. Tüchtige Leute, die beiden. Sie haben sich in dem Nest, in Lemdorf, angesiedelt, und es ging alles ganz glatt. Sie hat es mir geschildert. Sie trafen eines Tages dort ein, waren euphorisch gestimmt, erwarben eine Parzelle, bauten sich ihr Haus, entrichteten pünktlich ihre Abgaben an die Gemeinde. Sie schafften es mit bienenemsigem Fleiß, ihre Schulden allmählich abzutragen. Diese Form von Kreditwürdigkeit imponiert doch hierzulande – oder was meinst du?“ „Ich finde keinen Zusammenhang.“ „Du hast manchmal bessere Ohren als ich, obgleich ich nicht taub bin.“ „Sag lieber blind – weiß Gott, du warst nie blind. Ich schaue da noch nicht durch.“ „Genauso geht es mir. Der Fall entzieht sich völlig meiner Erfahrung, hebt sich von allem ab, was ich bisher hatte. So ein simpler Fall – oberflächlich betrachtet.“ „Merkwürdig, wieso hatte deine Frau Altmann eigentlich diese Überdosen von Schlafmitteln im Haus? Ich komm nicht los davon, sie muß krank gewesen sein, mindestens depressiv, oder warum – meinst du – hat sie die Tat begangen?“ „Danach konnte ich nicht gut fragen. Das Kind war doch tot. Sie hat’s aber in Bruchstücken geschildert. Die Kleine wollte partout nicht in die Schule an jenem Morgen, und sie begriff vielleicht das Elend dieses Kindes und alle Versäumnisse. Wie unter einem Blitzschlag, sagt man da wohl.“ „Wie kann ich dir helfen?“ 55
„Du sollst mir nicht helfen.“ Brigitte legte für einen Augenblick ihre Hand auf Nathalies Hand, die schmal war und kühl, eine gute Hand, man konnte ihr Vertrauen. „Es gibt kein greifbares Delikt“, fuhr Nathalie fort, „sondern nur Vermutungen und – nun eben – das Resultat. Wem könnte man das Resultat anlasten, warum wollte sie nicht mehr leben? Was hat die Verwirrungen in ihrem Gehirn verursacht? Was führte zu dieser Kurzschlußhandlung?“ „Du scheinst mir der Auffassung zu sein, daß die Altmann in den Freitod getrieben worden ist.“ „So leichtfertig bin ich nicht.“ „Aber die Sache quält dich, Nathalie, und nun möchte ich dir mal meine Meinung sagen: Man darf Ketten von Zufälligkeiten niemals von vornherein in Absicht verkehren.“ „Das zu verhindern, bin ich zu dir gekommen“, erwiderte Nathalie. „Okay. Die Altmann kam eines Tages in deine Abteilung. Ihr Fall berührte dich tief, du hast dich ihr intensiv gewidmet, sie faßte schließlich Vertrauen.“ Brigitte hielt inne, wartete ab, bis Nathalie zustimmend nickte, fuhr fort: „Was mich nicht wundert, ich kenne dich. Sie muß sich viel Plunder von der Seele heruntergeredet haben, ich jedenfalls würde dir immer alles erzählen.“ „Vergiß nicht, sie hatte tagelang in einem todähnlichen Koma gelegen.“ „Schön, aber dank eurer Therapie funktionierte ihr Gehirn ja wieder, oder meinst du, ihr Erinnerungsvermögen … ich meine, blieb es gestört?“ Nathalie zuckte die Schultern. Es war eine Gebärde, deren Hilflosigkeit Brigitte rührte. „Na schön“, sagte sie 56
forsch, „dann laß uns mal weitersehen. Sicher muß man erwägen, daß bei der Frau ungefähr alles mitgespielt hat, sonst kann man ihrem Entschluß überhaupt nicht beikommen; seelische Erschöpfung, womöglich nervenaufreibende Erlebnisse während der Flucht, Narkotikaeinfluß, unter Umständen hat sie auch an Schuldgefühlen gelitten. Wie stand’s denn in Wirklichkeit mit dem Mann? Also wenn ich an meine Ehe mit Peter Röpke denke, wie glücklich die war und was daraus wurde … Ist es vorstellbar, daß der Mann sie enttäuscht hat?“ „Jetzt, wo du’s aussprichst, fällt mir verschiedenes wieder ein. Zum Teil mag sie hier gelebt haben, aber zum größten Teil lebte sie woanders. Und da mag sich so ein Gefühl von Schuld in ihr herausgebildet haben, du hast ganz recht, sie hat sich seiner durch eine Art Verlagerung entledigen wollen, handelte so, weil sie sich verlassen glaubte. Von allen guten Geistern oder – von ihrem Mann?“ „Du wolltest sie retten, Nathalie.“ „Mein großer Trugschluß.“ „Warum lag dir so viel daran, sie zu retten?“ „Fachlich gesehen, waren ihre Aussichten denkbar günstig.“ „Weich mir nicht aus! Warum wolltest du, daß sie – nun – ihr Verbrechen überlebt? Natürlich seid ihr Ärzte immer am Überleben interessiert, aber in diesem Sinne bist du kein Arzt, du bist nicht bloß fachlich ehrgeizig, du bist menschlich – so ein richtiger Seelendoktor. Vorhin sagtest du, sie hätte mit ihrem Sterben das Beste getan, was sie hätte tun können. Ihre und ihres Mannes Zukunft wäre doch überschattet gewesen …“ Nathalie unterbrach: „Man hat mir berichtet, die ganze Dorfgemeinde, mit dem Bürgermeister an der Spitze, der 57
den pompösen Kranz trug, hat ihr das letzte Geleit gegeben – wie vorher dem Kind, das auch einen wunderbaren Kranz aufs Grab gelegt bekam. Da stimmt doch was nicht, da steckt doch was dahinter. Es wird so viel darüber geredet, daß das Wohlbefinden aller Menschen oberstes Ziel sei, weil wir ja in einer Demokratie unsern Besitztrieb voll entfalten dürfen.“ „Ach, Nathalie“, sagte Brigitte, in ihrer Stimme klang liebevolle Schonung. „Das war keine Affäre für den Staatsanwalt, auch die Kriminalpolizei hat längst den Schlußstrich unter die Akte Altmann gezogen, trotzdem frage ich mich unablässig über meine spezielle Kompetenz hinaus: Ist da grundsätzlich etwas faul, soll man den Fall verallgemeinern, ist er nur eine Familienangelegenheit, ist er bloß symptomatisch für diesen einen abgelegenen Ort?“ Sie stieß unerwartet zu: „Wär das nicht was für dich?“ Brigitte überlegte, starrte ins Leere. Wider Willen aufgerührt, dachte sie an ihre Verbindung mit Röpke. Du hast dich von ihm getrennt, sagte sie zu sich, als du merktest, er blies eure sämtlichen Ideale in den Wind. So etwas merkt man nicht gleich, sei ehrlich. Es gefiel dir ja selber, Geld, immer mehr Geld zu haben. Wenn das andere nicht gewesen wäre, wenn er dich nicht betrogen hätte … Jedesmal – ihr trefft euch selten, aber es ist ja unumgänglich, daß die von der Zunft einander begegnen – reibt er dir die steigende Auflagenziffer seiner Zeitschrift unter die Nase. Und fragt: Na, Biggy, willst du nicht mal wieder was für mich schreiben, so was mit Pfiff, so richtig provokant, kann gar nicht provokant genug sein? – Und du siehst ihm ins Gesicht, und er grinst dich an, und siehst auf seine Hände, die sind gepflegt und gar nicht mehr fleckig von Druckerschwärze, 58
trotzdem kommen sie dir unsauber vor. „Nichts für Peter“, sagte sie. „Ich hab nicht erwogen, daß Peter …“ „Kann ich mir vorstellen. Punkt. Immerhin hat er mal eine leidliche Journalistin aus mir gemacht. Vergiß es nur ja nicht. Von Zeit zu Zeit fällt mir alles wieder ein – unser Start damals neunzehnhundertneunundfünfzig, ich war neunzehn.“ „Und er war dreißig“, stellte Nathalie lakonisch fest. „Machen wir die Wunde mal zu, schüttle das mal ab, Biggy.“ Sie griff nach einer Banane, schälte sie, ließ die Schale fallen. Sollte sie nun sagen: Laß gut sein, es war nur ein Einfall von mir? Es erübrigte sich, überhaupt etwas zu sagen. Brigitte starrte zum Fenster hinaus auf die Elbe und hörte nicht zu. Sie sah sich als Kind, dem ein Pappschild vor der Brust baumelte, sah sich auf dem Berliner Ostbahnhof ankommen, und im rauchdurchschwängerten Gewölbe der defekten Halle unter dem Stahlgestänge krächzten Lautsprecher. Irgendwo rief eine heisere Männerstimme: „Brigitte Strömberg soll hier aussteigen … An alle Mitreisenden: Brigitte Strömberg, neun Jahre alt, ist angekommen – ihre Fahrt endet hier …“ Man hatte ihr geholfen, den Rucksack festzuschnallen, ein Abteilgenosse hatte sie durch den Gang gelotst und aus dem Waggon gehoben. Und auf dem zugigen Bahnsteig hatte sie dann gestanden. Sie sah sich deutlich stehen: winzige, verlorene, hilflose Gestalt. Sie hatte es nicht fassen können, warum man dies alles mit ihr angestellt hatte. Sie wäre gern bei ihren Pflegeeltern in Polen geblieben, sie hatte keine Ahnung, daß Haus, Hof und Stall früher nicht polnisch gewesen waren, wäre gern bei ihren Geschwistern geblieben, wußte nicht, daß diese 59
ihre rechtmäßigen Brüder und Schwestern nicht waren, hätte gern weiter Gänse gehütet und Hühnereier abgesucht. Da war eine junge Frau aufgetaucht, hatte sich zu ihr niedergebeugt und hatte gesagt: „Brigitte – mein Kind …“ Die Frau hatte geweint, und das kleine Mädchen in seiner Wattejacke, das daheim Bronia gerufen worden war, hatte höflich auf polnisch gefragt: „Wann darf ich zurück?“ Die fremde Dame konnte nicht Polnisch, sie hatte Bronias Hand ergriffen, sie vom Bahnsteig wegzuführen, und jeder Schritt, den Bronia tat, entfernte sie von Eltern und Geschwistern, Gänsen, Enten, Hühnern, dem Hund, den Ziegen, der Kuh im Stall. Sie hatten einen anderen Zug auf einem anderen Bahnsteig bestiegen, der rauschte sehr schnell in den Abend hinaus. Sie waren dann in einem Taxi gefahren, und Bronia hatte zaghaft auf polnisch gesagt, daß sie Durst hätte. Schließlich waren sie in eine Hotelhalle eingetreten, und die fremde Frau hatte gesagt: „Morgen, meine Kleine, fahren wir nach Haus, heute übernachten wir hier.“ Sie hatte Wort für Wort ihren Satz wiederholt, und Bronia hatte verstanden. „Bin ich in Deutschland?“ hatte sie langsam, mühevoll auf deutsch gefragt. Und die Frau, sie sah plötzlich glücklich aus, hatte erwidert: „Fürs erste bist du in Westberlin.“ BroniaBrigitte suchte angestrengt in ihrem Gedächtnis. „Mam pragnienie, pragnienie“, klagte sie. Plötzlich kam ihr die Erinnerung: „Durst …“ „Was ist denn, was hast du denn?“ Vertraute Stimme. Wie sie diese Stimme liebte. Sie zog ihr Taschentuch hervor, betupfte sich die Augen damit. „Zu warm hier“, sagte sie, betupfte sich die Stirn. Nathalie hatte ihre Handtasche geöffnet, reichte ihr ein Fläschchen mit Eau de Cologne. „Nimm ein paar Tropfen!“ 60
Brigitte knüllte das Taschentuch zusammen, nahm ein paar Tropfen, aber nur zum Schein. „Wie alt war das Kind?“ fragte sie abrupt. „Neun. Warum?“ „Also so alt wie ich – damals.“ „Ich glaube, das tut hier nichts zur Sache, Biggy, außerdem wurdest du bald danach zehn.“ „Ich glaube, es tut sehr viel zur Sache, neunzehnhundertfünfzig im Mai wurde ich zehn, und du gerietest in eine Krise deiner suspekten Anschauungen wegen, die waren gar nicht gefragt, hättest du eigentlich wissen müssen. Dein mit der sogenannten freiheitlichen Ordnung auf bestem Fuß stehender Chef warf dich kurzerhand hinaus. Ich sehe den Fall heute ganz klar, schließlich hatten die Christdemokraten die Macht im jungen Staate, und viele ihrer Anhänger hatten guten Grund, jeden Kritiker auf landesverräterische Umtriebe festzunageln. Später ging’s deinem Chef an den Kragen, aber da hattest du deine Durststrecke bereits hinter dir. Dein Fehler: allein durch deine Integrität warst du ihm ein Dorn im Auge gewesen, du mußt ihn ja von früh bis spät mit seiner makabren Vergangenheit konfrontiert haben. Der miese Kerl hatte einfach Angst vor dir, er fürchtete die Entdeckung, du warst die Ratte in seiner Küche, ohne zu wissen, was eigentlich mit ihm los war. Er leitete die Klinik unter falschem Namen, er war ein exzellenter Nervenarzt. Woher rührten seine Kenntnisse? Euthanasie – nicht wahr? Das heißt zwar sanfter Tod, aber war dieser Tod wirklich so sanft? Wäre das Sterben der Opfer ein Hinüberschlummern gewesen, hätte der Kerl ja keine Angst zu haben brauchen – vor dir. Du flogst raus, das muß dich psychisch schwer belastet haben, du hattest ja mich auf dem Hals. Daß es überhaupt zu diesem Präze61
denzfall kommen konnte, zu einer Überprüfung deiner Person, muß eine niederschmetternde Erfahrung für dich gewesen sein. Ich bin gleich fertig, Nathalie – eine Minute noch. Ich folge dir nach aus zeitlicher und räumlicher Entfernung, du mußt mir das schon zubilligen, ich bemühe mich ja, meinen eigenen Standort unter die Füße zu bekommen. Du suchtest lange nach einem neuen Job. Schließlich nahm man dich auf Probe in einem kleinen, altmodischen, zudem konfessionellen Krankenhaus, wo du weiß Gott nie hingehört hättest. Dort beobachtete man dich auf Schritt und Tritt, legte dir ja wohl sogar nahe, mehr ums Heil deiner Patienten zu beten. Außerdem wurdest du auch noch weit unter Tarif bezahlt. Jedenfalls bestand Grund genug für dich, in Panik zu verfallen oder – an deiner Frau Altmann gemessen – den ganzen Kram hinzuschmeißen. Was aber tatest du? Mich brachtest du ins Internat, du hattest kaum Raum genug für dich selber an deiner neuen Wirkungsstätte, und zahltest mehr für mich, als du dir leisten konntest. Ich war unglücklich, ich war sensibel und liebebedürftig, ich dachte früh beim Erwachen und spätabends, nachdem ich Tränenfluten in mein Kopfkissen geweint hatte: Sie holt dich, irgendwann holt sie dich. Und da ich dich bei deinen Besuchen immer nur tapfer und fröhlich sah, versuchte ich meinerseits, fröhlich und tapfer zu werden. Du hättest eine Herausforderung inszenieren können: Aus Nazihaft entronnene Ärztin wählte Freitod …“ „Laß das, ich bitte dich – laß das, ja?“ „Mach dir nichts vor, du hast doch vorausgesetzt, daß ich ansprechbar bin.“ „So nicht, Biggy.“ Nathalie begriff zu spät, daß sie Brigitte die Entscheidung zugeschoben hatte. Sie zweifelte an der Fairneß ihres Verhaltens. 62
„Nun nimm dich nicht um meinetwillen zurück. Ich sehe – das war ja doch von vornherein der Zweck – die Angelegenheit unter meinem Blickwinkel. Sie hat mir nicht unbedingt den Teppich unter den Füßen weggezogen, du hast mich bestenfalls neugierig gemacht, und wenn ich in das Nest fahre, fahre ich bestimmt nicht bloß dir zuliebe hin. Kann sein, ich gebe auf, damit mußt du rechnen. Ich brauche ein Erfolgserlebnis, das ist alles. Da kommt er schon.“ „Wer?“ „Im richtigen Moment wie immer – mein Freund Klaus. Bis dato verstehen wir einander ausgezeichnet – im Bett. Ich hab mich mit ihm hier verabredet, ich wollte, du solltest ihn kennenlernen. Servier ihm deine Story so schmackhaft wie möglich, vielleicht springt er darauf an. Er ist Fernsehredakteur, und im dritten Rundfunkprogramm vom NDR mischt er auch mit.“ Klaus Bode verbeugte sich. „Frau Doktor Kotier“, erklärte Brigitte nach der Vorstellung, „hat so was wie einen Knüller für uns parat. Nein“, korrigierte sie nach einer Pause, „das ist zu salopp ausgedrückt, es könnte eher eine komplizierte Aufgabe für uns beide werden.“ Juan brachte einen dritten Stuhl, Bode setzte sich, bestellte Tee. „Ich bin ganz Ohr“, sagte er. Danach hörte er mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu. Nathalie geriet in Schwung. Der junge Mann, aber so jung war er gar nicht mehr – wie alt mochte er sein, fünfunddreißig vielleicht? –, gefiel ihr. Er hatte so ein zuverlässiges Profil.
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13 Das Wetter hielt sich trotz der vorgerückten Jahreszeit. Am dritten Tage ihres Aufenthaltes lächelte ihr der Portier des ersten Hauses am Platze – es hieß Deutscher Kaiser wie das imposante Hotel am Münchner Hauptbahnhof – bereits väterlich zu, während er ihr den Zimmerschlüssel über den Tresen reichte. Ihre Mitgäste wechselten ständig, doch merkte sie an der Art, wie sie vom Personal behandelt wurden, daß sie Stammkunden waren. Wenn sie allein unterwegs war, machte es ihr Spaß, aus dem Habitus Fremder deren Beruf und Herkommen zu erraten. Hier in der kreisstädtischen Herberge traf sie hauptsächlich auf jenen Typ von Zeitgenossen, der sich professionell auf Durchreise befand. Sie hatte bisher wenig Gelegenheit gehabt, diesem Personenkreis auf quasi privater Ebene zu begegnen. Vertreter also, gewiß nicht von der ersten Sorte, aber angenehm im Äußeren und mit gefälligen Manieren. Sie aßen achtlos, überlasen Aufträge, addierten Zahlenkolonnen, schlürften Kaffee, Juice oder Tee. Manche blickten besorgt. Offenbar war ihr Gewerbe hartes Brot. Und immer grüßten sie freundlich, wodurch sie eine gewisse Dressur verrieten. Immer strebten sie frühzeitig zu ihren Wagen, die auf dem Parkplatz im Hinterhof standen. Brigitte pflegte ihren Aufbruch abzuwarten, dann fuhr sie selber los, sie fuhr gemächlich ins benachbarte Lemdorf hinüber. Der Flecken lag im Schutze eines Hügels. Die sauber asphaltierte Chaussee zweiter Ordnung teilte ihn in zwei Hälften. Am Eingang rechts befand sich eine Autoreparaturwerkstatt, zu der eine Tankstelle gehörte. Auf dem Marktplatz hörte der Asphalt auf. Man mußte dort den Kreisverkehr beachten. Und dann sah man auch 64
gleich die mächtige Linde. Sie hielt ihre nackten Äste kandelaberartig gespreizt. Dahinter leuchtete die weißgetünchte Kirche samt Turm um so heller. Das Pfarrhaus war ausgesprochen hübsch, die Schule im Winkel im Vergleich zu ihm weit weniger stattlich. Gegenüber präsentierte sich das Gemeindeamt. Ein paar Läden zeigten ihr Angebot im Schaufenster. Über der Tür zum Gasthaus hing ein goldangemalter Löwe in geschmiedetem Gitterwerk. Alles machte einen soliden Eindruck. Vor dem Walde, der als blaue Kulisse das Panorama umsäumte, erstreckten sich abgeerntete Felder. Die Gehöfte entlang der Straße mit ihrem properen Fachwerk und den Spitzengardinen an den Fenstern sahen anheimelnd aus. Brigitte war überzeugt davon, daß die Misthaufen drinnen hinter den Torwegen ebenso schmuck waren wie die Fassaden. Unter dem Vorwand, es hapere mit der Kraftstoffzufuhr, brachte sie ihren Käfer am vierten Tage ihres Aufenthaltes, einem Freitag, in die Werkstatt. Ein Kleiderschrank von einem Mann in blauem Kittel trat zwischen sie und ihren staubbedeckten Wagen. „Erst mal Wäsche“, bestimmte der Mann, „gründlich!“ „Jawohl, Herr Bartels, hab ich der Dame gleich gesagt.“ „Egal, was du gesagt hast, Lümmel.“ Der Lehrling verzog sich, er war solche Behandlung offenbar gewohnt. „Hummel, Hummel“, sagte Herr Bartels, „kommen aus Hamburg, stelle ich fest. Wo fehlt’s denn?“ „Das werden Sie ganz bestimmt herausfinden, Chef“, erwiderte Brigitte, gab sich schutzbedürftig und legte all ihren Charme in einen Augenaufschlag, auf dessen Wirkung sie sich verlassen konnte. „Falls ich eine Meinung äußern darf“, setzte sie fort, „muß der Defekt mit dem Vergaser zusammenhängen.“ 65
„So – meinen Sie! Na ja, weil Sie’s sind – bis Abend wird’s trotzdem dauern.“ Der Meister übergab Schlüssel und Zulassung einem Monteur. „Durchsicht“, befahl er, „sorgfältig, kapiert?“ Brigitte hörte das, sie meinte auch den Unterton zu vernehmen. Inhaber von Autoschlossereien waren für sie die Raubritter des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. „Sagen wir – achtzehn Uhr“, sagte Herr Bartels. „Haben Sie was zu erledigen bis dahin?“ Mit Wohlgefallen ruhten seine Augen auf ihrer Erscheinung. So eisblaue Nibelungenaugen, dachte Brigitte, gab es also immer noch. Aber das zog nun nicht mehr unstet herum, das war seßhaft geworden und schürfte auf andere Weise nach Schätzen. „Nein“, entgegnete sie, „man muß ja nicht immer etwas zu erledigen haben.“ „Dann empfehle ich Ihnen einen schönen langen Spaziergang, gut für Autofahrer, macht den Kreislauf wieder fit, danach Einkehr im Goldenen Löwen am Marktplatz; der Löwe ist berühmt für seine gute Küche. Wenn Sie sich dort genug gelabt haben, steht Ihr Käfer vor der Tür. Keine Widerrede, ich bring ihn selber.“ Brigitte hatte an Widerrede nicht gedacht, doch brachte sie zustande, was der Kleiderschrank erwartete: das dankbar gefügige Lächeln schwacher Weiblichkeit. „Hummel, Hummel!“ rief Herr Bartels aufgeräumt hinter ihr her. Sie antwortete nicht „Moas, Moas“, obgleich sie es gern getan hätte nach Art des berühmten Götz-von-Berlichingen-Zitats. Sie erreichte den Marktplatz zu Fuß, und sie bemerkte, wie diesmal die Gardinen ringsum in Bewegung gerieten. Wenn sie vor siebzig Jahren hier gegangen wäre über 66
denselben Platz mit dem gleichen Katzenkopfpflaster, hätte sie Schlepprock, Kapotthut, Muff getragen. Und es wäre ein Spießrutenlaufen gewesen. Aber war es das denn nicht auch heute? Sie spürte verstohlene Blicke im Vorübergehen, die Neugier hinter den spinnwebenzarten, schneeweißen Gebilden: fremde Frau … allein … was will die? – Komisch, dachte sie, wie vor siebzig oder achtzig Jahren. Ein Weg öffnete sich. Er führte an einem Bach entlang. Die Mittagssonne zog Rauhreif aus verdorrtem Gras. Die Luft war klar und kalt. Sie schlug den Mantelkragen hoch, vergrub die Hände in den Taschen. Rauch wölkte aus Schornsteinen steil empor. Waschküchen mit siedenden Kesseln kamen ihr in den Sinn, sie glaubte rote Gesichter über Mollen mit Schlachtgut gebeugt zu sehen. Nach ihrer Rückkehr aus Polen, als Nathalie sich von ihr hatte trennen müssen, hatte die Internatsleitung sie außerhalb der Ferien wegen permanenten Untergewichts aufs Land verschickt. Für viele Wochen. Und nun sah sie vor sich, was sie aus ihrem Bewußtsein lange verdrängt hatte, sah die Bäuerin mit rohem Fleisch hantieren, roch, was es zu riechen gab, ekelte sich, wie sie sich damals geekelt hatte. Nichts hatte sie herunterwürgen können von all den fetten Sachen und war so mager wie vorher ins Internat zurückgekehrt. Endlich hatte Nathalie sie wieder zu sich geholt. Nathalie. Sie erkannte, was Nathalie ihr bedeutete. Erkannte stärker als je zuvor, was sie ihr zu verdanken hatte. Deshalb – schließlich – war sie hier. An allen entscheidenden Punkten hatte Nathalie in ihr Dasein eingegriffen und ihr Leben geformt. Nathalie und Klaus Bode, diesen beiden – Sie war so versunken, daß sie den Briefträger erst im letzten Augenblick wahrnahm. Sein Fahrrad trudelte in 67
gemäßigtem Tempo bergab. Die Art, wie er sich in der schmalen Spur des Wiesensteigs hielt, deutete auf jahrzehntelange Gewohnheit hin. Sie trat beiseite, um ihn durchzulassen. Aber er dachte nicht daran weiterzufahren, bremste, schwang sich vom Sattel, hatte die eine Hand an dessen Hinterkante, die andere an der Lenkstange, warf einen flüchtigen Blick auf den Gepäckträger, der leere Taschen trug, sagte: „Wunderschönen Tag, guten Tag, gnädige Frau, hab’s im Gefühl gehabt, daß mir da was wegrutschen wollte.“ „Keine Gefahr, Herr …“ „ … Postsekretär Hagemeister, wenn Sie gestatten. Immer wenn ich mit meiner Runde fertig bin, machen mir die Taschen Scherereien, muß ein physikalisches Phänomen sein.“ Er hob den Blick, der war unverhohlen neugierig. „Nichts für ungut – suchen Sie jemanden?“ „Ich streune bloß herum – Panne, da muß ich die Zeit totschlagen.“ „Beim Bartels ist Ihr Auto gut aufgehoben, es gibt keine bessere Werkstatt als die von Willi Bartels. Und auch sonst, wissen Sie. Über unser Dorf hat leider noch keiner einen Prospekt verfaßt, was ein Fehler ist. Ich sitz im Gemeinderat, und da sag ich seit Jahren, Kinder, sag ich, wenn ihr nur ’n bißchen cleverer wärt, könnten wir unser Säckel bis zum Bersten füllen. Schöne Gegend – müssen Sie doch zugeben! Wir haben Wasser, sag ich, wir haben Wald, wird langsam Zeit, daß wir mit der Gottesgabe unseres Geländes was anfangen. Ich habe mein Ohr am Herzschlag der Zeit. Ich denke an Bungalowsiedlungen, das ist einer meiner Lieblingsgedanken. Sie kommen aus der Großstadt?“ „Ja“, antwortete Brigitte. „Man sieht’s“, konstatierte der Briefträger und schwadronierte munter fort: „Ich lasse keine Gelegenheit, Reklame 68
für Lemdorf zu machen, ungenützt verstreichen, ich halte zu keinem damit hinterm Berge. Was unser BeGe ist“ – Brigitte hob fragend die Brauen –, „unser Bürgermeister, der ist für Tourismus genau wie ich, aber die Mehrheit … Wenn ich mir einen Rat erlauben darf, sehen Sie sich um, gnädige Frau, begutachten Sie selber, wenden Sie sich am Ende dieses Pfades nach links, lassen Sie das Anwesen am Waldrand rechts liegen, zwei Kilometer weiter, und Sie werden ein herrliches Stückchen Natur erleben …“ „Vielen Dank“, sagte Brigitte, „ein guter Tip.“ „Mir als altem Lemdorfer … Nun, ich will Sie nicht länger aufhalten, falls ich Ihnen sonst noch dienen kann …“ „Sie sind sehr liebenswürdig, Herr Postsekretär, auf einen solchen Anwalt, wie Sie einer sind, kann die Gemeinde stolz sein.“ Hagemeister verbeugte sich dankbar, brachte das linke Pedal in Ausgangsposition, saß auf und radelte straff davon. Das schmucke kleine Haus, das Brigitte, Hagemeisters Weisung getreu, rechts liegenlassen sollte, tauchte hinter vom Frost Versehrten Dahlienstöcken längs eines Plattenweges in einem großen Garten auf, der seine Tiefe nach vorn erschöpfte. Das Grundstück machte einen verwahrlosten Eindruck der unabgeernteten Beete halber, kein Spaten hatte sie berührt. Hochstammrosen reckten ihre unbeschnittenen Kronen, statt, torfbestreut, in der Erde zu ruhen. Die Gitterpforte gab nicht nach. Sie suchte die Klingel, unterließ es dann aber, den Knopf zu drücken. Eine untrügliche Stimme in ihrem Innern sagte ihr, daß das Haus leer war. Unschlüssig verweilte sie, gab ihr Vorhaben auf, das Anwesen zu umkreisen, wanderte los. Sie bewegte sich fort auf der Suche nach verheißener Schönheit, durchstreifte 69
den Wald, nahm zur Kenntnis: verdorrtes Farnkraut, eine Kiefernschonung, kahle Lärchen – der See. Sie stand am Ufer und hörte den Wind im Schilf rascheln. Kaum spürbar ging der Wind, aber die Wolken, zarte Schriften am Himmel, die sich im dunklen Wasser zu wiederholen schienen, enthüllten oben und unten im Spiegel Kraftlinien. Es würde kälter werden, womöglich würde es bald schneien. In ihrer Blickrichtung jenseits der Kiefernkronen am gegenüberliegenden Seeufer erstreckte sich der norddeutsche Horizont. Melancholie ging von ihm aus, sie fröstelte, fühlte sich davon erfaßt, sehnte sich nach ihrem Wagen, nach rascher Fahrt, nach Heimkehr. Wohin? Zu den Lichtaugen der Großstadt. Zu dem einen großen Fenster, das unverhüllt war, dem hellen Fenster, das mitunter einem Leuchtfeuer geglichen hatte in gefährlicher Finsternis. Natürlich, dachte sie, werd ich ihm das niemals eingestehen. Sie kehrte um. Während sie mit großen Schritten durch die rasch einfallende Dämmerung eilte, dachte sie an Klaus Bode in seinem Appartement. Sie war atemlos, als sie schließlich im Dorf anlangte und den Goldenen Löwen betrat, wo sie sich neben dem Kachelofen niederließ. Drei Monate später, nachdem er sein Auto abgestellt hatte, ging Assistent Spengler ungefähr die gleichen Wege, um Atmosphäre zu schmecken, wie er es für sich ausdrückte. Es war immer noch Winter, doch lag ein Hauch von Frühling in der Luft. Auch er verhielt am See, auch er entzifferte Wolkenschriften, die jedoch ihre Geheimnisse bewahrten, falls sie welche hatten. Schlenderte zurück. Erreichte nach guter Weile den Marktplatz. Kaufte Zigaretten in einer Art ländlichem Super-Shop, drehte 70
lange den Postkartenständer hin und her, griff dann wahllos nach etwas überaus Buntem, das der Gediegenheit der Häuser rings um den Markt wenig gerecht wurde, erbat eine Marke, zahlte, heftete seine Blicke überraschend auf den Mann, der die Kasse bediente. „Wie gehen die Geschäfte?“ fragte er. „Soso“, entgegnete der Mann mißlaunig, „darfs sonst noch was sein?“ Spengler winkte ab. Im Goldenen Löwen setzte er sich neben den Kachelofen, bestellte „was Ordentliches zu futtern“, wie er dem Wirt erklärte, zog den Kugelschreiber aus der Tasche und begann hinten auf die Karte mit dem Aufdruck Gruß aus Lemdorf zu schreiben: „Liebe Regine …“ 14 Die Gaststube war holzgetäfelt und gut geheizt. An der Wand gegenüber der Theke hing eine Geweihsammlung. Übereck neben Brigittes Tisch stand der große runde Stammtisch mit einem großen runden Aschenbecher in der Mitte. „Nahmd“, grüßten die Ankömmlinge, „Nahbend“, grüßten die Anwesenden zurück. Die Rede, in bedächtigem Hin und Wider, bewegte sich um Alltagskram. Manche blieben gleich an der Theke, andere suchten sich zu längerem Verweilen einen Platz. Alle schwatzten miteinander. Brigitte merkte sehr schnell, daß die Männer sich ihretwegen foppten, witzig waren, und wartete auf den Werkstattinhaber. Der Wirt zapfte Bier, goß aus der Steingutflasche Doornkat ein, brachte Bier und Doornkat an den Stammtisch, wo einer Skatkarten mischte. 71
Zu guter Letzt erschien der Briefträger, warf seine Mütze über den Haken, zog die Lodenjoppe aus. „Guten Abend“, sagte er. „Nahbend, Postmeister“, scholl’s im Chor, einige Stimmen klappten nach. Hagemeister schneuzte sich umständlich, faltete sein Taschentuch zusammen, verwahrte es in der mausgrauen Hose und schritt im Querpaß auf Brigitte zu. „Sie gestatten?“ fragte er. Und saß auch gleich, saß da, während es still wurde und der, der die Karten verteilte, in der Bewegung innehielt. „Es dauert noch ein wenig, soll ich ausrichten“, sagte er. „Ich hab“ – dies mit erhobener Stimme – „Bartels ein Telegramm durchgeben müssen, von seiner Frau.“ „Die hält’s diesmal aber lange aus.“ „Wenn’s ihr Spaß macht.“ „Muß wohl – nun gib schon, Mann.“ „Haben gnädige Frau den unfreiwilligen Aufenthalt leidlich genossen?“ fragte Hagemeister. „Danke, ja“, versetzte Brigitte, „Sie haben wirklich recht, ich könnte mir vorstellen, eine Bungalowsiedlung im Schutz des Hochwaldes in Seenähe für abgehetzte Großstädter …“ Sie hielt das letzte Wort in der Schwebe. „Schnickschnack!“ rief ein stattlicher Kerl mit wettergegerbtem Gesicht vom Stammtisch herüber. „Pik is Trumpf – mein Spiel.“ „Hinrich Grothus“, erklärte Hagemeister hinter der vorgehaltenen Hand, „ihm gehört der beste Boden und auch der Hochwald. Alles, was Nutzholz ist, gehört Herrn Grothus. Seine Vorväter legten die Schonungen an.“ „Reiz ruhig weiter“, dröhnte Grothus, „ich halt dagegen!“ 72
„Er möchte nun den Gemeindewald erwerben – mit unsern Finanzen steht es nämlich nicht zum besten – und den See dazu. Bisher hat er die Fischereigerechtsame nur in Pacht.“ „Nett von dir“, sagte Grothus, „daß du die Dame ins Bild setzt. Schreib auf, du griesgrämiger Krämer!“ Der Löwenwirt hatte etwas vor Brigitte hingestellt, das er als kleine Schlachtplatte empfohlen hatte. Es mundete wider alles Erwarten vorzüglich, war aber so reichlich bemessen, daß sie das Ereignis dieser Mahlzeit beim besten Willen nicht bewältigen konnte. Grothus, seine tiefe Stimme hatte jetzt einen gutmütigen Beiklang, rief: „Bring der Dame mal ’n doppelten Doornkat, Fock, auf meine Rechnung.“ „Herz is diesmal Trumpf, Hinrich, nu paß Achtung!“ „Danke“, sagte Brigitte, „auf Ihr Wohl, Herr Grothus.“ „Oha, Hinrich, da hoal di ran …“ „Schnauze“, sagte Grothus. „Hab die Ehre“, sagte er. Und da saß er auch schon, die Karten wie einen Fächer in der linken Hand, den rechten Arm über die Stuhllehne gehängt, ihr zugewendet. „Sie hab ich schon mal gesehen. Sie hatten ’n hübschen Zahn drauf, aber Ihr Nummernschild war verdreckt. Wo komm Sie ’n her?“ „Aus Hamburg“, sagte Brigitte. „Ist das die Möglichkeit – Hamburg. Trinken Sie Bier?“ „Ich muß meinen Wagen noch ins Städtchen kriegen.“ „Städtchen is gut, wo das doch unsere Kreisstadt ist, auf die alle stolz sind! Von ’nem Bier und ’nem doppelten Doornkat fällt man nicht um, was Matthes? Du drehst einfach deine Augen weg.“ Matthes war der Revierposten, er trug über seinen Uniformhosen einen zivilen Rollkragenpullover und hatte das Trumpf-As auf der Hand, doch war das Spiel nun unter73
brochen, dem er nachtrauerte, weil er es gewonnen hätte. „Ich äußere mich nicht dazu“, sagte er. „Reeperbahn“, fuhr er fort, „muß ja doll was los sein. Zu meiner Zeit …“ „Wer spricht denn von deiner Zeit“, fuhr Grothus dazwischen, „du und deine Zeit – längst passe. Als ich das letzte Mal in Hamburg war“, sagte er, „hab ich mich eine Nacht lang blendend amüsiert, und als ich mich im Morgengrauen wiederfand, war ich meinen ganzen Zaster losgeworden, und da hatte ich die Nase voll.“ „Du kannst’s doch aushalten“, sagte der von Grothus apostrophierte griesgrämige Krämer. „Kann ich“, erwiderte Grothus, „Kann ich – klar. Will ich aber nich.“ „Die Reeperbahn“, sagte Brigitte, „ist nicht Hamburg, sie war es nie. Mein letzter Reeperbahnbummel liegt Monate zurück – wir gerieten da, spät, in einen Schuppen …“ Angespannte Stille. „ … in so einen Schuppen, ungefähr in der Mitte der Großen Freiheit, die ja man bloß ne Sackgasse ist, da kostete der Whisky acht Mark. Leuchtbuchstaben über dem Eingang: SAHARA, und dann mußten wir durch einen engen Schlauch und dann viele Stufen runter, und drinnen …“ Ihre Hand beschrieb einen Bogen, die Männer stierten auf den Bogen und sahen alles vor sich, sie selber waren dabei: verrückte, forthuschende Bilder im kreisrunden Kellergewölbe die kreisrunden Wände entlang, schreiendes Licht von der Sorte, die man sich nicht erklären konnte, obgleich dieses gellende Licht im eigenen Unterbewußtsein lauerte wie ein verstecktes, eingesperrtes Vieh, und das knallte nun wirklich herab, war wirklich da und machte die Frauen, weil sie synthetische Wäsche und Kleider aus synthetischen Stoffen trugen, nackt; dazu die aufpeitschende Musik und Farbige, die von weißen Mädchen geködert wurden oder 74
weiße Frauen zu ködern versuchten, und Matrosen, die niemals von einem anständigen Kapitän angeheuert worden waren, und einige von den Farbigen und die meisten Pseudomatrosen und ein paar fragwürdige Gestalten mit dunklen Brillen verwiesen Bedürftige, denen man von weitem ihre Bedürftigkeit anmerkte, an einen, der mit dunkler Brille, unkenntlich in jedem Falle, im Vorraum der Herrentoilette oder im Eingang zum Vorraum der Damentoilette Hasch und dergleichen Zeug feilbot. „Wissen Sie“, fragte sie Grothus, der ihr gegenübersaß, und sie richtete ihre Frage an alle, die atemlos zuhörten, weil sie es so gut zu schildern verstand, „was Hasch ist?“ Sie brauchten nicht darauf zu antworten, sie sahen es wie einen Film vor sich, aber deutlicher als auf dem Bildschirm. Sahen es vor sich hier in ihrem Gehege, wie die Burschen mit ihren Mädchen und einer tüchtigen Portion Hasch in den Eingeweiden zum Tanz antraten inmitten des Geflirrs an den kreisrunden Wänden, und sie gerieten außer sich, und alles war Fleisch. „Und hinterher“, schloß Brigitte, „ist den Neulingen erbärmlich zumute, manche versuchen es wieder, bis sie sich dran gewöhnt haben, die kommen dann nie mehr frei. Alle übrigen sind für nichts als einen Kater“ – sie nickte Grothus zu –„ne Menge Zaster losgeworden. Wenn man so wie ich von draußen kommt – ich hab da rechts am Wege zum Wald ein Haus entdeckt –, wissen Sie, was ich gedacht habe? Wär schön, dachte ich, so eine Zuflucht sein eigen zu nennen. Das Besitztum kam mir im Stich gelassen vor. Kaum anzunehmen – ich frage trotzdem: Steht’s zum Verkauf?“ Lange Pause. Dann seufzte der miesepetrige Krämer, Grothus sah kurz zu ihm hin, und der Revierposten sagte: „Ja, ja – hm, ja, also ich möchte mal so sagen …“ 75
„Schnauze“, sagte Grothus. „Sieh mal einer an“, fuhr er fort. Brigitte holte ein Zigarettenpäckchen aus ihrer Handtasche, bediente sich, Hagemeister dankte, als sie es ihm darbot, reichte ihr Feuer. Bartels betrat die Gaststube, sagte „Nahmd ok“, musterte die Leute, setzte sich halbschräg vor Grothus. „Ihr Wagen ist in Ordnung, bißchen spät geworden, aber nun können Sie abdampfen.“ „Alter Gauner“, sagte Grothus freundlich. „Rück mal, ja? Versperrst mir ja die Aussicht.“ „Kaffee, Fock!“ befahl Bartels. „Ich sagte, du stiehlst mir die Aussicht!“ „Sagtest du – na und? Lüpf deinen Hintern und rück selber. Sonst noch was?“ „Woran hat’s denn gelegen?“ „Geht dich ’n feuchten Kehricht an, min gode Slusuhr, dat’s nich din Beer. Am Regler lag’s“, sagte er zu Brigitte. „Am Regler? War ich nie draufgekommen. Da bleibt mir nichts, da kapituliere ich.“ „Will braucht nie zu suchen, der findet immer“, sagte der miesepetrige Krämer. „Das Haus“, sagte Brigitte, „entspricht genau meinen Vorstellungen von einem zweiten Heim.“ „Welches Haus?“ „Franz Altmann seins.“ „Ach, darum dreht sich’s, denn man tau“, sagte Bartels. „Wenn ich“, fuhr Brigitte fort, „so ein wunderschönes Grundstück besäße, würde ich die Hochstammrosen nicht den Nachtfrösten aussetzen, und die Dahlienknollen und die Gladiolenzwiebeln hätte ich auch längst reingeholt. Ich finde, der Eigentümer vernachlässigt sein Kleinod.“ 76
„Kiek mal einer an“, sagte Grothus, „ich muß ja sagen, für ne Großstädterin verstehn Sie ziemlich viel von Gartenbau. Landwirtschaft is was anneres.“ „Alle Menschen haben eine empfindliche Stelle“, erklärte Hagemeister. „Herr Grothus …“ „Düwel ok, du spilleriger Klugschieter, du Klatschbüdel, is doch woll nich die Möglichkeit, daß du mir so einfach die Rede abschneidst!“ „Herr Grothus“, sagte Hagemeister mit Würde, „ist ein Fachmann von hohen Graden, nichts anderes sollte mein Einwand klarlegen. Demzufolge ist er leicht reizbar, wenn einer an sein Fachgebiet rührt, wenn ich’s mal so ausdrücken darf.“ „Du has’n hellen Kopp, du hüpperige Kreih, wenn ich’s mal so ausdrücken darf.“ Grothus äffte Hagemeisters Tonfall nach, rauhes Gelächter erscholl von allen Seiten. „Haben wir immer gewußt, dat du mit din fründliches Gesicht din linksche Hälft verbargen deihst. Din Mulwark löpt allerwegen as gesmeert. Un nu has du ne wichtige Frag aufsmissen, un da frag ik di nu: Wo hat unser Polizeibulle sine empfindsame Stell?“ Matthes drehte unangenehm berührt den Kopf, als ob ihm sein Rollkragen plötzlich zu eng geworden wäre. Grothus hatte die breiten Hände auf die Knie gestützt, es war offensichtlich, daß er sich lustig machte. „Na, Hagemeister? Na, heller Jung? Nu segg din Meinung!“ „Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen, Herr Grothus.“ „Matthes mit sin vörgeschrevenes Gesicht un du in din öffentliche Positschon … Gott sall mi bewohren, den Düwel ok – du wills nich. Wisch di de Ogen gaud un kiek inne Rund. Bruks dich nich wedder verfiren. Wie steht’s mit den empfindlichen Stellen bei Will, dem alten Gauner, bei Fock – is auch ’n Gauner, alle Wirte sind 77
Gauner, man muß höllsch uppassen – oder …“, Grothus verhielt, „bei denen da drüben …“ Und er deutete mit seinem Daumen über die Schulter, und in der Richtung des Daumens befand sich ein Tisch, an dem zwei Männer unauffällig ihr Bier tranken. In dieser Sekunde unterbrachen sie ihr Gespräch. „Und wo hab ich“, Grothus schnappte unversehens zu, „nun tatsächlich meine wunde Stelle?“ „Du hast mich total mißverstanden, Hinnerk“, entgegnete Hagemeister aufgeregt, „ich habe falsch formuliert, wenn du gestattest, ich hätte Steckenpferd sagen sollen.“ „Nu seggt hei du, de Kirl, wat dit woll heit? Steckenpferde bringen nichts ein, die überlaß ich dir, Hagemeister, reit sie man weiter, din Steckenperds.“ Vom Tisch im Hintergrund, den sein Daumen markiert hatte, kam eine gar nicht mal laute, aber scharfe Stimme: „Immer an den Kleinen reiben, was, Grothus? Darin bist du groß. Und wat din wunde Stell angeiht, verrenk di bloß nich dat Krüz, din Gewissen is doch so blank as ’n Kinderpopo, du Grotsnut, du.“ Grothus wandte langsam den Kopf. „Nanu, min lewe Viktor, büs ok mal wedder doar?“ „Bün ik, mon lewe Hinnerk, un ik segg ok glicks ’n bitter Wurd: Eure wund Stell is dat Hüsung – un worüm? Weil’s ’n bannig düstern Schatten übers smucke Dörp warfen deiht.“ „Hoal de Luft an!“ schnauzte Grothus. „Wi bruken hier keen dammligen Betriebsrat!“ „Das Haus steht leer“, fuhr der Sprecher unbeirrt fort, „seit sich ne Tragödie drin abgespielt hat. Da kamen vor ’n paar Jahren Leute – Mann, Frau und Kind –, die dachten genau wie Sie, werte Dame: Das is aber mal ne schöne stille Gegend. Und weil sie Flüchtlinge waren …“, er 78
schrieb mit dem Zeigefinger einen Halbkreis ins Leere, wiederholte: „Flüchtlinge – ja, da mußte man ihnen wohl oder übel ne Parzelle geben. Im Gemeinderat waren nich alle dafür, aber ich will mir hier nich min Snut verbrennen. Die hatten von Amts wegen ’n beglaubigten Anspruch, un ’n Darlehen hatten sei ok. Vom Bund. Einlösbar bei jeder Bank. Bargeld lockt immer, wenn im öffentlichen Säckel ’n Loch is. Astrein war die Sache von Anfang an nich, dat segg ik, un doarbei bliev ik.“ „Bist fartich?“ erkundigte sich Grothus. Er war jetzt ganz gelassen, er nickte sogar, als Viktor Faßbender seinen Einwand wegwischte. „Gemeindeangelegenheit“, sagte Faßbender, „das handelt ihr man ruhig unter euch aus, ihr vom Rat. Ich will die Dame aus Hamburg bloß vor diesem Scheißnest warnen. Bloß keine Veränderung, nur ja nichts Neues – man will hier unter sich bleiben, im eigenen Fett schmoren. Paar Ausnahmen gibt’s. Freilich gibt’s die, die gibt’s ja überall. Hier gab’s zu guter Letzt zwei Leichen.“ „Schrecklich“, sagte Brigitte. „Die beiden Leichen“, Hagemeister hielt seine Stunde für gekommen, „wissen Sie, gnädige Frau, ich war der Kronzeuge, ich habe sie gefunden …“ „Was hast du gefunden, du Trottel“, Bartels hatte die Wut gepackt, „erzähl hier bloß keinen Kohl! Fock“, rief er, „wo bleibt mein Essen, verdammt noch mal!“ „Ich will ja nichts gesagt haben, aber die Methoden der Mordkommission kamen mir doch etwas rigoros vor.“ „Zu guter Letzt gab’s unschuldige Opfer“, erklärte Faßbender, „über Einzelheiten weiß man bis heute nichts Genaues.“ Seine Stimme verfügte über beträchtliche Modulationen. Jetzt ließ er sie voll ausschwingen. „Unter den Alteingesessenen funktioniert vor allem die Loyalität, wo 79
einer ausbrechen will aus dem Clan, wird ihm Feuer untern Hintern geblasen. So ’n sachtes Gepäsel, ich will ja man gar nicht von Druck reden, hilft meistens. Die meisten haun sich dann aufs Ohr, allenfalls sagen sie: Ja, wenn ich das gewußt hätte! Oder: Davon will ich nichts wissen. Oder: Dat ’s nich min Beer, wofür habn wer ’n Burgemeester.“ Er dämpfte den Ton. „Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich?“ fragte er. „Sie hatten ja man bloß ihr Auto in Bartels sin Werkstatt, un Sie sind ja auch kein Flüchtling aus der DDR, sondern ne reputierliche Person, un Sie könn ok nich auf ’n Holzweg geraten – oder ins Abseits. Un worüm? Weil ich Sie nämlich warne. Bekieken Se sich mal den da“, sein Zeigefinger schnellte vor, unwillkürlich duckte sich Matthes, „der war ja vielleicht umsichtig, der hat gleich vom Fleck weg ’n Mörder festgenommen, ich staune heut noch drüber! Der Arzt war Nebensache, wer jagt denn hinterm Arzt her, wo der Tatbestand doch einwandfrei war: zwei Leichen und ’n Mörder.“ „Entsetzlich“, sagte Brigitte. Faßbender nickte. „Schauen Sie sich nun mal Postsekretär Hagemeister an.“ „Ich möchte doch sehr bitten, Viktor.“ „Ach, leck mich, du Armleuchter! Trägst deine Briefe aus und sitzt zwischendurch vorm Klappenschrank in deiner Bude …“ „Hier kannst du nicht mitreden, du hast sie nicht gesehen, die Ilse Altmann und das Kind.“ „Zugegeben, um dich geht’s mir ja gar nich, aber euer Revierposten, der hat vom Fleck weg den Franz beim Schlafittchen genommen – oder willst du’s bestreiten, Matthes? Im übrigen hab ich nichts gegen euch beide, denn in diesem malerisch gelegenen Flecken regieren 80
solche wie der“, er deutete auf Grothus, „heut und in alle Ewigkeit, amen – und ihr werdet’s nie begreifen.“ „Irrtum“, erwiderte Grothus, „spar dir deine Märchen.“ „Also heute hätte ich auf Racke spekuliert“, versuchte Matthes mit aufgesetzter Munterkeit abzulenken, „jede Wette wär ich eingegangen, daß der heut abend kommt.“ „Dämlak“, sagte Bartels. „Das Schwein zu meiner Schlachtplatte mußt du wohl erst stechen, Fock!“ rief er zur Theke hinüber, „Mach mal ’n beeten tau, hab noch nichts Richtiges im Magen seit heut früh.“ „Warum läßte deine Alte auch auf Reisen gehen.“ „Erstens ist das nicht meine Alte, für dich jedenfalls nicht, Schröder, kapiert? Und zweitens …“ „Is ja gut“, versetzte Schröder, der griesgrämige Krämer. „Rackes Lisbeth“, fügte er mit Trauermiene bei, „fährt nie weg.“ „Hab ’n Hühnchen mit dir zu rupfen, Faßbender“, sagte Grothus, „ich hab ’n guten Magen, der kann viel vertragen, aber was zuviel ist, ist zuviel.“ „Papperlapapp“, sagte Faßbender. Matthes sagte stur: „Das wäre ja für unsern Bürgermeister wie zweimal Christfest mitten in der Ernte, war das ja.“ Grothus hatte seinen Stuhl um neunzig Grad geschwenkt. Brigitte sah seinen breiten Rücken, der ungefähr alles verdeckte. Er begann so leise, daß sie aufpassen mußte, jedes Wort zu verstehen. „Legst dich ja mächtig ins Zeug, Viktor, dein Vater, der Gemeindeschreiber …“ Hier trat Schweigen ein. „Der Gemeindeschreiber“, wiederholte Grothus, er spuckte die Silben verächtlich hin, „hätte sich gehütet, Kommentare, die niemand von ihm verlangte, 81
unerlaubt zu liefern. Und deine Schwester, die Gemeindeschreiberin, hütet sich auch vor Kommentaren. Wen erblickt mein Auge an deiner grünen Seite? Unsern neuen Herrn Lehrer. Habe die Ehre! Ne Lage, Fock, für Viktor Faßbender un sin Fründ – dem kann man ja ’s Vaterunser durch die Backen pusten, kann man ja. Gib ihm mal ne deftige Portion von deiner Blutwurst*, Fock! Ich trag keinem was nach, un was der Lehrer is, dem müssen wir mal was zwischen die Rippen schmieren.“ Er wartete seinen Heiterkeitserfolg ab, fuhr dann gemütlich fort: „In meiner Jugend, als mein Alter im Regiment war als Bürgermeister – das waren Zeiten! –, saß der Gemeindeschreiber Faßbender brav an seinem Pult und war froh, daß er da seine Büx blankreiben durfte, und deine Mutter, min lewe Viktor, die war froh, wenn sie sich von unserm Hof Zubrot holen konnte für fünf hungrige Mäuler.“ „Okay“, sagte Faßbender, „sollst recht haben, Hinnerk, din Vadder was ’n Grotsnut as du, aber dieser aufgewärmte Kohl, könnt ich mir vorstellen, interessiert doch die Dame aus Hamburg nich.“ „Du bist geübt, min lewe Viktor, du bis ’n Slingel, dat büs du, nich blot ’n großartigen Slosser, nä, du hältst Ansprachen …“ „Schnauze“, sagte Faßbender. Die Reaktion erfolgte prompt. Grothus federte mit überraschender Behendigkeit von seinem Stuhl hoch, während jene sprichwörtliche Stille eintrat, in welcher man Stecknadeln zu Boden fallen hört. „Setz dich ruhig wieder hin“, sagte Faßbender. Grothus folgte der Aufforderung, sein Gesicht drückte Verwunderung aus. „Wo das mit den Dahlienknollen doch gar nich Franz Altmanns Art war“, redete er weiter, „wo das doch seine empfindliche Stelle war. Ich wollte die Dinge bloß so ’n bißchen richtigstellen, mir gefällt’s nämlich nich, daß ihr 82
’n Quark draus macht. Auf dein Wohl, Hinnerk, und schönen Dank auch, sollst leben, Hinnerk, und ich trink auch auf das Wohl meiner Mutter, der dein seliger Vater Gelegenheit gab, sich vom frühen Rübenverziehen bis zum späten Dreschen auf euren Feldern rumzuschinden als Tagelöhnerin. Das waren noch Zeiten! Sie bekam Deputat, davon konnten wir unsere Ziege und unsere Kaninchen und Hühner füttern, und – merken Sie auf, werte Dame! – sechsundvierzig Pfennige Stundenlohn, und weil sie zu Hause fünf hungrige Gören hatte, hatte ich immer ’n bißchen zuwenig Speck auf den Rippen. Und mein spilleriger Vater, der Gemeindeschreiber, sagte leider nicht: Laß dich nicht unterkriegen, Bengel! Mein armer seliger Vater sagte, wenn er überhaupt was sagte: Die sind stärker als wir, min lewe Viktor, am besten, du nimmst Reißaus, rechtzeitig, min lewe Viktor. Und das hab ich mir nicht zweimal sagen lassen. Du hast immer dein Mütchen an mir gekühlt, du Fettsack! Nur ’n einziges Mal hab ich dich ins Gebüsch befördert. Das war ’n großartiges Erlebnis für mich, du. Und meine bibelfeste Mutter – nä, die Hosen hat sie mir nich strammgezogen, diesmal, sie hat nur so ein dunkles Wort gesagt vom ungeschlachten Goliath und vom David, dem mit der Hirtenschleuder. Sie gestatten, werte Dame.“ Er hob sein Glas und leerte es in einem Zug. „Jetzt is aber Schluß!“ „Mich würde – verdammich noch mal – nur noch interessieren, wer von euch die Sache mit dem Prozeß mitgemacht hat. Das hat“, Faßbender sprach jetzt ohne jeden gutmütigen Beiklang, „dem Faß die Krone aufgesetzt. Du warst ja wohl erhaben über diesen Tünkroam, Hinnerk, du mit dine blaublütige Thilde.“ Der Lehrer griff ein. „Du wirst unkonkret, Viktor“, mahnte er. 83
„Na, und ob! Anders kommst du denen hier nich bei. Altmanns sauer verdientes Geld hab’n sie eingesackt.“ „Wer hat eingesackt?“ fragte Grothus. „Hat die Gemeinde eingesteckt“, korrigierte Faßbender, „und sie sind euch, ihr Lumpenhunde …“ „Viktor!“ rügte der Lehrer. „Schon gut. Sie sind der Gemeinde nichts schuldig geblieben, sie waren pünktliche Zahler. Und ihr? Habt sie behandelt wie den letzten Dreck.“ Hagemeister murmelte an Brigittes Ohr: „Ich bedaure den Tumult, gnädige Frau, die Gemüter haben sich erregt, wie Sie sehen. Ich möchte Ihnen erklären: Als dem Franz Altmann die Frau doch noch wegstarb in der Klinik, da wurde ihm alles gleichgültig – sogar sein Garten. Und weil ich der erste am Tatort war – also ich würde Ihnen dringend abraten, in dieses Unglückshaus zu ziehen, falls sie so was vorhaben sollten.“ „Was steckst du deine Nase in alles rein! Was geht dich das alles an, du – du Korinthenkacker von ’nem Proleten, der nich mal mehr hier wohnt!“ Grothus war zu weit gegangen. Er merkte es, bevor er das letzte Ausrufungszeichen setzte. „Du Slingel“, fügte er deshalb bei, „nichts für ungut, min lewe Viktor.“ Dann packte ihn erneut der Zorn. „Tünkroam, hast du gesagt, war das für mich. Und nun frag ich dich: Was hast du denn getan? Nichts hast du getan, nichts dafür und nichts dagegen!“ „Herr Grothus hat recht“, begütigte der Lehrer, „und wenn ich mich in die Dame aus Hamburg hineinzuversetzen versuche, muß ich gestehen: Ich verstehe dauernd Bahnhof. Dorffehden“, sagte er verächtlich, „sehr, sehr traurig, wenn auch symptomatisch.“ „Wieso symptomatisch?“ hakte Brigitte ein. 84
