Manfred Weinland
Die SATOGAKriege Bad Earth Band 5
ZAUBERMOND VERLAG
Was bisher geschah … Die RUBIKON operiert im g...
31 downloads
808 Views
837KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Manfred Weinland
Die SATOGAKriege Bad Earth Band 5
ZAUBERMOND VERLAG
Was bisher geschah … Die RUBIKON operiert im galaktischen Zentrum, wo sie mit einer bislang unbekannten Macht konfrontiert wird. Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Gefährten Boreguir, werden John Cloud und seine Crew Zeugen eines Raumgefechts. Eine golden schimmernde Kugel wird von einem Schwarm grüner Schiffe attackiert … und schließlich vernichtet. Die RUBIKON kann nur noch ein zylindrisches Objekt bergen. An Bord geholt, verwandelt es sich in eine humanoide Gestalt, die sich Fontarayn nennt. Fontarayn gehört dem mysteriösen Volk der Gloriden an, ist eigentlich ein Energiewesen, kann sich aber auch stofflich materialisieren. Der Gloride führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des Milchstraßen-Super-Black-Holes, wo sich eine Basis befindet, die er als CHARDHIN-Perle bezeichnet. Die Perle gehört zu einem universellen Netz von so genannten Perma-Stationen, die zu jeder Zeit existieren … bis hin zu den ersten Anfängen des Universums, wie Fontarayn beteuert. Gleichzeitig räumt er ein, die Erbauer nicht zu kennen, obwohl sein Volk die Perlen seit einer kleinen Ewigkeit wartet und verwaltet. Doch die hiesige Perle ist verwaist, entvölkert. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station entkommen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie dem Retter ihres auf Saskana verschollenen Gefährten Jiim, einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die Saskana unterjochen und für die Vernichtung von Fontarayns Schiff verantwortlich sind. Und dann lüften die Gloriden den »Tarnmantel«, der um Saskana und ein Gebiet von etwa 18 Lichtjahren Durchmesser liegt. Das Geheimnis der Treymor wird enthüllt, und die Gloriden drängen darauf, mit den gewonnenen Erkenntnissen nach Andromeda aufzubrechen. Die dortige CHARDHIN-Perle, behaupten sie, biete die einzi-
ge Möglichkeit, der Treymor-Gefahr, die sich wie ein Krebsgeschwür ausbreitet, noch Herr zu werden. In Zentrumsnähe der Milchstraße enthüllt sich der RUBIKONCrew ein bislang verborgenes Sternenreich. Regiert wird es von den käferartigen Treymor. Aber wer sind die Treymor – und welche Ziele verfolgen sie? Stecken sie hinter der Entvölkerung der hiesigen CHARDHIN-Perle? Aufschluss soll die neuerliche Außenmission zu einer der »enttarnten« Welten bringen. Zuvor aber steht der RUBIKON eine völlig unerwartete Begegnung bevor. Das Phantom, das Kurs auf sie nahm, entschleiert sich. Und John Cloud wird ein unglaubliches Angebot gemacht, das er eigentlich nicht ablehnen kann … wäre da nicht auch noch der Gloride Fontarayn, der ihm dringend davon abrät.
1. Kriegsrat John Cloud blickte durch das transparent geschaltete untere Segment der Holosäule auf diejenigen, die im Rund der sieben Kommandositze Platz genommen hatten. Hier in der Schaltzentrale der ehemaligen Foronenarche SESHA, die von den Menschen RUBIKON getauft worden war. In Gedenken an eine andere, unendlich primitivere RUBIKON, mit der John Cloud und zwei weitere jetzt Anwesende seinerzeit zum Mars aufgebrochen waren. Jenes erste Schiff dieses Namens war auf dem roten Planeten von den Invasoren zerstört worden, die in der Folge die gesamte Menschheit unterjochten … und dieses Joch bis zum heutigen Tag in all seiner Tragik aufrechterhielten. Die Keelon, enge Verbündete – mehr noch: Schöpfungen – der anorganischen Jay'nac … »Lasst uns Kriegsrat abhalten – und über die weiteren Schritte im Klaren werden.« Fontarayn schien leicht irritiert über den Begriff, den Cloud benutzte, um Sinn und Zweck ihrer Zusammenkunft zu charakterisieren, er sagte aber nichts. Der Gloride saß dem Commander der RUBIKON schräg gegenüber, eingerahmt von dem Pflanzenwesen Cy und dessen Gefährten in vielen Abenteuern, Algorian. Der spindeldürre Aorii verfügte über psionische Fähigkeiten, die er schon das eine oder andere Mal zum Nutzen der Crew eingesetzt hatte. Unmittelbar zu Clouds Linken saß eine Frau von beachtlicher Attraktivität … und Schlagkraft: Scobee. Sie zählte mit dem rechts von Cloud thronenden Jarvis zu seinen ältesten Gefährten, und die gegenseitige Sympathie, da wollte er sich nichts vormachen, hatte sich anfangs arg in Grenzen gehalten. Die auf sie einstürmenden Gefah-
ren hatten sie schließlich zusammengeschweißt. Extremsituationen, in denen sie einander mehr als einmal hinter die äußere Fassade hatten blicken können. So war es gekommen, dass sie sich schätzen lernten. Mehr und mehr. Und dass ich anfing, meine bornierten Vorurteile ins Nirwana zu verabschieden, dachte Cloud in einem Anflug von Scham. Heute, gut zwei – subjektive – Jahre nach diesen unschönen Erlebnissen, kam es ihm vor, als wäre der John Cloud, der in den GenTecs nur bessere Maschinen gesehen hatte, die einem Programm folgten, das Wissenschaftler bei ihrer in-vitro-Schöpfung in sie verpflanzt hatten, ein Fremder, der nichts mehr mit dem John Cloud der Gegenwart zu tun hatte. Überhaupt nichts mehr! Sein Blick blieb kurz an Jarvis hängen, der auch kaum noch etwas mit dem Jarvis ihrer ersten Begegnungen gemein hatte. Damals hatte er noch gelebt, geatmet und die höchst zweifelhafte Angewohnheit gehabt, im Zweifelsfall erst zu schießen und dann nach Möglichkeiten einer Verständigung mit Gegnern zu suchen. Inzwischen wandelte er als »lebender Toter«, als »beseelter Roboter« unter ihnen, aufgegangen in einem foronischen Kunstkörper, der aus der Nanorüstung des Hohen Mont hervorgegangen war. Und den er inzwischen fast traumwandlerisch sicher beherrschte, fast nach Belieben gestalten und verändern konnte. Der wuchtige, anthrazitfarbene Koloss, in den Jarvis' Bewusstsein in dem Moment transferiert worden war, als seine angestammte organische Hülle ihr Dasein aushauchte, schien mit dem Kommandositz verschmolzen zu sein. Es gab nicht einmal eine Fuge, die belegte, dass Jarvis einfach nur da saß. Dennoch war es so, vermochte sich der immer noch draufgängerische, aber ansonsten völlig veränderte Freund bei Bedarf von einem Moment zum anderen von seinem Sitz lösen. Der letzte im Bunde der Sieben, die sich auf Clouds Bitte hin zusammengefunden hatten, war ein Extraterrestrier, den Cloud bereits als Freund für immer verloren geglaubt hatte, nachdem er auf Saskana entführt worden war: der Narge Jiim.
Der Geflügelte, der wie ein grotesk geratener Engel zwischen Scobee und Cy kauerte, hatte erkennbare Mühe mit der für flügellose Humanoide ausgelegten Sitzgelegenheit. Immer wieder rutschte er hin und her, wusste nicht so recht, wo er seine zusammengefalteten Schwingen verstauen sollte, um auch nur ein Mindestmaß an Bequemlichkeit zu erreichen. Nicht zuletzt um seinetwillen beschloss Cloud, den Beginn der Beratung nicht länger zu verzögern. »Ihr alle«, sagte er, »kennt den Grund unserer Zusammenkunft. Bevor wir aber das weitere Vorgehen diskutieren, würde ich Jarvis bitten, uns noch einmal einen kurzen Abriss der Ereignisse zu geben, die dazu führten, dass wir hier und heute eine schwer wiegende Entscheidung zu treffen haben. Die nämlich, ob wir der Milchstraße für lange Zeit den Rücken kehren und uns auf eine Reise zur Nachbargalaxis Andromeda einlassen sollen oder nicht. Jarvis?« Der Angesprochene reagierte, indem er eine Grimasse schnitt, die jeden, der sie zum ersten Mal erlebte und den früheren Jarvis gekannt hatte, fast zu Tode erschrecken musste. Im Kreis der hier Versammelten rief sie jedoch nicht einmal ein Schulterzucken hervor. »Ich liebe es«, drang es aus dem Nanokörper, »den Chronisten geben zu dürfen. In der Tat dürfte mein Gedächtnis unschlagbar sein. Ebenso meine Fähigkeit, Dinge auf den Punkt zu –« »Ja, ja, schon gut, spar dir das Geschwafel und komm zur Sache«, unterbrach ihn Scobee mit einem gespielt verzweifelten Seufzer. »Du kannst es, wir wissen es. Warum tust du es also nicht?« »Tun?«, kam es wie ein fernes, verständnisloses Echo aus dem Hightech-Körper des Mannes, der einmal ein Klon wie Scobee gewesen war. Ein genetisch optimierter, im Reagenzglas gezeugter Mensch. »Auf den Punkt kommen«, gab die Frau ihm zu verstehen, dabei zog sie die beiden verschnörkelten Tattoos nach oben, die ihr die Augenbrauen ersetzten und ihr ein wenig Ähnlichkeit mit einem japanischen Manga-Girl des frühen 21. Jahrhunderts verliehen – der Zeit vor der Keelon-Herrschaft und vor der kompletten Umstrukturierung der Erdgesellschaft.
Heutzutage gibt es sicher keinen einzigen Comic mehr, dachte Cloud mit gewissem Bedauern an die unverzichtbaren Begleiter seiner Kindheit. Er gab Scobee mit einer knappen Handbewegung zu verstehen, was er von ihren Einwürfen hielt. Normalerweise viel – hier und jetzt und in diesem Zusammenhang jedoch … nichts. »Bitte, Jarvis, fahre fort«, sagte er. Scobee holte Luft, als wollte sie zu einem weiteren Kommentar ausholen, doch dann schloss sie den Mund und schwieg, während ihre Augen mikroskopisch winzige Blitze in Clouds Richtung schleuderten. Damit konnte er leben. Mit den Gefahren, die sich am galaktischen Horizont abzeichneten, weniger. Eine Bedrohung von möglicherweise universellem Ausmaß. Bevor Jarvis der Aufforderung nachkam, richteten sich seine stilisierten Augen auf Fontarayn, der nie deplatzierter gewirkt hatte als jetzt. Er wirkte, mehr noch als der »Exot« Jarvis, wie ein Anachronismus. »Wo ist eigentlich dein Pendant?« »Pendant?«, zwitscherte der Gloride. »Dein Artgenosse«, sagte Jarvis, wobei sich die Lippen seines Mundes leicht asynchron zu den Worten bewegten. »Wäre es nicht sinnvoll, wenn er dieser Unterredung ebenfalls beiwohnt?« »Er wollte sich ein wenig in eurem Schiff umsehen«, sagte Fontarayn. »Ich kann nicht für ihn sprechen. Er ist ein eigenständiges Wesen. Soweit ich weiß, habt ihr ihm und mir erlaubt, uns frei auf diesem –« »Darum geht es gar nicht«, mischte sich Cloud ein, dessen Geduldsfaden allmählich überstrapaziert wurde. »Ich halte Jarvis' Einwand für berechtigt. Es wäre sinnvoll, wenn Ovayran an dieser Diskussion teilnähme. Immerhin betrifft die anstehende Entscheidung auch ihn.« »Ich werde ihn später über alles unterrichten«, versicherte Fontarayn. »Es gibt nichts, was er beisteuern könnte, das nicht auch ich in
die Waagschale werfen kann. Er wird jedes Detail unseres Beschlusses erfahren und verinnerlichen. Wir Gloriden benötigen zu einem solchen Wissenstransfer keine Worte, wir begeben uns lediglich in unsere energetische Zustandsform und verschmelzen kurzzeitig miteinander.« »Oh, ihr fusioniert also«, mimte Scobee Erstaunen, um im nächsten Moment interessiert hinzuzufügen: »Hat das über den rein logistischen Austausch auch eine, hm, sexuelle Komponente?« Cloud wurde zunehmend fassungsloser. Nicht, weil er sich als sonderlich prüde empfand, wohl aber, weil er im Gegensatz zu Scobee nicht das Gefühl hatte, über ein unendliches Reservoir an Zeit zu verfügen. »Das ist völlig absurd!«, verwahrte sich Fontarayn. Cloud glaubte ein gemurmeltes »ihr Armen« aus Scobees Mund zu hören, war sich aber nicht sicher. Rasch wandte er sich Jarvis zu und sagte: »Neuer Versuch. Beginne am besten mit unserer Ankunft im galaktischen Kerngebiet. Alles davor kannst du dir schenken. Selbst unser Gast …« Er nickte Fontarayn zu. »… ist mittlerweile im Groben über die Geschehnisse informiert, die dazu führten, dass die Jay'nac und Satoga einander über Jahrzehntausende hinweg bekämpften und danach trachteten, sich gegenseitig auszurotten.« »In Ordnung«, sagte Jarvis. »Ihr kennt den Grund, weshalb wir unmittelbar nach dem Friedensschluss zwischen Jay'nac und Satoga hierher ins galaktische Zentrum kamen. Wir wollten, dass unser Gefährte Boreguir, der den letzten Kampfhandlungen zum Opfer fiel, auf heimatlichem Boden beigesetzt wird, auf Saskana, von wo es ihn einst über ein foronisches Transportsystem zum stellaren Mars verschlug. Es war ein letzter Gefallen, der uns allen am Herzen lag, selbst denen, die kein Herz mehr besitzen – oder nie eins besessen haben …«
Unter den Worten, die das Audiosystem des Nanokörpers nach außen abstrahlte, lebten die Ereignisse, in deren Sog die RUBIKONCrew geraten war, noch einmal auf, wurden lebendig in der Vorstel-
lung derer, die alles miterlebt hatten. Für Fontarayn hingegen mochte diese knappe Zusammenfassung viele Fragen offen lassen. Beziehungsweise, es hätten viele Lücken bleiben müssen, wäre nicht davon auszugehen gewesen, dass sich der Gloride längst auf seine Weise alle relevanten Informationen beschafft hatte. Aus den Datenbanken der RUBIKON. Es war ein bislang ungelöstes Problem, dass der aus Andromeda stammende Perlenbewohner offenbar ohne jede Mühe Zugriff auf selbst geheimste Daten und Prozesse an Bord hatte, sobald er sich in seine »Lichtgestalt« transformierte. Sesha schien bis heute kein adäquates Mittel gegen die Vorstöße der Gloriden gefunden zu haben. In Zeiten friedlicher Koexistenz mit den Perlenbewahrern war dies tolerierbar; Cloud fragte sich jedoch, was geschehen würde, wenn es Fontarayn oder Ovayran eines Tages für notwendig erachteten, sich in den Besitz der RUBIKON zu bringen. Oder, noch schlimmer, das Schiff zu zerstören. Gegenwärtig schien eine solche Eskalation nicht zu drohen. Aber die Mentalität der Gloriden war und blieb rätselhaft – und damit voller Risiken. »… haben sich die Treymor in den Besitz von ERBAUER-Technologie gebracht«, referierte Jarvis gerade, »als sie die Gloriden-Expedition überwältigten, die von der Milchstraßen-Perle aus ihre Heimatwelt besuchte. Die Käferartigen schafften dies dank ihrer natürlichen Affinität zu allem Energetischen. Hm, auf der Basis der erbeuteten Hochtechnik und unter Einbeziehung der Saskanen gelang es ihnen in der Folgezeit dann, ein ›heimliches Reich‹ auf- und auszubauen, das sich gegenwärtig über ein Gebiet von knapp achtzehn Lichtjahre Radius erstreckt – aber auf Expansion ausgelegt ist. Die Treymor breiten sich unaufhaltsam aus wie eine Krankheit, wie ein Krebsgeschwür … Allerdings«, fuhr Jarvis nach einer kurzen Pause fort, »gibt es Zweifel, dass die Käferartigen auch hinter der Entvölkerung der Milchstraßen-Perle stecken, in der Ovayran lebte, bis es ihn nach Saskana verschlug, wo er auf Jiim traf, ihn aus einem Missverständnis heraus entführte … ihn aber später wieder zu uns zurückführte. Die Treymor nutzen die besondere Gabe der Saskanen,
sich vergessen zu machen, um ihr im Aufbau begriffenes Reich vor jedem potenziellen Besucher zu verbergen. Nie gab es ein perfekteres Tarnfeld als diesen psionischen Mantel, den unser Freund Boreguir offenbar nach Belieben einsetzen, sogar Objekten wie einen Stempel aufdrücken konnte – der beim Rest seiner Spezies aber offenbar bislang weitgehend unbewusst vorhanden ist und von den Treymor-Besatzern ohne deren Wissen missbraucht wird. Was sich durch unseren Vorstoß und unseren letzten Kontakt mit den Saskanen jedoch ändern könnte. Die Saat des Widerstands wurde gelegt, es bleibt abzuwarten, ob sie tatsächlich aufgeht und wie sie sich entwickelt … Nachdem jedenfalls zahllose Stämme auf sämtliche dem Treymor-Reich zugehörige Welten verteilt wurden und nun dort ihr Dasein fristen, umfasst das Netz des Vergessens nunmehr die uns bekannte 18-Lichtjahre-Zone, die wir dank der Gloriden aktuell so sehen können, wie sie sich jenseits des Schleiers, den die Psi-Gabe der Saskanen erzeugt, darbietet.« »Vergiss nicht zu erwähnen«, sagte Scobee, die es sich einfach nicht nehmen lassen wollte, ihren ganz persönlichen Senf beizusteuern, »dass wir bislang der Meinung waren, die Treymor steckten auch hinter der Entvölkerung der CHARDHIN-Perle im Milchstraßen-Black-Hole, unsere gloridischen Gäste an Bord aber der Ansicht sind, die Käferartigen müssten nach den jüngsten Erkenntnissen als Urheber ausgeschlossen werden.« »So ist es«, ergriff nun auch Fontarayn das Wort. »Es bedarf mehr als der Grundtechnologie der ERBAUER, die sich die Treymor widerrechtlich aneigneten, um das Gebiet jenseits des Ereignishorizonts zu betreten … und diesen frevlerischen Vorstoß zu überleben. Ganz davon zu schweigen, dass Geschöpfe, die in völliger Unkenntnis der Hintergründe agieren, in der Lage sein sollten, ein heiliges Gebilde wie die Perle zu erobern.« Cloud blinzelte irritiert und tauschte dann Blicke mit Scobee, die Fontarayns Worte ebenso einzustufen schien wie er. Ratlosigkeit und Verwirrung kennzeichneten ihr Mienenspiel. Der Gloride sprach zum ersten Mal in einer Weise von den ERBAUERN und deren Hinterlassenschaft, als ginge es um eine göttliche Kraft. Und als
wäre es nicht nur eine Aufgabe, die die Gloriden in den Perlen erfüllten – Pflege und Wartung –, sondern als huldigten sie einer … Religion. Der Gedanke war verstörender als alles, was Cloud bislang von und über die Gloriden erfahren hatte. Allerdings fragte er sich, ob Fontarayns Wortwahl so kritisch betrachtet werden durfte – oder ob nicht einfach das Verständnis des Gloriden für die irdische Sprache ihnen einen Streich spielte. Aber warum sind dann bislang nie Irritationen aufgetreten? »Blieben«, sagte er in die entstandene Stille hinein, »nur die Überwesen, die ihr kurz und knapp – und denkbar schlicht – als ERBAUER bezeichnet … oder habt ihr für euch selbst noch einen anderen Namen für sie?« Der Vorstoß kam für ihn selbst überraschend. Es war, als legte ihm ein anderer die Frage auf die Zunge. Und täuschte er sich, oder verlor Fontarayn für den Bruchteil einer Sekunde die gewohnte Unerschütterlichkeit? Für einen Moment sah es so aus, als verlöre sogar der Körper des Gloriden an Stabilität, als schwanke er zwischen den beiden möglichen Existenzformen, zwischen Manifestation und Entstofflichung. »Nein«, sagte er dann. Sein Blick fixierte Cloud in einer Weise, wie er es noch nie getan hatte – oder zumindest, wie Cloud ihn noch nie für sich empfunden hatte, und er dachte: Er hat es bemerkt. Er hat erkannt, dass ihm etwas herausgerutscht ist, was uns zumindest irritiert, wenn nicht misstrauisch macht … »Es sind die ERBAUER. Wir haben keinen anderen Begriff für sie. Und wir wissen wenig, fast nichts über sie – all das habe ich mehrfach erklärt. Wieso interessierst du dich so für … Namen?« »Weil daraus mitunter mehr Wissen abzuleiten ist, als demjenigen, der sie ausspricht, klar ist.« Cloud wollte, dass Fontarayn die Spitze verstand. Und er war sicher, dass dies der Fall war. Nichtsdestotrotz ließ der Gloride das Thema damit auf sich beruhen. Von seiner Warte aus das Beste, was er tun kann – wenn er etwas zu verbergen hat.
Er hielt kurz inne, weil ihm bewusst wurde, wie ungünstig gerade jetzt wachsendes Misstrauen zwischen ihnen – Crew und Gloriden – war. »Lasst uns nun zum Kern der Versammlung kommen«, sagte er mit belegter Stimme. »Es geht um Fontarayns Bitte – oder sollte ich sagen Forderung? –, ihn und Ovayran mit der RUBIKON zur Andromeda-Perle zu bringen …« »Es ist eine Bitte – und zugleich ein guter Rat«, warf der Gloride ein. »Wir können nichts fordern. Dieses Schiff untersteht euch, nicht uns. Aber ihr solltet bedenken, dass das, was wir über die Treymor und die hiesige verwaiste CHARDHIN-Station herausfanden, keine Gloriden-interne Gefahr darstellt, sondern ganz direkt auch euch und alle anderen Bewohner dieser Galaxie betrifft.« »Das ist nicht von der Hand zu weisen«, meldete sich erstmals Cy zu Wort. Seine Stimme raschelte, als würden Blätter aneinander reiben. Das Organ, das sie erzeugte, verbarg sich tief im Kern des »Busches«, als den das auf der Spore Auri geborene Pflanzenwesen sich darstellte. Cy war eine Erscheinung, die ein Mensch leicht geneigt sein konnte zu unterschätzen. Zu sehr ähnelte er einem bloßen »Gestrüpp«. Doch wer sich auf ihn einließ – wie beispielsweise Jelto – musste diesen Eindruck schnell revidieren. Cy war nicht nur hochintelligent, er hatte auch Dinge erlebt, die prägend für sein ganzes weiteres Leben sein würden – entsetzliche Dinge, unter anderem auf der bizarren Heimatwelt der Jay'nac … »Allerdings«, fuhr der Aurige fort, »stelle ich eure Beweggründe, nach Andromeda zu wollen, in Zweifel. Ich für mein Teil nehme es euch nicht ab, dass es euch nur darum geht, die Treymor-Gefahr zu bannen. Immerhin – wir reden hier von einem Einflussbereich, den diese Spezies bislang für sich erschlossen hat, der allenfalls Sandkorngröße hat, nimmt man die Milchstraße als Ganzes und diese 18Lichtjahre-Blase im Vergleich dazu. Außerdem gibt es bislang keinerlei Anzeichen dafür, dass die Treymor Anschläge gegen uns bekannte – und am Herzen liegende – Welten planen. Sie sind, so hat es den Anschein, voll und ganz damit beschäftigt, ihre Einflusssphäre gleichmäßig nach allen Richtungen zu erweitern. Wenn über-
haupt, droht den CLARON-Völkern, droht den Erinjij und Jay'nac, und wie die Völker alle heißen, erst in sehr ferner Zukunft Gefahr. Aus meiner Sicht wäre es weniger gefährlich, mit Augenmaß und ohne Überstürzung zu handeln, als aus einem Impuls heraus auf die Bitte – oder Forderung, egal – einzugehen und uns auf diese weite Reise einzulassen. Bedenkt: Wir wären Monate im Leerraum unterwegs, um die eingeforderte Strecke zu bewältigen. In dieser Zeit sind wir von neuen Informationen und Entwicklungen sowohl in der Milchstraße als auch in Andromeda isoliert. Und wir müssen eine ebenso lange Zeit ins Kalkül ziehen, um wieder hierher zurückzugelangen! Ein hoher Preis für ein Ziel, das sich mir nicht wirklich in seiner angeblichen Dringlichkeit offenbart … Aber das ist nur meine ganz persönliche Meinung. Andere mögen anders denken – und dies äußern.« Das Rascheln verstummte. Cloud nickte Cy nachdenklich zu, blickte dann in die Runde. Schließlich, als niemand das Wort ergriff, blieb sein Blick auf Fontarayn haften. »Ich teile Cys Bedenken – insbesondere, was eure Motivation angeht, die dich und Ovayran nach Andromeda zieht.« »Wir sagen die Wahrheit, wenn wir beteuern, dass es uns darum geht, die Treymor-Gefahr zu bannen«, sagte Fontarayn. »Wir ließen auch verlauten, wie wir dies bewerkstelligen wollen – indem wir die Permanenz der Perlen nutzen, um über die Andromeda-Bastion in jene Vergangenheit vorzustoßen, in der die folgenschwere GloridenExpedition startete, die sich zum Ziel setzte, die ERBAUER zu finden – und die damals in die Gewalt der Treymor geriet, womit alles Übel begann.« »Mit anderen Worten«, sagte Cloud, »ihr wollt eine Korrektur der Geschichte herbeiführen – ein Zeitparadoxon.« »Es ist die einzige Möglichkeit. Und die sinnvollste. Eure Milchstraße wird dadurch, sieht man von den Treymor selbst ab, keinen Schaden erleiden. All die Völker, denen ihr entspringt, bleiben davon unbetroffen. Es geht nur um –« »Die Käfer«, schnarrte Jiim. Er klang, als wäre er erkältet – wer ihn kannte, wusste jedoch, dass die heisere, krächzende Stimme immer
dann hörbar wurde, wenn er innerlich stark aufgewühlt war. Der Narge vom Planeten Kalser hatte sich ohne seine goldene Rüstung, sein Nabiss, aus der Schmiede der Ganfs in der Zentrale eingefunden. Er trug ein tunikaartiges Kleidungsstück aus scharlachrotem Material, das mit dem Symbol Kalsers und seines zerbrochenen Mondes bestickt war. Plötzlich kippte die Stimme, überschlug sich und fügte schrill hinzu: »Was für eine Naivität! Wie kann man ernsthaft glauben, ein Eingriff dieses Ausmaßes würde nur die Übeltäter treffen?« Cloud hatte Jiim selten so aufgebracht erlebt. »Worauf willst du hinaus, alter Freund?«, wandte er sich an den Geflügelten, der kurzzeitig als Suprio auf Kalser gewirkt hatte, den es dann aber auf allerlei Umwegen bis in die Große Magellansche Wolke verschlagen hatte, wo sie einander wieder begegneten. Seither war er vollwertiges Mitglied der Mannschaft. »Denk nach, Guma Tschonk, denk nach. Das, was wir als jüngere Vergangenheit kennen, würde so niemals stattfinden. Wir würden vielleicht ins Milchstraßenzentrum aufbrechen – aber nicht einmal das ist sicher, denn wer weiß, ob wir Boreguir überhaupt je kennen gelernt hätten, wenn seine Welt nicht von den Treymor attackiert worden wäre. Wir alle wissen wenig, fast nichts über sein Leben auf Saskana – und wie genau es zu seiner Strandung auf dem Mars kam. Falls es enge Zusammenhänge zwischen den Treymor-Taten und Boreguirs Leben gibt, dann …« »Dann«, griff Cloud tief bestürzt den Faden auf, »können wir nicht selbstverständlich davon ausgehen, dass wir je seine Bekanntschaft machten, sollte der Gloriden-Plan und das beabsichtigte Paradoxon in die Tat umgesetzt werden.« Er fühlte sich auf einmal wie taub und leer. »Was … spinnen wir den Gedanken weiter … sogar so weit führen könnte, dass auf einer der Etappen unseres Handelns in der Großen Magellanschen Wolke, als er uns tatkräftig zur Seite stand, in einer neuen Zeitlinie Endstation für uns gewesen sein könnte. Wir hätten niemals den Weg zurück zur Milchstraße gefunden. Wir hätten niemals zwischen Satoga und Jay'nac schlichten helfen können … oder kurz gesagt: Wir würden in der neuen Zeitlinie in
diesem Moment schon gar nicht mehr existieren.« Fontarayn begegnete dem entsetzten Blick der Crewmitglieder fast gleichmütig. Nach Sekunden des Schweigens sagte er schließlich: »Auch mein Leben verliefe dann völlig anders – aber es würde mir nie einfallen, mich deshalb beklagen zu wollen. Opfer mussten zu allen Zeiten, in allen Zeitaltern der Permanenz erbracht werden. Was zählen eine Hand voll Leben gegen das, was die Treymor schon heute auf dem Gewissen haben?« Die Meisten waren zu perplex, um darauf etwas zu erwidern. Nicht so Jarvis. »Eine Menge«, drang es knurrig aus seinem Nanokörper. »Verflucht viel zählen diese aus deiner Sicht offenbar armseligen ›paar Leben‹ – erst recht, wenn das eigene darunter ist! Also, was mich angeht, so bin ich rundweg dagegen, dass wir den beiden meschuggenen Glühwürmchen auch noch in die Hände spielen und ihnen dabei helfen, unsere Leben auf den Kopf zu stellen. Oder im Extremfall sogar auszulöschen. Lasst sie uns lieber durch die nächstbeste Schleuse pfeffern!«
Bravo, dachte Scobee. Ein Hoch auf meinen alten Kumpel Jarvis … der zwar selbst kein konventionelles Leben mehr hat, sich davon aber nicht hindern lässt, das seiner Gefährten bis aufs Letzte zu verteidigen. Verdammt, und er hat vollkommen Recht! Wenn John sich darauf einlässt, dann … Sie kappte den Gedanken, ohne ihn zu Ende zu führen. Ihr Blick suchte und fand den Mann, der das letzte Wort auf der RUBIKON hatte – seit Sesha ihn zum legitimen Nachfolger Sobeks bestimmt hatte, der das foronische Septemvirat angeführt hatte. Der Höchste der Hohen sozusagen, der, der unter Gleichen immer ein klitzekleines bisschen gleicher gewesen war. Sie vermied es, die Gedanken allzu sehr in die Vergangenheit und zu dem charismatischen Extraterrestrier aus der Großen Magellanschen Wolke abschweifen zu lassen. Er war ein Verächter allen Lebens gewesen, das er seinem Volk unterlegen glaubte … und irgendwie spülten Fontarayns Worte all den Widerwillen, ja fast Ekel in
Scobee hoch, den sie mit Sobek in Verbindung brachte. Denn verächtlich klangen auch die Worte des Gloriden, wenn es um Wert und Unantastbarkeit des Individuums ging! Opfer müssen gebracht werden … »John«, setzte sie an – aber er brachte sie mit einem Wink, einer ebenso knappen wie scharfen Geste seiner Hand zum Schweigen. Brüskiert sah sie ihn an. Dabei entdeckte sie neue Linien in seinem ehemals jungenhaften Gesicht. Auch an ihm waren die Ereignisse der letzten Monate nicht spurlos vorbeigegangen. »Jarvis reagiert manchmal etwas impulsiv – sieh es ihm bitte nach«, wandte er sich mit gefasster Stimme an den Gloriden. »Deine Äußerungen haben die letzten Zweifel in mir beseitigt. Wir werden nach Andromeda aufbrechen, und zwar unverzüglich. Ich beginne jetzt erst zu verstehen, was davon abhängt, in den Dialog mit eurem Perlenweisesten zu treten. Wenn du diese Entscheidung jetzt deinem Artgenossen Ovayran übermitteln könntest?« Fontarayn verstand und respektierte die verblümte Aufforderung, Cloud nun mit seinen engsten Crewmitgliedern allein zu lassen. Mit einer katzenhaft geschmeidigen Bewegung erhob er sich und verließ das leicht erhöhte Podest, auf dem die Kommandositze installiert waren. Ehe er die Zentrale verließ, wandte er sich noch einmal um und sagte mit sanfter, den Raum durchdringender Stimme: »Über die Dauer der Reise müssen wir noch einmal reden – später, sobald ich mit Ovayran gesprochen habe.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, trat er durch das offene Trennschott, dessen Türtransmitter nur noch im Bedarfsfall aktiviert wurde, im Allgemeinen aber ausgeschaltet war. »Sesha?«, hörte Scobee, wie sich Cloud an die KI wandte. »Sind wir unter uns? Du verstehst, was ich meine …« »Der Gloride bewegt sich schnurstracks in Richtung der Quartiere.« »Sehr gut.« »Sehr gut?« Scobee konnte nicht länger an sich halten. »Wie konn-
test du so einfach auf ihn eingehen – nachdem er bewiesen hat, wie wenig ihm die Leben anderer bedeuten?« Cloud blieb auch jetzt gelassen. Unverwandt sah er erst sie, dann die anderen in der Runde an. »Gerade weil er es bewiesen hat«, sagte er zu ihrer Verblüffung, »müssen wir nach Andromeda. Ich wüsste keinen anderen Weg, die Katastrophe, die als Damoklesschwert über uns schwebt, vielleicht doch noch zu verhindern.« »Ich fürchte, wir verstehen nicht ganz, Guma Tschonk«, fasste Jiim in Worte, was offenbar jeder seiner Freunde dachte. »Dann«, sagte ihr Commander, »will ich versuchen, es euch zu erklären.«
Das versuchte er wirklich – und nach Kräften. Cloud war innerlich aufgewühlt wie selten. Einen ähnlichen Zorn auf die Ignoranz der Gloriden, wie Jarvis ihn zum Ausdruck gebracht hatte, verspürte auch er. Allerdings obsiegte bei ihm das kühle Kalkül, und ganz gleich, von welchen Seiten er die Zwickmühle, in die sie geraten waren, auch betrachtete, er kam immer wieder zu dem einen Ergebnis: nach Andromeda reisen zu müssen. Unbedingt. Aber nicht, um die eigene Existenz in Frage zu stellen, sondern aus dem genau gegenteiligen Beweggrund heraus: um sie zu retten! »Fontarayn und Ovayran sind absolut von der Richtigkeit ihres Plans überzeugt«, erläuterte er den Freunden, die an seinen Lippen klebten – sinnbildlich gesprochen –, die Überlegungen, die zu seinem Entschluss geführt hatten. »Sie wollen uns nicht vordergründig schaden, sie haben lediglich das aus ihrer Sicht relevante große Ziel vor Augen. Sie wollen die Treymor-Gefahr bannen, respektive niemals zur Entfaltung kommen lassen. Wie sie das zu bewerkstelligen trachten, haben sie mir und habe ich euch offenbart. Sie sehen das Allheilmittel in einer Zeitkorrektur.« »Was aber keinesfalls in unserem Interesse liegen kann – aus Gründen, die bereits erörtert wurden«, sagte Jarvis. »Heilige Galaxis, John, die radieren uns aus. Die radieren sich selbst aus, ohne
auch nur mit der Wimper zu zucken. Du hast sie gehört. Wie kannst du dem Vorschub leisten, indem du ihnen auch noch die RUBIKON zur Verfügung stellst, damit sie auch ja zu ihrer Andromeda-Perle gelangen und die Katastrophe anzetteln können?« Der Kunstkörper schüttelte sein Haupt. »Ehrlich, das verstehe, wer will. Ich nicht.« »Hegt irgendjemand von euch auch nur den Hauch eines Zweifels, dass sie eine Möglichkeit fänden, auch ohne unsere Hilfe nach Andromeda aufzubrechen?«, fragte Cloud, ohne auf Jarvis' nicht unberechtigte Vorwürfe einzugehen. Betretenes Schweigen. Schließlich sagte Scobee: »Es würde auf alle Fälle länger dauern, oder? Wir hätten eine Frist.« »Was wenig brächte, weil ein Paradoxon, einmal ausgeführt, uns so oder so einholt«, erwiderte Cloud. »Ich für mein Teil glaube, dass Fontarayn und Ovayron sich in ihrer Idee verrannt haben. Aber das heißt nicht, dass alle Gloriden so denken.« »Worauf willst du hinaus?«, fragte Algorian. Er vermied es, den Commander telepathisch auszuhorchen. Die Intimsphäre war ein hohes Gut, für einen Aorii mindestens so wertvoll und schützenswert wie für einen Menschen. »Darauf, dass unsere beste Chance, das Paradoxon zu verhindern, darin besteht, Fontarayns und Ovayrans Wünschen zu entsprechen und sie zur Andromeda-Perle zu bringen.« »Aber damit beschleunigen wir unseren Untergang. Die TreymorGefahr wird ebenso beseitigt werden wie wir armen Würstchen«, murrte Jarvis. »Das liegt an uns«, orakelte Cloud. »An uns ganz allein.« Scobee sah ihn skeptisch an. »Ich glaube, ich beginne zu verstehen, was du vorhast.« »Lass hören.« »Du willst versuchen, die Perlen-Obrigkeit … wie nennt sie sich noch gleich … Perlenweisester?« Cloud nickte. »Also den Perlenweisesten davon zu überzeugen, dass Fontis und Ovis Idee ein kompletter Schuss in den Ofen ist.« »Fonti und Ovi?« Cloud verzog das Gesicht.