„Sind Sie jemals in Ihrem Leben Außenseiterin gewesen?“ Bevor Brigitte dem Lehrer antworten konnte, erklärte Hagemeister: „Ja, ja – Außenseiter waren die Altmanns, so muß man es wahrheitsgemäß sehen.“ Grothus donnerte: „Hören Sie mir mal gut zu. In diesem Dorf, in dem mein Vater und dessen Vater und dessen Vater obenan gestanden haben, hat kein Weibsbild von draußen oder von unten, was auf dasselbe hinausläuft, je gewagt, aus der Reihe zu tanzen, sich von früh an aufzutakeln und zum Überfluß auch noch auf Männerfang zu gehen. Hat die Ilse Altmann doch gemacht – oder?“ „Schrei nur, Hinnerk, schrei, so laut du kannst“, stichelte Bartels, „hast ihr ja auch ins Gesicht gestarrt, denn so eine war sie ja, und Schröder, der ja ’n Geizhals is. hat ihr ja nich umsonst Lutscher geschenkt fürs Kind.“ „Ich muß mich gegen deine Mutmaßungen verwahren“, versetzte der Krämer. „Willst nich erinnert werden, Frerk, bist feige.“ „Schnauze“, sagte Grothus. „Warst ja auch hinter ihr her.“ „Gut“, versetzte Bartels, „jeder war hinter ihr her, denn so eine war sie, in allen Ehren …“ „In allen Ehren? Und die Autos, Mann, die morgens noch immer auf ’m Plattenweg parkten?“ „Hast sie gezählt, Grothus? Da muß ich mich ja sehr wundern. Bist wohl wie ’n Kater rumgestrichen – draußen, bei ihr?“ „Wir können’s austragen.“ „Nee, min lewe Jung, dafür sind wir beide zu alt. Du bist glücklich verheiratet, ich bin glücklich verheiratet. Und nun tute bloß nich in dieses Horn, hast du nicht nötig, hab ich nicht nötig.“ 85
Bartels setzte seine leere Kaffeetasse mit ruhiger Hand auf den Tisch. „Hör auf zu trinken“, sagte er leise, „hör auf zu spinnen und misch dich nich rein in das Gewäsch vom gestörten Frieden im Dorf, in dem wir mal die Schulbank gedrückt haben als Einkläßler mit Racke seiner Ehehälfte, der Lisbeth, aber doch nich mit Racke.“ „Wenn du so willst“, sagte Grothus. Er hielt inne. „Ich war von vornherein dagegen“, fuhr er fort, „den Gemeindebesitz zu parzellieren.“ Schröder sagte mit dem Höchstmaß an Aufsässigkeit, dessen er fähig war: „Du hast Appetit auf alles, Hinnerk, was dir noch nicht gehört. Du hast’s ja dazu, du möchtst lieber heut als morgen die anderthalbtausend Hektar Pachtland einsacken.“ „Ein offenes Wort“, rief der Lehrer aus seiner Ecke. „Auf Beifall verzieht ich“, sagte Schröder. „Auf diese Art Beifall“, ergänzte Faßbender. „Damit wären wir ja wohl fertig, ohne weitergekommen zu sein.“ „Für wen haltet ihr mich eigentlich?“ Grothus hieb seine Faust auf Brigittes Tisch, daß die Gläser klirrten. Der Wirt erschien mit dem dampfenden Gericht. Bartels schnupperte, belud seinen Teller. „Auf jeden Fall“, sagte er, „is das hier das einzige Reelle.“ „Sollst recht haben“, stimmte Grothus bei. Er strich über seine Stirn, befühlte mit Daumen und Zeigefinger Lippen und Kinn. „Möcht ich wohl meinen.“ Bartels öffnete seine Brieftasche, holte ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus, reichte es Brigitte. „Die Rechnung, gnädige Frau.“ Sie faltete das Blatt auseinander, warf einen Blick darauf, dachte: Da bin ich aber reingeschlittert!, grub in der Handtasche nach Kugelschreiber und Scheckheft, begann zügig zu schreiben. Sie schob Bartels das 86
Formular zwischen Brotberg und Mostrichkruke zu. Bartels legte die Gabel auf den Tellerrand, kaute weiter, faltete den Scheck, brachte ihn in seiner Brieftasche unter, steckte die Brieftasche weg. „Stets zu Dienstleistungen bereit“, erklärte er, „falls Sie mal wieder vorbeikommen sollten.“ „Ich komme bestimmt bald wieder“, sagte sie, nickte lächelnd in die Runde, „aber hoffentlich ohne Panne. Und nun“, sie winkte dem Löwenwirt, „möchte ich zahlen.“ „Zahlen? Zahlen tu ich!“ „Aber nein, Herr Grothus.“ „Aber doch, gnädige Frau!“ „Wir wollen uns nicht streiten, Sie haben mich zu Bier und Doornkat eingeladen, vielen Dank …“ „Fock“, rief Grothus, „selbstverständlich bezahle ich den ganzen Ramsch!“ „Irrtum, Herr Grothus – also bitte, Herr Wirt.“ Fock war uneins mit sich selber, schließlich gab er Brigitte nach, rechnete im Kopf zusammen, strich Münzen ein. Sie stand auf, sagte: „Auf Wiedersehen, meine Herren, es war mir ein Vergnügen.“ Hagemeister, ganz Kavalier, half ihr in den Mantel. Sie verließ die Gaststube, fühlte die Blicke der Männer in ihrem Rücken. Eisiger Wind schnitt ihr draußen ins Gesicht. Der Marktplatz war leer. Ganz einsam stand dort in der Mitte ihr braver VW. Sie schloß die Tür auf, ließ den Motor an. Drückte das Gaspedal. Dachte: liebe Güte, Nathalie! Dann lenkte sie den Wagen sachte auf die Straße. Als sie das Asphaltband erreicht hatte, brachte sie ihn schnell auf hohe Touren und raste der Stadt entgegen. Die vertrauten Sternbilder des Winterhimmels kreisten jenseits des dichten Gewölks über ihr. Sie kam an, fuhr in den Hof ihres Hotels ein. In der Halle war es angenehm 87
mollig, die Geschäftsreisenden sichteten ihre Aufträge, der Portier reichte ihr mit väterlichem Lächeln den Zimmerschlüssel. Sie stieg die läuferbelegte Treppe hinauf, ihr Zimmer empfing sie mit Wärme, sie machte ihr Bandgerät, diesen treuen Kumpan, aufnahmefertig, erzählte den Verlauf des eben vergangenen Tages, plapperte, während sie ihre Schreibmaschine öffnete, den ersten Bogen einspannte, bloß so einen Konzeptbogen ohne Durchschläge, redete immer weiter vor sich hin, und das Tonband nahm alles auf, hielt all ihre kreuz und quer laufenden Gedanken fest. Spengler sagte: „Eine anheimelnde Stätte, Herr …“ „Fock ist mein Name“, sagte der Löwenwirt. „Sehr verbunden. Sie gestatten: Ich heiße Spengler.“ „Freut mich, daß Sie sich wohl fühlen, Herr Spengler.“ „Nur die Wahrheit. Wenn Sie mir nun nach der ausgezeichneten Blutwurst einen doppelten Mokka bringen könnten …“ „Selbstverständlich – sofort, Herr Spengler.“ Die Gaststube hatte sich gefüllt. Am runden Stammtisch mit seiner dicken Eichenplatte und dem runden Aschenbecher in der Mitte wickelte sich ein Grand mit vieren ab. Der Gewinner triumphierte: „Ik segg di, Hinnerk, hüt kümmst mi nich davon, ditmoal flöh ik di ut.“ Spengler bat: „Die Rechnung, wenn’s geht, schriftlich, Herr Fock – wegen der Spesen.“ „Nanu, Fock, seit wann büs du Herr Fock?“ „Gestatten“, sagte Spengler zum Rücken des Sprechers, „Spengler mein Name.“ Der Mann in der Jagdjoppe drehte sich langsam um. Seine Augen glitten über Spenglers Gesicht. Er runzelte die Stirn. „Nanu, wen haben wir denn da?“ 88
Spengler schlürfte seinen Mokka. Er nahm sich sehr viel Zeit. Es wurde still. Das Schweigen lief wie eine Welle von Tisch zu Tisch an der Theke vorbei, bis es den letzten Winkel erreicht hatte. „Ich hab Sie was gefragt, junger Mann, also mal ’n bißchen dalli!“ Spengler sagte höflich: „Darf ich wiederholen, zwar hatte ich mich bereits vorgestellt, Joachim Spengler ist mein Name.“ „Ihr Name interessiert mich nicht, ich will wissen, was Sie wollen.“ „Jawohl, Herr Grothus, sofort – oder irre ich in meiner Meinung, daß Sie Herr Hinrich Grothus sind?“ „Laß doch, Hinnerk, leg dich doch nich mit dem an, is doch man bloß wedder so ’n Schnüffel von der Zeitung …“ „Schnauze, Matthes“, sagte Grothus obenhin. „Sind Sie“, fragte er, „von Presse, Rundfunk oder Fernsehen?“ „Nein“, erwiderte Spengler. „Um so besser. Darf ich Ihnen einen doppelten Doornkat zu Ihrem doppelten Mokka spendieren?“ Spengler nickte. „Fock! Mach schnell, Fock, sonst hat er keinen Mokka mehr, und vergiften woll’n wir’n ja nich, das besorgt er selber – mit seinem Mokka.“ Spengler entdeckte Lederflecken an den Ellenbogen der Jagdjoppe. Zerschlissene Vornehmheit, registrierte er, auf so was kann man auch Wert legen. Maßgeschneidert, die Jacke. Grothus gab ein kurzes Lachen von sich. Es blieb für Sekunden das einzige Geräusch. „Wir haben hier was gegen Leute von Presse, Rundfunk und Fernsehen“, erklärte er launig, „wir Lemdorfer haben nämlich schon mal Schlagzeilen gemacht – vorigen Herbst, im SPIEGEL. Lesen Sie den SPIEGEL?“ 89
„Manchmal“, versetzte Spengler. „Da kam Lemdorf ziemlich groß raus ziemlich weit hinten, weil in Lemdorf was Fatales passiert war. Nie davon gehört? Nanu, Hagemeister“, unterbrach er sich, „worüm büs du so witt umme Näs? Da kam Lerndorf“, fuhr er fort, „groß raus, und da muß ich betonen, solange ich zurückdenken kann, und da kalkulier ich gleich so mündliche Überlieferungen bis zu den Ururgroßeltern mit ein, is so was nie dagewesen, daß Lemdorf – wenn auch weit hinten – Schlagzeilen gemacht hat. Mir War das schnuppe, anderen ist’s verdammt an die Nieren gegangen.“ Spengler verneigte sich leicht, bevor er den Doornkat kippte. „Sehr fatal“, stimmte er zu, „zumal es nun gar nicht mehr auf Schlagzeilen ankommt. Sie verstehen, was ich meine?“ Grothus blieb ruhig sitzen. „Jawohl“, sagte er, „ich habe verstanden. Noch ’n Doornkat gefällig?“ „Nein“, entgegnete Spengler, „Sie haben’s mitbekommen, Herr Grothus, von jetzt an befinde ich mich im Dienst.“ „Dienst?“ fragte Matthes. „Wieso Dienst? Wat wißt ihr jungen Schnösel von Dienst …“ „Und von Pflicht“, vollendete Spengler. „Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, Herr Polizeiobermeister Matthes.“ Matthes starrte Spengler an, erinnerte sich, erkannte ihn, seine Hand schien zu zittern, als er die Karten auf den Tisch legte. „Sie waren damals dabei“, sagte er tonlos. „Richtig“, sagte Spengler. „Nu mal raus mit der Sprache“, bullerte Grothus, „wo soll’s denn langgehn mit Ihrem Dienst?“ 90
„Immer der Nase nach, Herr Grothus, aber lassen Sie mich vorerst feststellen, daß es sich an diesem Kachelofen ausgesprochen gut sitzt. Man möchte überhaupt nicht weg davon …“ 15 Brigitte klappte, nachdem sie den entzweigerissenen Bogen dem Papierkorb überantwortet hatte, ihre Schreibmaschine zu, zog sich aus, duschte, legte sich ins wunderbar bequeme Bett. Und fand lange keinen Schlaf. Sie meinte die Dinge mit Händen greifen zu können. Dennoch entzogen sie sich ihr. Schließlich versuchte sie sich mit Focks Frau zu identifizieren, war sie eine der Frauen, deren Los es war, hinter der Szene zu agieren: Focks Küche. Die Küche, Domäne der Frauen – Sie glaubte des Löwenwirtes blitzsaubere Küche mit Herd und Tiefkühltruhe, Kühlschrank und eingebauten Schränken vor sich zu sehen. In ihr schwang eine Frau – Focks Frau – das Zepter. Und nun vernahm sie auch die Stimme der Frau, die von jenseits der Klappe kam. Jedesmal – ihr Unterbewußtsein hatte es aufgezeichnet – war Fock zur Klappe geeilt, um der Stimme zu Willen zu sein. Das, fand sie, war der Betrachtung wert. Es war vielleicht sogar bedeutungsvoller als alles Schwadronieren der Männer vorn im Lokal. Ihre kreiselnden Gedanken konzentrierten sich. Sie starrte mit den Augen von Generationen von Lemdorfer Frauen auf den Fremdkörper in ihrer Mitte, diese Ilse Altmann, und sie empfand den uralten weiblichen Argwohn, weil mit dieser Person etwas in den Dunstkreis eines als unverletzbar heilig gehaltenen Friedens 91
eingebrochen war. Die Erscheinung der Ilse Altmann geriet in ihr Blickfeld. Sie fühlte sich von ihr bedrängt. Keine Eheherrin ließ sich gern in die zweite Reihe drücken, sie wußte es aus Erfahrung. Und sie begriff die Alternative: entweder die oder ich, entweder den Raum zwischen eigenem Dach und Lemdorfer Kirchturm freifegen oder nachgeben, das Gebalze der Mannsleute gutheißen, das Ungemach zu Haus am eigenen Herd geduldig abwarten. Die wenigsten waren großzügig genug, den schwierigeren Weg zu wählen. Und nun gar die Lemdorferinnen! Für sie waren gewiß schon Ansätze von Seitensprüngen gleichbedeutend mit Unmoral. Brigitte seufzte. Bisher hatte sie kolportiert und interpretiert, was in der weiten Welt passierte, hatte in ihren Berichten durch routinierte Tricks, die man bei einiger Begabung schnell handhaben lernte, genau die Emotion getroffen, die sie im Leser hervorrufen wollte. Hier handelte es sich weder um Rebellionen in der fernen dritten Welt noch um Studentenkrawalle. Die linke Welle mitzumachen galt ja längst als schick, kostete keine Selbstüberwindung mehr, brachte immer Honorare. Warum denn um Gottes willen dieses Tünkroams halber auf Sicherheit verzichten? Nicht mal einen Vorvertrag hatte Bode ihr zusichern können. Du mußt verstehen, Biggy, du kannst dich auf mich verlassen, Biggy, klar, daß du das kannst, aber es ist Neuland für dich – ich meine, von der Form her. Aber nicht nur deshalb sind unsere Bosse vorsichtig. Ich hätte meinen Gefühlen nie nachgeben sollen, ich bin hier fehl am Platze. Das ist alles so provinziell – wenn ich bloß an den Portier unten denke, an seinen Verschwörerblick und diese Altmännermiene –, paßt doch alles nicht zu mir. Größere Themen mit frecher Feder. So 92
war’s bisher und nicht erfolglos. Eitelkeit? Kein Publizist ist frei davon, und ich will wirklich nicht in so eine Dorfchronik als quasi Wespe reingeraten, das ist doch nicht mein Metier. Ich gehöre in die Welt der Expreßlifts, der Martinicocktails, der Hotels, in die Welt diskutierfreudiger Gruppen, wo man den Aufstand probt, der Hörsäle, in denen ich zuschaue, wie kreuzbrave Dozenten mit Sinn für Reformen mitten im Vortrag unterbrochen werden durch – durch unqualifiziertes Geschrei und alle möglichen Wurfgeschosse … Dahin ist es also gekommen. Merkwürdig. Und es zieht auch keine Repressalien mehr nach sich. Sehr merkwürdig. Immerhin: ich wohne in Pöseldorf, wer in Pöseldorf wohnt, ist in. Ich will in Pöseldorf wohnen bleiben. Also muß bei allem für mich was rausspringen. Hier springt nichts heraus. Zweifellos war die Altmann ne Sexbombe, und da kann man den Frauen von Lemdorf nicht übelnehmen, daß sie was gegen sie hatten. So Frauen wie Anni Fock in ihrer Küche. Kann mir nicht vorstellen, daß sie das Malheur bedauert hat. Im Gegenteil. Und dann blieb doch etwas hängen. Zum zweiten Male klickte es in Brigittes Kopf. Der Leumund, sagte sie langsam, der Leumund war angekratzt. Leumund. Sie sah sich unvorbereitet einer Abfolge aus Bewegung und Sachverhalt gegenüber. Was soll denn das, fragte sie sich. Die Abfolge aus Bewegung und Sachverhalt jenseits aller gängigen Aktualität war ja nun wirklich in keiner Weise aktuell. Und da wurde ihr klar, daß sie verwöhnt worden war durch schnelle Erfolge. Sie hatte eine blitzartige Einsicht: An ihrer Ungeduld mußte es liegen, daß sie diesmal den Ansatz nicht gleich fand. Sie verdrängte eine tiefer reichende Erkenntnis, fegte das Wort Oberflächlichkeit 93
beiseite. Und dennoch – der Druck in ihr nahm zu. Was hieß schließlich Kleinkram? Sie hätte jetzt gern Klaus Bode neben sich im Bett haben mögen, um – wie sie es immer machten, wenn sie nur einfach nebeneinander lagen, satt vom Ernst und von den Spielen ihrer Liebe und müde, jedoch nicht müde genug, eher wach genug im beständig wachsenden Einklang ihrer nicht bloß körperlichen Beziehung – alle ungelösten Fragen mit ihm durchzugehen. Und sie sagte zu Klaus, der nicht da war: „Das Bramarbasieren dieses großspurigen Kerls …“ „Kann ich mir gut vorstellen“, antwortete Klaus, obgleich er nicht anwesend war, „hat sich vor dir gespreizt, kann ich mir sehr gut vorstellen, wie du da aufgekreuzt bist mit deinem gewissen Flair …“ „Laß sein“, sagte sie, „laß deine Hand da, wo sie ist, ich mag das, aber hör mir zu …“ „Erwürgen könnt ich den Bock …“ „Idiot! Sieh mal die Dinge so, wie sie in dem Nest da liegen. Ach, nun reg mich nicht wieder auf, du. Wir wollen’s mal durchspielen – bitte.“ „Ich bin kein Computer.“ „Nein, dein Herz schlägt so stark, daß es wie Vogelruf klingt. Ich hab herausgebracht, daß ihnen zum Transport ihrer Habseligkeiten ein Lieferwagen genügte, die Zimmerfrau hat’s mir erzählt, der hat’s der Nachtportier erzählt, und dieser nun wiederum hatte es direkt von der Altmann.“ „Interessant“, sagte die imaginäre Stimme, „aber so weit sind wir noch nicht. Erst mußten sie ja mal ihr Haus bauen.“ „Dabei begingen sie, glaube ich, einen schwerwiegenden Fehler. Sie lassen das Fundament legen, karren Steine, schleppen Zement, ohne von irgend jemandem im Dorf 94
Rat oder gar Beistand zu erbitten. Ortsfremde Handwerker erscheinen nach Feierabend, auch an den Wochenenden, Autoinhaber, LKW-Fahrer. Sie vergessen zu sagen, daß es sich um Franz Altmanns Kumpel und dessen Freunde handelt. Altmanns müssen jeden Pfennig umdrehen, sie haben sich mit dem Grundstück übernommen, deshalb halten sie’s so. Endlich – es ist hoher Sommer – kommt die Richtkrone aufs Dach. Sie haben allen Grund, das Ereignis zu feiern. Es geht laut und fröhlich zu, Bier und Bockwürste haben sie mitgebracht.“ „Phantasie oder Wirklichkeit?“ „Ich sehe es in Bildern, aber in den Grundzügen ist’s wahr. Die Zimmerfrau …“ „Die hat’s vom Nachtportier, und der Nachtportier.. ’ Solche Leute tratschen gern.“ „Der nicht. Anfang November ziehen sie ein. Sie haben eine provisorische Haustür – rohe Bretter mit draufgenagelten Querverstrebungen. Sie haben alle Hände voll zu tun, es sich wohnlich zu machen, denn da fehlt noch viel, folglich beginnt Ilse Altmann mitzuverdienen …“ „Falsch“, unterbrach die imaginäre Stimme, „nicht nur darum. Sie sind Flüchtlinge aus der DDR, die Frau setzte nur fort, woran sie gewöhnt war.“ „Sie muß ihre Tätigkeit nach seinen Schichten einpegeln – des Kindes wegen. Also wechselt sie mehrere Male die Stellung, bis sie beim Hotelier hier auf Verständnis trifft. Das meiste kauft sie im Städtchen ein.“ „Zweiter Kardinalfehler“, meldete sich die imaginäre Stimme. „Fehler? Warum? Viele fahren nach auswärts zum Shopping!“ „Weiter!“ forderte die Stimme, sie war so sachlich, wie nur diese Stimme werden konnte. 95
„Wie alle anderen betritt die Altmann unbefangen in Abständen Schröders Gemischtwarenladen, wenn sie Butter oder Salz vergessen hat, Milch braucht, Landwurst haben will. Und da stehen die Frauen von Lemdorf vor dem Tresen, tratschen, klatschen, verstummen, sooft sie kommt. Das geschieht noch ohne Feindseligkeit, einfach so – weißt du? Sie spüren, die Altmann ist anders als sie, starren sie neugierig an, ohne Bosheit, nur eben – na ja – neugierig.“ „Perlhuhn im Hühnerhof, wehe wenn der Hahn …“ „Ja, Mann – genau! Eines gewöhnlichen Dutzendtages, stelle ich mir vor, entdecken die Männer von Lemdorf, daß ihnen ein Paradiesvogel zugeflogen ist. Es liegt nicht an ihrem Make-up, auch nicht an ihrer Kleidung – sie hat sich ausgesprochen schick angezogen, sagt die Zimmerfrau –, es muß an dem gelegen haben, was Frauen an Frauen selten bemerken.“ „Verstehe“, sagte der gar nicht vorhandene, aber sehr nahe Bode dicht an Brigittes Ohr, „Helena – seit fünftausend Jahren, meine Helena.“ „Quatschkopf! Bleib gefälligst ernst – ich meine, objektiv. Du, die Altmann muß supersexy gewesen sein. Und die Lemdorferinnen fangen an, die Lemdorfer zu beobachten, und dann beginnen die Lemdorferinnen zu sticheln, und die Lemdorfer senken schuldbewußt ihr Haupt …“ „Sie scharren im Sand“, sagte die imaginäre Stimme. „… kauen am Daumen und warten, warten, daß sie erscheint, sehen, sehen sie an, sehen zu, wie die Altmann des Weges daherkommt, wiegenden Schritts, aufsässig vor lauter Unsicherheit. Und die Mannsbilder, diese an gutes Futter gewöhnten und gezähmten Mannsbilder, verteidigen ihr Idol nicht, sie lassen die Weiber gewähren.“ 96
Die imaginäre Stimme äußerte dunkel: „Perlhuhn unter Leghornhennen wird totgehackt, Boxer im Hundezwinger wird von der Meute totgebissen.“ Und dann verstummte die Stimme, der Platz an Brigittes Seite war leer. Sie stand auf, öffnete das Fenster, holte Nachtluft in ihre Lungen, ließ das Fenster weit offen und legte sich wieder hin. Ich muß übers Wochenende nach Hamburg, überlegte sie und gab damit ihren ursprünglichen Plan, Nathalie zu besuchen, auf. Und sie drehte sich zur Wand und schlief schon halb und schrieb in Gedanken klare Sätze nieder, sie begann von der Peripherie her. Der Stein fiel und fiel, Wellenringe gingen von ihm aus, der letzte zog das Dorf auseinander, bis Lemdorf überall war. Sie strengte sich an, wach zu werden. Es gelang ihr nicht mehr. „Sie erinnern sich“, sagte Spengler, „an diesem Kachelofen saß vor ein paar Monaten eine aparte junge Frau. Ich möchte Sie über meine Obliegenheiten nicht im Zweifel lassen, zumal Polizeiobermeister Matthes eine so strenge Dienstauffassung hat. Ich bin überzeugt, Sie helfen mir bei der Erfüllung meiner Aufgabe: Ich habe einen Mord aufzuklären – möglicherweise handelt es sich um Mord, will ich einschränkend bemerken. Gute Nacht, meine Herren.“ Er ging zur Tür und war draußen, Grothus schickte ein verlegenes Räuspern hinter ihm her.
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16 Im Vorzimmer saß an einem modernen Schreibtisch auf einem gar nicht dazu passenden – Stuhl eine ältliche Sekretärin. „Sie wünschen?“ Brigitte schien diese Frage überflüssig. Sie zog einen Brief aus der Manteltasche. „Bitte nehmen Sie Platz, es wird noch einige Zeitdauern. Der Rat tagt seit zwei Stunden.“ Der Mund der Sekretärin war fest, ihre Nase ein wenig spitz, die Stirn voller Falten. „Komme ich ungelegen?“ „Aber nein. Sie sind doch vorgeladen.“ Massive Regale, braungebeizte Rollschränke, ein Safe, steife Stühle auf reinlich geöltem Fußboden. Die Sekretärin hatte den Platz gewechselt. Sie saß jetzt vor einem separaten Tisch über ihrer Schreibmaschine. „Sagten Sie vorgeladen?“ Die Sekretärin wandte den Kopf, ohne die Finger von der Tastatur zu nehmen. „Bei uns heißt das so.“ „Ich würde mich lieber als eingeladen betrachten.“ „Halten Sie das, wie Sie wollen.“ „Schade.“ „Inwiefern schade?“ „Würden Sie mir Ihren Namen verraten? Ich finde, man kommt schneller in Kontakt miteinander, wenn man sich anreden kann.“ „Faßbender.“ „Faßbender?“ „Jawohl, Faßbender.“ „Dann ist Herr Viktor Faßbender …“ „Viktor Faßbender ist mein Bruder.“ Die Finger begannen in rasender Geschwindigkeit zu hämmern. 98
„Hören Sie, Frau Faßbender …“ „Fräulein Faßbender.“ „Also, Fräulein Faßbender …“ Weiter kam Brigitte nicht. Der Bürgermeister stand an der Schwelle der Eingangstür. Groß und dunkelhaarig, mit silbernen Schläfen, wirkte er flott und weltgewandt. „Bitte um Nachsicht, gnädige Frau“, begann er. „Es lag allerhand vor. Fräulein Faßbender, Sie kommen mit, ja? Wir brauchen das Protokoll.“ Er ließ Brigitte den Vortritt. Im Korridor übernahm er mit gefälliger Geste die Führung. Durch eine Flügeltür betraten sie den Gemeinderatssaal. Die Luft darin war zum Schneiden dick. Sie gingen durch prompt einsetzendes Schweigen hindurch an dichtbesetzten Stuhlreihen entlang zum Vorstandstisch. Dort deutete der Bürgermeister auf einen Sessel. Er wartete, bis sie Platz genommen hatte, setzte sich dann selber. Ihr Nachbar zur Rechten war Grothus. Fräulein Faßbender hockte unbequem in der Ecke. Sie hielt ihren Stenoblock auf den Knien. „ … Und hiermit“, schloß Racke seine kurze Einführung ab, „möchte ich unserm Gast das Wort erteilen. Bitte, gnädige Frau.“ Brigitte erhob sich, blickte nieder auf die Versammlung von Männern. Von irgendwoher, ziemlich weit unten, nickte Hagemeister ihr zu. Sie überschlug die Zahl: zwanzig, fünfundzwanzig – die meisten trugen ihr Arbeitszeug. Anfang der Dreißiger wie der Lehrer waren wenige. Aber der Lehrer war ja noch nicht einmal dreißig. „Meine Herren“, begann sie, „ich möchte mich ganz offiziell dafür bedanken, daß ich mein Anliegen hier vortragen darf. Ich hoffe, Sie verargen’s mir nicht allzusehr, 99
wenn ich erst heut aus meiner Anonymität heraustrete.“ Ihr Lächeln war genauso reizend wie alles übrige an ihr. „Einige unter Ihnen haben mein Interesse an dem Fall geweckt – aber was sage ich da: haben das Projekt in mir reifen lassen. Und so wandte ich mich an Ihr Oberhaupt, Herrn Bürgermeister Racke, und ich möchte Ihnen versichern: Alles, was ich vorhabe zu tun, soll Lemdorf zugute kommen. Mein Thema heißt Altmann. Mißverstehen Sie mich bitte nicht! Ich bin Journalistin, von Berufs wegen neugierig, mich fasziniert das Schicksal einer Frau, die, wie Sie alle ja wissen, unter tragischen Umständen aus dem Leben schied. Ich kann mir – als Frau, die mitten im Leben steht und das Leben genießt – ihre Tat überhaupt nicht erklären. Wenn Sie mich fragen: Ich halte die Altmann für geistesgestört. Aber ein Schatten ist auf Ihr Dorf gefallen, den möchte ich löschen. Ich will keine Ermittlungen anstellen, das macht die Kriminalpolizei – in den meisten Fällen mit geringem Erfolg. Wenn sie abgezogen ist, bleibt der Schatten – ich brauche nicht deutlicher zu werden. Ich möchte mit Ihrer Unterstützung dem Vorleben der Altmanns nachforschen, möchte die Frau und das Kind wieder zum Leben erwecken.“ Hier setzten die ersten Zwischenrufe ein. Racke rührte vergebens seine schwarzbestielte Glocke. „Aber, meine Herren“, rief Brigitte in den Saal, „ich will Ihre Ehre retten!“ „Kann jeder sagen“, hörte sie. Und: „Die will uns aufs Kreuz legen!“ „Paß Achtung, Burgemeester, da kann nichts Gutes bei rauskommen …“ „Immer nur einer auf einmal!“ Rackes Stimmaufwand war beträchtlich. „Was hast du gesagt, Hagemeister?“ 100
„Ich versuchte zu Gehör zu bringen, daß es mir aussichtslos erscheint, diesen außerplanmäßigen Punkt der Abstimmung zuzuführen …“ Grothus beschwichtigte den Tumult, indem er aufstand und gar nicht einmal laut seine Meinung kundtat. „Ihr habt schlechte Ohren, Mitbürger. Hättet ihr es denn lieber gesehen, Frau Strömberg wäre abgedampft wie der überspönige Bengel damals, der vom SPIEGEL? Was der so in Bausch und Bogen über uns berichtet hat, ging ja wirklich gegen unsre Reputation. In der Kneipe ist jeder redselig. Hinterher merkt man, man ist reingelegt worden. Im September war der Kohl noch frisch, und wir – konnten uns nicht wehren.“ Auf einen Wink von ihm setzte Brigitte fort: „Ich habe Kurznachrichten und auch den SPIEGEL-Artikel gelesen, Sie haben vollkommen recht, er ist sehr einseitig abgefaßt. Ich habe Akten studiert, soweit sie mir zugänglich waren, bin im Klinikum Dornburg gewesen – kurzum: ich meine, meine Verantwortung zu kennen.“ Sie versuchte den Faden endgültig zu knüpfen: „Ich möchte dieses Flüchtlingsdasein aufdecken.“ Racke ließ seine Glocke pingeln, obgleich das jetzt unnötig war. „Sie haben“, sagte er verbindlich, „von Ihrem Standpunkt aus völlig recht – ganz ohne Zweifel, gnädige Frau. Ich persönlich kann die Sorgfalt Ihres Vorgehens gar nicht genug bewundern. Aber da erhebt sich eine andere Frage, deren Berechtigung ich Sie einzusehen bitte: Was wird nach allen Ihren Recherchen aus uns? Trauen Sie sich zu, die Gewichte gerecht zu verteilen? Man hat schließlich Emotionen – eine Frau zumal, nicht wahr? –, Sie müßten das näher erläutern. Die öffentliche Meinung ist leicht zu beeinflussen, wir sind gebrannte Kinder, so ohne weiteres …“ Er verhielt. 101
„Immer raus mit der Sprache“, forderte Grothus. Racke verbeugte sich leicht vor Brigitte. „Wir müssen uns über – nun – gewisse Vorbedingungen einig werden.“ Brigitte erwiderte: „Herr Bürgermeister! Ich möchte herausfinden, was für ein Mensch die Tote war.“ „Einverstanden.“ Racke warf einen flüchtigen Blick in die Runde. „Trotzdem …“ Er zögerte, fuhr dann flüssig fort: „Können Sie uns, den Vertretern der Gemeinde, zusichern, daß Lemdorf außerhalb Ihrer Betrachtungen bleibt?“ „Mann! Racke!“ sagte Grothus mit seiner dröhnenden Stimme. „Lemdorf war immerhin der Schauplatz!“ „Ich käme nie zum Zuge, meine Herren, wenn ich den Ort verfremdete und nicht an Ihr Vertrauen appellieren dürfte.“ Brigitte sah zur Seite. Grothus hielt seine Augen auf sie gerichtet. Sie fand, die Augen lächelten, ohne zu lächeln. Ihr kam der Verdacht, daß er im Innersten festgefügte Vorstellungen hatte. In diesem Moment begann Grothus wirklich zu lächeln. „Ich muß“, fügte sie bei, „diese Sache von verschiedenen Richtungen her anpacken, aber Lemdorf – sagen Sie selber! – bleibt, wie Herr Grothus bemerkte, der Schauplatz, ich möchte noch weitergehen: der Ansatz, von dem aus die Lösung des Rätsels vielleicht in den Griff zu bekommen wäre.“ Grothus legte seine Hand auf Brigittes Hand, ihre Hand verschwand unter seiner breiten Pranke. „Meine Frau und ich“, sagte er, „würden uns freuen, wenn Sie uns besuchen kämen.“ Er nahm seine Hand fort, erhob sich, ging weg, ohne Racke eines Abschiedswortes zu würdigen. Der Versammlung winkte er nachlässig zu. 102
Racke sagte: „Falls keiner mehr etwas zum letzten Punkt der Tagesordnung vorzubringen hat …“, er sah Grothus nach, alle sahen Grothus nach, „ist die Sitzung geschlossen.“ 17 Thilde Grothus kam aus dem Pferdestall, als Grothus auf dem Hof erschien. Sie trafen sich unterhalb der Freitreppe, die ins Haus führte. In der Diele brannte ein anheimelndes Feuer im Kamin. Von der Balkendecke hing ein Adventskranz herab, groß wie ein Wagenrad, aus Kiefernzweigen geflochten. „Der Fuchs lahmt“, sagte Thilde. Sie trug Hosen und eine Wildlederweste über der Hemdbluse. „Was du lahmen nennst.“ „Vorsichtshalber hab ich Doktor Brandstätter angerufen. Hinrich kommt am Dreiundzwanzigsten, die Zwillinge bringt er mit.“ „Und Sabinchen?“ „Bleibt, wo sie hingehört.“ „Rabenmutter!“ „Und wenn du noch so vernarrt in deine Tochter bist, jungverheiratete Frauen sollen ihren Männern das erste Weihnachtsfest im eignen Heim richten. Philipp hat vollkommen recht.“ Grothus lachte auf, zog seine Frau an sich und drückte sie herzhaft. „Du und dein Herr Schwiegersohn, ihr seid euch einig! Wenn unser lieber Schwiegersohn nur erst mal auf eigenen Füßen stehen würde.“ „Er will’s ja“, entgegnete Thilde, „tut’s ja – beinahe“, fügte sie einschränkend hinzu. „Hättest du deine Tochter 103
weniger verwöhnt, käme sie mit seinem Assessorengehalt bestimmt zurecht, zumal ich ja mit Freßpaketen weiß Gott nicht sparsam bin. Er sieht’s nicht gern, daß du ihr immer wieder Geld zusteckst.“ Sie lenkte vom heiklen Thema ab. „Zieh deine Stiefel aus! Wie oft soll ich dir sagen, daß der Teppich kostbar ist.“ Grothus grinste breit. „Als ob dir das was ausmacht.“ Sie stutzte, lächelte und nickte ihm zu. Sie wußten, was sie voneinander zu halten hatten. „Na, setz dich schon“, sagte sie, „wie war’s, erzähl doch mal.“ Grothus richtete sich im Ohrensessel ein, sie saß auf der Lehne, geraume Weile beobachteten sie die brennenden Scheite, die knisternd Harz versprühten. Sie waren müde vom Tag, der nun hinter ihnen lag, von der rauhen Luft, in der sie die meisten Stunden verbracht hatten. Sie standen beide früh um fünf Uhr auf. Wohl und Wehe des Gestüts, das Nutzen abzuwerfen begann – „so peu â peu“, pflegte Grothus zu sagen, womit er die Tatsachen verkleinerte –, lagen in Thildes Hand. „Hättest Racke hören sollen …“ Grothus streckte die Beine aus. Thilde kümmerte es nicht, daß seine Langschäfter über den neuen, sehr teuren leuchtendroten Hirtenteppich schurrten. „Racke ist mir Wurscht“, sagte Thilde. Grothus griff nach seiner Lieblingspfeife, stopfte sie mit dem Tabak aus der Kruke, die neben dem Pfeifengestell stand, zündete den Tabak an. Das war auch wieder eine Zeremonie. Sie nahm Zeit in Anspruch, aber jetzt hatten sie Zeit. Seine launige Schilderung quittierte Thilde mit entsprechenden Kurzkommentaren. So verbrachten sie eine ihrer unterhaltsamen Stunden vor der Abendmahlzeit. Sie langweilten sich nie miteinander. Es 104
gab zwischen ihnen auch kaum Geheimnisse. Thilde war tolerant. In dieser Sache sah sie fürs erste nur den Spaß, sie sah in vielen Dingen nur den Spaß. „Das hast du fein gemacht“, lobte sie. „Ich glaube, deine Dame Strömberg wird mir gefallen.“ Grothus wurde es unbehaglich. „Ich hab Auskünfte eingeholt“, sagte er hastig. „Ach.“ „Man muß sie ernst nehmen.“ „Was du nicht sagst!“ „Nun mach dich nicht lustig, Thilde.“ „Mein lieber Mann, davon bin ich weit entfernt. Vergiß du nur ja nicht, daß Dame Strömberg ernst zu nehmen ist.“ „Ich hab sie schließlich zu uns eingeladen.“ „Ausgezeichnet – aber zieh auch du mal Konsequenzen in Betracht.“ „Konsequenzen?“ fragte er töricht. Thilde erhob sich lässig. Plötzlich lag wieder dieser aufreizende Zauber über der grazilen Gestalt, der sich nicht fassen ließ. Grothus sog betreten an seiner Pfeife, konnte aber nicht aufhören, sie anzustarren. In dem schmalen, dem rassigen Gesicht glaubte er die Konterfeis ihrer Ahnen abgebildet zu sehen – große Herren, sie hatten hohe Ämter im versunkenen Reich innegehabt, in Preußen, dem Staat, der ausgelöscht war; große Damen, sie hatten Intrigen gesponnen, waren zu gefährlichen Amouren bereit gewesen zum Ruhme des alten Geschlechts, dem sie angehörten oder durch Heirat – Ehekontrakte hatte man so etwas dazumal genannt – verbunden waren. Er sah seine unkonventionelle Thilde, und er sah auch den Leichtsinn so manchen schwarzen Schafs in der Sippe – sie hatte 105
ihm mit Vergnügen Anekdoten über wunderbare Abenteuer mitgeteilt, es war ihm mitunter die Ahnung gekommen, als liebe sie vor allem jene tollen Abtrünnigen, als verachte sie die anderen –, und er sah die weiten Ebenen und Wälder jenseits der Weichsel deutlich vor sich … Und es wurde ihm wieder einmal heiß, weil sie kühl blieb. „Vergiß nur ja nicht“, sagte sie, „daß du mit deinen Aufschneidereien auch mal an die falsche Adresse geraten kannst. In Focks Schenke hast du ein empfängliches Auditorium, aber die Strömberg, du Prahlhans, gehört in eine andere Kategorie.“ Grothus, plötzlich sehr kleinlaut, wußte wieder einmal: Es nützte nichts, daß er mit seiner Pfeife einen großartigen Halbkreis beschrieb. 18 Racke verlangsamte die Fahrt, als er am Marktplatz einbog. Aber dann sah er Hagemeister den Löwen betreten und Schröder um die Ecke kommen. Da gab er sein Vorhaben auf. an Focks Theke ein Helles zu trinken. So friedlich war der Abend, so ruhig und still. Das Dorf lag im Vollmondschimmer, die Felder waren verschneit, dunkel erhob sich die Kulisse des Waldes dahinter. Racke fuhr an seinem Hof vorbei, der nie ihm gehört hatte und niemals ihm gehören würde. Solange sein Schwiegervater, der alte Isernhagen, gelebt hatte, hatte er dem gehört. Jetzt gehörte er seiner Frau. Racke fühlte sich erschöpft, er hatte wieder einmal viel zu ausgiebig im viel zu engen Sitzungssaal des Kreisamtes gesessen. In den Parlamentspausen ging die Debatte im Vestibül weiter. Er rauchte entschieden zuviel. Er konnte 106
sich nicht genügend Bewegung machen, um körperlich wieder fit zu sein wie früher. Irgendein Vorstandsmitglied war neuerdings immer anwesend. Hörte zu. Machte Notizen. Kargte mit Lob, tadelte um so mehr. Man mußte ständig auf der Hut sein, sich keine Blöße zu geben. Deshalb blieb man bei seiner Fraktion, statt sich im Freien die Beine zu vertreten. Heute hatte der Mann aus der Parteizentrale ihn zu sich herangewinkt. „Sie müssen angreifen, bester Racke, Sie sind doch nicht bloß zur Staffage in den Kreistag gewählt worden. Wir hatten Großes mit Ihnen vor, lieber Racke. Aber so geht das wirklich nicht. Die Zeiten, wo unsere Kandidaten auf der kommunalen Ebene nur dazusitzen brauchten, sind vorüber. Ist Ihnen denn Ihr ganzer Elan abhanden gekommen? Gerade Sie sollten doch inzwischen begriffen haben, gerade Sie, Racke …“ Racke, in dem ein nur oberflächlich betäubter Nerv zu zucken begann, hatte sich gewehrt: „Wir sind hier nicht in Bonn.“ „Eben“, hatte der andere erwidert, „bedenken Sie das bitte im Hinblick auf Ihre Position.“ Racke hielt am Waldrand an, ging ein paar Schritte. Das froststarre Gras knisterte unter seinen Sohlen. Man müßte, dachte er und verdrängte damit alles, was ihn bedrückte, mal wieder auf die Jagd. Und schon überlegte er, wie er seiner Frau beibringen würde, daß er im morgendlichen Dämmerdunkel aufbrechen wollte, um Hasen oder ein paar Fasanen zu schießen. Er war ein guter Schütze. Er erlag der Versuchung, der rauhen Wirklichkeit des Daseins durchs Tor seiner Phantasie zu entschlüpfen. Und er sah sich, wie er, die Doppelflinte über der Schulter, seinen Hof betrat, dann das Haus, wie er die Flinte in den Flurschrank stellte, sich auf dem Läufer an 107
der Tür freiwillig die Stiefel auszog, und er ging auf Strümpfen; es war eine wunderbare Empfindung, über das warme Holz der Fußböden zu laufen, dann in warme Puschen zu schlüpfen, und er trug die Fasanen in die Küche und hielt seine Hand unter die Hälse, um das Blut abzufangen, das in der Wärme wieder zu fließen anfing, und Lisbeth sagte, daß sie sich freue – über die Hasen und Fasanen, vor allem aber über seine Rückkehr. Und er ging hinüber zur Eßecke, roch den Duft des frisch gefilterten Kaffees, und Lisbeth sagte: „Probier doch mal die Stolle, Liebling“, und die gute Zigarre, die erste des Tages, schmeckte herb und köstlich. Er knöpfte seine Joppe auf, sie nahm ihm die Joppe ab, und die Kissen auf der Bank empfingen freundlich sein Gewicht. Seine ganze Sehnsucht lag in diesem Vexierbild, so heimzukehren aus rauher Luft in ein behagliches Nest. Er zog fröstelnd die Schultern hoch und stapfte zum Wagen zurück. Er ließ den Motor an, wendete, fuhr los. Rollte wenige Minuten später in das von Gebäuden umstellte Geviert des Hofes, dann in die Garage, verschloß die Garage, verschloß das mächtige Flügeltor. Sein Jüngster sprang ihm entgegen. Racke fühlte sich weniger belastet, während er, das Kind an der Hand, zum Wohnhaus hinüberging. Auf dem zerschlissenen Kokosläufer im Vorflur zog er die Schuhe aus, schlüpfte in die bereitstehenden Pantoffeln, brachte seinen Mantel sorgfältig im Wandschrank unter, folgte dem Jungen in die riesige Küche. „Du kommst spät“, begrüßte ihn seine Frau. „Geh nur erst und wasch dich.“ Sie stach mit einer Gabel in die Kartoffeln, um nachzuprüfen, ob sie gar wären. „Gib Obacht auf den Anzug, tu die Hosen in den Spanner, häng die Jacke auf den Bügel.“ 108
„Tag, Lisbeth“, sagte er. „Laß deine Klamotten zum Auslüften draußen.“ Sie rückte Töpfe, hob Topfdeckel, bediente die Knöpfe des elektrischen Herdes, ohne sich umzudrehen. „Ich hätte gern was zu trinken“, sagte er. „Du kriegst schon noch dein Bier, aber erst wird gegessen.“ „Ich möchte Tee – mit Rum, falls du nichts dagegen hast, mir ist kalt.“ „Erst wird gegessen, beeil dich, Mann, vom Essen wird dir schon warm werden.“ Es war ein gutes Essen nach Lisbeth Rackes Auffassung. Sie kochte, wie sie es gelernt hatte, geizte weder mit Fett noch mit Fleisch. Heute gab es Grünkohl, Räucherspeck und Schweinebauch. Auf dem lädierten Wachstuch standen zwei irdene Schüsseln, irdene Teller, die billigen Bestecke waren vom langen Gebrauch verbogen. Neben sich hatte Racke seinen Jüngsten. Sein Ältester, der sechzehnjährige Ludwig, schaufelte gierig gewaltige Portionen in sich hinein. Die fünfzehnjährige Karin sah ihm angewidert zu. „Wie steht’s mit euren Zensuren?“ fragte Racke. „Scheiße“, sagte Ludwig und stopfte weiter. „Also miserabel“, stellte Racke fest. „Wird Zeit, daß du was unternimmst“, sagte Lisbeth scharf, „wozu sitzt du eigentlich im Parlament? Diese Lehrer heutzutage haben bloß ihren eigenen Vorteil im Kopp.“ „Scheißpauker.“ Ludwig gähnte. „Laß man, Mama, lohnt doch nich, ich will ja man Bauer werden, und der bin ich ja schon!“ „Willst noch was?“ fragte Lisbeth zärtlich. 109
Racke wandte sich ab. „Und du, Karin?“ fragte er. „Deutsch macht mir Kummer. Aber in Mathe bin ich die Beste.“ „Kommt drauf an“, sagte Lisbeth, „ob dein Vater damit zufrieden ist. Dein Vater stellt hohe Ansprüche.“ Karin zeigte mokante Grübchen. „Ob Vater zufrieden ist? Das ist ja irr interessant. Um Gottes willen, Ludwig, hör endlich auf, der verdammte Kohl kommt dir ja aus den Ohren raus, hör auf zu schmatzen.“ „Halt’s Maul, dämliche Zicke!“ „Streitet euch nicht, euer Vater hat einen anstrengenden Tag hinter sich, an meine Mühsal denkt sowieso keiner. Schau mal im Hühnerstall nach, Ludwig, regulier mal die Temperatur, es wird kalt werden heut nacht.“ „In Ordnung, Mama, das altmodische Ding von Heizschlange krepiert bald, wir sollten was Richtiges einbauen lassen.“ Lisbeth runzelte die Stirn. Ihre Hand, die auf dem Wachstuch lag, ballte sich so fest, daß die Knöchel beinfarben hervorstanden. „Können wir uns nicht leisten“, sagte sie böse. „Hast du eine Rede gehalten, Vater?“ fragte Karin. Er liebte die Art, wie sie ihn Vater nannte, nicht Papa, er nickte ihr zu. „Wie oft soll ich dir noch sagen, Karin, daß ich an deiner Stelle nicht in Hosen rumlaufen würde – du bist zu pummelig dafür.“ Karin fuhr herum, ihre Zähne schimmerten weiß. „Ach“, entgegnete sie, „findest du, Mama? Findest du wirklich, daß ich zu dick bin? Weißt du, Mama, dann würde ich an deiner Stelle doch sparsamer werden mit Kalorien, ich bin ja keine Schwerstarbeiterin, ich bin ja eine Geistesarbeiterin.“ Ihr junges Gesicht war trotzig. 110
Racke hätte sehr gern aufgelacht. Er begnügte sich mit einem albernen Kichern, das er gerade noch rechtzeitig in unverfängliches Räuspern übergehen ließ. „Nein“, sagte Lisbeth, „du bist natürlich nicht dick, du siehst pummelig aus, wenn du Hosen anhast. Es schickt sich nicht, daß ein Mädchen immer nur Hosen trägt. Dein Schrank hängt voller Röcke und Kleider. Als ich jung war …“ „Ich fühl mich wohl in Hosen, Mama, alle Mädchen in meiner Klasse tragen Hosen, und ich finde überhaupt nicht, daß ich pummelig bin.“ Jetzt schoß sie einen wohlberechneten Pfeil ab. „Schließlich habe ich Vaters lange Beine mitbekommen – Gott sei Lob und Dank! Findest du auch, Vater, daß Hosen nicht zu mir passen?“ Racke betrachtete seine Tochter. Selbst wenn sie dick gewesen wäre, hätte er das Gegenteil behauptet. Bei richtiger Ernährung würde sie mit siebzehn schlank wie eine Gerte sein. Sie darf hier nicht verkümmern, dachte er, sie soll nicht so werden wie ich. „Du kannst gut Hosen tragen, meine Kleine“, erwiderte er spontan. Lisbeth kochte vor Wut. „Ins Bett mit dir, Rudolf!“ befahl sie. „Du, mein Fräulein, besorgst den Abwasch.“ „Mit dem größten Vergnügen“, entgegnete Karin schnippisch. „Laß sein“, sagte Lisbeth, „geh auch ins Bett, paß auf, daß Rudolf sich die Ohren wäscht.“ „Wie du wünschst, Mama. Komm, Rudi.“ Rackes Jüngster küßte seinen Vater, streifte oberflächlich mit seinen Lippen die Wange seiner Mutter und lief weg. Seine Schwester erwischte ihn an der Tür, die beiden verschwanden aus der Küche. Hände in den Taschen seiner ausgebeulten Jeans, folgte ihnen Ludwig, gelangweilt, mürrisch – Ludwig, Hoferbe, dickfellig und schlau. 111
Aus purer Trägheit war Ludwig so schlecht im kreisstädtischen Gymnasium, daß Racke sich dieses Sprößlings schämte. Er mochte Ludwig nicht, Ludwig war ihm fremd, Ludwig erinnerte ihn in seiner boshaften Anmaßung allzusehr an das sture Geschlecht niedersächsischer Bauern, in welches er eingeheiratet hatte. Ihr dumpfer Verstand war stärker als seine schnelle Intelligenz. Er beobachtete Lisbeth, die den Tisch abgeräumt hatte und das Geschirr schon zum Trocknen stapelte. „Hat’s dir geschmeckt?“ fragte sie obenhin. „Ja, danke – vorzüglich“, erwiderte er und hätte doch sagen mögen, sagen müssen: So ein Fraß … „Willst du Bier oder Tee?“ „Tee.“ Der Tee war im Handumdrehen zubereitet, eine hellgelbe Flüssigkeit in irdener Kanne, deren Tülle schadhaft war. Racke griff nach der Rumflasche, goß davon in seine Tasse, goß tüchtig ein. Und sprach zu sich: Ich hab’s verdient, verdammt noch mal, weil ich gerade von der Jagd zurück bin. Er trank seine Tasse halbleer und füllte Rum nach. Lisbeth fädelte eine Nähnadel ein, nahm eine vielfach geflickte Arbeitsjacke von Ludwig zur Hand, begann den Ellenbogen zu stopfen. Sie sagte, über ihre Brille hinwegblickend: „Eine günstige Zeit hat sie sich ausgesucht.“ „Wer?“ „So vor Weihnachten, da sind alle Schleusen geöffnet. Sie geht raffiniert zu Werke, sie fängt unten an.“ „Wer?“ „Wer – wer sonst als diese Schnüfflerin.“ „Wie oft soll ich dir noch erklären …“ „Du brauchst mir nichts zu erklären, gar nichts. Sie wird dir schaden, das ist alles.“ 112
„Dir etwa nicht?“ „Wieso mir? Bin ich der Bürgermeister von Lemdorf? Und Kreistagsabgeordneter? Möchtegern-Kandidat für den nächsten Landtag?“ „Nein“, sagte Racke und zündete sich mit zitternden Händen doch noch eine Zigarette an, „du bist die Tochter vom alten Isernhagen, der das größte Anwesen im Ort besaß und Erbhofbauer war.“ „Grothus hat uns längst eingeholt – und warum? Grothus ist Landwirt, du bist keiner.“ „So deutlich warst du noch nie, aber“ – Racke versuchte Widerstand zu zeigen – „schließlich hast du ja gewußt, wen du geheiratet hast. Warum“, lenkte er ein, „hocken wir eigentlich immer in der Küche?“ „Deine Ansprüche!“ höhnte Lisbeth. „Ansprüche?“ „Wir haben kein Dienstmädchen.“ „Keine Hausangestellte“, berichtigte Racke. „Warum haben wir keine?“ „Frag dich das doch selber! Kann sein, ich lehne jugoslawische Dienstmädchen ab, so welche waren bei uns nie üblich. Allenfalls hatten wir Polinnen – für den Acker, ja. Für drinnen gab’s Leute genug im Dorf. Eigene Leute. So Leute wie …“, sie ließ eine Pause verstreichen, „diese Altmann. Du bist im Dorf hängengeblieben wie Thilde Grothus, bloß ’n bißchen später. Aber deine Mitgift“, fuhr sie giftig fort, „bestand aus nichts als ’ner ramponierten Uniform.“ Er stützte den Kopf in die Hände, der Druck in seinen Schläfen steigerte sich bis ins unerträgliche. War das sein Leben? Er starrte die Frau an, der er alles verdankte. Sie schien seinen Blick nicht zu bemerken. Sie war mit Ludwigs Arbeitsjacke beschäftigt. Er dachte daran, wie er 113
durch sie ein Mann von Ansehen geworden war, wie er vorangekommen war mit ihr an seiner Seite, und er sah Thilde vor sich, die Grothusens Streben beflügelt hatte, den Umkreis des Dorfes zu sprengen. Mit allen Mitteln wollte er ihr einen Herrensitz schaffen, der annähernd dem gleichen sollte, von dem sie vertrieben worden war. Und nun ließ er wieder einmal seinem Neid, seiner Unzufriedenheit die Zügel schießen: Er hieß einfach Racke, hatte nichts eingebracht und konnte mit der Weiland Komteß Kniphoff mit ihren verlorenen dreißigtausend Morgen fern im Osten an keinem Ende konkurrieren. Er hieß bloß Racke. Racke, Alfons. „Was meinem Vater genügte“, hörte er Lisbeth sagen, „müßte eigentlich auch dir genügen.“ „Mir genügt ein Butterbrot“, entgegnete er, „aber wenn du Frau Grothus schon erwähnst, die ist in allen Stücken die Gefährtin ihres Mannes.“ „Eine Zugereiste“, äußerte Lisbeth. Sie ergänzte hämisch: „Wie sich die Dinge entwickelt haben – sehr vermögend. Mit der kann ich mich doch nicht messen. Ich bin keine Adlige, ich bin eine schwer schuftende Bäuerin; wenn ich nicht wäre …“ „Sehr richtig“, fiel Racke ein, „nun laß mal dein Flickzeug, so arm sind wir nicht dran, und nimm auch mal ’n Schuß Rum in deinen Tee.“ „Ich brauche das nicht.“ „Was heißt brauchen, Lisbeth.“ „Kannst ruhig sagen, wie dir ums Herz ist – du meine Güte! Du möchtest vorm Kamin in Grothusens Halle lümmeln und Thilde – ja, doch – Thilde anschmachten. Das wär was für dich, wo die doch in ihrem Haus mit allem von früher aufgeräumt hat und Spitzen am Nachthemd trägt – so Nachthemden, wo man durchgucken 114
kann, trägt die bestimmt. Für mich ist das nichts, für mich gibt’s keinen alten Plunder. Ich will nichts verändern. Hier aufm Hof. Es is mein Hof.“ „Er soll dein Hof bleiben.“ Racke beherrschte sich. Er sprach ruhig, sagte im Ton sanfter Überredung, der ihm häufig Erfolge eingetragen hatte, denn man schätzte ihn allgemein als guten Redner: „Du würdest klug handeln, Frau Strömberg an einem der nächsten Nachmittage zum Kaffee einzuladen. Du bist klug, Lisbeth, und deine Christstollen suchen ihresgleichen, sie sind unübertroffen …“ Lisbeth schnitt ihm das Wort ab. Ihre Miene war eisig. „Ich denke nicht dran“, sagte sie. „War ich nicht auch dir von Nutzen, Lisbeth?“ „Du hast mich benützt, um alles zu werden, was du geworden bist.“ „Wir haben drei Kinder zusammen.“ „Um vorwärtszukommen, ja; dazu hast du mich benützt.“ Racke sagte: „Du hast die Wahl, selbstverständlich …“ Es lag auf einmal etwas in seiner Stimme, das seine Frau zum Aufhorchen zwang. 19 Brigitte war nun bekannt in Lemdorf. Ihr allmorgendliches Erscheinen bewegte die Gardinen rund um den Marktplatz nicht mehr. Beim Bäcker kaufte sie Brötchen, die Bäckersfrau sagte: „Guten Morgen, Frau Strömberg, vier Stück wie üblich?“ Eines Tages erwarb sie beim Fleischer eine ganze Schlackwurst, die wollte sie nach Hamburg oder nach Dornburg mitnehmen, sie war sich noch nicht schlüssig, 115