»Das moniert ausgerechnet der, der mich ständig und überall mit ›Scob‹ verunglimpft?« »Schon gut. Du hast ja Recht. In beiden Fällen. Das ist meine Idee. Und ich weiß, dass ich sie überzeugen kann – mit eurer Unterstützung. Ein Zeitparadoxon wäre die aller- aber auch wirklich allerallerletzte Möglichkeit. Bevor aber nicht alle sonstigen Mittel ausgeschöpft sind, die Treymor-Gefahr einzudämmen, wäre es die völlige Bankrotterklärung für jedes vernunftbegabte Wesen. Und einem Perlenweisesten darf man doch unterstellen, dass er mit Vernunftargumenten zu packen ist, oder?« Die Skepsis wich auch jetzt nicht aus den Blicken der Freunde. Aber immerhin wussten sie jetzt, woran sie waren und warum Cloud so entschieden hatte. »Immerhin«, seufzte Algorian, bevor sie auseinander gingen. »Eine Frist bleibt uns trotzdem. Die Reise zur Andro-Perle wird Monate dauern. Zeit genug, sich die schlagenden Argumente zurechtzulegen.« Hier und da nickte man zu seinen Worten. Noch wussten sie alle nicht, wie sehr er sich gerade in diesem Punkt irren sollte.
2. Anomalie Der schlanke Mann mit dem schütteren Haar setzte sich abrupt in seiner Koje auf und öffnete die Augen. Noch bevor sich die Lider gehoben hatten, wusste er, dass er nicht allein war. Im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit. Denn jede Kabine der RUBIKON war gesichert, und die Bord-KI war ein Garant für den Erhalt der Privatsphäre. Dennoch wurde das Gefühl zur Gewissheit, das eigentlich Unmögliche zur Gewissheit. »Hallo«, sagte die Lange Paula mit ungewohnt tiefer Stimme. »Ich wollte dich nicht erschrecken.« Prosper Mérimée zog die Brauen nach oben. »Wie kommst du –« Er schaffte es nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Die jähe Lichtentladung, in der die Lange Paula verpuffte, blendete ihn. Mérimée stöhnte auf. Als die extreme Helligkeit Sekunden später wieder einem Normalmaß gewichen war und sich Mérimées Netzhäute leidlich erholt hatten, stand eine Gestalt vor ihm, wie sie gegensätzlicher zur Langen Paula gar nicht hätte sein können. »Das ist ja verrückt«, murmelte Mérimée. Er schwang die Beine aus der Koje und stellte sie auf den Boden. »Du bist einer der Gloriden, richtig?« »Ja«, bestätigte der haarlose Androgyne, der ihm, obwohl Mérimée nach wie vor auf der Kojenmatratze hockte, nur knapp bis zur Schulter reichte. Die Haut hatte einen Goldton. Erkennbare Kleidung trug er nicht, und ebenso mangelte es ihm an eindeutig zuordenbaren Geschlechtsmerkmalen. Aber nach allem, was Mérimée über die seltsamen Bewahrer der CHARDHIN-Perlen gehört hatte, wäre dies auch nur ein weiterer Bestandteil ihrer »Maske« gewesen, mit der sie konventionellem Leben gegenübertraten. Stofflichem Leben. Sie selbst konnten offenbar nach Belieben zwischen körperli-
cher und rein energetischer Zustandsform wechseln. »Ich bin Ovayran.« »Der aus Andromeda?« Mérimée versuchte sich daran zu gewöhnen, dass eine vollkommen fremdartige Existenzform mit ihm sprach, als wären sie sich schon etliche Male begegnet. Der Gloride beherrschte die menschliche Sprache, mit der Mérimée groß geworden war, absolut akzentfrei und aus dem Effeff. Seine Stimme war sonor und wohltuend, passte zu diesem Körper weit besser als zu dem, den Ovayran zuvor kopiert hatte. »Der aus Andromeda«, bestätigte Ovayran. »Wie ihr die Nachbargalaxie nennt.« Mérimée stand auf. Etwas wackliger als sonst – aber war das ein Wunder? »Darf ich etwas fragen?« »Tust du das nicht schon die ganze Zeit?« Der Gloride zwinkerte ihm mit einem seiner wimpernlosen Augen zu. Obwohl Mérimée wusste, dass der Gloride nur eine abgeschaute Mimik zum Besten gab, schauderte er. Mehr als alles andere war es dieses Zwinkern, was ihm die Unwirklichkeit der Situation ins Bewusstsein rückte. »Wie bist du hereingekommen, ohne dass Sesha –« Ovayran lachte auf. Glockenhell, fast wie aus Kindermund, klang sein emotionaler Ausbruch, bei dem unklar blieb, ob er auch nur Bestandteil seiner humanoiden Maske war oder aus einem echten Gefühl heraus kam. »Vergiss die Künstliche Intelligenz eures Schiffes«, riet er, ohne dass Mérimée auch nur einen Moment auf die Idee kam, es könnte arrogant gemeint sein. »Sie kommt nicht mit mir zurecht – so wenig, wie mit meinem Bruder Fontarayn.« Mérimée wusste genug, um zu erkennen, dass der Begriff Bruder bei den Gloriden weiter gefasst war als bei Menschen, die damit eine enge Blutsverwandtschaft zu jemandem beschrieben. »Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Mérimée, »ob mir das gefällt.« »Dass eure KI nichts mit uns anfangen kann?« Er nickte. »Dass sie nicht verhindern kann, von euch ausgetrickst
zu werden. Du und der andere … Fontarayn … ihr scheint, soweit man hört, auf unserer Seite zu stehen. Aber ich glaube, niemand ist sich dessen so völlig sicher. Wenn ihr es insgeheim nicht wärt, hätten wir ein gehöriges Problem – wir alle hier an Bord.« »Auch ich habe ein Problem, und deshalb bin ich hier«, sagte der Gloride. »Ach?« »Mit dir.« »Mit mir?« Mérimée brauchte seine Überraschung nicht zu spielen. »In der Tat. Du bist …« Ovayran trat einen Schritt auf Mérimée zu, in dem das Verlangen übermächtig wurde, seinerseits einen Schritt zurück zu machen – das aber verhinderte die Kante der Koje, die in seine Kniekehlen drückte. »… außergewöhnlich, wenn ich das sagen darf.« Für einen Moment war Mérimée, als würden sich die Abgründe seines Gedächtnisses öffnen und ein Schwall von mühsam unterdrückten Erinnerungen hervorbrechen. Er strauchelte unter der Wucht dieses Aktes, den er nur mit äußerster Mühe unter Kontrolle bringen und stoppen konnte. Die Bilder, die bis dahin seinen Geist geflutet hatten, wirkten sich auf die Mimik des ehemaligen Zirkusdirektors von der Erde aus. Sein Gesicht wurde ganz grau und – jeder, der ihn kannte, hätte dem Impuls nachgegeben, zu ihm zu eilen und ihn nach seinem Befinden zu fragen – schien um Jahre, vielleicht Jahrzehnte gealtert. Ovayran tat nichts dergleichen. Ruhig wartete er ab, bis Mérimée sich wieder gefangen hatte. »Außergewöhnlich …« Der Mann aus dem Getto, das aus der riesigen Metrop Peking hervorgegangen war und in dem die KeelonMaster über Generationen auf perfide Weise missliebige Erdbewohner inhaftiert hatten, schüttelte den Kopf, als wollte er selbst glauben, was er sagte. »Ich bin nicht außergewöhnlich. Ich war es nicht und werde es nie sein – im Gegensatz zu dir … Außerirdischer!« Außerirdischer. Der Begriff schien Ovayran zu amüsieren.
»Ich nehme an«, sagte er fast sanft, »dass du ganz genau weißt, worauf ich anspiele.« »Nein.« Mérimée schüttelte unwirsch den Kopf, stieß sich von der Kojenkante ab und machte einen Schritt seitlich an dem Gloriden vorbei … und dann noch drei, vier schnelle Schritte mehr, mit denen er Distanz zwischen sich und das absonderliche Geschöpf brachte, das seinen Finger zielsicher in eine nie heilende Wunde Mérimées gelegt hatte. »Ich weiß nicht, wovon du redest. Und wenn ich dich jetzt ersuchen dürfte –« »Von dem Muster«, unterbrach ihn Ovayran unbeeindruckt. »Ich spreche von dem Muster in deinem Kopf. Die Anomalie, die dich von allen anderen Menschen oder sonstigen Geschöpfen hier an Bord unterscheidet und absolut einzigartig macht …«
Das Ding hatte Augen, und von dem Moment an, da es sie öffnete, hörte es auf, ein Ding zu sein. Aylea versank in dem Anblick, dem sie sich auf einmal ausgesetzt fühlte. Die Zehnjährige spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann und ihr Mund vor lauter Aufregung ganz trocken wurde. Sie schluckte. Einen Moment lang überlegte sie, nach Jelto zu rufen. Doch der Heger und Pfleger des hydroponischen Gartens befand sich ganz am anderen Ende der Landschaft, die in mehr als zwei Dutzend Zonen unterteilt war. Bereiche, die allesamt leicht modifizierten Umwelteinflüssen unterlagen. Unterschiedlichem Licht, unterschiedlicher Temperatur, unterschiedlichem Boden, Luftdruck, Atmosphärengemisch … Die Abschnitte, die einem Menschen ohne speziellen Schutz gefährlich werden konnten, waren gut sichtbar hervorgehoben. Sesha, das allgegenwärtige Bordgespenst, hatte die dortigen Photonen zur Warnung rötlich eingefärbt. »Huch«, entglitt es Ayleas Lippen. Das metallische Ei, das sie gerade noch ebenso ratlos wie neugierig zwischen den Fingern gedreht hatte, entfaltete sich mehr und mehr. Es war eines von einem guten Dutzend Artefakten, die Sesha über den hydroponischen Garten verteilt geortet hatte, nachdem die Glo-
riden Fontarayn und Ovayran das Raumschiff auf ein »anderes Realitätslevel« – so ihre Darstellung des Vorgangs – gehoben hatten. Offenbar waren dadurch auch die noch seinerzeit von Boreguir angelegten Verstecke ihrer speziellen Tarnung beraubt worden. Der Saskane war nicht nur in der Lage gewesen, sich selbst, sondern auch von ihm ausgesuchte Gegenstände »vergessen« zu machen. Diese Gabe, die sein in der Nähe des Milchstraßenzentrums beheimatetes Volk in die Wiege gelegt bekommen hatte, die aber die wenigsten seiner Artgenossen so gezielt einsetzen konnten, wie Boreguir es vermocht hatte, schien eine Art psionischen Kokon zu flechten, den weder das Auge noch aufwändige technische Apparaturen, wie sie in der RUBIKON zuhauf vorkamen, durchdrangen. Erst das Einschreiten der Gloriden, deren Erscheinungsform variabel war und offenbar nach Belieben zwischen rein energetisch und organisch wechselte, hatte dies geändert. Seither durchkreuzte die RUBIKON einen vormals »leeren« Raumsektor, in dem es inzwischen – nachdem der Paraschleier von den Instrumenten genommen worden war – vor Sternen und Planeten wimmelte. Ein geheimes Reich war enthüllt worden, regiert von käferartigen Intelligenzen, die sich selbst Treymor nannten und denen es gelungen war, auf die Hochtechnik der ERBAUER zurückzugreifen, den geheimnisumwobenen Schöpfern der über das ganze Universum verstreuten CHARDHIN-Perlen. Ein leises Summen hatte die Verwandlung des Gegenstands in Ayleas Hand begleitet. Als es nun endete, war auch der in Gang geratene Prozess abgeschlossen. Vorerst zumindest. Und immer noch starrten die Augen Aylea an. Augen wie Stahl und dennoch mit einem Blick behaftet, wie er lebendiger nicht hätte sein können. Das aus dem Ei »geschlüpfte« Gebilde hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem Archäopteryx, jenem knapp taubengroßen Urvogel, der Reptilien- und Vogelmerkmale in sich vereint hatte. Der metallische Blick schien Aylea bis auf die Knochen zu gehen.
Sie fröstelte. »Se-Sesha?« »Keine Gefahr«, meldete sich die KI aus dem Off. Ihre Stimme hatte den gewohnt femininen Touch. »Bist du dir sicher?« »Nein.« »Nein?« Aylea fürchte entgeistert die Stirn. »Absolute Sicherheit gibt es nicht. Und in dem Moment, da der Kommandant deine Spielzeuge duldete, Kind, wurde mir die Möglichkeit genommen, präventiv tätig zu werden.« Aylea verstand, worauf die KI anspielte. Auf John Clouds Erlaubnis, die entdeckten Artefakte im Besitz der Finder zu belassen – und das waren definitiv sie und ihr väterlicher Freund Jelto. »Du meinst, du hättest absolute Sicherheit hinsichtlich der Artefakte nur garantieren können, wenn dir erlaubt worden wäre, sie zu entfernen?« »Oder sie zu vernichten«, pflichtete Sesha ihr bei. Aylea gab sich einen Ruck. Unmittelbar bevor das Ei zu diesem vogelartigen Etwas geworden war, hatte sie der KI den Befehl erteilen wollen, das Objekt mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu scannen – falls das nicht längst passiert war. »Ist es ein Roboter?«, fragte Aylea. Sie hatte den rechten Arm weit von sich gestreckt. Auf der nach oben gedrehten Handfläche stand auf dürren, kurzen silbrigen Beinchen der »Vogel«. Filigran, zerbrechlich wirkend, zugleich aber auch eine Majestät ausstrahlend, die Aylea auf Anhieb in den Bann schlug. »Der Augenschein spräche dafür …«, hielt sich Sesha betont vage. »Und was über den ›Augenschein‹ hinausgeht?« Bevor die KI antworten konnte, tat es der schwerelose Vogel. Und zwar auf folgenschwere Weise. Er öffnete den Schnabel, und der Schrei, der einen Moment später durch den Garten gellte, brachte schlagartig alle Vegetation zum Welken. Und nicht nur die hier beheimateten Pflanzen …
»Willst du allen Ernstes behaupten, du könntest in meinen Kopf
schauen?« Prosper Mérimée blickte zunehmend verunsichert auf das Wesen, das mir nichts, dir nichts in seine verschlossene Kabine spaziert war. »Wir Gloriden sehen auf andere Weise als Menschen«, erwiderte Ovayran. »Wir sehen das Ganze.« »Das Ganze?« »Du siehst diesen Raum mit dem, was darin ist. Das ist abhängig von deinen Sinnesorganen. Mein Blick, der an solche nicht gebunden ist, geht darüber hinaus.« »Willst du damit sagen, für dich hätten Wände keine Bedeutung? Du schaust durch sie hindurch?« »Wände haben dieselbe Bedeutung wie alles andere, was meinen Blick kreuzt. Aber sie sind kein Hindernis. Ich nehme sie wahr – genau wie ich alles wahrnehme, was davor, dahinter, darüber oder darunter liegt.« »Auch in deiner … physischen Gestalt?« Die Besonderheit der Gloriden hatte sich auch schon bis zu Mérimée herumgesprochen. »Sie ist mehr für die Bewohner dieser Ebene gedacht als für uns selbst. Wir ermöglichen es damit anderen, mit uns umzugehen. Außerdem gibt es gewisse Anforderungen in einer Perle, die als reine Lichtgestalt nicht zu erfüllen wären. Betrachte unsere Körper, wie du sie vor dir siehst, als eine Art Kokon. Sein Aussehen ist nebensächlich. Du magst Augen an meinem ›Kopf‹ hier erkennen. Aber das Sehen, wie wir es verstehen, findet nach wie vor auf einer übergeordneten Ebene statt und ist keinerlei Beschränkung unterworfen. Deshalb war es für uns auch nie ein Problem, die getarnten Welten und Sonnen der Treymor zu erkennen.« »Mit Verlaub«, Mérimée räusperte sich, »das hört sich ziemlich hanebüchen an.« »Darüber wollte ich mit dir auch nicht reden. Mir ist bewusst, wie schwer es für ein dreidimensionales Wesen wie dich ist, sich etwas Höherdimensionales vorzustellen.« »Du redest von dir, ja?« Allmählich gewann er seine Contenance zurück. »Offenbar drücke ich mich sehr missverständlich aus.«
Mérimée winkte ab. »Schon gut. Es war ironisch gemeint. Aber ich habe Verständnis dafür, dass es einem Höherdimensionalen wie dir schwer fallen muss, das zu bemerken … oder noch besser: zu verstehen.« »Das war wieder Ironie, richtig?« Ovayran zwinkerte dem ehemaligen Zirkusdirektor zu. »Du überraschst mich.« »So wie du mich. Womit wir wieder beim Grund meines Kommens wären.« »Dem Muster. Der Anomalie. In meinem Kopf.« »Du weißt davon, oder?« »Ich habe damit zu leben gelernt.« »Wie kam es dazu?« »Siehst du das nicht – in dem Muster?« »Ich beginne, Ironie nicht eben als zweckdienliche Artikulationsvariante zu betrachten.« »Du willst sagen, es nervt allmählich.« »Einigen wir uns einfach für die Dauer des Gesprächs auf Ernsthaftigkeit?« »Was hätte ich davon, dir diesen Wunsch zu erfüllen? Warum sollte ich dir überhaupt einen Gefallen tun? Du bist ein Einbrecher. Niemand hat dich hereingebeten. Du hättest anklopfen können! Es wäre der zweifelsfrei bessere Einstieg in eine Unterhaltung gewesen.« »Anklopfen … ihr Menschen seid sonderbare Wesen.« Mérimée hatte kein Interesse, Ovayran über die Bedeutung des Wortes, das er gerade benutzt hatte, aufzuklären. »Also«, wiederholte er, »was spränge für mich heraus, wenn ich mich auf dich einließe?« »Ich könnte dir ein Angebot machen.« »Ein Angebot?« »Wie viel weißt du über das Abnorme, das in dir nistet?« »Weniger als nichts.« »Ich könnte es ändern.« »Aus purer Nächstenliebe.« »Ganz und gar nicht. Wie ich schon sagte. Die Anomalie lockte
mich hierher. Ich bin neugierig, was sich dahinter verbirgt. Und sobald ich es herausgefunden habe, werde ich dich an meinen Erkenntnissen teilhaben lassen.« Mérimée schüttelte, ohne lange zu überlegen, den Kopf. Kategorisch. »Nein.« »Nein?« »Es gibt Dinge, an denen man nicht rühren soll … Würdest du mich jetzt bitte allein lassen? Oder war es am Ende gar kein wohlgemeintes Angebot, sondern nur die Ankündigung dessen, was du ohnehin vorhast und wovon du dich durch mich nicht abhalten lassen wirst?« »Es macht mich traurig zu hören, welch geringe Meinung du über mich und meine Art hast.« »Wenn ich dich gekränkt haben sollte, tut es mir Leid – aber jetzt geh bitte.« »Ich gehe, aber ich werde wiederkommen.« Ovayran wandte sich der Tür zu. Mérimée schüttelte ernst den Kopf. »Dann solltest du dich über die schlechte Meinung, die man sich über Gloriden macht, nicht wundern.« Wortlos ging Ovayran an der Tür vorbei auf die Wand daneben zu … und fuhr wie ein Blitz in sie. Es gab keinen Knall, keine Erschütterung. Er war einfach verschwunden. Prosper Mérimée blickte mit gemischten Gefühlen auf die Stelle, wo der Gloride eben noch in seiner festen Form gestanden hatte.
Die Harke entglitt Jeltos Fingern. In seinem Schädel explodierte ein Schmerz, vergleichbar mit dem Eindringen einer Knochenfräse unter Verzicht jeglicher Betäubung. Für einen Moment verschwamm alles vor seinem Blick. Er war nicht einmal mehr fähig, einen Gedanken zu fassen. Erst als sich die Qualität des Schmerzes änderte und zu einem dumpfen Hintergrundrauschen wurde, kam er wieder zu sich und
fand sich am Boden zwischen den Blumen wieder, die er gerade gedüngt und deren Erdreich er aufgelockert hatte. Nun hatte er das komplette Beet mit seinem Körper verwüstet, unter seinem Gewicht niedergewalzt! Hastig rappelte der Florenhüter sich auf und besah sich den Schaden. Sekundenlang war er mehr über das erschrocken, was er bei seinem Sturz angerichtet hatte, als dass er sich um das eigene Befinden sorgte. Dann aber wurde ihm bewusst, dass der Zustand, in dem sich die Blumen befanden, unmöglich nur von seinem Sturz verursacht worden sein konnte. Sie sahen nicht nur zerdrückt aus, sondern völlig … vertrocknet. Als hätten sie Tage oder Wochen ohne jedes Tröpfchen Wasser aushalten müssen … Das Rauschen in seinem Kopf veränderte sich. Seine Glieder waren plötzlich schwer wie Blei. Ein Gefühl versuchte ihn daran zu hindern, den Blick von dem Beet zu lösen und sich im Rest des Gartens umzusehen … aber das Bedürfnis, sich der Wahrheit zu stellen, war stärker. Es gab nichts, was ihn auf den Anblick hätte vorbereiten können. Jelto strauchelte. Seine Beine gaben zum zweiten Mal nach. Er streckte die Arme aus und fing seinen Fall ab, als er auf den Knien landete. Seine Hände gruben sich in die Erde, die sich anders anfühlte als noch Minuten zuvor. Er versuchte, seine Kirlianaura zu aktivieren, über die er mit jeder Pflanze des Universums in Kontakt zu treten vermochte. Selbst mit einem Samenkorn, das tief im Boden heranwuchs … Es misslang. Die Aura blieb verborgen; es war, als hätte sie nie existiert – und als würde sie auch nie mehr entflammen. Noch eine Spur dumpfer, drückender, erstickender wurde das Rauschen in seinem Kopf. In dem geistigen Äther, den Jelto sonst nutzte, um mit der Flora zu kommunizieren, zu interagieren … Er rang um Atem. Die Stille, in der keine noch so leise Stimme mehr wisperte und zu ihm sprach, legte sich lähmend auf seinen gesamten Organismus. Schwindel erfasste ihn. Die Umgebung ver-
schwamm erneut. Er fühlte sich der Ohnmacht nahe. Dann ging ein Ruck durch ihn. Nein! Muss Sesha verständigen … bevor Lea mich so sieht … So sieht … Er blickte an sich herab. Auf die Hände, deren Finger sich bis zum ersten oder zweiten Glied in die lockere Erde gebohrt hatten. Die dunkle, sonst so angenehm duftende Erde … die jetzt nur leer und tot wirkte, fast schwarz. Und schwarz waren auch seine Hände, seine Unterarme, die bis zu den Ellbogen bloßlagen, weil er die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt hatte. Schwarz? Nein, eher ein schwammiges Grau, wie es manchem Pilz, manchem Schädling, den er auf der Erde in den Wäldern seiner Parzelle bekämpft hatte, zu Eigen gewesen war. Die Bäume und Sträucher, die Kakteen und Blumen ringsum, mannigfachen Welten entliehen, lagen danieder, als hätte eine schreckliche Krankheit oder sengende Hitze sie im Zeitraffer dahingerafft. Eine Krankheit, rann es schwer wie stockendes Blut durch seine Ganglien, die auch vor mir nicht Halt macht. Es war sein letzter Gedanke, bevor die Farbe des Todes, die seinen Körper überzog, auch seinen Geist überwucherte und unter sich begrub.
»Er hat dir was angeboten?« Der kleine, dunkelhäutige drahtige Mann, den Mérimée aus der Nachbarkabine zu sich gerufen hatte, war ganz aus dem Häuschen. »Sich des Fluchs in meinem Schädel anzunehmen. Dieser temporalen Verzerrung, die mich ein ums andere Mal in höchst missliche Situationen bringt.« »Aber du … hast abgelehnt.« »Was hätte ich sonst tun sollen? Etwa annehmen?« Schulterzucken. Sahbu, sein treues Faktotum, mit dem gemeinsam er im Getto den Zirkus menschlicher Abnormitäten geleitet hatte,
schien unsicher, wie er sich an Mérimées Stelle entschieden hätte. »Ich weiß es nicht«, sagte er ehrlich. »Aber du hättest es wenigstens versuchen können, oder? Vielleicht wäre er in der Lage, dich zu heilen. Diese Gloriden haben einiges auf dem Kasten, das haben sie bewiesen.« »Mag sein. Aber sie sind mir suspekt. Sie treten hier andauernd als die großen Gönner auf. Das macht sie mir eher verdächtig als sympathisch.« Er seufzte. »Ich weiß, ich bin gettogeschädigt. Aber ist das ein Wunder? Nach allem, was man uns angetan hat? Im Grunde kommt es einem Wunder gleich, dass wir diesem Wahnsinnigen entronnen sind, den Sarah noch aus ihren Tagen als US-Präsidentin kennt. Dieser Cronenberg ist sadistischer und verschlagener als alle früheren Bandenführer des Gettos zusammen! Er hätte uns kalt lächelnd in Stücke geschnitten – wenn nicht irgendwann diese Anordnung seiner neuen Bosse gekommen wäre. Danach hat er uns in diesen Würfel verfrachtet, und man hat uns im Weltraum ausgesetzt … Beim BUCH, es fehlte nicht viel, und wir wären jämmerlich erfroren, verhungert, verdurstet oder erstickt. Die Ressourcen des Quaders waren begrenzt. Hätte die RUBIKON uns nicht rechtzeitig aufgefischt …« »Aber sie hat es. Für uns hat ein neues Kapitel, ein neues Leben begonnen. Es wäre dumm, ständig der Vergangenheit, so furchtbar sie auch gewesen sein mag, nachzuhängen. Wir müssen den Blick voraus richten. Cloud ist, soweit ich das einschätzen kann, ein prima Kerl. Genau wie die anderen an Bord prima Typen sind. Sogar dieser Klon, den wir eigentlich zur Hölle wünschen müssten, weil er mitverantwortlich für den mörderischen Wald ist, der um das Getto gepflanzt wurde. Aber wenn ich es richtig verstanden habe, ist er selbst nur ein Handlanger gewesen, mehr Opfer denn Täter …« »Jelto?« Sahbu nickte. »Jelto ist in Ordnung«, sagte Mérimée. »Ich habe ihn schon einige Mal in seinem Garten besucht. Er tut keiner Fliege etwas zuleide. Es sei denn …« »Ja?«
»Die Fliege pinkelt eines seiner Pflänzchen an.« Mérimée grinste. Plötzlich stand er auf und ging zu einem der Schränke, die sein Quartier füllten. Er öffnete ein Fach und zog einen Beutel hervor, der wie aus Leder gefertigt wirkte, wahrscheinlich aber den Produktionsstätten der RUBIKON entstammte und rein synthetischen Ursprungs war. »Was ist das?«, fragte Sahbu neugierig, als Mérimée den Beutel zu dem Tisch brachte, an dem sie gesessen hatten. Er ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder und stellte den Beutel vor sich ab. Es raschelte vage vertraut. »Doch nicht etwa … Traumranken?« Sahbus Augen wurden groß wie Monde. Mérimée stieß fast verächtlich die Luft aus. »Woher sollte ich hier wohl Traumranken nehmen?« Besagte Ranken waren im Getto ein begehrter Artikel gewesen, ein Zwischending aus Droge und Cyberschlüssel. Die Ranken waren in der Lage gewesen, den Geist eines Menschen in Traumwelten zu entführen … und damit dem realen Elend des Gettos zumindest befristet entfliehen zu lassen. Sahbu zuckte die Achseln. »Wer weiß. Dir traue ich fast alles zu.« »Das ›fast‹ hat dich gerettet.« Sahbu nickte ungeduldig. »Mach schon auf. Was ist drin? Willst du mir etwas schenken?« »Wenn man so will …« Mérimée nestelte am Verschluss herum und öffnete ihn. Sahbu trat näher. Der Geruch, der ihm aus dem Beutel entgegenstieg, zauberte ein seliges Lächeln auf seine Lippen. »Nein – oder …?« »Greif rein«, forderte Mérimée ihn auf. »Er beißt nicht.« Das ließ sich Sahbu nicht zweimal sagen. Er hatte darüber gelesen. In Büchern, die Bestandteil von Mérimées großer Bibliothek auf der Erde gewesen waren – davon war nur ein verschwindend kleiner Teil gerettet worden und durch ein bis heute nicht erklärbares Wohlwollen der Master mit an Bord der RUBIKON gelangt. Hin und wieder hatte ihm Mérimée sogar ein kleines Filmchen, kaum
mehr als ein Fragment, gezeigt, in dem Menschen es getan hatten … und einmal hatte sein Freund ihm sogar einen Duft präsentiert, der Mérimée zufolge fast aufs i-Tüpfelchen dem Aroma entsprach, das von dem antiquierten Kraut ausgegangen war … und seither rumorte das diffuse Verlangen in Sahbu, es eines Tages selbst einmal zu schmecken, durch seine Lungen strömen zu lassen – so widersinnig es auch scheinen mochte. Er tastete in den Beutel. Die trockenen Blätter zerkrümelten unter seiner Berührung. »Ist es wirklich das, was ich glaube?« Mérimée nickte. »Jelto hat ein kleines Kontingent für mich angebaut; ich habe es dann getrocknet. Tabak. Du wühlst gerade in waschechtem Tabak.« Er öffnete eine Schublade am Tisch selbst und zog ein Stäbchen heraus, das er neben dem offenen Beutel platzierte. »Und das«, sagte er, »ist eine so genannte Selbstgedrehte.« »Eine was?« »Eine Zigarette.« Noch einmal verschwand Mérimées Hand im Schubfach. Als sie wieder sichtbar wurde, klickte es vernehmlich, und eine Flamme züngelte zwischen seinen Fingern nach oben. »Du wolltest es doch schon immer mal versuchen … Feuer?« Im nächsten Moment, als wäre sie durch das vorausgehende Entzünden der Flamme und durch nichts anderes ausgelöst worden, hallte eine Sirene durch das Schiff. Die Tonfolge indes stellte klar, dass es sich um mehr als eine simple Brandsirene handelte, mit der Sesha überzogen auf »offenes Feuer« reagierte. Um sehr viel mehr.