wo sie das Fest verbringen würde. Und die Fleischersfrau sagte: „Das ist aber mal fein, Frau Strömberg, daß Sie uns beehren!“ Sie ging in Schröders ländlichen Supershop. Schröder saß hinter dem Tresen an der Kasse. Sie verlangte Zigaretten. „Ihre Marke – bitte sehr.“ Schröder hatte ins Regal gegriffen, schob ihr die Packung zu. Strich Münzen ein. „Man hört allerlei – Sie machen sich’s nicht leicht. Darf man fragen …“ Der Zug von Neugier in seinem Gesicht erlosch. „Stets zu Diensten, gnädige Frau“, schloß er knapp. Brigitte drehte den Kopf zur Seite. In Hörweite hatte Lisbeth Racke zwischen Stapeln von Gewürztüten zu kramen begonnen. Draußen lief ihr Hagemeister über den Weg. „Guten Tag, Frau Strömberg.“ „Ah, Herr Postsekretär, Runde schon beendet?“ „Breche eben zur zweiten auf – Festtagsrummel, nicht wahr? Meine Gattin möchte Ihnen gern ihre Heidesandplätzchen präsentieren.“ „Empfehlen Sie mich Ihrer Frau, ich komm morgen bei Ihnen vorbei. Paßt es?“ „Aber gewiß doch – jederzeit.“ Dann traf sie den Revierposten. „Tag, Herr Polizeiobermeister.“ „Guten Tag, Frau Strömberg, leider bin ich im Dienst.“ „Ich will Sie nicht stören.“ „Wie wär’s heut abend – haben Sie was Besseres vor?“ „Aber nein.“ „Wir essen Punkt sieben.“ „Schönen Dank für die Einladung.“ – „Also wissen Sie, Frau Strömberg, ich sage immer: nichts gegen den Käfer. Wohin soll denn die Reise gehen? 116
Kleinigkeit, die Durchsicht – ich meine, diesmal. Dafür brauchen Sie nichts zu bezahlen. Nichts da, das ist mein Wort, und Bartels hält sein Wort. Ruth – komm doch mal raus! Hier – meine Frau.“ „Da freu ich mich aber, daß ich Sie kennenlerne, Frau Bartels.“ „Ganz meinerseits, Sie müssen mal privat zu uns kommen.“ „Ich hab Ihren Gatten als Strohwitwer in Focks Gasthaus erlebt.“ „Hat er sich schlecht benommen?“ „Überhaupt nicht, er blieb mehr als nüchtern.“ „Ehrlich?“ „Ganz ehrlich – ich schwöre.“ Kurze Pause. „Ich war mal wieder drüben bei meiner Schwester in Mecklenburg. Mein Schwager hat da auch eine Autoreparaturwerkstatt, es geht ihnen gut.“ „Das interessiert Frau Strömberg nicht.“ „Doch, doch, Herr Bartels, verstand ich recht, sagten Sie Mecklenburg?“ „Ich bin da geboren.“ „Nun laß, Ruth.“ Wären die Altmanns, dachte Brigitte, aus Mecklenburg getürmt – komischer Ausdruck: getürmt –, man hätte ihnen unter Umständen einiges nachgesehen. Ihre sächsische Herkunft, das Sächsische – das Idiom … „Wann dürfen wir Sie erwarten?“ „Oh, entschuldigen Sie, ich war mal eben geistig weggetreten.“ „Macht nichts, kommt vor. Wir haben was auf dem Herzen, das möchten wir gern loswerden, nicht wahr, Ruth?“ „So ist’s, Will“, stimmte die Frau zu. 117
„Flotter Schlitten“, sagte Spengler. „Würd ich mir anschaffen, wenn ich könnte. Wer leistet sich denn dieses rasante Modell?“ „Der Wagen gehört Frau Grothus“, erwiderte Bartels knapp. „Unser Käfer aus Wolfsburg bleibt da freilich konkurrenzunfähig.“ „Wieso unser?“ fragte Bartels. „Ach, wissen Sie, meiner drüben an Ihrer Tankstelle gleicht doch dem der Strömberg. Den hatten Sie in Pflege, wie die von uns sichergestellten Rechnungen ausweisen. Sie sind Fachmann: Ist es vorstellbar, daß das Auto der Verunfallten der Verkehrssituation nicht gewachsen gewesen sein könnte an jenem – nun – Unglückstag?“ „Ausgeschlossen“, sagte Bartels, „völlig ausgeschlossen. Kommen Sie rein und überzeugen Sie sich selber anhand der Details in meiner Kundenkartei.“ „Deshalb bin ich hier“, versetzte Spengler mit entwaffnender Freundlichkeit. „Nicht nur deshalb“, fügte er hinzu. 20 Gegen fünfzehn Uhr langte Brigitte vor dem Haus an. Aus der Schreinerei jenseits des Gartenzauns lärmte die Kreissäge. Auf der Vortreppe saß eine Katze und putzte sich. Noch bevor sie den Messingklopfer gerührt hatte, tat sich die Eingangstür auf. Eine alte Frau stand in der Öffnung. „Immer herein mit Ihnen“, sagte sie. Brigitte ließ sich durch den schmalen Korridor in die Stube führen. Der ovale Tisch dort war zum Kaffeetrinken gedeckt. 118
„Nun setzen Sie sich mal.“ Frau Faßbender deutete auf das geschwungene Ecksofa. Nachdem sie ihren Gast mit allem versorgt hatte, setzte sie sich im Sessel zurecht. „Wer hätte das gedacht“, fing sie an, „daß ich mal Besuch von einer Hamburger Journalistin kriegen würde.“ In ihren Augen blitzte der Schalk. „Hoffentlich“, entgegnete Brigitte, „überschätzen Sie’s nicht wie die meisten hier. Sie stellen sich nicht etwa gegen mich, aber ich hab so den Eindruck, als wär ich die Schlange, und sie legten’s drauf an, das Kaninchen zu sein.“ Es war ihr entschlüpft, sie forschte den Gründen dafür nicht nach. Es war heraus, rückgängig machen konnte sie es nicht. Frau Faßbender lächelte. „Einen Namen muß ein Ding ja haben. Kosten Sie mal von dem Pfefferkuchen da, den Teig hab ich im Oktober geknetet und stehenlassen. Gut Ding will Weile haben, sag ich immer – wie beim Pfefferkuchen. Und nun schießen Sie mal los.“ Brigitte gab sich keine Mühe mehr, den Rücken gerade zu halten. Draußen sank die Dämmerung. Bald würde nur noch diese Stube dasein mit den dunklen alten Möbeln und den hellgetünchten Wänden. Jeder Raum, den die Alte bewohnte, wäre zweifellos so ein guter Raum, einfach weil sie eine gute Frau war. In Brigitte regte sich etwas wie ein dankbares Gefühl, daß sie in dem simplen Zimmer sitzen und ausruhen durfte. „Nun mal frei von der Leber weg.“ „Ach …“, war alles, was Brigitte zu erwidern vermochte. „Man erzählt im Dorf, Sie haben so ein kleines Ding in der Handtasche, das hält alle Geräusche fest.“ Geräusche, dachte Brigitte. Sie blickte auf. Frau Faßbender nickte ihr ermunternd zu. „Bisher“, sagte sie, „hab ich tatsächlich nur Geräusche auf meinem Band.“ 119
„Von Stimmen?“ „Ja“, bestätigte Brigitte. „Aber das is doch was, Stimmen bedeuten immer was – Menschenstimmen.“ „Nach meinem ersten Besuch in Focks Kneipe“, sagte Brigitte, „schien alles hübsch übersichtlich ausgebreitet zu liegen: Dorfgequassel und Kleinkrieg. Seither, ich meine, nach der Gemeinderatssitzung, wo ich als letzter Punkt auf der Tagesordnung stand, ist alles … Wie soll ich’s erklären …“ „Verschwommen“, ergänzte Frau Faßbender. „Ich hab seitdem bestenfalls entdeckt, daß die Lemdorfer umgänglich und arbeitsam sind.“ „Nur weiter“, forderte Frau Faßbender. „Sie möchten bezeugen, daß sie mit der Sache eigentlich gar nichts zu tun hatten. Ich kann mich ja irren, aber ich komm von dem Verdacht nicht los, sie geben ihre Äußerungen von sich, als säßen sie vor der Fernsehkamera. Und wenn ich meine Fragen stelle und ihnen dann zuhöre, scheint hinter ihren Worten eine stumme Zone zu sein. Manchmal erstarren ihre Gesichter oder werden argwöhnisch. Im Grunde will keiner was mit der Tragödie zu schaffen haben.“ „Ich kenne meine Lemdorfer.“ Frau Faßbender nickte langsam. „Mit den Männern“, setzte Brigitte fort, „ist es leichter als mit den Frauen.“ Frau Faßbender lachte kurz auf. „Ja, ja“, sagte sie, „die Frauen von Lemdorf.“ „Sie bewirten mich reichlich, sobald ich aber zum Thema komme, verstecken sie sich. Da müssen Sie meinen Mann nach fragen, sagen sie, da hab ich mich nie drum gekümmert, hab ich gar keine Zeit für mit’m 120
Federvieh un’m Schwein im Koben. Was mein Mann is, der fährt ja nach auswärts auf Arbeit, aber ich helf beim Dreschen. Sicher benötigt Herr Grothus auf seinem Gut …“ „Grothus?“ fragte Frau Faßbender. „Da haben Sie sich aber bannig verkalkuliert. Grothus hat Maschinen un ’n Stamm von Leuten, der braucht keine Tagelöhnerinnen mehr.“ Brigitte schaute abwesend zum Fenster. „Ich helf beim Rübeneinbringen und Dreschen.“ Sie machte eine Pause, bevor sie, die Stimme hebend, schloß: „Aufm Hof von Lisbeth Isernhagen.“ „Schon besser“, sagte Frau Faßbender, „so liegen Sie richtiger.“ „Endlich mal eine unzweideutige Antwort! Wenn ich an Ihre Tochter denke – also die läßt mich überhaupt nicht an sich heran. Ich hab ihr zwar nichts getan, aber aus unerfindlichen Gründen mag sie mich nicht. Dabei muß sie doch aus erster Hand über alles Bescheid wissen – als Sekretärin Ihres Bürgermeisters.“ Die Alte bekam einen strengen Mund, sie war plötzlich zugeknöpft. „Jeder hat seine Mucken“, erklärte sie spröde. „Richtig“, stimmte Brigitte rasch zu, „mir geht’s ja genauso, nach des Tages Last und Plagen will ich auch meine Ruhe haben. Bitte, Frau Faßbender, ich bin ein bißchen deprimiert, mit meiner Kunst fühl ich mich am Ende; falls mir jemand helfen kann, sind Sie’s. Wer war die Tote?“ Ida rührte angelegentlich in ihrer Kaffeetasse. Sie schwieg erst noch, dann fing sie anders als vorher zu sprechen an, sie redete im Ton alter Frauen, und sie fiel auch ins heimische Platt. „Ach ja“, sagte sie, „ja, ja, wenn man so zurückgezogen lebt wie ich, da könnt man 121
ja wahrhaftigen Gotts sagen: Ik weet von nix. Min Mann künnt Sei nich froagn, de leiht upn Kirchhop, wenn de oaber noch leb’n deiht, würd de mit mischt nich rutrücken. Sei möten dat verstahn. Min Mann wassen ganz Stillen un man jümmer vörsichtich, möt de ja ok sin. Viktor, dat is min jüngsten Sön, de will un will dat nich begriepen, brukt de jo ok nich. Wie de Altmannsche utseihn hett, da möt ik mi erst drup besinn, aber de lütje Deern, ja, de kam ja man letzten Sommer oft hir vörbi. Ich hab sie reingeholt un hab ihr ’n Rhabarberblatt voll Himbeeren geschenkt. Manisch Mol hebben wi ok ’n Becher Melk oder ’n Taß Kakau tosamm trunken. Wi hebbn up de Vörtrepp säten. Hebbn wi – jo. Ich hab ihr Märchen erzählt, das von der Frau Holle un von Goldmarie un Pechmarie wollt se jümmer wedder hürn. Ich muß wohl so was wie ne Oma für die Lütte gewesen sein. Ihre eigenen Omas waren ja weit wech. Se hett mi de Dorpgörn rumtolln sall’n, oaber se wullt nu mol mine Störeken hürn un mit min Kater Murr speeln. Ik weet ja nich, de Kinnings mögen mi, heww ja selber fiw hadd. Min Enkel wohn ok wid weg, ik komm mi ok mitdewil verlaten vör.“ Ida fuhr sich über die Stirn, stand resolut auf, sagte, daß sie eine geschwätzige Trine sei und nun erst mal Licht machen wolle. Im Schein der Stehlampe – vermutlich einem Geschenk eines Sohnes oder einer Tochter – glich ihr Gesicht nun ganz einem alten Holzschnitt, einem von Meisterhand. „Ihnen geht’s um Altmanns“, sagte sie, „dagegen hab ich nichts, aber daß die Bauern schwer zu knacken haben und sich allerwegen nach der Decke strecken müssen – davon habt ihr Städter keine Ahnung! Ein paar Leuten geht’s ja prima, da seht ihr drauf und fragt nicht weiter. Ich 122
red nicht vom Grothus. Dem Bartels geht’s prima, den braucht ja jeder, dem Löffelholz geht’s auch prima, den kümmert nichts, seit er den Einfall gehabt hat, allen möglichen Ramsch von den Dachböden runterzuholen und auf antik zu polieren – so nennt ihr Städter das ja wohl. Den Stefan nebenan interessiert blot sin Geschäft …“ Brigitte hörte nicht mehr zu. Ganz deutlich sah sie die Werkstatt des Tischlers vor sich. Der vierschrötige Mann lotste sie von den Hobelbänken weg in sein Büro. „Ich hab von Ihrer Kunstfertigkeit Wunderdinge gehört, Meister …“ 21 Spengler sagte höflich danke, als Löffelholz ihm seine Legitimation zurückreichte. Er klappte die Brieftasche zu, schob sie in die Brusttasche seines Sakkos. „Lieber Herr“, sagte Löffelholz, „fassen Sie sich kurz, klauen Sie mir nicht meine Zeit. Bei mir sind Sie ohnehin an der falschen Adresse.“ Spengler entgegnete: „Das herauszufinden, bin ich hier, Meister. Mein Beruf verpflichtet mich dazu, Fragen zu stellen.“ Löffelholz holte tief Luft. „Na schön“, sagte er. „Wie ging Ihre Begegnung mit Frau Strömberg vor sich? Erzählen Sie mir einfach mit Ihren Worten alles, was in Ihrem Gedächtnis haftengeblieben ist.“ „Sie war man bloß beeindruckt.“ „Weiter“, ermunterte Spengler. „Ich hab gesagt …“ „Ja?“ „ … die Handtasche lassen wir mal hübsch zu.“ 123
Löffelholz biß sich auf die Lippen. „Gehört nicht her“, sagte er. „O doch, Meister – warum sollte die Handtasche denn geschlossen bleiben?“ „Geht Sie ’n feuchten Kehricht an.“ „Sagen Sie das nicht, Meister, auch wenn’s Ihnen so vorkommt. Wie war das mit der Handtasche?“ „So was spricht sich ja rum, ich wußte, sie hatte ’n Kassettenrecorder in ihrer Handtasche, und da hab ich zu ihr gesagt, wir müßten uns erst einig werden, Reklame jederzeit angenehm.“ Spengler nickte zustimmend. Löffelholz plumpste ein Stein vom Herzen, Spengler beobachtete, wie seine Stirn sich glättete. „Sie hat prompt reagiert, okay, Meister, hat sie gesagt, einverstanden, Reklame für Ihr Unternehmen, aber ein bißchen was muß auch für mich rausspringen.“ „Vernünftiger Standpunkt.“ „Altmanns wären mir schnuppe gewesen, hab ich gesagt.“ „Warum?“ „Is das hier ne Unterhaltung oder ’n Verhör?“ „Beileibe kein Verhör, wo denken Sie hin! Ich brauche ein möglichst exaktes Bild aller Vorgänge, deshalb muß ich alle möglichen Fakten zusammentragen. So ist das nun mal bei der Kripo. Warum also waren Ihnen Altmanns schnuppe?“ „Mein Einziger is ’n knappes Jahr alt, wir haben spät angefangen betreffs unseres Nachwuchses – meine Devise: erst das Geschäft. Aber wenn der zehn wäre, hätt ich dem nie verboten, mit ’n Dreckspatzen aus’m Dorf Dummheiten auszuhecken, und wenn er, statt Fensterscheiben einzuschmeißen, was jeder richtige Bengel mal 124
tut mit’m Ball, nur mit Altmanns Wurm hätte rumstreunen woll’n, hätten wir auch nichts dagegen gehabt, wir sind großzügig. Der Lemdorfer Klüngel, wenn Sie’s genau wissen wollen, is uns nämlich auch wurscht.“ „Interessant“, flocht Spengler ein. „Darf ich mich erkundigen: Haben Sie so auch zu Frau Strömberg gesprochen?“ „Genau.“ „Und wie reagierte sie?“ „Warten Sie mal – ja, ich erzählte ihr von meinem Alten und wie der kurz vor der Pleite stand.“ „Inwiefern stand Ihr Herr Vater unmittelbar vor dem Bankrott?“ „So viele Särge kann man hier nich loswerden, daß man davon existieren könnte, und sogar die Alteingesessenen kaufen die Möbel fürs heiratslustige junge Volk und allmählich auch für’n eigenen Bedarf von der Stange. Is modern geworden, sich alle naselang neu einzurichten. Neckermann und Quelle sorgen für’n deftigen Anreiz, ’s Fernsehen tut seinen Senf dazu, jeder macht mit …“ „Hat Frau Strömberg für diese Kalamitäten ein offenes Ohr gehabt?“ „Und ob.“ „Und weiter?“ Löffelholz bemühte sich, seinen Ärger zu unterdrücken. Es gelang ihm nicht. „Mann“, rief er, „Sie frag’n mir ja ’n Loch in ’n Bauch! Woll’n Se ’n Kaffee?“ „Später vielleicht – besten Dank.“ Löffelholz seufzte. „Sie sind mittendrin in Ihrer Story, wir wollen die doch nicht abblasen.“ „Netter Kerl, hab ich gesagt, der Altmann, fragte mal wegen ’ner Truhe bei mir an. Wann das gewesen wäre? 125
wollte die Strömberg wissen. Anfang des Jahres, hab ich gesagt. Es handelt sich ums Vorjahr.“ Spengler nickte. Löffelholz fuhr fort: „Ob das so zu verstehen wäre, daß sie sich von dem Zeitpunkt ab Luxus hätten leisten können.“ „Kluger Einwand.“ Löffelholz schüttelte mißbilligend den Kopf. „Würden Sie ne Bauerntruhe in Ihrer Diele für’n Luxusgegenstand halten?“ „Ich wohne zur Untermiete.“ „Herrjemine – ich hab das doch die Strömberg gefragt!“ „Ihre Antwort?“ „Sie hätte mal ne Diele gehabt, aber nun hätte sie keine mehr – und ich will jetzt endlich zu Rande kommen …“ „Haben Sie die Truhe eigentlich geliefert?“ „Genauso hat die Strömberg gefragt. Die Truhe war bestimmt ’n Meisterstück, hat sie gesagt, haben Sie sie geliefert? Nein, hab ich gesagt, er sprang ab, der Franz Altmann, wollte seine Frau fragen und erschien nie wieder. Die Truhe ging dann nach Hamburg für ’n doppelten Preis. Neulich, hab ich gesagt, hab ich so ’nen Friesenstuhl wie den, auf dem Sie sitzen, als Muster angeboten. Was soll ich Ihnen sagen, ich kann mich vor Nachbestellungen nich retten. Kennen Sie Pöseldorf? hab ich die Strömberg gefragt. Da wartet mein Mittelsmann auf meine Erzeugnisse, er bezeichnet sie als Raritäten. Dies unter uns zwei beiden, hab ich gesagt.“ Löffelholz druckste ein bißchen. „Sie ist dann einfach aufgestanden“, stieß er schließlich hervor, „hat ihren Mantel zugeknöpft, das war ne Herausforderung, weil sie’s langsam tat, hat so von oben auf mich runtergegrinst und hat sich fürs Interview bedankt.“ 126
„Sagen Sie bloß …“ „Also so nicht, hab ich gesagt; ich kam mir ja – mußte mir ja geprellt vorkommen.“ „Klar“, pflichtete Spengler bei. „Es war aufschlußreich, sagte sie, sie meinte das Interview, sehr aufschlußreich für mich.“ „Donnerwetter!“ „Dabei haben wir nur übers Geschäft gesprochen. Alles andere geht mich nichts an, ich will nichts damit zu schaffen haben, ich hab mit dem ganzen Schlamassel nie was zu tun gehabt.“ „Aha“, warf Spengler ein. „Gehn Sie doch ’n Haus weiter zur alten Faßbender, da werd’n Se bestimmt besser bedient!“ Spengler nahm die zornige Aufforderung gelassen hin. Er blieb ruhig sitzen – mit seinem glatten Gesicht, mit seinem gepflegten Bart. „Sagten Sie Faßbender?“ Löffelholz verlor endgültig die Beherrschung. „Ja!“ rief er. „Ich erlaubte mir! Der jüngste Sohn der alten Faßbender, so’n Industriearbeiter und Gewerkschaftsfritze, beherbergt den Witwer Altmann. Statt mich auszuquetschen, sollten Sie sich lieber an die alte Faßbender halten ’ und wenn Sie’s genau wissen wollen: Ich an Ihrer Stelle würde Kläre Feuer unter’n Hintern machen …“ „Wer ist Kläre?“ „Kläre? Die kam noch nach Viktor. Kinder machen konnten die früher, mehr konnten sie nich. Die Alle drüben hat Kläre aufm Hals. Und nun zwitschern Sie ab, ja?“ „Was macht Kläre?“ bohrte Spengler. „Machen, machen – Sekretärin vom Bürgermeister isse …“ „Von Racke?“ 127
„Scheiß Racke! Der hat uns das doch alles eingebrockt!“ „Racke?“ „Ich will davon nichts wissen, geht das klar?“ „Nicht so ganz, Sie haben eben immerhin einen Verdacht geäußert.“ „Ich bin doch nicht verrückt, überhaupt nichts hab ich gesagt, ich hab Ihnen nur empfohlen, Sie soll’n ’n Haus weitergehn. Schmieren Sie mich nicht dauernd an, Sie!“ Auf Löffelholzens Wangen zeigten sich hektische rote Flecken. „So ein Blödsinn“, sagte er, „tun Sie mir ’n Gefallen, und kümmern Sie sich woanders um den Mist …“ „Okay“, sagte Spengler. 22 „Friedland liegt ja in Niedersachsen.“ Idas Stimme drang in Brigittes Bewußtsein einfach durch das Gewicht einer Ortsbezeichnung. „Von da ist mancher ins Dorf eingewiesen worden, auch Racke.“ „Der Bürgermeister?“ „Hier gibt’s nur einen Racke. Die andern sind bald weitergezogen. Vorher, gleich nach der Kapitulation, wanderten noch Vertriebene hier durch von jenseits der Oder aus Pommern und Schlesien. Die blieben auch nich lange. Aber was der Gärtnereibesitzer is, der hat seine Familie in Lemdorf wiedergefunden. Seine Frau und die Kinder hausten in ’ner Knechtskammer aufm Isernhagenhof. Bei der Feldarbeit hab ich mich mit der angefreundet. Heute stellen sie was vor. Er züchtet Chrysanthemen, die bringt er mit Lieferwagen zum Versand, da muß er früh aufstehen. Die haben gar kei128
ne Zeit zum Klatschen, Klatsch liegt denen sowieso nich. Und die von der Hühnerfarm draußen haben’s auch zu Wohlstand gebracht, man sieht bei ihnen nur Federvieh …“ Brigitte entsann sich. Sie lächelte leicht. „Die Hardanks“, fuhr Ida schmunzelnd fort, „kamen aus Oppeln, ne ganze Sippe von Hardanks, sie heißen gar nich alle Hardank, genügt ja, wenn ihr Oberhaupt so heißt. Die tun niemandem was zuleide, sind harmlose Hinterwäldler, sie wohnen ja auch hinterm Wald. Das heißt“, schränkte sie ein, „wie man fabrikmäßig Eier aus eingesperrten Hennen rauswirtschaftet, verstehen sie aus ’m Effeff. Nichts gegen die Bibel, ich les selber gern drin, aber ich geh nich hausieren damit. Die Hardanks prophezeien ’n Weltuntergang aus ihr und wollen jeden bekehren, um ihn fürs Paradies zu retten vorm Jüngsten Tag. Kurioses Paradies mit all den Hühnerpopos und den Hunderten von Leghennen in Hardanks Käfigen, die nie im Freien scharren dürfen. Manchmal frag ich mich, ob die vielleicht auch mal Rechenschaft fordern werden.“ „Auch mal?“ „Wo Hardanks doch für den Prozeß gestimmt haben“, erklärte Ida. Sie setzte die Kenntnis dieser Dinge schlicht voraus. Brigitte nickte, als hätte sie verstanden. „Ich hab nichts dagegen, daß sie auf neumodsche Manier ’n Batzen Geld scheffeln, nur verträgt sich das schlecht mit dem andern.“ Die Alte verhielt. Brigitte nickte ihr wieder zu. „Zeugen Jehovas nennt sich Hardanks Sekte. Sogar ich drücke mich, wenn ich von denen jemand auftauchen seh. Lisbeth Isernhagen“, schloß sie mit überraschender Wendung, „will’s den Hardanks nachmachen.“ „Nanu“, entfuhr es Brigitte. 129
„Das mit der Hühnerfabrik“, erläuterte Ida Faßbender, „sonst braucht die keine Belehrung, sie weiß selber, was Sünde is un was nich.“ Jetzt, dachte Brigitte, jetzt. Sie wartete, hörte: „Bei Rackes geht’s nämlich bergab. Er taugt ja nichts – als Bauer. Sie hat sich immer viel auf ihn eingebildet, un anfänglich ging das man alles wunnerbar, da griff eins ins annere. Sie hat ihm in’n Sattel geholfen, nach und nach kriegte er die Beziehungen. Und immer fand er ’n richtigen Dreh. Aber jetzt will nichts mehr so wie früher laufen. Und nun möchte Lisbeth den Betrieb spezialisieren.“ Ida brachte das Fremdwort glatt über die Zunge. „Sie schafft’s nich so, wie sie sich’s ausklamüsert hat.“ Ida stockte. „Ich hab zuviel geschwatzt“, gestand sie ein. „Sie haben überhaupt nicht geschwatzt.“ „Doch“, beharrte die Alte. Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Jede Vergangenheit“, setzte sie fort, „hat ein paar Ecken, die man nich gern herzeigt.“ „Aber Sie hatten doch mit diesen Isernhagens nichts zu tun, Ihr Sohn hat doch laut genug verkündet, daß Sie bei Grothus waren.“ „War ich“, bestätigte Ida, „bis auf das eine Jahr, wo der alte Isernhagen mehr Deputat geben wollte. Er hat’s uns dann verweigert, als die Ernte drinnen war. Der alte Grothus hat mich nie betrogen.“ „Ihr Sohn …“ Idas Züge wurden weich. „Mein Viktor“, sagte sie, „reibt sich am Hinrich, wo er ihn trifft. Un was der Hinrich is, der is’n Grobsack wie sin Vadder und in Focks Kneipe ’n Maulheld – aber bösartich, nee, is er nich. Mein Viktor vergißt immer, daß sie doch nun beide keine Hosenschieter mehr sind. Hinrich vergißt das auch in Focks Krug. Am Stammtisch is er ’n annerer as to Hus, 130
sin Stammtisch brukt he, um de Lüt freizuholln und ’n richtigen Krösus vor se hintostelln. Was Hinrich is, de muß immer moal ut Mückens Elefanten moken. Allens man halb so slimm. Zu Haus hat ihn sin Thilde fest im Geschirr. Ich mag Thilde gern, sie behandelt einen wie ihresgleichen. Ich denk mir so, Hinrich will Thilde triezen, denn so ganz wird er ’n Großbauern ja doch nich los. Früher rannte er hinter jeder Schürze her, nach Jahr und Tag war das kein Dorftrampel, da war das die Ilse Altmann. Aber nich mal dadrauf fiel Thilde rein.“ „Sie sagten vorhin, die Bauern hätten schwer zu knacken.“ Ida wiegte den Kopf. „Lirum, larum, wird sie bei sich gedacht haben, die Thilde.“ „Mich beschäftigt“, setzte Brigitte nochmals an, „warum mit der Familie Altmann alles so verquer lief, was war eigentlich faul an den dreien, die doch nur später zuzogen als Ihre Thilde Grothus und der Bürgermeister, diese Hardanksippe und alle übrigen.“ „Vielleicht“, entgegnete Ida vorsichtig, „hat’s an den Jahren gelegen, wo die anneren sich eingerichtet hatten. Das mit der verlorenen Heimat war ja ausgestanden. Vielleicht wär’s mit den Altmanns trotzdem gut gegangen …“ Ida überlegte gründlich. „Die Frau hat’s vermasselt. Es stand ja deutlich genug in ihren Papieren, Landarbeiterin war sie drüben.“ „Traktoristin“, verbesserte Brigitte. „Landarbeiterin“, beharrte Ida, „bei uns sitzen Männer auf’n Maschinen. Überall wär sie willkommen gewesen.“ „Kann ich mir vorstellen, daß sie willkommen gewesen wäre – als Landarbeiterin.“ „Überall hätt sich ne Stellung für sie gefunden auf den größeren Höfen, und was die Lisbeth is – ich mein ja 131
man bloß, Lisbeth schuftet as’n Perd. De Lüt hebbn ehr ehrn Dünkel öbelnahm.“ „Ihre Selbständigkeit“, korrigierte Brigitte. Ida gab nicht so leicht nach. „Se hett sek öwer all uns Bräuche wegsetten deit.“ „Unklug von ihr“, sagte Brigitte, „andererseits – viele Lemdorfer fahren nach außerhalb zur Arbeit, es gibt doch im alten Sinne keine Knechte und Mägde mehr. Selbst die kleinen Gehöfte werden nebenbei besorgt – oder irre ich?“ „Is schon richtig, stimmt allens, nur …“ Ida suchte so angestrengt nach einem Anhaltspunkt, daß sie lange still blieb. „Sie kamen zu rasch voran“, sagte sie endlich. „Na und? War das denn schlimm? Taten sie denn damit nicht etwas, was alle anderen auch tun? Wenn man durch Strebsamkeit und Geschick vorwärtskommt, dann beweist man doch, daß man sich den Verhältnissen angepaßt hat.“ „Ich hör direkt meinen Viktor reden. Der Franz war nämlich bei Viktor in der Werkhalle von Anfang an. Ich seh nun aber auch aufs Dorf. Nicht bloß die Hardanks haben Ilse Altmanns Lebenswandel für sündhaft gehalten. Und als die Liste rumging …“ „Was für eine Liste?“ „Na, wegen dem Prozeß gegen die Altmannsche, so eine im blauen Aktendeckel, da sollte man seinen Namen eintragen, ob man für war oder gegen, die kam vom Gemeindeamt, und jeder verglich erst mal, wer für un wer gegen gestimmt … Wullt Se wat seggn?“ „Nein, nichts.“ „Se sehn man ganz verdattert ut.“ Brigitte setzte eine verbindliche Miene auf. „Immer dasselbe“, sagte sie munter, „man schreibt seinen Namen in die Spalte, wo die meisten Namen stehen.“ 132
„Ach, nein“, sagte Ida, „so leicht war dat nu ok wedder nich, obenan stünn Racke, un dann kam gliks sin Fru, un manche hab’n Pachtland – un anneres hebbn sei ok.“ „Hängt’s mit den Sorgen in der Landwirtschaft zusammen?“ Brigitte konnte sich diese Sorgen zwar nicht vorstellen, sie meinte das Gegenteil davon bemerkt zu haben, aber Besitz schaffte ja zuweilen Beschwer, und – schloß sie leichtfertig – wann hätten Bauern nicht geklagt? „Wat is ne Ernte, de nichts einbringt?“ Ob Frau Faßbender da nicht zu schwarz sähe, jedermann stünde heute in roten Zahlen, so nenne man das, wenn man sein Bankkonto überzogen hätte, und in Lemdorf herrsche doch nirgends Mangel, die Scheuern wären doch prall gefüllt. „Eben“, erklärte Ida lapidar. „Also geht’s nicht nur mit Rackes, sondern mit der Landwirtschaft bergab?“ „Ja. Ja, früher – ach, wat wier dat schün, as wie Fruenslüt schrien hett, wenn ne Mus mit der Fork opspießt ward. Aber Lisbeth hat ja man immer noch was inner Hinterhand – von ehrn Vadder her. Schnickschnack. Ich darf drüber nich reden. Un dat mit de List is man ok Amtsgeheimnis. Ich hab’s Ergebnis von min Kläre.“ „Wer war denn gegen den Prozeß?“ drängte Brigitte. „Ich“, sagte Ida. „Wer noch?“ „Grothusens.“ „Und Bartels?“ „Ok – aber Löffelholz nebenan, dieser Slusuhr, war mol wedder superslau: nich dafür un nich dagegen. Damit hat er ’s halbe Dörp up sine Seit bracht, un Racke künn mit sine Jasagers Anklage beantragen – wegen Mord.“ 133
„Mord – an wem?“ „Der Lütten. Neben uns Herrn Pastor is uns Herr Bürgermeister nun mal ne Respektsperson. Dat war nich glieks so – nee. Aber dann kamen Männer her, höfliche Herren, die stoppten ihre Straßenkreuzer, wenn ne Oma wie ich übern Fahrdamm tappte, manche kurbelten sogar die Scheibe runner, fragten nach’m Weg und nach mine Sorgen, un uns Burgemeester, den wollten se besöken, un min Viktor hett seggt, lot man, Mudding, is Tünkroam, fall da man blot nich drauf rein. De sin man blot fründlich, weil se Stimmvieh bruken. Dat liegt nu ok schon wedder Jahre torügg.“ Ida schenkte kalt gewordenen Kaffee nach, verrührte drei Löffel Zucker in ihrer Tasse. „Lisbeth Racke is ne böse Sieben“, schloß sie hart. Es ist wie im Karussell, dachte Brigitte, du sitzt drin, und immer schleudert es dich von der Stelle weg, wo du abspringen möchtest. Ida sagte: „Lisbeth bleibt die Tochter vom Isernhagen, der war der Reichste im Dorf, nie konnte ihm jemand unsaubere Machenschaften nachweisen. Die Lisbeth hat ja gewußt, warum sie sich den Racke nahm. Isernhagen war ’n Leuteschinder, un Lisbeth hat de Lüt uphetzt.“ Sie fügte einen Satz bei, an den sich Brigitte später erinnerte: „Sie wollte immer haben, was annern gehörte.“ Aufstehen. Nicht länger auf dem Sofa sitzen bleiben. Man wird ja ganz dösig davon. Aufstehen. Im Zimmer hin und her gehen, dem Drang nach Bewegung nachgeben. Bilder ansehen. Bilder? Sie waren zu einer Gruppe angeordnet über dem Büfett. Ein Gesicht fällt einen an, prägt sich ein. Es geht einem durch den Sinn: Das ist ein liebliches Gesicht, ein reines, so was gibt’s kaum noch, so ein klares Jungmädchengesicht mit so viel ungebrochener Erwartung in den Augen. Man nimmt den Blick 134
weg, man ist zu tief verstrickt in diffuse Angelegenheiten, trotzdem fragt man: „Wer ist das?“ Die Antwort erfolgt leise: „Das? Das war mal unsere Kläre – bevor sie Racke kennenlernte.“ Brigitte, überrumpelt, begriff allenfalls, daß sie es versäumt hatte, auf lange Sicht zu zielen. Und nun spannte sie den Bogen neu und zum erstenmal ohne Berechnung auf Wirkung. Vom Flur her näherten sich Schritte. Jemand betrat die Stube. „Oh, Mutter, du bist nicht allein?“ „Frau Strömberg hat ne Taß Kaffee bei mir getrunken.“ „Hallo“; sagte Kläre Faßbender. „Hallo“, antwortete Brigitte. „Ich hab Hunger, Mutter, gibt’s bald Abendbrot?“ Spengler wurde sofort eingelassen. Frau Faßbender nötigte ihn aufs Sofa, sah ihn an, fragte aber gleich, ob sie ihm eine Tasse Kaffee anbieten dürfte. Sie hätte den Kaffee fertig und hätte selber noch nicht gefrühstückt. „Daß ich mal Besuch von der Polizei kriegen würde …“, sagte sie kopfschüttelnd, als er ein Brötchen mit Butter bestrich und eine Scheibe Schlackwurst obendrauf legte. „Ich kann das Ganze noch immer nicht fassen, Herr Kommissar …“ „Assistent“, berichtigte Spengler. Er kaute mit vollen Backen. „Schmeckt fein“, sagte er freundlich. „Wissen Sie“, fuhr er fort, „die Verstorbene hat viel von Ihnen gehalten, das geht aus ihrer Hinterlassenschaft hervor. Und da hab ich mir gedacht: Sie können uns helfen.“ „Ich kann’s noch nicht fassen“, sagte die alte Ida, „sie war so lebendig, so …“ 135
„Verstehe“, unterbrach Spengler. „Das ist es ja eben, daß man’s nicht fassen kann, wenn so ein gesunder Mensch plötzlich verunglückt, so ganz aus heiterm Himmel.“ Er sagte mit seinem netten Lächeln: „Es ist so gemütlich bei Ihnen, und damals, kurz vor Weihnachten …“ Ida akzeptierte das Kompliment. „Sie hat meine Pfefferkuchen gelobt, und gesagt hat sie, so was Leckeres hätte sie lange nicht gegessen.“ „Sehen Sie, da haben wir’s: Sie hat sich wohl gefühlt.“ „So eine reizende Person“, murmelte Ida. „Mein Sohn Viktor fand das auch.“ Sie reckte ihre magere Gestalt. „Ihr Sohn Viktor – ja. Vorerst bin ich in Lemdorf. Was wollte die Strömberg von Ihnen?“ „Was sie wollte? Vom Dorf hat se was wissen woll’n, wie wir hier so zusammen leben. Ich hab mit nichts hinterm Berg gehalten.“ „Wirklich nicht? Darf ich mal ne Scheibe von der Zungenwurst? Da schmier ich Schmalz drunter. Haben Sie ne eigene Räucherkammer?“ Ida nickte. Sie war weit weg von ihrer Räucherkammer, in der noch der Schinken vom letzten Schlachten hing. „Man hält immer mit was hinterm Berg“, sagte Spengler, „das liegt so drin in der menschlichen Natur.“ „Ja, ja“, entgegnete Ida, „hab ja selbst davon gesprochen, daß es in jedermanns Vergangenheit ’n paar Schmutzecken gibt, die keiner gern herzeigt.“ „Da ist was Wahres dran.“ „Sie is rumgeritten auf ’ner Bemerkung von mir. Mein Viktor sagt, ich hätt mich nich drücken soll’n. Aber so ernst hab ich’s ja auch wieder nich genommen.“ „Vielleicht haben Sie es zu ernst genommen“, äußerte Spengler vorsichtig. 136
„Ich hab gesagt, die Bauern hätten schwer zu knacken.“ „Ach, Mutter Faßbender, das ist ja nun wirklich nicht neu, daß die Bauern stöhnen, haben sie von jeher getan.“ „Aber jetzt geht’s ihnen ans Fell, und Sie müssen’s mir glauben, un es war ’n großer Fehler von mir …“ „Sagt Viktor …“ Frau Faßbender nickte. „Es war ’n Fehler von mir, daß ich ihr verschwiegen hab, wie’s bei uns langgeht. Lisbeth hat von ihr’n Vadder her hier ’n Schuldschein und da ne Hypothek, stammt alles aus’m Krieg und aus ’n Hungerjahren vor der Geldentwertung. Muß aber in barer Münze erstattet wer’n, is so abgemacht.“ Spengler setzte die Kaffeetasse ab. Er ahnte, daß Land in Sicht sei, wo er es nie vermutet hätte. Da ging nun also ein Gespenst um, es stammte aus dem finsteren Mittelalter der vierziger Jahre. War denn der Krieg immer noch nicht überholt von späteren Kriegen, wollte sich dieser zweite Weltkrieg mitsamt seinen Folgen immer noch nicht mit seinem ihm gebührenden Platz in den Schulbüchern begnügen? Nichts ist vorbei, dachte Spengler. 23 Der Portier winkte. „Moment, Frau Strömberg …“ Brigitte verhielt auf dem Weg zum Frühstückszimmer. „Morgen gegen elf, wenn’s recht ist. Herr Strothmann mußte heute leider außer Haus.“ „Danke – paßt glänzend.“ „Wünsche guten Appetit, Frau Strömberg.“ Sie setzte sich auf ihren angestammten Platz, Brötchen, Butter, Honig, Schinken standen bereit. Die Kellnerin 137
brachte das Ei und die kleine Kanne mit Kaffee. Brigitte schaute zum Fenster hinaus. Gegenüber befand sich die hohe Fichte. Sie war mit kleinen elektrischen Birnen besteckt. Über die Straße waren Lichtgirlanden gespannt. Käuferscharen strömten dem Eingang des Kaufhauses zu, das seine Pforten eben geöffnet hatte. Schon begann das Durcheinander von Weihnachtsliedern aus den Lautsprechern zu dringen, schrille Stimmen von Kinderchören, dann ein pastoraler Orchestersatz, den das Tremolo eines berühmten Baritons ablöste. Ohrenbetäubende Kakophonie von Hymnen, altbewährten, die dem Kinde galten, das von einer armen Mutter im Stall geboren und auf Stroh gebettet worden war. Und es drang ein penetranter Geruch durch die Oberlichte: nicht von Weihrauch, nicht von Myrrhen, sondern von Schaschlyk und gebratenen Hähnchen, Rostbratwürsten, Schmalzgebackenem, Grog, gerösteten Mandeln und Frankfurtern mit Senfbeilage. Der Weihnachtsmarkt. Seit gestern hatten die Kinder Ferien. Immer noch war Advent, Brigitte ließ Honig auf ihre Semmel tropfen, zwang sich, den wirklich guten Kaffee mit Muße zu genießen. Danach wollte sie nach oben gehen und Bänder abhören. „Sind aber spät dran heute, gnädige Frau, wünsche wunderschönen guten Tag.“ Der muntere Vertreter der Textilbranche blies eine Wolke Zigarrenrauch in die Luft. Er ergriff einen der nächststehenden Stühle, rückte ihn zurecht und setzte sich. „Tolles Aroma“, stellte Brigitte fest. „Vier fuffzig – leiste ich mir nur einmal pro anno.“ „Also darf man vermuten, Sie sind mit der diesjährigen Bilanz zufrieden.“ „Gott sei Dank – hab’s mal wieder geschafft. Gleich 138
nachher gondle ich heim. Hoffentlich gibt’s keinen Schnee.“ „Ihr Mercedes wird bestimmt nicht steckenbleiben.“ „Sagen Sie das nicht.“ Er zögerte, fragte plötzlich geradeheraus: „Und wie stehen bei Ihnen die Aktien?“ „Mau“, erwiderte Brigitte knapp. „Ich will Ihnen ja nicht auf den Wecker fallen, lange verweilen kann ich mich ohnehin nicht. Sie sind nun fast zwei Wochen in dieser belemmerten Gegend, ich weiß das so genau, weil ich das zweite Mal auf meiner Tour hier vorbeigekommen bin.“ „Sie brauchen keine Erklärungen abzugeben.“ „Sie und ich sind Großstadtpflanzen.“ Er überlegte kurz. „Ich hab die Altmann ziemlich gut gekannt. Manchmal habe ich sie nach Lemdorf hinübergefahren.“ „Hatten Sie“, fragte Brigitte nach einer wohlbedachten Pause, „persönlichen Kontakt mit ihr?“ „Sie meinen intime Beziehungen? Nein, leider. Ich hatte allenfalls Hoffnungen in der Richtung. Die Altmann schien zu der Sorte zu gehören, die nicht bloß verspricht, sondern hält. An allen zehn Fingern hätte sie ’n Kerl haben können. Aber keiner kam an sie heran. Sie war Strothmanns rechte Hand und blieb eine anständige Frau. Für mich ist das kein Werturteil, ich hab meine eigenen Ansichten.“ „Ich teile Ihre Ansichten, Herr …“ „Noack. Freut mich, daß Sie mir zustimmen. Da fährt man nun heim zu Frau und Kindern und freut sich, daß man erfolgreiche Abschlüsse vorweisen kann, müßte sich ja glücklich schätzen in Erwartung des Christbaums, der Weihnachtsgans und des guten Tropfens. Und da rastet plötzlich etwas ein. Das Ende der Altmann hat mich erschüttert.“ 139
„Wollen Sie damit sagen, daß in Lemdorf …“ „Liebe gnädige Frau – ich halte die Lemdorfer trotz allem für zweitrangig.“ „Das müssen Sie näher erläutern.“ „Deshalb sitze ich an Ihrem Tisch. Sie sind so unvoreingenommen wie ich. Erklären Sie mir bitte, was konnte eine so attraktive Person wie die Ilse Altmann dazu bewegen, den Freitod zu wählen? Ich muß hinzufügen: Sie war überdurchschnittlich intelligent, ehrgeizig und selbstbewußt. Sagen Sie“, Noack streifte den Aschenkegel seiner Zigarre ab, „haben Sie ihren Mann kennengelernt?“ „Noch nicht. Kannten Sie ihn?“ „Flüchtig.“ „Ihr Beruf bringt es mit sich, daß Sie den Charakter eines Menschen schnell erfassen.“ Noack, grauhaarig, der Stoff seines Anzugs war von ausgesuchter Qualität, lächelte geschmeichelt. „Zweifellos richtig, gnädige Frau, unsereiner will ja nicht im Defizit landen.“ „Wenn Sie flüchtig sagen, ist das für meine Begriffe eine Untertreibung.“ „Nun ja“, räumte Noack ein. „Aber“, fügte er hastig hinzu, „ich hab kaum drei Sätze mit dem Mann gewechselt.“ „Lag das an Ihnen? Oder an ihm?“ „Pardon, ich hatte eine Frage an Sie gerichtet, gnädige Frau …“ „Sie brauchen doch meine Antwort gar nicht, Sie wollen doch nur eine Bestätigung von mir – oder?“ Noack streute Zigarrenasche aufs makellose Tischtuch, gab sich einen Ruck, sagte: „Der Kerl war eine Flasche – meine Meinung. Es kümmerte ihn überhaupt nicht, daß manche Gäste sie geradezu aufdringlich hofierten. Sie mag ihn immer noch geliebt haben, so was 140
soll’s ja geben, aber achten konnte sie. ihn nicht mehr. Die Ehe war kaputt.“ „Hat sie es Ihnen erzählt?“ „Nicht mal angedeutet, trotzdem weiß ich es. Sie fragte mich, wie sie eventuell zu einer Stadtwohnung kommen könnten, sie wollte unbedingt aus Lemdorf wegziehen. – Ich hab Ihnen da einen Tip gegeben, ich meine, ich bin’s ihr schuldig; mein Name, gnädige Frau …“ „Den hab ich bereits vergessen.“ „Man hat schließlich Verpflichtungen.“ Noack verbeugte sich, küßte die dargebotene Hand, sah Brigitte voll an. „Eine ungewöhnliche Frau, sie hätte … wirklich, sie hätte ein besseres Los verdient.“ Er wiederholte: „Eine ungewöhnliche Frau.“ Und brummte: „Aber welcher mittelmäßige Mann erträgt es, daß ihm seine Frau haushoch überlegen ist? – Gesegnetes Christfest“, wünschte er im forschen, geschäftsmäßigen Vertreterton. Brigitte sah ihm nach, bezahlte ihr Frühstück, ging dann an der Rezeption vorbei. Bloß nicht verweilen bei dem Alten, obgleich der auffordernd blickte. Die unübersehbaren gichtverkrümmten Finger … „Eben wurde ein Brief für Sie abgegeben, Frau Strömberg.“ „Brief? Was für ein Brief?“ „Von Lemdorf. Das Milchauto hat ihn mit reingebracht.“ Brigitte öffnete den Umschlag sofort. In großzügig auf Büttenpapier hingeworfenen Buchstaben fragte Thilde Grothus an, ob man sie am morgigen Tage so früh wie möglich und so lange wie möglich erwarten dürfte.
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24 In ihrem Zimmer summte die Heizung. Es begann nun tatsächlich zu schneien. Dunkle Wolken trieben über der Stadt. Das Flockengestöber dämpfte den Lärm unter ihrem Fenster. Brigitte dachte an Noack, der mit seinem gutgefederten Firmenwagen ins Irgendwo jagte, um heimzugelangen, nicht irgendwo anzukommen, sondern dort, wo sein Hafen war. Sie spann flüchtig an einer Story: Noack in seinem Mercedes. Sie hätte die Geschichte am liebsten sofort aufgeschrieben, um das Dilemma des modernen Menschen darzustellen, der fortwährend in Gefahr war Und Gefahren aus seinem Bewußtsein immerfort verdrängte: Als ob mir das passieren könnte … Dabei passierte es dann. Der Noack ihrer imaginären Geschichte auf dem Nachhauseweg zum Christfest, alle Geschenke waren im Kofferraum untergebracht, er hatte nichts vergessen, endlich würde er die Gattin mit dem Leopardenfellmantel überraschen, reagierte im Bruchteil einer Sekunde falsch, sein Fahrzeug karambolierte, der Schneevorhang an der Windschutzscheibe tat ein übriges. Kein Gott half ihm, nicht einmal dieses Neugeborene in der Krippe, obwohl doch zu dem, Fama zufolge von einem Stern geleitet, die schwerreichen Scheichs aus dem Morgenland gezogen waren, um anzukommen – zu welchem Sinn und Zweck? Jenseits des beliebig auswechselbaren Schicksals eines beliebig auswechselbaren Herrn Noack bliebe doch nichts als die verallgemeinernde Metapher vom serienmäßigen Verkehrsunfall. Story unter dem Strich, wieder eine. Aus der Dutzendgeschichte würde aus dem Dutzendgesicht des toten Noack das Malheur der Epoche starren. 142
Brigitte trat vom Fenster zurück. Öffnete ihr Bandgerät. Schaltete auf Übertragung. Stimmen. Sie drückte die Rückspultaste. Der linke Teller füllte sich rasend schnell mit braunem Millimeterstreifen. Sie drückte die andere Taste, nun lief der Teller langsam. Im Zimmer der Wohlklang eines geschulten Organs. Sie erinnerte sich: Der Pfarrer von Lemdorf hatte nach dänischem Tabak und englischem Lavendel gerochen. Dunkler Anzug, schneeiger Kragen, graumeliertes Haar. Seine Gattin, eine energische Vierzigerin, hatte ohne lange Vorrede, bestimmt: „Erst mal trinkt ihr Tee.“ Stimme des Pfarrers: „Aber bitte, langen Sie doch zu. Tja, die Altmanns. Eines Tages besuchte er mich – ich glaube, es war vor der Einschulung der Kleinen. Er druckste herum und fragte schließlich unbeholfen, ob es mir möglich wäre, seine Tochter zu taufen. Drüben, sagte er, hätten sie es nicht gewagt. Ich fragte ihn, wie es denn mit ihm selber stünde. Aber er wollte nicht Farbe bekennen. Vorübergehend nahm Renate am Kindergottesdienst teil. Kandis, gnädige Frau? Wir süßen mit Kandis, das haben wir in Ostfriesland gelernt. Ich habe drei weit auseinanderliegende Gemeinden seelsorgerisch zu betreuen. Vielleicht habe ich die Geschichte allzu peripher betrachtet. Es kam zu keiner Taufe. Altmanns blieben Atheisten. Sie hielten später auch das Kind der Christenlehre fern.“ „Ohne Angabe von Gründen?“ „So ist es.“ „Aber Sie forschten doch den Gründen nach?“ „Gewiß tat ich das – leider ohne Erfolg. Frau Altmann hörte mich ruhig an, doch bei aller Höflichkeit entzog sie sich meinem Zuspruch.“ 143
Brigitte fuhr zusammen, weil ihre Stimme plötzlich betont aggressiv in die Stille klang. „Dumm von ihr, sehr, sehr dumm, nicht wahr, Herr Pfarrer? Jede Art von Kompromiß hätte bestimmt nicht nur im Interesse des Kindes gelegen.“ Der Pfarrer schneuzte sich umständlich. „Ich möchte“, sagte er, „der Verstorbenen zugute halten, daß sie sich der Konsequenzen ihrer Handlungsweisen nicht bewußt war. Sie unterschätzte die Lemdorfer. Wir haben ihren Konservativismus am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Als mein Vorgänger im Amt achtzigjährig in die ewige Ruhe einging und wir nach hier verschlagen wurden, mußten wir uns gegen eine gehörige Portion von Vorurteilen mühsam durchsetzen. Herr Bürgermeister Racke, vornehmlich seine Gattin unterstützten uns in jeder Hinsicht, wir sind Frau Racke zu großem Dank verpflichtet. Mitunter frage ich mich, wie Gerda es zuwege gebracht hat, ständig Gardinen auszuwechseln, Möbel umzustellen, Bücher einzuordnen. Wir sind Gott dankbar, daß wir endlich zur Ruhe kommen durften, obgleich …“ Er lachte sonor. „Bis zu meinem Achtzigsten möchte ich in Lemdorf und Umgebung auch nicht so sehr gern ausharren.“ Löffelklirren. „Haben Sie sich um den Witwer gekümmert, Herr Pastor?“ „Ich habe weder der armen Kleinen noch der unglückseligen Mutter das christliche Begräbnis verweigert.“ „Aus eigenem Antrieb?“ „Niemand hätte mich gehindert.“ „Hätten Sie sich hindern lassen?“ Die Stimme der Pfarrfrau: „Sie müssen ihn nicht so in die Zange nehmen, er wird dann hilflos. Selbstverständlich hat er sich um den Witwer gekümmert, solange der 144
da war, das waren nur ein paar Tage. Außerdem traf er ihn nie allein. Faßbender war bei ihm und nahm ihn dann auch wieder mit. Wir wollen uns richtig verstehen: Martin hat sich zu tief in die Seelen seiner Schafe hineinversetzt, ergo war das anfangs keine Sache auf Gedeih und Verderb für ihn. Er hat einfach zuviel zu tun.“ „Gerda!“ „Jetzt rede ich, und du hältst vorerst deinen Mund. Wir haben andere Einblicke in die Gedankenlabyrinthe unserer Dörfler, ich hoffe, Sie akzeptieren das. Und nun holen Sie mal Ihre Phantasie aus der Versenkung vor. Erscheint es Ihnen in Anbetracht des sichtbar zunehmenden Wohlstands der Altmanns wirklich für so abwegig, bezahlte Agenten der DDR in ihnen zu vermuten?“ Brigitte fühlte den Zorn wieder, der jäh in ihr aufgeflammt war, einen emotionalen Zorn. Sein Ursprung lag weniger bei den Pfarrersleuten als bei Löffelholz mit seinem Ansinnen. Sie hatte es Löffelholz zwar heimgezahlt, aber sie kam nicht los davon, die Zumutung als solche hatte ihre Würde verletzt. „Erscheinen Ihnen Hexenverbrennungsprozeduren mit anderen Mitteln als relevant?“ Sie sah den Pfarrer die Schultern heben, hörte ihn stammeln: „Sie denken an Rufmord …“ „Genau, Herr Pfarrer, die gemeinste Methode!“ Die Pfarrfrau sagte: „Hol uns einen Kognak, Martin.“ „Gute Idee, Frau Pastor …“ „Bloß Vikarin – verheiratete Frauen bringen es über diesen Status bis dato nicht hinaus. Ich bin Vikarin, werd’s bleiben, übrigens necken mich unsere Kinder deswegen.“ „Sie haben Theologie studiert?“ „Hab ich – und früher als mein Mann. Im untern Fach, Martin! Der da, der wieder mal die richtigen Gläser nicht 145
findet, war ein Saulus, bevor er sich auf den Weg machte, ein Paulus zu werden. Er war aktiver Offizier wie Bürgermeister Racke – freilich ohne Ritterkreuz. Trotzdem hat er es auf seine bescheiden zurückhaltende Manier im Generalstab bis zum Major gebracht. Prost.“ „Zum Wohl“, erwiderte Brigitte. Sie nahm sich sehr zusammen. Sie fragte sanft: „Waren Sie dafür oder dagegen?“ „Ich verstehe nicht.“ „Du mußt deine Begriffsstutzigkeit nicht übertreiben, Martin, Frau Strömberg meint natürlich diese suspekte Liste. Ich habe mit Nein gestimmt.“ „Und ich“, gestand der Pfarrer, „habe mich der Stimme enthalten.“ Er lächelte verkrampft. „Sie wirft es mir jetzt noch vor.“ Die Pfarrfrau kam ihm zu Hilfe. „Erstens“, sagte sie, „schuldet er Ihnen keine Rechenschaft, zweitens haben Sie bestenfalls vage Einblicke in hiesige Verhältnisse, drittens ist die Kirche in erster Linie für ihre Anhänger da. Er hat das Gewissen seiner Lemdorfer Gemeinde überschätzt, ein Manko, mit dem er sich herumschlägt. Was geht Sie das eigentlich an?“ Brigitte stoppte ihr Gerät. Sie dachte an ihre Eltern, ihre Eltern waren – Nathalies Schilderungen zufolge – Christen gewesen, sie hatten ihr Leben für ihre Überzeugung geopfert und hatten Verfolgten anderer Gesinnung uneigennützig geholfen. Mutter – wie sah sie aus? Ihre Hand, ja, ihre Hand – reicht dir einen Becher bläulicher Milch, Magermilch. Die Hand streicht deine Kissen glatt. Du siehst nur die Hand. Vielleicht verwechselst du deiner Mutter Hand mit Nathalies Hand, verwechselst vielleicht deines Vaters Hände längst mit den Händen deines polnischen Pflegevaters. Merkwürdig, daß man Hände im Gedächtnis behält. Starke Hände haben dich gepackt und 146
hochgehoben – wessen Hände? Wie dir dein eigenes Jauchzen plötzlich im Ohr widerhallt. Und woher auf einmal die Erkenntnis, daß deine Eltern genau wußten, was ein Ja wert ist und was ein Nein bedeutet? Woher, woher? Lau waren die wohl nie, sonst lebten sie ja noch in einem Land, in diesem Land, in einer Zeit, in dieser Zeit, wo nur der Leitungsstarke etwas gilt. Wenn du nicht die Kraft hast, im Tiefen zu schwimmen … „Warum bringst du mir nicht meinen Kaffee, Kläre!“ Kläre Faßbender starrte auf den Marktplatz, sie wandte nicht einmal den Kopf. „Du bekommst Besuch, Alfons“, sagte sie. „Besuch? Von wem?“ Racke trat näher. Spengler spazierte ohne Eile daher. Unterwegs gab er seinem Käfer einen liebevollen Klaps. „Du wirst diesem Schnüffler sagen, daß ich weggefahren bin.“ „Wohin?“ fragte Kläre. „Dienstlich unterwegs …“ „Nach Bonn?“ schnitt Kläre ihm das Wort ab. „Werd bloß nicht frech!“ „Hast du Angst, Alfons?“ „Was ist bloß mit dir los, Mädchen, ich kenn dich überhaupt nicht wieder …“ „Kaffee, Herr Bürgermeister, sofort. Da wäre noch meine Überstundenaufstellung, vielleicht sehen Sie sich die mal an.“ „Bist du verrückt?“ „Aber keineswegs, Herr Bürgermeister, darf ich Kaffee für zwei servieren?“ Rackes Stirn lief dunkel an.
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25 Gezwitscher. Geschnatter. Satzbrocken. „Was hier los is?“ Unverkennbar gehörte dieser Baß Will Bartels. Brigitte sah ihn so deutlich vor sich, wie sie vorhin den Pfarrer gesehen hatte, der zuviel damit zu tun hatte, in drei Sprengeln Kinder zu taufen, junge Paare einzusegnen, das Wort Gottes zu verkündigen, es seinen Oberen und seinen Schäflein recht zu machen, als daß er sich Muße hätte nehmen können, sich um Menschen zu kümmern. „Wir haben das doch nicht gewollt …“ Brigitte sah Matthes, sah seine langsamen Bewegungen, erkannte die Schwerfälligkeit seines Denkens. Sie sah auch, wie er mit den Fingerkuppen aus langjähriger Gewohnheit die Brusttasche über seinem Herzen streifte. „Bei uns hat es nie solche Delikte gegeben.“ Sie sah, wie er auf das Mikrofon schielte, das sie ihm hinhielt. „Dann und wann erteile ich Verwarnungen, wenn mal ein Junge zu schnell Motorrad fährt oder Fensterscheiben einschmeißt.“ Und da war der leiernde Ton einer Kinderstimme. „Renate? Och – die war nett. Die mochten wir alle gern.“ Eine andere Kinderstimme: „Der is immer was eingefallen. Erst haben wir gelacht, die war so komisch, aber dann hat’s uns Spaß gemacht, weil sie so Spiele wußte. Die hat so komisch gesprochen, später nich mehr, un da hab’n wir auch nich mehr gelacht.“ Ein Junge sagte: „Mein Papa hat. gesagt, ich soll nich mit der gehen, er hätt Scherereien genug. Ihr Papa un ihre Mama wär’n vom Iwan hergeschickt, un er hätte die Schnauze voll vom Iwan.“ 148
Stimme eines kleinen Mädchens: „Meine Mama hat gesagt, die Altmanns sind ins Dorf gekommen, um uns alles wegzunehmen, auch die Zicke un ’n Garten.“ Jetzt, beim Abhören und Rückspulen, entsann sich Brigitte, daß Matthes verschreckt gewesen war, jetzt, nachträglich, las sie in seinem Gesicht wie in einem offenen Buch. „Dummejungenstreiche“, sagte Matthes, „haben eben vor lauter Kraftüberschuß hin und wieder ’n ordentlichen Zahn drauf. Wenn mal einer über’n Durst getrunken hat …“ „Da wundere ich mich aber sehr, daß Racke seinem Ältesten gestattet, über den Durst zu trinken. Ich bin ein bißchen ratlos, Herr Matthes, Sie müssen mir helfen – ja? Sie sind ein Staatsbürger in Uniform und außerdem Lemdorfer. Wer außer Ihnen hätte – nun ja – den Überblick, diesen Blick aufs Ganze? Ich persönlich halte es absolut nicht für abwegig, daß die Altmanns fragwürdige Kontakte unterhielten.“ Matthes reagierte sofort: „Er nicht – sie war an allem schuld. Er war ein ordentlicher Mann, sie hatte Freunde, wie man so sagt.“ Seine Augen in dem biederen Gesicht verloren den Ausdruck. „Man kann sie nun nicht mehr haftbar machen.“ „Sind Sie beim Iwan in Gefangenschaft gewesen?“ „Bin ich.“ Matthes nahm Haltung an. „Aber nur kurz. Ich war Spieß. Einmal nachts schlugen wir uns zu unsern eigenen Linien durch, ich und mein Zug.“ „Zweifellos haben Sie wie ein Fuchs reagiert.“ „Hab ich“, erklärte Matthes, „mein Haufen damals – das war vielleicht ’n Haufen –, da gab’s keine Widerrede, da wurde zusammengehalten …“ „Kann ich mir gut vorstellen.“ „Heute ist das ja anders, aber wo kämen wir hin, wenn 149
unsereiner sich nicht an die Dienstvorschrift hielte, ich kann mich ja ’m Bürgermeister nich widersetzen.“ Brigittes Handflächen waren heiß und feucht geworden. Sie bedurfte dringend eines unvorbelasteten Ratgebers. Und erwischte den Lehrer, sah, während sie seiner Stimme lauschte, Detlef Sörensen in seiner kärglich eingerichteten Stube im Schulhaus. Ziegelroter Backsteinbau. Häßlich. Die Fenster schmal und niedrig. Links neben dem dunklen Korridor befand sich der Zugang zur einzigen Klasse. Und sie sah nun diesen Lehrer mit dem klangvollen Namen in seinem jammervollen Asyl mit dem Kanonenofen – ein Wunder, daß er überhaupt noch Wärme hergab – zwischen Bücherbrettern, und sie las Titel von schmucklosen Bücherrücken. Entdeckte Lithographien. Eine stellte Karl Marx dar, die andere Lenin, die dritte … Sie grübelte, bis es ihr einfiel: Ernesto Che Guevara. Sörensen sagte: „Sitze auf eigenen Wunsch in dieser Bude, mein Vorgänger, der Kantor, hatte sein Domizil im Pfarrhaus, war auch Junggeselle, aber alt. Und hat Bienen gezüchtet. Bienen“, wiederholte er verächtlich. „Bin in dieses Kaff abgeschoben worden – Endstation. Letzter Versuch der Schulbehörde. Früher hat man so was Strafversetzung genannt. Als das mit Altmanns passierte, war ich gerade aus den Sommerferien zurück. Hab sie am Fließband unter Gastarbeitern in der Automobilindustrie verbracht. Ich habe auch sonst mit denen zusammen gelebt in ihrem Viertel – Getto sollte ich lieber sagen. Faßbender war ja skeptisch, als ich mein Anliegen an ihn herantrug, aber gebürgt hat er dann doch für mich. Ich bin in der verhängnisvollen Phase leider nicht hiergewesen. Faßbender drückt sich nicht deutlich aus, aber kauen tut er immer noch dran – und wie! Da hat’s ihm doch 150
einmal seine Sowohl-Als-auch-Devise weggeblasen – aber wie! Der Laden hier ist ne Einklassenschule, falls Sie damit was anfangen können. Alles ist haargenau noch so wie dunnemals, als Grothus und Bartels mit Lisbeth Racke drinsaßen – trotz Bildungsreformgeschwafel ist hier wie überall alles beim alten geblieben. Sagten Sie was?“ „Nein.“ „Bartels und Grothus flegelten auf der rechten Seite vom Katheder, Lisbeth malte links mit ihrem Griffel rauf, runter, rauf, Pünktchen obendrauf. Grothus und Bartels und Matthes und Faßbender wurden währenddessen fix mal in so was wie Erdkunde eingeführt. Bartels und Grothus gerieten ungeachtet ihrer miserablen Vorbildung aufs kreisstädtische Gymnasium, wo Bartels die mittlere Reife schaffte, Grothus – gerissener Bursche – das Abitur. Unser funktionstüchtiger Revierposten meldete sich zu den Soldaten – ein selten befähigter Zwölfender, ein Musterbeispiel geradezu. Bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr hatte er verschiedene Male die Lehrstelle gewechselt und schließlich doch seinem Vater beim Schafehüten geholfen. Der alte Matthes soll ein tüchtiger Schäfer gewesen sein. Er ließ sich – zu seinem eigenen Schaden – vom alten Isernhagen übers Ohr hauen. Er nahm eine Anleihe auf. Isernhagen hatte ihm zugeredet, sich Merinos anzuschaffen und in seinen Stamm einzukreuzen. Eine Sache auf lange Sicht. Isernhagen präsentierte die Rechnung zu früh und kassierte die Herde. Der alte Matthes verlor darob seinen Verstand. Übrigens gewährte Isernhagen ihm das Gnadenbrot. Er durfte seine Schafe, die nun Isernhagens Schafe waren, weiter weiden. Und als er tot war und Feldwebel Matthes aus dem Krieg heimkam – wo sollte er sonst hin? –, sorgte Bauer Isernhagen mit seinem ganzen Einfluß, der war beträchtlich 151
damals; als zuständige, wiewohl provisorische Behördenvertreter am Hungertuche hätten nagen müssen, hätte es keine ehemaligen Erbhofbauern – sprich: Isernhagens – gegeben … Pardon, ich habe den Faden verloren.“ „Isernhagen“, sagte Brigitte, „machte aus Matthes, indem er für ihn gutsagte, einen Polizisten.“ „So ist es.“ „Sie sind mit der Ortschronik bestens vertraut.“ „Bin ich.“ „Darf ich fragen, woher Ihre dezidierten Kenntnisse rühren?“ „Von wem wohl?“ „Faßbender?“ „Hut ab vor Ihrem Scharfsinn. Vergegenwärtigen Sie sich, falls Sie dazu imstande sind: Lisbeth Racke empfängt, züchtig schwarz gekleidet, ’n Haus weiter vorm Altar des Herrn den vorläufig letzten Schliff. Ihre Konfirmation soll ein rauschendes Fest gewesen sein mit mehr als nur ortsüblicher Völlerei. Faßbenders Mutter erinnert sich genau: sie half in der Küche um all der guten Sachen willen, die für ihre Familie abfielen. Damals war Viktor Gehilfe beim alten Bartels und trug sich mit Ausbruchsideen. Zum Kotzen. Auch Sie kotzen mich an.“ „Hoppla, Herr Sörensen!“ „Jawohl, Sie kotzen mich an. Korrupte Schweine – Meinungsmacher …“ „Bleiben Sie sachlich – bitte.“ „Stiert auf ne Leiche, und wenn ihr sie auswalzen könnt für ne sensationelle Artikelserie, stürzt ihr euch drauf, andernfalls laßt ihr sie liegen. Machen wir uns doch nichts vor, euch geht’s auch bloß um euern Profit.“ Brigitte wunderte sich, jetzt, beim Nacherleben der Szene, daß sie still geblieben war. Eine schlüssige Antwort auf 152
ihr Benehmen – es entsprach so wenig ihrem Temperament – fand sie noch nicht. Sörensen. Klein von Wuchs. Sein Anzug – salopp. Sein blasses Gesicht voller Ingrimm. Plötzlich waren seine Augen weich geworden. „Wir haben in der Küche gesessen, Ilse Altmann und ich, ich glaube, es ist Ende Mai gewesen, Anfang April hatte es mich nach Lemdorf verschlagen. Man müsse sich anpassen, hat sie gesagt.“ Das Lächeln um seinen Mund verschwand. „Wer hat recht behalten? Ich! Oder wollen ausgerechnet Sie mir weismachen, man kann sich anpassen an die Lemdorfer Scheißbande, die mit Fernstechern auf der Lauer lag und der Altmann ins Zimmer glotzte?“ „Vielleicht“, hörte Brigitte ihre viel zu gelassene Stimme. Ein paar Herzschläge lang kam sie sich schäbig vor. „Wie hätten Sie denn reagiert, wenn so ein halbstarker Lümmel mit lauter Schlaksen in seinem Gefolge Hure hinter Ihnen her gebrüllt hätte?“ „War der Anführer der Bande Rackes Ältester?“ „Wenn so ein boshafter Schlingel Ihre Fensterscheiben demoliert hätte?“ „Vermutlich hätte ich ihm – und gehörig – hinter die Löffel gehaun.“ „So – hätten Sie?“ Sörensen musterte jeden Zoll Strömberg und rümpfte die Nase. „Der Jüngling ist zwar dämlich, aber stark wie ein Ochse. Nichts hätten Sie ausgerichtet! So was soll man seiner Frau ja auch nicht überlassen.“ „Trotzdem hätte ich ihn mir gegriffen.“ „Wie denn?“ „Falls nach Lage der Dinge meine Anzeige beim Revierposten nichts gefruchtet hätte …“ Sie stieß zu: „Mit Unterstützung meiner Freunde.“ 153
Sörensen atmete keuchend ein. Geriet in Verzug. Sie nutzte die Pause. „Was sind Freunde wert“, hörte sie sich fortfahren, „wenn sie trotz Marx“ – sie schöpfte die Pause weiter aus –, „Lenin“ – abermals verging eine Pause – „und Che Guevara in Stunden der Not versagen?“ „Ich war ja nicht hier, Sie haben gut reden …“ „Bloß eine kleine Lektion, die müssen Sie mir wohl oder übel zugestehen, zumal Sie mit Ihren Vorwürfen ja äußerst freigebig gewesen sind. An Ilse Altmanns Stelle hätte ich mich gewehrt.“ Sörensen schien erleichtert. „Prima. Setzen wir mal den Fall, Ihr Mann hätte Einspruch erhoben …“ „Vielleicht hätte ich meinen Mann rumgekriegt.“ „Ist das eine Einschränkung oder ist das keine?“ „Es ist eine.“ „Sehen Sie“, triumphierte Sörensen, „genau an dem Punkt ging der Ilse die Puste aus.“ „Bedauerlich. Mir wäre sie nicht ausgegangen. Ich hätte einen Rechtsanwalt zu Rate gezogen.“ „Lemdorf ist ein Spinnennetz mit dünnen, stahlharten Fäden.“ „Frau Altmann arbeitete in der benachbarten Kreisstadt.“ „Na und – was besagt denn das?“ „Ich hätte der Polizei dort einen Wink gegeben.“ „So – hätten Sie.“ „Ist natürlich falsch, ich hätte es meinem Rechtsanwalt überlassen, den entsprechenden Wink zu geben.“ „So einfach ist das also.“ „Na und?“ „Sie vergessen total, daß Racke als Kreistagsabgeordneter über eine gewisse Immunität verfügt. Gegen so was kann doch ein normaler Bürger nicht anstinken.“ 154
„Nehm ich Ihnen nicht ab, also wirklich, Herr Sörensen, das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht abnehmen.“ „Halten Sie das, wie Sie wollen. Ich schaue aufs Ergebnis. Unter dem Pack in diesem Scheißnest herrscht Einigkeit. Und was Altmann betrifft, aus dem war so ein Kleinbürger, so ein Spießer geworden: nur nicht unangenehm auffallen, bloß nicht aus der Reihe tanzen, wird schon alles werden, jeder muß sich nach der Decke strecken.“ „Was hat eigentlich Faßbender unternommen, um beide Altmanns aus ihrem Dilemma herauszumanövrieren?“ „Sie stellen Fragen …“ „Das gehört zu meinem Beruf. Ich will ja wirklich nicht an der Oberfläche der Erscheinungen klebenbleiben.“ Damit hatte sie sich festgelegt. Sie begriff es nun. Sörensens unverschämte Ausbrüche hatten zu ihrem Entschluß wesentlich beigetragen. Und sein verlorenes Lächeln. Und seine schiefgerutschte unmögliche Krawatte. Sie hätte sie gern geradegerückt. Sörensens Stimme: „Ich komme mir wie Jonas im Walfischbauch vor; sooft ich raus will, stoß ich gegen Wände aus Glibber, aus Schleim.“ „Arschloch!“ „Geht in Ordnung“, erklärte Sörensen überraschend gefügig. Er setzte fort: „Gespenster tappen herum. Man sollte dieses ganze beschissene Lemdorfer Panorama untern Tisch fegen, wegschmieren wie beim Blues. Aber tun Sie das mal, wenn Sie gern Lehrer sind. Diese alten Kriegsgurgeln! Ich bin mir längst im klaren darüber: Bringst du nicht die Kraft auf, gegen den Strom zu kraulen, mußt du mit dem Flachen vorliebnehmen. Ilse Altmann war zu schade für Lemdorf, viel zu schade für ihren Trottel von Mann.“ 155
26 Spengler nickte Fräulein Faßbender freundlich zu, bevor er Rackes Wink gehorchte, im Besuchersessel Platz zu nehmen. „Kaffee gefällig?“ erkundigte sich Racke. Kläre Faßbender nahte bereits mit dem Tablett. Sie servierte auf dem runden Tisch neben der Tür. Und nahm sich Zeit dazu. Spengler, der ihre Hantierungen beobachtete, sah, daß sie schlank und hochgewachsen war und hübsche Bewegungen hatte. Er sah nur ihr Profil. Ihre Figur erinnerte ihn an Regine. Er fühlte ein Ziehen in der Herzgegend. „Also schön“, sagte Racke, „setzen wir uns drüben hin. Vielen Dank, Fräulein Faßbender.“ Er wedelte sie mit einer Handbewegung weg. Spengler fand, es war eine unmutige Gebärde. „Hoffentlich habe ich Sie nicht gestört, Herr Bürgermeister.“ Racke nahm den Satz mit hochgezogenen Augenbrauen zur Kenntnis. Und entgegnete nichts. „Ich weiß zu schätzen, daß Sie mich in Ihrem Amtsbereich gastlich empfangen.“ „Mächten Sie einen Doornkat?“ „Sehr liebenswürdig, vormittags nie. Im Pfarrhaus wurde mir überdies bereits Campari kredenzt. Die Sache zieht sich etwas hin.“ „Welche Sache?“ „Nun, es gibt eine Affäre Altmann, die behördlicherseits vielleicht doch ein wenig vorschnell ad acta gelegt wurde, sonst gäbe es den Fall Strömberg nicht. Momentan ist noch unklar, ob man zu guter Letzt in 156
beiden Fällen von Unglücksfällen wird reden müssen. Sie verstehen hoffentlich.“ „Bedaure – nein.“ Racke sagte das mit seiner angenehmen Stimme. Er legte die Handflächen gegeneinander und schüttelte leicht den Kopf. „Falls es nicht zu große Umstände verursacht“ – Spengler betrachtete Rackes angegraute Schläfen, seine gepflegten Fingernägel, sein pieksauberes Hemd, lächelte unbefangen –, „möchte ich doch vielleicht einen Doornkat.“ „Kläre!“ rief Racke, zuckte kaum merklich zusammen – Spengler registrierte es –, rief noch einmal: „Fräulein Faßbender – bitte die Schnapsgläser!“ Kläre Faßbender eilte keineswegs hurtig herbei, Spengler registrierte auch das, förderte Gläser zutage aus einem Wandschrank, während Racke eine Steingutflasche aus seinem Diplomatenschreibtisch holte. „Zu warm“, stellte er fest. „Fräulein Faßbender!“ brüllte er mit beträchtlichem Stimmaufwand. „Wie oft soll ich Ihnen noch sagen …“ Er hielt unversehens inne. „Also Eis“, setzte er neu an. „Selbstverständlich, Herr Bürgermeister, sofort. Ich brauche nur ins Tiefkühlfach zu langen.“ Racke schien bis zehn zu zählen, ehe er antwortete. „Sie sehen“, sagte er, „auf meine Sekretärin ist Verlaß.“ Spengler nickte. „Beneidenswert – ich meine, Sie sind wirklich zu beneiden.“ Es ging ihm beträchtlich wider den Strich, daß er des Zweckes halber Regine verriet. „Die Damen heutzutage – wirklich, ich habe da eine Menge negativer Erfahrungen.“ „Kommen Sie zum Thema – ich will Sie ja nicht drängen …“ „Vor meinem Besuch beim Pfarrer empfing mich Herr Sörensen. Mit dem Mann muß etwas nicht stimmen, er 157
machte einen nahezu trübsinnigen Eindruck. Wie ein Kirchturmdachdecker kurz vor dem Absturz. Und Sie waren nun der letzte, der Frau Strömberg lebend sah. Sie haben Frau Strömberg begleitet.“ Spengler änderte den Ton. „Warum?“ fragte er scharf. Racke antwortete um etliche Nuancen verbindlicher, als er vordem gesprochen hatte: „Das Unglück verfolgt mich seither wo ich gehe und stehe …“ „Warum?“ unterbrach Spengler. „Die Sache ist die“, sagte Racke, „ich habe eine nervenkranke Frau, und ich gewann so ausgezeichneten Kontakt zu Frau Strömberg, daß ich mich ihr schließlich anvertraute.“ „Im Deutschen Kaiser?“ „Jawohl.“ „Wann?“ „Am Vorabend unserer gemeinsamen Fahrt. Von Frau Strömberg stammte die Anregung, ich sollte mit ihr nach Dornburg fahren. Dort sollte ich, ohne erst um einen Termin ansuchen zu müssen, Frau Oberärztin Doktor Kotter direkt konsultieren. Frau Strömberg akzeptierte ohne weiteres meine Bitte um äußerste Diskretion. Für einen Mann in meiner Stellung …“ „Verständlich“, Spengler nickte, „aber all das sagt mir eigentlich noch nicht, was ich wissen will. Sie müssen ja beide ganz aus dem Häuschen gewesen sein. Haben Sie ein Wettrennen veranstaltet? Der Anlaß ihrer Tour war doch recht gravierend. Es muß doch niederdrückend sein, wenn man sich als Mann von Rang heimlich davonstehlen muß, weil man die langjährige Ehegefährtin geistig für unnormal hält. Und ihr helfen möchte. Und seinerseits versucht, Hilfe zu finden.“ Spengler lehnte sich zurück. Er blickte die Wand an. Ein Bild hing dort: Wasser, 158
Wald, äsendes Wild, der volle Mond beschien die idyllische Szene. „Sind Sie Jäger?“ fragte er unvermittelt. „Jawohl“, bestätigte Racke. Er starrte düster in sein leeres Glas. „Das war ja ein halsbrecherischer Slalom, den Sie beide da aufgeführt haben.“ „Wieso?“ „Um im Bild zu bleiben: auf der Abfahrt nach Dornburg hinunter verfügten Sie über prachtvoll gewachste Rennskier mit scharfen Kanten, die Strömberg hatte bloß Fichtenbretter und eine miserable Bindung.“ „Ich verstehe wirklich nicht.“ „Ach“, sagte Spengler, „ich liebe Gleichnisse, und ich bin ja eigentlich bloß zu Ihnen gekommen, um Ihnen offiziell mitzuteilen, daß Sie auf Ihren BMW noch ein Weilchen werden warten müssen. Erst war die Verkehrsunfallbereitschaft am Werke, jetzt hat die Kriminaltechnik Ihr Fahrzeug in Verwahr. Die Kollegen arbeiten langsam, dafür aber gründlich.“ „Ich bin informiert worden, Sie erzählen mir nichts Neues.“ „Trotzdem interessiert es Sie vielleicht, daß Mordkommission und Kriminaltechnik im schwebenden Falle kooperieren. Bevor man Lackschäden mikroskopisch fixiert hat – nun, das dauert. Aber es pressiert ja nicht. Die Gummiteilchen auf der Fahrbahn waren ziemlich schnell eruiert. Sonst hätte ich mich ja wohl gehütet, Ihren risikoreichen Pistentrip zu erwähnen. Von einem bestimmten Punkt ab sind alle Gefahren gleich – gar keine Frage.“ „Sie sehen mich außerstande …“ „Bleiben Sie doch sitzen“, sagte Spengler sanft, „nur noch ein paar Minuten, dann sind Sie mich los.“ Er nippte 159
vom Doornkat. „Wir suchen Material zusammen. Sie, Herr Bürgermeister, bedürfen keiner Aufklärung, wie so ein moderner Polizeiapparat funktioniert. Da gibt es ein Elektronengehirn, Lochkarten, Gerichtsprotokolle, Akten und so weiter, Laboratorien, alle möglichen technischen Hilfsmittel mit einem Wort. Zu guter Letzt wird so ein Computer, den die Landesregierung für einige Millionen im Kriminalamt installiert hat, gefüttert. Quasi als Dessert kommen die Indizien obendrauf. Ich persönlich überschätze diese Methode nicht, zumal ich einen Chef habe, der kraft eigener Anstrengung die Wahrheit herauskriegen will – und nichts als die Wahrheit.“ „Meine Stimme gehört der Verfahrensweise Ihres Chefs.“ „Vortrefflich, Herr Bürgermeister, damit wären wir uns einig.“ „Freut mich, wirklich, ich freue mich sehr, daß Sie mich aufgesucht haben. Aber trinken Sie doch endlich aus …“ Racke, fand Spengler, hatte kein Gesicht mehr, er war nur noch ein gutangezogener Mann. „Die Indizien“, sagte er, „als da wären Reifenabdrücke und“ – er pausierte, blickte auf seine Armbanduhr, erhob sich – „das Tonband. Mein Chef, Kommissar Weinheim, hat seine Verwunderung darüber geäußert, daß der Schlußteil offenbar gelöscht wurde.“ „Gelöscht?“ fragte Racke, „Inwiefern gelöscht? Diese Minigeräte haben manchmal ihre Mucken. Falls ich recht informiert bin“, fügte er hinzu. „Sie sind erstaunlich gut informiert, Herr Bürgermeister. Ich wollte im Grunde nur wissen, ob die Tote Ihnen etwas über den Schlußteil gesagt hat. Nein? Sie kann dieses letzte Drittel des Bandes ja durchaus selber gelöscht haben.“ 160
Weinheims junger Mann ließ einen Racke zurück, der einigermaßen verstört aussah, als Kläre Faßbender erschien, um das Geschirr abzuräumen. 27 Racke. Racke? Racke mußte her, aber Racke wollte nicht erscheinen, Racke entzog sich durch den Unverstand der Technik. Statt dessen: Focks Kneipe mal wieder. Das übliche Gläserklirren. Die üblichen Zurufe von Tisch zu Tisch … Weg damit. Und jetzt der grämliche Gemischtwarenhändler Schröder, diesmal – sie entsann sich sogleich – in seinem peinlich aufgeräumten Büro hinter dem Laden. „Erst mal fielen die aus dem Rahmen, weil sie sächsisch redeten, wogegen man nichts einwenden kann, niemand kann sich ja aussuchen, wo er und von wem er geboren wird.“ Quatsch, dachte Brigitte, es geht mir gegen den Strich, ich weiß mit solchem Quark nichts anzufangen, ich hasse die Stupidität dieser verdammt ordentlichen Leute, die so verdammt gedankenlos sind, daß meine Haut kribbelt. Und nun Bartels. Sie sah ihn in seinem Overall, wie er mit einem Putzlappen über die Bugfläche ihres VW fuhr. „Alles Käse, saublöde Ausflucht – der Schröder steht kurz vorm Bankrott, hat sich mit seinem Umbau übernommen, bringt die Zinsen fürs Bankdarlehen kaum noch auf ’ und wenn ihm Lisbeth die Hypothek auf seinem Grundstück kündigt, die er von seinem Alten geerbt hat, dem’s mal so um neunundzwanzig rum in den Jahren der 161
Depression dreckig ging, ist er erledigt. Er steckt über beide Ohren drin. Warum? Können Sie sich selber ausrechnen. Hat nie was riskiert, nie was auf die eigne Kappe genommen. Als er endlich was riskierte, war’s zu spät. Nicht beweglich genug, der Mann.“ „An seiner Stelle hätte ich mich an Grothus gewendet.“ „So – hätten Sie, da kennen Sie Grothus schlecht, der verleiht kein Geld, der legt sein Geld nützlicher an. Der hält von Überlieferungen nur was für seine eigene Person, und wenn er spekuliert, spekuliert er im großen.“ „Hören Sie, Herr Bartels …“ „Weiß schon, was Sie sagen wollen, Sie wollen wissen, was dieser Schiet mit den Altmanns zu tun hat. Sind Sie jemals in Ihrem Leben neidisch gewesen?“ „Nein.“ „Dann können Sie nicht mitreden, dann haben Sie keinen Begriff von wirklicher Niedertracht.“ „Erinnern Sie sich? Sie haben mir vor noch gar nicht langer Zeit gesagt, daß Sie etwas auf dem Herzen hätten.“ „Der Altmann wollte vorwärtskommen. Weiter wollte er nichts. Vor seiner Frau hatte ich Respekt. Nahmd ok, Willem, bis morgen denn – ja, ja, ich schließ schon zu. Mein erster Monteur, auf den is Verlaß …“ Brigitte hörte das Geräusch sich entfernender Schritte, ein Schlüsselbund rasselte. Über dem Werkstatthof erloschen die Lampen. „Kommen Sie rein in die gute Stube.“ Frau Bartels rief: „Beeilt euch, Kinnings, Essen is gleich fertig!“ Ein Zimmer – wieder eins. Immerhin lag es in einem modernen Bungalow, und eine namens Strömberg, deren Hand zur Seite faßte, um den Empfang leiser zu stellen, wollte nichts weiter als – raus. Aber wie sollte sie? „Ruth hat den Braten ja gerochen …“ 162
„Gar nichts hab ich gerochen, ich hab mich genauso täuschen lassen wie alle.“ Erst muß das Kind in den Brunnen fallen, dachte Brigitte böse. Sie hörte nicht mehr zu. Sie grübelte inmitten künstlich zum Flüstern herabgedämpfter Stimmen. „Alles schien von ihr abzugleiten wie Wasser, sie ging stracks ihren Weg, kümmerte sich um nichts und niemanden. Ich bin zu spät dahintergekommen, ihre Haltung war ja ihre einzige Waffe, mit der Sympathie der Mannsleute und der Antipathie der Weiber fertig zu werden.“ „Nun übertreib mal nicht, Ruth, du baust ja ne Märtyrerin auf. Du darfst den Franz nicht vergessen. Sitzt in Focks Kneipe, unbeachtet – wir vom Stammtisch spielen unsern Skat, manchmal schmeißt Grothus ne Runde fürs ganze Lokal. Eines Tages reißt dem dummen Hund der Knoten. Er rappelt sich zusammen und schreit seine Weisheit in die Gegend: Was alles für die Kinder, für junge Arbeiter und Studenten, für Alte und Kranke drüben getan würde – so ungefähr. Wenn’s Sörensen gesagt hätte – in Ordnung. Wenn Faßbender das gesagt hätte – auch in Ordnung, den kennt ja jeder, der will ja bloß Grothus hochbringen. Aber von einem Flüchtling, dessen Weizen allen sichtbar sprießt, hört man so was nicht gern, da meint ja jeder, warum is der nicht in der DDR geblieben?“ „Genau, Herr Bartels.“ „Sehen Sie!“ „Warum kneifen Sie eigentlich?“ „Ich! Ich kneife nie!“ „Trink erst mal ’n Schluck, Will, war ’n langer Tag für dich. Prost, Frau Strömberg. Wir haben was Saublödes angestellt. Erzähl du weiter, Will.“ „Die Sache ist die …“ 163
Ein Film lief ab. Regisseure wie Fellini hätten wegen der Armseligkeit der Ereignisse etwas Großartiges daraus gemacht. Ein älteres Ehepaar, das sich gut versteht – geschäftlich und überhaupt –, fährt mal eben in die nahe gelegene Kreisstadt ins Kino. Nach der Vorstellung bleiben sie im allgemeinen nie hängen, sie freuen sich auf die Gemütlichkeit zu Hause. Einmal durchbrechen sie die Gewohnheit. „Beim Rausgehn trafen wir Oskar Hardank mit seiner Freundin.“ „Einen von dieser Jehova-Hühner-Sippe?“ „Sie liegen goldrichtig. Der hatte ’n Hühnchen zu rupfen mit Lisbeth Racke. Damals war er noch nich verheiratet.“ Fellini hätte den Rubikon überschritten, den Plätscherbach, der nach nichts aussah. Das war dann Kunst, dies hier … ach! Wahrscheinlich hatte sie sich im vorhinein alles versaut mit ihrem Rundlauf von Detail zu Detail. Nichts schob sich ineinander, alles lag undeutlich am Rande, häufte sich dort. Und stank. Jedenfalls stank es ihr. Sie hatte keine Lust mehr, im Müll zu wühlen. Trotzdem beschaute sie die Szene. Ruth und Willi Bartels besuchen zu vorgerückter Stunde den Deutschen Kaiser, essen eine Kleinigkeit, trinken mit Oskar und seiner Freundin erst Bier, später Wein. Oskar, braver Absolvent des Gymnasiums, das auch Bartels besucht hat, wurde ein ebenso braver Bankvolontär. Sein Vater hatte die Weichen gestellt. Die Sippe benötigte allmählich einen gewieften Fachmann für ihre Transaktionen. Und der total verklemmte Bengel verguckt sich in ein Mädchen, das Mädchen verguckt sich in ihn. Sie ist Krankenschwester und Großstädterin dazu. Und sie leitet eine Rettungsaktion ein, die natürlich gelingt. Oskar frißt ihr aus der Hand. Nun muß er 164
nur noch aus der Sippe ausbrechen, das Mädchen steht ihm zur Seite. „Und da wurden sie am Waldrand bei einer unzüchtigen Handlung im Auto ertappt, und Ludwig Racke berichtete das, was er beobachtet hatte, brühwarm seiner Mutter, und seine Mutter mit einer Stimme so sanft wie Sommerwolken steckte es en passant beim Einkauf in Schröders Laden Oskars Mutter. Sie können sich vorstellen, was daraufhin passierte. Unser Delinquent wurde verhört und sollte Buße tun – öffentlich, das heißt vor versammeltem Clan. Wenn er den Beistand seiner Freundin nicht gehabt hätte …“ So etwas wird einem zugemutet. Es ist … ja, es ist unfaßbar. „Ich mußte mal raus.“ Brigitte griff mechanisch nach rechts. Bartels’ Stimme kam in voller Lautstärke. „Ich war ziemlich angeschickert – aber auf der Treppe, das war Racke, und neben ihm, das war Kläre. Ich muß wie ’n Kfz mit aufgeblendeten Scheinwerfern geguckt haben, als ich mich nach Kröger umdrehte, dem Nachtportier – na, kennen ihn ja. Kröger is auch ’n gebürtiger Lemdorfer – der hat bloß so gepliert und die Schultern gezuckt. Ihr werdet’s nich für möglich halten, hab ich drinnen erzählt, eben is Racke mit seinem Betthasen nach oben verschwunden. Kläre heißt sie, Kläre Faßbender. Oskars Braut mußte auch mal pinkeln …“ „Willi!“ „Mal verschwinden. Hinterher blickte sie mit ihrem Veilchenaugenpaar auf Oskar runter und sagte beiläufig: So, Liebling, der Tugendwachtel hab ich’s ein für allemal heimgezahlt. Sie hatte, statt pinkeln zu gehen …“ „Will!“ „… Lisbeth Racke angerufen – anonym. Für uns war das ein Heidenspaß, wir haben ihn begossen.“ 165
„Ich sehe keine Pointe – oder anders herum: Ich hab nicht mitbekommen, was Ihnen nun beiden auf der Seele lastet.“ „Unser Schabernack hat sich verselbständigt“, erklärte Ruth Bartels, „das haben wir zu spät gemerkt.“ Lange Pause. „Oskar ist bald danach mit seinem Mädchen weggezogen. Zu Festtagen schreiben sie uns ne Karte, daß sie glücklich miteinander sind und sich gern an unser Zusammensein im Deutschen Kaiser erinnern. Für sie ist Lemdorf erledigt. Aber wir – wir schämen uns. Weil wir nämlich Lisbeth nicht aufgeklärt haben – egal, ob die sich hätte aufklären lassen. Viel schwerer wiegt, wir haben versäumt, Ilse den Rücken zu steifen. Wir hätten offen an ihre Seite treten müssen.“ „Hätten – hätten“, knurrte Bartels. „Hast ja recht, Ruthi“, fügte er kleinlaut bei. „Lisbeths Haß schlug Blasen“, Ruth Bartels begleitete diese Worte mit einem gequälten Lächeln, „sie kombinierte auf ihre Weise – und kam auf Ilse. Nur sie konnte der nächtliche Anrufer gewesen sein! War gar nicht mal so weit hergeholt …“ Fellinis Blick für Übergänge. Versuch doch noch ein bißchen. Hagemeister: „Meine Wenigkeit hat nichts zu verbergen, halten Sie’s bitte fest. Also ich sah Frau Ilse in fremden Straßenkreuzern vorbeifahren, womit ich nichts Nachteiliges gesagt haben will. Ich hab mich ausgesprochen gut mit ihr verstanden, eine belesene Person, ja. Sie waren auf alle möglichen Zeitschriften abonniert, der Franz war ja rein verrückt mit seinem Garten. Auch der Neckermann-Katalog langte regelmäßig an. Ich mußte häufig zu ihnen hinaus, Frau Ilse servierte mir in der Küche eine Tasse Kaffee, zeigte 166
mir die Neuanschaffungen, die Küche war schließlich pieksauber und piekmodern.“ „Nur die Küche?“ „Ich saß da auf der polsterbezogenen Bank, zu jeder Jahreszeit standen Blumen auf dem Tisch. Ich muß ja sagen, allmählich wurde ich so etwas wie ein Vertrauter. Ich bilde mir sogar ein, sie sehnte, wenn sie ihren freien Tag hatte, meine Ankunft herbei. Ich sagte zu ihr: Liebe Frau Ilse, sagte ich, Sie dürfen das alles nicht so tragisch nehmen. Die meisten sind doch ungebildet, sagte ich. Und sie erwiderte: Wir haben ein Kind, Herr Hagemeister, Kinder sind besonders empfindlich. Renatchen versteht das doch gar nicht, wenn ihre Spielgefährten sagen, sie wäre ein Russenbalg. Sie wird ja wie ein Mischling behandelt. Ich sagte: Kommt Zeit, kommt Rat …“ „Sagte sie tatsächlich Mischling?“ Hagemeister stimmte zu. „Es wird nicht besser, Herr Hagemeister, sagte sie, es wird von Tag zu Tag schlimmer.“ Brigitte sah Hagemeister an Ilse Altmanns Küchentisch, sah ihn als Schienengänger in einem Tunnel, hinter dessen Rücken das Donnern des Schnellzuges anschwoll, dem aber aus langer Gewohnheit die Nische in der Felswand bekannt war, in die er sich rechtzeitig hineindrückte, um unverletzt zu bleiben. „Ich will mich ja nicht offiziell festlegen, ich möchte nur betonen: meine Wenigkeit hat alles versucht …“ „Was haben Sie versucht?“ Wohlgemut trat der Schienengänger ins schotterbestückte Gleis seiner Bestimmung. „Nun – alles. Zum Guten hab ich geredet.“ „Reicht das aus?“ „Konnte ich denn noch mehr tun, gnädige Frau?“ 167
„Vielleicht konnten Sie wirklich nicht mehr tun – als Lemdorfer Amtsträger.“ Hagemeister erklärte beleidigt: „Ich bin Bundespostbeamter.“ „Aber Sie sitzen im Gemeinderat und befassen sich mit Lokalpolitik.“ „So ist es“, bestätigte Hagemeister. „Sie halten gar nichts von dem Slogan: Eine Hand wäscht die andere.“ „Wie richtig Sie mich beurteilen, liebe gnädige Frau! Stets bin ich bestrebt, das generell unterschätzte Zünglein an der Waage zu sein.“ „Und Frau Racke?“ „Lisbeth?“ Brigitte merkte, sie hatte an einen empfindlichen Nerv gerührt. „Frau Racke ist ihrem Gatten immer treu gewesen, sie hat ihn, möchte ich mal sagen, mit unsern Verhältnissen vertraut gemacht, sie hat ihn erst so richtig eingeführt. Er wär nie der geworden, der er ist, ohne diese verständige und selbstlose Gefährtin.“ „Wenn Sie es so ansehen“, hörte sie sich lahm erwidern, und sie dachte an die altersbraunen Bänke in der sauber getünchten Kirche mit den verschnörkelten Namenszügen alteingesessener Familien auf ovalen Emailleschildern, dachte daran, daß Lisbeth Racke regelmäßig den Gottesdienst besuchte, sogar im Chor mitsang, und da kam ihr in den Sinn, was der so andersgearteten Ilse Altmann gefehlt hatte: ein Mensch zum Zuhören. Hagemeister mochte so ein Mensch für sie gewesen sein, und es war ihr wohl gleichgültig gewesen, daß das Männchen zu jenen Figuren zählte, die sich niemals auf eine Ansicht festlegten, nie wirklich Partei ergriffen, sondern jedermann zum Munde 168
redeten und sich jederzeit auf die Seite des Stärkeren schlugen. Sobald es hart auf hart ging, schwenkten sie ab in ihre geschützte Nische. Sie sagte giftig: „Natürlich haben Sie sich auf der berüchtigten Liste der Stimme enthalten.“ Hagemeister entgegnete: „Nein.“ „So, Sie haben mit Ja gestimmt – nun ja, in Anbetracht der Umstände …“ „Ich habe mit Nein gestimmt“, sagte Hagemeister. „Sie waren gegen …“ „… den Prozeß, jawohl, ich fand, sie war gestraft genug. In der Sitzung, es gab ja eine Sitzung deswegen, sagte Herr Grothus: Immer blamier dich Racke – jeder nach seiner Fasson.“ 28 Und jetzt hatte sie ihn. Racke. Nun sah sie Racke, wie er in seinem Amtszimmer hinter seinem Schreibtisch thronte. Es war spät in der Nacht. Sie fühlte sich erschöpft, vielleicht war sie sogar verzweifelt über ihr eigenes Unvermögen. Und da hatte sie nun plötzlich so eine Art Genieblitz, den sie unbedingt festhalten wollte. Sie konnte ihn nicht festhalten, es blieb ihr nur die Spannung des schnell verhuschenden Augenblicks. Unbewußt erfaßte sie den Sprung der Zeit, halb bewußt erlebte sie den Fall ins Jetzt. Was für eine Handhabe mochte Lisbeth Racke gehabt haben, jene Explosion auszulösen, die die Altmann zum Äußersten getrieben hatte? Und wieso verquickte sie, Brigitte Strömberg, die Katastrophe letztlich nur mit einem Widerpart? 169
Schon versank sie wieder in der Ebene vager Einzelschicksale, ertrank im Übermaß der Erscheinungen, verlor sich, vergaß zu fragen. Aber tief innen rührte sich ein Stachel. Sie ließ es dabei bewenden. Sie wich noch der Konsequenz aus, daß Hergänge dort, wo man es am wenigsten vermutete, zum Ausgang völlig andersgerichteter Abläufe werden konnten. Die Spannung blieb. Gebunden an einen beliebig austauschbaren Ort, hatte sie aufgehört mit der Oberflächlichkeit der linken Hand. Sie hatte, ohne darüber nachzudenken, ohne sich zu prüfen, die Schattenlinie überschritten. Und spürte Rackes Blicke. Langes Gesicht, breiter, sehr weicher Mund, der drahtige Körper mit bohemienhafter Eleganz gekleidet. Anziehend für Frauen, dieser Racke, vornehmlich für solche, wie sie eine war. Sie fühlte sich von seiner Ausstrahlung bezaubert, wie sie sich einst von Röpke, ihrem geschiedenen Mann, hatte bezaubern lassen. „Ach, meine Gnädigste, wir sollten uns woanders unterhalten. Bei einer Flasche Wein fiele es mir viel leichter, das bedeutsame Problem zu erörtern, ob und wann und wodurch man sich in seiner Haut gefällt. Darf ich offen sein? Der Altmann behagte es an keinem Ende in ihrer Haut, deshalb geriet sie auf Abwege. Ich fühle mich vollkommen frei von Vorurteilen – allerdings: mit Skandalen habe ich nichts im Sinn. Die kann ich mir nicht leisten.“ „Als Bürgermeister?“ „Ich bitte Sie, gnädige Frau!“ „Aber Sie sind doch das Oberhaupt von Lemdorf.“ „Zweifellos bin ich das – noch.“ „Ah – ich verstehe.“ „Meine Kandidatur für das Landesparlament – die Konstellationen sind denkbar günstig, der Wahlkampf, nicht wahr, steht uns direkt ins Haus …“ 170
„Und da haben Sie nun die Affäre Altmann auf dem Halse und mich dazu. Ich zweifle nicht, Sie werden mit allem fertig werden.“ „Ein bißchen hängt das auch von Ihnen ab. Nein, nein – bitte, ich will Sie in keiner Weise beeinflussen. Wovon gingen wir aus? Von Skandalen – ja. Sehen Sie, ich lese oder beschaue mir auf dem Bildschirm ausgesprochen gern fremde Skandale.“ Wieder dieser werbende, auf Wirkung abgezielte Blick. „Wenn Prinzessin Sowieso mit dem Mittelstürmer X ins Bett steigt – das schafft Ablenkung nach der Turbulenz des Alltags. Wer möchte nicht gern jener derzeit populäre Mittelstürmer sein. Und dann kann man auch gleich so ein bißchen moralische Bestätigung für sich selber finden. Man ist ja anders, man hat ja sein Augenmerk auf harte Arbeit und bessere Zukunft für alle gelenkt.“ Racke strahlte sein Gegenüber lausbübisch an. „Ich kam mit nichts als meiner ramponierten Haut und ein paar Lumpen drüber aus sowjetischer Gefangenschaft zurück.“ Und er sprach nach einem Schweigen in dem Ton, der dem Gegenstand angemessen war: „Nach Stettin – kennen Sie Stettin? – konnte ich ja damals nicht. Es gab so Tricks für abgerissene Habenichtse wie mich: Meine erste Station im inzwischen zweigeteilten Deutschland konnte demzufolge nur Friedland heißen.“ Racke wurde pathetisch. „Was für eine Erhebung, als für uns ausgepowerte Landser die Glocke dort voll zu tönen begann. Ich habe eine Zeitlang Gelegenheitsarbeiten gemacht, dann lernte ich“, Racke schien ferner Tage zu gedenken, „meine Frau kennen.“ „Sie war die reichste Erbin im Dorf.“ „Ja, dafür galt sie, aber sie war nicht bloß eine Erbin, ihr Vater lebte zwar noch, doch die Belange des Hofes lagen bereits in ihren Händen. Großartige Frau, meine Frau. Sie hatte einen Scharfblick entwickelt …“ 171
„Kann ich mir gut vorstellen“, bestätigte Brigitte, „zumal es den Städtern damals, diesen ausgebombten Hungerleidern, oft am Nötigsten fehlte.“ „Wie meinen?“ „Nun, Herr Bürgermeister, ich muß Sie nicht aufklären, die Zeiten sind ja Gott sei Dank vorüber. Wichtiger scheint mir zu sein“, sie preschte unvermutet vor, „Ihre Gattin hat Ihnen die Wege geebnet. Verraten Sie mir eines: Waren Sie aktiv, Herr Racke?“ „Wieso aktiv, liebe gnädige Frau“, versetzte Racke munter, „ich bilde mir ein, immer aktiv zu sein.“ „Sie wissen genau, was ich meine.“ „Ach so, ja, ich war Offizier, war ja Ehrensache damals, daß man so schnell wie möglich hinging, sein Vaterland zu verteidigen. Grothus war übrigens auch Offizier, Reserveoffizier, falls Sie auf die Unterscheidung Wert legen, er ist ja auch einige Jahre älter als ich. Man hat den Enthusiasmus von uns Jungen aufs gemeinste betrogen. Wir haben’s gebüßt in bolschewistischen Gefangenenlagern. Grothus kann da gar nicht mitreden, er war ja nur in Afrika unter Rommels Wüstenfüchsen.“ „Welche Lehren haben Sie aus der Vergangenheit gezogen?“ „Oh, Gnädigste, einen ganzen Sack voll. Schließlich bin ich reichlich spät über Friedland heimgekehrt.“ Jetzt, in ihrem Hotelzimmer, durchschaute sie Rackes Erbärmlichkeit. Und sie hörte sich, sanft schnurrend wie eine Katze, fragen: „Erklären Sie mir bitte: Was kann Ihre Sekretärin gegen mich haben?“ „Aber, gnädige Frau, da befinden Sie sich, wirklich, da befinden Sie sich völlig im Irrtum. Wann sehen wir uns wieder?“ „Liegt ganz bei Ihnen.“ 172
Wie er ihre Hand geküßt hatte … Sie hatte danach ein dringendes Gespräch mit Klaus Bode geführt, ein langes Telefonat auf ihre Kosten. Kläre Faßbenders Hand zitterte, als Spengler sein Feuerzeug unter ihre Zigarette hielt. Sie rauchte unbeholfen, man merkte, sie war es nicht gewohnt. „Aber Sie haben doch schon mit Herrn Bürgermeister gesprochen“, sagte sie unsicher. „Er ist gar nicht anwesend – Ausschußsitzung …“ „Macht nichts“, erklärte Spengler, „ich wollte mich sowieso ein bißchen mit Ihnen unterhalten. Nett haben Sie’s hier, mit dem Markt vorm Fenster.“ Kläre hob die Schultern. Spengler lachte. „Sie erinnern mich an unsere zuverlässigste Kraft – Kommissar Weinheims Sekretärin. Die ist unter anderem groß in stummen Gebärden. Na wennschon! wollten Sie eben sagen. Was man jahrelang vor Augen hat, das nimmt man kaum noch wahr – stimmt’s?“ Sie biß sich auf die Unterlippe, die auch ein wenig gezittert hatte. „Die Liebe geht seltsame Wege“, fuhr Spengler fort. Kläre drückte ihre Zigarette im Ascher aus. Sie ging langsam dabei zu Werke, den Kopf gesenkt. Vom Hals her überzog sich ihr Gesicht mit Glut. Es mußte nicht Scham, es konnte ebensogut Empörung sein. Spengler war auf der Hut. „Ja, seltsame Wege“, sagte er ruhig, „ich zum Beispiel habe mir eingebildet, ein eingefleischter Junggeselle zu sein, und nun auf einmal hat’s mich erwischt. Dabei arbeiten wir schon eine ganze Weile zusammen, meine Angebetete und ich.“ „Von Zusammenarbeit kann da ja keine Rede sein“, äußerte Kläre mit einem trotzigen Zug um den Mund. 173
Wie er das verstehen dürfe? fragte Spengler. „Sie tippt, Ihr Chef diktiert, und Sie werden losgeschickt, die Leute aufs Glatteis zu lotsen. Bei mir haben Sie Pech.“ Ihre Stimme war erstaunlich fest geworden. „Schade“, entgegnete Spengler, „sehr schade. Immerhin – jetzt, begreife ich, warum Frau Strömberg nicht bei Ihnen landen konnte. Dabei hat sie sich um Sie bemüht.“ „Um mich bemüht?“ Kläre schüttelte den Kopf. „Es gibt eine Hinterlassenschaft, die Tote war schließlich Publizistin, alles, worüber wir gewöhnlichen Sterblichen bloß nachdenken – falls wir überhaupt nachdenken –, halten solche berufsmäßigen Schreiber in Notizheften oder auf Blättern fest“ – Spengler deutete ins offene Fach von Kläres Schreibmaschinentisch –, „wie denen da.“ Er ließ eine Weile verstreichen, er gab ihr Zeit, sich zu sammeln. „Das ist ein liebliches Gesicht, hat die Strömberg in ihrer Kladde eingetragen, ein sauberes, ein reines, fern jeder Verwirrung, hat sie hinzugefügt. Den ersten Teil hat sie dick unterstrichen. Was halten Sie davon?“ „Ich?“ Zwischen Klares Brauen stand plötzlich eine häßliche Falte. „Die Tote muß ihre Beobachtung für sehr wichtig gehalten haben. Offenbar verglich sie die Fotografie in der Wohnstube Ihrer Frau Mutter mit der Wirklichkeit.“ Kläre saß reglos. „Frau Strömberg“. fuhr Spengler fort, „hat alles mögliche herausgefunden, sie arbeitete mit Meinungen, die schillerten wie – ähm – Kieselsteine oder Murmeln. Unser Metier ist schonungsloser, wir lassen es nicht zu, daß man – sagen wir – Wechsel fälscht.“ „Sie sind wahnsinnig“, sagte Kläre heiser. „Das mit den Wechseln war symbolisch gemeint. Es gibt ein paar Indizien …“ 174
„Und was habe ich damit zu schaffen?“ „Sie sind schon fast hinter den sieben Bergen“, fiel Spengler gutmütig ein, „und ich, ob Sie’s glauben oder nicht, will gar nicht Versteck mit Ihnen spielen, Sie sind mir so sympathisch, weil ich da, wo Sie sitzen, Fräulein Hollriegel – so heißt meine Angebetete – sitzen sehe. Sie könnten ihre Mutter sein, Fräulein Hollriegel ist auch so energisch, bloß frustriert ist sie nicht.“ „Benimmt sich die Polizei immer so?“ fragte Kläre Faßbender verächtlich, aber die häßliche Falte zwischen ihren Augenbrauen war wie weggewischt. „Methoden sind das“, fügte sie hinzu. „Stimmt“, erwiderte Spengler. „Soll ich gehen?“ „Nein“, sagte Kläre, „bleiben Sie!“ 29 Strothmann also, von gedrungener Gestalt, weißhaarig, mit gesunder Hautfarbe, zeigte beim Sprechen Brücken von Gold in seinem Mund. „Womit kann ich dienen, gnädige Frau?“ „Sehr liebenswürdig von Ihnen.“ „Bitte doch Platz zu nehmen. Was darf ich anbieten – ein Gläschen Mosel, einen Aperitif?“ „Ich komme eben vom Frühstück. Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, daß Sie mir in dieser turbulenten Zeit vor dem Fest eine Stunde einräumen wollen.“ „Keine Ursache, gnädige Frau. Sie möchten wirklich keinen Aperitif? Für meine Gäste bin ich immer da, ohnedies flaut das Geschäft nun allmählich ab. Kommen wir zum Kern.“ „Inwieweit – verzeihen Sie die abrupte Frage – erklären 175
Sie sich mit meinen Absichten solidarisch?“ „Das ist wirklich, ich muß schon sagen, eine sehr direkte Frage. Ein Hotelier, zumal in einer kleinen Stadt wie dieser, hat doch immer auch seinen guten Ruf zu verlieren. Die Konkurrenz wartet ja geradezu darauf, daß er sich Blößen gibt.“ Er pausierte. Da von ihr nichts kam, fuhr er fort: „Darf ich meine Zigarre weiterrauchen?“ „Aber selbstverständlich.“ „Es wäre viel bequemer, mit verdeckten Karten zu jonglieren, aber Frau Altmann stand mir doch recht nahe. Übrigens – ich bin Witwer.“ Brigitte äußerte sich nicht dazu, sie wartete ab. „Unser Hotel wurde achtzehnhunderteinundsiebzig gegründet, vorher war es über hundert Jahre lang Posthalterei und Gaststätte mit Ausspann gewesen. Mein seliger Vater hat damit angefangen, die Pferdeställe im Hof zu Garagen umzubauen. Sie haben Ihren Wagen doch hoffentlich in einer Garage?“ „Mein Käfer ist so ordinär, daß er gern im Freien kampiert.“ „Ich würde keinen Aufschlag erheben.“ „Warum das Auto verwöhnen? In Hamburg steht’s auch bloß unter der Laterne.“ „Ja, unsere arme Frau Ilse …“ Strothmann seufzte. „Ein Makel haftete ihr zweifellos an, der fällt nun auf mich zurück. Ich will nicht etwa andeuten, daß ich den schlimmen Verdacht teile, um keinen Preis will ich das. Aber ich weiß nicht. So alte, im Hotelfach grau gewordene Hasen wie ich, nicht wahr, halten sich viel auf ihre Menschenkenntnis zugute. Und nun weiß ich nicht …“ „Mit andern Worten“, fiel Brigitte ein, „ganz ohne Argwohn können Sie den Selbstmordversuch nicht hin176
nehmen, vom tragischen Ende des Kindes zu schweigen.“ Strothmann nickte. „Für mich“, erwiderte er, „bleibt sie die Persönlichkeit, die ich schätzengelernt hatte. Sie war mir unentbehrlich geworden. Und ich muß“ – er sprach jetzt lauter – „eindeutig klarstellen, nicht wahr, die infamen Vorwürfe, sie wäre auf Männerfang ausgegangen und hätte mit Agenten aus Ostblockländern Umgang gepflogen, entbehren jeglicher Grundlage. Ich hätte dergleichen in meinem Hotel niemals geduldet. Sehen Sie, Frau Ilse tat nichts Ungewöhnliches, wiewohl es – leider, möchte ich betonen – in unserm Staate in zunehmendem Maße ungewöhnlich zu werden beginnt, pünktlich dazusein. Sie erfüllte ihre Obliegenheiten minutiös und selbständig.“ Strothmann streckte die Hand aus, wedelte damit, sie verstand, verschluckte ihre Frage. „Eines Tages erschien sie hier in meinem Büro. Ich hatte eine Annonce im Kreisblatt aufgegeben. Und sie sagte mir offen, daß sie über keinerlei Referenzen verfüge. Ihr Mann, sie und das Kind hätten einen Urlaub dazu benützt, im Hochharz über die grüne Grenze zu flüchten. Ihr Mann wäre als qualifizierter Facharbeiter – ja, nicht wahr, so sagte sie – rasch und gut untergekommen, sie selber hätte als Lackiererin in einem Zweigbetrieb des Volkswagenwerkes ausreichend verdient, doch hätte sie es satt, ein Teil der Automatik am Band zu sein. Sie sehne sich nach einer verantwortungsvolleren Beschäftigung. Sie müsse, ungeachtet der Schuldenlast auf dem Grundstück in der Gemeinde Lemdorf, und wolle weiter mitarbeiten. Und dann gäbe es schließlich das Kind, es dürfe nicht leiden unter dem Dreischichtensystem seiner Eltern.“ „Einleuchtend“, bestätigte Brigitte. 177
„Sie gefiel mir.“ Strothmann blickte zum Fenster hinaus. „Ich besah mir ihre Hände. Hände verraten untrüglich, was von einem Menschen zu halten ist. Ich benötigte dringend eine Zimmerfrau. Wir wurden schnell handelseinig. Meine Wahl habe ich nie zu bereuen brauchen. Niemals kamen Klagen. Sie strengte sich an, als gehörte das Haus ihr.“ Strothmann fuhr sich über die Stirn, als wäre er verblüfft über seine eigene Erkenntnis. „Da kann man nichts machen“, sagte er leise. Und setzte neu an: „Ich hab sie, ohne zu zögern, mit größeren Pflichten betraut. Und sie bewährte sich. Keiner meiner sonstigen Angestellten, was ich doch sehr zu beachten bitte, fühlte sich übervorteilt oder übergangen. Sogar unser Altportier, nicht wahr, unser Herr Kröger, achtete ihre Autorität – und mehr noch: gab mir den letzten Anstoß. Ich ließ Frau Ilse zur Empfangsdame avancieren, damit wurde dem Deutschen Kaiser – wie soll ich’s ausdrücken: die weibliche Note –, ja, diese gewisse Note wiedergegeben. Wir hatten sie lange entbehrt.“ Strothmanns Zigarre war ausgegangen. Seine Lippen zitterten. Er rang sichtbar um Fassung. „Es hatte sich alles zum Besseren verändert, und mit der Zeit gefiel ich mir in meiner Beschützerrolle, die war ja legitim, nicht wahr, ich hätte ja ihr Vater sein können. Sie blieb immer reserviert, sie machte es mir leicht zu sprechen, sie selber sprach wenig, aber ich merkte doch, daß sie nicht glücklich war.“ „Warum war sie nicht glücklich? Sie hatte doch alles: Eigenheim und Garten, dazu einen ordentlichen Mann und ein quicklebendiges Kind.“ „Man darf das nicht so standardisieren“, widersprach Strothmann. „Sehen Sie“, fuhr er fort, „in meinem Hotel verkehren hauptsächlich männliche Gäste. Sie werden das selber festgestellt haben. Ich muß zugeben, es mißfiel 178
mir, wenn der eine oder andere meine Frau Ilse hofierte. Dem Ehemann dagegen schien es nichts auszumachen, daß Frau Ilse sehr anziehend auf Männer wirkte. Mag sein, ich bin altmodisch in diesen Dingen. Aber als er sie dann schutzlos preisgab …“ Brigitte verharrte schweigend. „Dieser Wicht!“ Strothmann vermochte nicht länger an sich zu halten. „Viel zu spät hat sie … hat sie mich ihres Vertrauens gewürdigt. Sie hat ihn angefleht, aus Leindorf wegzuziehen. Sie wollte in eine Stadtwohnung ziehen, überallhin – nur nicht in Lemdorf bleiben. Dort hat man ihr das Leben zur Hölle gemacht. Die Unverschämtheit dieses schwatzsüchtigen Weibes, dieser Megäre – das Kesseltreiben ging allein von der, von dieser Frau Racke aus, deren Mann Sitz und Stimme im Kreisparlament hat. Aber dieser geltungswütige Tölpel in seiner Besitzgier, Altmann, wollte das mit Hypotheken belastete Anwesen nicht verschleudern. Und sie wahrte ihm die Treue!“ Strothmann merkte zu spät, daß seine Gefühle ihn überwältigt hatten. Er stockte. „Pardon“, murmelte er. „Wir haben vertraulich gesprochen“, sagte Brigitte zart. „Ich habe Sie schockiert, nicht wahr, ich …“ „Aber nein – ich bitte Sie!“ Strothmann atmete auf. „Gut, gut, ja – nun ja, ich will Ihnen den Rest nicht vorenthalten. Ich mache aus meiner Abneigung kein Hehl, aber möglicherweise ist Altmann mit vielem hier nicht fertig geworden, und da zog er dann Vergleiche mit anderen Ehen. Von der Art kann er ja sein, daß er alles von der Frau erwartet hat, Anpassung, Unterwerfung – als sie ihm die schuldig blieb, wurde er auch noch eifersüchtig, machte nun seinerseits seiner Gefährtin die Hölle. Er zweifelte, obwohl er sie doch kannte.“ 179
„Haben Sie niemals gezweifelt?“ Strothmann schüttelte den Kopf. „Nein“, bekräftigte er, „meine selige Maria und ich waren ein Herz und eine Seele. Sie wird mir verzeihen …“ „Was, bitte, sollte Sie Ihnen verzeihen?“ „Das gehört nicht hierher“, erklärte Strothmann. „Meine Zweifel sind gänzlich anderer Natur. Sie bringen mich zeitweilig schier um den Verstand. Bitte, erklären Sie mir: Was könnte eine Frau von Format bestimmen, an der Seite eines Gatten auszuharren, der …“ „… ihr nicht das Wasser zu reichen imstande war. Vielleicht“, es blieb sekundenlang sehr still, „liebte sie ihn – trotz allem. Vielleicht wollte sie keinen neuen Mann.“ Strothmanns Schultern sanken herab. Der ganze Strothmann sackte in sich zusammen. „Ich habe ihr und der Kleinen Sicherheit geboten.“ „Ja, Herr Strothmann, Sicherheit, aber was bedeutet Sicherheit für eine Frau, die ihre Empfindungen höher einschätzt als alle Vernunft? Meine Auffassung kann falsch sein.“ Strothmann griff nach diesem Satzfragment, wie der Ertrinkende nach einem Stück Treibholz greift. „Etwas bleibt hängen, man zieht ja nicht gern den kürzeren, ich weiß selber nicht, ich fühle mich seither betrogen, es sitzt wie ein Pfahl in meinem Fleisch. Ich möchte jetzt nicht mehr darüber aussagen, es rührt so vieles in mir auf. Aber das Odium, nicht wahr, haftet ja meinem Hotel an, und ich möchte auf meine alten Tage doch nicht so – so als Reingefallener vor meinen Sohn treten. Wie unsere Welt nun mal beschaffen ist, mein Sohn heiratet demnächst. Ich werde selbstverständlich bei dem Akt zugegen sein – in Genf. Wenn Sie mit den Ihnen zu Gebote stehenden Mitteln den Verdacht entkräften könnten …“ 180