Kämpfe!, hämmerte es stakkatoartig in dem Klon. Kämpfe, kämpfe, kämpfe verdammt noch mal um dein bisschen Leben! Jelto merkte nicht, wie er da lag. Wie er leuchtete, nachdem seine Aura ohne sein bewusstes Zutun entflammt war. Wie das Licht, das
die Zellen seines Körpers produzierten, ebendiesen Körper auszehrte, ihn zum Welken brachte wie all die liebevoll und mühsam gezogenen Schösslinge, die Blumen, Büsche und Bäume ringsum. Der Garten war nicht wiederzuerkennen, und wäre Jelto in diesem Moment seinem Anblick ausgesetzt gewesen, hätte ihm dies wahrscheinlich auch noch die letzte Kraft, das letzte Quäntchen Lebenswillen entzogen. Sein Bewusstsein wühlte sich durch Dunkelheit wie durch schwarzen, leblosen Boden. Es strebte zurück ans Licht, aber die Widerstände, die es zu überwinden hatte, waren enorm. Kämpfe. Kämpfe. Kämpfe. Er war drauf und dran, sich taub für das Drängen seiner Seele zu stellen. Es gut sein zu lassen. Zu sterben. Doch dann erinnerte er sich an den Grund, weshalb er auch andere Phasen der Düsternis und Depression überwunden hatte, die ihn mit steter Regelmäßigkeiten überkamen, seit er seinen Garten auf der Erde verloren hatte. Er hatte sich erst einen neuen Lebenssinn zurechtbasteln müssen. Einer hatte ihm dabei geholfen. Eine. So wie er ihr nach Leibeskräften half, wann immer es möglich und erforderlich war. Ein Kind. Dessen Schicksal im Ungewissen lag. Jelto musste damit rechnen, dass die zerstörerische Macht, die ihn überwältigt hatte, auch vor Aylea nicht Halt machte. Sie brauchte Hilfe. Sie durfte nicht sterben. Ein Kind. So jung. So wehrlos und verletzlich … Kämpfe. Kämpfe. Kämpfe. Das tat er. Und schaffte es tatsächlich, die Niederungen des Todes hinter sich
zu lassen, ins Bewusstsein – und damit ins Leben – zurückzufinden …
Scobee stürmte in den Garten. Genauer: den Friedhof der Pflanzen – denn nichts anderes erwartete sie jenseits des Türschotts. Hinter ihr trat Jarvis in den riesigen, kathedralenhohen Raum, den Sesha nach Jeltos Maßgaben geformt hatte. Die Kunstsonnen leuchteten noch immer, spendeten Wärme und Licht. Aber nichts davon kam mehr einer Pflanze, einer Blume oder auch nur einem Saatkorn zugute, das hier heimisch war. Denn nichts von alledem hatte überdauert. Was überdauert?, fragte sich Scobee im Laufen dumpf. Was um Himmels willen ist hier vorgefallen? Überall nur Leichen. Pflanzenkadaver. Überall nur welkes, dahingedorrtes Sein. »Kannst du etwas erkennen?«, fragte Scobee. »Ja«, bestätigte Jarvis. »Lass mich vorauseilen.« Sie konnte es gar nicht verhindern. Er war um einiges schneller als sie. Obwohl auch sie sehr schnell sein konnte. Er überholte und raste zwischen den abgestorbenen Floraresten hindurch. »Sesha«, wandte sich Scobee an die KI. »Wer von der Crew befindet sich im Garten? Ist es bei dem geblieben, was du beim ersten Alarm gemeldet hast? Jelto und Aylea?« »Jelto und Aylea«, erklärte die KI. »Jarvis ist fast bei dem Florenhüter. Das Mädchen liegt ein Stück weit entfernt. Soll ich dich führen?« »Ich bitte darum – rasch!« Vor Scobee materialisierte eine kugelförmige Markierung in der Luft; eine mobile Projektion, mehr nicht. Aber die rote Marke eilte Scobee in genau dem Tempo voraus, das auch die GenTec halten konnte. Eine Minute später kniete sie neben Aylea. Gerade als sie sich zu der Zehnjährigen hinabbeugte, erklang hin-
ter ihr ein durch Mark und Bein gehender Schrei. »WO IST SIE?« Scobee wusste instinktiv, dass er sich um Aylea sorgte. »Hier!«, rief sie. »Sie ist hier. Ich bin bei ihr und werde –« Ihre Stimme erstarb, als sie das bäuchlings daliegende Mädchen vorsichtig auf den Rücken drehte und sah, was mit ihr nicht stimmte. Sie starrte immer noch darauf, als neben ihr wuchtige Schritte erklangen und Jarvis auftauchte, der Jelto auf den Armen trug. Der Florenhüter sah so mitgenommen aus, wie Scobee ihn selten – nein, nie! – zuvor erlebt hatte. Der Anblick des besinnungslosen Mädchens löste auch bei ihm einen Schock aus. »Kann mir irgendjemand … vielleicht du, Jelto … sagen, was hier passiert ist? Und was das da auf Ayleas Haut ist?« Jelto schüttelte in fast tragikomischer Weise den Kopf. »Es liegt nicht einfach nur auf«, sagte Jarvis, der offenbar einen unbemerkten Scan vorgenommen hatte. »Es ist mit ihr verbunden. Was immer es ist – ich glaube nicht, dass es gut ist, es auf Aylea zu belassen.« »Ich fürchte«, meldete sich Seshas Stimme aus dem Off, »das wird vorerst nicht zu ändern sein. Das Objekt hat sich nach meiner Analyse mit lebenswichtigen Funktionen des Körpers gekoppelt. Wenn wir es entfernen … zumindest wenn wir es gegen den Willen des Dings tun … wird es Aylea umbringen.« »Was zum Keelon ist es?«, keuchte Scobee. »Wir haben … ich meine, sie hat … mit den Artefakten experimentiert, die John freigegeben hatte. Auch Sesha meinte letztendlich, sie seien unbedenklich, sonst hätten wir nie –« Jelto verstummte. Jedes Wort schien ihn unendlich viel Kraft zu kosten. Die Artefakte, die im Garten gefunden worden waren, nachdem Seshas »Realitätslevel« von den Gloriden korrigiert worden war. »Dann war das eine klassische Fehldiagnose von Sesha«, sagte Scobee betont laut und klar artikuliert. Der KI sollte keine Ausflucht gegeben werden zu behaupten, es nicht verstanden zu haben.
»Dagegen verwahre ich mich. Diese Entwicklung war nicht absehbar. Keiner der Scans gab Hinweise auf eine wie auch immer geartete Gefahr. Speziell dieses Objekt hier war energetisch vollkommen tot …« »War?«, unterbrach Jarvis die KI. »Ja. Inzwischen ist eine gewisse Kraft messbar, die davon ausgeht. Aber sie wird ausschließlich in den Körper des Kindes kanalisiert.« »Zu welchem Zweck?« »Unbekannt. Erkennbar ist nur, dass das Artefakt mit dem Organismus in eine Art Dialog getreten ist.« »Einen Dialog. Willst du damit sagen, es unterhält sich mit Aylea?« »Das ist eine zu gewagte Interpretation. Jedenfalls findet ein Austausch statt. Ob das gleichbedeutend mit wechselseitigem Informationsfluss ist, vermag ich nicht zu sagen.« Cloud bahnte sich einen Weg zu ihnen, in seinem Gefolge waren mehrere RUBIKON-Bots. Mit dürren Worten wurde er über den Stand der Dinge informiert. »Entferne das Objekt«, wies er Sesha an. »Instruiere deine verlängerten Arme hier entsprechend …« Er zeigte auf die Bots. »Negativ«, sagte die KI. »Du widersetzt dich meiner Anordnung? Es geht um das Leben –« »Genau deshalb.« Sesha gab sich ungerührt. »Das gewaltsame Entfernen würde den sicheren Tod bedeuten. Ayleas Körperfunktionen würden irreparabel geschädigt werden, wenn die Befreiung nicht im Einverständnis mit dem Symbionten geschieht.« »Sagtest du gerade Symbiont?« »Das Objekt hat eine Rolle übernommen, die am ehesten mit der symbiotischen Beziehung zu einem Wirt vergleichbar ist.« Nicht nur Cloud war sprachlos. Verdammt, dachte Scobee. Warum immer sie? Ruft sie jedes Mal »hier!«, wenn es Pech vom Himmel regnet? Aylea wurde tatsächlich überdurchschnittlich oft vom Schicksal gebeutelt. »Dann vernichte zunächst die anderen … wie viel waren es insgesamt? … Artefakte. Ich will kein Risiko mehr eingehen.«
»Vierzehn«, sagte Jarvis. »Also dann: die anderen dreizehn Fundstücke!« »Davon rate ich ebenfalls ab.« Allmählich wurde es anstrengend. Scobee spürte, wie nicht nur der eigene Geduldsfaden einer Zerreißprobe unterzogen wurde. »Erkläre!« »Bislang ist unbekannt, ob nicht sämtliche Objekte in einer Wechselwirkung zueinander stehen. Sollte das der Fall sein, könnte die Vernichtung oder auch nur Entfernung der Artefakte von Bord die Schädigung des Objektes, das sich mit Aylea verbunden hat, nach sich ziehen. Was wiederum ihren Tod bedeutete.« »Hast du noch mehr Neuigkeiten dieses Kalibers auf Lager?« Sesha erkannte die Rhetorik der Frage und schwieg. Cloud trat zu dem Kind und ging neben ihm in die Hocke. »Keines der Objekte, die ich sah, als ihr …« Er blickte zu Jelto auf. »… sie mir gezeigt habt, sah aus wie das hier.« »Nein«, pflichtete der Florenhüter ihm bei. »Eines davon muss sich … verändert haben. Aylea allein weiß, was sie da ausgelöst hat. Oder? Sesha? Gibt es Bildaufzeichnungen?« »Keine aussagefähigen. Unerklärlicherweise lässt sich speziell dieses Artefakt nicht optisch klar erfassen.« »Die anderen schon?« »Ja.« »Das spräche dafür, dass es einzigartig ist und nicht in Verbindung mit dem Rest steht.« »Falsch«, widersprach Sesha. »Auch dieses Objekt war klar sichtbar, bevor es sich veränderte und mit Aylea verschmolz.« Cloud sah ein, dass er so nicht weiterkam. »Aylea muss auf die Krankenstation. Die sonstigen Artefakte kommen unter Verschluss.« Er erhob sich wieder und ließ seinen Blick über die Überreste des Gartens schweifen. »Und dafür ist das Ding auch verantwortlich?« »Es muss wohl so sein«, krächzte Jelto, der von Jarvis wieder auf die eigenen Beine gestellt worden war und sich sichtbar von Minute zu Minute erholte. »Es hätte auch mich fast umgebracht. Wahrscheinlich weil ich, als es das hier anrichtete, gerade mittels Aura
mit einer Pflanze verbunden war.« »Das tut mir Leid für dich. Ich weiß, was du hier alles hineingesteckt hattest – nicht nur an Arbeit …« »Ja. Es hat zahllose meiner Schützlinge umgebracht. Dafür hasse ich es. Aber ich werde es noch viel mehr hassen, wenn es meiner Kleinen etwas antut!« Es klang nicht nur wie ein Schwur, es war einer. Niemand, der Jelto reden hörte, zweifelte daran auch nur eine Sekunde. Hoffentlich, dachte Scobee für sich, hat »es« dich auch verstanden. Sie blickte auf das Ding, das wie eine bizarre Brosche aus grünlich schillerndem Metall auf Ayleas blasser Haut prangte … und über ihren Rücken rieselte ein so nie verspürter Schauer.
3. Ein »anderes« Schiff Obwohl die Entscheidung bereits gefallen war, schien ihn irgendetwas auf- und festhalten zu wollen. Ausgerechnet jetzt, da ein jeder von ihm erwartete, dass er die RUBIKON Fahrt aufnehmen ließ und Kurs dorthin setzte, wohin es die Gloriden an Bord mit solcher Vehemenz zog. Nach Andromeda. In die neue Heimat der Satoga, die dorthin unter der Führung ihres Ersten Expansers, Artas, gezogen waren. Mit ihren Magnetschiffen, die eine geradezu unheimliche Geschwindigkeit zu entwickeln vermochten, wie schon die Überwindung der Strecke Große Magellansche Wolke – Milchstraße gezeigt hatte. Vielleicht waren die fruchtbaren Satoga sogar schon dabei, sich auf Planeten des Adromedanebels häuslich einzurichten. Vielleicht bauten sie gerade ihre ersten Städte, wo die ersten Kinder unter der Hege der Mentoren ihren Eiern entschlüpften … Auch ihn selbst zog es dorthin – aus genau den Gründen, die er seiner Mannschaft gegenüber angeführt hatte. Es war die schiere Notwendigkeit, dass sie die Andromedaperle besuchten und verhinderten, was Fontarayn und Ovayron in Aussicht gestellt hatten. Ein Zeitparadoxon musste unter allen Umständen verhindert werden. Es musste andere Wege geben, der Treymor-Gefahr Herr zu werden und diejenigen zu entlarven, die hinter der Entvölkerung der Milchstraßenperle steckten. Es MUSSTE! Die Zentrale war verwaist, als Cloud sie in Scobees Begleitung betrat. Alle anderen Crewmitglieder weilten noch bei Aylea auf der Krankenstation, in ihren Quartieren oder wo auch immer sie gerade beschäftigt waren. »Du kannst mir nichts vormachen. Ich merke dir an, dass du mit dir … mit deiner eigenen Entscheidung haderst.« Scobee war vor
dem knöchelhohen Podest stehen geblieben, auf dem sich die Kommandositze aneinander reihten und das Cloud schon mit einem Fuß betreten hatte. Er hielt inne, nickte. »Wir werden lange unterwegs sein – mit ungewissem Ausgang. Wer weiß, was uns in Andromeda und bei den dort heimischen Gloriden erwartet.« »Traust du deiner viel beschworenen Überzeugungskraft doch nicht so ganz?« Sie zwinkerte ihm zu, und für einen Augenblick erinnerte er sich daran, dass es eine Phase der inneren Unrast und Orientierungslosigkeit gegeben hatte, in der sie einander näher gekommen waren als nur freundschaftlich. Für ein paar Tage hatte eine intime Liaison sie miteinander verbandelt … bis sie fast zeitgleich merkten, dass das, was ihre Beziehung ausmachte, für mehr als Freundschaft nicht taugte. Dennoch war es nicht so, dass einer von ihnen den »Ausrutscher« bereute. Es hatte ihrem Zusammenhalt und Zusammengehörigkeitsgefühl wunderbarerweise nicht geschadet, sondern sie noch enger zusammenrücken lassen. »Denkst du auch manchmal darüber nach, wohin es uns eigentlich treibt?«, fragte er, um das Thema zu wechseln. »Komm mir jetzt nicht philosophisch.« Er lachte. »Nein, keine Sorge. Aber manchmal wüsste ich einfach gern, wo wir in zehn Jahren sind, wir alle, die wir zu dieser verschworenen kleinen Crew wurden. Und gerade in Anbetracht des drohenden Paradoxons, das über uns schwebt, kommt mir jede Stunde, die ich mit euch zusammen sein kann, noch wertvoller vor.« »Okay, ich korrigiere mich«, seufzte Scobee gespielt theatralisch. »Du haderst nicht nur mit dir, du mutierst mehr und mehr zum introvertierten Eigenbrötler …« Nun lachte sie. Schon, um dem Gesagten die Schärfe zu nehmen. Aber Cloud wusste, dass in ihren Worten mehr als nur ein Körnchen Wahrheit lag. »Und dir?«, fragte er. »Dir macht das alles gar nicht zu schaffen?« »Nein«, log sie. Sie log so offensichtlich und charmant, dass er versucht war, die
fein säuberlich ad acta gelegten Zärtlichkeiten noch einmal aufleben zu lassen, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen. Er räusperte sich, versuchte in die Wirklichkeit zurückzufinden, in der er den Teufel tun, aber sie keinesfalls auch nur freundschaftlich umarmen würde. »Dann bin ich ja beruhigt.« »So siehst du aus«, lachte sie. Unweit von ihnen entzündete sich ein Licht in Kopfhöhe. Es war zehnmal heller als das Umgebungslicht, und aus ihm heraus schälten sich die Konturen eines androgynen Humanoiden. »Ovayran oder Fontarayn?«, fragte Scobee. Sie hatte immer noch Mühe, die beiden Gloriden auseinander zu halten. Cloud glaubte Fontarayn zu erkennen. Was dieser dann auch, an Scobee gewandt, bestätigte. »Ich habe dich bereits erwartet«, sagte Cloud daraufhin. »Ich dachte mir, dass du kommen würdest.« »Dann kennst du auch den Grund meines Erscheinens?« »Letzte Besprechung des wahrscheinlichen Reiseverlaufs?« »Nicht ganz. Ich bin gekommen, um dir ein Angebot zu unterbreiten, das durchaus mit dem Setzen des Schiffskurses zu tun hat – in erster Linie aber die Reisedauer verkürzen würde. Extrem verkürzen, wie ich betonen möchte.« »Das hört sich prinzipiell schon mal nicht schlecht an«, sah sich Scobee veranlasst, sich in Erinnerung zu rufen. Es missfiel ihr merklich, dass Fontarayn eigentlich immer nur zu Cloud sprach. So als zähle wirklich ausschließlich der Kommandant dieses Schiffes für ihn. Etwas so Menschliches wie Sexismus wollte Scobee ihm deshalb sicher nicht unterstellen, aber die geballte Ignoranz und Borniertheit reichte aus, um die Sympathiewerte des Gloriden bei ihr ins Bodenlose fallen zu lassen. So gut kannte Cloud sie. Und er hatte durchaus Verständnis dafür. »Wie?«, fragte Cloud nur knapp und an Fontarayn gewandt. Er war die vagen Anspielungen auf die nicht ausgereizten »wahren Möglichkeiten« des Schiffes, mit denen die Gloriden schon häufiger aufgewartet hatten, allmählich leid. Entweder legte Fontarayn endlich echte Fakten auf den Tisch – oder Cloud war nicht gewillt, ihm
diesbezüglich überhaupt noch länger zuzuhören. Es gab aktuell wichtigere Dinge, zum Beispiel Vorbereitungen für den Aufbruch zu treffen. Selbst eine merkliche Verkürzung der geplanten Reise, mit der Fontarayn lockte, würde immer noch eine lange Verweilzeit im Leerraum zwischen den Galaxien bedeuten. »Indem ich dir helfe, dein Schiff endlich so kennen zu lernen, wie es tatsächlich ist – nicht diese Light-Version, mit der du dich offenbar bislang zufrieden gegeben hast.« Die respektlose Weise, in der Fontarayn vom fabelhaftesten Raumschiff sprach, das Cloud sich nur wünschen konnte, machte ihn ärgerlich. Die Magnetschiffe der Satoga beispielsweise mochten schneller sein und mit technischen Gimmicks aufwarten können, über die die RUBIKON nicht verfügte – aber dafür hatten ihn zahllose Abenteuer regelrecht mit diesem Schiff verschweißt; und wäre es so schlecht gewesen, hätten sicher Sobek und Konsorten nicht so viel Aufwand betrieben, es wieder in die Hände zu bekommen, zumal sie ja quasi identische Kopien der RUBIKON/SESHA besaßen. Quasi identisch … Cloud schüttelte unwillkürlich den Kopf. Es war offensichtlich geworden, dass es Unterschiede zwischen Original und Kopien gab. Nur worin sie bestanden, wusste bislang niemand so recht zu sagen … mit Ausnahme der Gloriden, wenn ihre Andeutungen nicht auf purer Prahlerei basierten. Was Cloud für abwegig hielt, denn es passte nicht ins sonstige Bild, das er von Fontarayn und Ovayran gewonnen hatte. »Wie würde eine solche Hilfe aussehen?«, fragte er deshalb vorsichtig und tauschte einen Blick mit Scobee, der ihr signalisieren sollte: Halte dich bitte zurück. Ich habe alles im Griff. Er schürzte die Lippen. »Wobei ich gleich sagen muss: Es fällt mir nach wie vor schwer zu glauben, dass es Dinge geben soll, von denen nicht einmal die KI etwas ›weiß‹.« »Es gibt entsprechende Sperren, die verhindern, dass sie hinter die Kulissen blickt, die aufgestellt wurden, um gewisse Möglichkeiten zu verbergen.« »Von den Verschwörern, die dieses Schiff einst bauten – als es noch eine Arche für jene Foronen sein sollte, die aus der Großen Ma-
gellanschen Wolke flohen?« »Davon gehe ich aus.« Cloud nickte nachdenklich. »Und diese Sperren, von denen du sprichst … du könntest sie überwinden?« »Ich habe sie bereits überwunden. Schon bei meinem ersten Eintauchen in die RUBIKON. Du erinnerst dich? Als ich das Schiff hinter den Ereignishorizont des Milchstraßen-Black-Holes steuerte. Wir kannten uns damals noch nicht, wie wir es jetzt tun.« Hah!, dachte Cloud. Spar dir deinen Schmusekurs. Auch wenn er es äußerlich nicht zeigen wollte, so wartete er doch gespannt auf Fontarayns weitere Ausführungen. »Mit anderen Worten, du hättest mir längst sagen können, was uns die RUBIKON bislang vorenthält? Welche technischen Finessen in ihr stecken, ohne dass wir sie jemals nutzten?« Fontarayn trat einen Schritt näher. So nahe, wie er Cloud noch nie gekommen war. Und … täuschte er sich, oder strömte der Gloride tatsächlich einen Duft aus? Einen exotischen Körpergeruch, der nur aus dieser unmittelbaren Nähe bemerkbar war? Cloud schaute zu Scobee, aber sie verstand nicht, worauf er sie ohne große Geste hinweisen wollte. Fontarayns Worte lenkten ihn ab. »Ihr Menschen habt ein Sprichwort«, sagte er. »Wir Menschen haben viele Sprichwörter«, sagte Cloud. »Welches ganz speziell meinst du?« »Worte sind Schall und Rauch.« Der Gloride machte plötzlich ein Gesicht, als hätte er endlich begriffen, wie er mit seinen Gegenüber umspringen musste – um sich mit ihnen auf eine Stufe zu begeben. Denn dazu brauchte es sehr viel mehr als die Umwandlung von Energie in Materie und das Modellieren selbiger. Erstmals fand Cloud jene Lebendigkeit in Fontarayns Zügen, die er bislang vergeblich gesucht hatte. Das Maskenhafte schwand. Der Gloride wurde begreifbarer als Lebensform. »Und damit willst du uns sagen …?« »Ich dachte, das läge auf der Hand.« »Offenbar nicht. Vielleicht stehe ich auch auf der berühmten Lei-
tung …« Verwirrung nahm Einkehr im Gesicht des Gloriden. »Aha. Nun, ich will damit sagen, dass es nicht nur einfacher, sondern auch effektiver ist, wenn ich dir die bislang verborgenen Möglichkeiten deines Schiffes zeige.« Cloud zuckte die Achseln. »Auch gut. Fang an. Ich nehme an, du gehst dafür abermals im Schiff auf, interagierst mit Sesha …« Fontarayns Mimik ließ nur einen Schluss zu: dass er sich die Vorgehensweise anders vorstellte. Und das sagte er Cloud Sekunden später auch klipp und klar. »Ich will mit dir interagieren, John Cloud. In dir aufgehen. Nur so kann ich dich hinter die Kulissen, hinter die Schwelle führen, wo deinen Geist fantastische Möglichkeiten erwarten …«
»Du willst was tun?«, presste Cloud hervor. Er hatte das Gefühl, etwas blockiere seinen Rachen und müsse herausgewürgt werden. Fontarayn gab sich ungerührt. »In dir aufgehen.« »In mir …« Cloud schluckte. »… aufgehen? Entspräche das dem, was ich glaube, dass es bedeutet?« Leichte Verwirrung schlich sich in Fontarayns Blick, wobei sich Cloud nach seinem Gespräch mit Prosper Mérimée und dem, was er dabei über Ovayrans Besuch erfahren hatte, ins Bewusstsein rief, dass die erkennbaren Augen eines Gloriden nicht mehr darstellten als einen winzigen Teil seiner Maske, seines Aktionskörpers, dessen er sich nach der Verstofflichung bediente. »Schon gut«, wiegelte Cloud ab. Er wollte das Sprachverständnis des Zwitterwesens, das mal körperlich, mal als pure Energie agierte, nicht überstrapazieren. »Wie würde mein Körper auf dieses … Aufgehen reagieren? Mit einem Kollaps? Ich kann mir nicht vorstellen –« »Du solltest dir mehr Sorgen um deinen Geist machen«, versetzte Fontarayn trocken. Dazu sah er Cloud gleichmütig an … aber nur, um zwei Sekunden später in schallendes Gelächter zu verfallen, das ebenso abrupt endete, wie es begonnen hatte. »Entschuldige«, sagte
er, »ich lerne. Ich bemühe mich um eine Angleichung, um unser Miteinander zu erleichtern. Das war ein Scherz … Habe ich alles richtig gemacht?« Er legte den Kopf schief, ganz wie ein Mensch, der erwartungsvoll auf das Ergebnis eines Prüfungsresultats wartet. Aus dem Hintergrund mischte sich Jarvis ein, der gerade in Begleitung anderer Crewmitglieder in die Zentrale gekommen war. »Ja, du hast alles richtig gemacht, Glühwürmchen. Für meinen Geschmack sogar etwas zu gut, wenn du es genau wissen willst. Vielleicht solltest du lieber der humorlose Charmebolzen bleiben, den du uns die ganze Zeit gegeben hast. Damit konnte ich mehr anfangen. Ich habe genug damit zu tun, die anderen hier von meinem sonnigen Humor zu überzeugen, seit ich einen auf Nanoklotz mache. Einen Konkurrenten kann ich da nur ganz schwer ertragen.« Scobee, die neben ihm stand, versetzte ihm einen impulsiven Rippenstoß – ohne zu bedenken, dass Jarvis dergleichen nicht mehr hatte. Ebenso hätte sie der nächstbesten Wand einen solchen Stoß geben können. Nur mit Mühe unterdrückte sie einen Aufschrei, als ihr Ellbogen etwas traf, was eindeutig härter war als er. Cloud versuchte, sich nicht von dem Geplänkel ablenken zu lassen. »Wie oft hast du das schon getan?«, fragte er ruhig. Er hatte sich wieder gefangen, sich und seine Verblüffung wieder im Griff. »Ich meine bei einem Lebewesen, nicht bei einem Ding, einer Maschine, einem kybernetischen Organismus …« Fontarayn ließ sich auch von dieser Frage nicht aus dem Konzept bringen. »Es wäre das erste Mal.« Cloud nickte, mied den Blick zu den Freunden. »Das hatte ich mir fast schon gedacht. Es gibt also nicht die geringste Garantie, dass ich eine solche Verschmelzung überleben würde.« Zum ersten Mal schien so etwas wie Schrecken über Fontarayns Mimik zu huschen. »O doch«, beteuerte er. »Ich garantiere es. Ich bin kein Mörder. Für was für ein amoralisches Geschöpf hältst du mich? Ich bin ein Gloride. Mein Kodex sagt –« »Ihr habt einen Kodex?«, entfuhr es im Hintergrund Algorian, der
nach eigenem Bekunden keine Möglichkeit fand, die Gloriden auf telepathischer Ebene zu espern. »Natürlich! Wir sind die Bewahrer der Perlen – und damit die Behüter jedweden Lebens! Hatte ich das noch nie erwähnt?« Cloud wartete Algorians Erwiderung nicht ab. »Wird es mit Schmerz verbunden sein?« »Davon ist nicht auszugehen.« »Du sagst das so sicher …« »Weil es dem Vorgang ähnelt, mit dem wir Gloriden untereinander gewaltige Datenpakete austauschen. Dabei sind wir zunächst auch in unserer physischen Gestalt. Dann wandelt sich der Informationsüberträger in seine entstofflichte Form und strömt in den Körper des Empfängers … Nie kam es bei einer solchen Funktion zu der Reaktion, die ihr als Schmerz kennt. Es wäre höchst erstaunlich, wenn –« Cloud hatte genug gehört. Er gab den anderen ein Zeichen, das sie zur Zurückhaltung ermahnen sollte. Gleichzeitig sagte er an Fontarayn gewandt: »Okay, ich riskiere es. Wie ist die genaue Vorgehensweise?« »Wir werden für eine Dauer, die ich im Voraus nicht festlegen kann, miteinander verschmelzen. Zuvor begibst du dich in deinen Kommandosarkophag, der sich, nachdem ich in dich gewechselt bin, schließt. Wir werden beide die virtuellen Nervenstränge dieses Schiffes bereisen, und ich werde dir sämtliche neuralgischen Punkte zeigen, offen legen. Du wirst das, was du zu kennen glaubst, ganz neu erfahren müssen, um es künftig zu beherrschen – und seine Möglichkeiten bis zum Limit auszureizen.« »Das«, sagte Cloud, »klingt vielversprechend.« Fontarayn nickte in angestrengt menschlicher Manier und bewies, dass Jarvis' flapsiger Konversationston nicht spurlos an dem lernbegierigen Gloriden vorbeigegangen war. »Es wird dich umhauen«, versprach er.