Strothmann stockte, er sah so unglücklich aus, daß Brigitte ihm am liebsten alles nur Denkbare zugesichert hätte. Statt dessen erhob sie sich, um zu gehen. „So ganz einfach ist die Geschichte nicht“, sagte sie. „Leider, Herr Strothmann – es tut mir alles wirklich sehr, sehr leid.“ 30 Spengler lief an der Rezeption vorüber. Der Portier rief ihm nach: „Ihr Zimmerschlüssel, Herr Kriminaler …“ Spengler kehrte zurück. Kröger hielt den Schlüssel hoch. „Sie sehen aus“, sagte er gemütlich, „als wäre Ihnen die Petersilie verhagelt.“ „Oh, mitnichten, mein lieber Herr – ich bitte Sie, Sie brauchen sich nicht vorzustellen, bester Herr Kröger.“ Spengler schwenkte den Schlüssel vor Krögers Nase hin und her. Er schien es plötzlich gar nicht mehr eilig zu haben. Er legte die Unterarme auf den Tresen und erkundigte sich freundlich, ob es dem Zerberus des Hauses etwas ausmache, zwei Pullen Dortmunder Unionsbräu herbeizuschaffen. „Wieso Zerberus?“ fragte Kröger. „Falls Ihnen diese Bezeichnung nicht gefällt, ich bin gern bereit, sie durch eine andere zu ersetzen. Trinken Sie so ein hübsches zischendes Helles mit mir?“ Kröger verschwand wortlos durch eine schmale Tür, erschien wieder, brachte Gläser mit, die er bedächtig füllte. „Auf Ihr Wohl!“ sagte Spengler, blies in den Schaum, trank in raschen Zügen. „Prosit – Ihr ganz Spezielles“, entgegnete Kröger, trank seinerseits, behielt aber den jungen, bärtigen Mann 181
im Auge. „Na“, fuhr er unverblümt fort, „wie hätten wir’s denn gern?“ „Wie bitte?“ „Unsereins kennt doch seine Pappenheimer! Miserables Manöver vorhin. Sie mußten ja zu mir, ohne Schlüssel kommen Sie ja nicht rein in Ihr Bett, und in Ihr Bett möchten Sie ja.“ Spengler goß Bier aus der Flasche nach. „Nun sparen Sie sich mal Ihre Fisimatenten. Es wird niemals was Nachteiliges über Ilse Altmann zu erfahren geben. Sie war nicht von der Sorte – schräges Gewerbe und so weiter. Und genau das hatte die Strömberg rausgefunden, Herr Kommissar!“ „Assistent.“ „Auch gut. Hier meine Hand – guck sie dir an, schön ist sie nicht mit all den Rheumaknubbeln –, ich leg sie ins Feuer für die Ilse und obendrein noch für die Strömberg. Und nun bezahl das Bier und scher dich in die Falle.“ Spengler stützte den Kopf in die Linke, starrte vor sich hin. „Ich habe heute mit zwei Frauen geredet, Faßbender heißen sie beide.“ Kröger nickte. „Ich stamme aus der Gegend.“ „Aus Lemdorf?“ „Möglich, daß ich mal Lemdorfer gewesen bin, ist lange her. Mit vierzehn brachte mein Alter mich hier unter.“ Er klopfte auf die Eichenplatte, hinter der er als Faktotum in unkündbarer Stellung seines Amtes waltete. „Die Ida – warten Sie mal, wie alt is die inzwischen – ist jünger als ich. Frau Strömberg war sehr beeindruckt von ihr.“ „Hat sie Ihnen das erzählt?“ „Wer sonst sollte es mir erzählt haben, hat ne ganze Menge Töchter und Söhne, war so üblich dazumal, und alle 182
wurden immer satt. Viktor und Kläre sind die Jüngsten. Viktor ist ’n guter Freund vom Altmann, Ilse hat sich einiges von ihm erhofft, zuviel vielleicht.“ Spengler umfaßte sein leeres Glas, zog mit dem Zeigefinger der anderen Hand die feuchte Stelle abgeflossener Tropfen nach, besah den Teich, der so entstand. „Und Kläre?“ fragte er. „Bei der sind Sie nicht gelandet, was?“ „Auch Kriminalisten haben Herz, Herr Kröger.“ „Gewöhnen Sie sich das mal schleunigst ab, mein Sohn – wenn du mich fragst, mir bist du mit so ’nem Geständnis lieber. Erleichtere dich. Weißt du, dafür taug ich noch allemal, auch Ilse und die Strömberg haben hier bei mir gestanden, und die hatten beide … verflixt noch eins, und ob die Herz hatten.“ „Ich kann alte Frauen nicht weinen sehen, und die weint bestimmt nicht leicht, die Mutter Faßbender.“ „Da muß ich mich ja sehr wundern, daß ausgerechnet so ein hartgesottener Kriminaler …“ „Ich werd wohl wieder Schiffbruch erleiden.“ „Nanu!“ „Mein Chef hat mir mal vorgehalten, daß ich einen jammervollen Chirurgen abgeben würde.“ „Wieso?“ „Könnte ich noch ein Bier haben?“ „Nein“, bestimmte Kröger kategorisch. „Er hat symbolisch gesprochen. Wenn ein Chirurg Mitleid mit seinem Patienten hat, nützt er ihm wenig, vielleicht tötet er ihn sogar.“ „Vielleicht ist alles nicht so verzettelt, wie du es jetzt siehst“, erwiderte Kröger väterlich, „sieh mich an. Ich kenne alle Laster und alles Unheil, das Menschen ihresgleichen bereiten.“ 183
„Und ich“, sagte Spengler, „halte anonyme Anrufer für schäbig. Wissen Sie was von so einem. Anruf?“ Der Portier kehrte ihm den Rücken, griff ins Postfach, schob einen Brief in Reichweite. „Der kam heute morgen für Sie, Herr Assistent.“ Seine Stimme klang ganz unverbindlich. Spengler las den Absender, sein Gesicht wurde hell. Er entgegnete: „Sie haben Einfluß auf Herrn Strothmann, das geht aus den Aufzeichnungen der toten Journalistin hervor. Ich möchte mit Herrn Strothmann so bald wie möglich sprechen.“ Der Portier sagte: „Wird besorgt, Herr Kriminaler, selbstverständlich, wünsche guten Schlaf, gute Nacht, Herr Assistent …“ „Wie steht’s mit der Beantwortung meiner Frage? Wissen Sie was?“ „Kann sein“, sagte Kröger. Der Brief, mit dem Spengler die Treppen emporstürmte, war von Regine. 31 In der Frühe des dreiundzwanzigsten Dezember wurde Brigitte vom Frühstück weg ans Telefon gerufen. Kröger hielt ihr den Hörer hin, bemerkte aber, daß er das Gespräch auch in die Zelle legen könne, falls sie es wünsche. Sie winkte ab. Sie erwartete nichts Besonderes. Mit Klaus Bode hatte sie letzte Nacht nach dem Besuch im Hause Grothus ausgiebig vom Zimmer aus geredet. „Ja?“ meldete sie sich. „Guten Morgen, Frau Strömberg, ich bin’s bloß, Sörensen.“ 184
Das klang ironisch, zudem fühlte Brigitte sich abgespannt, sie hatte keine Ahnung, was der Lemdorfer Lehrer von ihr wollte. „Ja?“ fragte sie. „Ich dachte, ich greif Ihnen unter die Arme mit meiner Nachricht. Franz Altmann ist gekommen. Falls ich auf Gegenliebe stoße, nehme ich Sie gerne mit.“ Sie wäre viel lieber in eine ganz andere Richtung aufgebrochen, sie hätte es dem Typ am anderen Ende der Leitung nur zu gern gesagt, statt dessen sagte sie: „Ja, wunderbar, Herr Sörensen. Sie tun mir einen großen Gefallen. Wo darf ich Sie abholen?“ „Wenn Sie so fragen – vor dem Schulhaus“, entgegnete der Lehrer. Kröger nahm ihr den Hörer ab, legte ihn behutsam zurück auf die Gabel. Er schaute nicht über seine Brille hinweg wie die meisten Weitsichtigen, sondern unter den Gläsern durch. „Ich muß noch mal nach Lemdorf“, erklärte sie. „Kann ich mir vorstellen, daß Ihnen das schlecht in den Kram paßt. Wo brennt’s denn?“ „Altmann ist aufgetaucht.“ Kröger nahm geruhsam einen Schlüssel vom Brett, den ein nervöser Gast verlangte, sagte: „Gewiß doch, Rechnung ist fertig, hier bitte – jawohl, Ihr Opel wurde auch gebracht, steht startbereit vor der Tür. Pech, Panne so kurz vor Heiligabend. Nein, mein Herr, Sie brauchen nicht persönlich zur Firma Bartels. Noch heute wird der Scheck übergeben. Jawohl, mein Herr, wird alles erledigt, danke sehr, der Herr, wünsche gesegnetes Fest.“ Ein Schein wechselte den Besitzer. Kröger ließ ihn diskret verschwinden. Der Gast stob davon. 185
„Viele von der Preislage, und ich würde anfangen, unhöflich zu werden. Gehört nicht zum Stamm. Sogar die Knauser werden trinkgeldfreudig, daran merke ich immer – na ja, Sie wissen schon: Es weihnachtet sehr. Was soll ich sagen, wenn Herr Bode anruft?“ „Er wird nicht anrufen.“ „Sind Sie sicher?“ Kröger nahm seine Brille ab. „Ich werde sagen – warten Sie –, die Sache hätte keinen Aufschub geduldet.“ „Ich hab Krach mit ihm.“ „Macht nichts, ich besorg’s ihm schon. Sie können sich drauf verlassen, daß er anruft, weil’s ihm nämlich längst leid tut.“ „Ach, Herr Kröger“, sagte Brigitte. „Ach, Frau Strömberg, ordentlichen Kerlen tun ihre Augenblicksrevolten gegenüber Frauen, die aus der Reihe tanzen, hinterher sofort leid, sofern Liebe im Spiel ist. Und wenn Sie nun dem schwergeprüften Altmann begegnen, denken Sie doch bitte daran, daß ich Fossil von einem lebenslänglichen Portier ihm nur zu gern in die Pfanne spucken möchte. Er tut mir überhaupt nicht leid, der nicht. Was darf ich also ausrichten, falls fernmündlich nach Ihnen verlangt wird?“ „Ich werde pünktlich in Dornburg eintreffen.“ „In Dornburg – sehr wohl, gnädige Frau. Hamburg – Sie gestatten – steht nicht zur Debatte?“ „Unter gar keinen Umständen.“ „Sehr wohl, Frau Strömberg, Hamburg unter gar keinen Umständen.“ Brigitte blickte auf, sah Kröger an, schätzte ihn ab in seinem properen Anzug, der ein Zugeständnis an die Hotelatmosphäre darstellte. In dieser Minute akzeptierte sie ihn uneingeschränkt. Bisher war er eine Art Mittelding 186
zwischen grauer Eminenz und Gauner für sie gewesen. Nun erhob sie ihn in den Rang eines Beichtvaters. 32 Sörensen wartete vor dem Schulhaus. Er klemmte sich neben Brigitte, brachte seine langen Beine in Schräglage unter, sagte: „Kalt geworden, mein Ofen zieht schlecht; macht’s Ihnen was aus, beim Schröder zu halten?“ Sie blieb im Auto sitzen, während Sörensen einkaufen ging. Er kehrte mit Plastikbeuteln zurück, die Schröder tragen half. Sie öffnete den Kofferraum, Sörensen hob die Klappe, wies Schröder an, den Kram zu verstauen. Auf den Tüten stand alles mögliche, etwa: Achten Sie auf dieses Zeichen, wenn Sie Qualität vergleichen oder Ihr Brot, hergestellt in Schleswig-Holstein, nur Schröders Name erschien nirgendwo. Schröder wünschte mißmutig „gute Fahrt“. Sörensen sagte: „Armleuchter“, aber das hörte Schröder nicht mehr. „Hab ihn gefragt, wann er endlich Rabattmarken herausrückt, war boshaft von mir, manchmal bin ich boshaft. Verstehen Sie was von Klassenkampf?“ Brigitte achtete darauf, Schlaglöchern auszuweichen. „Wenig“, erwiderte sie, „für Ihre Maßstäbe.“ Hagemeister auf seinem Fahrrad, diesmal im Halbpelz, steuerte direkt auf sie zu. „Armleuchter“, schrie Sörensen, „merkt der denn nicht …“ Brigitte brachte den Wagen zum Stehen. „’n Morgen, Herr Hagemeister, ums Haar hätte es einen Unfall gegeben.“ Sörensen kurbelte das Fenster auf seiner Seite herunter und brüllte: „Hau ab, Postrat, oder ich mach’ dir Beine. – Idiot!“ 187
Hagemeister versetzte würdevoll: „Ab ersten Januar Oberpostsekretär, bitte. Nichts für ungut, gnädige Frau, bin ganz durcheinander – Festtagstrubel, Sie müssen mir verzeihen.“ Nach einem abwartenden Lächeln radelte er in Richtung Dorf davon. Brigitte verfolgte seinen Abzug im Rückspiegel. „Scheinheiliger Schwätzer“, grollte Sörensen. „Gerade er hat mich überrumpelt.“ „Wer – der?“ „Sie wissen von dem Stimmenfang? Blöde Frage! Die Liste hat ja sicher auch Ihnen vorgelegen.“ „Nein“, erwiderte Sörensen, „das heißt“, gestand er, „ich hab die Pfarrfrau gar nicht erst angehört.“ „Sehr dumm von Ihnen, denn Sie sind ja kein Anarchist – oder?“ „Was soll das?“ „Brausen Sie nicht gleich wieder auf! Hagemeister war gegen den Prozeß.“ Sörensen schwieg verstockt. Sie warf einen Blick zur Seite, sah sein junges Gesicht, schüttelte den Kopf. Sie bremste vor dem Grundstück mit seinen verwahrlosten Beeten, die jetzt Schnee verhüllte. Rauch wölkte aus dem Schornstein in die klare Luft. Eine große rote Sonnenscheibe stand über dem hellen Haus. Sörensen öffnete das Gartentor, sie fuhr den Plattenweg entlang an verdorrten Stauden vorüber. Im Eingang erschien ein Mann mit sehr breiten Schultern. Er öffnete den Schlag, half ihr beim Aussteigen, sie spürte seinen Händedruck. „Meine Mutter hat mir von Ihrem Besuch berichtet, wir kennen uns auch – entsinnen Sie sich des Abends in Focks Kneipe? Ich bin Viktor Faßbender.“ 188
Sie saßen in der von Hagemeister geschilderten Küche auf der Bank mit den buntbezogenen Polstern. Auf dem Elektroherd begann der Wasserkessel zu summen. Faßbender füllte filterfein gemahlenen Kaffee in eine formschöne Kanne. Altmann saß mit dem Rücken zum Fenster, hatte die Unterarme auf dem Tisch liegen, starrte ins Leere. Im offenen Fach des Schrankes – der gehörte in seiner nüchternen Zweckmäßigkeit zur Einrichtung mitsamt verdeckter Geschirrspülanlage, hygienisch abgeschlossenem Abfalleimer, Kühlschrank und Tiefkühltruhe sowie sonstigen Finessen – entdeckte Brigitte eine dickleibige Broschüre. Buntbebildert der Umschlag. Sie erinnerte sich an Hagemeisters Kommentar, auch fielen ihr Protokolle ein, die sie durchstudiert hatte. Neckermann und Quelle. Um nichts anderes als um einen solchen Katalog konnte es sich handeln. Faßbender kam mit der Kaffeekanne. Sie nahm ihm das Geschäft des Einschenkens ab. Altmanns Hand zitterte, als er ihr seine Tasse entgegenhob. Vermutlich dachte er daran, wie an diesem Tisch seine Frau ihn zum unwiderruflich letzten Male so versorgt hatte. „Beim Grothus waren Sie gestern“, begann Faßbender. „Ja“, entgegnete sie, „ich hatte ein aufschlußreiches Gespräch mit seiner Frau.“ „Da bin ich aber neugierig“, sagte Sörensen. „Außer Thilde Grothus gab es nur noch ein Gegenbild zu den Weibern von Lemdorf.“ Franz Altmann machte den Eindruck eines Taubstummen. „Ilse …“ „Sie haben’s erfaßt, Herr Faßbender. An der Grothus rann aller Klatsch wie Regenwasser runter. Um bildlich 189
zu sprechen: Lisbeth Rackes Giftzähne schnappten nicht mal die Vorderhufe ihres Gauls.“ Zum erstenmal vernahm Brigitte Altmanns Stimme, deren Tonfall sächsisch gefärbt war. „Wenn das so ist, hätte sie ja was tun können.“ „Sie hat’s versucht.“ „Nu ja.“ Altmann zog sich zurück in seine Apathie. „Umwerfend!“ schrie Sörensen. „Mir komm’n ja die Tränen vor lauter Rührung, wie da so ne Gräfin von jenseits der Weichsel, die dreißigtausend Morgen verloren, aber hier ihren Schnitt gemacht hat …“ „Mein lieber Lehrer Sörensen! Thilde Grothus hat aus der Vergangenheit Lehren gezogen. Übrigens: der männliche Teil ihrer Sippe wurde radikal ausgerottet, falls es Sie interessiert. Ich weiß, ihr interessiert euch für so etwas nicht mehr. Um Vergebung, Herr Altmann. Grothus hat die Ostfront nie gesehen, aus diesem Tatbestand rührt vermutlich seine Neigung, Legenden um die Flucht seiner Frau zu spinnen.“ Sie wechselte den Ton. „Thilde Grothus hat ihr Versagen offen eingestanden. Wäre ich bloß zu ihr gegangen, hat sie gesagt, ich hätte ja wissen müssen, daß es nichts Empfindlicheres gibt als den Stolz der Entwurzelten. Ich bedauere meine Nachlässigkeit, mein Hinnerk – natürlich – bedauert nichts.“ Faßbender räusperte sich. „Kommen Sie“, sagte er. „Halt’s Maul, Sörensen!“ fügte er bei. „Bleib hier, kümmere dich um Franz.“ Im Flur legte Faßbender den Arm um Brigittes Schultern, mit der freien Hand öffnete er eine Tür und schob sie sacht vor sich her in den Raum hinein. Das Fenster gegenüber schlug weit auf. Er schloß es. Danach wischte er die Handflächen aneinander ab. 190
„Staubig“, sagte er. Das Zimmer war groß und sehr hell. Eigentlich waren es zwei Zimmer. Auf der einen Seite standen um einen ovalen Ausziehtisch sechs Stühle. Dahinter nahm eine Kredenz mit Vitrinen links und rechts die knappe Hälfte der Stirnwand ein. Zwei Leuchter prangten auf der honigfarbenen Fläche, zwischen ihnen die Blumenschale, trug längst verdorrte Dahlienblüten. Nebenan waren Rundsofa, Sessel, Couchtisch mit dem Fernsehapparat im Blickfeld gruppiert. Alles wirkte ein wenig zusammengestoppelt und gar nicht originell. Die Möbel verloren sich zwischen Fensterflächen und Wänden. Brigitte konnte nachfühlen, daß Altmanns sich neu hatten ausstatten wollen. Über der Kredenz hing ein Bild in unüblichem Rechteckformat. Sie trat näher heran. Sie erkannte die schwer erhältliche Reproduktion eines Van-Gogh-Gemäldes: Kornfeld mit schwarzen Vögeln darüber. Ein Frösteln lief ihr über den Rücken. „Hat sie das angeschafft?“ „Anzunehmen“, erwiderte Faßbender, „in so Geschmacksfragen gab sie den Ton an.“ „Gab sie den nicht überhaupt an?“ „Er überließ ihr so ziemlich alles – ja. So einer war er. Ihm ging nichts über seine Gemütlichkeit. Seine Freizeit verbrachte er mit Kleinkram.“ „Erdbeeren und Kohlköpfen?“ „Auch.“ „Wenn Sie ledig gewesen waren, Herr Faßbender …“ „Sie denken an Sex?“ „O nein, im Gegenteil!“ Faßbender steckte die Schlappe ein. Sie rechnete es ihm hoch an, daß er nach kaum merklichem Zögern 191
ehrlich bekannte: „Den Franz hab ich als notwendiges Übel hingenommen, um an die Ilse ranzukommen. Jetzt denk ich manchmal, sie hat drunter gelitten – ich meine, unter dieser Wirkung; ihr Fruenslüt habt sie, oder ihr habt sie nich. Sie hat ja bald gemerkt, daß die meisten Kerls krank nach ihr waren. Anfangs hat’s ihr Spaß gemacht, da war das noch neu für sie, da war sie noch ganz unbefangen. Sie hat’s genossen, so viele hungrige Blicke auf sich zu ziehen, und so tat sie was, die Merkmale zu unterstreichen: so schön auszusehen und so verlockend zu sein, wie sie nur konnte.“ „Nur um euch zu gefallen? Nur darum?“ Faßbender stutzte. „Da ist ja gerade der Widerspruch“, sagte er, „so eine war sie gar nich …“ „Ihr habt’s eben nicht begriffen. Nach allem, was ich über sie in Erfahrung gebracht habe, war sie viel zu intelligent, um auf die Versprechungen geiler Böcke reinzufallen. Weil sie den Männerladen hier durchschaute, wurde Unheil draus.“ „Ich mag mutige Menschen …“ „Papperlapapp!“ „Ich mag mutige Menschen“, wiederholte Faßbender, „Männer sind aber nicht durchweg Böcke.“ „Können Sie sich erinnern“, fragte Brigitte, „wann sie den van Gogh da erwarb?“ „Warten Sie mal – das muß … ja, voriges Jahr Weihnachten könnte das … nein …“ „Wie denn nun?“ „Es muß Anfang dieses Jahres gewesen sein. Warum?“ „Ich brauche eine möglichst genaue Zeitangabe, weil ich nämlich ein Fundament brauche für gewisse Spekulationen.“ „Aber das ist doch sehr einfach.“ 192
„So – finden Sie? Dann sind Sie mir über. Ich halte sämtliche Vorgänge in diesem Kaff für außerordentlich kompliziert.“ Sie tat einen Hieb ins Leere. Der traf haarscharf. „Denken Sie nur mal an Ihre jüngste Schwester.“ 33 Faßbender würgte an ihren Worten, sie konnte unmöglich ahnen, daß sie ihn in der Seele verwundet hatte. Sie betrachtete das Bild an der Wand. „Da“, sagte sie, „die schwarzen Vögel über dem Feld mit den reifen Ähren … Glauben Sie, ein Mensch kann vorauswissen, was ihm bevorsteht?“ „Nein, das glaube ich nicht.“ Faßbender atmete auf. „In allen Nächten, seitdem ich hier bin, hab ich versucht, in ihre Haut zu schlüpfen, manchmal hab ich gedacht, sie muß unter Zwangsvorstellungen gelitten haben.“ „Sie hat böse Dinge erlebt.“ „Ja“, erwiderte Brigitte, „jetzt bin ich endgültig davon überzeugt, dieser van Gogh verrät alles.“ „Sie setzen sich da was in den Kopf …“ „Sie hat’s von ihm anbringen lassen über ihrer Kredenz mit dem Eßservice für besondere Gelegenheiten unten drin und den Sammeltassen, geschliffenen Gläsern, Karaffen und Kristallvasen in den Vitrinen. Sie hat sich bedroht gefühlt – von den schwarzen Vögeln über ihrem prachtvoll stehenden Weizen. Wann war das doch gleich? Januar – Februar?“ „Jawohl.“ „Sie sagen jawohl, damit geb ich mich nicht zufrieden, 193
wir wollen mal ein bißchen Ordnung in die Angelegenheit bringen.“ „Bitte, wie …“ „Stellen Sie sich nicht dumm.“ „Ich weiß es wirklich nicht genau.“ „Zwischen der unbekümmerten Ansiedelung auf dem Lande und ihrer Kurzschlußhandlung im vergangenen September, falls es eine Kurzschlußhandlung war, muß ihr Unerträgliches widerfahren sein – ich füge hinzu: im Niemandsland.“ Faßbender strebte von ihr weg, warf sich in Altmanns Ohrenstuhl, starrte den toten Bildschirm an. Im Näherkommen sagte Brigitte: „Sie hatte ja keine Heimat mehr …“ Quatsch du doch, dachte er, und er dachte an seine kleine Schwester, sein Herz machte ein paar unruhige Sprünge, er dachte: Kindheit – und vor seinem inneren Blick tauchten Wiesen auf, in den Ohren hatte er das Rauschen von Sommerabenden. Damals hatten Kläre und er, während ihre Mutter auf hitzeschwangerem Acker schwitzte, Bauer und Bäuerin gespielt. „Zu ihrer Auffassung von Heimat gehörten“ – woher konnte die denn so was wissen, diese Großstadtpflanze, überhaupt nichts wußte die von Hummelgebrumm, Grillengezirp, Mückenschwärmen – „gute Nachbarn, vor allem alte, junge und ganz junge Frauen. Tagsüber hat sie mit denen eine allen gemeinsame Arbeit geteilt, vornehmlich die Jungen hatten genau wie sie genug zu tun mit Familie und Fortbildung, stelle ich mir vor. Ich kenne mich da nicht genügend aus. Wenn ich unsere Sendungen“ – sie deutete auf den grauen Bildschirm – „mal gründlich satt habe, wissen Sie, was ich dann mache?“ Sie fuhr schnell fort: „Ich schalte auf DDR um. Manches ist da noch 194
Klischee, langweilig und gestelzt. Vieles aber ist sehr, sehr interessant – wie von einem anderen Planeten. Freundlich zu unseresgleichen verhalten wir uns hierzulande ja nun wirklich nicht. Ich stelle mir vor: die fuhren auch ins Theater zusammen, sie gingen groß aus hinterher, der Bus brachte sie sicher nach Hause. An Vertrauten, die geduldig zuhörten, war niemals Mangel. Man saß ja im gleichen Boot. Wenn sie genug zugehört hatten, machten sie den Mund auf. Sie muß krank vor Heimweh gewesen sein – hier, wo jeder aus Gewohnheit dem gottverdammten Patriarchat folgt. Alles andere – faule Sprüche.“ Eine Winterfliege taumelte an Faßbenders Nase vorbei. „Wenn’s recht is“, sagte er, „möcht ich Ihnen die Stuben oben zeigen.“ Er erhob sich schwerfällig. „Wer waren Ihre Eltern?“ fragte er aggressiv. „Verläßliche Freunde“, erwiderte sie knapp. „Na – dann gehn wir mal.“ Er stieg vor ihr her die Treppe hinauf. Über dem Doppelbett im Schlafzimmer lag eine gerüschte Seidendecke. Brigitte blieb am Fußende stehen. Sie meinte zu sehen, wie die Frau das Kind in der Armbeuge gehalten hatte. Faßbender öffnete die Tür zum Bad. Eingekachelte Wanne. Stellage für kleine Wäsche. Waschbecken. Krimskrams auf der Konsole darüber. Drei Zahnputzbecher in Haltern darunter. Handtücher. Im Medizinschränkchen steckte der Schlüssel. Sie folgte ihm stumm über den läuferbelegten Gang. Trat an ihm vorbei, fuhr zurück. Von der Schleiflackplatte des Klappbetts mit seinen lustig bedruckten Vorhängen grinste ein Teddybär herunter, ein grauer mit schwarzen Knopfaugen. Er saß da noch, wie die kleine Renate ihn hingesetzt haben mochte 195
als ihren liebsten Besitz, denn er saß isoliert von einer Vielzahl kleiner und großer Puppen, den flockigen Rücken gegen einen Bilderbuchstapel gelehnt. „Kommen Sie.“ Faßbenders Stimme klang rauh. Draußen blieb er dann am Giebelfenster über der Haustür stehen. „Wir müssen Altmann schonen“, fing er an, „es bedeutet schon viel, daß er überhaupt mitgekommen ist, ich hab ihn vorbereitet – aufs Zusammentreffen mit. Ihnen, mein ich. Er braucht ’n paar Klamotten, aber er hat nichts eingewendet, als wir losfuhren. Er ist wie ’n Kranker, der noch schwankt, ob er sich fürs Gesundwerden einschließen soll. Man muß sehr vorsichtig mit ihm umgehen.“ „Muß ich auch Sie schonen?“ Faßbender protestierte sofort: „Wieso mich? Um mich geht’s doch gar nicht.“ „Doch, Herr Faßbender, es geht, mehr als Sie zugeben wollen, auch um Sie Denken Sie bloß mal an die Fotografie einer Siebzehnjährigen in der Wohnstube Ihrer Mutter. Die derzeitige Kläre Faßbender …“ „Also hör’n Sie mal, also das is ne interne Familienangelegenheit, wenn Sie uns in Ihren Bericht reinziehen woll’n …“ „Dann passen Sie, nicht wahr? Und dann unterscheiden Sie sich in gar nichts mehr von Franz Altmann, ich darf weiter auf der Stelle treten, weil Sie sich nämlich auf die Zehen getreten fühlen. Mich bewegen“, fuhr sie ruhiger fort, „Einzelschicksale … Sie brauchen nicht gleich wieder aufzubegehren. Gewisse Phänomene liegen offen da, aber wo finde ich die Zusammenhänge? Ich hab mir eingebildet, Sie würden mir zur Seite stehen.“ Der Ausdruck starrer Abwehr in Faßbenders Zügen milderte sich. Er wandte ihr flüchtig sein Gesicht zu, blickte dann wieder in den verschneiten Garten. 196
„Was ist eigentlich an den Rackes dran, daß sie euch die Lippen versiegeln?“ Er räusperte sich, antwortete aber nicht. „Verständlich, daß manche seine Beziehungen fürchten – immer noch. Verständlich, daß andere mit ihrer wahren Meinung hinter dem Berge halten, weil sie abhängig sind. Der alte Isernhagen scheint ja die Liegenschaften von halb Lemdorf in seiner Gewalt gehabt zu haben. Sie, Herr Faßbender, sind ein politisch engagierter Facharbeiter; zudem: Wenn man lange genug weg ist, gewinnt man doch Abstand – oder?“ „Meine Mutter lebt hier“, murmelte Faßbender, „und …“ Er zögerte, vollendete resigniert: „Kläre.“ „Wissen Sie, wie mir manchmal zumute ist?“ „Nein.“ „Ich fühle mich unter Gartenzwerge versetzt.“ „Sie haben gut reden und fühlen.“ „Zugegeben. Fangen wir mal mit dem Anfang an. Dieser flotte Heimkehrer Alfons Racke hat eines fernen Tages kurzen Prozeß gemacht, Ihre Schwester stand seiner zweiten Karriere im Wege. Warum aber um Gottes willen hielt sie ihm trotz dieser Erniedrigung die Treue?“ „Fragen Sie sie selber.“ „Ich kann sie nicht fragen, sie haßt mich. Schläft sie eigentlich noch mit Racke?“ Der erwartete Ausbruch erfolgte nicht. Einige Sekunden verstrichen. Dann sagte Faßbender gefaßt: „Kaum anzunehmen, daß Sie Ihrem Bruder Ihre intimen Geheimnisse anvertrauen würden.“ „Ich wollte, ich hätte einen – aber Sie haben recht. Vergeben Sie mir meine Zudringlichkeit.“ Er nahm sie wieder bei den Schultern, deutete hinab. „Gucken Sie sieh das mal an“, sagte er, „gucken Sie genau 197
hin. Sieht prima aus von hier oben, ist ’n schöner Blick, hat aber ’n Haken. Der Grund und Boden, auf dem das Haus steht, gehört der Gemeinde. Es steht nicht umsonst so weit hinten. Der Plan davor gehört zu Dreivierteln dem Bürgermeister – nein, falsch, seiner Frau. Der Bürgermeister leiht in besonderen Fällen bloß seinen Namen her. Und da hat nun Altmann, der Tropf, einen Vertrag mit Vorkaufsrecht unterschrieben, ohne sich mit einem Rechtsanwalt gründlich zu beraten. Die Ilse hat ihn vergebens auf seinen Fehler aufmerksam zu machen versucht. Sie war kritischer als er, weil sie klüger war. Als Haushaltsvorstand unterschrieb er allein – klarer Fall. Er übersah, daß Lisbeth ihn in der Hand hatte. Sie konnte den beiden ’s Ventil drosseln, wann immer es ihr in den Kram paßte.“ „Kapier ich nicht.“ „Dann leben Sie aber sehr hinterm Mond.“ Faßbender, im Bewußtsein seiner Überlegenheit, wölbte seinen Brustkorb vor. „Das ist wie mit dem Mietzins in der Stadt, der bleibt auch nicht konstant, er wächst mit den steigenden Preisen. Und das war in dem Pachtvertrag verankert: Pachtsumme und Grundstückspreis waren … tja …“ „Variabel?“ „Genau.“ „Das ist doch – so was gibt’s doch nicht …“ „Nur weil wir aufm Lande sind? Oder weil Altmanns zu dämlich waren, auf ne Rückversicherungsklausel zu dringen? Auf Treu und Glauben bauten? Nur dat Hüsung konnt Lisbeth ihnen nich wegschachern. Ich seh noch nich klar“, fuhr er nach einem Seitenblick fort, „verdammich, warum schoß die plötzlich so weit übers Ziel …“ „Wer?“ „Na, wer – Lisbeth natürlich. Da mußte denen ja von 198
heut auf morgen die Puste ausgehen. Fragen Sie nun bloß nich Franz danach. Der rückt nich mit der Sprache raus, sicher hat’s ’n Riesenkrach zwischen ihm und Ilse gesetzt.“ „Übers Ziel“, wiederholte Brigitte, „mit ihren Forderungen – Sie meinen: Frau Racke hatte eine Ursache?“ Sie dachte an Bartels, sie sah Bartels und seine Frau und Oskar Hardank mit seiner Freundin in Strothmanns Deutschem Kaiser sitzen, sah, wie Oskars Freundin aufstand, sah sie draußen mit Krögers Hilfe einen Anschluß wählen. Ich muß Kröger fragen, dachte sie. „Wenn Sie mich fragen“, Faßbenders Stimme drang von weit her in ihr Bewußtsein, „wenden Sie sich doch mal an Rechtsanwalt Fröbel, er hat seine Kanzlei gegenüber vom Deutschen Kaiser.“ 34 „Habt ja sehr lange gebraucht“, begann Sörensen, als Brigitte und Faßbender eintraten. „Sin Se zufrieden mit’m Haus?“ fragte Altmann. „Sie will dein Haus nich, fall doch nicht auf jeden Schnack rein, du Töffel!“ „Hagemeister“, sagte Sörensen. Er grinste schadenfroh. „Da haben wir’s.“ Dies ging deutlich an Brigittes Adresse. „Ja, Hagemeister“, bekräftigte Faßbender. Da sagte Altmann: „Frau Doktor Kotier hat mir geschrieben, Sie sin wohl die Tochter …“ „Nein“, erwiderte sie gepreßt. „Ich will hier nich länger wohnen bleiben, ich wollt Sie auch nich beleidigen.“ Altmann faltete die Hände hinter seiner Tasse und sah sich stehen nach seiner Haftentlassung. Sah sich stehen. 199
Die Hände ineinander verkrampft in einem der spiegelblank gebohnerten Korridore der Heilstätte Dornburg. Faßbender hatte ihn abgeholt aus dem Knast und dorthin gefahren. Er wartete unten im Besucherraum. Mußte lange warten. Faßbender. Mit zu sich nach Hause hatte er ihn genommen, zu seiner Frau und zu seinen Kindern. Und es war gut gewesen, daß es so einen wie Faßbender überhaupt gab. Weder Hunger noch Durst hatte er gehabt, nur einen einzigen Gedanken, der hatte alles andere niedergeschlagen. Jetzt in seiner Küche erschien es ihm so, als hätte er tagelang in dem sauberen Korridor gestanden, immer am selben Fleck. Irgendwann, endlich hatte er das Krankenzimmer betreten dürfen. War schnell wieder rausgeschickt worden. Hatte wieder am Fenster des langen, langen Korridors gestanden, den ein Scherengitter und zwanzig Meter weiter eine zweite Scherengittertür versperrte. Was jenseits der verriegelten Fenster gewesen war, fiel Altmann jetzt nachträglich ein: Bäume und Schatten, Bänke in herbstlichem Licht. Und er hatte zurückkehren dürfen ins Zimmer und stand da am Lager seiner Frau, hielt ihre Hand, stammelte: „Ich will alles besser machen, nu glob’s mer doch …“ Hinterher hatte Altmann die Ärztin getroffen, und zwischen Scherengitterpforte aufschließen und Scherengitterpforte zusperren hatte er gefragt: „Sie belügen mer doch nich, Frau Doktor?“ Und hatte in das Geschepper der letzten einschnappenden Falle hineingesagt: „Es is so, daß ich schuld hab, jetzt weiß ich erscht, was se mer wert is, meine Ilse. Nichts for ungut, Frau Doktor, Sie belügen mich doch nich?“ 200
Wenn er erregt war, verlor er die Kontrolle über seine Sprechweise. Das Sächsische, soviel er sich auch mühte, brach immer wieder durch. Dieses eine Mal war’s ihm egal gewesen. Die Ärztin hatte erwidert: „Wir versuchen unser Möglichstes, Herr Altmann.“ „Ich will mit euch nich länger an diesem Tisch sitzen!“ schrie Altmann. Mit einer Handbewegung fegte er alles erreichbare Geschirr weg. Tassen und Teller zerbrachen klirrend auf dem Fußboden. „An diesem Tisch.“ Er rammte die Ellenbogen auf, warf das Kinn in die Fäuste. „Un sabbeln, ich will nich mehr sabbeln.“ Der Ausbruch war vorüber. Altmann atmete tief. Die Augen hielt er geschlossen. Seine Hände legte er nun flach auf die Knie. Den Rücken lehnte er an. „Nüscht for ungut“, flüsterte er. „Stopf deine Pfeife“, sagte Faßbender ruhig. Er schob seinen Tabaksbeutel über den Tisch. „Franz.“ Brigitte wandte sich Sörensen zu, sah dessen Gesicht verstört, ratlos vor Mitleid. Und Faßbender sagte: „Nun mach, Franz. Möchten Sie ne Zigarette? Biete Frau Strömberg doch mal ne Zigarette an, Schulmeister.“ Sörensen zog ein Päckchen Rothändle aus der Jackentasche, löste die Banderole. Sie ließ sich Feuer reichen. Der erste Zug sprengte ihr fast die Luftröhre. Sie mußte husten. „Donnerwetter!“ stieß sie hervor. Merkwürdig, die Atmosphäre schien dadurch entspannt. Etwas wie Erleichterung teilte sich allen Anwesenden mit. Nur Altmann … Erinnerungen schössen in ihm empor, er wagte sich nicht zu rühren. Dann begann er auf der Bank unruhig 201
hin und herzu rutschen. Seufzte. Das Kraut, das er angezündet hatte, erlosch. Es war, als wechsele er von einem Zustand in einen anderen hinüber, als sträube er sich, dies zu erkennen. Sein Unbehagen nahm zu. Jawohl, dachte er, ich wollte allen zeigen, was an mir dran ist, jawohl, imponieren wollt ich allen, ich wollt mich umschulen lassen sogar, bloß um ’n weißen Kittel tragen zu dürfen und ’n paar Mark mehr zu verdienen in so ’ner Glaskugel, wo man acht Stunden lang Hebel bedient und Knöpfe drückt, die sowieso funktionieren. Faßbender hat mich abgehalten davon. ’n Autoschlosser, hat er gesagt, is ’n Autoschlosser, den kann keine Automatik ersetzen. Und dann hat er was von Bauernfängerei gesagt, zu Ilse, nicht zu mir. Wissen Sie, hat er gesagt, Automation is ne Niedertracht. Und Ilse hat gesagt: Wo, Herr Faßbender, wo ist sie das? Und ich hab gesagt: Davon verstehen Frauen nichts, Und da hat sie mich angesehen, ich vergeß den Blick nicht, ihren traurigen, ihren trostlosen Blick – ja, trostlos hat sie mich angesehen. „Erinnerungen“ – Viktors Stimme –, „ihr Jungen habt keine Ahnung! Liebe Güte, Sörensen! Verwechsle mich doch nich mit Hinnerk Grothus! So einer bin ich ja nich, daß ich euch Jungen bei jeder Gelegenheit Lesebuchgeschichten serviere. In seinem sächsischen Nest war Franz ein Privilegierter, ein angesehener Kollege …“ Altmanns Lider öffneten sich weit. „Das war da alles wunderbar glatt gelaufen …“ „Stimmt“, sagte Altmann. „Zu glatt“, fuhr Faßbender fort, „so glatt, daß ihn eines Tages der Hafer stach.“ Er machte eine Pause, aber Altmann blieb stumm. „Viel später mußte er einsehen, hier bei uns, daß schon Alltäglichkeiten, wie er sie gewohnt 202
gewesen war, begriffsstutzige Spießer auf die Palme brachten. Sie haben’s ihm angekreidet.“ Es war der Moment, da Brigitte den richtigen Weg gefunden zu haben meinte. Die Kehle wurde ihr abermals eng, aber nicht vom beißenden Rauch Sörensenscher Zigaretten. 35 Brigitte nahm Sörensen mit. „Schade“, sagte sie vor dem Schulhaus. Der junge Mann entgegnete verlegen: „Ich bedaure es auch.“ „Wenn Sie sich meiner Fahrkunst anvertrauen wollen, packen Sie Ihre Siebensachen, ich setze Sie unterwegs ab – wie wär’s mit Hannover?“ „Oh, danke – find ich prima.“ „Wohin soll die Reise überhaupt gehen?“ „Wolfsburg.“ Er stieg schnell aus und war schnell wieder zurück. Seine Reisetasche warf er in den Kofferraum zu den Tragbeuteln aus Schröders Laden. Große, schwere weiße Flocken fielen langsam, schmolzen, sobald sie das Pflaster berührten. Sörensen, sichtlich erleichtert, putzte mit seinem Handschuh die Windschutzscheibe von innen. Sie beschlug von ihrer beider Atem. „Mutter Faßbender hat uns zwar mit Schwartenwurst bewirtet – was halten Sie davon: Sollten wir nicht doch noch was Richtiges essen?“ Sörensen hielt den Vorschlag für eine dufte Idee, sah aber sorgenvoll drein. 203
„Ich hab mein Spesenkonto bei weitem noch nicht erschöpft“, fuhr Brigitte fort, „seien Sie nett, lassen Sie’s uns gemeinsam dezimieren.“ „All right“, sagte Sörensen. Sie faßte das Lenkrad fester, gab ein wenig mehr Gas, sagte: „Bei aller Bemühung, ich begreif die Faßbenders nicht, neulich war Mutter Faßbender viel zugänglicher. Vorhin hat sie Viktors Weihnachtsgeschenke bewundert und war … ja, sie war nervös, es gingen so Blicke hin und her zwischen Viktor und ihr.“ „Blut ist dicker als Wasser.“ „Kommen Sie mir doch nicht mit so was, paßt gar nicht zu Ihnen.“ „Stimmt aber. Es gibt so Beziehungsgeflechte, die sind unzerreißbar wie Lianengehänge im Dschungel. Viktor, der vieles richtig sieht und auch initiativ handelt in seiner Arbeitswelt, hat seine Achillesferse, die heißt Lemdorf.“ „Falls ich Sie richtig interpretiere: Sie meinen, Viktors psychische Struktur befindet sich in Widerspruch zur von ihm akzeptierten sozialen Struktur?“ „Zu akzeptieren gibt es da nichts, er vertritt etwas, und das bleibt nach wie vor Zukunftsmusik.“ „Fürchtet Faßbender, wiewohl er sich im Gegensatz zum Durchschnitt um Altmann gekümmert hat, im tiefsten Innern etwa doch den Verlust des erreichten Status, der gesellschaftliche Achtung nach sich zieht?“ „Für sich selber – nein“, erklärte Sörensen. Er war frei von Erbitterung, als er fortfuhr: „In so abgelegenen Dörfern spitzt sich derlei doch viel mehr zu, Schandbarkeiten der Nachbarn, gemeine Rumträgereien, Geschwätz. Wenn die Leute weniger mit den Schwächen ihrer Mitmenschen befaßt wären und sich ein bißchen mehr mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten beschäftigen würden, 204
müßten sie sich hüten, ihrer Sensationsgier fortwährend neue Nahrung zu geben. Die Parallele hinkt, aber ich denke an Fußballmatche, wo die Menge vierundvierzig Beine wirbeln sieht. Manchmal pfeift sie den Schiedsrichter aus, oft wird die siegreiche Mannschaft verprügelt. Dann gibt’s eine Serie von Unfällen. Und keiner ist dafür verantwortlich, jeder geht unbeschadet aus dem Debakel hervor. Viktor“, schloß Sörensen, „möchte vor allem seine Schwester heraushalten. Sein Trauma. Sein individueller Konflikt.“ Brigitte parkte ihr Auto an der Bordsteinkante vor dem Hauptportal des Deutschen Kaiser. Kröger verließ gerade den Aufzug, als sie die Halle betraten. „Ich glaube“, sagte sie, „Ihre Interpretation ist mit zuviel Marcuse befrachtet, ihr haltet den und Alexander Mitscherlich ja für Abgötter.“ Sörensen wollte scharf erwidern, aber die Gelegenheit ergab sich nicht. Krögers Vorgänger hatte das Jackett mit den Goldlitzen bereits abgelegt. Sie bedachte ihn trotzdem mit einem Obolus. Non olet, sprach Sörensen böse zu sich selbst. „Was Besonderes?“ fragte Kröger. Sörensen begutachtete die Fichte an der Stirnwand der Halle. Kein Gast schien mehr anwesend zu sein, den stimmungsvollen Aufwand von bunten elektrischen Kerzen, bunten Glaskugeln, goldflittrigen Fäden rührselig zur Kenntnis zu nehmen. „Nichts Besonderes.“ Der Mann, der so sprach, trug jetzt eine Strickweste. Er war Jedermann geworden, den es heimzog zum kleinen Glück des häuslichen Herds: schöne warme Stube, paar Pullen Bier, Ohrenstuhl, Fernsehkrimi. „Man bloß Racke. Sie kennen Herrn Racke ja auch, gnädige Frau. Selbstverständlich holt der Hausdiener 205
Ihr Gepäck runter. Nehmen Sie einstweilen im Restaurant Platz. Es gibt Rindsleber, Hammelbraten – nicht zu vergessen: Gänsebraten mit Rotkraut.“ „Hier bitte, Frau Strömberg, Ihre Unterschrift – hier, mein Kugelschreiber, bitte sich zu bedienen.“ Während sie den Stift von Kröger entgegennahm, schwatzte der von Kröger eben abgelöste Hotelportier weiter: „Was der von mir letzthin nicht wiedergewählte Kommunalpolitiker ist, hat hier mal wieder mit seiner Sekretärin gespeist, is lange nicht mehr vorgekommen, geht mich auch nichts an, und ich will mich auch nich festlegen, aber sag mal selber, Kröger, seit Frau Altmanns Unfall hat der doch unsere Gaststätte gemieden, mußte doch einräumen. Ich gehör ja nich zu den Neunmalgescheiten, aber das fiel mir uff. Tschüs ok, Kröger. Was ich noch sagen wollte, was Racke is, der hat ja unser Restaurant nur noch betreten nach ’ner Sitzung im Kreisparlament, hat ne Pulle Rotspon getrunken mit ’n paar Herren von außerhalb. Die waren nich mehr aus Bonn – ich drück mich vornehm aus: Bonn war sozusagen passe. Mach’s gut, Kröger, ich wünsch dir was, wünsche angenehme Feiertage.“ Sörensen, in den Anblick der über und über geschmückten Tanne vertieft, hörte Brigitte fragen: „Hat Bürgermeister Racke mit seiner Sekretärin zuweilen auch im Hotel übernachtet? Es war ja nicht verwunderlich in Anbetracht seiner Obliegenheiten zum Wohl des Kreises und seiner Gemeinde.“ Krögers Antwort erfolgte prompt: „Diskretion Ehrensache, gnädige Frau.“ „Schön, lieber Kröger, bis zu einem gewissen Grade stimm ich mit Ihnen überein. Natürlich wissen Sie sehr gut Bescheid, Sie wollen’s nur nicht merken lassen, denn 206
so seid ihr nun mal. Ihr bildet euch weiß Gott was ein auf eure Verschwiegenheit, in Wirklichkeit wünscht ihr, bloß nicht Farbe zu bekennen!“ „Darf ich Ihnen Gänsebraten empfehlen, gnädige Frau, als Beilage Rotkraut mit Äpfeln?“ „Sie sehen, bester Sörensen, sogar Herr Kröger weicht mir aus, obgleich er doch auf Grund jahrzehntelanger Erfahrung die Menschen durchschaut. Frau Altmann“, sie verhielt, „war schiecht gewappnet. Man kann nämlich Taktgefühl auch übertreiben. Mit ein bißchen weniger Anständigkeit …“ Sie verhielt abermals. „… wäre sie nach Ihrer Auffassung noch am Leben“, vollendete der Alte grimmig. „Was ich sagen wollte: Ein Anruf aus Hamburg erfolgte bislang nicht.“ „Also der Gänsebraten, Herr Kröger, also so etwas Gutes!“ „Freut mich, gnädige Frau.“ „Verraten Sie mir eines, bitte – ja? Sitzt Herr Rechtsanwalt Fröbel drinnen beim Skat?“ „Herr Doktor Fröbel hat die ganze Zeit in der Nische neben Ihnen gesessen. Der interne Nachrichtendienst …“, der Alte grinste unverfroren, woraufhin die Strömberg ihm befriedigt zunickte, „rapportierte vor ungefähr zehn Minuten, daß er heute sämtliche Trümpfe hält. Ungewöhnlich. Rechtsanwalt Fröbel ist bekannt für sein Pech beim Skat, er gilt als passionierter Schachspieler.“ „Und sonst?“ „Keine vorfabrizierte Persönlichkeit, Vater brachte Kanzlei in Verruf, ist zwar lange her, blieb aber als Eindruck haften – buchstäblich.“ „Mein lieber Herr Kröger“, sagte Brigitte warm, „ich wünsche Ihnen frohe Feiertage, vergessen Sie meinen Ausfall von vorhin, ja?“ 207
Kröger erwiderte dunkel, nur Sörensen faßte es so auf: „Wir waren unter Zeugen, gnädige Frau, und man muß ja nicht unbedingt allen dienstbaren Geistern was zwischen die Zähne hängen, solche Verfahrensweise führt zum Mißlingen.“ „Danke schön, Herr Kröger.“ „Gute Fahrt, Frau Strömberg.“ Der Hausdiener stand fröstelnd in der Kälte. Die weißen Flocken blieben jetzt liegen. Sie drückte dem Mann ein Geldstück in die Hand, schickte ihn in die warme Halle zurück. Mit Sörensens Hilfe brachte sie Teile ihres Gepäcks auf dem Rücksitz unter. In der einbrechenden Nacht war das kleine Auto eine winzige abgeschlossene warme Welt. Immer dichter begann Schnee zu fallen. Stellenweise war die Autobahn vereist. Sörensen zündete eine Zigarette an, zögerte, reichte sie ihr. Sie tat ein paar Züge, fragte: „Stört es Sie, wenn ich über hundert gehe?“ „Nein.“ „In Faßbenders Taunus hätten Sie’s bequemer gehabt – nein, bitte, keine Einwände. Natürlich dachten Sie, er nimmt Sie mit. Sonst hätten Sie beim Schröder ja nicht so viel Geld gelassen für Präsente.“ Die Flocken bildeten Schleier vor den Scheinwerfern. Emsig sirrten die Scheibenwischer. „Nun?“ „Stimmt schon.“ „Enttäuscht?“ „ja.“ „Warum?“ „Komm nicht klar.“ „Vielleicht sind Sie zu radikal. Vielleicht reißen Sie 208
allein durch Ihre Art Wunden wieder auf, die sich gerade schließen wollen. Ich möchte Ihnen einen Rat geben.“ „Da bin ich aber neugierig“, sagte Sörensen. „Ich geb ihn mir selber. Man muß die Menschen zu sehen versuchen, wie sie sind. Sie sind so, wie sie sind, weil sie sich ins Korsett etablierter Anschauungen einzwängen ließen. Sie merken gar nicht, daß sie die Geprellten bleiben. Zu guter Letzt müssen sie doch sterben, den Gedanken an den Tod haben sie hektisch verdrängt, dennoch müssen sie sterben trotz Protz und Brimborium …“ „Bitterkeit paßt schlecht zu Ihnen.“ „Ich bin nicht bitter – weit gefehlt. Ich möchte Ihnen nur Ihre Blindheit nehmen.“ „Und was bezweckten Sie mit diesem Kröger – vorhin?“ „Ich mag Kröger ausgesprochen gern. Er bezeichnet sich selber als Petrefakt, was in keiner Weise stimmt. Er ist ein alter Mann, der seiner Selbstverwirklichung nähergekommen ist durch mannigfache Niederlagen. Er heißt sie gut, deshalb ist er frei. Aber mal zurück zum Thema. Thilde Grothus – ich weiß, Sie lehnen sie ab – hat mir unter vielem Wesentlichen etwas hervorragend Wesentliches mit auf den Weg gegeben: Lisbeth Racke hat durch die in jedem Falle anrüchige Vorsorge ihres Vaters – weit, weit mehr als durch ihren ihr angetrauten Gemahl Alfons – einen langen Arm.“ Brigitte stoppte das Tempo. „Ich mache mir Sorgen“, sagte sie. „Sorgen?“ „Wir wollen einander nicht aus den Augen verlieren – einverstanden?“ „Geht in Ordnung“, sagte Sörensen nach einer Pause. Sie drückte erneut aufs Gaspedal, sagte: „Ich möchte 209
Sie näher kennenlernen. Wo wollen Sie eigentlich hin in Wolfsburg?“ „Zu Freunden“, erwiderte Sörensen. „Also gut – ich setze Sie bei Ihren Freunden in Wolfsburg ab.“ 36 Spengler sah sich in seinem Hotelzimmer um. Er nahm Gegenstände wahr, die ihm hinlänglich vertraut waren. Er nahm sie flüchtig wahr. Er schaltete die Stehlampe ein, setzte sich, fing an, Regines Brief zu lesen. Der Brief war knapp gehalten. Er registrierte die Zeilen in dem lang ersehnten Brief – im wesentlichen ging es darin um Weinheim – mit einem Teil seines Bewußtseins. Er hob den Hörer von der Gabel, Kröger meldete sich. „Ich möchte einen Mokka“, befahl er kurz. „Sehr wohl, Herr Spengler, wird besorgt.“ Er legte den Hörer hin und wartete. Dann klopfte der Kellner, setzte sein Tablett ab. Spengler war nicht geneigt, sich mit ihm in ein Gespräch einzulassen. Das fremde Gesicht störte ihn. Er griff nach dem Briefpapier in der Schublade des Tisches, legte es neben Kännchen und Tasse, begann mit der Hand zu schreiben: „Meine liebe Regine …“ Da stockte er bereits. Er konnte Regine unmöglich mitteilen, was er wirklich empfand. Er fühlte sich ausgelaugt, es war ihm, als wandere er durch eine grenzenlose, im Schnee erstickte Landschaft. Er konnte Regine das nicht mitteilen, weil Regine Weinheims rechte Hand war. Dann schrieb er weiter. Die gelblichen Bogen mit dem anachronistischen Hotelemblem füllten sich mit Sätzen, 210
die er nie abschicken würde. Er rang um Klarheit. Er hatte den Ansatzpunkt verloren, vielleicht hatte er sich nur eingebildet, ihn zu besitzen. Sein Verstand brauchte eine Formel, deren Auflösung das Bild im Rahmen erscheinen lassen würde. Bisher war nur der Rahmen da. Nichts ging planmäßig seinen Gang. Es war außerplanmäßig gewesen, daß die alte Frau Faßbender bei seinem zweiten Besuch heute, mit dem er sie überrumpelt hatte, diese verzweifelten Tränen vergossen hatte. Er hörte ihr Gestammel: „Frau Strömberg war ja auch noch mit meinem Sohn Viktor und Franz Altmann und Lehrer Sörensen am dreiundzwanzigsten Dezember bei mir. Ich hab Schwartenwurst aufgetischt. Und sie hat gesagt, das Gericht erinnere Sie an ihre Kindheit. Aber ich konnt doch in ihrer Gegenwart nich sagen, daß meine Kläre mit Racke weg war. Ich hab’s man bloß Viktor verteilt – buten inne Kök. Meine Kläre war ja nich abzubringen von Racke, der konnt ja mit ihr machen, was er wollte. Ich weiß nich, Herr Assistent, wie Sie sich stellen würden, wenn Sie ne Frau hätten, und die säuft heimlich, un se kümmt nich los davon. Und ich muß ja sagen, Kläre is meine Jüngste, un ich bin man nur ne Mutter, un ne Mutter denkt: An dir soll sie immer ’n Rückhalt haben. Ich hab eben alles in der Stille ertragen. Wenn ich hätte voraussehen können, ein Mensch geht dabei drauf …“ „Noch ein Mensch“, vernahm Spengler seine Erwiderung. Er hatte, um seine Rührung nicht zu zeigen, starr zum Fenster hinausgesehen. „Warum, Frau Faßbender, warum ist Ihre Tochter bei diesem Racke geblieben?“ „Warum – warum! Warum bleiben Säufer bei der Flasche? Meine Kläre bezahlt ja dafür.“ Er war – wie unter der Wirkung eines Elektroschocks – 211
so brutal gewesen, direkt zu fragen: „Trauen Sie dem Geliebten Ihrer Tochter einen Mord zu?“ „Ich hab’s jahrelang geduldig mit angesehen, wie Kläres Herz versteinerte. Ich traue den Rackes alles zu, er kann vielleicht nich anners, er hat sich so reingeritten, daß er alles tut, alles. Bitte, schonen Sie uns lüttje Kläre …“ Spengler holte einen neuen Bogen aus dem Schubfach, setzte die Füllfeder neu an, schrieb: „Ich bin auf der Fährte, Regine, und vermisse Sie sehr. Hoffentlich enttäusche ich den Chef nicht. Morgen will ich mir den Hotelier vornehmen – aber nein, der hat Zeit. Erst werde ich mit dem Lehrer von Lemdorf sprechen, danach mit der Frau des Bürgermeisters. Ich sehe die weiche Flut Ihrer Haare, Regine. Wenn ich im Büro meine Zeit umbringen müßte, würde ich – wissen Sie, so ganz leicht – meine Hand darauf legen. Das wäre mir ein großer Trost.“ 37 Zwischen Weihnachten und Neujahr, diese Einschränkung meinte er sich schuldig zu sein, erschien Bode in Dornburg. Und dann haderte er mit sich selbst, mit seiner einseitigen Auffassung von Liebe, denn er war fassungslos angesichts des Materials, das Biggy zusammengetragen hatte. Ihr wütender Ausfall: „Ich scheiß drauf!“ änderte nichts daran. Wenn Nathalie zu ihren Patienten ging, das geschah nach dem zeitigen Frühstück, blieben die beiden noch eine Weile am Tisch sitzen. Bode überflog die Zeitung, das galt ihm als Vorwand. Hinterher vertiefte er sich in ihre Skripten. Sie sah ihm scheinbar gelangweilt zu. Die Kiefer in der Ecke mit ihren halb abgebrannten 212
Kerzen verströmte Harzgeruch. Einem zufälligen Beobachter wären sie wie Verheiratete vorgekommen. Nur die auf dem Teppich spielenden Kinder fehlten. Tauwetter war eingetreten. Es war unwirtlich draußen. Es tat gut, daheim zu sein. Klaus erkannte instinktiv: Dies war Brigittes Zuhause. Sie wuschen dann gemeinsam das Geschirr. Biggy betätigte sich auch sonst hausfraulich, sie richtete die Mittagsmahlzeit vor. Und Klaus sagte großzügig: „Ich kann ja mal eben mit dem Staubsauger über die Böden gehen.“ Was er erwartete, erfolgte nicht, ihre Aufforderung: „Nun sprich doch endlich, Junge!“ Ach, die blieb aus. Sie schälte Kartoffeln, putzte Gemüse, während er herumwerkelte, was ihm nichts Neues bedeutete. Seine Junggesellenwohnung pflegte er auch allein. Alle vierzehn Tage einmal brachte die Hauswartsfrau mit vielen Achs und Wehs Grund in die Schlamperei. Er fand, es mußte wunderbar sein, mit Biggy so einen richtigen biederen Hausstand zu gründen. Eines Tages sagte er es ihr auch. Er saß auf der Fensterbank, rauchte seine Pfeife, sah zu, wie sie Hasenbratenreste tranchierte. „Darüber läßt sich reden – später.“ Er sprang herunter, schloß sie in die Arme, sagte: „Weiß der Kuckuck, Biggy, darauf habe ich lange gewartet. Aber was heißt später?“ „Später heißt nicht jetzt. Wenn wir weiter so trödeln, krieg ich die Soße nicht hin. Mach mal unser Bett inzwischen.“ Er formte die Doppelbettcouch im Gastzimmer mit zwei Handgriffen zum Sofa um, entfernte Kissen, Laken, Steppdecken, überlegte dabei, daß Nathalie ohne Vorurteile war: ruhig, schlicht und – ja, nun eben – verständnisvoll. 213
Biggys Wangen waren rot vor Eifer, alles richtig zu machen. Sie schob ihm einen Teelöffel voll Soße in den Mund. „Du kochst wunderbar, und Nathalie ist eine fabelhafte Frau. Man weiß sofort, woran man mit ihr ist.“ „Ich würde eher meinen, Nathalie weiß, woran sie mit dir ist; kleiner Unterschied, wie?“ Sie betrachtete ihn amüsiert. „Komm“, sagte er, „laß uns an die Arbeit gehen.“ Sie folgte ihm mit Überwindung nach oben, hörte ihre eigenen Tonbänder ab, er sagte: „Warte mal – da fehlt doch was …“ „Altmanns Bericht.“ „Warum hast du ausgerechnet den nicht aufgenommen?“ „Faßbender war dagegen.“ „Aber Biggy!“ „Ich hab ihn auf meinem Block.“ „Lies vor.“ Sie überflog ihr Stenogramm, entzifferte ohne sichtbare Anteilnahme die krausen Zeichen: „In der Woche hatte ich Nachtschicht. Am Vorabend hatten meine Frau und ich den Herbstkatalog von Neckermann durchstudiert, sie hatte gesagt, wir wollten die neuen Möbel doch lieber selber aussuchen …“ „Wann hast du das festgehalten?“ „Erst soll ich lesen, dann unterbrichst du mich gleich.“ Bode stieß ein rasches Lachen aus, das angenehm zu hören war. „Schon gut, schon gut, stottere weiter.“ „Altmann bestätigte, daß er fünfundvierzig und seine Frau zehn Jahre jünger gewesen war. Er wäre schon einmal verheiratet gewesen, die erste Ehe wäre kinderlos geblieben.“ 214