»Ich weiß nicht, ob du die Gefahr richtig einschätzt«, sagte der
»Tote«, der immer noch – eigentlich mehr denn je – sein Freund war. Er hatte sich vor Cloud aufgebaut, und selten hatte er wuchtiger, schwerer, kompakter gewirkt als in diesem Moment, da er ihn aus seinen kalten Technoaugen ansah. »Was ist, wenn du dabei draufgehst? Du musst auch an die anderen denken.« Er meinte auch sich selbst damit – und was er darüber hinaus noch zum Ausdruck bringen wollte, war Cloud vollkommen klar. »Ich habe Sesha klare Instruktionen erteilt«, versuchte er ihn zu beruhigen. »Sollte mir etwas zustoßen, etwas, das mich außerstande versetzt, die Belange der Crew und des Schiffes weiter zu vertreten, wird die KI dich und Scobee als gleichberechtigtes Führungsteam akzeptieren. Es liegt dann an euch, darüber zu befinden, wie es weitergeht. Ob ihr die extra large version der Reise nach Andromeda in Kauf nehmen wollt – oder lieber hier in heimischen Gefilden bleibt, vielleicht mal einen Trip Richtung Erde wagt, um euch ein Bild davon zu machen, was die Erinjij unter Darabim so treiben … Was auch immer. Das Universum steht euch offen. Vielleicht entfernt ihr euch auch einfach nur so weit wie möglich vom Milchstraßenzentrum und allem, was nach Käfer aussieht. Es gibt so viele Welten, eine davon könnte eine neue Heimat, eine neue Erde werden. Wenn es ganz perfekt liefe, könnte sie Erde, Spore, Aorii-Welt und Kalser zusammen ersetzen. Ihr könntet ganz von vorn anfangen und in nie da gewesener Weise auf Multikulti machen …« »Pah!«, drang es aus dem Körper, der sich von einem Moment zum anderen in eine tödliche Waffe verwandeln konnte. »Ich schätze, es ist sinnlos. Du hast dich entschieden, und nicht einmal Engelszungen könnten dich von deinem Entschluss abbringen.« »Zumal weit und breit kein Engel in Sicht ist«, frotzelte Scobee. »Selbst bei allem Bemühen gehe ich als solcher wohl nicht durch … oder?« »Nein«, bestätigte Cloud. Es war einer der Momente, in denen einen die Zuneigung zu Freunden fast wie eine warme Welle durchzog. Er musste sich gewaltsam aus dem Wohlgefühl lösen. »Wird schon schief gehen«, nickte er den Gefährten zu. Dann betrat er das Podest und ging auf den Sitz zu, der einmal für Sobek reserviert ge-
wesen war und neben dem bereits Fontarayn wartete. Cloud ließ sich ohne weiteres Zögern in den schalenartigen Sitz sinken und blickte zu dem Gloriden auf. »Es kann losgehen.« »Bist du sicher?« »Falsche Frage. Mach einfach.« Fontarayn bewegte den Kopf leicht nach hinten; es sah aus, als beschwöre er innerlich irgendeine höhere Macht. Fast als würde er in ein stummes Gebet verfallen. Cloud war mehrfach in seinem Leben narkotisiert worden; im Prinzip ließ sich auch das Versetzen des Körpers in eine Stasis, wie unter anderem während der Marsmission geschehen, damit vergleichen. Man lag da und hatte die Augen offen, während ringsum die Vorbereitungen zur Anästhesie liefen. Sein erklärtes Ziel war es jedes Mal gewesen, so lange wie möglich bewusst an diesen Handlungen teilzunehmen … … und dann war er irgendwann später erwacht und hatte sich eingestehen müssen, dass es geradezu kläglich war, was er vor dem Einschlummern wahrhaftig noch mitbekommen hatte. Auch jetzt brannte der Ehrgeiz in ihm, die Phase des Verschmelzens in jedem Stadium bewusst zu erleben. Ein hoher Anspruch – und völlig an der Realität vorbei, wie er kurz darauf feststellen musste. Fontarayn entstofflichte neben ihm zu einem Lichtgebilde, das schon einen Atemzug später in Clouds Schädel wie in einen Blitzableiter einschlug. Er glaubte noch, irgendwelche Rufe seiner Freunde zu hören, dann überwältigte, über- und durchflutete ihn auch schon das Licht und löste die Umgebung in blendender Helle auf. Gleichzeitig wurde es absolut still, als würde jedes Geräusch hermetisch abgeschirmt. Und als schließlich ein angenehmes Dunkel in sein Bewusstsein einkehrte, sagte etwas, das sein eigener Gedanke hätte sein können, aber definitiv nicht war: »Du hast soeben – ich hoffe, du verzeihst, dass ich ein wenig nachhalf – die Sitzummantelung geschlossen. Die
Kommandostelle ist aktiviert, dein und mein Geist wurden darauf geeicht. Die Reise ins Aderwerk deines Schiffes kann beginnen.« Und schon erwachte der Sog, der Cloud davonwirbelte, wie noch niemals zuvor, seit er gelernt hatte, die RUBIKON wie seinen eigenen Körper zu handhaben, in sie hineinzulauschen und all ihre Möglichkeiten auszuschöpfen … die er noch vor kurzem zu kennen geglaubt hatte. Doch Fontarayn klärte ihn über seine Irrtümer auf. Indem er bislang verborgene Tatsachen für sich sprechen ließ. Und dann blieb Cloud nicht einmal Zeit, die neu gewonnenen Erkenntnisse zu verdauen, denn …
»Mir gefällt das nicht«, murrte Jarvis. Scobee wusste nicht nur, was ihm missfiel, sie teilte dieses diffuse Gefühl der Hilflosigkeit. »Meinst du mir?«, gab sie zurück, ehe sie sich an Algorian wandte, der die Dreiergruppe komplettierte, die sich wenige Schritte vom Kommandopodest zusammengefunden hatte. »Kannst du ihn noch spüren?«, fragte sie. »Ja«, sagte er. Er wirkte ernster denn je. Sein kahles Haupt war mit seltsamen Flecken übersät, die fast wie Feuermale aussahen – bei einem Aorii-Zweitling der unleugbare äußere Beweis für seine Nervosität. Scobee machte sich bewusst, wie gering die Fähigkeiten des Espers im Vergleich zu dessen inzwischen verstorbenen Hassbruder Rofasch ausgebildet waren. Zweitlinge waren in ihrem eigenen Volk Aorii zweiter Klasse. Erstgeborene, auch Hassbrüder genannt, dominierten eine solche Verwandtschaftsbeziehung ein Leben lang. Aber noch schlimmer als diese Dominanz die den Zweitling unterordnet und regelrecht knechtet, dachte Scobee, ist es, wenn der Erstling stirbt. Sie erinnerte sich gut an den Schmerz, die Verzweiflung, die Krise, die mit Rofaschs Tod für Algorian einherging. Er hatte mit der plötzlichen Freiheit erst lernen müssen umzugehen. Hilfe und mentale Stütze war ihm dabei vor allen Dingen Cy gewesen, den er einst für die Allianz CLARON rekrutiert und als Botschafter CLARONs
ausgebildet hatte, um ihn zu den Jay'nac zu schicken … All das war lange her. Die Zeiten hatten sich geändert, ebenso die Ziele. Heute ging es nicht mehr darum, mit den Jay'nac zu verhandeln und sie zur friedlichen Koexistenz mit den organischen Völkern zu bewegen. Der drohende Krieg schien ausgeräumt, alle Seiten hatten ihre Bereitschaft zur Verständigung signalisiert und die Jay'nac hatten sich, soweit bekannt war, in ihr Hoheitsgebiet zurückgezogen, hatten offenbar sogar die Erinjij sich selbst überlassen. Womit die Erde weiterhin unter dem Diktat der Keelon-Master stand … Spekulation, bremste Scobee ihre Überlegungen. Wir wissen nicht sicher, ob sich die Jay'nac künftig aus dem Wirken ihrer Schöpfungen heraushalten wollen. Wir wissen nichts über die aktuellen Verhältnisse auf der Erde oder auf Nar'gog, der Zentralwelt der Anorganischen. Nichts. Stattdessen haben wir uns in den Kopf gesetzt, mal eben nach Andromeda zu reisen … fast zwei Millionen Lichtjahre von hier entfernt … »Allerdings nur schwach«, fügte Algorian nach einer kurzen Pause hinzu. »Du weißt, dass ich Gloriden nicht wahrnehme. Sie sind mental einfach nicht existent für meine telepathischen Fühler. Und momentan ist es so, als würde Johns Bewusstsein von Fontarayn partiell zugedeckt.« Scobee blickte unwillkürlich zu dem Sitz, wo sich Cloud ihren Blicken entzogen hatte, indem er ihn geschlossen hatte. Er war der einzige »Sarkophag«, der sich so präsentierte – die anderen sechs waren weiterhin geöffnet. Was mochte sich gerade unter der Schale aus dunkler Substanz – Scobee vermied den Begriff Metall, da sie wusste, dass er nicht stimmte; die RUBIKON war aus einem »intelligenten« Material geformt, das sich in Grenzen dem Willen seiner Herren unterordnete – abspielen? »Mir gefällt vor allen Dingen nicht«, sagte Scobee, »dass sich Ovayran schon wieder irgendwo im Schiff herumtreibt, während sein Kollege sich als Gespenst in Johns Geist versucht … Es hätte bestimmt andere Möglichkeiten gegeben, sich in die angeblichen Geheimnisse der RUBIKON einweihen zu lassen – aber wer hört schon auf mich?«
»Angebliche Geheimnisse …«, nahm Jarvis den Köder auf, den sie ihm unbeabsichtigt hingeworfen hatte. »Du glaubst also nicht daran?« »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Wir haben von der Verschwörergruppe erfahren, die die RUBIKON offenbar ein klein wenig am Septemvirat vorbei konzipierte – deshalb ist alles möglich. Auch dass bislang verborgene Ressourcen existieren. Aber die hätte man auch uns allen gleichzeitig präsentieren können, so wie man das ›Realitätslevel‹ – Achtung, ich zitiere einen Gloriden – änderte, auf dem sich die RUBIKON bewegte, bevor sie die versteckten Sternensysteme wahrzunehmen vermochte … Wobei mir noch immer nicht klar ist, was das bedeutet. Befinden wir uns seither nicht mehr in unserer angestammten Wirklichkeit – oder hat man lediglich unsere Sinne und Ortungen für das Verborgene geschärft?« »Ich hoffe Letzteres«, sagte Algorian. »Sonst befänden wir uns in einem Geflecht aus Realität und Schein, das sich ohne die Gloriden schwerlich wieder verlassen ließe.« Scobee nickte. »Sesha?«, sagte sie lauter, als sie zu ihren Freunden gesprochen hatte. Die Stimme der KI kam aus keiner bestimmbaren Richtung. »Ja?« »Gibt es von deiner Seite her bereits neue Erkenntnisse? Ich meine … Fontarayn wollte doch das Schatzkämmerchen öffnen. Spürst du bereits etwas davon?« Die KI ließ sich Zeit mit der Antwort – oder kam es Scobee nur so vor? Ihre Erwiderung war dann keine eigentliche Antwort, eher eine Überraschung. Denn sie erklärte: »Ihr könnt an dem, was gerade beschlossen wurde, optisch teilhaben.« »Beschlossen?«, echote Jarvis. »Optisch teilhaben?« Aber Sesha schien keine Veranlassung zu sehen, ihre Aussage zu präzisieren. Stattdessen ließ sie die Bilder – zunächst jedenfalls – für sich sprechen. In der Holosäule wich das Meer der Sterne in den Hintergrund zurück. An seine Stelle trat eine Simulation (es konnte nur eine sein),
die die RUBIKON in ihrer Gesamtheit zeigte. Ein Gebilde, das große, wenn auch wohl zufällige Ähnlichkeit mit einem irdischen Mantarochen hatte. Von einem externen Betrachter wurde es in der Regel als zirka 250 Meter lang, 300 Meter breit – was der Schwingenspannweite entsprach – und maximal 50 Meter dick wahrgenommen. Dieses Größenverhältnis bestätigte auch das Koordinatennetz, in das Sesha die RUBIKON bettete und dessen Maßangaben längst auf das metrische System der Menschen abgestimmt waren. So weit, so gut. Doch kaum hatten die Betrachter Gelegenheit gehabt, sich die Details zu verinnerlichen, begannen die Ziffernangaben rund um das Modell auch schon nach oben zu schnellen. Die RUBIKON legte ihre Dimensionswälle ab, entblößte sich regelrecht, wie sich Scobee sofort klar machte, denn die speziellen Tarnund Schutzschirme, mit denen das Schiff normalerweise operierte, funktionierten ihren Informationen nach nur im Zusammenspiel mit der »Miniaturisierung«. Eines der folgenreichsten Charakteristika der einstigen Foronenarche war ihre gigantische Größe, die sie dem Betrachter im Normalfall mit einem technischen Trick vorenthielt. Denn real maß die RUBIKON gut das Zehnfache ihrer vorgegaukelten Dimensionen – und diese realen Werte spielte Sesha in diesem Moment ein, beziehungsweise zeigte über das Raster, wie die RUBIKON explosionsartig wuchs. Scobee räusperte sich und sagte dann, während sie sich wie von selbst in Bewegung setzte und zu dem Podest mit der Säule schritt: »Sesha? Was läuft hier? Willst du uns nur ein paar nette Bildchen unseres Schiffes zeigen, oder … geschieht das, was hier demonstriert wird, gerade? Mit anderen Worten: Hast du die höherdimensionalen Wälle deaktiviert, die das Schiff normalerweise umgeben?« Diesmal dauerte es keine nennenswerte Spanne, bis Sesha antwortete: »Es geschieht. Ich habe die Weisung erhalten, euch an den Änderungen teilhaben zu lassen.« »Von wem? Von John oder Fontarayn?«, fragte Jarvis sarkastisch.
Er hatte zu Scobee aufgeschlossen, ebenso wie Algorian, und gemeinsam traten sie ganz nahe an den geschlossenen Sarkophagsitz heran, hinter dem sich die Holosäule mit der RUBIKON-Simulation vom Boden bis zur Decke spannte. »Was für eine absurde Frage«, erwiderte Sesha, ohne dabei gekränkt zu klingen. »Es gibt nur einen Kommandanten, das ist euch bekannt. Ich interagiere mit John Cloud. Er ist der legitime Führer dieses einzigartigen Schiffes, das sich in so vielen Details von seinen groben Kopien unterscheidet.« »Ups«, machte Jarvis. Ups, dachte auch Scobee. Zu offensichtlich hatte sich das Statement der KI gewandelt. Noch vor einer Minute hätte sie auf jede Nachfrage darauf gepocht, dass das genaue Gegenteil der Fall war – ihrem eigenen Informationsstand zufolge. Sie hatte bis zuletzt darauf beharrt, zwar die Originalarche zu sein, dass aber die einzigen Details, die sie von den HAKARs unterschieden, von Sobek herbeigeführt worden waren … und einzig dazu dienten, von den anderen SESHA-Einheiten nicht mehr ohne weiteres geortet werden zu können. Was umgekehrt mühelos möglich war, solange sich die HAKARs in Reichweite der Schiffssensoren befanden. Nun aber. In so vielen Details … »Warum wurden die Wälle deaktiviert«, fragte Scobee. »Und komm mir nicht wieder mit Ausflüchten. Sag die Wahrheit. Sag, was gerade geschieht oder geschehen ist, dass du … so anders sprichst. Ist dir überhaupt bewusst, was du gerade hast verlauten lassen?« »Ich bin nicht in der Lage, Bewusstsein zu entwickeln. Aber wenn du damit fragen willst, ob ich mir der Bedeutung dessen, was ich sage, klar bin, kann ich nur antworten: natürlich. Die Abschaltung der Dimensionswälle ist eine Notwendigkeit.« »Warum?«, schnappte Jarvis. »Wir entblößen uns dadurch. Sollten die Treymor –« »Oder Sobek und seine Bande«, gab Scobee mit zu bedenken, während Jarvis ungerührt fortfuhr: »– irgendwo in der Nähe sein, wer-
den wir ernsthafte Probleme bekommen. Ihr erinnert euch vielleicht …« Jetzt unterbrach er seine Rede doch. Weil er sah – wenn auch mit anderen Sinnen –, was sich Scobees und Algorians Augen darbot. Wieder hatte sich die Simulation in der Holografie verändert. Noch einmal hatte sie einen Wachstumsschub erhalten. Weil jetzt … »Der Schweif!«, rief Scobee. »Du hast soeben den Schweif ausgebildet, Sesha! Du machst die Kontinuumwaffe scharf!« »Nicht ich«, erwiderte die KI kühl. »Der Kommandant.« »John? Aber … Droht ein Angriff? Sind die Treymor etwa schon da? Warum zeigst du uns kein anderes Bild mehr von Relevanz? Wenn wir angegriffen werden –« »Wir werden nicht angegriffen.« »Warum dann die Schweifaktivierung?«, fragte Jarvis, der ebenso wie die anderen Betrachter anhand der eingeblendeten Werte in der Lage war zu beurteilen, dass die K-Waffe sich ihrem Bereitschaftsstatus näherte. »Das macht keinen Sinn. Welchem Zweck dient diese … Vorführung?« »Ihr sollt informiert werden. Über die Besonderheiten des Schiffes, die euch bislang unbekannt waren.« »Und dazu gehört der Aufbau des Schweifs?«, fragte Scobee. Das Anhängsel, das in der Holodarstellung sichtbar geworden war, verdoppelte die Länge der RUBIKON. Aber dieser Schweif diente einzig als Waffe gegen schier übermächtige Angreifer … die dem, was sie anrichtete, letztlich aber auch nichts entgegenzusetzen hatten. Zumindest nicht das Gros derer, die jemals damit konfrontiert wurden, schränkte Scobee hinsichtlich der Treymor und deren Missbrauch von ERBAUER-Technologie ein. Die Treymor hatten die RUBIKON an den Rand der Vernichtung geführt – trotz K-Waffe. Dennoch blieb sie die mächtigste und verheerendste Offensiveinrichtung des Schiffes. Dass sie jetzt von Cloud aktiviert wurde, bedeutete nichts Gutes. Scobee fühlte es regelrecht, mit jeder Faser ihres Körpers. Ein Blick zu Algorian genügte, um zu zeigen, dass es dem Aorii
nicht anders ging. Seine Haut war von noch mehr Flecken überzogen. Dazu kam ein Zittern, als stünde er kurz vor dem Zusammenbruch. »Wir sollten die anderen hinzuziehen«, keuchte er. »Es tun sich Dinge, die –« Seshas Stimme fuhr dazwischen: »Es ist sicherer, wenn sich die Crew in die nächststehende Sitzgelegenheit begibt. Unverzüglich. Achtung: Ich scanne jetzt das Schiff, um die Aufenthaltsorte der Einzelnen zu eruieren. Wo nötig, bilde ich entsprechende Sitzmöglichkeiten aus …« »Verdammt!«, fluchte Jarvis ungeniert. »Gilt das auch für einen Typen wie mich?« Sesha schwieg. Jarvis deutete es so, dass es wahrscheinlich nicht nötig war – dennoch begab er sich zusammen mit Scobee und Algorian zu den Sitzen des Kommandopodests. Während sie Platz nahmen, aktivierte sich einer der Türtransmitter im Rund der Zentrale. Cy purzelte regelrecht herein und zirpte: »Was geht hier vor? Warum wurden wir aufgefordert –« Scobee wies einladend auf einen der freien Sitze. »Nimm einfach Platz. Wir wissen nicht viel mehr als du. Offenbar probiert John …« Sie nickte zu dem einzigen geschlossenen Sarkophag. »… ein paar der neuen Errungenschaften aus, die uns Fontarayn andeutete. Zumindest haben wir diesen Eindruck in den letzten Minuten gewonnen. Erst wurden die Wälle abgeschaltet, dann der Schweif für die K-Waffe aktiviert. Eine Gefahr, die dies rechtfertigen würde, existiert laut Sesha nicht. Das mag einerseits beruhigen, da wir nach dem Fall der Wälle angreifbarer als zuvor sind. Andererseits will es mir persönlich aber überhaupt nicht gefallen, weil ich es vorziehe zu wissen, was gerade mit mir oder um mich herum geschieht. Aber Sesha macht sich einen Spaß daraus, uns im Unklaren zu lassen, während sie selbst offenbar längst einen Informationssprung und -schub erlebt hat. Jedenfalls ist sie die Ruhe selbst und –« »Ich mache keinen Spaß«, sah sich die KI zum Dementi genötigt. »Ich befolge lediglich Anweisungen.«
»Und die lauten, uns im Trüben fischen zu lassen?« »Keinesfalls. Ich wurde instruiert, euch über den Sinn der Maßnahme und die nächsten Schritte zu informieren. Dies ist jedoch nur möglich, wenn mich die Zentralenbesatzung auch zu Wort kommen lässt.« Auf Jarvis' künstlichen Zügen bildete sich die Karikatur eines Grinsens ab. »Wo sie Recht hat, hat sie Recht.« Scobee presste nur die Lippen zusammen. Für etwa eine Sekunde. Als Sesha da noch schwieg, konnte sie nicht anders, als zu drängen: »Und? Was ist jetzt? Wozu der ganze Zauber? Was bezweckt … John damit?« »Er hat soeben den Befehl zum Aufbruch gegeben.« »Aha. Und wohin?« »Nach Andromeda«, sagte die KI. »Wir starten in genau dreißig Sekunden zur Nachbargalaxis.«
Dreißig Sekunden, hallte es in Algorian wider. Er rutschte in dem viel zu großen Sitz hin und her, blickte mehrfach zur Menschenfrau, dem Kunstmann und dem zum Freund gewordenen Aurigen, der noch einsamer inmitten all der neuen Freunde sein mochte als er, der er seinen geliebten Hassbruder verloren hatte. Und immer wieder blieb sein Blick kurz an der dreidimensionalen Darstellung der RUBIKON hängen, die detailverliebt in die Säule projiziert war – Resultat einer unvorstellbar plastisch und realistisch wirkenden Rechnerleistung … die unablässig erweitert, um neue Details bereichert wurde. Die RUBIKON mit ihrem Schweif, an dessen Spitze sich der Projektor befand, der in der Lage war, das Raum-Zeit-Kontinuum »aufzutrennen« und so einen zeitweiligen Zugang in ein fremdes Universum zu öffnen. Ein Riss. Ein Spalt, aus dem die Naturgewalten jenes fremden Kosmos in den diesseitigen herübergriffen und wie ein Sog alles verschlangen, was sich in der Reichweite dieser Anziehungskraft befand – die un-
widerstehlich war. Nur nicht für das Objekt, das sie entfesselt hatte. Die RUBIKON selbst hielt den Gewalten stand, weil … … weil, rief sich Algorian in Erinnerung, sie gleichzeitig Gravitationsanker auswirft, die sich im diesseitigen Kontinuum festkrallen und die RUBIKON unverrückbar platzieren, während alles ringsum – alle schiffsgroßen Objekte zumindest – in den sicheren Untergang gezerrt werden. Ebenso wie Scobee oder Jarvis verstand er nicht, warum Sesha – oder John Cloud oder Fontarayn – den Schweif ohne Not aktivierten. Zumal sie die RUBIKON auch noch ihrer Wälle entledigt hatten. Zeigte der Gloride jetzt, verborgen hinter den Wänden des Sarkophags und aufgegangen im Leib des Commanders, sein wahres Gesicht? Hatten sie sich mit dem Perlenbewahrer, der fast noch fremdartiger und unbegreiflicher wirkte als ein Jay'nac, eine Art … wie hatte Scobee es in einem Gespräch genannt, als sie auf die Sagenwelt der Erdbewohner zu sprechen gekommen waren … Trojanisches Pferd an Bord geholt. Genauer gesagt sogar zwei Trojaner, denn der andere Gloride bewegte sich nach wie vor irgendwo auf den Decks, und niemand schien genau zu wissen, was er dort bewerkstelligte. Wieder und wieder versuchte Algorian, in den Sarkophag zu Cloud vorzustoßen, ihn telepathisch zu ertasten. Doch es war ihm nicht möglich, auch nur einen geordneten Gedankengang zu lokalisieren und zu verstehen. Dort drinnen, so schien es, herrschte ein vergleichbares Chaos, wie es sich am und im Schiff selbst abzuzeichnen begann. »Warum das ganze Zinnober«, empörte sich gerade Jarvis auf der gegenüberliegenden Seite des Holos, »wegen eines simplen Starts? Warum müssen wir Plätze einnehmen – jeder hier an Bord, egal, wo er sich gerade befindet? Das ist doch –« »Hoch verdächtig«, pflichtete Scobee ihm mit todernster Miene bei. »Machen wir uns darauf gefasst, dass uns kein … wie soll ich es sagen … herkömmlicher Start bevorsteht.« »Und das heißt?«, zirpte es aus den Tiefen von Cys gestrüppartigem Körper. »… fünf«, zählte die KI den Countdown herunter. »Vier … drei
…« »Wir werden es gleich erfahren – oder kann jemand diesen –« Weiter kam die Frau mit den Tattoos über den Augen nicht. Sesha gelangte in diesem Moment bei null an. Und selbst in diesem Moment erwartete niemand das, was dann geschah. Ihre Gehirne, ganz gleich, ob menschlicher oder außerirdischer Struktur, waren auch gar nicht in der Lage, die Information so schnell zu verarbeiten, wie sie über die Sinnesnerven zu ihrem Verstand transportiert wurde. Sie sahen zwar das Aufblitzen an der Spitze des RUBIKON-Schweifs … … aber noch bevor sie es begreifen und auch nur ansatzweise über die Konsequenz dieser Beobachtung nachdenken konnten … … war es auch schon wieder vorbei. Vorbei – aber nicht überstanden. Es gab nur eine Hand voll Gestalten an Bord, die ohne Blessuren davonkam.
Jiim hatte das dringende Bedürfnis zu diesem Besuch verspürt. Aber wenn er ehrlich war, lag es weniger an dem Mädchen, das in diese traurige Lage geraten war, als vielmehr an dem Ding, das an ihr prangte. Jelto begrüßte den Nargen verhalten. Er saß neben der Liege, auf die Aylea gebettet worden war, und hielt die Hand des Kindes, das nach wie vor ohne Bewusstsein schien. Zumindest waren die Augen fest geschlossen. »Du kommst in Rüstung?«, fragte der Klon mit dem schmalen, fast asketischen Gesicht, das die Größe seiner Augen noch betonte. Manchmal, fand Jiim, obwohl er in menschlicher Physiognomie wenig bewandert war, wirkte der Florenhüter, wenn er so großäugig schaute, selbst noch wie ein Kind, das weit davon entfernt war, flügge zu werden. »Ich hoffe, es stört dich nicht«, erwiderte Jiim betont unterwürfig. Er wollte keinen Streit, nicht einmal Irritationen, die auf ihn zurück-
gingen. Andererseits hatte er keine andere Wahl gehabt, als das goldene Nabiss anzulegen. Jelto schüttelte den Kopf und machte eine wegwerfende Bewegung mit der freien Hand. »Ich war nur überrascht.« Er zeigte auf den schemelartigen Sitz, der auf der anderen Bettseite aus dem Boden ragte. »Setz dich. Du sorgst dich auch um mein kleines Mädchen?« Die Art, wie er Aylea bezeichnete, war bezeichnend. »Sie ist vom Pech verfolgt«, bestätigte Jiim weiterhin zurückhaltend. »Ich habe mich informiert. Sie hat nicht nur auf ihrem Heimatplaneten viel erdulden müssen, sondern auch später. Einmal wurde sie von dem Chip befreit, mit dem sie ins Packa-Netz eingebunden war. Ein anderes Mal …« »Ja, sie ist ein Pechvogel.« Jelto schielte zu Jiim herüber, und nach einer Weile dämmerte es dem Nargen, dass dies eine Art Wortspiel oder Anspielung auf ihn, den »Vogelmenschen« sein mochte. Er verzog die Mundöffnung zu etwas, das wahrscheinlich kaum als Lachen durchging. Jelto ließ es unkommentiert. Jiim setzte sich vorsichtig. Die Rüstung schmiegte sich eng an Rumpf und Flügel. Er spürte ihr Gewicht nicht. Wenn er sie anlegte, war es, als schlüpfe er in einen zweiten Flaum. Auf andere Weise hingegen machte sie sich durchaus bemerkbar … »Wie ist ihr Zustand?«, fragte er zaghaft. »Unverändert«, erwiderte Jelto. »Sie ist ohne Besinnung. Man könnte meinen, sie schlafe nur, aber die Werte …« Er zeigte auf die Wand hinter dem Bett, wo sich die Vitalsignale auf mehreren Displays ablesen ließen. »… sprechen für sich. Sie liegt in einem tiefen Koma. Nicht auszuschließen, dass ihr Gehirn Schäden davongetragen hat.« Jiim blickte auf das Ding, das sich wie ein grausiges Kunstwerk in Ayleas Brustbein gegraben hatte und sich erhaben darauf abzeichnete. Dass es wie ein stilisiertes Flugwesen aussah, konnte nur ein Zufall – oder Ironie des Schicksals – sein. Das Universum war gewiss voller Geschöpfe, die die Natur be-
günstigt hatte, sich in die Lüfte zu erheben. Nur handelte es sich hierbei zweifelsfrei um kein Geschöpf, sondern um ein Ding … Zumindest schienen das fast alle an Bord zu glauben. Auch Jelto und selbst Sesha. Jiim war sich dessen weniger sicher. »Du bist über die aktuelle Entwicklung an Bord informiert?«, wechselte Jiim das Thema. »Was genau meinst du?« »Die Gloridenbehauptung, dieses Schiff verberge seine wahren Möglichkeiten vor uns – und hätte sie auch schon vor den Foronen verborgen. Fontarayn hat John Cloud dazu überredet, sich von ihm hinter die Sperren führen zu lassen, die ein Erkennen des wahren Potenzials verhindern.« Jelto nickte. »Ja«, sagte er einsilbig. »Ist mir bekannt.« Unausgesprochen ließ er, was er wohl in Gedanken hinzufügte: Interessiert mich aber nicht. Hier spielt die Musik. Das hier ist wichtiger als irgendein technisches Gimmick, das unser Schiff noch mehr aufwertet … Es sei denn, dieses Gimmick könnte helfen, meine Kleine hier zu heilen! Jiim mochte den Klon mit der speziellen Begabung, sich in jedes pflanzliche Leben einzufühlen und es sogar beeinflussen zu können. Der Narge war sicher, dass sich Jelto schon manches Mal gewünscht hatte, Aylea wäre auch eine Pflanze, die er kraft seiner eigenen Talente ins Leben zurückführen könnte. Andererseits wäre das Mädchen schon jetzt unrettbar verloren gewesen, tot, wenn sie pflanzlicher Natur gewesen wäre. Nach allem, was das Ding im hydroponischen Garten angerichtet hatte. Es war Cys Glück, dass der »Schrei« nicht über die Grenzen des Gartens hinausgereicht hatte. Jiim merkte, dass Jeltos Blick immer noch auf ihm ruhte, geradezu durchdringend. Unbehaglich streckte er kurz die Flügel. Sie stießen samt der Nabissumantelung gegen die Wand des Raumes. Jiim zuckte zusammen. »Du hattest nie ein besonders inniges Verhältnis zu Aylea«, sagte Jelto in einem Tonfall, als führe er lediglich ein Selbstgespräch. Als sei ich gar nicht anwesend. Der Narge schauderte leicht.
»Was nicht heißt, dass mich ihr Los unberührt lässt.« »Was das nicht ausschließt, richtig. Das will ich dir auch nicht unterstellen. Aber … ich glaube, dass da mehr ist. Nenn es ein Bauchgefühl, egal. Ich bin sicher, dass du nicht nur gekommen bist, um dich nach Aylea zu erkundigen.« Obwohl er es hatte vermeiden wollen, glitt Jiims Blick bei den Worten des Klons zu der Stelle, wo sich das Artefakt mit Ayleas Fleisch verbunden hatte. Noch ehe er seinen Fehler korrigieren konnte, entfuhr es Jelto: »Das ist es! Du bist seinetwegen gekommen!« Er zeigte unverhohlen auf das Ding, das dort wie ein sonderbares Fossil prangte – als wäre Ayleas Gewebe der Kalkstein, in dem es freigelegt worden war. Der Klon sprang auf. Argwöhnisch starrte er Jiim über die Ohnmächtige hinweg an. »Weißt du etwa, was es damit auf sich hat? Was es ist?« Der Narge machte schnell eine Geste der Verneinung. Als ihm klar wurde, dass Jelto sie nicht verstand, schüttelte er den Kopf, wie er es bei den Menschen oft gesehen hatte. »Beim Suprio – nein!« Auch ihn hielt es jetzt nicht mehr auf dem Schemel. »Ich versichere dir, dass ich es nicht weiß! Woher auch. Es ist nur …« »Nur was?«, drängte Jelto, ohne seine Wachsamkeit zu lockern. Er belauerte Jiim regelrecht. Der Narge entschied sich nach kurzem Zögern für die Wahrheit. »Es sendet Signale aus«, sagte er. »Signale?«, wiederholte Jelto ungläubig. »Du lügst. Sesha hätte längst –« »Ich weiß, was du sagen willst. Aber Sesha dürfte kaum imstande sein, sie zu empfangen. Es handelt sich um keine Funkwellen oder dergleichen … Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll.« »Ich glaube nicht, dass es mir an Verständnis mangelt, wenn du es mir richtig erklärst.« Jelto ging immer mehr auf Distanz. Jiim wollte verhindern, dass die Kluft zwischen ihnen eine Dimension erlangte, die nicht mehr überbrückbar war.
»Dass ich sie empfange, liegt weniger an mir selbst als hieran …« Seine mit dem Flügel verbundene Hand strich sacht über das Gold des Nabiss. »Und weil dies so ist, trage ich meine Rüstung. Sie reagierte schon in meiner Unterkunft und führte mich auf geradem Weg hierher. Erst kurz bevor ich eintrat, wusste ich, worauf sie reagiert.« »Das Artefakt«, sagte Jelto mit steinerner Miene. »Ich nehme es an, wenngleich mir die letzte Bestätigung fehlt.« »Wie könntest du sie erlangen?« »Ich müsste es berühren – mit der Rüstung.« »Wie kannst du das wissen?« Zum ersten Mal seit seinem Eintreten in dieses Zimmer verspürte Jiim einen Anflug wilden Humors. »Nenn es ein Bauchgefühl …« Insgeheim erwartete er, dass Jelto verärgert auf diese Retourkutsche reagierte. Das Gegenteil war der Fall. Der Klon entspannte sich von einem Moment zum anderen. Um seine Lippen spielte zuerst ein Schmunzeln, dann lachte er einmal herzhaft auf. »Es tut mir Leid«, sagte er dann. »Manchmal kann ich unausstehlich sein, ich weiß. Aber ich habe diesen mir selbst kaum erklärliche Beschützerinstinkt, wenn es um die Kleine geht … Du wirst das nicht verstehen, aber –« »Ich verstehe es sehr gut«, beteuerte Jiim. »Das Ei und das frisch geschlüpfte Junge, das seine ersten Versuche unternimmt, aus eigener Kraft zu überleben, sind auf meiner Welt heilig. Im Nachwuchs liegt die Zukunft, das wird bei euch nicht anders sein. Ich wollte dich nicht hintergehen, ich wusste nur nicht …« Jelto winkte ab. Jiim verstand und verstummte. Nach einer Weile fragte der Klon: »Worauf wartest du?« »Du meinst wirklich?« »Solange es meine Kleine nicht in Gefahr bringt …« Jiim begriff plötzlich, dass die Gefahr noch nicht überstanden war. Er selbst hatte noch keinen Moment daran gedacht, dass die Untersuchung des Artefakts Nachteile für Aylea hervorrufen könnte. Andererseits war überhaupt nicht absehbar, wie das Artefakt reagieren würde, wenn es erkannte, dass das Nabiss sich mit ihm befasste.