„Geschieden?“ „Nein, verwitwet.“ „Wann hast du’s aufgeschrieben?“ „Himmelherrgott noch mal – beim Gänsebratenessen im Hotel, der Lehrer saß mir gegenüber, ich hab den Text mit ihm abgestimmt. Mach mich nicht rasend!“ „Ich bin der Redakteur, verstanden? Hab dich nicht so, kommentiere nicht, lies, ich will mein Bild von dem Mann bekommen.“ „… Als ich gegen acht Uhr in der Frühe zurückkehrte, sprang mir Renatchen nicht wie sonst mit dem Schulranzen entgegen, die Haustür war verschlossen, ich steckte den Drücker ein und ließ ihn draußen stecken und ließ die Tür hinter mir offen. Und dann fand ich die beiden. Ich hab dann auch den Abschiedsbrief gefunden, er lag auf dem Küchentisch. Ich trage ihn nun immer bei mir. Ich will ihn zu Gehör bringen …“ Bode fiel ein: „Das ist ja grauenhaft!“ „Er hat’s wirklich so gesagt – auf sächsisch.“ „Bring ihn zu Gehör.“ „Verkauf das Haus, Franz, jetzt wird dir ja nichts anderes übrigbleiben. Zieh schnell von hier weg. Wir haben von Anfang an was falsch gemacht. Aber Renate habe ich allein geboren, man soll sie mir nicht weiter quälen. Die Welt hier ist ein Irrenhaus, man verpaßt oder versäumt nichts, wenn man sie verläßt.“ „Na ja“, sagte Bode. „Tu nicht so, als ob’s dich kaltließe“, fauchte sie. „Über Weihnachten“, fuhr sie fort, „habe ich Nathalie interviewt. Die Altmann geriet in die geschlossene Abteilung wegen reaktiver Depression mit Selbstmordgefahr. Und dann war sie ja auch des Todschlags angeklagt. Die Psychiater sollten ihren Geisteszustand prüfen. Nichts 215
gegen auszusetzen, dem Recht muß nun mal Genüge geschehen. Das Verfahren wurde eingestellt.“ „Ist das wichtig?“ „Sehr.“ „Du meinst wegen Nathalie?“ „Quatschkopf!“ „Langsam, immer hübsch langsam, Biggy, ich bin ja unbeteiligt.“ „Bestimmt erkannte sie in Nathalie noch ein einziges Mal in ihrem Leben eine Frau, der sie ihr Herz öffnen konnte“, sagte Brigitte zornig vor sich hin in die Luft. Bode nickte. „Sie ist solchen Frauen – meine Auffassung – hierzulande sonst nirgends begegnet.“ Sie setzte neu an, ihr Ton war sachlich unterkühlt: „Als der Bundespräsident die Woche der Brüderlichkeit proklamierte, erhielt die Staatsanwaltschaft eine Materialsammlung von der Lemdorfer Gemeinde zum Zwecke der Wiederaufnahme des Verfahrens. Der zuständige Justizbeamte prüfte den Sachverhalt und empfahl einen Rechtsanwalt. Dieser wurde auf Gemeindekosten verpflichtet, den Prozeß Lemdorf gegen Altmann zu führen. Zunächst scheint er sich in die Akten vertieft zu haben. Es gab da Schriftsätze vom Bürgermeister, ein Foto: Es zeigte die kleine Renate mit einer Zuckertüte im Arm inmitten einer Schar von Lernanfängern und sollte offenbar beweisen, wie gut es ihr gegangen war. Und dann gab es die Unterschriftenliste.“ „Was für eine Unterschriftenliste?“ „Na, die mit den Ja-Stimmen.“ „Verzeih, ich komme mir vor wie im Satyrspiel.“ „Vergiß nur nicht: Voran ging die Tragödie. Der Rechtsanwalt lehnte den Auftrag ab, er zahlte sogar den Vorschuß zurück. Er fand, die Frau wäre genug bestraft.“ 216
„Bist du bei ihm gewesen?“ „Noch nicht.“ „Mußt du nachholen.“ „Muß ich das?“ „Du hast da noch ein paar Zeilen auf deinem Block.“ „Lemdorf hielt Umschau nach einem weniger heiklen Rechtsvertreter. Die Altmann? Sie pfiff auf jede mögliche Verurteilung – sie starb.“ „Du hast da noch etwas auf deinem Block.“ „Versetz dich in Altmanns Lage.“ „Gott verdamm mich – ich wäre Amok gelaufen!“ „Genau das hat Altmann gesagt, am liebsten war er Amok gelaufen. Immerhin hat er hinzugefügt: Ich hätt früher aufwachen müssen. Soll ich lesen?“ „Ja doch.“ „Sie können Frau Doktor Kotier fragen, ich hab’s von Frau Doktor Kotter, Ilse hat’s ihr geschildert. Sie hat Renatchen wecken wollen wie jeden Morgen, Renatchen war aber schon wach und hat geweint und wollte nich in die Schule. Gib mir was, Mutti, damit ich blaß aussehe, hat sie gesagt, dann kann ich hierbleiben. Meine Frau hat gesagt – sie war eine energische Frau –, stell dich nicht an, wasch dich, sei vernünftig, du mußt lernen, damit du aufs Gymnasium kannst. Renatchen ließ sich nicht beruhigen, schließlich hat sie unter Schluchzen vorgebracht: Du bist genauso böse und so schlimm wie alle Leute, Papa und du, ihr denkt bloß ans Geldscheffeln, alle sagen, ihr seid von den Russen hergeschickt …“ „Jesses!“ „Nathalie sagt, sie wäre ins Stadium paranoider Verzweiflung eingetreten, als sie Hals über Kopf ins Badezimmer rannte. Sie stierte den Arzneischrank an. Wofür, warum, wozu – alles sinnlos. Sie holte zwei Gläser aus 217
dem Küchenbüfett, füllte Limonade rein, süßte mit Zucker nach, verrührte Schlaftabletten. Der kreisstädtische Arzt hatte sie wochenlang immer wieder verschrieben, sie hatte nie davon genommen. Schrieb die bewußten Abschiedszeilen, rührte immer mal um, bis kein Bodensatz mehr da war, kehrte nach oben zurück, tröstete die Kleine: Trink schnell aus, auch wenn’s bitter schmeckt. Sieh mal, Mutti trinkt auch. Gleich werden wir schön schlafen, du brauchst nicht zur Schule, kannst in meinen Armen einschlafen und wirst nie mehr schlecht träumen, das versprech ich dir. Niemals wieder wird dich Frau Racke ohrfeigen. Ich glaub dir ja, mein Kind, du warst nicht frech, nein, nein – nun trink schön. Natürlich hast du ihr keine Fratze geschnitten. So ist es gut, meine Kleine, jetzt sind wir beide zusammen. Paß auf, gleich darfst du mit Rudi spielen, der ist doch dein liebster Freund …“ „Hörst du bald auf?“ fragte Bode. „Da wär nur noch Altmanns Kommentar.“ „Verrückt.“ Sie leierte monoton herunter: „Wenn ich an die Schottersteine denke, die wo die Dorfstrolche in meine Fenster geschmissen hab’n, un ooch daran, daß ich den Ludwig Racke nich grün un blau geprügelt hab, als er schrie, meine Ilse wär ne Hur, das wüßt jeder, möcht ich mich selber ankotzen. Ich will hier weg, laß uns weg, Faßbender, ich will weg …“ „Ich auch.“ „Nanu!“ „Das ist schrecklich, Biggy, wie soll’s jetzt weitergehen?“ „Weiß ich nicht, ich will ja aufgeben.“ Sie schluckte. „Ich tappe blind herum und fordere den Zorn Unverständiger heraus. Im Grunde will doch keiner gestört werden. Warum soll ich das eigentlich ausbaden?“ 218
„Paß mal Achtung“, sagte Bode, „mir fiel da eben was ein …“ „Bleib mir mit deinen Einfällen vom Leibe.“ „Verwickelt bist du schon genug in die Geschichte.“ „Waaas?“ „Ich sagte“, erklärte Bode mit einer Stimme wie Öl, „du steckst zu tief in der Geschichte, um noch raus zu können.“ Das Öl in seiner Stimme reizte sie zum Äußersten. „Ich verbitte mir … Jetzt wird mir alles klar – das laß ich mir nun doch nicht gefallen!“ „Frauenzimmer!“ brüllte Bode. „Komm runter von deinem Piedestal! Und laß dir gefälligst sagen“, fuhr er gemäßigter fort, „wie ich dich sehe.“ „Ja?“ fragte sie. Ihre Augen, fand Bode, waren die Augen eines kleinen Mädchens. Er wandte sich halb von ihr ab, um dem Zauber dieses Blicks zu entrinnen. „Du bist eine verwöhnte Katze; sobald dir jemand gegen den Strich übers Fell streicht, holst du mal eben kurz deine Krallen hervor. Ich mag keine. Katzen, zumal wenn sie auf Seidenpolstern rumliegen.“ Sie machte eine heftige Bewegung. „Und das sagst du“, sagte sie überraschend sanft. „Und ich bin doch gar keine Katze – ich …“ Bode bemerkte, daß es um ihren Mund zuckte. „Biggy!“ rief er. „Biggy, komm! Ich wollte ja nur sagen, bisher warst du immer viel zu schnell fertig mit deinen Folgerungen, du wolltest auch hier schnell fertig werden, eine Strecke lang hattest du die Wahl, und dann sahst du dich plötzlich mittendrin, und nun bist du in einen Raum ohne Netz und ohne Boden gefallen.“ „Quatschkopf“, sagte Brigitte noch einmal. Aber sie versuchte zu lächeln dabei. 219
„Also laß uns das, was vorliegt, noch mal Stück um Stück durchgehen – einverstanden?“ Er fügte rauh hinzu: „Gut gemacht – im Ansatz ist das alles gut, wir wollen’s doch nicht verschenken, Biggy.“ Ihre Augen wurden langsam klar, dann neugierig, schließlich zärtlich. So ein Traum, dachte Bode, indem er beide Hände nach ihrem Manuskript ausstreckte, sitzt einem im Zimmer gegenüber – abgesehen davon, daß man mit ihm schläft –, und man hat nichts gemerkt, nichts, obwohl sie dutzendemal von dir weg an ihre Arbeit gegangen ist. Das ist nun dein Verschulden, daß du sie nicht ernst genommen hast. Nicht ernst genug. Niemals hat sie gesagt oder gar verlangt: Nimm mich ernst. Und du vergleichst sie auch noch mit ’ner Luxuskatze – Esel, rammdösiger. Gar keine Frage: die beiden schufteten zwischen Weihnachten und Neujahr. Sie fanden enger denn je zueinander. Bode war ein strenger Kritiker. Eine seiner Lieblingswendungen lautete: „Zuviel Fleisch in der Wurst und zuwenig Gewürz.“ Er vergaß seine Zynismen. Zuzeiten fand er, sein Herz belästige seinen Verstand. Und pfiff sich zurück. Und sagte: „Überleg doch mal, so kommt’s niemals an, Biggy, du mußt die Akzente wirkungsvoller setzen. Das darf ja nicht verpuffen, daß du rausbekommen und klugerweise bei dir behalten hast, einige Lemdorfer wissen, was andere Lemdorfer nicht wissen. Diese schiefe Sache mit dem Grundstück, die mußt du gründlicher eruieren. Einstweilen schwebt sie ziemlich im Vakuum. Konkrete Sachverhalte – verstehst du? –, da fehlt noch viel. Du kannst ja nicht einfach voraussetzen: Weil Madame Racke sich für den mysteriösen Anruf rächen wollte, dessen Urheber nach ihrer Meinung nur die Altmann sein konnte, hat sie zum Überfluß auch 220
noch Gerüchte ausgestreut, die als lasterhafte Fehltritte seines Weibes der schwächsten Figur des Dramas – also Altmann – gesteckt wurden. Ich frage mich als nüchterner Zeitgenosse: Wo … wo ist er denn nun, der große auslösende Moment, der die arme Altmann dem Freitod in die Arme zwang?“ „Da kam ja ungefähr alles zusammen.“ „In Ordnung. Aber an dir, Biggy, liegt es, daß du dem letzten Ochsen wenigsten für Minuten sein saftiges Heu versalzt. Ich würde die Dame Racke keinesfalls als weiblichen Mephisto anlegen. Ist die ja gar nicht. Bedenk doch mal. Die muß sich ja auch überfordert fühlen. Wir schicken immer noch Sündenböcke in die Wüste, um uns abzureagieren. Ich schlage vor, du mußt das so machen, die Madame Racke gehört zu den Prototypen einer im Innersten kranken Gesellschaft, das Delikt enthüllt die Symptome. Weißt du – nein, jetzt rede ich, und du wirst dich gefälligst zum Zuhören bequemen! Stell dir die Biographie der geborenen Isernhagen mal vor! Autoritärer Vater. Emotionen hat sie unterdrücken müssen. Sie hat’s hingenommen – jahrzehntelang. Als der alte Gauner endlich tot war, übernahm sie quasi im Rückkopplungsverfahren das Regiment; sie versuchte nun ihrerseits, Druck auszuüben. Zog sich schlau den Racke, den Habenichts, an Land.“ „Als sie’s tat, lebte ihr Vater noch.“ „Gleichviel …“ „So nicht, Junge, nein – so nicht.“ „Wie denn?“ „Im Dorf muß sie gewesen sein, was man früher ein spätes Mädchen nannte …“ „Fein, Biggy, dann sag’s – aber nicht plump. Der olle Halsabschneider war Bauer genug, diesen Umstand als 221
Makel zu empfinden. Außerdem war er scharfsinnig wie alle Skrupellosen. Wenn der Habenichts zuschnappen würde … na? Konnte er’s noch sehr weit bringen, denn er dachte nicht ans Sterben. Und er gab freudig seine Zustimmung, nachdem Racke seinen Antrag vorgebracht hatte. Tolle Story! Ich rede jetzt mal geschwollen daher: Der Kern deiner Dokumentation muß ein Tiefschlag aufs Gewissen werden …“ „Bockmist“, unterbrach Brigitte, „wie willst du das Gewissen unterhalb der Gürtellinie treffen?“ „Der Kern“, fuhr Bode eindringlich fort, „muß dort liegen, wo jedermann sich betroffen fühlt: Schaut her, Leute, schaut auf unsere derzeit noch gültigen Gesetze, wer hat die Gesetze gemacht, wer hat es eigentlich so eingerichtet, daß wir uns in einem Gewirre von Vorschriften Wohlbefinden, warum wissen wir von Verantwortung lediglich so viel, daß das Wort mit ‚V’ anfängt? Warum gehören wir zu den Fußkranken, die geduldig in Reih und Glied bleiben? Da hast du den Salat.“ Brigitte schüttelte nachsichtig den Kopf. „Junge“, sagte sie „jetzt bist du abstrakt geworden.“ „Bin ich? Nein – nein, nein! Zwei Gefahren bedrohen die Welt: Ordnung und Chaos. Du weißt hoffentlich, welche Ordnung ich meine. Die Gesellschaft“, schloß er seine Gedanken ab, „bedarf der Veränderung, nicht etwa der Stabilisierung eingefleischter Gewohnheiten – kapiert?“ „Ja“, stimmte Brigitte zu, „das war mir eigentlich von vornherein klar.“ „Dann füll deine Einsichten doch mit Wirklichkeit! Werd doch realistisch. Mehr Würze“, fügte er hinzu und schlug damit den Bogen zum Ausgangspunkt zurück. „Kürz die Einleitung“, sagte er, „leg gleich los mit diesem Typ, wie heißt er – dem Grothus. Und wenn du dein 222
Publikum eingefangen hast, verpaß ihm die Illusion, viel besser zu sein als diese Hinterwäldler. Sind unsere braven Konsumenten eingelullt, stich zu. Ich sag das nicht von ungefähr. Hier muß elegant mit dem Florett gefochten, nicht mit der Keule gehauen werden. Nach der Eröffnung mit der Deadline mach wieder ein bißchen Spannung, wie man’s in Krimis macht …“ „Ich will keinen Krimi machen!“ „Du bist jedem Krimi-Autor überlegen, weil dein Rapport auf Wahrheit, wirklichem Geschehen fußt, nur darfst du keinen Essay verfassen. Du sollst was zum Hören, vielleicht sogar zum Anschaun gestalten. Du gewinnst damit mehr Spielraum, als du je zuvor hattest. Aber du mußt Handlung liefern, Handlung!“ „Verstehe – Gewürz in der Wurst.“ 38 Klaus und Brigitte fuhren in dem Volvo, der Klaus gehörte, zu Faßbender, wo sie Altmann trafen. Altmann saß abwartend, die Hände auf dem Tisch, Nathalies Grüße – Brigitte war damit zur Tür hereingetreten – hatte er mit einem schüchternen Grinsen entgegengenommen. „Und auch Sie soll ich grüßen“, sagte Brigitte. „Danke“, erwiderte Faßbender. „Wenn alle Ärzte so wären …“ Er brach ab. Seine Frau kam mit Kaffe und Weihnachtsstolle. Sie war drall und strahlte Gutmütigkeit aus. „Keine Widerrede – Sie bleiben zum Abendbrot! Für den Köm bist du zuständig, Mann, vergiß nicht, deine Gäste zu versorgen, ich laß euch jetzt allein.“ 223
„Frau Faßbenders Sülze is prima“, erklärte Altmann, „wir kannten so was nich daheeme, un resolut isse wie … na ja …“ Er zerbröselte das Stück Stolle auf seinem Teller, brütete vor sich hin, sagte: „Die Sache is die – früher daheim war alles so einfach.“ „Warum?“ fragte Brigitte in die Stille. „Warum, Herr Altmann?“ forschte sie sanft. „Da hab ich selber keine Erklärung für.“ „Aber ich“, sagte Faßbender bedächtig. „Drüben haben andere für dich mitgedacht, solche wie du brauchten dort nie was zu riskieren, und es ist ja ne alte Weisheit: Wenn’s dem Esel zu wohl wird, stapft er aufs Eis. Da steckt weiter gar nichts dahinter.“ „Nein, so nich“, sagte Altmann geduldig, „die hab’n ein’n ja nie in Frieden gelassen mit ihr’n Direktiven, die holten ein’n ja noch nach Feierabend weg vom Garten. Un als mir mal mitten in ’ner Ernte zwei Mähdrescher ausfielen, un ich konnt se nich reparieren, weil ich keene Ersatzteile hatte, gab’s ’n Riesenzirkus. Stellt euch das nicht zu leicht vor. Un ich hab alles eingesteckt, bin abgesackt trotz aller Selbstkritik, hat ne Wut gehabt. Un hatte die Schnauze voll.“ Faßbender zündete sich eine Zigarre an. Über dem Prozeß verging geraume Weile. Sein Gesicht blieb beherrscht. Er hatte sich gut in der Gewalt. Ihr habt in der Kneipe gesessen, meinte er den abwesenden Sörensen sagen zu hören, wie man so dasitzt in Focks Kneipe. Was hast du eigentlich unternommen, um Franz zu hindern, sich dicke zu tun am unrechten Ort? Nichts. Und warum? Es kam dir zupaß, daß so ein dusseliger Hund mal freiweg vom Leder zog an deiner Statt, den du wolltest doch die Lemdorfer Dickärsche aufpüstern. Ich sag’s, wies ist. 224
Bis kurz vor der Katastrophe bist du ihm ein miserabler Freund gewesen. Um nicht mehr hinten in der Ecke am Katzentisch zu hocken, hat der Franz lauthals ne Lanze für die von ihm im Stich gelassene DDR gebrochen. Lacherfolge für Grothus und Konsorten. Grothus kratzt das wenig, dem ist doch das Bildungsideal jenseits der Elbe schnuppe, solange er seine Zwillinge in einem teuren Internat erziehen lassen kann mit allem Komfort, der duldet ja sogar, daß sein Ältester ein langmähniger Provo ist. Und du? Wolltest dich an deinem alten Feind Hinnerk reiben, da war dir jedes Mittel recht. Hast die Folgen nie bedacht – bei den anderen, den Leisetretern und Racke-Anhängern. Hast dich wie ’n Spießer benommen … „Fehlanzeige“, sagte Faßbender. „Wie bitte?“ fragte Brigitte. Faßbender fuhr zusammen, faßte sich, paffte. „Herr Bode will mehr von dir wissen, Franz, ich denk mir, wie das so mit dem Dorfklatsch war, will er wissen, oder wie’s dazu gekommen is. Aus deiner Sicht“ Bode sprang ihm bei. „Uns liegt viel an Ihrer Schilderung, Herr Altmann, wobei ich persönlich vermute, daß die Schlagzeile Vom Dorfklatsch vergiftet“ – er sah Faßbender an – „eine Verniedlichung des wahren Sachverhaltes, also Fehlanzeige gewesen ist.“ „Schon recht“, gab Faßbender zu, „der Dorfklatsch war nich der Grund, zumindest nich der einzige.“ Altmann dachte intensiv nach, er dachte an alle verpaßten Gelegenheiten, rückgängig machen konnte er nichts, nichts war wiedergutzumachen. Und nun kamen die und legten roh den Finger auf die Schwären all seiner Qualen und Ängste … Aber Gerechtigkeit, falls es die noch gab, konnte er nur durch sie erlangen. Für sich? Oder für Ilse? 225
„Stellen Sie’s an“, heischte er, „machen Se rasch, damit mer’s nich wieder leid tut.“ Und er wiederholte die Geschichte, die er an seinem Küchentisch in Lemdorf brockenweise von sich gegeben hatte, es war die Tragödie des kleinen Mannes mit dem Drang nach Höherem, und dieses Höhere bestand aus Phrasen. Er begehrte Freiheit. Und verwechselte die Begriffe. In Wahrheit wollte er sich raushalten, wollte alles von sich fernhalten, was ihm nicht paßte. „Lieber Herr Altmann“, sagte Bode, als Schweigen eintrat, „ich muß das mal aussprechen – Ihre persönlichen Motive natürlich in Ehren, aber Sie gestatten: Wenn Sie sich solch ein Delikt bei einem kapitalistischen Unternehmer hätten zuschulden kommen lassen – du liebe Güte!“ „Klaus“, warnte Brigitte. „Bewährungsfrist“, fuhr Bode fort, „hätte der Ihnen bestimmt nicht eingeräumt.“ „Was wissen denn Sie!“ Altmann musterte ihn vorwurfsvoll. „Hier wär mir’s mit’n Mähdreschern ja nich passiert, hier hätt ich ja bloß ins Ersatzteillager zu gehn brauchen, nich wahr? Nüscht for ungut“, schloß er gefügig, „drüben war eben alles auf lange Sicht geplant, da wurd’n mer sogar zu unserm Glück gezwungen. Bei uns daheim wär meine Ilse …“ Er nahm verdutzt wahr, daß Brigitte die Tränen herunterliefen. Zu beiden Seiten der Nase liefen Tränen, und die Nase lief ihr auch. „Nüscht for ungut“, stammelte er. Bode reichte ihr sein Taschentuch unter dem Tisch zu, und Altmann dachte – er hatte es bei Ilse miterlebt –, daß ihr Make-up nun in Gefahr war, und er sagte: „Nu weeß ich erscht, wie oft Ilse geweent hat. Drüben wär meine Ilse längst Agronom, und Renatchen …“ 226
Bode stoppte das Tonbandgerät. Auf der Heimfahrt, sie erfolgte unverhältnismäßig spät, sagte er: „Du darfst dich von Rührung nicht überwältigen lassen. Schade. Wenn wir mehr Zeit hätten, solltest du in das sächsische Nest drüben reisen. Aber wir haben keine Zeit. Die Sache muß bald kommen. Du beginnst mit der Deadline. Es wird ausgeblendet. Man sieht Nathalie am Krankenbett der Altmann. Gleich darauf zeigen wir Nathalie, wie sie Scherengitter aufschließt und Pforten verrammelt. Sie geht durch Korridore, immer neue Korridore. An vergitterten Fenstern entlang. Kannst du mir folgen?“ „Paß auf die Fahrbahn auf!“ „Kannst du mir folgen?“ „Ich bemühe mich.“ „Man muß dieses Eingesperrtsein spüren.“ Bode war nicht mehr zu halten. „Jeder muß spüren: Die geschlossene Abteilung von Dornburg ist bloß Symbol. Alle müssen mitkriegen : Wir alle sind ja eingesperrt wie Brummfliegen in der Flasche mitsamt unsern Hinterhältigkeiten, unserer Beschränktheit und unseren fadenscheinigen Tugenden. Dann blenden wir ganz schnell aus und bringen noch mal die Kneipenszene – in aller Deutlichkeit. Die Stimmen in Focks Lokal variieren das Thema: Jedermann tut sich groß, alle sind gefangen – mit einer Ausnahme: Grothus. Der weiß nämlich, daß Macht allein etwas Unvergleichliches ist, daß nur Macht Gewalt verleiht. Der Kerl hat so viel Macht, er kann sich Großzügigkeit schon wieder leisten. Einen Atemzug lang müssen alle zuschauenden Biedermänner die Faust im Nacken fühlen, weißt du, es muß ihnen unter die Haut gehen …“ „Was?“ 227
„Daß sie feige Wauwaus sind, daß keiner aus dem Rahmen fallen will wegen des Scheißprestiges …“ „Was hat das mit dem Fall Altmann zu tun?“ „Gott sei Dank meinst du ja nicht, was du jetzt sagst.“ „Erlaube mal!“ „Du bist derzeit in Fakten ersoffen.“ „Dagegen …“ „In Fakten ersoffen“, beharrte Bode. „Dagegen verwahr ich mich.“ „Das ist ja kein Makel – im Gegenteil. Für die Auswahl zeichne ich verantwortlich, ich hab ja den Abstand, den du nicht haben kannst.“ „Paß auf die Fahrbahn auf!“ „Ist gut, Biggy. Wir müssen die Zuhörer, Zuschauer dazu bewegen, daß sie sich mindestens für ein paar Minuten eingestehen: So wie die da hättest du womöglich auch reagiert. Und selbstverständlich müssen wir verhüten, daß sie abschalten. Ich will aus der Sache viel rausholen, es steckt viel drin, man darf’s nicht verschenken, sonst bringe ich sie nicht durch. Wir wollen ja beide kein Feuerwerk, der Zweck ist, die Leute sehen ihre Lage und sich selber mal ohne Schminke. Ich vertraue deinem Talent.“ „Ach, ich weiß nicht …“ „Ich vertraue dir, daß ich’s dir nur endlich gestehe: Du hast mich tief beeindruckt. Ich habe einen sehr frühen Termin für die erste Sendung rausgeschunden. Laß mich nun nicht im Stich, ja? Hast du gemerkt, daß der Schlußstein fehlt?“
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39 Fortan streunte er im Gelände herum, saß mit der schön geschmückten Kiefer im Blickfeld, versuchte sich in Bücher zu versenken, wartete, wartete auch auf Nathalie, die keine überflüssigen Worte machte. Er saß, während Biggy oben ihre Schreibmaschine traktierte. Er wußte, er durfte sie nicht beeinflussen, jetzt nicht mehr. Biggy schien vergessen zu haben, daß man sich an der Schwelle eines neuen Jahres befand. Wenn sie das Zimmer betrat, sah sie abgespannt aus. Klaus erhob sich halb aus seinem Sessel, Nathalie nickte ihr zu. Und Biggy mit ihrem mageren Gesicht ohne Make-up, die Augen übergroß, brachte eine Grimasse zustande. Sie sagte: „Ich bemühe mich um meine zweite Unschuld. Zünd doch mal die Kerzen an, Junge. Ich hab mir ja nicht träumen lassen, daß das so schwer ist. Abgesehen von diesem Doktor Fröbel, dem Rechtsanwalt – ja, also ich muß noch mal nach Lemdorf, und zwar bald.“ „Der Schlußstein“, brummte Bode. Er balancierte auf den Fußspitzen, um die oberen Lichte zu erreichen. „Was sagten Sie?“ fragte Nathalie. „Ich würd’s mir bequemer machen, Sie brauchen ja bloß den Küchenschemel zu holen.“ „Der Schlußstein“, wiederholte Bode, „der muß sitzen, sonst gerät der Bau daneben.“ „Das will ich meinen“, stimmte Biggy zu. „Setz dich, Kind“, sagte Nathalie. Brigitte warf sich in einen Sessel, trank Kaffee, eine Tasse nach der anderen, bis ihr der Kopf schwindelte. Die Gegenstände im Raum verschwammen vor ihren Augen. Ihr war ganz merkwürdig zumute. 229
Nathalie sagte: „Geh und wasch dir die Haare, mir hilft’s immer, ich mach uns inzwischen Abendbrot.“ Brigitte redete vor sich hin: „Nach Lemdorf – ja. Ich möchte, daß mir nicht irgendein Kind, sondern ein ganz bestimmtes Kind über den Weg läuft. Wie ich’s anstellen soll – mein Problem. Ich könnte den Lehrer einspannen, aber ich darf den Lehrer nicht auch noch damit befrachten.“ „Drück dich deutlicher aus.“ Biggy blickte Bode gerade ins Gesicht, aber es war, als blicke sie durch ihn hindurch. Sie sagte: „Das Kind heißt Racke, Rudolf Racke, und sein Vater ist so ein Typ, dem man keine üblen Tricks zutraut. Ich muß da sehr genau draufschauen – fragt sich nur: Wie komme ich ran?“ „Wasch dir die Haare“, sagte Nathalie. „Ich muß seinen Jüngsten befragen.“ „Er ist nicht nur sein Jüngster.“ „Richtig, Klaus, er hat diese Person zur Mutter. Gefällt ihm seine Mutter? Was denkt er über seinen Vater? Mit zehn Jahren ist man noch unverdorben und aufnahmefähig für alle Eindrücke, gute und schlimme, und macht sich doch schon seinen eigenen Vers.“ „Mit zehn Jahren“, sagte Nathalie, „ist man das Kind seiner Eltern, das Produkt von Erziehung und Umweltfaktoren …“ Brigitte fiel hitzig ein: „Muß man deshalb ein gefühlloses Kind sein und ein gemeiner Mensch werden? Ich war noch nicht zehn, Nathalie, da holtest du mich ab, und ich hatte eine lange Reise hinter mir – erinnerst du dich? Ich wußte sofort, daß du es gut mit mir meintest, obgleich ich unglücklich war. Man weiß als Kind mehr, als die Erwachsenen ahnen. Die meisten vergessen, daß sie 230
auch mal Kinder waren. Ich habe nichts vergessen, für mich war das ein zu großer Einschnitt – damals.“ Sie lief planlos umher, die Hände in den Hosentaschen, es ging ihr wieder besser, sie war nur entsetzlich nervös. „Ich will versuchen“, fuhr sie fort, „ein bißchen so zu sein wie du, Nathalie, falls es mir gelingt, den Jungen zu erwischen, ohne daß jemand etwas merkt. Er ist nämlich das Gegengewicht – kapierst du, Klaus? – zu der kleinen Renate, die ihn geliebt hat, wie nur verlorene Kinder lieben können. Kann ja sein, er ist auch ein verlassenes Kind. Ich muß das herausbringen. Und jetzt wasch ich mir die Haare.“ Die Tür knallte hinter ihr ins Schloß. „Das hab ich nicht vermutet, daß alles so in ihr aufreißt.“ Nathalie wandte sich verstört Klaus Bode zu. Er wollte antworten. Alles, was er erwog, kam ihm pathetisch vor, er flüchtete sich in eine belanglose Frage: „Soll ich auspusten?“ Und dachte an den Schlußstein. Der, fand er, war zu schwer für eines Zehnjährigen schwache Arme. 40 Die Frau betrachtete mißmutig Spenglers Legitimation. Sie hatte ihn noch immer nicht ins Haus gebeten. Er stand unter dem Vordach. Der Regen platschte. Die Traufe war undicht. Ein Gießbach stürzte herab. Spritzer davon näßten seinen Rücken. „Wenn’s sein muß, kommen Sie rein.“ „Danke, Frau Racke.“ „Legen Sie Ihren Mantel ab, hängen Sie ihn da auf.“ Sie starrte so intensiv auf sein Schuhwerk, daß er es am liebsten auch ausgezogen hätte. Dann führte sie ihn in die 231
Küche. Er setzte sich auf einen Stuhl mit ausgeschnittenem Herz in der Rückwand. Der Stuhl war alt. Das gesamte Mobiliar war alt und verbraucht. Nur Kühlschrank und Elektroherd bildeten eine Ausnahme. Auf dem wachstuchbedeckten Tisch standen noch Teile des Frühstücksgeschirrs: Steingutbecher, eine bauchige braune Kaffekanne. „Ich muß alles selber machen, wir können uns keine Dienstboten mehr leisten. Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Machen Sie’s kurz.“ „Selbstverständlich. Da Ihr Gatte im öffentlichen Leben steht, brauche ich Ihnen nicht zu erklären, daß wir unsere Vorschriften haben. Wir sind verpflichtet, allen Fällen nachzugehen, bei denen es zweifelhaft ist, ob Unfall oder Mord vorliegt. Die Altmann …“ „ … liegt aufm Kirchhof“, ergänzte die Frau schnell. Ihr schmallippiger Mund verkrampfte sich, als sie merkte, daß sie unüberlegt reagiert hatte. „Richtig“, bestätigte Spengler, „hoch anzuerkennen, daß Sie für ein würdiges Begräbnis Sorge getragen haben.“ Diesmal fiel Lisbeth Racke nicht herein. „War Christenpflicht“, entgegnete sie knapp. „Ich weiß“, sagte Spengler, „Sie sind ein hervorragendes Mitglied der Kirchengemeinde.“ Er fand, er hatte zu dick aufgetragen. Aber Lisbeth Racke sah ihn mit ihren lebhaften Augen, die er bei sich selber als wieselflink bezeichnete, auf einmal wohlmeinender an. „Man gehört eben dazu“, erklärte sie. „Das verstehe ich gut. Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme: Sie sind in der kleinen Kirche getauft und konfirmiert worden?“ 232
„Auch getraut, falls es Sie interessiert.“ „Oh, es interessiert mich sehr. Darf ich den Faden ein bißchen länger spinnen? Ihr Herr Vater und die Frau Mutter, vielleicht sogar ein Großelternteil …“ Lisbeth Racke nickte. Sie hielt den Kriminalbeamten mit seinem sauber gestutzten Bart für ganz sympathisch. Und ausgerechnet in diesem Augenblick mußte Rudi sie stören. Er kam aus der Schule, warf seinen Ranzen in die Ecke; wo er hintrat, blieb eine Pfütze zurück. Er trat ohne Scheu an den Tisch, streckte Spengler seine Hand hin, sagte: „Ich möchte aussagen.“ „Tag, Rudi“, sagte Spengler, „Unterricht schon zu Ende? Nein? Bist du abgehauen? Ja? Dunnerlittchen! Weißt du, mein Kleiner, vorläufig können wir dich überhaupt nicht brauchen.“ „Ich will aber aussagen“, beharrte der Junge. Lisbeth Racke versetzte ihm eine Ohrfeige. Für diese spontane Regung hätte sie sich hinterher selber ohrfeigen mögen. Spengler sprang ihr bei. „Schätze, deine Mutter hat recht“, sagte er, „man darf nicht einfach davonlaufen.“ Er zwinkerte dem Jungen zu. Der Junge hielt sich die Wange. Seine lebhaften Augen – er hatte sie von seiner Mutter, nur fehlte ihnen der Ausdruck, den Argwohn und Verachtung hervorbringen – leuchteten auf. „Such die Nester ab, wo du schon mal hier bist!“ „Ja, Mama“, antwortete er gefügig. „Im Rechnen hab ich eine Eins.“ „Wird sich wohl so gehören.“ „Netter Bengel“, lobte Spengler, als Rudi draußen war, „stolz können Sie sein auf Ihre drei Kinder, zumal Sie sicher weitgehend allein für ihr Wohl und Wehe haften. Bestimmt nicht einfach für Sie, mit einem Mann 233
verheiratet zu sein, der, wenn ich recht orientiert bin, als Spitzenkandidat auf der Landesliste seiner Partei steht.“ „Stand“, korrigierte Lisbeth Racke. „Wie das?“ fragte Spengler. „Ist lange her.“ „Sagen Sie bloß!“ „Möchten Sie Kaffee?“ „Nur keine Umstände, Frau Racke – Pardon, gnädige Frau …“ „Ich bin keine gnädige Frau, ich bin ne Bäuerin, das will ich bleiben.“ „Sie imponieren mir, Frau Racke – wirklich. Sie haben so ein gewisses Etwas, Ihre Zurechtweisung eben erinnert mich an eine Anekdote. Darf ich sie wiedergeben? Vielen Dank. Ich hatte eine Tante, die war Frisöse – in Hamburg. In dem Salon, wo sie einstmals lernte, ließ sich der gesamte weibliche Teil der hanseatischen Haute Finance schönmachen. Auch eine steinreiche Patrizierin. Meine Tante redete die Dame mit gnädige Frau an, als sie ihr zum erstenmal die Haare waschen durfte. Und was erfolgte? Die vornehme Frau, bevor sie ihr Haupt übers Waschbecken beugte, sagte: Ich bin keine x-beliebige Gnädige, mein Kind, ich heiße Notteboom. Und die Notteboomsche Dynastie hatte es allerdings in sich.“ „Möchten Sie vielleicht ’n Bier?“ „Wenn Sie ein Glas Milch für mich hätten?“ Lisbeth stand auf, ging weg, kam mit einem geschliffenen Glas zurück, putzte es sorgfältig, füllte es aus dem Krug, den sie dem Kühlschrank entnommen hatte. „Oder soll ich sie warm machen?“ fragte sie. „O nein, besten Dank, so ist es gut.“ Spengler trank. „Wunderbar“, sagte er. Lisbeth hing an seinen Lippen. Sie war geschmeichelt. 234
Dann kehrte sie die Augen von ihm ab. Zeit ihres Lebens hatte sie sich keinem Menschen anvertraut. Sie glaubte nicht daran, daß es selbstlose Teilnahme gab, und sie sann darüber nach, worauf der nette junge Mann wohl hinauswollte. Und dann hatte sie plötzlich nur noch den einen Wunsch, sich endlich einmal gegen jemanden auszusprechen. Verdammt starker Tobak, meinte Spengler den Chef sagen zu hören, wirst wohl weiterwühlen müssen im Zuge deiner Charakterstudien. „Ein unvermuteter Schlag, um zur Sache zu kommen …“ „Ich hab’n gewarnt.“ Lisbeth hob die Hand und ließ sie schwer auf den Küchentisch zurückfallen. „Wann, beste Frau Racke, wann haben Sie Ihren Gatten gewarnt?“ „Als noch Zeit war“, entgegnete sie mürrisch. „Wie darf ich das verstehen?“ „Ach Gott“, seufzte Lisbeth. „Vor der Altmann-Affäre?“ Es folgte eine Stille. Dann sagte Lisbeth: „Er hat nie auf mich gehört. Er hat mich bloß benutzt. Ich hab ihm geraten: Mach Schluß! Du schaffst es nicht. Ich wollte, er sollte sich mit seiner Stellung als Lemdorfer Bürgermeister begnügen. Ich wollte ihn bei mir haben. Ich brauchte ihn als Stütze an meiner Seite. Und dann kam der Anruf.“ „Was für ein Anruf, Frau Racke?“ „Na, der von der Altmann, aus’m Hotel in der Stadt. Ich hab Will Bartels nie geglaubt, ich glaub ihm auch heut noch nich. Ich weiß, wie alle Männer scharf auf dieses Luder waren. Mich hat keiner geschont.“ „Luder, sagen Sie …“ „Jawohl, Luder!“ „Und wie ging’s weiter?“ 235
„Was mein Mann ist, der hat Altmann vorgeladen …“ „Auf Ihr Betreiben?“ „Haben Sie was dagegen?“ „Warum hat Ihr Gatte denn diesen Altmann vorgeladen?“ „Ich bin anteilig am Grundstück vom Vater her – der Garten bis zur Straße gehört nämlich mir, mein Mann hat’s verklausuliert. Altmann hat’s nich gemerkt. Er hat den Vertrag unterschrieben. Aber das is ja seine Sache.“ „Verstehe“, räumte Spengler ein. „Wir haben ihm gekündigt.“ „Kann man das so ohne weiteres?“ „Wenn einer nicht mal lesen kann …“ Spengler schreckte zurück. Seine Miene wurde herb, wurde verschlossen. Er sagte: „Keine Chance für Altmanns – wie?“ „Sie ist in der Stadt zum Rechtsanwalt gerannt, aber …“, hämischer Triumph färbte Lisbeths blasse Züge, „ausgerichtet hat sie dort nichts. Was hätte sie auch ausrichten sollen, wo doch ihr eigener Mann überzeugt war, sie trug schuld an allem? Und damit saß er doch aufm richtigen Dampfer – oder?“ Spengler räusperte sich, wandte dann gefällig ein: „Gut und schön, liebe Frau Racke, für mich sind das ziemlich wilde Praktiken, ich bin Kriminalist, nicht wahr? Das unterscheidet mich von dieser Journalistin, dieser Strömberg. Sehr merkwürdig, Frau Racke, alle Menschen, zu denen meine bisherigen Ermittlungen mich führten, zeigten sich über das Ende der Strömberg erschüttert.“ Er betrachtete seine Fingernägel. „Sie kannten Frau Strömberg nicht?“ „Nein.“ „Ich hab sie leider auch nie kennengelernt. Vom Lehrer Ihres Jüngsten will ich nicht reden, der ist ja so einer, 236
der jede Minute mit Berufsverbot rechnen muß. So was gab’s schon mal – was sage ich –, gab’s mehrfach in unserer deutschen Geschichte. Bismarcks Sozialistengesetz und Hitlers Gesetze zum Schutze deutscher Art. Ich will Sie nicht langweilen, Beste Frau Racke. Ich denke, um das Verfahren abzukürzen, an meine Unterhaltung mit Frau Grothus, erspare mir und Ihnen Auslassungen achtbarer Lemdorfer wie beispielsweise Bartels. Von Kläre Faßbender kann und will ich nicht schweigen.“ Lisbeth verlor die Beherrschung. „Hure!“ sagte sie heftig. „Ach, ach, lassen wir das mal.“ Er rüstete zum Aufbruch. „Ist es vorstellbar“, fragte er nebenhin, „daß Ihr Mann unter Druck – unter dem Druck der Verhältnisse“, erläuterte er liebenswürdig, machte eine Pause und stieß unerwartet zu, „einen Unfall ins Werk setzen könnte?“ „Nein!“ rief Lisbeth Racke. Spengler knöpfte seinen Mantel zu. „Sie müssen verstehen, Frau Racke, wir Kriminalisten müssen alle Eventualitäten erwägen. Ihr Gatte war der letzte, der die Strömberg lebend sah. Aus welchem Grund auch immer – er begleitete sie bis kurz vor ihr Reiseziel. Wissen Sie was darüber?“ „Nein.“ Spengler zog den Gürtel straff. „Ihr Gatte ist verreist?“ „Ja.“ Lisbeth sah nun nicht nur verblüht, sie sah zerquält aus. „Wie gesagt, ich verfolge nur Spuren.“ Er sprang leichtfüßig davon. Lisbeth Racke sah ihn im Regen übers Hofgeviert entschwinden.
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41 Brigitte stieg zum drittenmal im Deutschen Kaiser ab, achtungsvoll begrüßt von Strothmann, schmunzelnd empfangen von Kröger. Ein erstes Teilmanuskript hatte sie Klaus mit nach Hamburg gegeben, wichtige Aufzeichnungen in Dornburg bei Nathalie gelassen. Sie wußte, es mußte noch viel daran getan werden. Klaus forderte mehr von ihr, als Röpke je verlangt hatte. Denken bedeutete ihm Eroberung von Unabhängigkeit, von Freiheit. Er hatte so viel Charakter, daß er auf eine Allerweltslaufbahn verzichtete, um statt dessen soziale Sensibilität entwickeln zu helfen. Sie bedauerte, daß sie Abschied genommen hatte, ohne ihm zu sagen, wie sehr sie ihn liebte und daß sie bereit war, ihn zu heiraten, sobald das hier erledigt war. Sie wollte es gut machen – für ihn. Sie wollte sein anerkennendes Lächeln sehen. Ihr erster Besucher war Sörensen. Er hörte ihr gespannt zu. Dann überrumpelte er sie mit seinem Vorschlag: „Ich bringe Ihnen den Jungen in meine Wohnstube – nach der großen Pause. Anders bekommen Sie ihn nie.“ „Haben Sie sich klargemacht, was das unter Umständen für Sie bedeutet?“ „Rausschmiß“, sagte Sörensen. „Bin ich gewohnt.“ „So dürfen Sie nicht reden. Lieber verzichte ich …“ „Nein“, unterbrach Sörensen, „es führt zu nichts, wenn Sie mich jetzt draußen halten wollen, außerdem“ – er blickte sie mit seinen ernsten Augen an – „bin ich überzeugt: Diese Sache ist in Ordnung, sie darf nicht schiefgehen. Faßbender hat nach Ihnen gefragt. Er möchte Sie mit seiner Schwester zusammenbringen. Mehr hat er nicht gesagt.“ 238
„Mit Kläre?“ „Ja, mit Kläre.“ „Und wo?“ „Was weiß ich, wo. Er wird sich schon bei Ihnen melden, er sagt ja Onkel Kröger zum Portier.“ Brigitte mußte sich zwingen, ans Nächstliegende zu denken. Sie rief die Kanzlei von Doktor Fröbel an und bat um einen Termin. Der Bürovorsteher zögerte. „Herr Rechtsanwalt ist außerordentlich besetzt, gnädige Frau“, sagte er. Sie erwiderte: „Verbinden Sie mich direkt mit Ihrem Chef.“ „Herr Rechtsanwalt befindet sich auf dem Gericht.“ „Wann erwarten Sie ihn zurück?“ „Gänzlich unbestimmt, gnädige Frau.“ „Was heißt unbestimmt! Ich gehöre nicht zu Herrn Doktor Fröbels Klienten, speisen Sie mich nicht wieder mit Ihren Floskeln ab. Also wann?“ „Wie war doch gleich der Name?“ „Strömberg.“ „Ja – also ganz im Vertrauen: Herr Doktor Fröbel ist privat am ehesten in Ihrem Hotel zu erreichen, gnädige Frau, abends …“ Sie fuhr nach Lemdorf’ parkte auf dem Marktplatz, wollte das Schulgebäude betreten, besann sich eines anderen. Fuhr zurück, lenkte in den Werkstatthof der Firma Bartels. Sagte: „Können Sie mein Vehikel für eine Weile unsichtbar machen?“ Bartels überlegte. „Nichts leichter als das, aber wie soll ich Sie selber unsichtbar machen?“ Sie entschloß sich, mit offenen Karten zu spielen. „Ich will ganz geheim mit Rackes Jüngstem zusammentreffen, der Lehrer gibt mir die Chance.“ 239
„Komm doch mal, Ruthi!“ Frau Bartels erschien, schlank, grauhaarig, in Hosen und Anorak. „Ach, Frau Strömberg, gut, daß Sie wieder da sind, wir dachten schon, sie hätten uns mitsamt unseren Gewissensnöten satt.“ „Paß auf, Ruth, du nimmst jetzt Frau Strömberg mit, fährst aber hintenrum den Heckenweg lang. Wenn euch nicht gerade Hagemeister in die Quere gerät, müßt es eigentlich klappen. Du zeigst ihr die Zaunlücke am Pfarrgarten. Mach fix, sonst plauzt ihr in die große Pause rein. Sie müssen an der Rückwand der Klos durch. Meine Frau wollte sowieso einkaufen fahren. Du stößt sachte aus’m Heckenpfad raus – klar?“ „Nee“, sagte Ruth, „ich gondle sachte vorwärts und halte bei Trina. Ich brauche Trina, damit mal wieder klar Schiff in meinem Haushalt wird.“ „Grandios, Mädchen, einfach grandios!“ Bartels öffnete den Schlag des Fiat, der sein Zweitwagen war. Während seine Frau den Motor warm laufen ließ, riet er: „Ducken Sie sich, wenn jemand vorbeikommt. Sonst gibt’s ’n Haufen Gerede, bevor Sie angelangt sind. Und damit wär Ihnen und uns nicht gedient.“ Alles ging glatt. Sie saß in Sörensens Zimmer, ehe der mitbekommen hatte, daß sie schon da war. Sein wackliger Arbeitstisch war mit Broschüren überladen. Sie nahm sich vor, etwas für diesen Heißsporn zu tun. Sie kannte ein paar progressive Leute im Hamburger Senat. Sörensen, fand sie, mußte aus seiner zwangsläufigen Isolierung heraus. Kurz vor dem Ende der Pause tauchte Sörensen auf. „Hoppla!“ sagte er. „Wie haben Sie das denn gemacht?“ „Fragen Sie Frau Bartels.“ 240
Eine Klingel schepperte. Das Geschrei der aufsichtslosen Goren nahm überhand. Sörensen stob davon. Er hob kaum die Stimme, aber der Tumult draußen legte sich sofort. Minuten verstrichen, dann schob er einen Jungen über die Schwelle. „Mach’s gut“, redete er ihm zu. „Komm“, sagte Brigitte, „setz dich.“ Der Junge gehorchte, hielt die Augen zu Boden geschlagen. „Du heißt Rudolf, nicht wahr?“ Der Junge nickte. „Ich dachte, ich müßte mal mit dir sprechen.“ „Ich bin aber erst zehn.“ „Du meinst, du darfst nicht?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich zehn war. Es ist manchmal nicht leicht, sich zurechtzufinden, man ist ja noch gar nicht so weit, daß man durch das, was die Erwachsenen anstellen, durchsieht.“ Hier hob der Junge zum erstenmal den Blick. Brigitte fuhr fort: „Kennst du das Gefühl, daß man sich verraten und verkauft vorkommt, weil man sich mit Dingen einverstanden erklären muß, von denen man selber überhaupt nichts hält?“ Lebhafte Augen. Sie prüften gründlich. Brigitte wich ihnen nicht aus. Sie sagte: „Obgleich du erst zehn bist, bitte ich dich um deine Hilfe.“ „Mama darf nichts davon erfahren.“ „Wir wollen überlegen, wie wir’s am besten machen. Ich war zehn wie du, und ich hatte gar keine Wahl, als die Großen mich aus dem Dorf holten und in einen Fernzug setzten.“ 241
„Wo war das?“ „Irgendwo in Polen. Viele Jahre sind seitdem vergangen, doch der Tag ist ganz deutlich in meinem Gedächtnis geblieben. Ich kann dir nachfühlen, wie dir zumute ist. Möchtest du nein sagen?“ „Wozu soll ich’n nein sagen?“ „Du warst nicht dran schuld. Ich möchte es dir abnehmen, wenn du es mir, statt nein zu sagen, erzählst. Möchtest du, daß ich es dir abnehme?“ Brigitte belauschte ihren eigenen Atem. Ihr Puls ging rasch. Sie zwang sich, stumm zu warten. Endlich nickte der Junge. Sie fragte: „Hast du sie gern gehabt?“ Er bejahte. „Die Erwachsenen bilden sich ein, Kinder vergessen schnell, aber das stimmt nicht. Sie können nur viel besser schweigen.“ Der Junge nickte. Plötzlich brach ein Schluchzen aus ihm heraus. „Die andern denken nicht mehr dran“, stieß er hervor. „Ich weiß“, sagte Brigitte sanft, „ich hab ein paar Buben und Mädchen nach ihr gefragt.“ „Warum hat ihre Mutter sie ermordet?“ Das kleine Gesicht brannte jetzt vor Empörung. „So darfst du es nicht sehen, so sehen es die Großen, kleiner Mann, einige“, schränkte sie ein, „nicht alle. Wie war denn ihre Mutter, kanntest du sie?“ Rudi nickte. „Ganz anders als meine“, flüsterte er. „Wenn ich im Garten mit Renate gespielt hab, rief sie uns oft rein. Wir kriegten Kakao und große Stücke Rosinenkuchen, und sie sagte …“ „Was sagte sie?“ „Gute Arbeit muß belohnt werden oder so – dabei 242
hatten wir nur gespielt. Renate hatte ’n eigenes Beet“, fügte er hinzu. „Was gab’s denn darauf?“ „Radieschen, ja – un Blumen, so Ringelblumen, und … ja, wir wollten ’n Steingarten anlegen, un da hab’n wir Steine von draußen reingekarrt, sie hatte ’n kleinen Handwagen.“ „Mochtest du Frau Altmann?“ Er nickte. „Und warum?“ „Sie hat nie gesagt: Tu dies, tu das; sie hat nie was verboten. Wenn unsre Sachen naß waren vom Gartenschlauch, hat sie sie getrocknet, ohne zu schimpfen. Und nie hat sie gesagt: Halt’s Maul, dummer Bengel! Aber sie hat Renatchen ermordet.“ „Wisch dir dein Gesicht ab“, sagte Brigitte. Er suchte vergebens nach einem Taschentuch. Sie reichte ihm ihres. Er schnaubte in das nach Heu duftende Tuch hinein. „Und wie ging’s dann weiter?“ fragte sie. „Mama hat Renate verdroschen.“ „Auf der Straße?“ „Nee – da hat se se doch man bloß gebackpfeift, richtig verprügelt hat se erst sie un dann mich bei uns im Waschhaus – mit’m Knüppel.“ Brigitte spürte das Verlangen, aufzuspringen und das Fenster aufzustoßen. Sie selber war nur einmal in ihrem Leben auf diese Weise traktiert worden. Im Internat. Es hatte sie so tief verwundet, daß sie eine Zeitlang gar nicht mehr ihr eigenes Ich gewesen war. „Sie dürfen’s nicht rumtragen“, hörte sie den Jungen ängstlich sagen. 243
„Ich an deiner Stelle“ – sie schluckte – „würde jetzt mal alle Bedenken beiseite lassen. Uns hört keiner.“ „In unsere Scheune hatt ich sie reingeschmuggelt, wir hatten da ’n Verschlag, das war unsere Hütte. Und da hat se uns erwischt. Und dann …“ „Ja?“ „Dann war sie auf einmal tot. Ich dachte, Mama hätte das gemacht, aber Mama hat …“ „Ja?“ „… hat gesagt, nun wär’s soweit, nun hätte sie ihr eigen Fleisch und Blut um die Ecke gebracht, nun könnten ja alle sehn, was fürn Teufel das Weib war. Ich mußte gleich nach’m Pfarrer drei Hände voll Erde ins Loch schmeißen, Mama war immer dicht neben mir un hielt mich sogar im Arm, un der Pfarrer hat in der Kapelle gesagt, ich wär ihr liebster Freund gewesen, und das war ja auch so.“ Der Junge schluckte und schniefte. „Papa hat dann ’n Kranz hingelegt, der war so groß wie’n Wagenrad, allein konnte er ’n gar nich schleppen.“ „Hat dein Vater dir auch verboten, Renate zu besuchen oder mit ihr in eurer Hütte in der Scheune zu spielen?“ „Erst nich. Ich hab’s mit angehört.“ „Was?“ „Mama und Papa haben sich gestritten deswegen. Papa streitet sonst nich, er schaltet auf Durchzug, sagt Karin.“ „Wer ist Karin?“ „Meine Schwester. Papa läßt Mama schreien und jammern, bis ihr die Puste wegbleibt. Diesmal brüllte er auch. Und dann sagte Mama was, un dadrauf antwortete Papa nich mehr. Am nächsten Morgen hat er mich – hat er mich zwischen seine Knie genommen. Mama war draußen im Schweinestall mit Ludwig …“ 244
„Dein älterer Bruder?“ Rudi Racke nickte. „Und weiter?“ „Guck dir mal die Antenne an dem roten Auto an, das der Faßbender fährt, hat er gesagt, und dann schau mal auf die langen Antennen an den Autos, in denen Frau Altmann heimgebracht wird. Das ist gefährlich. Mit so Spezialantennen kriegt die Frau Altmann vielleicht Aufträge aus Ostberlin. Ich muß verdammt aufpassen. Ich bin ja für alles verantwortlich.“ „Und weiter?“ fragte Brigitte. „Karin hat geprustet, und da drängte ich raus aus Papas Knien, un da wurde Papa wütend, un da merkte ich, daß er – daß er …“ „Log?“ half Brigitte behutsam. „Er kennt die Russen, hat er gesagt. Aber vor den Russen sind sie ja getürmt, hat Karin gerufen. Da hat er ihr eine gelangt, aber wie! Karin is prima, sie hat nich geheult, sie hat ihn bloß so von oben runter angeguckt. Dann is se aufgestanden, weil se doch zum Schulbus mußte. Un Papa hat zu mir gesagt: Du hast mich doch lieb? Ja, hab ich gesagt.“ „Aber es war nicht mehr so, daß du ihm richtig vertrautest. Ich versteh dich gut. Du hast es schwer gehabt, mein Kleiner. Du sollst dich nun nicht schämen, du hast mir sehr geholfen. Du hängst mehr an deinem Vater als an deiner Mutter, nicht wahr?“ Der Junge nickte. „Papa will Karin un mich behalten. Karin steht mir immer bei. Sie is ganz langsam auf Mama zugegangen un hat gesagt: Wenn ich was zu bestellen hätt, würd ich dich verklagen …“ „Wie alt ist deine Schwester?“ „Im Mai wird se sechzehn.“ 245
„Und sie besucht das Gymnasium in der Stadt?“ Rudi nickte. „Da will ich auch mal hin.“ „Da tust du recht dran.“ „Karin hat Renatchens Mutter schick gefunden.“ „Was würdest du davon halten, mich mit deiner Schwester zusammenzubringen? Würde das wohl gehen?“ „Un wenn Mama was merkt?“ „Du könntest deiner Schwester raten, einen Bus zu überspringen. Ißt sie gern Kuchen?“ „Nee – lieber Eis so mit Früchten obendrauf.“ „Sag ihr, daß ich im Deutschen Kaiser wohne.“ Der Junge fragte: „Warum hat die Frau Altmann das mit Renate gemacht?“ Sie nahm den Buben bei den Schultern, er stand jetzt, sie saß, er konnte direkt in ihre Augen sehen, sie wußte, wieviel von diesem Blick abhing. „Ich bin deshalb hier“, antwortete sie. „Zuerst dachte ich: eine Mutter, die so etwas tut, muß geistesgestört sein. Aber nun bin ich anderen Sinnes geworden. Unter Umständen“, sie wandte den Kopf zur Seite, ohne die Hände von Rudi zu lösen, „mag es einem leichter fallen, sich und sein Kind auszulöschen – wie eine Kerze. Wenn man Kinder mag“, fuhr sie direkter fort, „zerreißt es einem das Herz, wenn sie leiden.“ Die Schulglocke rasselte. „Nimm mal an, Rudi, ich hätte dich liebgewonnen in dieser Stunde. Willst du manchmal dran denken?“ Der Junge nickte. Sie zog ihn näher, streifte seine Stirn mit einem Kuß. „Man kann nicht immer alles gleich verstehen“, sagte sie. Er nickte. Als er weg war, kam Sörensen. „So“, begann er munter, „ich hab mein Möglichstes getan, diese Kälber mit 246
Engelszungen zu überreden, gefälligst ihre Mäuler zu halten.“ Brigitte griff nach ihrer Handtasche. „Was ist denn mit Ihnen los?“ „Oh, nichts.“ „Aber das stimmt doch nicht!“ „Ich danke Ihnen, Herr Sörensen, Sie haben mir einen großen Gefallen getan.“ „Was ist mit Ihnen los?“ „Ich habe Skrupel.“ Sie warf das von Rudi Racke naßgeweinte Taschentuch in den Papierkorb. Sörensen fragte: „Meinen Sie nicht, daß ich eine Erklärung beanspruchen darf?“ „Mag nun der Sturm losbrechen! Nichts Besseres kann passieren, als daß die Kinder am Mittagstisch brühwarm berichten, was sie mitbekommen haben. Die Journalistin Strömberg ist zufrieden.“ „Soll ich der Journalistin Strömberg eine scheuern?“ „Warum?“ „Muß ich Brigitte Strömberg daran erinnern, daß sie sich von Anfang an ne Bombe untern Hintern gelegt hat?“ „Nein, Detlef Sörensen, die beiden sind ja eins. Auch eine neue Erfahrung – für mich.“ Sörensen lachte ein ihm ganz und gar ungewohntes, ein Warmes Lachen. „Die Strömberg liegt richtig“, sagte er. 42 Rechtsanwalt Fröbel war ein Gelehrtentyp. Nachdem er Spengler zum Sitzen aufgefordert hatte, stopfte er sich eine 247
Pfeife. Spengler schaute fasziniert zu. „Dunhill“, sagte er. Fröbel hielt ein Streichholz über den Tabak, paffte, bis der goldbraune Kegel sich hob, drückte ihn vorsichtig fest. Ein exquisiter Duft begann über den Schreibtisch zu wehen. „Verstehen Sie etwas davon?“ fragte er. „Nicht sehr viel, ich entdeckte nur den weißen Punkt.“ „Und suchen doch den schwarzen.“ Fröbel bot Zigaretten an. „Alfred Dunhill“, fuhr er fort, „war ein genialer Außenseiter. Er hatte an einem Tag mehr Einfälle als alle alten Tabakfüchse von London zusammengenommen im ganzen Jahr. Es ist runde sieben Dezennien her.“ „Was bitte?“ „Daß der Sattlergehilfe Dunhill mittels einer Erbschaft und eines zusätzlichen Kredits einen winzigen Trafik eröffnete. Am Anfang seiner Karriere soll er von Pfeifen nicht mehr gewußt haben als beispielsweise Sie. Aber dann kam er auf diesen einfachen kleinen weißen Punkt. Und verdiente Millionen damit. Seither ist das Werbezeichen zur Chiffre geworden. Man grüßt einander von Pfeifenkopf zu Pfeifenkopf und verbündet sich – wortlos.“ „Hübsche Story.“ „In der Tat – außerordentlich hübsch. Interessante Frau, die Strömberg.“ Fröbel lehnte sich zurück und sprach in den Pausen zwischen Rauchwolken. „Ging meinem Bürovorsteher nicht von der Pelle, obgleich der ein Meister im Abwimmeln ist. Er hat eine Witterung für unliebsame Erscheinungen. War schon bei meinem Vater angestellt. Hatten Sie Schwierigkeiten?“ „Keine“, sagte Spengler. „Sie war eine passable Schachspielerin. Ich finde selten einen Partner; meistens bin ich gezwungen, schlechte Figur beim Skat zu machen. Worum geht es Ihnen?“ 248