»Dafür bürge ich mit meinem Leben.« Kaum gesagt, wünschte er, er hätte geschwiegen. Aber ein Narge stand zu seinem Wort. Und das Nabiss, mit dem er in besonderer Verbindung stand, sollte ruhig spüren, wie wichtig es ihm war, Vorsicht und Zurückhaltung bei der Untersuchung an den Tag zu legen. »Dann«, sagte Jelto, »fang jetzt an. Bevor ich es mir anders überlege. Und solltest du mein Mädchen von dem Ding befreien können, sodass es wieder ganz hergestellt werden kann, werde ich ewig in deiner Schuld stehen. Das schwöre ich dir.« Jiim war alles andere als wohl, als er so dicht wie nur möglich an das im Koma liegende Mädchen herantrat und einen seiner armierten Flügel an es heranführte, bis das Nabiss das Artefakt, das wie eine pervertierte Brosche an Aylea prangte, berührte. Alles Weitere geschah wie von selbst. Der Kontakt kam geradezu spielerisch leicht zustande. Jiim schloss die Augen und wurde Zeuge, wie das Nabiss mit dem Artefakt kommunizierte. Zeit verlor ihre Bedeutung. Als er wieder die Augen öffnete, waren nach seinem Empfinden nur Momente verstrichen. Aber ebenso gut konnten es Minuten, Stunden sein … Dort, wo die »Brosche« gewesen war, gab es nur noch leicht gerötetes Fleisch. Jelto stöhnte. »Wie – hast du das gemacht? Und – was passiert jetzt weiter? Wird –« Ein Alarmton aus dem Wanddisplay brachte ihn zum Schweigen. Die Anzeigen dort veränderten sich abrupt. Über Ayleas Lippen rann ein Seufzer. Ihre Lider flatterten. Jiim trat einen Schritt zurück. »Wo ist es?«, wandte er sich an Jelto. Der Klon hatte nur noch Augen für das Mädchen. »Das fragst du mich? Ich dachte, du hättest das so gewollt? Es sah aus, als verwandele es sich in Rauch. Dieser Rauch wurde von deiner Rüstung förmlich inhaliert, aufgesogen. Nachdem es weg war, hast du die Augen aufgemacht, und Aylea ist im Begriff, zu sich zu kommen. Sieh dir nur ihre Werte an … Alles wird gut!« Alles wird gut. Jiim hätte sich gewünscht, dies ebenfalls glauben zu können. Aber
die Erkenntnisse, die er über das Nabiss gewonnen hatte, schwangen in ihm nach. Konnte wirklich sein, was die Ereignisse ihm suggerierten? Aber – wie hätte ein Gegenstand, von Ganfhand – Ganfgeist – erschaffen, über den Umweg Marsstation hierher an Bord gelangen sollen? Wen, der mit den Ganf in Kontakt stand, hätte es zum Mars verschlagen sollen? Nein, er musste realistisch bleiben. Er irrte. Das Nabiss irrte. Die Schwingungen mochten sich ähneln, aber es konnte unmöglich sein, dass – Weiter kam er mit seinen Überlegungen nicht. Aylea schlug die Augen auf, öffnete die Lippen – wollte gerade etwas röcheln … … als es auch schon wieder zu spät war. Nein, das Schicksal liebte dieses Mädchen wirklich nicht. Sie nicht – und auch kaum jemanden sonst an Bord der RUBIKON. Etwas Furchtbares brach über das Schiff und seine Besatzung herein. Wie mit einem titanischen Hammer zermalmte es jedes Bewusstsein, dessen es habhaft werden konnte. Das von Jiim … zählte nicht dazu …
Als der Blitz erlosch (eine Nanosekunde hatte er gedauert, wie der Nanokörper emotionslos feststellte), war alles verändert. Jarvis wusste sofort, dass etwas Schreckliches passiert war. Etwas, dessen ganzes Ausmaß für ihn noch nicht erkennbar war – aber weit über das Sichtbare hinausging. Das Sichtbare: Scobee und Cy zusammengesunken und vollkommen reglos in ihren Sitzen. Cy erinnerte an die verdorrten Pflanzen aus Jeltos Garten, über die der SCHREI aus dem Artefakt hinweggerollt war. So als hätte ihn der Fluch mit einiger Verspätung doch noch eingeholt. Scobee hing einfach nur da, irgendwie in sich ver-
krümmt, und hätte Jarvis nicht die Sinne besessen, jedes Detail mit absoluter Genauigkeit zu erfassen, wäre er vermutlich dem Irrglauben verfallen, sie sei gar nicht mehr am Leben. Aber sie atmete. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unmerklich. Sofort war er aus seinem Sitz. Durchquerte die Holosäule, deren Pixel wie ein Sturzbach aus Licht gegen ihn brandeten, an ihm abperlten. Dann war er bei Scobee. Untersuchte sie. Ja, sie lebte. Aber sie war ohne Bewusstsein, reagierte auf keine seiner Bemühungen, sie der Ohnmacht zu entreißen. »Sesha?« Parallel zu seinem Ausruf funkte er die KI auf der Frequenz an, auf die sie sich vor langer Zeit geeinigt hatten. Die Antwort kam prompt und ausschließlich über die Intakten Audiosysteme. »Ich höre.« »Was ist hier vorgefallen?« »Dem Anschein nach sind die biologischen Körper an Bord nicht für diese Art des Reisens geschaffen. Bis auf wenige Ausnahmen raubte der Sprung allen an Bord das Bewusstsein. Die Ausnahmen sind: die beiden Gloriden – mutmaßlich. Du – sicher. Ich – sicher. Der Narge Jiim – mutmaßlich.« Der Name John Cloud fiel nicht, weder als Mutmaßung noch als sichere Behauptung. Jarvis' Sinne streiften den immer noch geschlossenen Sarkophag. »Was ist mit dem Commander?« »Ausgefallen«, sagte Sesha. Ausgefallen. Die Spanne dessen, was dieses Wort bedeuten konnte, war gewaltig. Zu groß, als dass Jarvis Ruhe hätte bewahren können – oder auch nur wollen. In diesem Augenblick brach etwas durch den geschlossenen Sarkophag. Ein Licht, das sich völlig von dem seltsamen Blitz unterschied, den die Schweifspitze der Rubikon ausgelöst hatte (wie lange war das her – Wirklich erst Minuten?). Das Licht tanzte kurz wie ein Irrwisch durch die Luft, dann mate-
rialisierte sich Fontarayn hinter dem Sitz, in dem Scobee zusammengesunken kauerte. »Fontarayn – verdammt!«, grollte Jarvis. Der Gloride wirkte erschüttert. Selten hatte Jarvis ihn oder sein Pendant Ovayran so »durch den Wind« erlebt wie in dieser Situation. Er wankte förmlich, hatte Mühe, seine Stofflichkeit zu wahren. »Ich weiß … es ist meine Schuld … zumindest Mitschuld … Aber wie hätte ich ahnen sollen …? Euer Metabolismus ist so schwach. Der Sprung hat die meisten von euch völlig unvorbereitet getroffen. Das Gros der Besatzung ist außer Gefecht gesetzt. Aber sie werden sich erholen. Sie werden sich sicher er…« Mit einer Schnelligkeit, die ihm wohl auch der Gloride nicht zugetraut hätte, war Jarvis um den Sitz herum und bei Fontarayn. Sofort schloss sich seine Faust um den dünnen Hals des Perlenbewahrers. »Du! Am liebsten würde ich dich …« »Halt! Sei kein Narr! Ihr braucht uns – ohne uns …« »… war unser Dasein bedeutend ruhiger«, fiel Jarvis ihm ins Wort. Das war eine Lüge. Aber wen störte es. Wen störte es jetzt? Er schüttelte den Gloriden – und wunderte sich, dass dieser sich nicht einfach in seine energetische Existenzform rettete. Das wiederum imponierte Jarvis allmählich doch. Fontarayn vermittelte den Eindruck, dass er ehrlich bestürzt über die Entwicklung war – und alles dafür gegeben hätte, sie ungeschehen zu machen. Daraufhin ließ er ihn frei. Fontarayn taumelte zurück, fasste sich an die Kehle … schien zu begreifen, dass diese schauspielerische Darbietung unter seinem Niveau war … und besann sich eines Besseren. »Was ist mit dem Commander?«, blaffte ihn Jarvis an. »Auch er hat das Bewusstsein verloren.« »Sesha?« »Ich höre.« »Öffne den Sarkophag.« Der Sarkophag bildete sich im Zeitraffertempo zurück, gab unvermittelt die Sicht auf Cloud frei, der ähnlich verkrümmt dasaß wie Scobee.
»Analyse!«, verlangte Jarvis, ohne zu wissen, ob Sesha ihn als Autorität anerkannte. Dem war offenbar so. »Keine akute Bedrohung. Bewusstseinsverlust. Leite Maßnahmen ein, um die Rückführung zu beschleunigen.« Kaum ausgesprochen, eilten die bewährten Spinnenroboter aus zuvor verborgenen Öffnungen herbei. Sie kümmerten sich sofort um Cloud, Scobee und Cy. »Wird auch den Betroffenen außerhalb der Zentrale geholfen?«, fragte Jarvis. »Selbstverständlich«, antwortete die KI. Halb beruhigt wollte Jarvis es dennoch genau wissen. »Gibt es … Opfer zu beklagen?« Sesha bejahte. »Eines. Das Mädchen Aylea. Der Stress der Versetzung war zu viel für ihren ohnehin geschwächten Organismus. Sie starb …« Jarvis hatte das Gefühl, jetzt erst selbst von den Folgen des Blitzes erfasst zu werden. Ihm war, als öffne sich der Boden unter seinem bizarren Körper … als falle er geradewegs in den eisigen Weltraum hinaus, wo er bis zum Versagen seiner Cybersysteme durch Finsternis und Kälte driften würde. »… wurde aber inzwischen wieder erfolgreich reanimiert. Allerdings musste ich sie in ein künstliches Koma versetzen, nachdem sie gerade aus dem Koma erwachte, das auf die Artefakt-Attacke zurückging.« Sie war gerade im Erwachen begriffen?, dachte Jarvis. Aber ihm blieb keine Zeit, den Gedanken zu vertiefen. Vorerst musste genügen, dass der schlimmste denkbare Fall offenbar nicht eingetreten war. Aylea lebt. Keine Todesopfer, nirgends auf dem Schiff. In seiner unmittelbaren Nähe fluchte jemand auf Foronisch. Eine Sprache, die – von Sesha und Jarvis in seinem Kunstkörper abgesehen – niemand so perfekt beherrschte wie John Cloud. »Dem Himmel sei Dank!«, wandte sich Jarvis dem Commander zu. »Wenn du dir jetzt ein Minütchen nehmen würdest, mir mal zu erzählen, was das gerade war? Sesha spricht so kryptisch wie ein delphisches Orakel. Von Fontarayn gar nicht zu reden …«
Cloud setzte sich gerade im Sitz zurecht. Einer der Spinnenbots hatte ihm eine Injektion verabreicht. Zwei weitere bemühten sich noch um Scobee und Cy. »Wo soll ich anfangen?«, fragte Cloud. »Ich meine – was von dem, was Fontarayn mir gezeigt … und was ich getan habe … habt ihr hier ›draußen‹ mitgekriegt?« Jarvis berichtete knapp, wie sich die Sache für ihn und die anderen dargestellt hatte. Seine Worte nötigten Cloud ein bitteres Lächeln ab. »Dann«, sagte er, »hast du also nicht den leisesten Schimmer, wo wir sind.« »Müsste ich das?« »Es wäre zumindest kein Nachteil. Sesha …?« Die KI schien wortlos zu begreifen, was von ihr erwartet wurde. In der Holosäule wechselten die Bildeinspielungen. Statt der RUBIKON, die immer noch wie ein Platzhalter als Simulation darin geschwebt hatte, erschien eine Spiralgalaxie. Die Milchstraße, war Jarvis' erster Gedanke. Bis ihm Details auffielen, die nicht zur Milchstraße passten. »Ist das … Andromeda?«, fragte er. »Ja«, bestätigte Cloud. »Und ich kann dir versichern, dass es weder ein Bild aus irgendeinem Sternenatlas noch eines ist, das via Superteleskop herangezoomt wird.« Jarvis wartete verständnislos auf weitere Erklärungen. »Du hast es immer noch nicht kapiert«, fragte Cloud. »Stimmt's?« »Dein Tonfall gefällt mir nicht. Ich habe was noch immer nicht kapiert?« »Dass wir da sind. In – zumindest was kosmische Maßstäbe angeht – unmittelbarer Nähe unseres erst jüngst erklärten Zieles.« Aus Jarvis' Körper löste sich etwas, das wie ein Ächzen klang. »Du willst nicht ernsthaft behaupten, dass –« »O doch, mein Alter, ich will und bleibe dabei. Vergiss alles, was ich über eine monatelange Reise gefaselt habe. Fontarayn hat mich auf eine nette kleine Fähigkeit unseres Schiffes aufmerksam gemacht, über die uns bis dato nichts bekannt war – und die ich einfach gleich ausprobieren musste.«
Fontarayn näherte sich fast schamhaft aus dem Hintergrund. »Habe ich zu viel versprochen?«, fragte er. Cloud schüttelte den Kopf. »Eher zu wenig.« Er nickte Jarvis zu. »Ja, du darfst es ruhig glauben. Wir haben die Distanz Milchstraße – Andromeda mit einem einzigen gewaltigen Satz überwunden. Mit anderen Worten: Die RUBIKON kann nicht nur sanft mit x-facher Lichtgeschwindigkeit dahingleiten, wie wir bislang glaubten … sondern auch transitieren. – Nur an den Nebenwirkungen wird noch zu feilen sein …«
Die Nebenwirkungen. Clouds launige Worte elektrisierten Fontarayn regelrecht, auch wenn er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Nachdem es dem Kommandanten der RUBIKON wieder besser ging und er sich sowohl von den Nachwirkungen des mörderischen Transitionsschocks als auch der Bot-Injektion erholt hatte, nahm der Gloride ihn beiseite. Cloud blickte ihn, wenn Fontarayn das komplexe Mienenspiel richtig deutete, ablehnend an und meinte, noch bevor er etwas sagen konnte: »Nein!« »Ich fürchte, ich verstehe nicht …« »O doch, du verstehst sehr gut – und meine Antwort, falls du vorhast, mir etwas Unangenehmes mitzuteilen, lautet schlicht und ergreifend: nein! BEHALTE ES FÜR DICH!« »Woher weißt du –« »Nenne es einen sechsten Sinn, den ich allmählich für dich entwickele.« Fontarayn schwieg kurz, dann sagte er: »Ich fürchte, dein Sinn trügt dich nicht.« »Also schlechte Nachrichten.« »Die volle Wahrheit ist, ich weiß es nicht.« »Und das bedeutet? Komm schon, raus mit der Sprache! Wer gackert, muss auch sein Ei legen – altirdische Redensart.« »Nett«, sagte Fontarayn. »Und weise.«
»Was ist los? Was hast du in petto? Es wäre ja auch zu schön gewesen – ein Transitionssprung, der uns eine monatelange Reise durch den Leerraum zwischen den Galaxien erspart und kein Haken … yep, das wäre wirklich zu schön gewesen …!« »Vielleicht hast du gemerkt, dass ich eben kurz die Zentrale verließ?« Cloud schüttelte den Kopf. »Bedaure. Ich hatte mit mir selbst zu tun. Aber wenn, kannst du nicht lange weg gewesen sein.« »Ein paar Sekunden.« »Ah.« Cloud nickte gequält. »Verstehe. Bist als kleiner Lichtirrwisch durch die Gänge gejoggt.« »Bitte?« »Vergiss es.« »Ich war bei Ovayron und habe mich mit ihm … ihr würdet sagen, besprochen.« »So schnell?« »Wir Gloriden sind anders als ihr. Auch besser organisiert.« Fontarayns Lächeln wirkte aufgesetzt wie eine schlecht passende Maske. »Zumindest leidet ihr nicht unter mangelndem Selbstvertrauen. – Was gab es zu besprechen?« »Ich wollte mich vergewissern, dass es nicht nur mir auffiel – eine zweite Meinung einholen sozusagen.« »Worüber?« »Über die Transition.« Cloud hielt inne. Seine Augen weiteten sich leicht. »Sie ist schief gegangen!« Fontarayn wollte dies nicht dementieren, schränkte aber ein: »Im Ergebnis nicht. Wir sind dort, wohin wir wollten. Nur …« »Nur?« »Der Sprung war nicht so, wie ich es erwartet hätte.« »Oh«, entfuhr es dem Commander der RUBIKON. »Wirklich?« Er verzog das Gesicht. »Na, willkommen im Club! Das stehst du wahrlich nicht alleine. Für mich verlief er auch alles andere als … erwartet.« »Du verstehst mich falsch. Unsere Schiffe transitieren nicht. Ihr
Antriebsprinzip folgt anderen Gesetzen. Aber auch wenn ich nie zuvor transitiert bin, erkennt ein Gloride intuitiv, ob die Abläufe … wie soll ich sagen? Ob die Vorgänge normal ablaufen oder nicht …« »Und das taten sie nicht?« »Nein.« »Sondern?« »Ich kann es nicht in Erklärungen umsetzen – aber es bereitet mir Sorge.« Cloud nickte. »Danke. Mir jetzt auch. Vor allem, weil du dich so klar ausdrückst.« »Ich wünschte, ich könnte es genauer spezifizieren. Aber Ovayran teilt meine Vorbehalte. Und er glaubt auch, eine vage Spur zu verfolgen, die den … Fehler – oder sagen wir, die Abweichung von der Norm – in der Transition erklären könnte.« »Vielleicht trügt dein … euer Gefühl ganz einfach.« »Vielleicht. Ich wollte nur, dass du vorbereitet bist – falls sich mein Verdacht irgendwann bestätigt.« »Und was werde ich dann davon haben?« »Möglicherweise – nichts. Vielleicht kann es aber auch helfen, dir bewusst zu machen, dass die Transition eventuell nicht folgenlos bleibt.« Cloud wandte sich wieder den anderen zu, blieb aber noch einmal stehen. »Folgenlos wird sie so oder so nicht bleiben«, sagte er. »Wir stehen vor den Pforten einer völlig fremden Galaxis. Hier war vor uns noch kein Mensch. Für dich mögen dies heimische Gefilde sein – du stammst immerhin aus der hiesigen CHARDHIN-Perle. Aber für mich … für uns andere ist es die absolute Fremde. – Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest. Meine Mannschaft erwartet noch die eine oder andere sonstige Erklärung von mir. Wie du selbst am besten weißt, ist die Sprungfähigkeit der RUBIKON nicht alles, was du mir an Novitäten gezeigt hast …« Mit diesen Worten ließ er Fontarayn stehen.
Ovayron materialisierte sich unmittelbar neben Prosper Mérimée.
Der Zirkusdirektor schrak zusammen und fluchte: »Kannst du nicht ein einziges Mal wie ein normaler Mensch –« »Ich bin kein Mensch.« »Ach? Wäre mir nie aufgefallen. Was gibt es denn jetzt schon wieder? Falls das ein Bewerbungsgespräch für die Aufnahme in mein Ensemble werden soll, kann ich dich beruhigen: Du hast den Job. Du hast ihn blind! Einer wie du fehlte gerade noch in unserer Mannschaft! Ich werde das nächste Programm um dich als Attraktion herum aufbauen …« »Du planst eine Vorstellung?« Der Gloride gab sich Mühe, ehrlich interessiert zu wirken. Was Mérimée nur noch ärgerlicher machte. »Was ist nun?«, schnappte er. »Was gibt mir die Ehre deines Besuchs?« »Du hast gehört, was passierte?« »Wir wurden alle grob informiert. Dieses Wunderschiff hier …« Mérimées Handbewegung schloss die gesamte RUBIKON ein. »… hat uns mit einem fürchterlichen Paukenschlag Richtung Andromedanebel katapultiert – genauer gesagt in die unmittelbare Peripherie der Großgalaxie, die der Milchstraße am nächsten liegt.« Ovayran stand da wie eine Statue. Nur seine Lippen bewegten sich, als er fragte: »Wie war die Transition für dich?« »Da wir rechtzeitig aufgefordert wurden, uns in den Schutz eines Sitzes oder einer Koje zu begeben, habe ich wie fast alle anderen den temporären Bewusstseinsverlust ganz gut weggesteckt. Wiederholen … wenn du darauf anspielst … wiederholen möchte ich den Hammerschlag nur ungern.« Er zog die Brauen nach oben, legte die Stirn in Falten. »Oder bist du deshalb gekommen? Um mir zu sagen, dass ein neuer Sprung bevorsteht?« Ovayran beeilte sich, dies zu verneinen. »Der Sprung führte zu exakt den Koordinaten, die John Cloud mit Fontarayns Unterstützung festlegte – nachdem dieser ihm die neuen Möglichkeiten der RUBIKON erschlossen hatte. Dennoch stimmen mein Perlenbruder und ich darin überein, dass die Transition anders verlief, als sie hätte verlaufen sollen. Es gab definitiv ein Problem – auch wenn wir beide
noch nicht sagen können, worin es sich äußert.« »Oh.« Mérimée strich sich durch den Nacken, der immer noch verspannt war vom Entzerrungsschmerz. Auch das Medikament, das einer der Bordbots ihm verabreicht hatte, hatte daran nichts ändern können. »Und was habe ich damit zu tun?« »Wenn sich mein Verdacht bestätigt, sehr viel.« »Dein Verdacht. Und der lautet?« »Dass du das Problem bist.« Mérimée forschte vergeblich in den glatten, puppenhaften Zügen des Gloriden nach einem Hinweis, dass dies ein neuerlicher Versuch war, menschlichen Humor zu imitieren. Aber dem Perlenbewahrer schien es ernst zu sein. Todernst. Als Mérimée betroffen schwieg, fuhr der Gloride fort: »Deshalb möchte ich dich noch einmal eindringlich ersuchen, es mir endlich zu gestatten, dich näher zu untersuchen … und zu erforschen.« »Und wie ginge eine solche Untersuchung vonstatten?« »Ich würde das tun, was Fontarayn bei John Cloud tat – vorübergehend mit dir verschmelzen. Du müsstest deine Hülle mit mir teilen – aber keine Sorge, nicht für lange. Es ginge, wenn keine Komplikationen auftreten, sehr schnell.« Auf das Wort Komplikationen reagierte Mérimée allergisch. »Nein«, lehnte er strikt ab. »Ich wüsste auch nicht, was für einen Nutzen es brächte, dich in mich reinzulassen. Schon der bloße Gedanke … brrrrrrrrrr!« Er schüttelte sich. »Dein Gefasel von einem Problem, das nicht einmal du benennen kannst, überzeugt mich nicht. Geh jetzt. Bitte. Und lass mich endlich in Frieden. Ich lege keinen Wert auf deine Gesellschaft, auch wenn dich das vor den Kopf stoßen mag. Aber meine ›Freunde‹ suche ich mir immer noch selbst aus!« »Ich hatte nicht vor, dir meine Freundschaft anzutragen. Betrachte mich lieber als Arzt, der in der Lage wäre, dir eine klare Diagnose deiner Risikofaktoren zu erstellen.« »Es reicht!« Mérimée zeigte mit ausgestrecktem Arm zur nächstbesten Wand. »Da ist die Tür – auch wenn keine da ist. Für dich kein
Problem, du verstehst schon, oder?« »Mein Angebot steht«, verabschiedete sich der Gloride. »Du bist ein extrem interessanter Fall. Vielleicht bist du bei meinem nächsten Besuch zugänglicher. Kooperativer. Ich hoffe um deinetwillen, dass dann nicht die Situation es sein wird, die dich zum Umdenken zwingt.« Als Ovayran gegangen war, konnte Mérimée nicht länger an sich halten: »Sesha!«, brüllte er. »Beim Getto – Sesha! Halt mir diesen Ungeist vom Leibe, oder ich schwöre, ich vergesse mich! Das nächste Mal vergesse ich mich ganz sicher …« Das Schweigen, mit dem die KI »antwortete«, vertiefte die Eindrücke der neuerlichen Begegnung mit dem Störenfried stärker, als jedes Wort es vermocht hätte. Mérimée spürte plötzlich das unbändige Verlangen nach Gesellschaft. Benommen verließ er seine Kabine.
4. Mysteriöse Erschütterungen Als er die Kommandozentrale betrat, war es, als würde sich die Schwüle eines drückenden Tages in einem grollenden Gewitter entladen. Eine mentale Urgewalt aus Blitz und Donner, die unter einer äußerlich völlig unbewegten Oberfläche tobte und nur mit den Sinnen jener wahrzunehmen war, die waren wie er. Augenblicklich sah Mecchit sich gezwungen, seinen eigenen Geist vor allen äußeren Einflüssen abzuschotten, um unter dem mentalen Grollen seines Gegenübers nicht in die Knie gezwungen zu werden. Denn so vernehmlich er den Zorn in Sobeks Gedanken mit jeder Faser seines eigenen Denkens spürte, so deutlich erkannte er auch, gegen wen dieser Zorn gerichtet war. Er hatte versagt. Zumindest in Sobeks Augen. Objektiv betrachtet – und darauf würde er unter allen Umständen beharren – hatte er sich jedoch nichts zu Schulden kommen lassen. Das Phänomen, dem er hier hilflos gegenüberstand, und das den Höchsten der Hohen dazu bewogen hatte, selbst nach dem Rechten zu sehen, entzog sich jeglicher äußerer Einflussnahme. Wo selbst die hoch entwickelte Technik eines HAKAR versagte, stießen auch die Fähigkeiten eines Hohen an ihre Grenzen. Das würde selbst Sobek einsehen müssen. Der Hohe war nicht allein gekommen. Obwohl Mecchit seine Sinnesrezeptoren auf ihn gerichtet hatte, erkannte er ganz deutlich die Gestalt, die sich in einigem Abstand hinter ihm aufgebaut hatte. Tatsächlich war Siroona seit dem Erwachen aus der Stase zu Sobeks zweitem Schatten geworden. Zumindest bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen Mecchit dem Oberhaupt des Septemvirats seitdem gegenübergetreten war, war sie ihm nicht von der Seite gewichen. Lag es daran, dass sie ihm in so vielerlei Hinsicht ebenbürtig war? Dass ihr eine ähnliche, wenngleich nicht ganz so erdrückende Präsenz und Autorität anhaftete, wie sie Sobek mit jeder Zelle seines
Körpers ausdünstete? Vermutlich war es genau das. Immer dann, wenn Mecchit in jenem Teil ihres Denkens stöberte, das sie nicht vor seinen geistigen Fühlern verbarg, spürte er, dass hier zwei Seelen im Gleichklang schwangen. Unwillkürlich fragte er sich, inwieweit Siroona wohl um die wahren Umstände von Monts überraschendem Tod wusste. Immerhin waren sie und Mont einst Gefährten gewesen, in einer Zeit, die lange zurücklag. Vor der Jahrhunderte dauernden Stasis … Wusste oder ahnte sie wenigstens von der Rolle, die Sobek bei dem angeblichen »Unfall« gespielt hatte? Wenn nicht, war dies vielleicht die Bruchstelle, wo Mecchit – zu gegebener Zeit – das Band zwischen ihnen durchtrennen konnte. Falls sie aber doch davon wusste, sein mögliches Verbrechen gar deckte, anstatt es öffentlich anzuprangern, gab es wohl nichts, was ihre Loyalität zu ihm jemals zu erschüttern vermochte. In diesem Fall würde Mecchit nicht umhinkommen, auch sie zu beseitigen. Wenn erst einmal der Moment gekommen war, da er Sobek von seinem imaginären Thron stoßen würde, um selbst Platz darauf zu nehmen. Auch wenn er diesen Moment wohl auf unbestimmte Zeit verschieben musste. Noch immer verfluchte Mecchit sich dafür, seinen früheren HAKAR und damit auch die Ergebnisse von Moarees Forschung so leichtfertig geopfert zu haben. In seinem Auftrag hatte die Wissenschaftlerin alles darangesetzt, um Mont mithilfe seiner DNS zu neuem Leben zu erwecken. Ihn mitsamt seines vollständigen Gedächtnisinhalts zu rekonstruieren – was bei Foronen ohne weiteres möglich war. Nun, auch dieser Plan war gescheitert, wie so vieles, was Mecchit sich in letzter Zeit vorgenommen hatte. Und jetzt auch noch das. Dabei hatte doch alles so vielversprechend begonnen. Als die Arche im Ortungsbereich seines HAKAR aufgetaucht war, hatte er sein Glück kaum fassen können. Wie durch ein Wunder war
ihm da etwas in die Hände gefallen, das den von langer Hand geplanten, jedoch aufgrund der jüngsten Misserfolge zunächst verschobenen Dolchstoß gegen seinen heimlichen Widersacher mit einem Mal wieder in greifbare Nähe hatte rücken lassen. Da war es gewesen. Das Objekt von Sobeks Begierde und zugleich Symbol seines schleichenden Machtverlustes. Schwer wog die Schuld, es einem Unwürdigen, dem Vertreter einer niederen Rasse, überlassen zu haben. Auch wenn Sobek selbst es weit von sich wies, so hatte dieser Verlust seine Position innerhalb des Septemvirats empfindlich geschwächt. Ein Umstand, den sich Mecchit leicht hätte zunutze machen können. Auf einmal hatte er ihn klar und deutlich vor sich gesehen, jenen Plan, mit dessen Hilfe er sich seines Widersachers ein für alle Mal entledigen konnte. War das der Grund für seinen Leichtsinn gewesen? Dass er sich vorschnell zum Sieger gekürt hatte, während das Spiel noch in vollem Gange war? Anstatt Sobek umgehend von seinem Fund zu benachrichtigen, hatte er auf eigene Faust mit John Cloud, dem derzeitigen Kommandanten der Arche, Kontakt aufgenommen, ihm ein Ultimatum gestellt. Entweder er würde das Schiff freiwillig seinen rechtmäßigen Besitzern zurückgeben … oder mit ihm untergehen. Um die Entscheidung zu beschleunigen, hatte ihm Mecchit überdies angeboten, ihm im Tausch seinen eigenen HAKAR zu überlassen. Anfangs hatte es so ausgesehen, als würde der Bluff funktionieren. Doch dann hatte Mecchit erfahren müssen, dass er selbst einer Finte aufgesessen war. Der Mensch John Cloud, das musste er sich eingestehen, hatte ihn an der Nase herumgeführt. Noch immer wusste Mecchit nicht, wie er es angestellt hatte. Fest stand nur, dass er ihn hingehalten hatte. Angeblich, um sein Angebot zu überdenken. Was dann geschehen war, darauf konnte sich der Hohe nach wie vor keinen Reim machen. Urplötzlich war die Arche aus dem Ortungsbereich des HAKAR verschwunden. Von einem Moment zum anderen, und ohne dass es in der Ortung messbar gewesen war. So als hätte sich ein unsichtbarer Vorhang vor den gewaltigen Rochenraumer geschoben und ihn
den Sensoren des HAKAR entzogen. Aber wie war so etwas möglich? Mecchit kannte die Funktionen der Arche in- und auswendig. Sie entsprachen exakt jenen des HAKAR, den er befehligte … und der eine exakte Kopie des foronischen Heiligtums war. Zwar waren die Rochenschiffe in der Lage, ein Tarnfeld aufzubauen, das es der Ortung anderer Schiffe entzog. Fremder Schiffe. Nicht jedoch der eines baugleichen HAKAR. Insofern hatte sich Mecchit in der Tat nichts vorzuwerfen. Nichts außer der Tatsache, dass er die Fähigkeit der Menschen und ihrer Verbündeten zweifellos unterschätzt hatte. Und genau das war es, was ihn zum Anziehungspunkt von Sobeks Zorn werden ließ. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so bald schon wieder sehen.« Sobeks Stimme erklang laut und vernehmlich und schwang, nachdem der Hohe geendet hatte, noch einige Sekunden lang in der Stille der Zentrale nach, bevor sie erstarb. Der Kopf des Septemvirats hatte bewusst laut gesprochen, anstatt sich der unter seinesgleichen üblichen Kommunikationsform der Telepathie zu bedienen. Wenn es darum ging, einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen, so war das gesprochene Wort in seiner Klangfülle noch immer den bloßen Gedanken überlegen. »Auch ich fühle mich durch die Entwicklung der Ereignisse überrascht, ja überrumpelt.« Sobek schwieg, ebenso wie Siroona. Beide musterten ihn eindringlich. Fast meinte Mecchit, die tastenden Blicke ihrer Rezeptoren auf seinem Körper als kalte Berührung zu spüren. Mecchit bereitete es zunehmend Mühe, die Sperre vor seinen Gedanken aufrechtzuhalten. Auf gar keinen Fall durfte er den beiden Artgenossen erlauben, darin zu lesen. Die Geheimnisse, die er darin barg, hätten bei ihrem Bekanntwerden schwerwiegende Folgen nach sich gezogen – für ihn. Es war nicht nur sein Misstrauen in Bezug auf Monts Tod oder Moarees geheime Forschungen. Auch die Ereignisse, die Sobek dazu bewogen hatten, sich auf den Weg zu ihm zu machen, waren von Verrat geprägt. Anstatt umgehend Bericht zu erstatten, hatte Mec-
chit ihm seine Entdeckung zunächst verheimlicht, in der Hoffnung, sie für seine eigenen Zwecke instrumentalisieren zu können. Fast wäre die Rechnung aufgegangen. Doch nach dem plötzlichen Verschwinden der Arche war ihm keine andere Möglichkeit geblieben, als Sobek zu benachrichtigen. »Ich nehme an, dass sich seit unserer letzten Unterredung nichts geändert hat«, sagte Siroona in die Stille hinein. Sie sprach ruhig und gelassen, und doch prasselten die einzelnen Worte wie winzig kleine Nadeln auf Mecchit ein. Wie automatisch glitten seine Blicke über die Holosäule der Zentrale. Noch immer war darin die Leere Zone abgebildet, in der sie die Arche aufgespürt hatten, und wo nun rein gar nichts mehr zu erkennen war. Nichts als das Licht ferner Sonnen. »Wie du siehst«, erwiderte er knapp. »Schildere noch einmal, was geschah, nachdem du die Arche aufgespürt hattest«, verlangte Sobek. Zögernd folgte Mecchit der Aufforderung und kam sich dabei vor, als würde er sich auf einer dünnen Eisfläche, die jederzeit unter ihm zusammenbrechen konnte, wenn er nur einen falschen Schritt tat, vorwärts tasten. Da er Sobek nicht die ganze Wahrheit offenbaren konnte, sich jedoch auch nicht in Wiedersprüche verwickeln durfte, sah er sich gezwungen, ein fragiles Lügengebilde zu spinnen, das sich von der Wahrheit nur in wenigen Details unterschied, sich dabei geschickt um die tatsächlichen Geschehnisse hüllte, sie dabei verfremdete, ohne sie bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Er erzählte von der überraschenden Entdeckung der Arche, seiner Kontaktaufnahme mit ihrer derzeitigen Besatzung, dem Ultimatum, das er gestellt hatte – und endete mit ihrem ebenso überraschenden Verschwinden. Mecchit fiel es dabei zunehmend schwerer, seine wahren Gedanken vor den beiden Artgenossen zu verbergen. Immer wieder hatte er den Eindruck, als würde ein Abglanz seiner düstersten Geheimnisse durch den Wall seines Geistes sickern, wie Wasser durch einen porösen Stein. Aber vielleicht war es auch nur die heimliche Furcht vor seinen eigenen Gedanken, die ihn Derartiges glauben machte.
Wenn Sobek Verdacht schöpfte, so ließ er es zumindest nicht erkennen. Lediglich Siroona zeigte sich von einem bestimmten Punkt in Mecchits Bericht an irritiert. »Du hast Cloud angeboten, das Urschiff SESHA gegen die HAKAR-Kopie einzutauschen?« »Nur zum Schein natürlich«, beeilte sich Mecchit zu versichern. »Mir war klar, dass ich ihm etwas anbieten musste, um ihn bis zur Ankunft der Verstärkung hinzuhalten.« Siroona schien mit dieser Auskunft zufrieden. Sie ergab ja auch durchaus einen Sinn. Aufgrund der Baugleichheit der beiden Schiffe war bei ihrem Aufeinandertreffen eine Pattsituation entstanden. Jeder HAKAR war eine exakte Kopie der Arche und verfügte damit über dieselbe Ausstattung. Über fast dieselbe Ausstattung …. schlich es sich unwillkürlich in Mecchits Überlegungen, da er nicht umhinkonnte, das ungeklärte Verschwinden des heiligen Schiffes mit in die Waagschale zu werfen. Auch Sobek musste daran gedacht haben, denn er sagte: »Cloud muss irgendwelche Umbauten an dem Schiff vorgenommen haben. Über Eigenschaften, wie du sie beschreibst, verfügt SESHA nicht.« Der Hohe musste es wissen. Lange war er selbst Kommandant des Schiffes gewesen. Hatte als solcher den ersten Erkundungstrupp befehligt, der sich nach dem großen Exodus – und der damit verbundenen Jahrzehntausende langen Stasis – auf den Weg in die alte Heimat gemacht hatte, um in Erfahrung zu bringen, ob der Feind die Besatzung im Laufe dieser langen Zeit aufgegeben hatte. Es war alles ganz anders gekommen. Und Sobek trug daran eine nicht geringe Mitschuld. Der Kette der Ereignisse, die letztendlich zum Verlust des Schiffes geführt hatte, lag eine Reihe von Fehlentscheidungen des Hohen zugrunde. Das hatte sich Sobek inzwischen selbstkritisch eingestanden, auch wenn er es seit jeher vermied, sich in Gedanken an längst Vergangenes zu verlieren. Er wusste, dass einige in seinem Volk bereits seinen Führungsanspruch in Frage stellten. Noch taten sie es nicht offen, aber die Zeit würde kommen, da
sich die Stimmen derer, die seinen Abgesang intonierten, zu einem lautstarken Chor vereinten. Umso dringlicher war es, dass Sobek endlich Fortschritte beim Erreichen der Ziele, die er sich gesteckt hatte, machte. »Daran dachte ich auch«, ging Mecchit auf Sobeks Bemerkung ein. »Er scheint mehr Macht zu besitzen, als wir es ihm bisher zugetraut haben.« Sobek signalisierte seine Zustimmung. Fürwahr, seit er dem Menschen und seiner Crew zum ersten Mal begegnet war, war es Cloud immer wieder gelungen, ihn von neuem zu überraschen. Keinesfalls durfte man ihn unterschätzen. Das war die wichtigste Erkenntnis, die Sobek aus ihrer gemeinsamen Zeit mitgenommen hatte. »Ich muss mir selbst ein Bild der gegenwärtigen Situation verschaffen«, gab Sobek schließlich bekannt. Mecchit brauchte nicht erst nachzufragen was der Hohe damit meinte. Ganz selbstverständlich trat er zur Seite und deutete mit einer ausladenden Geste auf den mittleren der sarkophagähnlichen Kommandosessel, die halbkreisförmig in der Zentrale angeordnet waren. »Nimm Platz, werter Sobek. Das Kommando gehört dir …«
Ein seltsames Gefühl erfasste Sobek, als er seinen Platz im Kommandosessel einnahm. Es war wie ein leichtes Vibrieren unter seiner Schädeldecke. Ein Ausdruck höchster Erregung, die er verspürte, seit er die Kommandozentrale des HAKAR betreten hatte. Sobek konnte sich nur an wenige Momente erinnern, in denen er ähnlich empfunden hatte. Er wusste selbst nicht genau, was es war. Am ehesten war es wohl vergleichbar mit dem Gefühl des Jägers, der nach stundenlanger Jagd die Nähe der Beute spürt … kurz bevor sie in sein Blickfeld rückt. Ich weiß, dass du hier irgendwo bist, John Cloud …. ging es ihm durch den Kopf. Du hältst dich versteckt. Ich fühle es … Je länger er in die Leerzone starrte, die die KI des HAKAR wie
zum Hohn in die Holosäule übertrug, desto sicherer glaubte er zu wissen, dass SESHA den Ort, an dem sie entdeckt worden war, niemals verlassen hatte. Es ist, als hätte sich ein unsichtbarer Vorhang davor geschoben … So hatte Mecchit ihm das Phänomen beschrieben. Und wahrscheinlich kam er der Wahrheit damit näher, als er selbst es ahnte. Ein Tarnfeld, ging es Sobek zum wiederholten Male durch den Kopf, während sich der Sarkophag um ihn herum schloss, die Kontakte hergestellt wurden. Es muss ihnen irgendwie gelungen sein, das Schiff hinter einem uns unbekannten Tarnfeld zu verbergen. Noch vor einiger Zeit hätte Sobek daran gezweifelt, dass so etwas überhaupt möglich war. Doch vieles von dem, was er in der relativ kurzen Zeit seit seinem Erwachen erlebt und erfahren hatte, war mit seinem bisherigen Wissen nur schwer vereinbar gewesen. Kontinuierlich hatte er lernen müssen, einst unumstößliche Wahrheiten aus seinem Weltbild zu verbannen und durch neue Erkenntnisse zu ersetzen, die unablässig auf ihn einstürmten. Nicht, dass das ein Problem gewesen wäre. Foronen waren vermutlich anpassungsfähiger als jede andere intelligente Rasse des Universums. Dementsprechend hatte Sobek gelernt, sich in seine neue Rolle zu fügen, die ihm das Schicksal zugewiesen hatte. Dazu gehörte auch der momentane Machtverlust, der umso leichter zu ertragen war, je überzeugender er sich selbst einredete, dass er nur vorübergehender Natur war. Eine Zwischenstation auf dem Weg zu neuer Größe, die sogar die glorreiche Zeit vor dem Exodus noch um ein Vielfaches übertreffen würde. Ein plötzliches Unbehagen bemächtigte sich seiner. Anpassungsfähigkeit war eine Sache. Aber zu viel von dem, was in letzter Zeit passiert war, entzog sich seinem Verständnis. Ein ungewohntes Gefühl für ein Wesen, das dazu bestimmt war, die Zügel fest in der Hand zu halten. Auch jenes seltsame Phänomen, auf das Mecchit bei seiner Suche nach besiedelbaren Welten gestoßen war, gehörte dazu. Jener gesichtslose Feind, der Mecchit letztendlich sogar zur Aufgabe seines HAKAR veranlasst hatte …
All das waren Dinge, die Sobek trotz ihrer kaum zu leugnenden Dringlichkeit am liebsten weit von sich geschoben hätte. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Umstände, die zur Vertreibung seines Volkes aus ihrer Heimat Samragh * geführt hatten. Inzwischen wusste er, dass die Foronen zum Spielball zweier bis dato unbekannter Mächte geworden waren, und dass die bösartigen Virgh nicht aus eigenem Antrieb gehandelt hatten. So übermächtig sie sich ihnen auch präsentiert hatten, waren sie doch nicht mehr als das Werkzeug in der Hand eines noch viel mächtigeren Gegners gewesen. Die Dex, wie sich die Anorganischen nannten, die hinter all dem steckten, hatten sich ihrer bemächtigt, um Samragh in ein Bollwerk zu verwandeln, das sie gegen ihre eigenen Feinde schützen sollte. Gegen die Satoga, von denen sie einst aus der angestammten Heimat, einer entfernten Kleingalaxie, vertrieben worden waren. Vieles hatte sich seitdem verändert. Dex und Satoga hatten ihre Jahrhunderte währende Fehde dem Anschein nach beigelegt, doch für Sobek stand außer Frage, dass sie büßen mussten für alles, was sie seinem Volk angetan hatten. Kein Dex, das hatte sich der Foronenherrscher geschworen, sollte von nun an mehr sicher sein. Nirgendwo. Freilich würde er es nicht auf einen direkten Krieg mit den Anorganischen ankommen lassen. Trotz seines Zorns dachte Sobek rational genug, um das zwischen ihnen herrschende Ungleichgewicht einschätzen zu können. Nein, die Vorgehensweise, die zum Erfolg führte, musste subtiler sein als der Einsatz bloßer Waffengewalt. Das auch nach dem Friedensschluss noch fragile Verhältnis zwischen Dex und Satoga war der Schlüssel. Eine Jahrhunderte währende Feindschaft war schließlich nicht mit einem bloßen Abkommen beendet. Die Feindschaft in den Köpfen währte gemeinhin länger als die auf dem Papier, und es bedurfte keiner großen Anstrengung, sie neu zu entfachen. Noch musste Sobek sich in Geduld üben, doch der Moment der Vergeltung würde kommen. Wenn nicht heute, dann morgen oder übermorgen. *Foronische Bezeichnung für die Große Magellansche Wolke
Das Ziel war langfristiger Natur. Wichtig war vor allem, die beiden Parteien von nun an nicht mehr aus den Augen zu lassen. Sie aus dem Hinterhalt heraus zu beobachten, um im geeigneten Moment die Weichen so zu justieren, dass sie auf einen neuerlichen Konfliktkurs gerieten … Sobek konzentrierte sich auf die beiden derzeit dringlichsten Probleme. Der unbekannte Feind, auf den Mecchit gestoßen war, und dessen Versteck es aufzuspüren galt, war das eine. Die Rückeroberung der Arche das andere. Und wenn Letzteres vollbracht werden konnte, war bereits viel gewonnen. Kaum war der Sarkophag geschlossen und hatte er die Kontakte hergestellt, begann Sobek, sich mit den »Sinnen« des HAKAR, die nun seine eigenen waren, in den leeren Raum vorzutasten. Tatsächlich gab es nicht das geringste Anzeichen für die Existenz eines weiteren Schiffes in unmittelbarer Nähe. Schon gar nicht für eines von den Maßen des verlorenen Foronenheiligtums. Dennoch … Irgendetwas war seltsam … Ausgestattet mit den kybernetischen Augen und Ohren des Schiffes, fühlte sich der Hohe zunehmend unbehaglicher. Die Leere und die Einsamkeit dieses verlassenen Sektors senkten sich wie ein Gewicht auf ihn herab. Auf eine schwer zu beschreibende Weise war es eine Leere, die mehr zu sein schien als das bloße Fehlen von Materie. Sie erschien ihm irgendwie … künstlich, ohne dass er einen genauen Grund für sein Gefühl benennen konnte. Unwillkürlich streckte er seine Fühler weiter aus, stieß aber auf keinerlei erkennbaren Widerstand. Und doch kam es ihm vor, als sei es nicht die Wirklichkeit, die sich ihm da präsentierte. Erneut musste er an eine Art Tarnfeld denken. Und tatsächlich hatte er das starke Gefühl, als müsse er nur an der richtigen Stelle zupacken, um ein Loch in diese Kulisse reißen zu können. Doch immer, wenn er danach greifen wollte, entglitt es ihm wie ein öliger Film. Wo steckst du, John Cloud?, ging es ihm durch den Kopf, als könne er den Mann von der Erde und jetzigen Kommandanten der Arche allein kraft seiner Gedanken erreichen.
Und dann geschah es. Gerade so, als wäre es eine direkte Antwort auf diese ungestellte Frage. Es war wie ein leichtes Beben, das sich, von einem bestimmten Punkt ausgehend, wellenartig durch den Raum fortpflanzte. So wie das Echo einer Erschütterung, die sich in großer Ferne ereignete. So stark, dass sie trotz der Entfernung zu spüren war … Was war das? Der Gedankenimpuls war an die KI gerichtet. Während er auf die Antwort wartete, erfasste ihn eine wachsende Unruhe. War es denn möglich, dass diese seltsame Erschütterung in direktem Zusammenhang mit SESHAs plötzlichem Verschwinden stand? Ich orte eine Strukturerschütterung gewaltigen Ausmaßes, gab die KI kurz darauf zurück. Sobek Anspannung wuchs ins Unermessliche. Ist es dir möglich, den Ursprung dieser Erschütterung zu lokalisieren? Was war der Auslöser? Sobek kam es vor, als würde die Zeit stillstehen, während er auf die Antwort der Schiffsinstanz wartete. Der Rematerialisationspunkt liegt nahe Mocarail *, sagte die KI. Nahe der großen Nachbargalaxie, zu der die Satoga aufbrachen. Viel interessanter aber dürften die Koordinaten sein, wo die Entstofflichung vor dem Sprung stattfand. Rematerialisation? Entstofflichung? Sprung? Es handelt sich also um die Nachwirkungen einer Transition?, unterbrach Sobek. Nach allem, was ich den Werten entnehmen kann: ja. Gut. Kommen wir zu den Koordinaten der Entmaterialisation zurück, von denen du sprachst. Wo liegen sie? In unmittelbarer Nähe unserer gegenwärtigen Position. Präzise! In der Leerzone, auf die wir das Gros unserer Ortungsinstrumente fokussiert haben.
»Mocarail?« Siroona unternahm nicht einmal den Versuch, ihr Er*Andromeda
staunen zu verbergen. »Was hat das zu bedeuten?« Sobeks Blick war stur auf die Holosäule gerichtet. Und auf die lichtlose Schwärze, die ihm wie ein Abbild seiner momentanen Gefühlslage erschien. Gerne hätte er Siroona eine Antwort gegeben, doch noch war es ihm selbst nicht gelungen, die neuen Informationen in einen vernünftigen – vor allem logischen – Zusammenhang zu stellen. Nach allem, was er von der KI erfahren hatte, war es, als habe etwas mit einer Transition Vergleichbares das Standarduniversum für einen kurzen Moment an zwei kosmischen Standorten aufgerissen. Grenzen waren von einem Objekt überwunden worden, um an einem anderen, weit entfernten Punkt wieder zu materialisieren. Mocarail. Die Galaxie, zu der die Satoga aufgebrochen sind, reflektierte Sobek und machte sich klar, dass damit auszuschließen war, SESHA könne hinter dieser ungewöhnlichen Erschütterung des Raum-ZeitGefüges stecken. »Wie sollte die Arche einen solchen Sprung vollziehen?«, sprach Mecchit, der schräg versetzt hinter ihm stand, seine Gedanken aus. Sobek wandte ihm den Blick zu, ohne dabei den Kopf zu bewegen, was ihm und jedem anderen Foronen die Rundumsicht ihrer Rezeptoren problemlos ermöglichte. Der Hohe Mecchit hatte zweifellos Recht. SESHA – genau wie alle ihre Kopien – hatte eine maximale Fernflugreichweite von einer halben Million Lichtjahre. Das reichte nicht einmal annähernd, um die Distanz nach Mocarail zu überbrücken, die gut das Vierfache betrug. Und außerdem war hier die Rede von einer … Transition. Die Fortbewegungsweise der Arche – beziehungsweise ihrer Kopien – war aber eine völlig andere. Deren Antrieb nutzte die allgegenwärtige Dunkle Energie und Materie, die über das Universum verstreut war und verließ das hiesige Raum-Zeit-Kontinuum nicht, um auf Überlichtgeschwindigkeit zu beschleunigen. Die Foronenschiffe glitten förmlich auf ihren Schwingen dahin und hüllten sich dabei in ein Feld, das sie von den Gesetzmäßigkeiten des Standarduniversums isolierte – wodurch sie ihnen auch nicht mehr unterworfen waren.
Eine Transition hingegen folgte ganz anderen Prinzipien. Sie schleuderte ein Objekt quasi durch einen übergeordneten Raum, eine höhere Dimension … oder einen Parallelkosmos. Sobek dachte an das empfangene Signal. Daran, wie undeutlich es gewesen war. Wie ein fernes Echo von etwas viel Gewaltigerem, das durch eine unsichtbare Barriere an seiner Entfaltung gehindert worden war. War es möglich, dass Cloud und seine Mannschaft das Schiff tatsächlich aufgerüstet hatten? Schwer vorstellbar. Es sei denn … jemand hätte ihnen seine Hilfe angeboten. Hatten sie Kontakt zu einer Zivilisation gehabt, von der sie Technologietransfer erhalten hatten? Ging es vielleicht sogar auf das Konto der Satoga? Wie man es auch drehte und wendete, alles lief darauf hinaus, dass sich sein Gefühl verdichtete, SESHA verloren zu haben. Und das nun schon zum zweiten Mal. Er war nicht bereit, das einfach hinzunehmen …
5. Innenansichten einer Galaxie John Cloud fühlte sich wie ein Vogel, der schwerelos mit ausgebreiteten Schwingen durch die Weite des Alls glitt. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass er ausgerechnet immer dann jenes seltene Gefühl nahezu grenzenloser Freiheit empfand, wenn er in Wahrheit im beengten Sarkophag des Kommandositzes eingepfercht saß. Doch die Beengtheit dieses Käfigs spielte keine Rolle mehr, sobald die Kontakte hergestellt waren und ihm die Gnade zuteil wurde, die Welt mit den Sinnen des Schiffes wahrnehmen zu dürfen. Es war nicht nur ein simpler Datentransfer. Nein, es war, als würde er selbst zu einem Teil des Schiffes werden. Als würden Mensch und Maschine miteinander verschmelzen, eine Symbiose eingehen und so zu einem völlig neuen Wesen mutieren. Cloud hatte es sich nicht nehmen lassen, sich nach der Ankunft in Andromeda selbst ein genaues Bild ihrer neuen Umgebung zu verschaffen. Die Bilder der Holosäule und die Ortungsdaten, die die KI ihnen zur Verfügung stellte, hatten zwar gereicht, um einen ersten Eindruck zu vermitteln. Doch jene Unverfälschtheit, jene Unmittelbarkeit, mit der Cloud die Weite der Galaxie in diesen Momenten wahrnahm, konnte ihm nach wie vor nur der Kommandosessel geben. Und was er sah, war wahrlich beeindruckend. Vor ihm lag eine Welt, die keines Menschen Auge je aus nächster Nähe erblickt hatte. Ein gewaltiges, so gut wie unerforschtes Niemandsland, anderthalbmal so groß wie die Milchstraße. Cloud hatte seit seinem Aufbruch zum Mars vermutlich mehr erlebt als jeder andere Mensch seiner Zeit. Und doch fiel es selbst ihm schwer sich vorzustellen, welch ungekannte Wunder sich innerhalb der gewaltigen Spiralarme dieser Galaxie verbergen mochten. Und schon gar nicht hätte er es sich jemals träumen lassen, dass es ihm eines Tages vergönnt sein würde, selbst in dieses Reich einzutauchen. Schon die bloße Entfernung von der Milchstraße hatte ein solches Vorhaben
unwahrscheinlich gemacht. Wie bescheiden nahm sich dagegen etwa ihre Reise nach Samragh, der Heimat der Foronen aus. Umso bizarrer war das Gefühl, selbst an einem solch abgelegenen Ort nicht nur unter Fremden zu sein. Cloud dachte dabei an die Satoga und an ihren Aufbruch nach Andromeda. Unwillkürlich fragte er sich, ob ihre Suche nach geeigneten Brutwelten von Erfolg gekrönt sein würde. Der anhaltende Expansionstrieb der Satoga war es gewesen, der einst zum Konflikt mit den Jay'nac geführt hatte. Doch Artas und seine Mannen hatten aus alten Fehlern gelernt und geschworen, einer Konfrontation mit anderen intelligenten Rassen ab sofort aus dem Weg zu gehen. Cloud vertraute ihm, doch die Gefahren, die auf einer solchen Reise am Wegesrand lauerten, waren zahlreich, und er fragte sich, ob sie Andromeda überhaupt unbeschadet erreicht hatten. Oder welche Bedingungen sie dort vorgefunden hatten … Zum wiederholten Mal trug Cloud der KI auf, nach einem Signal zu suchen, das auf die Satoga-Flotte hindeutete. Zum wiederholten Male erhielt er dieselbe enttäuschende Antwort. Die Besatzung der RUBIKON hatte dem Satoga viel zu verdanken, war es doch Artas gewesen, der ihnen vor ihrem Aufbruch ein ganz besonderes Geschenk vermacht hatte. Eine Karte, die die angeblichen Koordinaten der Heimatwelt des verstorbenen Feliden Boreguir enthielt. Diese Karte sowie Clouds Entschluss, die Welt der Feliden aufzusuchen, um Boreguir unter seinesgleichen zu beerdigen, hatte erst jene Kette von Ereignissen nach sich gezogen, die zum Kontakt mit den Gloriden – und damit auch zu ihrer Reise nach Andromeda – geführt hatte. Negativ, meldete die KI nach einigen Momenten erneut. Kein Scanner-Echo mit der entsprechenden Signatur zu empfangen. Cloud stutzte und fragte sich unwillkürlich, ob er die Schiffsinstanz ungewollt zu einer weiteren Suche nach einem Signal der Satoga aufgefordert hatte. Die wortlose Kommunikation mit dem Bordcomputer war ihm mittlerweile so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass er viele seiner Wünsche gar nicht mehr in Worte fassen musste. Ganz so, als würde er mit seinem eigenen Organis-
mus kommunizieren, ihn dazu zu bringen, das Bein zu heben oder den Arm anzuwinkeln. Wie um sich diese Fähigkeit selbst vor Augen zu führen, formte er einen kurzen Gedankenimpuls, der seinen Dank signalisierte. Dann befahl er dem Sarkophag, sich zu öffnen. In Sekundenschnelle klappte der Deckel des Sessels, der ihn tatsächlich umschloss wie der Sarkophag einer altägyptischen Mumie, zurück und gab den Blick auf die Holosäule frei, in der die vor ihnen liegende Galaxie abgebildet wurde. »Du konntest dich ja gar nicht mehr losreisen«, beschwerte sich eine weibliche Stimme zu seiner Rechten. Sie gehörte Scobee, die auf dem Kommandosessel neben ihm Platz genommen hatte. Der Blick ihrer großen dunklen Augen wanderte zwischen ihm und den Ortungsdaten, die ihnen die KI sekündlich aktualisiert in die Holosäule einspielte, hin und her. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht.« Cloud fuhr sich über die Stirn. Wie jedes Mal nach der mentalen Vereinigung fühlte er sich schlapp, ausgelaugt und irgendwie nicht wie er selbst. »Du weißt doch, wie sehr ich diese Momente genieße.« »Es ist die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen«, meinte sie leise, als sie seinen Blick zur Holosäule bemerkte. Cloud nickte nachdenklich und wunderte sich gleichzeitig darüber, wie gut Scobee mittlerweile seine Gedanken lesen konnte. So lange Zeit lebten sie nun schon auf verhältnismäßig engem Raum zusammen, dass es ihm manchmal tatsächlich so vorkam, als würden sie auf telepathischem Wege kommunizieren. In Wahrheit waren es natürlich mehr die kleinen Gesten, die Blicke des anderen, die so zur Gewohnheit geworden waren, dass sie oftmals jedes erklärende Wort überflüssig machten. In diesem Fall spielte Scobee auf die Tatsache an, dass es ihnen bislang nicht vergönnt gewesen war, ein Signal von Artas und seinem Volk aufzufangen. »Hast du schon daran gedacht, via Streufunk selbst den Kontakt zu suchen?« Cloud wiegte den Kopf, als würde er den Vorschlag gedanklich
auf seine Brauchbarkeit abklopfen. Dabei hatte er schon früher daran gedacht und seine Entscheidung ziemlich schnell getroffen. »Das wäre zu riskant. Solange wir praktisch nichts über die lokalen Gegebenheiten wissen, wäre es äußerst leichtsinnig, die Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen.« Scobee nickte zustimmend. Eine andere Antwort hatte sie offensichtlich gar nicht erwartet. Während all der Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten, war Cloud deutlich vorsichtiger geworden. Was nicht wirklich überraschte. Schließlich waren ihnen Gefahren begegnet, mit denen sie vor Antritt ihrer Reise nie gerechnet hätten. Und sie hatten Entscheidungen getroffen, die sie im Nachhinein bereut hatten. All das hatte dazu geführt, dass ihre von Neugier geprägte Unbedarftheit nach und nach einer berechnenden Rationalität gewichen war. Nein, sie waren nicht mehr dieselben, die einst aufgebrochen waren, um dem Mars seine Geheimnisse zu entreißen. Und das war auch gut so. »Ich wünschte, wir hätten die Black Box behalten«, meinte Cloud, während er sich mit müdem Lächeln in den Sitz zurücksinken ließ. Bei diesem Wunderwerk der Technik hatte es sich um einen Sender gehandelt, den Artas der RUBIKON-Crew zur Verfügung gestellt hatte und mit dessen Hilfe sie jederzeit mit den Satoga hatten in Kontakt treten können – theoretisch zumindest. Diese Box war jedoch wieder in den Besitz der Satoga zurückgegangen, nachdem sie andere und weniger schöne Seiten ihrer Möglichkeiten offenbarte …* »Denkst du, wir werden ihn noch einmal wiedersehen?«, fragte Scobee. Es klang nicht, als würde sie eine Antwort erwarten, sondern mehr so, als fiele es ihr schwer, die Stille der Zentrale länger zu ertragen. Sie waren allein im Raum. Die übrigen Crewmitglieder hatten sich entweder in ihre Quartiere zurückgezogen, um sich von den zurückliegenden Strapazen zu erholen, oder sie hatten sich anderen Beschäftigungen zugewandt. Von der Clique um Sarah Cuthbert und Prosper Mérimée hatte er seit Tagen nichts gehört. Der kleine, bunte Haufen hatte sich ganz in seine eigene Welt zurückgezogen. Fast so, als würden ihn die Ge*siehe Band 45 der Heftserie
schehnisse an Bord der RUBIKON nicht das Mindeste angehen. Cloud ließ seinen Blick durch die Zentrale schweifen. Für einen kurzen Moment wunderte er sich darüber, dass Fontarayn und Ovayran den Raum während seines Aufenthalts im Kommandosessel verlassen hatten. Dann erinnerte er sich daran, dass er sich vorgenommen hatte, es sich abzugewöhnen, sich im Zusammenhang mit den Gloriden über irgendetwas zu wundern. Die Energiewesen unterschieden sich frappant von so ziemlich allem, was ihm auf seiner Odyssee begegnet war. Im Vergleich dazu waren sogar das in seiner Anatomie völlig bizarre Pflanzenwesen Cy oder der geflügelte Narge Jiim ein Ausbund an Vertrautheit. Noch weniger als alle anderen Außerirdischen, die ihren Weg gekreuzt hatten, waren die Gloriden mit menschlichen Maßstäben zu messen. Cloud hatte ihnen von Anfang an misstraut – und tat es auf eine gewisse Weise noch immer. Und das, obwohl sie sich inzwischen schon mehrfach als äußerst hilfreich erwiesen hatten. Allein die Tatsache, dass er im Zusammenhang mit ihnen nach wie vor Vorbehalte hatte, verdeutlichte ihm, dass sein Unterbewusstsein die grundsätzliche Andersartigkeit der Gloriden noch immer nicht akzeptiert hatte. Und darauf, das wurde ihm zum wiederholten Male klar, beruhte wohl auch sein Unverständnis in Bezug auf die Motive und Beweggründe dieser Wesen. Als habe sein stummes Zwiegespräch das Stichwort gegeben, erschien plötzlich ein gleißendes Licht nur wenige Schritte von Scobees Kommandosessel entfernt. Es kam direkt aus dem Boden, floss in Sekundenschnelle daraus hervor, schraubte sich säulenartig in die Höhe, bildete sich aus, Arme, Beine, einen proportional etwas zu klein wirkenden Kopf … bis der humanoide Körper perfekt war. Doch der äußere Anschein war auch das einzig wirklich Menschliche an dem Gloriden. Auch ein Klumpen Ton, den man beliebig modellieren, ihm jedwede Gestalt geben konnte, blieb stets nur ein Stück Ton … So viel zum Thema Vorurteile, dachte Cloud beschämt. Fontarayn hatte sich jetzt vollständig aus der Lichtsäule herausgebildet. Und Sekunden später wiederholte sich das Schauspiel, das
Cloud anfangs noch in Staunen versetzt hatte, inzwischen aber zu einem Stück Normalität geworden war. Es war Ovayran. Cloud zog die Augenbrauen unwillig nach unten, sodass eine tiefe Furche über seiner Nasenwurzel entstand. Er hoffte, dass die Gloriden dieses etwas gezwungen wirkende Mienenspiel richtig deuteten. Nach wie vor versetzte es ihn nicht gerade in einen Freudentaumel, wenn sich die Gloriden anschickten, sich mit dem Schiff zu vereinen. Immerhin hatten sie mehrfach bewiesen, dass es ihnen keine Mühe bereitete, die Funktionen der RUBIKON beliebig zu manipulieren. Sicher, auch Cloud hatte von dieser Fähigkeit – wie zuletzt beim Entschleiern der verborgenen Möglichkeiten des Rochenraumers – ausgiebig profitiert, dennoch entzog sich ihr Handeln jeglicher Kontrolle, was es zu einem ständigen Risikofaktor machte. Bisher waren sie ihnen freundlich gesinnt gewesen. Aber es gab keine Garantie, dass das so blieb. Diese Erkenntnis trug nicht gerade dazu bei, Clouds Stimmung zu heben. »Darf ich fragen, wo ihr gerade herkommt?«, knurrte er, ohne einen der beiden Gloriden dabei direkt anzusehen. Es war Ovayran, der die Antwort gab. Die beiden verliehen sich nicht nur ein leicht unterschiedliches Aussehen, sondern neigten auch dazu, ihre Stimmen so zu modulieren, dass eine Unterscheidung mühelos möglich war. »Wir haben uns erlaubt, einen vollständigen Systemcheck vorzunehmen. Nach dem nicht gerade geringen Kraftakt des Sprunges erschien uns dies ratsam.« »Es ist so weit alles in Ordnung«, erklärte Fontarayn im Anschluss an Ovayrans Worte. »Die RUBIKON hat die Passage sehr gut verkraftet.« »Wir haben das Schiff daraufhin auf Kurs gebracht«, sagte Ovayran weiter. »Wir wollen das Zentrum dieser Galaxie ansteuern, dabei jedoch bewohnte Territorien umgehen.« »Wie überaus großzügig, dass ihr mich das alles wissen lasst«, knurrte Cloud gerade laut genug, dass Scobee seine Worte verstehen
konnte. Ob die Gloriden sie ebenfalls vernahmen, war schwer zu sagen. Aber vermutlich wären sie dem darin mitschwingenden Sarkasmus ohnehin mit Ratlosigkeit begegnet. »Dort im Zentrum«, sprach Fontarayn ungerührt weiter, »befindet sich das Schwarze Loch, dessen Ereignishorizont die hiesige CHARDHIN-Perle birgt.« Cloud nickte gedankenverloren. Bereits die irdische Wissenschaft des 21. Jahrhunderts hatte die Existenz eines solchen Phänomens im Zentrum des Andromedanebels vermutet. Messungen der Geschwindigkeiten von Sternen in diesem Bereich hatten diesen Schluss zumindest nahe gelegt. »Die Reise dorthin wird gut zwei Wochen eurer Zeitrechnung in Anspruch nehmen«, fügte Fontarayn hinzu. »Euch bleibt also genügend Zeit, um euch seelisch wie körperlich auf den Vorstoß vorzubereiten.« Es war klar, worauf der Gloride anspielte. Cloud erinnerte sich noch zu gut an die Reise hinter den Ereignishorizont des Schwarzen Loches der Milchstraße. Und an die psychischen Beschwerden, mit denen die irdischen Besatzungsmitglieder zu kämpfen gehabt hatten. Es war gewesen, als hätten sie ein starkes Halluzinogen eingeflößt bekommen. »Keine neuerliche Transition?«, fragte er. »Solange keine Möglichkeit gefunden wurde, eure extremen physischen Reaktionen darauf einzudämmen, würde ich davon abraten.« »Das ist ja sehr rücksichtsvoll …«, sagte Cloud, als die Gloriden ihn abwartend taxierten. »Um aber eines klarzustellen Ich habe keine große Lust, eine böse Überraschung zu erleben. Wenn es also irgendetwas gibt, wovon wir wissen sollten … irgendwelche Gefahren, denen wir auf dem Weg zur Perle begegnen könnten … würde ich mich gerne auch darauf seelisch vorbereiten.« Die Gloriden tauschten einen kurzen Blick. Es sah aus, als würden sie stumme Zwiesprache halten. »In Andromeda herrscht seit langem ein stabiler Friede. Es ist ein Grundsatz der dort lebenden Völker, Konflikte ohne Waffengewalt
beizulegen.« Cloud sah Scobee aus dem Augenwinkel heraus an. War es denn möglich, dass tatsächlich eine Galaxie existierte, in der solch paradiesische Zustände herrschten? In der nicht Hass und Missgunst regierten, und wo die Völker friedlich zusammenlebten? Cloud fand das schwer vorstellbar. Vor allem, wenn man bedachte, wie viele unterschiedliche Völker diese Sternenansammlung beherbergen musste. Auch Scobee schien skeptisch, wie er in ihrem Blick las. Nun, ihnen blieb wohl nichts anderes übrig, als ihr Schicksal in die Hände der Gloriden zu legen. Auch wenn er ihnen nicht vollständig vertrauen konnte – dies wahrscheinlich nie können würde –, so hatten sie sich bei der Entschärfung von Gefahrensituationen bisher als durchaus konstruktiv erwiesen. Mit gemischten Gefühlen warf Cloud einen weiteren Blick auf die dunklen Staubbänder Andromedas, die die KI in regelmäßigen Abständen in die Holosäule einspielte. Würden sie ihr Ziel erreichen? Würden sie einen weiteren Vorstoß hinter den Ereignishorizont des Schwarzen Loches heil überstehen? Und falls ja, was würde sie in der CHARDHIN-Perle erwarten? Würde es ihnen vor allem gelingen, die Gloriden von der Aberwitzigkeit und Gefahr einer Zeitkorrektur zu überzeugen?