„Sie wissen ja – Polizei.“ „Ihr kriegt alles heraus – früher oder später.“ Fröbel griente. „Nun denn – kurz vorm Remis stellte sie die Gretchenfrage, warum ich’s mit der Ethik gehalten hätte, statt dem Bürgermeister von Lemdorf zu Willen zu sein.“ Spengler zerdrückte seine Zigarette im Aschenbecher. „Wer ist eigentlich der Bürgermeister von Lemdorf, daß ein Anwalt von Ruf sich besinnen muß, ob er seinem Gewissen folgen oder eine windige Vertretung annehmen soll?“ Fröbel legte seine Pfeife weg. „Damals im Herbst sah das alles noch ganz anders aus, mein Lieber, von der Zeit davor will ich überhaupt nicht reden. Konsultieren Sie mal meinen Bürovorsteher Ecke, der hat ein System entwickelt, unsere renommierte Kanzlei en vogue zu halten. Wir hatten für Racke und gegen die Altmann Partei zu ergreifen – nach seiner Auffassung und nach Lage der Dinge. Wer war Racke – vormals, und wer war die Altmann?“ Spengler erwiderte: „Ich weiß – ein Kinderschreck, wollte im Auftrage der Russen kleine Leute um Haus und Hof bringen. Meinten einige Lemdorfer.“ „Und Lemdorf ist überall.“ Fröbel unterzog seine Fingernägel einer eingehenden Prüfung. „Wenn Sie die Wahl hätten, in Lemdorf zu versauern oder womöglich Bundestagsabgeordneter zu werden …“ „Bundestagsabgeordneter?“ Spengler blieb der Mund offen. Fröbel vollführte mit seinem Sessel eine halbe Umdrehung. „Racke war mal lieb Kind in der AdenauerStrauß-Zentrale. Das erbte sich nach des Alten Abtritt eine Zeitlang fort und bedeutete – wenn nicht viel, so doch auch nicht wenig. Eine Art Paradepferd für die Hintermänner von CDU und CSU muß er gewesen sein mit 249
seinem Keep-smiling bei allen Gelegenheiten. Gefügig war er, fotogen war er, leutselig war er. Gucken Sie sich Racke jetzt mal an. Die Strömberg hat ihn sich genau angeschaut. Er seinerseits hat sich die Strömberg angeschaut. Er brauchte Publicity. Kurz: eine gute Presse. Es hing schon zuviel an ihm. Er mußte Wähler gewinnen, ein Politiker braucht eine saubere Weste. Und nun war ihm der Fall Altmann passiert, just in dem Moment, da eine gewichtige Neuorientierung im Parteiapparat Raum griff. Experten wurden gefragt. Auf welchem Gebiet war Racke eigentlich Fachmann? Sehen Sie, mein Freund, das hat die Strömberg natürlich vom Kern her erfaßt. Und sie hat es mir gesagt. Wirklich – sie war eine überdurchschnittliche Frau. Nur leider – eine Moralistin war sie auch. Im übrigen: Sie sind der Kriminalist. Das Material …“ Fröbel wiegte den Kopf. „Spärlich“, ergänzte Spengler. „Warum so pessimistisch?“ „Frau Altmann hat bei Ihnen um Rechtsberatung angesucht?“ „Stimmt.“ „Ich könnte jetzt massiv werden, Herr Doktor Fröbel.“ „Stimmt, die Vollmacht haben Sie. Lassen Sie’s lieber.“ Spengler war noch damit beschäftigt, seine Erregung zu bremsen, weil er sich von Fröbel gefoppt fühlte, als er den fortfahren hörte: „Es gibt Gesetze, die sind noch immer nicht annuliert. Faßbender – kennen Sie Faßbender?“ „Ich sollte ihn vielleicht besser kennenlernen“, bekannte Spengler. „Unbedingt.“
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43 Strothmann grüßte übertrieben freundlich, als Brigitte durch die Halle ging. Sie blieb stehen. „Wirklich“, sagte er, „großartig – ganz ausgezeichnet! Wie Sie das angepackt haben – nicht wahr –, ich bin sehr stolz, gnädige Frau, daß ich Sie unter meinem Dach beherbergen durfte.“ Er winkte dem Boy, der Boy sprang herbei. „Einen Tisch für Frau Strömberg! Schick mir mal den Ober raus.“ „Sehr wohl, Herr Strothmann.“ Strothmann persönlich gab ihr das Geleit bis zum Eingang des Speisesaals, wo der Oberkellner bereits wartete. Der Einzug diesmal glich einem Auftritt. Die Herren ringsum an den Tischen mit ihren Aktentaschen neben sich, ihren Schnellheftern und Auftragslisten, die sie durchgingen, bevor das Nachtmahl kam, hielten Filzstift oder Kugelschreiber in der Schwebe, als Brigitte, hierhin und dorthin grüßend, vorüberschritt. Entschieden reagierten die Herren aus der Vertreterbranche anders als sonst. Sie vermutete, die meisten hatten das Autoradio unterwegs eingeschaltet gehabt, um sich – wie üblich – über die Straßenverhältnisse orientieren zu lassen, bei der Gelegenheit mochten sie ihren ersten Bericht konsumiert haben. Sie bewunderte Klaus, denn er hatte Striche am richtigen Fleck gesetzt und hatte damit den genau richtigen Drive gegeben. Sie bekannte sich selber vorbehaltlos, daß sie ohne Bodes Ansporn ihr Feuer lange vor der Zeit verschossen hätte. Oberkellner Schranz lotste sie in eine Nische, die Stühle waren aus schwerem Eichenholz, Sitz und Lehnen fellbezogen. Sie hatte hier mit Fröbel unlängst beim Schach gesessen. Nur Honoratioren wurden so placiert. 251
Sie stellte ihre Handtasche auf den Sims der Heizkörperverkleidung, nachdem sie Manuskriptseiten und ihren Stenoblock hervorgeholt hatte. Sie ergänzte mit ihren sauberen, sehr klaren Schriftzügen das Typogramm. Und war so vertieft, wie die Herren an den nun weit entrückten Tischen es auch waren. Ein Kellner legte das Gedeck auf. Danach empfahl Herr Schranz Lammkeule auf Berner Art oder Hasenpfeffer mit Spaghetti. „Hasenpfeffer“, entschied sie knapp. Wieder trat jemand an ihren Tisch. „Danke“, sagte sie obenhin, „heute schlage ich auch die Suppe nicht aus.“ Sie blickte flüchtig auf. Racke hatte ihr gegenüber Platz genommen auf einem dieser handgefertigten schweren Stühle, die – es kam ihr beiläufig in den Sinn – nur aus Löffelholzens Werkstatt stammen konnten. „Ach, Herr Bürgermeister“, sagte sie. „Es ist mir nicht leichtgefallen“, sagte Racke, „bis zu Ihnen vorzudringen, gnädige Frau. Strothmann wollte mich partout nicht an Ihren Tisch lassen, dabei will ich Ihnen gar nicht den Genuß nehmen, ich möchte Sie nur bitten, mit von der Partie sein zu dürfen. Anders kann ich mich Ihnen nicht erkenntlich zeigen.“ „Erkenntlich zeigen?“ wiederholte Brigitte. „Wofür?“ „Sie sehen phantastisch aus – kaum zu glauben, daß eine Frau, die so aussieht wie Sie … atemberaubend! Mir fehlen die Worte! Als Mensch, Frau Strömberg, als mitfühlender Mensch habe ich den ersten Teil Ihrer Reportage, die Schilderung von Lemdorf und den Lemdorfern im Radio gehört. Privatim gehe ich mit Ihnen konform. Es tut immer gut, ungeschminkt an so ideale Jugendvorstellungen erinnert zu werden. Nur entsprechen die leider nie der Wirklichkeit. Als normaler Bürger müßte man ja draufgehen, 252
wenn man bei seinen frühen Idealen bliebe. Gestatten Sie mir die Frage: Wie wollen Sie Ihre Dokumentation fortsetzen? Darf ich da vielleicht mal reinschauen?“ Rackes Hand kam über das blauweiße Damasttuch näher. Aber nun brachte der Kellner die Suppe. Brigitte stopfte ihre Aufzeichnungen in die Handtasche. Dann begann sie zu essen. Racke suchte in der Speisekarte herum, entschloß sich für Lamm auf Berner Art, machte die Bestellung rückgängig, weil Brigitte bereits den Hasenpfeffer und die zart in Butter geschwenkten Spaghetti verspeiste, erklärte, daß er eigentlich nur Appetit auf ein Beefsteak Tartar hätte. Während der ungleichen Mahlzeit fand eine Allerweltskonversation statt. Racke forderte Rheinwein an. „Sie schlagen es mir doch nicht ab, wenn ich Sie einlade?“ Brigitte nickte, ihr Lächeln war verführerisch, sie wußte es. Racke trank hastig, gab die zweite Flasche in Auftrag, bevor die erste geleert war. Brigitte fand es ratsam, mit ihm zu flirten. Racke fiel prompt auf ihr Manöver herein. „Man hat so seinen Kummer“, sagte er. „Wie das?“ „So ein Kommunalpolitiker wie ich darf sich Pannen überhaupt nicht leisten. Plötzlich gerate ich in eine Situation, die ein schiefes Licht auf mich wirft. Ihre Aufdeckung des Schlamassels … Entschuldigen Sie: Wie sind Sie eingestellt?“ „Ich verstehe nicht.“ „Oh, doch – Sie verstehen mich sehr gut. Ihr Intellektuellen braucht auf niemanden Rücksicht zu nehmen.“ „Ich schätze, Sie gehören zu den Männern, die nach alter Manier Millionen Menschen glauben machen, nur 253
durch sie blieben Speck und Brot gesichert. Der geistige Speck besorgt das übrige. Dieser Katechismus scheint immer weiter zu klappen. Eigentlich komisch. Setzen Sie’s her, Herr Schranz, Eis mit Früchten, das mag ich. Und bringen Sie mir einen Mokka, ja? Und nun überlegen Sie mal, Herr Bürgermeister: Ihre Bosse von Hochfinanz und Industrie sind doch nicht erst seit gestern erpicht darauf, zum Beispiel mit den Sowjets Handelsbeziehungen anzuknüpfen. Als kalte Rechner haben sie natürlich begriffen, daß Speck und Brot schnell rar würden, wenn sie sich auf ihrem ureigenen Gebiet dem Lauf der Weltgeschichte widersetzten. Gar kein Zweifel, Herr Racke, den Großkopfeten stinkt die Politik nicht in ihre Villen hinein. Fußtritte bekommen Leute wie Sie, die den Topf mit der Angst vor dem Gespenst Kommunismus immer am Brodeln zu halten haben. Und da wollten Sie nun Ihr Dorf säubern – liebe Güte! Geschrien habt ihr: Geh doch zurück in dein Paradies!“ „Halten Sie den Sozialismus für besser?“ „Für zeitgemäßer, Herr Racke, Ihre knallharten Magnaten beweisen es auf ihrem Sektor tagtäglich. Sie sind ohne Sentimentalität und ohne Erbarmen. Ökonomisch sind sie für den Fortschritt – ihrer Dividenden, versteht sich. Immerhin – ihr habt euer Opfer gehabt, nur die Phase war ungünstig gewählt.“ „Sie spielen einen Einzelfall hoch.“ Racke rang um Fassung. „Sie sind für Gerechtigkeit, das ehrt Sie, aber überlegen Sie doch mal – die Folgen! Sie denken differenziert …“ „Danke, Herr Racke, ich finde,. Sie machen ausgesprochen nette Komplimente. Wenn ich Ihnen also dienen kann: Ich bin Praktikerin genug, meine Krallen Ihnen zuliebe einzuziehen.“ 254
Racke atmete auf. Er sah den berühmten Silberstreif am Horizont. „Wie gefiel Ihnen meine Tochter?“ lenkte er ab. „Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Tochter.“ „Das freut mich.“ „Woher wissen Sie, daß sie bei mir war?“ „Von ihr selber.“ „Alle Achtung!“ „Darf ich fragen …“ „Natürlich dürfen Sie fragen. Es war mir ein Erlebnis, Ihrer Karin zu begegnen, einem so wißbegierigen, so aufgeweckten und“ – Brigitte machte eine wohlabgewogene Pause – „so tapferen Mädchen, das wie ausgetrockneter Boden nach Wasser verlangte. Ihre Tochter wird jeden einigermaßen redlichen Erwachsenen für alle Mühe reich entschädigen.“ Racke sah Land, wo keines war. „Ja, ja“, sagte er, „Karin hat sich entwickelt. Ich hoffe sehr, daß sie einmal schön wird und gefällt – etwa so wie Sie …“ „Ich hoffe, es wird einstmals Wurscht sein, Männern bloß um des Sex-Appeals willen zu gefallen. Ich halte sie für sehr gescheit, und sie hat ein Gewissen.“ Brigitte betonte das Substantivum und wiederholte es: „Gewissen.“ „Prosit“, sagte Racke, „darauf müssen wir trinken. Sie sind fabelhaft“, sagte er und senkte den Blick in ihre Augen. „Ich würde es nur zu gern sehen, wenn wir Kontakt behielten – gerade auch in bezug auf Karin und Rudi. Übrigens war Ihre Schilderung der Atmosphäre in Focks Kneipe phänomenal! Zeugen des Abends haben mir berichtet, daß Sie unsere Gegend mit all ihrem herben Zauber berückend fanden. In meinen Mußestunden bin ich ein passionierter Jäger, nur komm ich immer seltener dazu, ins Revier zu gehen. Altmann ist fortgezogen, wie 255
Sie wissen. Nein, bitte, unterbrechen Sie mich jetzt nicht! Das Grundstück kommt höchstwahrscheinlich in den Besitz der Gemeinde zurück.“ „Mit Altmanns Zustimmung?“ „Nun – nicht unbedingt. Er wollte an private Interessenten verkaufen, doch gibt es da eine Klausel …“ „Die interessiert mich, Herr Racke.“ „Ach“, sagte Racke, „das ist so typischer Lemdorfer Kleinkram, undurchschaubar für Leute mit weitem Gesichtskreis.“ „Ich bin trotzdem gespannt.“ Racke blickte verdrießlich auf sein leeres Glas. Überlegte. Lange. Sah ratlos aus. „Ja – schwierig“, begann er, „schwer zu erklären. Wie soll ich Ihnen den Besitzstand erläutern?“ „Versuchen Sie’s“, redete Brigitte ihm zu. „Ja, also – ein Teil der unbebauten Fläche gehört meiner Frau. Im Grundbuch gibt es einen entsprechenden Passus. Der Vater meiner Frau hat, wenn Sie so wollen, seinen Wirkungsbereich salamischeibenweise ausgedehnt. Franz Altmann legte Wert auf Eigentum – er hielt zunächst nichts von Erbpacht.“ „Sie fanden die Lösung. Ich vermute: mit dem Beistand der Frau Gemahlin.“ „Wie bitte? Ja – wir entschlossen uns zu einem Kompromiß. Teils Erbpacht, langbefristet und unkündbar bei mäßigem Zinssatz von seiten der Gemeinde, und Pacht mit Vorkaufsrecht – das heißt, Altmann konnte seinen Besitz antreten, sofern er sich verpflichtete, zusätzlich zum festen Zinssatz floatende Raten zu zahlen.“ „Aha“, sagte Brigitte. „Nicht ganz astrein, wie?“ „Aber, gnädige Frau …“ „Ein Akt von Spekulation – ohne Sicherheit für den Schuldner. Ziemlich schäbig.“ 256
„Beide Parteien unterzeichneten den Vertrag. Er wurde notariell beglaubigt.“ „Der Vertrag insgesamt?“ „Jawohl.“ „Das ganze Paket mit allen Nebenbestimmungen?“ „So ist es.“ „Sie vertraten die Gemeinde?“ „Ganz recht.“ „Und da hatte nun Altmann Schulden auf dem Hals, Darlehen und Hypothek dazu, und er zahlte und zahlte, und eine beträchtliche Quote floß in Ihren Säckel, Herr Bürgermeister.“ „Doch nicht in meinen!“ „Dank seiner Gutgläubigkeit – unwahrscheinlich! Ihre Frau konnte, wann immer es ihr paßte, ganz legitim ihre Forderungen höher schrauben.“ Racke wehrte mit beiden Händen ab. „Ich stelle fest, eine recht wilde Theorie …“ Sie fiel ihm ins Wort: „Theorie? Na, hören Sie mal! Hatte Ihre Frau etwa keine Möglichkeit, die armen, dummen Spießer zu erpressen?“ Racke lächelte verbindlich, aber seine Augen wurden hart. „Frau Altmann war alles andere – nur keine Spießerin.“ „War sie mit beim Notar – Sie verstehen, als der Vertrag geschlossen wurde?“ „Nein.“ „Eine Sache unter Männern.“ „Jawohl“, sagte Racke. „Nehmen wir an, Sie wollten kein Gerede …“ „Ich? Wie meinen Sie das!“ „Ach, man weiß immer so mancherlei, das bringt die journalistische Tätigkeit so mit sich. Man macht nicht immer unbedingt Gebrauch davon. Alles hat natürlich 257
seinen Preis.“ Racke straffte die Kinnmuskeln. Es war offensichtlich, daß seine Angst wie weggepustet war. „Ich stelle mir vor – lassen Sie uns die Geschichte doch mal durchspielen –, Sie sind ein Mann, nicht wahr, und einer, der überhaupt nicht nach Lemdorf gehört. Einmal machen Sie einen fatalen Fehler. Sie übernachten mit Ihrer Geliebten in diesem Hotel, obgleich Ihnen bekannt war, inzwischen war die Altmann zu einigem Einfluß gelangt. Sie verließen sich auf ihre Integrität.“ „Die Altmann war gar nicht anwesend.“ „Also konnte sie auch keinen Anruf tätigen.“ „Nein.“ Racke sah einigermaßen verdutzt drein. „Diesen anonymen Anruf, der Ihre Gattin aus dem Schlummer riß und sie mit Ihrem außerehelichen Verkehr konfrontierte. Ahnungslos mag die Frau Gemahlin nie gewesen sein. Aber so direkt – ich weiß ja nicht, wie ich selber reagiert hätte. Etwas ging in ihr vor – wie ein Damm, der birst. Sie kombinierte. Ich hätte es auch getan.“ „Was sollen die verdammten Andeutungen?“ „Nichts, Herr Racke, nichts. Darf ich fortfahren? Es ist ja nur ein Spiel, und alles hat seinen Preis. Nehmen wir einmal an, Sie mußten bei Ihrer Frau um gut Wetter bitten. Und Sie zitierten Altmann aufs Amt und teilten ihm mit, daß Sie leider, leider gezwungen wären, den separaten Pachtzins ums Dreifache zu erhöhen. Das klingt wie eine Story aus dem Mittelalter, aber Sie trafen ihn. Diesem Dämlack war ja in erster Linie an seinem Garten gelegen.“ Racke lachte. Er war zu betrunken, um sich noch unter Kontrolle zu halten. „Kurz darauf erschien sie bei mir; was soll ich Ihnen sagen, die war ganz schön zugerichtet, und ich hab ihr gesagt, liebe Frau Altmann, habe ich gesagt, ich bin Ihnen keine Aufklärung schuldig, das ist ne 258
Sache unter uns Männern. Und es war ja nur recht und billig, daß Altmann endlich aufgewacht war und sich scheiden lassen und sein Kind behalten wollte.“ „Sagen Sie das doch noch einmal.“ „Er wollte sein Kind behalten.“ 44 „Ein Riesentrottel – jaha, vollkommen Ihrer Meinung, hochverehrte Frau Strömberg. Unser Gemeinderat besteht auch aus Trotteln bis auf zwei – nein –, drei Mitglieder, die permanent gegen mich stänkern. Also ich bin für die Bewegung Urlaub auf dem Bauernhof. Sie fallen mir in den Rücken – Grothus an der Spitze. Herr Grothus ist ein mächtiger Mann; sobald er’s drauf anlegt, holt er das Stimmvieh auf seine Seite. Rabauke der. Ha, aber diesmal war ich ihm über! Willkommen in Lemdorf – gut, was? Noch größer soll er nicht werden, spekulierten die Trottel – also Mehrheitsbeschluß: draußen am Waldsee“ – Racke entfuhr ein Schluckauf –, „oh, mille fois pardon, Madame“, sagte er, „französisch lernte ich in la France, die eine hieß – wie hieß sie doch gleich? – Delphine. Ich entsinne michailer Details. Na, wo war ich denn?“ „Am Waldsee draußen …“ „Je vous remercie bien, Madame. Wir geben dort Terrain frei für Bungalows. Und den ersten Bungalow – na? Werden wir mit allem Komfort als – als Modell für Sie errichten.“ „Und der Tribut?“ Racke machte eine lässige Gebärde. „Bagatelle“, sagte er. 259
„Solch ein Geschenk schreit doch nach einem nicht minder großzügigen Gegenwert.“ „Wir wissen ja beide, wie der Hase läuft. Ich schlage vor, Sie übergeben mir Ihr gesamtes Material – Ihre Manuskripte und so weiter … und dann – Schwamm drüber.“ Der Oberkellner brachte die vierte Flasche. Brigitte deckte wieder die Hand über ihr Glas. Racke trank. Wurde rührselig. Schwätzte von Kriegserlebnissen, plauderte Schlafzimmergeheimnisse aus, beklagte sich über seine Ehe. Sagte, stocherte dabei in einem zerknautschten Zigarettenpäckchen, unverfroren: „Zeigen Sie endlich her, schließlich wollen Sie’s ja bezahlt haben …“ Brigitte brachte ihre Handtasche in Sicherheit. Verlangte die Rechnung. Der Oberkellner – er hatte in der Nähe gestanden – eilte herbei. „Ich erledige das!“ tönte Racke. „Bedaure“, berichtigte Schranz, er verbeugte sich höflich, „Frau Strömberg war Gast unseres Hauses, ausdrücklicher Befehl vom Chef.“ „Wohl ’n kleinen Mann im Ohr, Sie! Wenn Racke sagt, er blecht, dann blecht er – verstanden?“ „Bedaure unendlich“, sagte Schranz. Brigitte hatte sich erhoben. Racke blieb sitzen. Starrte auf die Handtasche unter ihrem Arm. Seine Hand fuhr ins Leere. „Und wie steht’s mit unserer Abmachung?“ fragte er. „Sie könn’n ja nich behaupten, der Abgeordnete Racke scheut die Kosten …“ „Ich habe keine Abmachung getroffen, Herr Bürgermeister. Vielen Dank für diesen Abend. Er war aufschlußreich. Es bleibt mir nur zu hoffen, daß mein kleines 260
Bandgerät auch diesmal funktioniert hat.“ Sie streichelte die Tasche, die nun am Riemen pendelte. „Gute Nacht, Herr Bürgermeister“, sagte Sie, drehte sich abrupt um und ging fort. Racke, jäh ernüchtert, sank in seinen Armstuhl zurück. Der Speisesaal war leer. Auch die Halle war leer. Kröger döste vor sich hin auf seinem Posten hinter der Rezeption. Sie sprach ihn behutsam an. Kröger fuhr hoch. Sie wiederholte: „Würden Sie mich mit Dornburg verbinden?“ „Aber gern, gnädige Frau – die Nummer kenn ich auswendig, bemühen Sie sich nicht. Wollen Sie das Gespräch auf Ihr Zimmer haben?“ „Danke – nein, Herr Kröger.“ Der Anschluß war schnell hergestellt. Kröger reichte ihr den Hörer. Sie meldete sich. „Hallo, Nathalie – bist du da? Hab ich dich im Schlaf gestört? Ja? Tut mir leid – du. Klaus hat heut Nachtdienst, ich könnte ihn nur auf Umwegen erreichen – weißt ja. Ruf ihn morgen früh an – ja? Sag ihm, daß ich hier fertig bin. Hallo – hörst du noch? Hallo – Nathalie, die Verständigung ist abscheulich! Hallo! Verflixt und zugenäht, ich hör nichts! Ist ja auch egal, du – ich freu mich so, morgen mittag spätestens bin ich bei dir. Sag Klaus, ich hätte ihn nun, den Schlußstein, hallo! Die Lösung – ja. Alle abschließenden Interviews und vor allem den Schlußstein …“ Hier brach die Verbindung vollends zusammen. Kröger fragte: „Soll ich reklamieren?“ „Das ist nun wirklich nicht mehr wichtig, denn morgen – morgen bin ich ja zu Haus. Jetzt möcht ich erst mal schlafen.“ Kröger wandte ein: „Nur ein paar Minuten, Frau Strömberg, dann hätten wir Dornburg wieder, und Sie könnten sagen, was vielleicht doch von Bedeutung ist.“ 261
„Von Bedeutung? Meine Leute verstehn mich sowieso. Aber warten Sie mal“ – sie blickte nachdenklich drein –, „ich muß Sie da doch mal um Auskunft bitten.“ „Machen Sie schnell.“ „Warum?“ „Racke.“ „Der ist randvoll.“ „Verlassen Sie sich nicht drauf.“ „Ich glaube, Altmann hat mich belogen – mindestens hat er mir etwas verschwiegen. Wissen Sie Näheres darüber – ich meine, was er mit dem Kind vorhatte?“ „Altmann hatte eine Einstellung angenommen, die darauf hinauslief, daß er das Leben als seine Torte ansah. Und sie vermasselte ihm den Genuß. Zum Schluß hat er sie ihr ins Gesicht geknallt.“ „Schlug er wirklich zu?“ „Hat Racke etwa so was erzählt?“ „Erzählt hat er’s nicht …“ „Angedeutet“, korrigierte Kröger. „Wir müssen’s leider abkürzen – der andere Wicht ist auf dem Wege. Altmann schämt sich, ich hab’s von Faßbender, der sich gleichfalls schämt – mit Fug und Recht, jedoch zu spät. Also: In der DDR scheint es unüblich zu sein, Kontrakte von einiger Tragweite nur durch den sogenannten Haushaltungsvorstand abschließen zu lassen. Ungebührlich ist es dann wohl auch, daß man, reingefallen auf Grund vertrauensseliger Dämlichkeit, seinen Groll zusammenschaufelt und die Frau für alles verantwortlich macht. Wo trifft man eine Frau am tiefsten? Ihr lag wirklich nichts daran, sich selber zu lieben. Hätte er sie Flittchen tituliert …“ Kröger schüttelte langsam den Kopf. „Schranz kommt eben retour“, fuhr er fort. Er flüsterte jetzt, obgleich von Racke immer noch nichts zu sehen 262
war: „Aber unsere Gesetzesparagraphen – Zeugen hätte er zehn auf einen Streich gefunden …“ „Wer?“ „Altmann. Lautere Zeugen. Lauter Biedermänner. Die hätten in dem Scheidungsprozeß Altmann contra Altmann schon was losgelassen in puncto Lebenswandel der Verklagten. Und so konnte er sie bedrohen. Er legte Hand auf das Kind. Unser Rechtswesen ist ja nach wie vor auf Seiten des Mannes, ich sag Ihnen das als Greis. Ich bin nämlich in meinem Urteil nicht mehr befangen.“ „Lieber Herr Kröger, ich finde, Sie sind ein furchtbar netter, kluger, lieber Kerl.“ „Gnädige Frau, ich danke Ihnen.“ „Gute Nacht …“ „Verschwinden Sie schleunigst“, zischte Kröger, verbeugte sich, sagte: „Wünsche angenehme Ruhe, gnädige Frau.“ 45 Sehr distinguiert sah Alfons Racke nicht gerade aus, als Schranz kassieren kam. Er blickte auf, das Weiße in seinen Augen war gerötet. Fahrig blätterte er Scheine hin, verzichtete auf Herausgabe harter Münzen. Für seine Verhältnisse war das Trinkgeld viel zu hoch. Schranz half ihm in den Mantel. „Gute Fahrt, Herr Bürgermeister“, sagte er. „Wenn das man gut geht“, sagte Kröger. Er hatte die Tür hinter Racke abgeschlossen. „Taxi war besser gewesen, aber damit darf er seiner Alten wohl nicht kommen.“ Schranz hatte seinen Frack über den Bügel in der Personalgarderobe gehängt, auch die Hosen hatte er gewechselt. 263
Ein flotter Schal verbarg die steife Hemdbrust, Kragen und schwarze Schleife hatte er abgelegt. „Zerbrich dir nicht den Kopf drüber, Alter. Seinen Kreislauf hat er zwar noch nicht wieder in der Gewalt, aber sonst ist er ansprechbar. Sie hat ihm ganz schön eingeheizt.“ „Wie denn?“ „Ich misch uns was.“ „Du immer mit deinen vornehmen Mischungen, is doch nichts Reelles, gib mir ’n Korn, aber ’n dreistöckigen.“ „Sollst du haben.“ Schranz verschwand, sein Schlüsselbund klimperte. Auf kleinem Tablett trug er die Drinks herbei. „Schätze“, sagte er, „dein Protogé sollte korrumpiert werden, aber die Kunst will beherrscht sein – dein Spezielles, Alter. Ist nicht mehr in Form, der Knabe, sie hat ihn glatt auf den Teppich gewichst. Viel hab ich ja nicht mitgekriegt, immerhin habe ich gehört, wie sie sagte: Hoffentlich hat mein kleines Bandgerät auch diesmal funktioniert.“ „Hat sie gesagt?“ „Hat sie.“ „Verdammich.“ „Na denn – Nacht, Alter, mach’s gut bis morgen.“ Rackes Gehirn entnebelte sich sprunghaft, während er seinen BMW aus dem Garagenhof lenkte und dann rasch davonfuhr. Nur betreten war er noch immer und unschlüssig. Am Ortseingang von Lemdorf schellte er nach dem Bartelsschen Tankwart, ließ den Tank randvoll füllen – er hatte schon auf Reserve schalten müssen –, ließ auch den Reifendruck überprüfen. Es war kurz nach Mitternacht. Der Tankwart sagte: „Beinahe bis zum letzten Tropfen, Herr Bürgermeister, war ja man wedder höchste Tid.“ 264
„Ich werd’s nie lernen“, erwiderte Racke vom Fahrersitz aus. Nichts Ungewöhnliches war dabei, daß er so spät den Service beanspruchte. Es geschah häufig, daß er hier anhielt, wenn alle ringsum schliefen. Jedermann wußte, der Bürgermeister, der nicht bloß Bürgermeister war, trat von heut auf morgen lange Reisen an. Racke parkte den Wagen daheim vor dem Torweg. Er benutzte die Seitentür, schlich drinnen im Mondschatten an den Stallungen vorüber, zog seine Schuhe aus und betrat auf leisen Sohlen die Küche in der dunklen Absicht, noch etwas Kräftiges zu essen. Die Deckenbeleuchtung schaltete er nicht ein. Er öffnete den Kühlschrank. Fand eine Satte mit Pottsuse, die er angewidert zurückschob. Schließlich schnitt er einen dicken Ranken vom Brotlaib ab und bestrich ihn mit Büchsenleberwurst. Dazu trank er einen Becher Milch. Danach krampfte sich sein Magen zusammen. Die Gegenstände begannen zu schwanken, drehten sich, er sah alles wie im Zerrspiegel, und auch der Spiegel drehte sich. So etwas, fand er, gab es doch gar nicht, durfte es nicht geben, er hatte das doch gar nicht gewollt und auch nicht verdient. Warum um Gottes willen nahm sich plötzlich jeder Gimpel das Recht heraus, auf ihm herumzutrampeln, denn sie waren ja nun wohl alle gegen ihn. Fröbel. Unangenehmer Gedanke. Die Strömberg hatte mit Fröbel Schach gespielt. Er sah das Brett mit den weißen und schwarzen Figuren deutlich vor sich. Er sah der Strömberg Hand, die einen Bauern setzte. Sah Fröbels Hand. Sie tat einen überlegten Zug mit der schwarzen Königin. Was wußte die Strömberg über Lisbeth, was hatte Altmann ihr berichtet, wie hoch mußte er den 265
Stellenwert von Faßbender und Altman überhaupt ansetzen? Und Kläre? Seine gefügige Kläre … Am Küchentisch im Dunklen empfand er nur noch Mitleid mit sich selbst. Er dachte an Karin, er dachte an Rudi, die ihn verraten hatten. Dabei, so meinte er, hatte er das häusliche Inferno doch nur ertragen um dieser beiden Sprößlinge willen. Einen Augenblick lang war er hellsichtig genug, seine Handlungen in ihrem ganzen Ausmaß zu erfassen. All seine ursprünglich gutgemeinten Aktionen trugen das Stigma von Unterlassungen. Er hatte keine Chance mehr. Es war aus. Nichts blieb ihm mehr. Mit Schimpf und Schande würden sie ihn davonjagen – voran die Lemdorfer. Seine Karriere war hin, wie sie schon einmal – kaum begonnen – hingewesen war. Ich hab alles falsch gemacht, dachte er, alles in meinem beschissenen Leben habe ich falsch gemacht. Alles ist mir immer viel zu leicht über die Zunge gerutscht. Aber ich bin doch kein Lump, bin doch nie einer gewesen … Er holte tief Luft. Sein Magen rebellierte nicht länger. Er schlief, ausgelaugt von Erschöpfung, den Kopf auf den Armen, auf der Sitzbank in der Küche ein. In einem wirren und sehr bunten Traum war er der starke Mann, dem niemand was anhaben konnte. Er erledigte sämtliche Gegner selbstsicher im Vorübergehen, sogar die Bluesharks kuschten, die Bosse. Komisch, daß die mehr oder minder anonymen Bosse das Aussehen von Menschenhaien angenommen hatten. Ihnen präsentierte er die Rechnung, er hatte sie lebendig gefangen und in ein Bassin gesperrt. War endlich der, der er zu sein begehrte: Superman Siegfried, nicht mal durch Hagens Tücke zu überwinden. Trennte sich von Lisbeth. Und dann erschien im klaren Wasser dieser kleine Raubfisch, diese vorwitzige Forelle. Und Racke murmelte: 266
„Dich krieg ich auch noch, Süße …“ Er bekräftigte im Jargon des Waffen-SS-Offiziers Racke, des gebürtigen Stettiners, obgleich der inzwischen Patina angesetzt hatte: „Jawoll!“ 46 Brigitte bezahlte ihre Hotelrechnung. Kröger war nicht mehr da. Sie bat den Tagportier, Kröger ihre Grüße auszurichten. „Das ist für Herrn Kröger“, setzte sie fort und schob einen Umschlag über den Tresen. „Sagen Sie ihm, er soll die ganze Woche über nur gute Zigarren rauchen.“ Zu guter Letzt erschien Strothmann in der Ausfahrt. „Vergessen Sie uns nicht, gnädige Frau.“ Sie drückte seine Hand. „Bestimmt komm ich wieder, Herr Strothmann, vielen Dank auch für das lukullische Mahl gestern abend, adieu, Herr Strothmann, ich hab mich wie in Abrahame Schoß bei Ihnen gefühlt.“ Der Käfer entschwand Strothmanns Blicken, er kurvte drüben in die Einbahnstraße. Brigitte brachte die Außenbezirke der Stadt schnell hinter sich. Sie erreichte die Bundesstraße, die Zufahrt zur Autobahn. Dort fädelte sie sich ein. Es war früher Morgen. Die Fahrzeugkolonne war dicht, aber noch nicht so dicht, daß sie Beschwerden machte. Sie überholte Fernlastzüge, mehrere langsamer dahinrollende Personenkraftwagen, kontrollierte Rück- und Seitenspiegel, bevor sie die rechte Fahrspur nahm. Als alles wunderschön lief, im Radio heiße Rhythmen erklangen, entdeckte sie plötzlich den schnellen, starken BMW. Sie nahm Gas weg, um ihn vorbeizulassen. Das Betonband zeigte streckenweise Tücken. Durch Reifniederschlag 267
während der Nacht war es immer mal wieder leicht überfroren. Der BMW verringerte seine Geschwindigkeit auch. Dann lag er neben ihr. Sie erkannte Racke hinter dem Volant. Racke hob die Hand zum Gruß. Stoppte. Fiel verkehrswidrig zurück. Fuhr sie hundert, fuhr er hundert, ging sie auf achtzig herunter, ging er auf achtzig. Sie konnte ihn nicht abschütteln. Unterwegs steuerte sie einen Parkplatz an. Racke folgte ihr, bewahrte zehn Meter Abstand. Drei Lastzüge machten da Pause, wahre Ungetüme mit Anhängern. Sie zog den Zündschlüssel heraus, stand dann im Freien unter Kiefern – in Hosen, dazu trug sie einen weißen Rollkragenpullover mit rotem Gürtel. Stand da. Unschlüssig. Überlegte. Sollte sie nach vorn zu den Rittern der Landstraße gehen? Sollte sie einmal nicht wegen eines Reifenschadens oder einer defekten Kerze deren sprichwörtliche Solidarität anrufen? Aber wie sollte sie ihnen den Sachverhalt erklären, damit sie ihr Schutz gewährten? Schutz – vor wem denn? Sie ging nach rückwärts zu Racke. „Na“, fragte sie, „was verschafft mir das Vergnügen?“ „Aber, aber“, sagte Racke, „so doch nicht, ich möchte Sie lediglich begleiten, und Ihrer Vermittlung bedarf ich, darum bitte ich vor allem.“ Er hatte die Scheibe heruntergedreht und machte einen ganz manierlichen Eindruck. „Was haben Sie eigentlich gegen mich? Ich wollte Sie herzlich bitten zu vergessen, was gestern geschehen ist. Wie war ich eigentlich gestern, als ich blau war?“ Die Ritter der Landstraße kamen nacheinander aus dem Gebüsch hervor, Fahrer und Beifahrer kletterten in 268
die Kabinen. Türen klappten, Motoren heulten auf. Einer beugte sich nach draußen, schätzte den BMW, den VW ab. „Sehr deutlich waren Sie.“ Ihr Gesicht kam ihm nahe. Sie war reizend, sie war genau sein Typ. „Sehr amüsant“, fuhr sie fort. „Würden Sie mir einen Gefallen tun?“ „Kommt drauf an.“ „Ich möchte Frau Doktor Kotier konsultieren.“ „Höre ich recht?“ „Es geht mir um ein fachärztliches Urteil über den Gemütszustand meiner Frau.“ „Sonst noch etwas?“ „Sie sind keine Erpresserin.“ „Richtig.“ „Meine Frau ist krank, ich benötige Frau Doktor Kotters Rat.“ Der letzte Fernlaster donnerte hinweg, Spatzengeschilp begann sich durchzusetzen. Sonst war alles still, viel zu still, fand Brigitte. Racke legte seine linke Hand auf ihren Arm, streichelte den Arm, ihre Rechte lag schmal auf dem Rahmen der heruntergelassenen Scheibe, er spürte zarte Haut unter seinen Fingern, küßte die Hand, küßte die Haut. Sie war genau die Frau, nach der ihn immer verlangt hatte. Seine Stimme kam leise: „Ich bin ganz anders …“ Sie entzog ihm ihre Hand. „Die meisten Leute können nicht mal ihren Namen ordentlich schreiben, wenn sie einen sitzen haben. Ich war ziemlich eklig …“ „So ist es.“ „Alles bloß Pose.“ „Ersparen Sie doch sich und mir diese Masche.“ „Für wen halten Sie mich eigentlich?“ 269
„Für einen, der Bauchschmerzen hat …“ Er roch ihr Parfüm, es war kalt, aber das Parfüm drang durch, offenbar schwitzte sie. „Für einen Feigling.“ Sie bereute ihre Unklugheit sofort. Da sie nichts rückgängig machen konnte, flüchtete sie in die Offensive. „Sie würden mich nicht verfolgen, wenn Sie nicht etwas zu verbergen hätten.“ „Ich werde Sie trotzdem begleiten.“ „Das bleibt Ihnen unbenommen.“ „Ich will Frau Doktor Kotter um Beistand ersuchen.“ „Also gut, dann wollen wir mal.“ Sie stieg in den VW, knallte die Tür zu, startete. Racke raste ihr nach. „Moment!“ schrie er. „Ja?“ fragte sie. „Könnten Sie sich nicht Karins und Rudis wegen dazu verstehen, mir das Band auszuhändigen, wenigstens das Band vom gestrigen Abend? Um Christi Barmherzigkeit halber: ich lasse alle Tricks beiseite – wirklich! Ich bin ja am Ende!“ Sie musterte jeden Zoll Racke., um alle Rackes zu verwerfen. Legte den ersten Gang ein. Begab sich an den Rand der Piste, von wo aus sie geschickt ins Getümmel auf der Autobahn manövrierte. 47 Die Stunde ist verdammt lang, sagte sie zu sich, was hilft’s, man muß durch, das Leben ist kurz. Die Stunde lang, das Leben kurz – wo hab ich’s gelesen? So was steht in Büchern, man vergißt es, jetzt ist’s wieder da. Könnte von Fontane sein – Stechlin vermutlich. Und das mit dem Rad, das sich von selber dreht, ist von Hemingway. Man 270
darf darauf nicht allzulange fahren, sonst wird man schwindlig. Meine vier Räder drehen sich erstens nicht von selber, und zweitens kann ich nicht aussteigen. Alles Quatsch – bloß weil der Lump in deinem Rücken Bankrott angemeldet hat! Da ist es ja, Gott sei Dank: rotes Kreuz – Dornburg. Gleich können Sie Nathalie Aug in Auge konsultieren, und dann werden Sie Ihr blaues Wunder erleben, wenn … Paß doch auf! Nicht so kurz bremsen – ging ja noch mal gut; schalt runter, bleib im dritten Gang. Wunder erleben – erst mal wird mein Freund Klaus Bode auftauchen, geschätzter Racke, und dem werd ich Sie überlassen. Träum nicht, altes Mädchen, bißchen Steuer einschlagen, Bremse antupfen – so, prima. Und nun bist du in der Kurve drin – stopp –, fast bist du drin. Gib Gas, du, kannst ja nicht runter von dem Karussell – verdammt, ich hab die Dinger nie gemocht, man sitzt in ’ner Gondel, Füße im Leeren, und plötzlich bäumt sich der Mechanismus, man rast in schiefem Winkel, und alles kehrt immer wieder dahin zurück, wo man angefangen hat. Aber man selber hat überhaupt keine Macht über Anfang und Ende. Man läßt sich rumwirbeln, Füße im Leeren, und muß abwarten, bis der Schwung der Ellipse zum Stillstand kommt. Ich mag die Dinger nicht – weder bei Hemingway noch auf dem Hamburger Dom. Ich bin ja auch weg von der Stelle, wo alles falsch zu werden begann. Fröbel. Wie der mir die ganze Petitionsaffäre von seiner Warte aus dechiffrierte. Von der Protestversammlung im Gemeindehaus angefangen bis zum Antrag, die arme Ilse auf Jahre ins Kittchen zu bringen. Und da hat der Doktor Fröbel doch wahrhaftig ne Finte angewendet, und Racke als Sprecher fiel prompt drauf rein: Privatklage gegen Frau Altmann? Nie und nimmer. Wir waren ja gegen 271
den Freispruch, Herr Rechtsanwalt, und nicht umsonst, die Person hat ihrem Mann und unserm Dorf zuviel angetan. Mord in Lemdorf! Und mutmaßlich Spionagetätigkeit dazu. Ich bin für Ordnung – jawohl, Herr Rechtsanwalt! Außerdem halte ich es mit Gesetz und Sitte … Und nun bist du ausgerutscht, Racke, nun bist du vom Rad gefallen, denn das war ja nicht im Sinne des Erfinders, daß ich die kleine Erpressung als Zubrot hinten im Etui hab. Gut, daß man immer wieder Freunde trifft. Fröbel: „Von Mann zu Mann hab ich mir den Bruder Faßbender vorgeknöpft – interessant, Frau Strömberg. Gardez! Ihre Dame ist in Gefahr. Plötzlich hörte Viktor Faßbender auf, sich seiner kleinen Schwester zu schämen. Uns allen haften bekanntlich die Eierschalen von gestern an. Er las ihr nicht länger die Leviten, sondern begriff – sagen wir: am Exempel Altmann, dessen haarsträubende Reaktionen er ja unmittelbar vor der Nase hatte. Die Emanzipation der Frau hinkt, wenn der Mann sich nicht gefälligst emanzipiert – nämlich von jahrtausendalten Vorurteilen. Hut ab, Madame! Da hilft nichts, die Partie steht Remis …“ Sie hat Angst vor ihm gehabt, Angst, mit Wollust gemischt. Kläre hatte Angst vor diesem Schubiak, Dreigroschenoper: Und da hat er mir eine ins Zahnfleisch gehaun. Pfui Deibel! Hab ich denn Angst? Vor dem? Wie du willst, süße kleine Forelle. Jetzt schieb ich meine Stoßstange an deine ran. Mit meiner Stoße bring ich dich aus der Balance, so hab ich’s mit euch Weibern stets gehalten. Na, siehste woll, da hab’n wir dich ja schon. Und nun gib ihr mal ’n paar voll aufgeblendete Lichtsignale. Nun mach mal, nun mal ’n bißchen nach rechts. Gut gemacht, Racke! Immer die Nerven behalten, is doch ’n 272
Klacks, Mann! Aufm Presseball vor Jahren trugen Sie ’s Kreuz am Hals und waren noch wer, der Frack saß Ihnen wie angegossen. Müssen wieder der Alte werden … Nicht schlecht, Forelle, nicht schlecht, Süße – dich möcht ich mal im Bett haben, was meinst du wohl, was ich mit dir anstellen würde, Hören und Sehen würde dir vergehen, aber dies is auch so ne Art Kosakenritt, daß ich schon beinahe über deinem Kreuz bin und du deinen jammervollen Untersatz nach links ziehst. Paß Achtung, Süße, deine Vorderräder schlingern. Man hat Glück und gewinnt, oder man hat Pech und verliert. Pech hab ich bis zum Gehtnichtmehr gehabt. Und nun bin ich endlich auf Jagd, du, nun bugsier ich mein linkes Vorderrad an dein rechtes Hinterrad ran. Sieht ja keiner. Wie aufm Hochstand ist’s. Die Ricke kommt näher, immer näher ins Schußfeld. Ricke? Nicht so stürmisch, kleine Forelle, zappelst ja schon, ich bitte Sie, Lady – nichts drängt uns zur Eile. Sie haben es, und das ist nun Ihr Pech, Madam, mit was Verheerendem zu tun: Streusalz, My Lady. Hoppla! Noch sind Sie doch nicht raus aus der Kurve! Und nun woll’n wir mal, wollen wir Ihnen mal sachte zu Leibe … Ich hab ja Angst, dachte Brigitte. Angst. Wie Kläre. Sie fühlte den Krampf in ihrem Brustkorb, das merkwürdige Kitzeln unterhalb ihres Zwerchfells wie vor vielen, vielen Jahren vor Beginn des Ostermarsches, vor Beginn einer unsanktionierten Demonstration im Angesichte von Ordnungshütern, die fürs erste mit ihren Schlagstöcken nur spielten, und an der Kreuzung waren Wasserwerfer aufgefahren, und als der Zug sich der Kreuzung näherte, stellten Männer mit vorsintflutlichen Helmen auf den 273
Köpfen die Wasserkanonen an, der dicke, scharfe Strahl fuhr in die Menge, wirbelte sie auseinander, und als der Zug sich doch wieder formierte, schrie einer ein Kommando, und jenseits der Kreuzung wurde man mit Tränengas empfangen. Sie mußte wohl etwas von dem Tränengas von damals in die Augen bekommen haben. Racke setzte zum Überholen an, drückte sie so weit nach rechts gegen den Abhang, daß sie den Sturz in die dunstige Tiefe über der Ortschaft Dornburg vor sich sah. Wider Erwarten blieb die Karambolage aus. Die Kurve erreichte ihren steilsten Grad. Racke wiederholte den Trick mit den scharf auf geblendeten Scheinwerfern, drehte gleichzeitig das Lenkrad scharf nach rechts. Sie schwenkte zur Fahrbahnmitte ab. Er zwängte sich rechts an ihr vorbei. Und hatte alle Hände voll zu tun, nicht selber die Außenbarriere zu durchbrechen und in den Abgrund zu kippen. Und da geschah es. Der Käfer tanzte Ballett. Sie hatte zu plötzlich die Bremse getreten, hatte zu abrupt das Steuer nach links gezogen. Und nun konnte sie nicht mehr von der fliehenden Scheibe herunter. Es war vorbei, sie wußte es. Der Wagen prallte gegen die Barriere, scherte aus, schoß wieder auf die Barriere zu. Sie konnte nur noch den Motor drosseln, merkte, wie der Gegenstoß ihren Körper nach hinten schmetterte. Und kein Halt für ihren Kopf. Nathalies Ermahnungen: Nackenstütze – Sicherheitsgurt – ihre Unbekümmertheit … Das letzte, was sie empfand: Liebe … kurzes Leben … lange Stunde … ich liebe dich, Klaus. 274
48 Racke brachte seinen BMW am Ausgang der Kurve zum Stehen. Er vergewisserte sich. Kein grauer Käfer hinter ihm, die Strecke verödet. Minuten verstrichen. Er langte ins Handschuhfach. Stieg aus. Umrundete sein Fahrzeug. Keine Beulen im Blech. Sollte ihm mal einer nachmachen! Kaltblütig mußte man sein, wenn’s drauf ankam. Auf der Innenseite der Fahrbahn eilte er hangauf, verhielt, starrte talwärts. Nebelfetzen waberten in der Tiefe, hüllten Dorf und Klinik ein, nur die Kirchturmspitze mit dem Wetterhahn war deutlich sichtbar. Er rüttelte an der Tür des Beifahrersitzes. Gott sei Dank, unverschlossen, sie gab sofort nach. Schöner Tod – eigentlich. Die Strömberg war schön in ihrem Tod. Kleine Forelle. Racke blinzelte, wischte mit dem Handrücken Schweiß und Tränen fort. Er war ja nicht schlecht, nein, schlecht war er nicht. Er hatte immer Mitleid mit der Kreatur – hinterher. Es rührte ihn immer kolossal, wenn der Hirsch zu seinen Füßen lag und er den in warmes Blut getauchten Eichenbruch empfing. Er spürte immer eine sentimentale Regung, sobald seine Angelschnur im Ruck sich straffte und er die Rolle bedienen mußte, um seine Beute einzuholen. Der Körper gewordene Silberblitz zuckte dann, er sah’s vor sich, und behutsam pflegte er das zappelnde Geschöpf vom Haken zu lösen, danach zerschmetterte er mit präzisen Schlägen sein Köpfchen. Und der Silberblitz, die Forelle, war hin. Aber ein Schlächter war er weder im Krieg noch im Frieden gewesen. Bei aller Ungleichheit der Chancen: Racke hatte den Gegner zu Fall gebracht, eiskalt nur so lange, 275
wie der lebendig gewesen war. Seinen Opfern hatte er stets Respekt gezollt. Rackes Rechte hob Brigittes Handtasche vom Vordersitz. Er durchwühlte sie. Nichts. Vorsichtig visitierte er die Rücksitze. Unter dem Mantel, den sie so oft getragen hatte, fand er das Gerät. Sah harmlos aus, das Ding, fast wie ein Spielzeug. Er ging mit äußerster Behutsamkeit zu Werke. Brigittes Stimme, seine Stimme. Spulte zurück. Hörte Stimmen: Fröbel, Altmann. Hörte Faßbender: „Landsermanieren … das Schwein …“ Hörte Karins Stimme, Rudis Stimme. Löschte. Spulte. Löschte. Und behielt doch seines Jüngsten Stimme im Ohr: „Wenn Papa nichts weiter tun konnte als sich vor Mama fürchten und klein beigeben, will ich ’n annern Vater oder überhaupt keinen.“ Karins Sätze ätzten erst seine Haut, dann prügelten sie sein Herz, preßten schließlich das zuckende Etwas, Herz genannt, zusammen: „Als ich klein war, wollte ich ihn heiraten. Nun hat er alles in mir kaputt gemacht. Alles. Ich hab ihm zugehört, wenn er von der Irreleitung der Jugend damals unter dem Naziregime erzählt hat, ich hab ’n Helden in ihm gesehen, wenn er mir’s Ritterkreuz zeigte, und hab zugeschaut, wie er sich’s umband – so probeweise zu seinem neuen Frack. Ich hab ihn bewundert, das hat er gebraucht. Dieser Waschlappen …“ Racke enthielt sich mühsam blinder Zerstörungswut, löschte bloß, legte das Etui mit dem Bandgerät an seinen Platz zurück. Der kleine Koffer daneben gab nichts her, er enthielt nichts außer Toilettengegenständen. 276
An den zerbeulten Kofferraum unter der Bughaube wagte er sich nicht heran. Er schloß die Tür, versuchte sich zu erinnern, wie er sie vorgefunden hatte. Öffnete sie wieder. Schloß sie. So, fand er, war es gewesen. Er lief zu seinem Wagen. Verbrannte die Gummihandschuhe, die er getragen hatte, pries sich glücklich, solche überhaupt zu besitzen, weil er immer darauf bedacht gewesen war, säubere, gepflegte Hände zu behalten, auch wenn unterwegs mal etwas mit dem Motor nicht stimmte und er ölverschmierte Teile anfassen mußte. Er wartete ungeduldig ab. Es stank. Die spärlichen Überreste verscharrte er. Dann stieg er ein. Zündete sich eine Zigarette an. Überlegte. Der Nebel über Dornburg begann sich zu lichten. Nebel. Bloß jetzt keinen Fehler machen! Es war zwar unwahrscheinlich, dennoch mußte er einkalkulieren, daß die LKW-Fahrer auf dem Parkplatz seinen BMW und den Käfer der Strömberg registriert hatten. Bloß jetzt die Ruhe bewahren! Spuren verwischen. Zeit verstreichen lassen. Verdachtsgründe womöglicher Zeugen ausschalten. Zum Glück begann es stärker zu nieseln. In einer halben Stunde würden alle Reifenabdrücke gelöscht sein. Trotzdem mied er Dornburg. Er wendete, wartete lange oben in der Spitzkehre, fädelte sich ein, begann mit achtzig, kam auf hundert, auf hundertzwanzig, überholte rigoros. Er legte jetzt Wert darauf, daß bedrängte PKW-Insassen den rücksichtslosen 277
Fahrer des BMW mit Nummer und allem Drum und Dran aufs Korn nahmen. Er hielt unter einer Brücke, schlug einen Haken beim Traversieren der Autobahn, rannte den Grünstreifen entlang, ereichte das Telefon, riß den Hörer ans Ohr, sandte seinen Notruf aus. Als das geschafft war, machte er unerlaubt kehrt, kurvte auf die Gegenfahrbahn, preschte erneut in Richtung Dornburg. 49 Für die meisten Arbeitnehmer ist der Montagmorgen eine Prüfung. Kommissar Weinheim gehörte nicht zu ihnen. Zwischen Fräulein Hollriegel und ihm hatte sich demzufolge ein stiller Wettbewerb entwickelt. Regine wollte auch montags als erste anlangen. Es glückte nicht immer. Heute blieb ihr Platz im Vorzimmer lange leer. Weinheim ließ die gepolsterte Tür offen, nahm sein Schlüsselbund, zog ein Aktenstück aus der mittleren Schublade seines Schreibtisches. Vertiefte sich. Von Zeit zu Zeit setzte er Striche oder Anmerkungen an den Rand der Seiten. Assistent Spengler hatte Brauchbares zusammengetragen, da fehlte last nichts – bißchen zu intuitiv vielleicht an manchen Stellen, aber so war er nun mal, der Spengler, und wie er war, so war es ihm, Weinheim, recht. Er hatte ihn nicht enttäuscht. Aus Verdachtsmomenten waren subjektive Beweise geworden, soviel war sicher. Endlich erschien Regine in seinem Blickkreis. Hinter ihr natürlich sein bärtiger Sherlock Holmes. 278
„Guten Morgen, Chef!“ „Morgen“, sagte Weinheim. „Ihr Dienst beginnt Punkt sieben Uhr dreißig.“ „Aber wir sind doch übers Wochenende in Hamburg gewesen, Chef, und in Dornburg waren wir auch. Dort sind wir erst heut früh losgekommen, und die Autobahn war total verstopft.“ „Hättet euch eben die Nacht um die Ohren schlagen sollen.“ „Haben wir ja“, erklärte Regine. „Habt ihr? Soso.“ Weinheim schmunzelte. „Sagen Sie auch mal was, Spengler! Oder will der Herr Kriminalrat in spe sich von der Kriminalpolizeianwärterin ausstechen lassen?“ „Sie war mir unentbehrlich.“ Fräulein Hollriegel schüttelte ihre Mähne, trat zutraulich näher. „Denken Sie bloß, Chef, er hat gedacht, ich bin ein schonungsbedürftiges Küken, er ist ’n bißchen begriffsstutzig, was Frauen anbetrifft.“ „Wenn Sie es sagen, Regine, muß ich’s glauben.“ „Was sagen Sie dazu, daß er mit Herrn Bode nicht zurechtkam? Er konnte mit dessen Ironie nichts anfangen.“ „Aber sie …“ „Genau, Chef.“ „Und warum?“ „Ihnen braucht man so was nicht zu dolmetschen.“ Weinheim nickte ihr zu. „Mal weiter im Text.“ „Samstag früh sind wir bei Bode eingedrungen. Jochen – ich meine: Kollege Spengler hat mich als – als Assistentin vorgestellt.“ „Ihr habt hochgestapelt.“ „Freitag abend am Telefon wollte er von Jochen – ich meine, Spengler – nichts wissen. Und dann kam ich.“ 279
Weinheim hatte Sinn für Zwischentöne. Regine hatte viel im Umgang mit ihm gelernt. Ihre Frische tat ihm wohl. Und er erkannte: Ein bißchen war sie sein Geschöpf und wollte es auch sein – dieses wog schwerer. „Ich hab Jochen in den Schatten bugsiert, buchstäblich, Chef, unter so ein Gemälde von Picasso, das hat er genau studiert, er mag Picasso.“ „Zur Sache“, drängte Weinheim. „Bode hat seine Pfeife angezündet, und als er Jochens Anwesenheit vergessen hatte, löste sich die Sperre. Er hat von Biggy zu reden angefangen.“ „Wer ist Biggy?“ „Aber das wissen Sie doch, Chef, Biggy war doch die Frau, die er liebte, diese Journalistin.“ „Aha. Die Strömberg, Vorname Brigitte, Biggy hör ich zum erstenmal.“ „Nach und nach kam heraus, wie es zwischen ihnen beiden stand. Zum Schluß hat er sich sogar bei Spengler und mir bedankt, daß Sie ihm unter Umgehung des Behördenweges die beschlagnahmten Skripten zugestellt haben. Er brauche nun keinen Nekrolog zu verfassen, hat er gesagt, Biggy solle statt dessen selber handeln – genauso sagte er. Wenn er den Nachlaß geordnet hätte, werde die Geschichte über den Bildschirm laufen. Das wäre der beste Nachruf. Dann hat er gesagt: Ihr Chef muß ein ungewöhnlicher Mann sein.“ Weinheim räusperte sich, spielte verlegen mit seiner Brille, raunzte grob: „Na, Spengler?“ „Ich hockte unter dem Picasso, beschränkte mich aufs Zuhören, hab mir vor allem gemerkt, was Bode von der Nacht nach dem Begräbnis auf dem Ohlsdorfer Friedhof berichtete. Er habe in Aufzeichnungen der Strömberg geblättert, habe schließlich einen leeren Bogen herge280
nommen, um alles mögliche daraufzukritzeln. Dann, so sagte er wörtlich, strich ich Zeile um Zeile dick durch bis auf zwei Fragen: Wer war der Zeuge? Was rechtfertigt meinen Verdacht? Damals hatte er noch keine Kenntnis von den letzten Niederschriften der Toten. Die waren ja sichergestellt worden. Und nach Wachtmeister Nölles Besuch bei Ihnen forderten bekanntlich wir sie an.“ „Der Lemdorfer Bürgermeister war Zeuge“, antwortete Weinheim. „Bliebe der Verdacht.“ „Und was ihn rechtfertigt“, ergänzte Weinheim. „Das steht doch da drin“ – Regine deutete auf Spenglers Rapport –, „alles schwarz auf weiß geschrieben.“ „Getippt, Mädchen, getippt! Sauber in sechsfacher Ausfertigung. Wie es sich gehört.“ „Ich finde“, versetzte Fräulein Hollriegel, „diesen Redakteur Bode fabelhaft, und Sie vergessen, Chef, daß wir ab Sonntag mittag mit Frau Doktor Kotter zusammen waren. Da blieb ich im Hintergrund, und …“ Sie bemerkte plötzlich Abweisung in Weinheims Miene, vernahm die Kälte in seiner Stimme. „Wir behandeln einen Fall, Fräulein Hollriegel, uns geht es um Aufklärung – um gar nichts weiter. Wir halten uns dabei an Vorschriften. Ihr Fürwitz in Ehren …“ Regine begehrte auf: „Ich bin nicht fürwitzig, ich bin aber auch nicht neutral, und Sie, Chef, müssen nun unbedingt selber noch nach Lemdorf fahren.“ Sie wurde rot, als sie ihr Ansinnen heraus hatte. Sie war auf einen Wutausbruch gefaßt, doch der erfolgte nicht. Weinheim starrte auf seine Hände, die Handflächen lagen auf der Akte mit dem Aufdruck Fall Racke, in diesem Augenblick geschah es, daß er eine Entscheidung traf wie in seinen besten Jahren. Er vergaß seine Leber. 281
„Also gut“, sagte er, „bestellen Sie Zimmer – wie heißt das Hotel, in dem die Strömberg wohnte?“ „Deutscher Kaiser“, erwiderte Spengler. „Bestellen Sie für morgen drei Einzelzimmer, Regine …“ „Chef!“ „Sie kommen mit als Protokollantin. Und, Regine, melden Sie mich beim Herrn Oberkriminalrat an. Sonst noch was?“ „Die Kotter“, murmelte Spengler. „Hat Zeit bis später. Bin zufrieden mit Ihnen, Herr …“ Er pausierte, betrachtete seinen Assistenten, setzte launig fort: „Hoffentlich-bald-Kommissar.“ Fräulein Hollriegel vergaß, den Kopf wie sonst in den Nacken zu werfen, als sie mit einer ungewöhnlich langsamen Kehrtwendung den Raum verließ. 50 Weinheim hatte auf seinen Fahrer verzichtet, ließ Regine rechts von sich im Fond sitzen, mahnte – gegen seine Gewohnheit – Spengler wiederholt zur Vorsicht. Man dürfe vom Schicksal nicht zuviel verlangen, sagte er, und eigentlich gehöre er zur Kur nach Karlsbad, nur da wolle er hin. Schon der alte Goethe und schließlich auch Karl Marx hätten sich dort aufmöbeln lassen. Es wurde fast zum Erlebnis, Weinheim beim Betreten des Hotels zu beobachten. Alle dienstbaren Geister vom Boy aufwärts erkannten seine Autorität sofort an. Er begab sich zur Rezeption, streckte die Hand nach dem Meldeblock aus, fragte Kröger, der heute früher Dienst machte: „Sie heißen Kröger, irre ich?“ „Ich bin Kröger – sehr wohl.“ 282