Die folgenden Tage vergingen wie im Flug – was ja auch durchaus der Realität entsprach. Cloud, Scobee und Jarvis waren eifrig damit beschäftigt, die pausenlos eingehenden Informationen der Ortungssysteme zu verarbeiten. Cloud hatte Sesha explizit angewiesen, die ermittelten Daten wie Mosaiksteinchen zu einem stimmigen Ganzen zusammenzusetzen, sodass nach und nach ein ziemlich genaues Bild ihrer Umgebung entstand, auf das sie bei Bedarf jederzeit zurückgreifen konnten. Deutlich erkennbar wies Andromeda eine große Ähnlichkeit zur Milchstraße auf, beherbergte die gleichen Arten von astronomischen Objekten. Überhaupt deckten sich die jetzigen Beobachtungen ziem-
lich genau mit allem, was er zuvor schon über die Spiralgalaxie gewusst hatte. Alles in allem hatte Andromeda einen Durchmesser von gut 150.000 Lichtjahren und war somit die größte Galaxie in der lokalen Gruppe, zu der auch die Milchstraße gehörte. Sie war von mehr als zehn kleineren Satellitengalaxien umgeben. Da gab es elliptische Zwerggalaxien wie M 32 und M 110, irreguläre wie And VI und VII sowie kugelförmige wie And I-IV. Bereits die Menschen des 21. Jahrhunderts hatten vermutet, dass sie einen doppelten Galaxienkern aufwies, der auf eine lange zurückliegende Galaxienkollision und -verschmelzung zurückging. Aufnahmen mit dem seinerzeitigen Hubble-Teleskop hatten diese Vermutung, die nun von den Ortungsdaten der RUBIKON bestätigt wurde, nahe gelegt. Bekannt war auch, dass sich Milchstraße und Andromeda aufeinander zu bewegten, so dass es in ferner Zukunft einmal zur Verschmelzung beider Galaxien kommen würde. Dies würde allerdings frühestens in einigen Milliarden Jahren der Fall sein. Fasziniert von diesen Eindrücken, verbrachte Cloud einen Großteil seiner wachen Zeit im Sarkophagsitz, mental mit Sesha vereint. Die Illusion, die Reise mit dem eigenen Körper zu absolvieren, nicht an Bord eines gigantischen Raumschiffes, erfüllte ihn mit einem Gefühl von Freiheit, das sich auf seine allgemeine Stimmungslage auswirkte, ihn unbeschwerter machte, als es angesichts der ungewissen Zukunft eigentlich der Fall hätte sein dürfen. Allerdings stellte er auch fest, dass sich diese stundenlangen Aufenthalte im Sarkophag negativ auf seine Wahrnehmung auszuwirken begannen. Ein ums andere Mal wachte er in der Nacht schweißgebadet auf und benötigte danach länger als sonst, die Orientierung wiederzufinden. Nachdem er daraufhin seine Sitzungen im Sarkophag verkürzte, ließen auch die Beschwerden wieder nach. Vom sonstigen Treiben an Bord bekam er relativ wenig mit. Jelto war mit dem Wiederaufbau seines Pflanzengartens beschäftigt, wobei ihm die wieder genesene Aylea und der Aurige Cy nach Kräften halfen. Es sah ganz so aus, als habe das Mädchen seine Eifersucht gegenüber dem Pflanzenwesen inzwischen überwunden. Cloud war
mehr als erleichtert darüber. Schließlich hatte ihre Sorge, sie könne ihren besten Freund an Cy verlieren, vor nicht allzu langer Zeit sogar in einem Selbstmordversuch gegipfelt. Aufgrund seiner besonderen Fähigkeit, mit Pflanzen zu kommunizieren, hatte Jelto zu dem intelligenten Pflanzenwesen natürlich eine ganz besondere Beziehung geknüpft. Die sich jedoch – das hatte er Aylea ausführlich erklärt – auf einer ganz anderen Ebene bewegte als die innige Freundschaft, die ihn und das Mädchen verband. Jiim und Algorian hielten sich dagegen meist in der Zentrale auf. Cloud konnte spüren, dass vor allem der Narge mit fortschreitender Zeit immer unzufriedener wurde. Er war es gewohnt, frei zu sein, sich jederzeit in die Lüfte zu erheben, den Wind unter seinen Schwingen zu spüren. Er hatte deshalb auch bisher jede Gelegenheit genutzt, sich an den Außenmissionen der RUBIKON-Mannschaft zu beteiligen. Das Wissen, dass in absehbarer Zukunft nichts dergleichen anstand, machte ihn spürbar nervös, auch wenn er sich Mühe gab, es vor den anderen zu verbergen. Die Gloriden hingegen kapselten sich zunehmend vom Rest der Crew ab. Cloud hatte jedes Mal ein ungutes Gefühl, wenn Fontarayn, Ovayran oder beide zusammen längere Zeit verschwunden blieben – was immer häufiger vorkam. Zumal ihnen auch durch drängendes Nachfragen nicht zu entlocken war, was sie bei ihren zahlreichen Ausflügen ins Schiffsinnere eigentlich genau taten. Knapp eine Woche irdischer Zeitrechnung war vergangen, als die Ortungsergebnisse der KI einige Besonderheiten aufzuweisen begannen, die Clouds Interesse weckten. »Wo sind die Gloriden, wenn man sie braucht?«, knurrte er, während er sich aus dem Sarkophag stemmte, wo er die letzten zwei Stunden verbracht hatte. Sterne blitzten vor seinen Augen auf, als er sich etwas zu schnell aufrichtete und seinen Blick den Daten der Holosäule zuwandte. Er musste Scobee nicht erst lange erklären, worum es ging. Sie hatte die Daten direkt vor sich, studierte sie aufmerksam und sah deshalb auch kaum zu ihm herüber. Ein verkleinerter Ausschnitt des vor ihnen liegenden Territoriums
erschien in der Holosäule, ergänzt durch eine imaginäre Linie, die einen Quader beschrieb. Darin befand sich ein System mit zwanzig Planeten, von denen fast ein Dutzend eine beachtliche Gemeinsamkeit aufwies. Scobee sprach es als Erste laut aus. »Dieses System strotzt nur so von intelligentem Leben!« Cloud nickte nur. Die Daten der Ortung sprachen für sich. Wenn die Bewohner von Andromeda auch nur annähernd so friedliebend waren, wie Ovayran und Fontarayn behauptet hatten, gab es keinen Grund zur Sorge. Zumal sie das Territorium auf ihrem derzeitigen Kurs nicht direkt durchfliegen, sondern nur streifen würden. »Du denkst, dass uns von dort Gefahr droht?«, fragte die GenTec. Sie und Cloud hielten sich derzeit allein in der Zentrale auf. »Nein, ich würde nur gern wissen, womit ich es zu tun habe. Du weißt, dass ich nicht viel von Überraschungspartys halte.« Ohne Scobees Antwort abzuwarten, wandte er sich an die KI und wies sie an, die Gloriden, wo auch immer sie sich gerade aufhielten, umgehend in die Zentrale zu zitieren – falls die KI sie überhaupt aufspüren konnte, was erfahrungsgemäß sehr vom Goodwill Fontarayns und Ovayrans abhing. Es vergingen nur wenige Minuten, bis die beiden der Aufforderung nachkamen. Zu Clouds Überraschung flossen sie ausnahmsweise mal weder aus dem Boden noch aus Decke oder Wänden der Zentrale, sondern traten ganz normal durch das Türschott ein. Einen Moment lang spielte Cloud mit dem Gedanken, sie zur Rede zu stellen, verwarf die Idee jedoch gleich wieder. In knappen Worten lenkte er ihre Aufmerksamkeit auf die Ortungsdaten des der Milchstraße zugewandten Territoriums, das nach Einschätzung der KI dicht besiedelt war. Cloud glaubte zu erkennen, dass Fontarayns Gestalt für einen kurzen Moment hell aufleuchtete, als stünde er im Begriff, in seinen energetischen Zustand zu wechseln. Nichts dergleichen geschah jedoch. Die Lichtfülle ebbte ab, ohne dass sich die Gestalt des Gloriden auch nur im Geringsten veränderte. Allerdings kam Cloud nicht umhin, den abwesenden, leicht schwärmerisch wirkenden Aus-
druck auf dem ansonsten so maskenhaft beherrschten Gesicht zu bemerken. Offenbar waren Fontarayns Erinnerungen an diesen Ort nur positiv. Eine Vermutung, die in den Worten des Gloriden ihre Bestätigung fand: »Was du hier siehst, ist das Reich der JORR-Partikelvölker, die in ihrem Verbund die Allianz von Andromeda, die vorherrschende Macht, bilden. – Die JORR sind, wie schon gesagt, als äußerst friedliebend bekannt«, fügte Fontarayn hinzu, als wolle er Clouds Misstrauen bereits im Ansatz zerstreuen. »Was nicht heißt, dass sie sich gegen Gefahren von außen nicht zur Wehr zu setzen wüssten. Sie beherrschen die Raumfahrt und betreiben regen Handel untereinander. Durch einen ständigen Wissenstransfer befinden sich die einzelnen Welten auf etwa dem gleichen Entwicklungsstand. Wer ihnen seine friedliche Absicht signalisiert, hat auf jeden Fall nichts vor ihnen zu befürchten.« Cloud nickte nachdenklich. Etwas bereitete ihm zunehmend Sorge. Der RUBIKON-Crew würde es sicherlich keine Mühe bereiten, im Fall eines Aufeinandertreffens ihre friedlichen Absichten zu bekunden. Nein, Sorgen machte ihm vielmehr der Gedanke an Artas und dessen Expansionsflotte. Er versuchte sich vorzustellen, wie die JORR wohl auf den Einfall einer fremden Armada in ihr Reich reagiert haben mochten. Bei aller Friedfertigkeit erschien es ihm unwahrscheinlich, dass sie in Begeisterungsstürme ausgebrochen waren und die Satoga mit offenen Armen empfangen hatten … Cloud wollte sich gerade an Fontarayn wenden, ihm seine Bedenken mitteilen, als er bemerkte, dass der Gloride sich von ihm und den anderen abgewandt hatte. Er wirkte besorgt, wenn auch auf eine schwer bestimmbare Weise. Es war, als würde er in sich hineinlauschen. Und als würde ihm das, was er da hörte, nicht gerade gefallen. Er legte den Kopf zur Seite und schürzte die Lippen. Eine abgeschaute Geste, die nicht so recht zu ihm passen wollte. Clouds Blick wanderte kurz zu Scobee, die jedoch nur ratlos die Schultern zuckte. Dann wandte er sich wieder den Gloriden zu. Er wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als Ovayran von sich aus das Wort ergriff. »Etwas ist seltsam …«
»Könntest du vielleicht etwas präziser werden?« Cloud wurde allmählich ungehalten. »Es geht um das Territorium der JORR«, antwortete Fontarayn. »Es …« Cloud folgte seinem Blick in Richtung der Ortungsdaten. Und da sah auch er es. Das Territorium der JORR schien völlig statisch. Schenkte man den Daten Glauben, dann war die KI nicht in der Lage, auch nur irgendeine Form von Raumverkehr anzumessen. Das gesamte Territorium lag da wie tot. »Wie ist das möglich?«, entwich es Scobee verblüfft. »Ich dachte, die JORR-Völker würden rege Beziehungen pflegen? Da müsste es doch auch hochfrequentierte interstellare Verkehrslinien geben.« Die Gloriden sahen einander schweigend an. Seit sie an Bord gekommen waren, hatte Cloud sie nie um eine Antwort verlegen erlebt. Nun aber war ihnen die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. Und das trug nicht gerade dazu bei, Clouds eigene Bedenken zu zerstreuen.
Sie fand ihn in einem der Räume, die zum Erholungsbereich der RUBIKON gehörten. Die Luft war erfüllt vom Duft exotischer Blüten und dem aufgeregten Zwitschern nicht minder exotischer Vögel. Es mochte Illusion sein, aber es war perfekt gemachte Illusion. Eine leichte Brise strich durch das Blattwerk der täuschend echten Bäume ringsum. Das leise Rauschen klang wie ein Chor geisterhafter Stimmen. Augenblicklich spürte Scobee eine sanfte Wärme auf ihrem Gesicht. So als würde eine Sonne auf sie herabscheinen. Doch nicht nur das. Kaum war sie durch das Schott getreten, begann sich ihre unmittelbare Umgebung zu verändern. Das Gras der Lichtung wich feinem, weißen Sand. Das saftige Grün der Baumkronen verschwand, schuf Platz für eine glatte und blaue Fläche, die bis zum Horizont reichte. Schaumkronen kräuselten sich auf der ansonsten glatten Oberfläche. Irgendwo kreischten Möwen, und eine leichte Brandung rollte gleichmäßig gegen den Strand. Ein frischer Wind
spielte mit ihrem Haar und trug den salzigen Geruch des Meeres an ihre Nase. Ganz kurz war die GenTec versucht, stehen zu bleiben, die Augen zu schließen und die Schönheit dieses Moments auf sich wirken zu lassen. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Von einer Sekunde zur anderen brach der Zauber in sich zusammen. Kein Strand und auch kein Wald war mehr zu sehen. Nur die nackten, metallenen Wände, die endlos in die Höhe zu reichen schienen. In Wahrheit, das wusste Scobee, hätte es gereicht, die Hand kerzengerade nach oben zu strecken, um die verspiegelte Decke mit den Fingerspitzen zu berühren. An Bord der RUBIKON gab es mittlerweile viele Orte wie diesen. Da das Schiff zu ihrer Heimat geworden war, hatten sie nach und nach damit begonnen, es nach ihren Bedürfnissen umzugestalten. Die KI hatte sich dabei als äußerst hilfreich erwiesen und ihnen Möglichkeiten aufgezeigt, an die sie selbst nie gedacht hätten. Da gab es nicht nur Jeltos hydroponischen Garten – der schwer gelitten hatte – oder jenen Bereich, in dem Prosper Mérimée und seine Mannen sich häuslich eingerichtet hatten. Auch Cloud und Scobee hatten sich mehrere Rückzugsorte geschaffen. Einer davon war dieser Raum, der zwar der gesamten Besatzung zur Verfügung stand, jedoch fast ausschließlich von den beiden Menschen genutzt wurde. Er war ganz nach ihren Bedürfnissen ausgerichtet. Gleichzeitig war er in der Lage, ihren momentanen Gemütszustand zu analysieren und eine virtuelle Realität zu erschaffen, die dieser Stimmung entsprach. Scobee wusste nicht genau, wie die KI es anstellte, doch die Illusion war nahezu perfekt. Lediglich wenn sich zwei Personen gleichzeitig hier aufhielten und bedient werden wollten, versagte die Technik. Cloud hatte zwar nichts gesagt, aber Scobee hatte vermutet, ihn hier anzutreffen. Meist kam er hierher, wenn es galt, eine Entscheidung zu treffen. Und selten ging er wieder, ohne eine Lösung gefunden zu haben. Cloud musste ganz in Gedanken versunken gewesen sein. Erst als die Lichtung verschwand, bemerkte er Scobees Anwesenheit. Unwillkürlich drehte er sich zu ihr um. Der frei schwingende Schalen-
sessel, in dem er sich zurückgelehnt hatte, folgte seiner Bewegung. »Tut mir Leid, dass ich so hereinplatze«, meinte sie. »Du warst lange weg.« Der Kommandant nickte, während sein Blick zu Boden glitt. Scobee fiel auf, dass er müde aussah. Nicht dass sie das überraschte. Er war kaum zum Schlafen gekommen, seit sie Andromeda erreicht hatten. »Ich musste meine Gedanken ordnen.« »Du denkst noch immer an Artas und die Satoga?« »Hier ist so einiges faul, Scob«, gab er zurück. »Es ist auf jeden Fall mehr als ungewöhnlich, dass die Raumfahrt der JORR quasi zum Erliegen gekommen ist. Irgendetwas ist vorgefallen, und wir können es nicht einfach ignorieren.« »Du denkst daran, in das Territorium der JORR vorzudringen?« Cloud schwieg, aber sie sah ihm an, dass genau das die Frage war, deren Antwort er hier in der Klausur zu finden hoffte. »Was sagen denn die Gloriden dazu?«, fragte Scobee, nachdem sie lange vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte. Bis vor kurzem noch war er sich mit den Gloriden einig gewesen, das Gebiet zu umgehen. Wer konnte schon sagen, welche Gefahren dort lauerten? Außerdem war Fontarayn und Ovayran sehr daran gelegen, auf dem schnellsten Wege zur CHARDHIN-Perle vorzudringen. Sie konnten es sich nicht leisten, unterwegs aufgehalten zu werden. Cloud zuckte mit den Schultern und lächelte knapp. »Ich finde, es ist an der Zeit, unseren Passagieren vor Augen zu führen, wer auf diesem Schiff das Sagen hat …« Zu Clouds Überraschung musste er nicht einmal einen Bruchteil seiner Überredungskünste aufwenden, um Fontarayn von seiner Idee zu überzeugen. Sosehr dem Gloriden daran gelegen war, möglichst bald die CHARDHIN-Perle zu erreichen, sosehr war er auch daran interessiert, herauszufinden, was sich im Territorium der JORR ereignet hatte. Obwohl er seinen Willen bekam, war Cloud ein wenig enttäuscht darüber, dass ihm die Gloriden aufgrund ihrer nicht vorhandenen
Abwehrhaltung die Möglichkeit nahmen, seinen Führungsanspruch durchzusetzen. Es dauerte einige Tage, bis sie den Sektor erreicht hatten, zumal Cloud erneut darauf bestand, sich langsam und mit äußerster Vorsicht vorzupirschen. Die Auswertung der ständig aktualisierten Ortungsergebnisse bestätigte die früheren Daten. Nach wie vor konnte im JORR-Territorium kein nennenswerter Raumverkehr angemessen werden. Ein Messfehler war demnach auszuschließen. Es war, als hätten die Völker der hiesigen Allianz urplötzlich jegliche Beziehungen zueinander abgebrochen und buchstäblich über Nacht sämtliche Handels- und Versorgungslinien gekappt. John hielt sich im geschlossenen Kommandosessel auf, als er eine interessante Entdeckung machte. Es handelte sich dabei um ein offensichtlich künstliches Objekt, das frei im Raum schwebte. Cloud dachte zunächst an einen Satelliten, dann an ein Raumschiff, doch für beides schien es ihm etwas zu groß. Schnell veranlasste er den Sarkophag, sich zu öffnen. Außer ihm befand sich nahezu die gesamte Stammcrew in der Zentrale. Neben Scobee und den beiden Gloriden waren das Jarvis, Algorian und Jiim. Jelto und Aylea befanden sich nicht unter ihnen. Ebenso wenig Cy. Es war nicht nötig, die anderen auf das unbekannte Objekt aufmerksam zu machen, das sich in der Holosäule abbildete. Dreidimensional füllte es fast die gesamte Säule aus, drehte sich dabei langsam um die eigene Achse, um sich von allen Seiten zu präsentieren. Es hatte die Form eines Oktagons und sah aus wie ein gewaltiger, künstlicher Mond. Auffällig war jedoch, dass es sich in einem ziemlich heruntergekommenen Zustand befand. Tiefe Krater klafften in seiner ansonsten glatten Oberfläche. Die Ränder waren zerklüftet und deuteten auf zurückliegenden Beschuss hin. »JORR-1«, entwich es Fontarayn leise, bevor Cloud ihn fragen konnte. »Ihr wisst also, worum es sich bei diesem Ding handelt?«
»Jeder in Andromeda weiß das. Es handelt sich um eine gemeinsame Raumstation der JORR-Völker«, sagte Fontarayn und fügte hinzu: »Genaugenommen ist es eine Art Regierungspalast der Allianz. Es ist der Sitz des Konzils, das sich aus den Botschaftern der einzelnen Völker zusammensetzt und die Richtlinien des gemeinsamen Handelns bestimmt.« Cloud hörte interessiert zu, während er sich bereits Gedanken über ihr weiteres Vorgehen machte. Wenn es sich hierbei tatsächlich um den Regierungssitz des JORR-Verbundes handelte, dann war eine Kontaktaufnahme unvermeidlich. Andererseits … der Zustand, in dem sich die Station befand, gab Anlass zu höchster Sorge. War es den JORR gelungen, den Angreifer in die Flucht zu schlagen? Oder war das gesamte Reich in die Hände eines noch namenlosen Feindes gefallen? Clouds Nervosität wuchs. Bisher verbarg sich die RUBIKON hinter einem Tarnfeld, das sie für Blicke von außen unsichtbar machte. Wenn tatsächlich die JORR über die Station herrschten, würden sie nicht umhinkommen, sich zu erkennen zu geben. Doch was, wenn sich seine Befürchtung bewahrheitete und die Erbauer der Station längst nicht mehr Herr über ihr eigenes Reich waren? »Wir wagen eine Kontaktaufnahme«, bestimmte Cloud mit fester Stimme. »Hältst du das für klug, einfach vorzupreschen, ohne zu wissen, was hier eigentlich passiert ist? Ganz offensichtlich war dieser Ort ein Schauplatz von Kampfhandlungen.« Es war Jarvis, der den Einwand vorbrachte. »Wenn wir Pech haben, laufen wir mit offenen Augen in eine Falle.« Clouds Blick glitt über den Körper des ehemaligen GenTec. »Das müssen wir riskieren«, gab Cloud kaltschnäuzig zurück. Er bemerkte die Sorge, die sich bei seinen Worten auf den Gesichtern der Umstehenden abzeichnete. »Was haben wir für eine andere Wahl?«, fügte er deshalb hinzu. Leises Gemurmel setzte ein. Das Für und Wider von Clouds Vorschlag wurde eifrig diskutiert, ohne dass jemand einen besseren Vorschlag vorzubringen wusste.
Die Gloriden blieben indes vollkommen stumm. Möglicherweise kommunizierten sie auf nonverbaler Ebene miteinander, aber wahrscheinlicher war, dass sie überhaupt nichts zu diskutieren hatten. Cloud wusste nicht, warum, aber er glaubte ihnen sofort anzusehen, dass sie mit seinem Vorschlag einverstanden waren. Nachdem das Stimmgewirr ergebnislos verklungen war, ergriff Fontarayn das Wort, als habe es nie eine Diskussion gegeben: »Lasst uns einen Kontaktaufruf starten!« Cloud ballte die Fäuste. Trotz seiner tonlosen Stimme klangen die Worte des Gloriden so, als wäre jeder Widerspruch zwecklos. Einmal mehr benahm er sich wie der Kommandant dieses Schiffes, der bei jeder Entscheidung das letzte Wort hatte. Cloud war versucht, Fontarayn zu widersprechen, und sei es nur, um ihm offen die Stirn zu bieten. Doch dann räusperte er sich nur, während er einen weiteren Blick in die Runde warf. »Vielleicht befinden sich an Bord der Station Überlebende, die unsere Hilfe benötigen«, brachte er ein weiteres Argument vor. »Falls dem so ist, dürfen wir sie nicht sich selbst überlassen.« Cloud befahl der KI, umgehend Funkkontakt zu der Station herzustellen. Das Ergebnis war niederschmetternd. »JORR-1 antwortet nicht«, meldete die Schiffsinstanz nach einer Weile. »Versuch es weiter!«, verlangte Cloud, obwohl er das dumpfe Gefühl hatte, dass auch das nichts nützen würde. Irgendetwas war passiert. Und zwar nicht nur der Station, sondern der gesamten Allianz. Und momentan gab es nur eine Möglichkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Cloud wandte sich erneut an seine Crew. »Wir werden uns die Station aus der Nähe ansehen müssen. Meldet sich jemand freiwillig?«
Die Frage war natürlich rhetorischer Natur. An Freiwilligen für Außenmissionen mangelte es selten. In diesem Fall war die Sachlage allerdings eine andere als sonst. Nach mehreren Stunden vergeblicher
Kontaktaufnahme war selbst den hoffnungslosesten Optimisten unter ihnen bewusst, dass JORR-1 sich auch auf alle weiteren Kontaktversuche nicht mehr melden würde. Nicht heute, nicht morgen, und auch nicht in hundert Jahren. Die Station war so tot wie das gesamte Territorium, dessen Geschicke das Konzil bisher bestimmt hatte. Das und der katastrophale äußere Zustand von JORR-1 konnten nur zu einem Schluss führen: dass die JORR-Völker zum Angriffsziel einer fremden Macht geworden waren. Vorsicht war daher angebracht, auch wenn momentan nicht davon auszugehen war, dass von der Station selbst eine unmittelbare Gefahr drohte. Es waren Scobee, Jarvis, Fontarayn und Algorian, die Cloud schließlich für die Mission auswählte. Er selbst beschloss, an Bord der RUBIKON zu bleiben, auch wenn es ihn in den Fingern juckte, die Expedition selbst anzuführen. Sein Platz war an Bord des Rochenraumers. Wenn Not am Mann war, musste er zur Stelle sein, um zur rechten Zeit die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Die Mission startete bereits Stunden, nachdem ihre Durchführung beschlossen worden war. Die verstrichene Zeit wurde dafür genutzt, die Außenhülle der Station einer genauen Analyse zu unterziehen und das weitere Vorgehen danach auszurichten. Da die Gloriden die Station bereits von früheren Besuchen her kannten, waren sie es, die über den geeignetsten Zugang entschieden. Es war eine Schleuse auf der der RUBIKON zugewandten Seite, die für ihre Zwecke ideal erschien. Fontarayn war zuversichtlich, dass es ihm keine Probleme bereiten würde, sich auf diese Weise Zugang zu verschaffen. An Bord des kürzlich entwickelten Beibootes, das sich bereits bewährt hatte, machten sich die Expeditionsmitglieder schließlich auf den Weg. Aufgrund der respektvollen Distanz, die die RUBIKON zu JORR-1 einhielt, dauerte der Flug mehrere Stunden, obwohl das sechseckige Gebilde während der ganzen Zeit vom Cockpit aus zu sehen war. Erst beim direkten Anflug war jedoch die immense Größe der Station zu erkennen; im Verhältnis dazu nahm sich das Beiboot wie eine Mücke vor einem Elefanten aus. Als sie die Station anflogen, wurde ihnen das Ausmaß der Schä-
den, die der Angriff angerichtet hatte, so richtig bewusst. Wer hier gewütet hatte, der hatte es nicht nur darauf angelegt, die Insassen der Station mit einigen Warnschüssen zu erschrecken. Nein, das waren gezielte Vernichtungstreffer, wie Scobee mit einem besorgten Blick auf die tiefen Einschlagskrater feststellte. Wenigstens, ging es ihr dabei durch den Kopf, können wir uns mittlerweile sicher sein, dass die Station völlig verwaist ist. Wenn sich noch jemand darin aufhalten würde, hätte er wohl schon längst das Feuer auf uns eröffnet … Tatsächlich schien ihre Anwesenheit niemanden zu kümmern. Völlig unbehelligt näherten sie sich der Stelle, an der sich nach Angaben der Gloriden die Schleuse befand. Scobee erstattete der RUBIKON noch einmal Meldung, dann begann Fontarayns Aufgabe, die darin bestand, in das fremde System einzudringen und den Öffnungsmechanismus zu knacken. Noch innerhalb des Beibootes verwandelte er sich in eine gleißende Energiesäule, floss durch das Boot hindurch und schoss als Blitz auf die Schleuse zu. Für einen externen Beobachter hätte es so aussehen können, als hätte das kleine Beiboot die Außenhülle der Station unter Beschuss genommen. Es vergingen nur wenige Sekunden, dann glitt das flache Schott vor dem sich nähernden Schiff zur Seite. Die Öffnung war gerade groß genug, um bequem einfliegen zu können. Die Schleuse selbst war offensichtlich für Schiffe kleinerer Bauart vorgesehen. Für die Dauer einer Schrecksekunde glaubte Scobee, dass ihr Boot zu groß sei, um vollständig Platz darin zu finden. Die Befürchtung erwies sich jedoch als unbegründet. Die Schleuse schien wie für das Schiff geschaffen. Es fügte sich ein wie ein fehlendes Puzzlestück. Einige Zeit verstrich, ohne dass Fontarayn sich in irgendeiner Form bemerkbar machte. Gerade als Scobee via Helmfunk ihren Unmut äußern wollte, schloss sich das Schleusenschott hinter ihnen. Ab jetzt ging alles ganz schnell. Sekunden später glitt das Schott vor ihnen auf und öffnete ihnen den Weg ins Innere der Station. Scobee lenkte das Beiboot gemächlich in den Bauch des Kolosses, immer darauf gefasst, blitzschnell auf eine plötzliche Gefahr reagieren zu müssen.
Bei der Halle, in die sie schwebten, schien es sich um einen Hangar zu handeln. Bläuliches Zwielicht erfüllte den Raum und spiegelte sich wie eine dünne Lackschicht im Hallenboden und in den glatten Wänden. Der Hangar hätte gut zwanzig Fahrzeugen von der Größe des Beiboots Platz geboten, dennoch war er so gut wie leer. Lediglich ein alter Gleiter, dem man schon auf die Entfernung ansah, dass er seine besten Tage längst hinter sich hatte, stand etwas abseits. Scobee stoppte das Boot in der Mitte der Halle. Da ausreichend Platz zum Rangieren war, wendete sie es dabei um hundertachtzig Grad, sodass ihnen im Notfall eine schnellere Flucht gelingen würde. Schließlich öffnete sie die Kanzel und sprang als Erste aus ihrem Schalensitz. Federnd kam sie auf dem Hallenboden auf und wollte sich gerade weiter umsehen, als links neben ihr eine Gestalt in die Höhe wuchs. Erschrocken griff sie nach ihrem Strahler, riss ihn in den Anschlag und richtete ihn auf … Fontarayn, der völlig ungerührt auf den Abstrahlpol starrte. Die GenTec atmete tief durch, ließ die Waffe sinken und arretierte sie wieder in der Halterung ihres Raumanzugs. »Niemand zu Hause, wie es aussieht«, meinte sie, während ihr Blick durch die leere Halle schweifte. »Es ist in der Tat ungewöhnlich«, gab der Gloride zurück. »Ich kenne es nur so, dass der Hangar im Sekundentakt von Versorgungsschiffen frequentiert wurde.« »Schwer vorstellbar, wenn ich mich jetzt so umsehe.« Es war Jarvis, der dies äußerte. Er und Algorian hatten sich inzwischen zu ihnen gesellt. »Wie gehen wir weiter vor?« Seine Frage war an den Gloriden gerichtet. Er war der Einzige, der sich hier halbwegs auskannte, deshalb waren alle Blicke auf ihn gerichtet. »Schräg hinter euch befindet sich ein Antigravlift«, erklärte er. »Ich würde jedoch davon abraten, ihn zu benutzen, solange wir nicht wissen, was in der Station vorgefallen ist.« Scobee nickte, wobei sie mittlerweile ernsthaft daran zweifelte,
dass der Lift überhaupt noch funktionierte. »Gibt es denn noch einen anderen Weg?«, fragte indes Algorian, der sich um die eigene Achse drehte und seine Blicke suchend über die Wände gleiten ließ. Soweit es in diesem Zwielicht zu erkennen war, gab es keinen weiteren Ausgang. »Folgt mir«, meinte Fontarayn nur und ging voran. Scobee und Jarvis tauschten einen ratlosen Blick, dann schlossen sie sich dem Gloriden an. Zu ihrer Überraschung steuerte er trotz seiner vorherigen Warnung den Lift an, blieb davor stehen und streckte seine Hand nach den Armaturen aus, die rechter Hand in die Wand eingelassen waren. Kaum hatte er die Knöpfe berührt, gab es einen lauten Knall. Funken sprühten auf. Algorian, der dem Gloriden am nächsten war, sprang unwillkürlich zurück. Im nächsten Moment öffnete sich das gekrümmte Schott des Lifts. »Was hast du vor?«, fragte Scobee verdutzt. »Ich dachte …« »Wir nehmen den Fußweg«, unterbrach sie der Gloride und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Metallsprossen, die an der Rückwand des Schachtes angebracht waren und die wohl für den Fall eines totalen Energieausfalls gedacht waren. »Ich muss euch allerdings warnen«, schickte Fontarayn seinen Worten sofort hinterher. »Der Weg ist beschwerlich.« Scobee beugte sich in den Schacht, starrte in die Höhe – und war einen Moment lang versucht, trotz des Risikos eine Nutzung der Antigravtechnik in Erwägung zu ziehen. Der Schacht führte so weit in die Höhe, dass er mehrere hundert Meter über ihnen in der Dunkelheit verschwand. Die GenTec räusperte sich und warf einen missmutigen Blick in die Runde. »Wie hoch, sagtest du, müssen wir?« »Mindestens dreißig Etagen, sofern wir in den Regierungsbereich des Konzils vordringen wollen. Was ratsam wäre, denn bei den unteren Etagen handelt es sich vornehmlich um weitere Hangars und Lagerräume.« »Na gut«, seufzte Scobee, klatschte dann jedoch aufmunternd in die Hände. »Packen wir's an …!«
Cloud beobachtete den Flug des Beiboots vom geschlossenen Kommandositz aus. Aus seinem Blickwinkel war das Raumfahrzeug bald nur noch ein winziger, verwaschener Fleck. Dabei durfte die Größe des Bootes nicht darüber hinwegtäuschen, dass es über eine beachtliche Bewaffnung verfügte, sowohl defensiv als auch offensiv. Dennoch wollte Cloud jederzeit bereit sein, wenn es darum ging, seine Mannschaft gegen eine plötzlich auftauchende Gefahr von außen zu verteidigen. Ihm war ohnehin nicht wohl bei der Sache. JORR-1 machte einen verlassenen Einruck, aber wer wusste, welche bösen Überraschungen in seinem Innern lauerten? Als beruhigend empfand er jedoch die Tatsache, dass Scobee und Algorian von Jarvis und Fontarayn begleitet wurden. Beide verfügten über außergewöhnliche Fähigkeiten, dank derer sie fast jeder Lebensform, die Cloud bisher kennen gelernt hatte, hoch überlegen waren. Aber auch sie hatten natürlich ihre Schwächen. Er musste gar nicht so weit zurückdenken, um ein Beispiel dafür zu finden. Die Mangaven im Reich der Feliden hatten Jarvis mit ihrer Hypno-Strahlung ziemlich stark zugesetzt. Cloud war zwar auch an jener Mission nicht persönlich beteiligt gewesen, doch die Berichte der anderen hatten Eindruck bei ihm hinterlassen. Nach einer Weile bemerkte er, dass er so in Gedanken versunken gewesen war, dass er gar nicht mehr mitbekommen hatte, wie die Zeit verging. Wenn ihn sein Gefühl nicht trog, musste das Beiboot sich in diesem Moment im Anflug auf JORR-1 befinden. Tatsächlich erstattete Scobee kurz darauf Meldung darüber, dass sie die Schleuse erreicht hatten, und wenig später noch einmal, um ihm mitzuteilen, dass sie das Boot nun verlassen würden, um sich in der Station umzusehen. Damit brach der Funkkontakt vorläufig ab. Cloud wollte seinen Platz gerade verlassen, als ihm etwas ins Auge sprang, das ihm bisher entgangen war. Es war ein lang gestrecktes, leicht gebogenes Objekt, das bis vor wenigen Minuten von JORR-1 verdeckt gewesen sein musste, und nun langsam an der Station vorbeischwebte.