„Es mögen sechzig Jahre vergangen sein …“ „Zweiundsechzig“, erwiderte Kröger prompt, „ich war vierzehn, als ich hier anfing, vierzig, als ich zurückkam aus der weiten Welt, demnächst werde ich sechsundsiebenzig, Herr Kommissar.“ Der Chef spürte Individualität. Sie nötigte ihm Achtung ab. Etwas lag in der Luft. Er roch es. Schwungvoll setzt er zu seiner Unterschrift an. „Ich halte dies hier für wichtig, leider ist es üblich geworden, solche Formulare geringzuschätzen.“ „Sie sprechen mir aus der Seele“, stimmte Kröger bei, legte drei Schlüssel auf den Tresen, übersah Weinheims Gefolge, fügte hinzu: „Unsereins erlebt die Verworrenheit menschlicher Beziehungen, und nicht zu knapp, man sollte dem Tatbestand Rechnung tragen.“ „Ganz Ihrer Meinung“, versetzte Weinheim, „grundsätzlich sollte man immer überlegen, was der Mensch ist.“ „Völlig richtig, Herr Kommissar. Gestatten Sie mir zu ergänzen: was er war und, besser noch, was er verbirgt oder verbergen zu müssen glaubt.“ „Ist, ist, Herr Kröger“, beharrte Weinheim. Kröger antwortete: „Sie sind mir über.“ Er verbeugte sich. „Ich ziehe gern den kürzeren.“ „Das würde ich denn doch sehr bedauern, in puncto Menschenkenntnis besitzen Sie zweifellos vielschichtige Erfahrung. Wir werden uns erst mal frisch machen, dann möchten wir essen. Morgen ist auch noch ein Tag. Wie hieß doch gleich der Oberkellner?“ „Schranz, Herr Kommissar.“ „Teilen Sie Herrn Schranz bitte mit, er möchte drei Gedecke auflegen lassen. Unsere Zimmer sind doch geheizt? Drei Gedecke, Herr Kröger, wenn möglich in der Honoratiorenecke unter der Hängelampe.“ 283
Spengler verschlug es den Atem. Er hätte wissen müssen, daß dem Chef in großen Augenblicken – dies war ein großer Augenblick – immer noch die Originalität des Kriminalisten alter Schule anhaftete. Aber das war’s nicht allein. Der Chef schien seiner Sache sicher. Ob er insgeheim die neue elektronische Anlage, den Computer im Keller des Landeskriminalamtes zu Rate gezogen hatte? Gab er nur vor, von den modernen Methoden der Kriminalistik nichts zu halten? „Habe verstanden“, hörte er Kröger sagen. „Und morgen dann …“ Weinheim verhielt, fragte: „Die Unschuld ist doch weiß, oder irre ich?“ „Wie Arsenik“, parierte Kröger. Weinheim hob die Augenbrauen, spitzte die Lippen, stieß einen Pfiff aus. „Morgen früh“, sagte er nebenhin, „wird sich Kriminalassistent Spengler noch einmal ins Vorzimmer des Bürgermeisters von Lemdorf verfügen.“ „D’accord, Herr Kommissar.“ Weinheim hakte Regine unter, wandte sich zurück: „Sagen wir in einer Viertelstunde – Souper mit allen Finessen in der Nische, die von der verstorbenen Frau Strömberg zweimal beschrieben wurde, Sie Philosoph.“ Diesmal schaute sogar Kröger verdutzt. 51 Für die Begegnung mit Racke hatte Strothmann einen seiner Privaträume zur Verfügung gestellt. Er lag hinter dem Büro, war aber nur von einem engen Korridor aus zugänglich. Weinheim saß beim Fenster unter der Balkendecke, neben ihm saß Fräulein Hollriegel auf einem Hocker, den Stenoblock auf den Knien. 284
Spengler ließ Racke mit zuvorkommender Geste an sich vorüber. Weinheim erwiderte Rackes Gruß freundlich, ohne sich zu erheben, wofür er sich gleich entschuldigte. „Aller Umstand, Herr Bürgermeister, verursacht mir Beschwer, ich bin nicht mehr der Jüngste, bitte nehmen Sie Platz.“ Als Racke in das ungefüge Möbel von Ledersessel sank, verzeichnete er seinen ersten schwerwiegenden Fehler: Er hatte sich ins Licht lotsen lassen. Zwischen grünen Tapeten blieben die Gesichter der anderen undeutlich. „Wir sind Ihnen dankbar“, begann Weinheim, „daß Sie unserer Einladung gefolgt sind.“ „Einladung?“ fragte Racke. „Zuallererst“, fuhr Weinheim verbindlich fort, „möchte ich Sie zu Ihrer Frau Gemahlin beglückwünschen. Liebenswürdigerweise kredenzte sie mir gestern Kaffee – nicht zu stark, nicht zu schwach –, gerade richtig für meine Leber. Ich kranke an diesem Entgiftungsorgan. Eine Zirrhose sei es zwar nicht, sagen meine Ärzte, doch sprechen Sie von einer chronischen Hepatitis und drücken sich mit vielen unverständlichen Bonmots an dem Eingeständnis vorbei, daß sie die Hepatitis nicht unter Kontrolle bekommen. Ich bin der Augur, sie merken’s natürlich nie, ich pflege ehrfürchtig ihrem Schmus zu lauschen. Wir schleppen alle unser Päckchen Vergangenheit durch Tage und Jahre.“ Schwätzer, dachte Racke, verkalkt. „Ihre Gattin redete mir von einem Brief, der ihr durch einen unglücklichen Zufall in die Hände geriet. Sie empfand den Inhalt als schmachvoll, was Sie ihr nicht übelnehmen dürfen.“ „Brief?“ fragte Racke. Er legte leger ein Bein über das andere. „Darf man rauchen?“ 285
„Aber selbstverständlich – bitte, Spengler!“ Spenglers Feuerzeug klickte. Racke blies ihm Zigarettenqualm zwischen die Augen. „Ach – jetzt fällt mir ein, auf welchen Brief Sie anspielen, Herr Kommissar. Dumme Geschichte. Nie vorher hat meine Sekretärin, ja, ich möchte sagen, dermaßen taktlos, um nicht zu sagen kopflos, reagiert.“ Er gruppierte seine Knie um. Mimte nicht nur Selbstsicherheit. War seiner Sache so sicher, daß er den Eindruck eines entspannten machte. „Ich bin da etwas skeptisch“, äußerte Weinheim gemütlich, „deshalb schlage ich vor, um Mißverständnisse von vornherein auszuschalten, Sie erklären uns kurz den Sachverhalt.“ „Da gibt es nicht viel zu erklären“, erwiderte Racke, „ich brauche Sie doch nicht einzuweihen, Herr Kommissar. Was Sie erfahren wollten, haben Sie längst erfahren dank Ihres zu allen Hoffnungen berechtigenden Adlatus“ – er nickte flüchtig in Spenglers Richtung –, „der hat ja hinterhältig genug eure Beobachtungssysteme verfeinert. Wollte viel rausbringen und geriet in ein heilloses Laborstadium. Später pflegt dann kein System mehr zu funktionieren.“ „Mein lieber Spengler“, sagte Weinheim, „seit einer Minute sehe ich Sie ratlos.“ „Tarnung, Chef“, antwortete Spengler. „Fahren Sie einstweilen fort, Herr Bürgermeister, und bleiben Sie in den Bereichen Ihrer Zuständigkeit.“ „Später“, sagte Racke, „existiert kein noch so ausgeklügeltes System mehr, das die Gefahr ausschlösse, daß alle Ergebnisse falsch sind, weil man eben nie sicher weiß, ob man sich am Ende nur noch den Echos der eigenen Apparatur gegenübersieht.“ 286
„Ein kluger Satz – Glückwunsch, Herr Racke! Aber mal zurück zu dem vertrackten Brief.“ „Nachdem einige Zeit verstrichen war – nach dem bedauerlichen Unfall, Sie verstehen, Herr Kommissar –, bat ich Frau Doktor Kotter schriftlich um einen Termin.“ Racke fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Das schreckliche Ereignis … Frau Strömberg nahm mich ja mit, ich durfte sie begleiten, weil ich sie gebeten hatte, mir ein Gespräch mit Frau Oberärztin Kotter zu vermitteln …“ „Am dreiundzwanzigsten Dezember des Vorjahrs …“ „Ja, Herr Kommissar, unmittelbar vor Weihnachten haben unsere vielbeschäftigten Fachärzte Muße für individuelle Nöte. Bitte um Vergebung, Herr Kommissar, die Bilder übermannen mich.“ „Sie können sich gut ausdrücken“, sagte Weinheim, „verständlich, alles ist durchaus verständlich. Gestatten Sie mir einen Einwand?“ „Aber mit dem größten Vergnügen.“ „Sie nahmen sich abermals Muße …“ „Muße?“ „Wollen Sie leugnen, daß Sie nach der Katastrophe aufs Nächstliegende nicht kamen? Ich mach es Ihnen nicht zum Vorwurf, denn wie sollten Sie! Sie waren selber arg mitgenommen …“ „Genau, Herr Kommissar, genauso verhielt es sich.“ „Sie halten Ihre Gattin für nervenkrank?“ „Es fällt mir schwer …“ „Selbstredend, Herr Bürgermeister. Hielten Sie die Frau Gemahlin noch für normal, als sie – ja, wie soll ich als Experte formulieren – gegen die Altmann hetzte?“ „In meinem Beruf kann man sich um Lappalien nicht kümmern.“ 287
„Und wenn die Lappalien Folgen zeitigen – sagen wir: Todesurteile?“ „So nicht, Herr Kommissar, gegen derlei Infamien verwahre ich mich entschieden. Ich räume ein, daß ich mich von meiner Frau über Gebühr habe beeinflussen lassen. Und dann brach da auf einmal ihr schizophrener Haß auf.“ „Die Möglichkeiten der Schizophrenie in der modernen Gesellschaft sind unbegrenzt, Herr Bürgermeister, das ist binsenwahr.“ „Nicht Sie, Herr Kommissar, denn Sie waren ja voriges Jahr im September mit dem Fall Altmann befaßt, sondern Frau Strömberg …“ „Darf ich Ihr Argument dahin auslegen, daß Ihnen Frau Strömberg erst so richtig vor Augen geführt hat, in welche Klemme Sie geraten waren?“ Racke bestätigte das schnell. Regine stenografierte. Spengler machte sich unter Strothmanns Stehpult zu schaffen. Racke sagte: „Frau Strömberg hat mich bezaubert.“ Er setzte hinzu: „Und so bin ich ihr gefolgt.“ „Sie sind ihr gefolgt?“ fragte Weinheim. „Ich konnte mich Frau Strömbergs Darlegungen nicht verschließen.“ „Wohin sind Sie ihr gefolgt?“ „Ich war wie besessen von dem Drang, ein abgebrochenes Gespräch fortzusetzen. Frau Strömberg hatte sich einverstanden erklärt, mich nach Dornburg mitzunehmen – das heißt, sie war spontan bereit, mich mit Frau Doktor Kotter bekannt zu machen. Der Zustand meiner Frau …“ „Das muß wirklich schlimm für Sie gewesen sein, man bezweifelt ja bis zuletzt, daß der Gefährte vieler Jahre verrückt sein könnte, zumal Ihnen Ihre Gattin drei 288
wohlgeratene Kinder geboren hat. Und nun wollen wir mal zum eigentlichen Thema vordringen.“ „Thema?“ fragte Racke. „Ja, sehen Sie“, sagte Weinheim, „mit jedem Punkt Ihrer Begründung kann man sich eine Weile beschäftigen, aber es gibt doch auch noch andere Modalitäten. Ich habe mich bei Ihrer Frau Gemahlin erkundigt, ob sie das Epitheton ornans Kommunistenhure auch in bezug auf Frau Strömberg verwendet haben würde, den Fall gesetzt, Frau Strömberg wäre ortsansässig geworden. Die Antwort erfolgte stracks. Ja, freilich, wenn sie von drüben zugezogen wär und sich so schamlos benommen hätt wie die Altmann und den Leuten Sand in die Augen gestreut hätte von wegen LPG-Mitglied, was ja nichts anderes bedeutet als Landarbeiterin unter der Fuchtel von SEDFunktionären. Die Rede ging hin und her. Wissen Sie, was ich im Verlauf der Kaffeestunde entdeckte?“ Weinheim schnitt Racke kurzerhand das Wort ab. „Ihre Gattin ist absolut klaren Geistes, es sei denn, Sie, mein Bester, plädierten dafür, eine stattliche Anzahl konservativchristlicher – kann man als Christ eigentlich konservativ bleiben? – Bundesbürger von den mittleren Jahrgängen an aufwärts als Paranoiker ins Klinikum Dornburg einzuweisen. Sie haben einen deftigen Schnitzer begangen.“ „Wie bitte?“ „Der ominöse Brief, Herr Racke. So was läßt man doch nicht rumliegen.“ „Beim besten Willen, Herr Kommissar …“ „Spengler!“ „Ja, Chef?“ „Helfen Sie dem Herrn Bürgermeister auf die Sprünge. Offenbar hat er vergessen, wann er die Epistel verfaßte und wo er sie guten Glaubens liegenließ.“ 289
„Fräulein Kläre Faßbender brachte das adressierte Kuvert nach einem meiner Besuche bei ihr abends bei Rackes vorbei. Sie handelte damit gegen jede Gewohnheit. Der Umschlag war nicht zugeklebt, weil die Unterschrift fehlte.“ „Danke, Spengler“, sagte Weinheim. „Ich bin nur Amateurpsychologe, Herr Racke, aber ich kann die Empörung der Gattin nachfühlen. Sie ging mit ihr durch, die Empörung. Trotzdem hat sie sich vor Sie gestellt. Warum wohl, Herr Bürgermeister?“ Racke parierte geschickt: „Sie äußerten vorhin selber, Herr Kommissar, daß Lisbeth mir drei Kinder gebar, lange Ehejahre verbinden.“ „So sollte es sein“, erwiderte Weinheim, „aber vielleicht …“ Er reckte sich in seinem Stuhl. „Vielleicht“, sagte er, „tat sie’s aus schierer Verzweiflung, es geht nun wohl nicht mehr bloß um ihren guten Ruf – irre ich?“ Spenglers Mund war trocken. Regine kritzelte Chiffren. Er blickte hinunter auf ihre blonde Mähne. Regine, den Block auf den Knien, setzte den Stift ab. Sie war ganz Ohr. Sie rührte sich nicht. „Sehen Sie“, fuhr der Chef gemütlich fort, „ich könnte ja jetzt unsere Unterhaltung abbrechen. Spengler?“ „Herr Kommissar?“ „Ohne Umschweife, wenn ich bitten darf: Was sagte Herrn Rackes Sekretärin bei Ihrem ersten Gespräch, bei dem von Anbeginn alles auf Überraschung hinauslief?“ Spengler besann sich kurz. „Er hat die Falsche erwischt, sagte sie. Sagten Sie er? fragte ich. Es, sagte sie, es hat die Falsche erwischt.“ „Und danach?“ „Packte sie aus, Chef.“ 290
„Danke, Spengler. Regine?“ „Ja, Chef?“ „Packen Sie nun auch mal aus – zu Ihrer Orientierung, Herr Racke: Während ich bei Ihrer Gattin Kaffee trank, hat Fräulein Hollriegel Dorflehrer Sörensen und ein paar Schulkinder einvernommen, darunter …“ Regine begriff seine stumme Aufforderung. Sie vollendete: „Rudi Racke.“ „Fräulein Hollriegel hat eine nette Art, mit Kindern umzugehen. Außerdem mögen sich unsere kleinen Wichte an die Strömberg erinnert haben. Sörensen hingegen tut seinen Dienst – nun, Fräulein Hollriegel?“ „Wie ein Schlafwandler, Chef, etwas in ihm ist zu Bruch gegangen. Er leidet, er kann nicht mehr, er wirkt wie ausgelöscht.“ „Ich lege Verwahrung ein“, schrie Racke, „ich bin unbescholten, habe mehr als meine Pflicht getan, und da kommen Sie daher und legen mir Schlingen, Sie werden sich verantworten müssen!“ „Aber, aber, Herr Bürgermeister – bitte sich doch zu beruhigen! Wer außer Ihnen dürfte denn seiner selbst so Sicher sein.“ In Weinheims Augen wetterleuchtete es, als er in seinem gewöhnlichen Tonfall fragte: „Teilen Sie meine Auffassung, daß die Batterie nicht geladen war?“ Racke holte erleichtert sein Zigarettenpäckchen hervor, benutzte diesmal sein eigenes Feuerzeug zum Anzünden und beging seinen zweiten Fehler. „Ganz bestimmt ist sie leer gewesen …“ „Welche?“ Und nun beging er den dritten Fehler. „Die vom Tonbandgerät natürlich.“ „Ach“, sagte Weinheim, „interessant, daß Sie uns darauf bringen. Ich dachte eigentlich an die VW-Batterie …“ 291
„Lachhaft!“ „Spengler“, befahl Weinheim, „holen Sie Schranz herein.“ 52 Schranz kam. Weinheim fragte: „Was haben Sie damals wirklich mit angehört, Herr Schranz, überlegen Sie ruhig, wir haben keine Eile, es war nicht viel – oder irre ich?“ „Es war wenig“, gestand Schranz. „Sie sind ja der Pfeiler des Hauses und immer dann zugegen, wenn Betrieb ist. Wann haben Sie Frau Strömberg am Honoratiorentisch bedient?“ „Das erste Mal“, erwiderte Schranz, „saß Frau Strömberg hier mit Herrn Rechtsanwalt und Notar Doktor Fröbel beim Schach, beide Herrschaften tranken Rotwein.“ „Darüber jetzt bitte keine Einzelheiten.“ „Das zweite Mal soupierte Frau Strömberg hier mit Herrn Faßbender und Herrn Altmann – es kann auch umgekehrt gewesen sein, ich entsinne mich nicht mehr genau der Reihenfolge.“ „Es war umgekehrt, leider …“ „Beim drittenmal war Frau Strömberg unseres Herrn Strothmann persönlicher Gast. Es war nicht vorgesehen, daß Herr Bürgermeister im Séparée neben ihr Platz nahm.“ „Ich bin gegen jede Form von Beeinflussung“, half Weinheim dem Oberkellner über seine Verlegenheit hinweg, „es liegt ganz in Ihrem Ermessen, ob Sie reden oder schweigen wollen. Genügt Ihnen das?“ „Jawohl, Herr Kommissar.“ 292
„Wir sind uns einig, Herr Schranz, wir reden von Frau Strömbergs letztem Auftreten. Kurz vor Weihnachten …“ „Richtig, Herr Kommissar. Frau Strömberg und Lehrer Sörensen speisten zusammen.“ „Möchten Sie uns nun den Satz ihres letzten Auftretens wiederholen, von dem Sie meinen, Sie hätten ihn bestimmt gehört?“ „Gewiß, Herr Kommissar, gern.“ „Also bitte – bloß diesen Satz.“ „Frau Strömberg sagte: Hoffentlich hat mein Bandgerät auch diesmal funktioniert.“ „Noch eine Randfrage, Herr Schranz. Männer in Ihrer Position pflegen sich nicht nur in Physiognomien gut auszukennen. Halten Sie es für möglich, daß Frau Strömberg eventuell versäumte, die Batterie rechtzeitig aufzuladen?“ Schranz bedachte sich kurz. „Ausgeschlossen, Herr Kommissar.“ „Und warum?“ „Frau Strömberg war viel zu gewissenhaft, um so etwas zu vergessen.“ „Vielen Dank, Herr Schranz“, sagte Weinheim, „das ist genau das, worauf es uns ankommt.“ 53 Bevor der naseweise Trottel von Portier erschien, schwafelten die über seinen Kopf hinweg, als wäre er überhaupt nicht vorhanden. Racke zitterte vor Empörung – natürlich nur vor Empörung. Ein paar ekelhaft kalte Schweißtropfen rieselten zwischen seinen Schulterblättern das Rückgrat herunter. Seltsamer Nervenkitzel. 293
Lange nicht mehr empfunden – wie Käferbeine spürte er’s von Wirbel zu Wirbel. Die drei spielten einander Bälle zu. Netter Käfer – die Kleine. Und schlagfertig. So etwas hätte man als Sekretärin haben müssen. Racke leckte sich die Lippen und schmeckte Salz. Bleib ruhig, Racke, die haben das von langer Hand vorbereitet, um dich weichzuklopfen. Bleib ganz ruhig, Junge, belangen kannst du sie hinterher. Hör ruhig zu, hör – verdammt noch mal – ihren Kohl an. Rühr dich nicht. „Was sagte Doktor Fröbel, Spengler?“ „Generell erklärte er, daß Anwälte von ihren Mandanten leben müssen.“ „Akzeptabler Standpunkt.“ „Dessenungeachtet wies Doktor Fröbel, eine Tatsache, die ich als bekannt voraussetzen darf, die Vertretung der Gemeinde Lemdorf im Prozeß contra Frau Ilse Altmann zurück.“ Racke zog sein Taschentuch aus der Brusttasche. Er betupfte vorsichtig Stirn und Mund, schneuzte sich vernehmlich. „Fröbel mußte sich durchsetzen gegen seinen Bürovorsteher, der hält die Kanzlei im Schwange oder Schwung, wie Sie wollen, Chef.“ „Zur Sache, mein Lieber.“ „Jetzt ist Altmann Fröbels Klient geworden in der Sache gegen Lemdorf.“ „Lemdorf?“ „Wenn Sie so direkt fragen, Chef …“ „Ich erlaube mir, Assistent Spengler.“ „Doktor Fröbel will einen Prozeß anstrengen – den wär er dem Andenken seines Vaters schuldig, sagte er. 294
Mal ungeachtet der marktpolitischen Abhängigkeit, einen Prozeß …“ „Du hast den Faden verloren“, stellte das langmähnige Mädchen sachlich fest. „Kann passieren.“ „Ich möchte so einen versierten Advokaten, den ich mal selber verpflichten wollte, nicht auf der Gegenseite haben. Der weiß ja genau Bescheid“, sagte Weinheim und nickte betulich. „Der gibt sich nicht mit Halbheiten zufrieden, der schürft tiefer nach. Zum Schluß hält er dann sein Plädoyer. Und dann ist’s zu spät. Von einem bestimmten Zeitpunkt ab kann man Schweinereien nicht mehr rückgängig machen. Die Perfidie mit dem Grundstück …“ In diesem Moment – man hatte sein Anklopfen überhört – trat Kröger ein. 54 „Ah, guten Tag, mein lieber Herr Kröger“, begann Weinheim, „schildern Sie uns doch mal die Strömberg …“ „Frau Strömberg.“ „Pardon, das war eben ein Fauxpas von mir.“ „Frau Strömberg bat mich in ihrer letzten Nacht hier unter diesem Dach, das Klinikum Dornburg anzurufen, so mit Vorwahl und Hauptnummer. Danach mußte ich der Dornburger Zentrale die Nebenanschlußnummer durchsagen. Frau Strömberg legte keinen Wert darauf, das Telefonat vom Zimmer aus zu führen wie sonst …“ „Wie sonst?“ hakte Weinheim ein. „Großenteils pflegte Frau Strömberg von ihrem Nachttisch oder Bett aus mit Hamburg zu sprechen.“ 295
„Mit Hamburg“, wiederholte Weinheim. „Ich sag Ihnen bestimmt nicht Neues, Herr Kommissar, dort wohnte – vielmehr, dort wohnt ihr Freund, der Redakteur.“ Weinheim erwiderte nichts. Sein Profil, fand Regine, war nur schärfer geworden, wie mit jenen sicheren Pinselstrichen gezogen, wodurch gemalte Porträts jeder noch so guten Fotografie unendlich weit überlegen waren. „Die Verbindung kam verhältnismäßig rasch zustande, ich reichte Frau Strömberg den Hörer.“ „Textwiedergabe bitte möglichst präzis.“ Kröger memorierte. Lange. Wieder das Käfergekrabbel die Wirbelsäule runter. Racke setzte sich tiefer zurück. Es nützte nichts, daß er sich gegen die Polsterung preßte. Käfergekrabbel. Kalter Schweiß. Tropfen um Tropfen Kröger repetierte: „Hallo, Nathalie! Bist du da? Hab ich dich im Schlaf gestört? Tut mir leid, du, aber ich hab nun die Lösung, den Schlußstein – hörst du mich? Den Schlußstein! Sag Klaus, ich hab’s geschafft! Ich kann Klaus heut nacht schlecht erreichen, er hat ja Dienst. Ich hab alles beisammen …“ „Moment, Herr Kröger, es kommt auf jede Silbe an.“ „Weiß ich, Herr Kommissar, weiß ich. Die Strippen gerieten durcheinander.“ „Wie bitte?“ „Frau Strömberg merkte zunächst gar nichts davon. Wenn man den Schlußstein beziehungsweise die Ratte endlich in der Falle hat, schert man sich den Teufel um ne unterbrochene Leitung. Ich bot Frau Strömberg an, sofort zu reklamieren. Immerhin hatte Frau Strömberg den Bürgermeister von Lemdorf geschnappt. Herr Bürgermeister Racke hatte nämlich versucht, Frau Strömberg zu bestechen …“ 296
„Wohl wahnsinnig geworden!“ Weinheim hob die Hand. „Herr Kröger hat das Wort, ich leite die Diskussion, Sie als Parlamentarier, Herr Bürgermeister, werden diese disziplinarische Maßnahme doch wohl akzeptieren. Herr Kröger! Sind Sie bereit, Ihre Aussagen zu beeiden?“ „Bin ich, Herr Kommissar, jederzeit, aber ich war noch nicht ganz fertig. Frau Strömberg sagte: Ich muß Sie noch mal um Auskunft bitten …“ Racke hatte nicht mehr hingehört. Und damit beging er seinen vierten Fehler. „Was für eine hirnverbrannte Quasselei!“ rief er. „Da kann man sich ja nicht wundern, wenn die Polizei auf allen Fronten nur Schlappen verpaßt kriegt.“ „Schlappen?“ fragte Weinheim. Racke lachte geringschätzig. Wenn er jetzt mit Bankräubern aufwartet, dachte Spengler, mit Geiselnahmen oder ungesühnten Gewaltverbrechen – Himmelherrgott noch mal, ich schlag ihm die Zähne ein. „Ich würde mich an Ihrer Stelle schwer hüten“, sagte Racke, „dem Rat der Gemeinde Lemdorf Korruption anzulasten, nur weil der den ersten Bungalow innerhalb der Gemarkung einer Frau errichten wollte, die für Aufklärung war und sich mithin ums Dorf verdient machte.“ „Ein Versuchsballon – dieser erste Bungalow, der Not gehorchend – oder?“ „Herr Kröger wurde um Auskünfte gebeten …“ „Ja, Regine, Kröger und ich haben uns Jahre hindurch abgemüht …“ Weinheim brach ab. Setzte neu an: „Manchen Leuten haben wir vielleicht zuviel Zeit gelassen. Spengler!“ „Ja, Chef?“ „Bis nachher, lieber Kröger, wir brauchen Sie noch.“ 297
Spengler geleitete Kröger bis zur Tür, machte einen regelrechten Bückling, fand Fräulein Hollriegel, drückte die Klinke ins Schloß. „Vielen Dank für Ihren Hinweis, Herr Racke, bisher ahnten wir nicht, worum es in Ihrer Debatte mit Frau Strömberg letztlich doch auch ging.“ Weinheim streckte seine linke Hand aus. Regine legte den dickleibigen Schnellhefter hinein. Weinheim blätterte umständlich, begann zu lesen: „Racke forderte von mir die Herausgabe …“ Es war eine Finte. „Meine Brille taugt auch nicht mehr, tja, wenn man alt wird – Spengler?“ „Ja, Chef?“ „Machen Sie mal weiter.“ Spengler beugte sich über Weinheims Schulter, las stockend, was gar nicht dastand: „… Herausgabe sämtlichen belastenden Materials …“ „Verleumdung!“ Racke war aufgesprungen. „Lüge!“ brüllte er. „Infamie!“ „Warum ereifern Sie sich denn so?“ fragte Weinheim gelassen. „Ihre Kunststücke …“ „Hören Sie mal, Bürgermeister, wir machen hier keine Fisimatenten, wir überprüfen – absolut sachlich, kapiert? Wer hat gelogen?“ 55 Racke klappte in dem Sessel wie ein Taschenmesser zusammen. Seine Knie ragten vor ihm auf. Durch sie hindurch verschoß er zornige Blicke. „Sie treiben Schindluder mit der mir teuren Verstorbenen. Was bezwecken Sie eigentlich mit Ihren Schändlichkeiten?“ 298
„Ich will Sie überführen, Racke, es ist mein Beruf, Totschlägern ihre Untaten zu beweisen. Sie stecken fest, Racke.“ Racke entzündete mit fahrigen Fingern eine neue Zigarette. „Ihre Unfähigkeit stinkt gen Himmel, mein Herr Kommissar. Sie können sich drauf verlassen: Ich werde dies, ohne zu zögern, Ihrer vorgesetzten Dienststelle mitteilen.“ „Bleib an deinem Platz“, wies Weinheim Spengler zurecht, „Geduld gehört zu den obersten Tugenden des Kriminalisten. Frauen kommen eher damit klar als Männer, brauchst nur Kollegin Hollriegel zu betrachten. Sie rühren, Racke, an ein heißes Eisen“, fuhr er unbeirrt fort. „Die Polizeiarbeit verlangt höchste Intelligenz, stellt außerordentliche physische, psychische und moralische Anforderungen an den einzelnen Beamten und bietet ihm innerhalb der vom Konsumterror beherrschten Gesellschaft – wenig. Unsere Nachwuchssorgen sind demzufolge nicht gering. Trotzdem gibt es immer wieder Bewerber wie zum Exempel Spengler. Aber der gehört ja bereits zu uns. Hier, Fräulein Hollriegel – nun ja, sie lenkt uns mitten hinein ins Herz des Problems. Ihrem Antrag wurde inzwischen stattgegeben. Die Lemdorfer Affären führten ihn herbei. Wollen Sie sich zu diesem Tatbestand äußern, Racke?“ „Mir doch scheißegal …“ „Halten Sie’s fest, Regine, dem Abgeordneten Alfons Racke bedeutet die Polizei ein notwendiges Übel, obgleich er ganz bestimmt nach der Polizei schreien würde, sobald er sich selber bedroht fühlen müßte.“ „Sie lassen sich bloß von Ihren Vorbehalten leiten. Dabei können Sie bei all Ihrer Dreistigkeit gar keinen Haftbefehl gegen mich erwirken …“ 299
„Richtig, Racke.“ „Nennen Sie mich gefälligst nicht Racke! Ich verbitte mir das!“ „In Ordnung, Hauptmann Racke …“ „Bürgermeister …“ „Obersturmführer Racke – ich muß zu meiner Schande gestehen, in den Dienstgraden der Waffen-SS kannte ich mich nie so richtig aus. Ich sehe jetzt ein, ich hab mich zuwenig drum gekümmert. Ich war dazumal – zwangsläufig – in Ruhestand versetzt. Und hatte meine liebe Not, meine inzwischen verstorbene Frau und mich leidlich durchzubringen.“ Regine wandte den Kopf. Spengler holte tief Luft. „Chef“, flüsterte Regine. „Aha“, sagte Racke, „daher weht der Wind …“ „Richtig, Racke, auch daher weht er, aber es braucht uns hier nicht zu kümmern der ohnedies vorhandenen Indizien halber. Kröger ist ein sehr alter Mann. Wenn ich mich in Ihrer Position befände, würde ich sagen: Cerebralsklerose. Das müßte ja ein miserabler Strafverteidiger sein, der bei diesem Hauptzeugen der Anklage den Paragraphen einundfünfzig außer Betracht ließe. Zugegeben, Racke, Ihre Konstellationen sind denkbar günstig. Sie haben sich nach allen Seiten hin abgeschirmt. Darf ich trotzdem resümieren?“ Racke streckte seine Beine erst nach links, dann nach rechts. Zum Schluß blieb ihm nichts anderes übrig, als die Knie erneut anzuziehen und die ursprüngliche Lage wiederherzustellen. „Ich bitte darum“, sagte er. Weinheim begann die Vorgänge auf der toten Abfahrt nach Dornburg so minutiös zu schildern, als ob er dabeigewesen wäre. 300
„Das ist unsere Version, Herr Racke“, schloß er endlich ab. „Na und?“ „Sie sagen, Na und und ahnen gar nicht, was Sie damit sagen. Der Apparat, gleichgültig wie viel oder wie wenig Sie von ihm halten, funktioniert nämlich einigermaßen. Ich darf den geschicktesten Kriminaltechniker im Präsidium zu meinen besten Freunden zählen, was nicht bedeutet, daß er mir zum Munde redet. Im Gegenteil. Soll ich Ihnen mal etwas verraten?“ „Ja, bitte – ich bin ganz Ohr.“ „Sie sind Brigitte Strömbergs Mörder, und das muß man Ihnen ja zuerkennen: Sie haben in einem Akt von seelischer Notwehr oder aus Prestigegründen, was in unserer Karrieregesellschaft häufig auf dasselbe hinausläuft, den vielzitierten perfekten Mord begangen. Spengler?“ „Ja, Chef?“ „Was meinte Frau Doktor Kotter zu Rackes Version, Frau Strömberg habe Racke eingeladen, sie zu begleiten, um mit ihr als Fürsprecherin fachärztlichen Rat einzuholen im Hinblick auf Rackes Frau?“ „Sie hielt das für ausgeschlossen.“ „Ganz und gar?“ „Jawohl, Chef, ganz und gar für ausgeschlossen.“ „Und nun zurück zu den kriminaltechnischen Ermittlungen. Reifenabdrücke waren nicht mehr vorhanden infolge Nieselregens. Ich kann Sie beruhigen, Racke, Lackbestandteile des VW konnten auch nicht nachgewiesen werden an Ihren Kotflügeln. Aber unterschätzen Sie meine Kollegen nicht! Das Ergebnis war besser als von mir erwartet. Erstens gab es Gummireste Ihrer Reifen an Stellen, wo sie nicht hingehörten auf dem Pflaster der Dornburger toten Abfahrt, zweitens – Ihre vordere 301
Stoßstange, Racke, sehr verdächtig! Sicher haben Sie die Männer des Spurensicherungsdienstes unterschätzt …“ Racke schüttelte den Kopf. Bevor er antworten konnte, sagte Weinheim: „Ja, ja, Racke – so ein kriminaltechnisches Laboratorium hat es in sich, Sie bekommen Ihren BMW in einwandfreiem Zustand wieder, aber dann bleibt ja immer noch das Tonband …“ 56 Grabesstille herrschte in Strothmanns Refugium mit den nachgedunkelten Stichen rings an den grüntapezierten Wänden. Weinheim liebte solche Pausen. Sie gehörten zum Repertoire seiner Verhöre. „Ja, bitte – was ist mit dem Tonband?“ fragte Racke nach einer kleinen Unendlichkeit. Seine Stimme klang normal. „Ach“, sagte Weinheim, „einem Laien kann man die Ergebnisse schlecht erklären, zumal ich mich selber auf meine Gutachter verlassen muß.“ Racke erstarrte. „Aber meine Gutachter“, setzte Weinheim fort, „wir bilden bekanntlich ein Team, im Alleingang kann man im Zeitalter technischer Perfektion nichts mehr erreichen, haben mir anhand des Materials wertvolle Tips gegeben. Sie besitzen selber ein transportables Transistortonbandgerät?“ „Nein.“ „Spengler?“ „Ja, Chef?“ „Helfen Sie Herrn Bürgermeister Rackes Gedächtnis ein wenig nach.“ 302
„Herr Racke besitzt ein Tonbandgerät. Es befindet sich rechts unten in seinem Büro-Schreibtisch. Herr Racke benutzte dieses früher recht häufig, als seine Korrespondenz noch umfangreich war. Fräulein Faßbender, die von der Gemeinde besoldete Sekretärin, pflegte nach Feierabend Rackes politische Mitteilungen in die Maschine zu tippen. Ohne Honorar.“ „Letzteres interessiert nicht, da Fräulein Faßbender offenkundig einverstanden war. Nun, Herr Racke?“ „Ihre Andeutungen … um Vergebung, Kommissar – ich bin total verwirrt.“ Racke versuchte vom Sessel hochzukommen. „Das Fatale ist, daß Sie sich für unverwundbar halten, mein Lieber. Nein, bitte, bleiben Sie doch sitzen. Wissen Sie, ich könnte mit so einem Gerät überhaupt nichts anfangen, weil ich mich auf den Mechanismus nicht verstehe. Aber mein Assistent … Spengler?“ „Ja, Chef?“ „Schildern Sie doch mal, wie hätten Sie’s denn angestellt?“ „Chef!“ „Er hat ethische Grundsätze.“ Weinheim grinste. „Regine?“ Fräulein Hollriegel sagte eifrig: „Also ich hätte die Spule zurückgedreht und erst mal auf die Wiedergabetaste gedrückt.“ „Prima, Mädchen! Und weiter?“ „Dann hätte ich bis zum Anfang zurückgespult.“ „Warum?“ Fräulein Hollriegel zögerte. „Warum?“ drängte Weinheim. „Ich hätte nicht nur die mich belastenden Stellen, ich hätte die aufliegende Seite des Bandes radikal getilgt – so etwas erledigt sich im Handumdrehen.“ 303
„Raffiniert“, rief Weinheim, „von der könnt ihr lernen! Na, Racke? Was sagen Sie? Ziemlich primitiv – Ihr Verfahren, wie? Von Fingerabdrücken haben Sie wohl keine Ahnung – oder?“ Racke nahm die Zigarette aus dem Mund und ließ sie lässig in den Aschenbecher fallen. „Oh, doch“, sagte er. „Eine ganze Menge Fingerabdrücke.“ Kunstpause. „Stammten durchweg von der Strömberg.“ Wieder Kunstpause. „Ihre waren nicht darunter.“ Es blieb lange ruhig. „Fremde Fingerabdrücke konnten nicht ausgemacht werden, aber die Tontechnik, die ist geübt, Nebengeräusche zu verstärken. Sagen Sie“ – Weinheim schien beim Sprechen einzuschlafen –, „wo sind Sie eigentlich mit Ihren Gummihandschuhen geblieben?“ „Gummihandschuhen?“ wiederholte Racke. „Tut mir furchtbar leid, Racke, daß sich unser kollektiver Grips bemerkbar macht. Und noch eine Kleinigkeit: Ihre Sekretärin brachte uns darauf. Das Handschuhfach in Ihrem BMW war leer. Wo Sie doch immer Gummihandschuhe drin hatten, um sich die Finger nicht zu beschmutzen.“ „Sie Drecksack!“ Racke blies Rauch aus und sah zu, wie er entschwebte. „Indizien“, sagte Weinheim, Regine erschauerte unter der Eiseskälte, mit der er sprach, „bilden ein Muster. Dem, der lesen kann, helfen sie das Gesamtbild zu enthüllen. Daß Altmann seine schamvolle Zurückhaltung der Strömberg gegenüber längst bereut, wird Sie, Racke, wenig kratzen. Daß Kröger schwören will, belastet Sie kaum. Aber ich, Racke, ich rate Ihnen, geben Sie Ihre Verdunklungsmanöver auf. Die Gründe dafür sind allzu durchsichtig. Ich kann Sie zu keinem Geständnis zwingen. So oder so – bezahlen müssen Sie. Wenn ich mich 304
in Ihrer Situation befände, würde ich mich für festen Gewahrsam entschließen. Man gerät dort schneller in Vergessenheit.“ „Scheißkerl …“ „Gut, gut, Racke, das ist nun Ihr Jargon, die Tünche ist weg, nicht wahr, was Hänschen gelernt hat, vergißt der Hans nie mehr. Aber die Zeit, Racke, die Zeit ist nun permanent in Bewegung, solche wie Sie zu überrollen. Zum Schluß landet ihr auf dem Schrotthaufen der Historie. Das ist ein Akt der Gesetzmäßigkeit.“ „Ich verbitte mir …“ „Sie haben sich nichts zu verbitten, Racke, uns dreien hier in Herrn Strothmanns privater Sphäre bieten Sie das Porträt eines lebendigen Leichnams.“ „Nichts – nichts könnt ihr mir nachweisen!“ „Einverstanden, Racke.“ „Hören Sie auf, mich wie einen Verbrecher zu behandeln, ich verbitte mir, mich einfach beim Nachnamen zu nennen.“ „Echauffieren Sie sich nicht, Racke. Mörder – um das mal vorwegzunehmen – haben sich absolut nicht zu verbitten. Was bilden Sie sich eigentlich ein, Racke, versuchen Sie doch mal, Racke, ob die Spitzengremien Ihrer Partei Ihnen noch Schutz gewähren, versuchen Sie das doch mal! Bestenfalls haben Sie einen Stehplatz im vierten Rang. Von da aus sieht man nicht mal mehr die Köpfe. Ihr Problem, Racke. Miserabel haben Sie Ihre Chancen genützt, Racke. Ihr Spiel zeigt Ihre Gebrechen.“ „Und Ihr Spiel, Kommissar?“ „Es entbehrt dramatischer Effekte.“ „Grauenhaft!“ „Ihr erstes ehrliches Wort.“ 305
„Ich werde Sie selbstverständlich verklagen.“ „Tun Sie das, Racke.“ „Hören Sie auf, mich wie Abschaum zu behandeln! Ich bin Kommunalpolitiker von einigem Ruf …“ „Zweifellos, das waren Sie …“ „Und immerhin der Bürgermeister von Lemdorf.“ „Wie lange werden Sie es noch sein, Racke?“ In dieser Sekunde geriet Racke außer Fassung. Er stürzte auf seinen Peiniger los. Spengler brauchte nicht einzugreifen. Weinheim fing den Schlag ab. In seinen mageren Armen lag die Kraft eines Schraubstocks. „Ehrgeiz“, sagte er, „ist immer mit im Komplott, er ist in den meisten Fällen die zusätzliche Komponente. Da haben Sie nun Ihre Geliebte verloren, die war ohnehin passé. Es gibt so Frauen, na, Sie wissen schon, die bleiben lange unentwickelt, bis der Richtige kommt. Sie, Racke, Sie wären der Richtige gewesen. Nun ist sie aufgewacht. Zeit heilt, Racke, auch das Schlimmste läßt sich verkraften. Ihren Ältesten haben Sie niemals auf Ihrer Seite gehabt. Aber Karin und Rudi, an diesen beiden hing Ihr Herz. Wirklich, Racke, Ihre Isolierung ist vollkommen. Es sei denn, Sie erleichterten Ihr Gewissen und legten ein Geständnis ab.“ „Ich habe nichts zu gestehen!“ „Ganz wie Sie wünschen, Racke, doch lassen Sie mich betonen: Sie sind fertig, Mann, aus Ihrer Bredouille paukt Sie keiner raus. Spengler?“ „Chef?“ Racke tastete nach seiner Gesäßtasche. „Lassen Sie das“, befahl Weinheim, „es hat keinen Sinn. Sie sind erledigt. Ich werde Ihre Reflexbewegung nach dem Revolver nicht gegen Sie ausnützen, Racke. 306
Sie sind entlassen, Bürgermeister. Gehen Sie, wohin Sie wollen. Moralisch sind Sie gerichtet.“ Racke stand eine Weile stumm da, machte kehrt, ging langsam hinaus. 57 Etwa vierzehn Tage später saßen Spengler und Regine in Regines Appartementwohnung. Spengler hielt Regines Hand in der seinen. Sie achteten kaum auf des Frankfurter Zoodirektors Appell, der sowieso stereotyp wiederkehrte, doch ja mit gehörigen Spenden beizutragen, daß es mit Urwaldtieren ein gutes Ende nähme. Während der Zoodirektor liebenswürdig warb, dachten sich die beiden ihr Teil. Regine meditierte: Wäre die Vorsorge für unterernährte Kinder in jenen Distrikten, wo fabelhafte Bäume mit allerlei Vögeln drin und Elefanten, Löwen, Giraffen, Leoparden, Affen geschont, gehegt, behütet werden, nicht sehr viel angebrachter? Sie dachte auch an Weinheim, der schwerkrank in einer Klinik lag und anläßlich ihres letzten Besuches gar nicht einmal resigniert geäußert hatte: „Gott sei Dank, Regine – mein letzter Fall. Sagen Sie mir die Wahrheit: Finden Sie, daß ich ne schlechte Figur abgegeben habe?“ Sie hatte an ihren Tränen gewürgt. „Sie müssen schnell gesund werden, Chef.“ „Gesund, Regine?“ „Aber ja, Chef – auch wenn Sie in Pension gehen, wir brauchen Sie doch.“ Weinheim hatte mit einem Abglanz seines alten Lächelns geantwortet: „Ich esse so gern, Mädchen, ich 307
hab Appetit auf ’n Steak mit Pilzen oder auf’n Hammelbraten, wie Meister Schranz ihn uns servierte. Dein Wort in Gottes Ohr, Kind, und nun grüß mir Kommissar Spengler.“ „Er ist’s ja noch nicht.“ „Wird’s aber – und bald.“ Spengler dachte, indem er die Augen schloß, um das glatte Gesicht des Zoodirektors nicht länger sehen zu müssen, an seinen ersten Besuch bei Nathalie Kotter und daran, wie er nach Mitternacht in seinem Käfer das Betonband der Autobahn erreicht hatte. Er hatte am äußersten Punkt des spitzen Winkels von Piste und Trasse gehalten und hätte gern einen Gefährten neben sich gehabt – beispielsweise Wachtmeister Nölle. Nun hatte er eine Gefährtin an seiner Seite, und wiederum – wie damals – begannen sich Zeitabläufe übereinanderzuschieben. Er konnte sie nun bewußt aus der Perspektive des späteren Augenblicks betrachten. Ein Schimpansenbaby umhalste den Zoodirektor, bevor die Scheibe grau wurde. Regine sagte nicht: „Oh, schau doch mal – wie süß!“ Regine drückte Spenglers Hand. „Ich habe unsern Alten falsch beurteilt“, sagte er. „Du konntest nicht anders“, tröstete Regine. „Jeder Junge meint, er ist ein Routinier, und das muß er ja auch sein bei so viel Erfahrung, und plötzlich greift er dann ein und wagt was mit … zig Unbekannten. Ich hab oft mit ihm über die Geschichte gesprochen, du hast nichts davon geahnt, du irrtest durch Lemdorf und hattest es doch leichter als die Strömberg.“ „Wieso?“ „Erstens warst du Amtsträger – unterbrich mich nicht! Und weil du im Dienst warst und dem Tod der Strömberg 308
nachforschtest, begannen sich’ die Gemüter endlich contra Racke zu entscheiden.“ Auf dem Bildschirm flimmerten Ornamente. Sie umrahmten den Hinweis: KURZE PAUSE. „Was hat er gesagt?“ drängte Spengler. „Wer?“ „Unser Alter.“ „Warte mal – etwa so: Er hat den ersten Mord für die Vorausnahme des zweiten gehalten. Folgst du?“ Spengler nickte. „Durch den abgeschlossen wurde, was jener – der Doppelmord, er nannte die Tragödie tatsächlich so – angefangen hatte.“ „Aber das waren meine Überlegungen, Regine!“ „Du verschwiegst Sie mir nicht, Achim.“ „Hast du sie ihm verraten?“ „Ich hab ihm nichts zu verraten brauchen, er ist selber drauf gekommen.“ Spengler räusperte sich. „Wenn die jetzt sagen: in Abänderung unseres Programms …“ Seine Stimme war nicht sehr fest. „Bleib schön ruhig, ja?“ Der Vorspann kam. Ein Name leuchtete auf: Brigitte Strömberg. Sie sahen Ereignisse gespiegelt, die rissen selbst sie ins Licht einer grellen Flamme. Nichts mehr von Narrenwiese, diesem vom Gesetz her zugestandenen Freiraum für überspönige Intellektuelle. Hier War Wahrheit. Hier war Wirklichkeit. Dies war möglich gewesen, geschah, durfte geschehen. Spengler dachte an Weinheim. Er erlebte mit und dachte zugleich an Weinheim und seine bis zum Überdruß wiederholten Lektionen: „Sie fragen so dumm, 309
Spengler, daß ich zweifle, ob ich Sie schicken soll. Was tut ein Kriminalbeamter niemals?“ „Etwas erzählen.“ „Sondern?“ „Fragen und beobachten. Fragen stellen und dabei beobachten, wie die Fragen wirken. Die Antworten sind weniger wichtig als Gesten und Blicke, durch welche sich die Befragten verraten.“ „Gut hergeleiert, Spengler. Manchmal aber erzählt ein Kriminalbeamter doch etwas. Grund?“ „Um den Partner zu überrumpeln oder in die Enge zu treiben.“ „Fein – dann los, Spengler, dann tun Sie das alles mal.“ Spengler atmete tief, er war stolz – weniger auf sich selber als auf seinen Lehrmeister, den Alten. „Schade“, hörte er Regine leise sagen. Auf dem Bildschirm erschien der Nachrichtensprecher. „Racke läuft frei herum“, fuhr sie fort. „Weinheim hat ihn trotzdem geschlagen.“ „Der Clou von allem ist, das schreib dir hinter die Löffel: Weinheim verschwieg dir und mir sein Telefonat mit dem Staatsanwalt. Er wußte demnach von vornherein, daß die Geschichte aussichtslos war. Anklage wurde dann ja auch nicht erhoben.“ „Mein Gott“, stammelte Spengler. „Die tote Strömberg, meint Weinheim, der arme Bode und Frau Kotter sind kein Schutt, sie wären, sagt Weinheim, das Gewissen. Ich sage, es schreit!“ Spengler schloß sie in seine Arme. Am übernächsten Morgen berichteten niedersächsische Gazetten unter der Rubrik Lokales von einem mysteriösen Unfall, dem Bürgermeister Alfons Racke unweit seines Heimatortes Lemdorf zum Opfer gefallen wäre. 310
Der Vorsteher seiner Gemeinde, ein allseits geachteter Kommunalpolitiker, Mitglied des Kreisparlamentes, hätte zweifellos infolge Übermüdung die Gewalt über seinen Wagen verloren, denn die Chaussee wäre zu der Stunde leer gewesen, außerdem befände sie sich in bekannt gutem Zustand. Ein Nachruf auf den verdienten Mann werde folgen. „Racke“, hieß es, „hinterläßt Gattin und drei unmündige Kinder. Wieder einer, der sich zum Wohle der Allgemeinheit vor der Zeit verzehrte …“
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Arkadi und Georgi Wainer
UHREN FÜR MISTER KELLY Kriminalroman der DIE-Reihe Demnächst bei Ihrem Buchhändler erhältlich
Leseprobe Maulwurf saß wieder, wie vor zwei Jahren … Dshaga kam zu Balaschow und bot ihm die Dienste eines zu allem entschlossenen Mannes an. Maulwurf hatte wegen desselben Delikts mit Dshaga eingesessen. Der hatte seine Strafe verbüßt, während Maulwurf seine vier Jahre nicht durchhielt und aus der Haftanstalt flüchtete. Wieder in Moskau, stöberte er schließlich Dshaga auf. Balaschow hielt ihn sich fürs erste vom Leibe, erteilte Dshaga jedoch eingehende Instruktionen, wie Maulwurf auf die Probe zu stellen sei. Als er mit Maulwurf dann das erste Mal zusammentraf, merkte er, in welch verzweifelter Lage der sich befand. Kein Geld, keine Papiere, kein Unterkommen und die ständige Angst, geschnappt zu werden. Seitdem führte er äußerst riskante Aufträge seines Chefs aus. In einem Holzhaus des alten Ostankino hatte er bei einem vereinsamten Mütterchen ein Feldbett gemietet, Balaschow besorgte einen gestohlenen Ausweis, kunstvoll umfrisiert, doch mit echten Stempeln, was Adresse und Arbeitsstelle betraf. Dann erfuhr Balaschow von seiner Frau, daß der jungen Frisöse Lisa, die Alla bediente, kürzlich eine Ein-Zimmer-Wohnung zugewiesen worden war. Er setzte Maulwurf geschickt auf sie an, und offenbar, das Mädchen vermochte nicht, dem jungen, 312
gutaussehenden, hoffnungsvollen Mitarbeiter die Außenhandels zu widerstehen. (Maulwurf gab sich gern als Funktionär des Außenhandels oder Kameramann aus. Beide Berufe kamen ihm wohl besonders attraktiv vor.) Maulwurf nahm an Gewicht und Eleganz zu, zumal er in Kommissionsgeschäften Dacron- und Terylene-Anzüge unterm Ladentisch bezog. Er konnte sich dies erlauben – Balaschow bezahlte riskante Jobs gut. Und er merkte sich ein für allemal: Sollte er hochgehen – von Balaschow kein Mucks. Der würde ihm entweder noch während der Voruntersuchungen oder aus dem Lager heraushelfen. Davon war Maulwurf felsenfest überzeugt. Dann kam die Affäre Korshajew. Der Alte war vorsichtig wie der Teufel. Selbst Balaschow wußte von ihm nur, daß er aus Odessa stammte und Porfiri Wikentjewitsch Korkin hieß. Korkin kaufte größere Posten Einzelteile für das neue Uhrenmodell Stoliza auf. Der erfahrene Geschäftsmann Balaschow witterte gleich, daß hier mehr als eine der üblichen Schiebereien dahintersteckte. Er hatte keine Beweise in der Hand, stürzte sich aber waghalsig in dies Abenteuer, da er an seine Intuition glaubte. Vier Monate trieb er sein Spiel mit Korkin, des Anscheins, als habe er bloß den Absatz der aus dem Herstellerbetrieb und der eigenen Werkstatt gestohlenen Uhrenteile im Auge. Balaschow wußte nicht, wo Korkin bei seinem Aufenthalt in Moskau abstieg. Seine Koordinaten gab Korkin ihm nicht bekannt, er rief an und verabredete sich lediglich auf der Straße. Dabei wählte er solche Stellen, die von weitem gut zu übersehen waren. Augenscheinlich war Korkin ein gehetzter Wolf und fürchtete, daß Balaschow, der sich den Anschein eines harmlosen Gauners zu geben versuchte, einen Baldower mitbrachte. Sie trafen sich auf 313
einem freien Platz bei den Lenin-Bergen, am Nordausgang der Volkswirtschaftsausstellung, auf dem Bolschoi Kamenny Most, auf der Zentralnaja Alleja Lushnikow. Der verzweifelte Balaschow war schon nahe daran, Maulwurf einzuschalten, damit der sich den andern irgendwo vornahm und dessen Papiere prüfte. Das Risiko jedoch war zu groß – der Alte konnte es mit der Angst bekommen und aus dem Geschäft aussteigen. Balaschow beschloß, seine Hypothese praktisch zu erhärten, andere Möglichkeiten blieben ohnehin nicht. Er ging von einer ganz simplen Überlegung aus: Der Alte kleidete sich eher ärmlich als bescheiden, und Vermögen besaß er, wie vermutet werden durfte. Bei diesen alten Krautern ging die Konspiration, was Kleidung anbetraf, eher vom Instinkt als vom Verstand aus. Höchstwahrscheinlich war der Alte einfach knauserig, und falls Balaschows Ansicht sich als richtig erwies, mußte Korkin den Köder schlucken wie der Hecht den Weißfisch, würde um nichts zu halten sein, nur um an das schöne Geld zu gelangen. Gleichsam verlegen, den Blick zur Seite, sagte Balaschow beim nächsten Treff: „Porfiri Wikentjewitsch, ich hätte da was für Sie, streng vertraulich.“ „Und was?“ „Sie haben mir da einen ziemlichen Betrag für den Posten bezahlt.“ „Entspricht das etwa nicht der Vereinbarung?“ „Aber gewiß doch, jaja.“ Balaschow zuckte mit den Schultern. „Natürlich entspricht es. Ich meine etwas anderes.“ „Worum geht es?“ fragte Korkin, der die Geduld verlor. „Könnten Sie mir das Geld nicht in feste Währung umtauschen?“ 314
„Woran denken Sie?“ „Na, Grüne würde ich gern kaufen oder Pfund oder so …“ „Sie meinen Dollars, wenn ich Sie richtig versteh’?“ fragte Korkin kühl. In Balaschows Brust erstarb alles. „Wenn dies möglich wäre …“ „Ich weiß nicht, ich weiß nicht“, murmelte Korkin vage. „Ich müßte mal bei Bekannten herumfragen. Wieviel wollten Sie denn umtauschen?“ Balaschows Herz gab es einen Stoß, noch einen, und es schlug einen Trommelwirbel. „Eigentlich, wenn es geht, den ganzen Betrag …“ „Wissen Sie, daß der Kurs eins zu fünf steht?“ „Recht teuer, natürlich“, seufzte Balaschow heuchlerisch. „Wenn es aber halt billiger nicht geht …“ „Sie tun mir keinen Gefallen damit, Verehrtester. Ich wollte von Ihnen nichts. Und wenn es teuer ist, so wissen Sie doch: Ihre Sache“, schnarrte Korkin frostig. „Porfiri Wikentjewitsch, wenn ich Sie um eine Gefälligkeit bitte, so nicht ohne ein Gefühl der Dankbarkeit“, schmeichelte Balaschow. „Was aber meine Bemerkung betrifft, so hat das mit uns beiden nicht das geringste zu tun. Geht es nicht eins zu vier?“ Balaschow konnte es einerlei sein, zu welchem Kurs er tauschte, mochte es eins zu zehn sein, er holte sich schon seinen Teil. Gleichwohl spielte er seinen Part richtig. Zu rasche Nachgiebigkeit mochte bei dem Alten Verdacht erwecken. Er wollte mit eigenen Waffen geschlagen werden, mit den ihm vertrauten Mitteln des Marktschachers. „Eins zu vier ist nicht drin“, antwortete er scharf. Und fuhr nachgerade weichgestimmt fort: „Womöglich kann ich für viereinhalb festmachen. Weil Sie mir, wie man so 315
sagt, sympathisch sind. Ich werde Sie übermorgen anrufen und vom Ergebnis unterrichten.“ Wenn Korkin damals doch in den Kopf gekommen wäre, daß er selber sein Urteil sprach! Wenn er es nur gewußt hätte! Am nächsten Morgen klapperten Balaschow und Maulwurf per Wagen sämtliche Hotels der Stadt ab und fragten immer dasselbe: ob ebenda nicht ein Mann namens Porfiri Wikentjewitsch Korkin abgestiegen sei. Am Abend, als sie alle durch waren und sicherheitshalber auch bei den Motels rückgefragt hatten, zweifelten sie nicht, daß Korkin entweder irgendwo schwarz wohnte oder er gar nicht Korkin hieß. Am nächsten Tag flog Maulwurf nach Odessa, in der Tasche die Flugkarte für die Abendmaschine zurück nach Moskau. Er fragte im Adressenbüro nach dem Wohnsitz eines P. W. Korkin. Und da kam es zu dem Eklat, der Balaschow überzeugte, daß er sich auf dem richtigen Weg befand. „Die bezeichnete Person wohnt nicht in Odessa“, bekam Maulwurf zur Antwort. Darüber informierte Maulwurf Balaschow als erstes, als der seinen Kurier in Wnukowo abholte. „Die bezeichnete Person wohnt offenbar unter anderm Namen dort.“ Balaschow grinste. Er setzte Maulwurf am LeninProspekt ab und fuhr weiter zur Sofiskaja Nabereshnaja, wohin er Korkin zu neun bestellt hatte. Schon von weitem sah er die hagere Gestalt des Alten. Unwillkürlich lachte er. Schneid hat er, der Alte. Der ist ja kilometerweit nach jeder Richtung zu sehen. Hätte ich doch bloß probiert, Maulwurf hinter mir herzulotsen, dann hätt’ er ihn jetzt am Schlafittchen! Na laß nur, mein Lieber, wir kriegen dich auch so! Balaschow bremste neben Korkin und rief ihn an. Der Alte blickte nach links, blickte nach 316
rechts, sprang zur offenen Tür herein und rief: „Los.“ Unterwegs sah er sich ein paarmal um, spähte eine ganze Weile durch die Heckscheibe: ob sich nicht jemand an sie hängte. Balaschow schwieg. Als sie lange genug durch die Straßen gekurvt waren, räusperte sich der Alte und sagte: „Hier, lieber Freund, ich hab’ Ihnen das Gewünschte mitgebracht. In diesem Umschlag befinden sich zweihundertfünfzig englische Pfund und achthundert Dollar.“ Balaschow überschlug rasch: Um fünfzig Dollar hat er mich beschuppt, der Halunke. Wart nur, das sollst du mir büßen. Er sagte: „Ich bin Ihnen von Herzen dankbar, Porfiri Wikentjewitsch. Sie haben ja doch Zeit verloren und sind in Ihren nicht mehr jungen Jahren für mich herumgelaufen. Das verdient honoriert zu werden.“ „Ach, nicht der Rede wert! Wir sind doch intelligente Leute, wir werden uns immer einig. Von Freunden aber nehm’ ich nichts für Vermittlung. Sehen Sie …“ Er besann sich und brachte es dann doch nicht über sich: „Nun ja, wenn Sie durchaus wollen, ein kleines Aufgeld, ein Erinnerungspräsent vielleicht …“ Anderntags überreichte Balaschow ihm goldene Manschettenknöpfe, und an Korkins freudiger Bewegung merkte er, daß er das Richtige getroffen hatte. Vier Wochen darauf ging ihm der Alte blindlings ins Netz, das ihm Balaschow so beharrlich und emsig geknüpft hatte. Entweder wagte sich Korkin nicht mehr in seinen alten Unterschlupf, oder jemand anders hielt ihn besetzt, oder es war sonstwas passiert, wovon Balaschow nichts wußte, jedenfalls bat ihn der Alte eines Tages, für ihn in Moskau ein Quartier zu beschaffen, wo er während seiner kurzzeitigen Aufenthalte Station machen könnte. Es sollte sich möglichst um eine separate, wenig belegte Wohnung 317
handeln. Balaschow, der in den Fingern ein Zittern zurückhielt, versetzte nachdenklich: „Mit Rücksicht darauf, daß die Wohnung höchst zuverlässigen Leuten gehören muß, ist das keine ganz leichte Aufgabe. Ich hoffe jedoch, Ihnen behilflich sein zu können. Wenn Sie das nächste Mal kommen, werde ich Ihnen eine Adresse nennen, wo Sie sich wie zu Hause fühlen können …“ „In Anbetracht Ihrer besonderen Finanzinteressen dürfte das ebenfalls recht vorteilhaft sein“, verhieß Korkin.
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