Durch einen Gedankenimpuls zoomte er es näher heran, so dass es in einem quadratischen Ausschnitt seines Blickfeldes mehrfach vergrößert wurde. Es war ein Wrack, das war jetzt ganz deutlich zu erkennen. Das Schiff war an so vielen Stellen beschädigt, dass Cloud sich darüber wunderte, dass es nicht bereits von selbst auseinander gebrochen war. Eine Gefahr ging von ihm jedenfalls nicht mehr aus. Rätselhaft blieb dennoch, warum es der Ortung bislang entgangen war. Interessiert wandte er sich den Analysedaten zu, mit denen die KI ihn augenblicklich überhäufte. Sicher war anscheinend nur, dass es sich dabei um einen gänzlich unbekannten Schiffstyp handelte, für den sich in der Datenbank der RUBIKON keine Entsprechung fand. Cloud öffnete den Sarkophag und verließ den Kommandositz. Noch immer hielten sich Jiim und Ovayran in der Zentrale auf. Vor allem der Narge schien froh darüber zu sein, dass der Commander wieder voll präsent war. Der Gloride mochte einer fortgeschrittenen Hochkultur entstammen, ein unterhaltsamer Gesprächspartner war er deshalb noch lange nicht. Im Gegenteil, seine Wortkargheit im allgemeinen Miteinander war kaum noch zu übertrumpfen. Jiim und Ovayran waren ebenfalls auf das Wrack aufmerksam geworden. Und sie wussten so wenig damit anzufangen wie Cloud. »Kommt es dir denn nicht einmal vage bekannt vor?«, drängte Cloud den Gloriden. In ihn hatte er eigentlich Hoffnungen gesetzt. Wenn das Schiff aus Andromeda stammte, hätte es ihm eigentlich ein Begriff sein sollen. Dass dem offensichtlich nicht so war, verstärkte Clouds Irritation. »Bleibt die Frage, was wir jetzt unternehmen.« »Wie meinst du das?«, fragte der Narge. »Ehrlich gesagt, würde ich mich auf dem Schiff gerne mal umsehen. Vielleicht liefert es uns Aufschluss darüber, was in Andromeda vorgefallen ist. Außerdem …«, fügte er nachdenklich hinzu, »… gibt es an Bord vielleicht noch Überlebende.« »Guma Tschonk, dieses Schiff sieht aus, als sei es schon ziemlich lange hinüber«, bemerkte Jiim flapsig. »Außerdem … gäbe es Über-
lebende, hätten sie doch gewiss bereits einen Notspruch gefunkt.« »Wenn sie dazu noch in der Lage wären …« Wenn Cloud ehrlich war, glaubte er selbst nicht daran, dass sich auf diesem Wrack noch jemand befand, der ihre Hilfe benötigte. Es war vor allem Neugier, die ihn zu seinem Entschluss trieb. Ovayran schien ähnlich zu denken. »Wir sollten zumindest einen Blick hineinwerfen«, sagte er. »Vielleicht hilft es uns zu verstehen …« Ein entschlossenes Lächeln legte sich auf Clouds Lippen. Entgegen seiner früheren Einstellung würde er es sich in diesem Fall nicht nehmen lassen, den Vorstoß selbst zu leiten. Das nennt man konsequent – und verantwortungsvoll bis in die Haarspitzen, dachte er selbstironisch. Kompliment, Commander – wegtreten! Wie auch immer, er wollte herausfinden, was es genau mit dem Wrack auf sich hatte, das offenbar nicht zur JORR-1 gehörte und damit eventuell in Verbindung zu den noch unbekannten Zerstörern stand. »Sollten wir nicht wenigstens auf die Rückkehr der anderen warten?«, wandte Jiim ein, dem die ganze Sache offenbar nicht geheuer war. »Das kostet alles zu viel Zeit«, meinte Cloud. »Es kann noch dauern, bis Scobee und Jarvis zurück sind. Wir wollen uns ja auch nur kurz umsehen, dann fliegen wir zurück.« Cloud schlug vor, dass Jiim als Eingreifreserve in der Zentrale zurückblieb, während er und Ovayran sich in einem weiteren Beiboot auf den Weg zu dem Wrack machten. Der Gloride war einverstanden, der Narge gab sich geschlagen.
Der Aufstieg gestaltete sich nicht ganz so beschwerlich, wie Scobee befürchtet hatte. Das mochte mit daran liegen, dass die Sprossen nicht, wie zunächst gedacht, aus Metall bestanden, sondern aus einem fremdartigen Material, das den Schuhen perfekten Halt bot, dabei leicht nachgab, und ihr jeweils einen gewissen Schwung verschaffte, der es immens erleichterte, die jeweils nächste Sprosse zu
erreichen. Fontarayn verzichtete als Einziger darauf, die Treppe zu nehmen. Stattdessen entmaterialisierte er sich und verschwand als greller Blitz im Innern des Schachtes. Scobee hatte nichts dagegen, dass der Gloride diese Abkürzung nahm. Auf diese Weise würde er das Ziel lange vor den anderen erreichen, was ihm genügend Gelegenheit verschaffte, die Lage zu erkunden, nach potentiellen Gefahren Ausschau zu halten und sie notfalls zu warnen. Allerdings wunderte sie sich darüber, dass Jarvis bei ihnen blieb. In seinem Kunstkörper wäre es ihm mühelos möglich gewesen, mittels körpereigenem Antigrav in die Höhe zu gleiten. Dass er es dennoch vorzog, ihr und Algorian Gesellschaft auf diesem ungemütlichen Parcours zu leisten, wertete sie als kameradschaftliche Geste. Doch auch Scobee verfügte dank ihrer genetischen Konditionierung über weitaus größere Kraftreserven als ein normal geborener Mensch. Dies sowie einige andere Vorzüge, wie etwa die Restlicht verstärkende Eigenschaft ihres Sehorgans, prädestinierten sie für Missionen wie diese. Wenn Scobees Zeitgefühl nicht trog, dauerte es dennoch eine gute halbe Stunde, bis sie ihr Ziel erreichten. Es war ein offenes Schott, das auf einen Gang mit gewölbten Wänden hinausführte. Auch hier erhellte ein seltsames Licht die Szenerie, ohne dass seine Quelle auszumachen war. Scobee nahm an, dass es sich bei der Wand- und Bodenverkleidung um irgendein fluoreszierendes Material handelte, das selbst dann für Helligkeit sorgte, wenn alle anderen Energiequellen versagten. Scobee verharrte sekundenlang an der Unterseite des Schachtes, bevor sie sich endlich aus der Öffnung wagte. In ihrem dunklen Anzug und mit den schwarzen Haaren verschmolz sie fast mit der Umgebung. Ein Schatten, umgeben von düsterem Licht. Jarvis folgte ihr in knappem Abstand. Rücken an Rücken pressten sie sich gegen die Wand, mit den Strahlern nach beiden Seiten sichernd. Als sie sicher waren, dass ihnen keine Gefahr drohte, entspannte Scobee sich.
»Ich möchte zu gern wissen, wo Fontarayn steckt«, meinte sie. Gleichzeitig fragte sie sich, weshalb sie eigentlich flüsterte. »Er sollte uns doch am Liftende treffen und uns über die Lage informieren.« »Vielleicht wurde er aufgehalten«, sagte Algorian, ohne zu spezifizieren, was genau er damit meinte. Sie warteten noch ein paar Minuten auf den Gloriden, dann beschlossen sie, auf eigene Faust aufzubrechen. Hätte irgendeine Gefahr gedroht, hätte sie sich vermutlich längst bemerkbar gemacht. Das redete sich Scobee zumindest ein. Wenn sie sich jedoch die immense Größe dieser Konstruktion vor Augen führte, war sie sich dessen jedoch keineswegs mehr so sicher. »Ich gehe voran«, verkündete sie, weiter dicht an die Wand gepresst. Cloud hatte ihr das Kommando übertragen. Bei früheren Missionen hatte sich das bewährt, deshalb war auch Jarvis sofort damit einverstanden gewesen. Sie folgten dem Gang, der sich kerzengerade fortsetzte, ohne auch nur einmal einen Knick zu beschreiben. Nach einer Weile hegte Scobee den Verdacht, dass der Gang in Wahrheit vielleicht nicht gerade verlief, sondern eine leichte Krümmung beschrieb, und die Station somit ringförmig durchzog. Wenn dem so war, würden sie irgendwann wieder bei ihrem Ausgangspunkt landen. Was bei dieser Größe durchaus einen Tagesmarsch in Anspruch nehmen konnte. Die Türen, die sie passierten, waren allesamt verschlossen und ließen sich auch mit roher Gewalt nicht öffnen. Wenn das so weiterging, würde die Mission ein einziger Reinfall werden. Scobee hielt inne, als sie bemerkte, dass die Schritte ihrer Mitstreiter plötzlich verstummt waren. Sie drehte sich um und sah Jarvis und Algorian gut zehn Meter hinter sich. Algorian hatte den Kopf zur Seite gelegt, wie ein Hund, der eine Witterung aufgenommen hat. Scobee verkniff sich jeden Kommentar und spitzte ebenfalls die Ohren. Und da hörte sie es auch. Ein leises Summen, das mehr zu spüren denn zu hören war. Es war wie eine Vibration, die die Wände erfass-
te und den Boden unter ihren Füßen zum Erbeben brachte. »Was ist das?«, wandte sie sich an ihre Begleiter. »Klingt wie ein Motor«, meinte Jarvis. »Vielleicht irgendeine Art Generator.« Scobee nickte. Obwohl die Station verwaist war, war die Energiezufuhr offensichtlich weiter gewährleistet. Das bedeutete, dass sie aus irgendeiner Quelle gespeist werden musste. Scobee legte ihr Ohr auf die kalte, glatte Oberfläche der Wand. Dann deutete sie nach vorne und meinte: »Es kommt von da!« Tatsächlich erreichten sie nach einigen Schritten eine kleine Nische, in der eine Treppe steil nach unten führte und irgendwo in der Dunkelheit endete. Mit einem Blick über ihre Schulter vergewisserte sich Scobee, dass ihre Begleiter einverstanden waren, dann begann sie mit dem Abstieg. Die Treppe war etwa zwanzig Stufen lang und mündete in einen extrem schmalen Gang, in dem ein normal gewachsener Mensch kaum aufrecht gehen konnte. Irgendwann, sie waren eine ganze Weile gegangen, bemerkten sie ein seltsames Licht, das seinen Ursprung am Ende des Ganges haben musste. Es wechselte ständig seine Farbe, wurde von rot zu orange, von grün zu blau, war mal dunkler, mal heller und schien sich dabei in ständiger Bewegung zu befinden. Scobee blieb stehen und lauschte erneut. Sie hatte richtig vermutet. Das Brummen war jetzt stärker geworden und hatte sich mit einem hohen Pfeifen vermischt, das sich direkt unter ihre Schädelplatte zu bohren schien. »Sei vorsichtig, Scob«, raunte ihr Jarvis zu. »Wir haben keine Ahnung, womit wir es hier zu tun haben.« Wie um seine Worte zu bestätigen, zog die GenTec ihren Strahler und richtete ihn nach vorn. Ganz langsam, Schritt für Schritt, pirschten sie sich weiter. Nach einer Weile beschrieb der Gang einen Knick. Scobee presste sich dicht an die Wand, während sie vorsichtig um die Ecke linste. Um ein Haar hätte sie laut aufgeschrieen. Es war wie ein greller
Blitz, der sich in ihre Netzhaut bohrte, sich dort tausendfach verästelte und bis in ihr Gehirn fortpflanzte. Unwillkürlich schloss sie die Augen, wich zurück und lehnte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht gegen die Wand. »Was ist?«, fragte Algorian aufgeregt. »Was hast du gesehen?« »Es war … unbeschreiblich«, stöhnte die GenTec. »Ein grelles Licht wie von tausend Sonnen.« Jarvis und Algorian sahen einander ratlos an. Zwar bestand kein Zweifel, dass hier tatsächlich eine Lichtquelle in der Nähe war. Doch die Helligkeit, die den Gang erfüllte, war eher matt als leuchtend grell. »Müsste es denn hier nicht taghell sein, wenn sich hinter der Ecke tatsächlich eine Lampe befände, wie du es beschreibst?« Scobee machte mit der Linken eine abwehrende Geste, während die Rechte noch immer ihre Augen abschirmte. »Du hast Recht«, meinte sie, während sie die Lider wieder hob. »Möglicherweise entfaltet sie ihre Wirkung erst, wenn man direkt hineinsieht.« Obwohl es eine eher etwas fadenscheinige Erklärung war, sagte der Aorii: »Lasst es mich ausprobieren.« Mit gesenktem Haupt ging er an Scobee vorbei und trat langsam um die Ecke. »Es ist heller geworden«, gab Algorian zurück. »Aber nicht annähernd so grell, wie du es beschrieben hast. Es ist … erträglich.« Scobee und Jarvis tauschten einen entschlossenen Blick. Wie der Aorii senkte auch Scobee den Blick, bevor sie um die Ecke bog. Und tatsächlich. Hätte Scobee es nicht mit eigenen Augen gesehen, sie hätte nie eine derart starke Lichtquelle in unmittelbarer Nähe vermutet. Wahrscheinlich war es so, wie sie zunächst vermutet hatte. Trotz ihrer Stärke gab das Phänomen offensichtlich nur wenig Licht an seine Umgebung ab. Nur wenn man direkt hineinsah, bekam man einen ungefähren Eindruck seiner Stärke. Jarvis, der seit seiner Transformation in seinen Kunstkörper über keine organischen Rezeptoren mehr verfügte, bereitete die Helligkeit ohnehin keine Probleme. Er konnte mühelos in das Licht bli-
cken, ohne dabei Schaden zu nehmen. »Das müsstet ihr sehen!«, rief er aus. »Es ist unbeschreiblich.« »Witzbold«, knurrte Scobee und fügte sogleich hinzu: »Was genau siehst du?« Doch Jarvis, sonst selten um Worte verlegen, tat sich erkennbar schwer damit, eine Beschreibung zu liefern. »Es ist …« Er druckste eine Weile herum, meinte dann: »… nicht von dieser Welt.« Scobee, die ihre Arme ausgestreckt hatte, ertastete urplötzlich den Aorii, der vor ihr stehen geblieben war. »Passt auf!«, zischte er ihr über seine Schulter hinweg zu. »Hier befindet sich ein schmaler Durchgang.« Tatsächlich war er nicht nur schmal, sondern auch überaus niedrig. Scobee hätte sich fast den Kopf angeschlagen und musste sich stark bücken, um unbeschadet durch die Öffnung zu kommen. Noch immer war die Helligkeit erträglich, auch wenn sie inzwischen etwas stärker geworden war. Scobee musste sich förmlich dazu zwingen, in die andere Richtung zu sehen. Zu groß war ihre Neugier, was dieses leuchtende Etwas betraf. Ganz kurz blinzelte sie in die Richtung, in der sie es vermutete, zuckte jedoch sofort wieder zurück, als hätte sie eine heiße Herdplatte berührt. Sie versuchte sich abzulenken, indem sie den restlichen Teil des Raumes in Augenschein nahm. Er war nicht besonders groß. In der rechten, hinteren Ecke befanden sich einige sonderbare Gerätschaften, deren Sinn und Zweck sich ihr weder auf den ersten, noch auf den zweiten Blick erschloss. Langsam drehte sie sich um die eigene Achse und wäre fast mit Jarvis zusammengestoßen, der sich urplötzlich vor ihr aufbaute. In der Hand hielt er mehrere Gegenstände, die sie beim genaueren Hinsehen als eine Art Nachtsichtgerät identifizierte. Nein, korrigierte sie sich kurz darauf selbst. Es musste sich dabei um Schutzbrillen handeln. Sie waren winzig und offensichtlich nicht für menschliche Köpfe geschaffen. »Wo hast du die denn her?«, fragte Scobee verwundert. Jarvis deutete hinter sich.
»Die lagen da im Schrank.« Scobees Blick wanderte an ihm vorbei. Tatsächlich. Da waren noch mehr von diesen Dingern. Sie hatten unterschiedliche Größen und Formen. Die meisten waren jedoch noch deutlich kleiner als jene, die Jarvis an sich genommen hatte. Scobee nahm eines davon in die Hand. Es bestand im Wesentlichen aus zwei dicken, ineinander übergehende Röhren von knapp zehn Zentimetern Länge. Die Größe war verstellbar, wie Scobee erfreut bemerkte. Nichtsdestotrotz bereitete es ihr erhebliche Probleme, mit beiden Augen gleichzeitig hindurchzusehen. Kurzerhand kniff sie das linke Auge zusammen und führte nur das rechte an das Guckloch. Dann schwenkte sie es ganz langsam in die Richtung der sonderbaren Lichtquelle. Sie erschrak ein wenig, als sie urplötzlich in ihrem Blickfeld auftauchte. Sie sah nur einen Ausschnitt davon, dennoch verstand sie sofort, warum es Jarvis solche Mühe bereitet hatte, das Gesehene in Worte zu fassen. Auf den ersten Blick sah es aus wie eine aus Dutzenden durcheinander wirbelnder Schleier bestehende Wolke, die unablässig Form und Farbe änderte. Als sie ihren Blick an der Wolke entlangwandern ließ, erkannte sie, dass sie nicht frei im Raum schwebte, sondern in einer durchsichtigen, röhrenartigen Kammer untergebracht war und offenbar von einem golden schimmernden Etwas erzeugt wurde, das den Kern des Ganzen darstellte und immer nur kurz zu sehen war. Doch das war nicht alles. Irgendetwas schien davon auszugehen. Scobee hatte das Gefühl, als würde ein gleißender Strahl durch ihre Schädeldecke dringen und ihr Gehirn auf unangenehme Art und Weise in Schwingungen versetzen. Es ist nicht gut, was wir hier tun, ging es ihr durch den Kopf. Wir wissen nichts über dieses Ding. Haben keine Ahnung, was es in uns anrichtet. Vielleicht sind wir schon alle verstrahlt. Andererseits … wenn diese Konstruktion wirklich so gefährlich war, hätte man sie dann einfach so, für jedermann frei zugänglich und ohne jeden Schutz aufgebaut?
Obwohl Scobee krampfhaft versuchte, ihren Blick abzuwenden, misslang es ihr. Sie fühlte sich wie hypnotisiert. So, als würde sie schwerelos dahintreiben. Urplötzlich blitzten Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Bilder, die nicht aus ihr selbst kamen. Die nicht Teil ihres Unterbewusstseins waren. Sie sah seltsame Landschaften mit dürren glasfaserartigen, grünlich schimmernden Gewächsen. Sie sah bizarre, unförmige Schatten durch das Gehölz schleichen. Und sie hörte Geräusche, die keiner menschlichen Kehle entspringen konnten. Einen Moment lang fühlte sie sich, als würde der Wahnsinn nach ihrem Verstand greifen. Was hatte das zu bedeuten? Sahen ihre Begleiter dasselbe wie sie? Scobee wollte sie danach fragen, als sich ein gellender Schrei in ihre Gehörgänge bohrte. Abrupt wandte sie sich ab, riss die Brille von ihren Augen und sah sich um. Weder Jarvis noch Algorian hatten den Schrei ausgestoßen. Und dann war sie sicher, dass er nicht einmal in diesem Raum aufgeklungen war. Verwirrt sah sie sich um. Wenn nicht hier, wo aber dann? Der Raum verfügte neben der Tür, durch die sie gekommen waren, über keine weitere. Während sie noch nachdachte, trat Jarvis bereits an ihr vorbei, ging bis zur Rückwand des Raumes und blieb dort stehen. Mit einer Geste bedeutete er Scobee, leise zu sein, doch das Geräusch wiederholte sich nicht. Nach etwa einer Minute ergebnisloser Warterei legte Jarvis seine flache Hand an die Wand und meinte: »Das Geräusch hat irgendwo hier seinen Ursprung.« »Du meinst … in der Wand?«, fragte Algorian, der hinter Scobee stehen geblieben war. »Ich meine hinter der Wand«, gab Jarvis zurück. »Dann muss es noch einen weiteren Zugang zu diesen Katakomben geben«, meinte Scobee, doch Jarvis verneinte. »Sieh her!«, sagte er, während er vor der Wand in die Hocke ging und auf einen haarfeinen Riss zeigte, der sich durch das undefinier-
bare Material zog. Scobee trat näher heran und beugte sich zu ihrem Kameraden hinab. Sie erkannte, dass der offene Riss Teil einer Nahtstelle war, die ein Rechteck beschrieb, das sich ansonsten kaum von der Wand abhob. »Da ist eine Öffnung«, flüsterte Jarvis. »Eine Geheimtür, wenn du so willst.« In diesem Moment klang das Geräusch ein weiteres Mal auf. Jetzt war sich auch Scobee ganz sicher. Es hatte seinen Ursprung hinter dem verborgenen Durchgang! »Denkst du, du kannst das irgendwie öffnen?«, fragte sie. Jarvis tippte gegen die untere Ecke der Luke, die sich sofort nach innen wölbte. Dann stand er auf und bat seine Mitstreiter, zur Seite zu treten. Gebannt beobachtete Scobee, wie seine Hand in Sekundenschnelle zerfloss, ihre ursprüngliche Form verlor und zu einem Gebilde mutierte, das an eine Brechstange erinnerte. Mit brutaler Gewalt stieß er das Ende der Stange in die haarfeine Öffnung. Mit einem schrillen Quietschen wurde die aus einem dünnen, nachgiebigen Material bestehende Luke nach außen gehebelt und wich einer dunklen Öffnung, die zum Vorschein kam. Es dauerte noch eine Weile, bis Jarvis die Luke komplett entfernt hatte und das Loch groß genug war, dass ein Erwachsener bequem auf die andere Seite gelangen konnte. Scobee wagte wiederum als Erste den Vorstoß. Den Strahler schussbereit in der Hand, streckte sie ihren Kopf durch die Öffnung. Nach dem ständigen Zwielicht, das die übrigen Gänge und Räume erhellte, kam ihr das Dunkel jenseits der Öffnung vor wie ein klauenbewehrtes Monster, das sich auf sie stürzte. Es dauerte jedoch nur den Bruchteil eines Moments, bis sich ihre Augen den neuen Sichtverhältnissen anpassten. Wieder einmal war sie für ihre Nachtsichtigkeit dankbar. Auch wenn sie alles wie durch einen milchigen roten Schleier sah, bereitete es ihr keine Mühe, Einzelheiten auszumachen. Sie sah Behälter, die zu ihrer Linken an der Wand standen – und in
denen huschende Bewegung zu sehen war. »Was siehst du?«, raunte Jarvis ihr zu, während sie bereits damit begann, durch die Öffnung zu klettern. »Das sage ich dir sofort«, gab sie zurück – und verschwand in der Dunkelheit.
Der Raum hinter der Luke war noch niedriger als jener, aus dem sie gerade gekommen war. Sie musste fast in die Hocke gehen, während sie sich an die Batterie zylinderförmiger Behälter herantastete, die fast das komplette linke Viertel des Raumes ausfüllte. Sie hatte sich ihnen bis auf wenige Schritte genähert, als sie abrupt innehielt. Da war es wieder, dieses schrille Geräusch, das ihr jedes Mal von neuem die Nackenhaare aufstellte. Scobee bemerkte, wie sich Jarvis und Algorian durch die Luke quetschten. Sie drehte sich nur kurz zu ihnen um, ging dann vor dem vordersten Zylinder in die Hocke. Trotz ihrer Nachtsichtigkeit war nicht ganz leicht zu erkennen, was sich darin befand. Er war etwa zur Hälfte mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt, deren Oberfläche immer wieder Blasen warf. Der Anblick erinnerte sie an ein Moorbad. Und dann sah sie, dass etwas in dieser Flüssigkeit schwamm. Es war ein Kopf! Der winzige, gerade mal daumengroße Kopf einer Kreatur, deren Körper von der Flüssigkeit umspült wurde. Nach und nach erkannte Scobee weitere Einzelheiten. Der Kopf erinnerte entfernt an den eines haarlosen Eichhörnchens, nur um ein Vielfaches kleiner. Seine Augen waren geschlossen, doch in seinem Gesicht zuckte es unaufhörlich. Und dann fielen Scobee die Drähte auf, die in seinen Schläfen steckten und deren andere Enden in der dunklen Flüssigkeit verschwanden. »Was machen die da?«, fragte Jarvis, der neben ihr stehen geblieben war. Scobee sah kurz zu ihm auf und bemerkte, dass er sich nicht bücken musste, sondern raffinierterweise einfach seine Körpergröße verkleinert hatte. Er war jetzt nur noch etwa so groß wie
ein Kind. Ein ungewohnter Anblick, der sie jedoch nicht von dem noch bizarreren Anblick in dem durchsichtigen Zylinder ablenken konnte. »Sie träumen …!« Es war Algorian, der schließlich auf Jarvis' Frage reagierte. Scobee wollte ihrer Verwunderung Ausdruck verleihen, als sie sich den kleinen Burschen noch einmal genau ansah. Der Aorii hatte Recht. Das Geschöpf zuckte und bewegte sich so wie ein Mensch in der REM-Phase seines Schlafes. Und dann fielen ihr die bizarren Bilder wieder ein, die sie im Innern der leuchtenden Wolke zu sehen geglaubt hatte. Sie hatten sie an bizarre Eindrücke aus einem Albtraum erinnert. Und jetzt wurde ihr mit einem Schlag klar, dass sie damit vermutlich sogar ins Schwarze getroffen hatte. Sie zuckte zusammen, als ein weiterer Schrei ertönte. Ausgestoßen hatte ihn die Kreatur im Zylinder, ohne dass sie dabei aufgewacht war. Wie es aussah, gaben diese seltsamen Wesen diese Laute im Schlaf von sich. Scobee inspizierte die Zylinder genauer und stellte dabei fest, dass an ihrer Unterseite mehrere Drähte in den Boden führten. »Denkst du, was ich denke?«, fragte Jarvis, der ihrem Blick gefolgt war. »Diese Wesen erzeugen die Lichtwolke im anderen Raum. Es muss sich dabei um irgendeine Form der Energiegewinnung handeln. Eine Art biologischer, mental gespeister Reaktor.« Eine bessere Erklärung hatte Jarvis auch nicht parat. Dafür fühlte er sich zu einer Mutmaßung inspiriert: »Da dieses Ding noch in Betrieb ist, muss es hier irgendjemanden geben, der es wartet. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass wir doch nicht so alleine sind, wie wir bisher angenommen haben.« Scobee sah sich unbehaglich um und entdeckte eine Art Vorhang, der einen Teil der rückwärtigen Wand verdeckte. Ein schmaler Lichtstreifen drang dahinter hervor. Sofort war ihr klar, dass sich dort ein weiterer Raum befinden musste. Sie machte Jarvis und Algorian darauf aufmerksam. Vorsichtig
pirschten sie sich an den Vorhang heran. Scobee fuhr mit der Hand darüber. Er bestand aus einem undefinierbaren, öligen Material, das den Eindruck erweckte, als wolle es sich zwischen ihren Fingern verflüchtigen. Scobee und Jarvis gaben sich ein stummes Zeichen, dann riss die GenTec den Vorhang auf und zielte mit dem Strahler in den dahinter liegenden Raum.
Überrascht sah sie sich um. Sie hatte ein kleines Zimmer erwartet, vielleicht eine Abstellkammer. Aber was sie hier vorfand, war ein weitläufiger Saal. Und überall standen Tische und Schränke mit seltsamen Apparaturen. Sie erkannte eine Art Zentrifuge, mehrere Glaskolben und undefinierbare Tinkturen in allen Regenbogenfarben. Es war zweifelsfrei ein Labor. »Das sieht alles so aus, als wäre es erst kürzlich noch benutzt worden«, meinte Jarvis. »Das würde deine Vermutung stützen …« Scobee hatte sich bereits in den Laborraum vorgewagt. Ein schwefelartiger, Übelkeit erregender Geruch hing in der Luft. Sie zwang sich, flach durch den Mund zu atmen. »Tut mir den Gefallen und fasst hier nichts an«, bat Scobee die anderen, kurz bevor sie sich selbst dabei ertappte, dass sie ihre Hand nach einem Glas ausstreckte, in dem ein langbeiniges Insekt in einer geleeartigen Masse konserviert war. »Seht euch das mal an!« Auf Algorians Ruf hin eilten Jarvis und Scobee sofort zu ihm. Er stand vor einer durchsichtigen Tür, die rechts in die Wand eingelassen war. Erst als der Aorii zur Seite trat, erkannten auch die beiden anderen, was sich hinter dieser Tür befand. Es war ein kleines, spindeldürres Wesen mit grauer, faltiger Haut. Weißer Flaum bedeckte stellenweise seinen ansonsten kahlen Kopf. Scobee verzog das Gesicht. »Hier wurden wohl bis vor kurzem noch Experimente durchgeführt. Ich frage mich, ob diese Wesen alle aus Andromeda kommen,
oder …« Scobee verstummte, als sie auf etwas aufmerksam wurde. Jenseits der Scheibe. Rasch trat sie näher heran – und da begriff sie, was passiert war. Das Wesen hatte die Augen aufgemacht …
Cloud und Ovayran bewegten sich mit äußerster Vorsicht auf ihnen völlig unbekanntem Parkett. Spätestens seit Betreten des Wracks zweifelte Cloud nicht mehr eine Sekunde daran, sich auf einem Geisterschiff zu befinden. Auch wenn das Innere in einem deutlich besseren Zustand war, als das Äußere es vermuten ließ. Ein Grund dafür mochte sein, dass die Materialien, aus denen es gefertigt war, von Natur aus so gut wie keine Verschleißerscheinungen zu kennen schienen, was es schwer machte abzuschätzen, wie lange es nun schon führerlos durchs All trieb. Der Boden, die Wände sowie sämtliche Armaturen waren offensichtlich schmutzabweisend. Nur so war es zu erklären, weshalb alles aussah, wie frisch aus der Produktion gekommen. Bisher war alles verdächtig glatt gegangen. Es hatte Cloud und Ovayran keinerlei Mühe bereitet, an dem Wrack anzudocken und sich Zugang zu verschaffen, wozu der Gloride einen erheblichen Beitrag geleistet hatte. In unmittelbarer Nähe der um ein Vielfaches größeren Raumstation hatte das Schiff klein und unscheinbar gewirkt. Wie groß es wirklich war, merkten sie erst, als sie den Versuch unternahmen, es vollständig zu durchkämmen. Zunächst nahmen sie sich jeden einzelnen Raum vor, nach einer Weile nur noch jeden zweiten … und irgendwann begnügten sie sich mit einigen sporadischen Stichproben. Ergiebig war die Suche ohnehin nicht. Es gab weder Tote noch Überlebende, und die Einrichtung war rein funktional, um nicht zu sagen spartanisch. Cloud wusste zwar selbst nicht so genau, was er eigentlich zu finden gehofft hatte, aber bisher war die Ausbeute mehr als enttäuschend. »Ich frage mich, was mit der Besatzung passiert ist«, sagte er,
nachdem sie das mittlere Deck ergebnislos durchsucht hatten. Ingesamt umfasste das Schiff fünf Ebenen, vier lagen also noch vor ihnen. Demnach war es durchaus möglich, dass sie noch den einen oder anderen Hinweis auf seine früheren Besitzer finden würden. »Sie müssen das Schiff sehr fluchtartig verlassen haben«, vermutete Ovayran. Tatsächlich sah es in den Räumen so aus, als würden ihre Bewohner jeden Moment zurückkehren. Auf dem mittleren Deck befanden sich vor allem Mannschaftskabinen. Die Beschaffenheit der Einrichtung deutete darauf hin, dass sie von einer humanoiden Lebensform bewohnt gewesen waren – die im Durchschnitt jedoch wesentlich kleiner sein musste als ein Mensch von der Erde. Bisweilen waren Spuren eines Kampfes zu erkennen. Brandlöcher in den Wänden, die von Strahlenwaffen herrührten. »Wahrscheinlich wurden sie gewaltsam von Bord geschafft«, meinte Cloud. »Ich schätze, die Angreifer haben das Schiff geentert. Das erklärt auch, warum sie es nicht vollständig zerstört haben. Vielleicht haben sie es nach irgendetwas durchsucht. Ich glaube nicht, dass dieses Schiff den Angreifern der Station gehörte …« Beim Gang durch das zweite Deck bekam Cloud immer mehr den Eindruck, es überhaupt nicht mit einem militärischen Schiff zu tun zu haben. Der volle Sinn und Zweck der Einrichtungen, die sie fanden, erschloss sich ihm zwar nicht, dass es sich hierbei jedoch eher um Forschungseinrichtungen handelte, wurde mehr und mehr deutlich. Die meisten Einrichtungen waren medizinischer Natur. Einer der Räume, der gänzlich mit einem keramischen Material ausgekleidet war und in dessen Mitte sich eine Art Liege befand, erinnerte Cloud an einen OP. Auch dieser Raum war vollkommen sauber, fast steril, als habe sich erst vor wenigen Minuten ein Putzkommando darum gekümmert. Ovayran schloss sich Clouds Vermutung an. »Hier wurden medizinische Untersuchungen durchgeführt«, sagte er, als er die sonderbaren Gerätschaften begutachtete, die auf einem
kleinen Tisch an der rechten Seite des Raumes aufgereiht waren. »So kommen wir nicht weiter«, meinte Cloud, während er eines dieser Geräte, ein dünnes, längliches Objekt mit einem winzigen Greifarm an seiner Spitze, in seinen Fingern drehte. »Ich schlage vor, wir machen uns auf die Suche nach der Bordzentrale. Wenn wir überhaupt irgendwo Aufschluss darüber finden, was diesem Schiff und seinen Passagieren widerfahren ist, dann wohl dort.« Ovayran war einverstanden. Sie arbeiteten sich bis zur Vorderseite des Schiffes vor, was sich angesichts der teilweise labyrinthisch ineinander verschlungenen Korridore als gar nicht so einfach erwies. Nachdem sie sich einige Male verlaufen hatten, gelangten sie in einen Raum, bei dem es sich unverkennbar um die Brücke handelte. Sie bestand aus mehreren Ebenen, die über einen mechanischen Lift miteinander verbunden waren. Ihre Hoffnung, hier etwas Brauchbares zu finden, zerschlug sich jedoch bereits im Ansatz. War der übrige Teil des Schiffes relativ gut in Schuss, so hatten die Angreifer in der Zentrale buchstäblich alles verwüstet. Sämtliche Technik war blinder Zerstörungswut zum Opfer gefallen. Monitore und Konsolen waren zerschmolzen und vollkommen unbrauchbar gemacht worden. Doch das war nicht alles. Als Cloud sich weiter umsah, entdeckte er auf dem Boden eine glibberige Masse, die er bei genauerer Betrachtung als die abgetrennte Gliedmaße eines unbekannten Wesens identifizierte. Erst jetzt verstand er, was es mit den unzähligen Spritzern und Flecken auf sich hatte, die den Boden wie ein morbides Muster überzogen. Zuerst hatte er gedacht, dass es sich dabei um die getrockneten Reste einer Flüssigkeit handelte, die irgendwo ausgetreten war. Doch in dem Moment, da sein Blick auf das kleine, zerquetschte Ärmchen fiel, wurde ihm klar, dass es sich bei den Spritzern um Blut handelte. Das Blut der Besatzungsmitglieder, das bei dem brutalen Überfall vergossen worden war. Voller Abscheu wandte sich Cloud ab. Er wollte die Zentrale gerade verlassen, als Ovayrans Ruf ihn zurückhielt. Cloud musste über mehrere umgestürzte Gerätschaften hinweg-
steigen, um den Gloriden zu erreichen, der im vorderen Bereich des Raumes auf ihn wartete. Der Gloride hatte sich über eine der Konsolen gebeugt. Irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit stark erregt. »Sieh dir das an!« Der Blick des Commanders folgte Ovayrans ausgestrecktem Finger. Und da sah er, dass irgendetwas in das Material der Konsole eingraviert war. Es war jedoch nur noch zur Hälfte zu erkennen. Der Rest war zusammen mit der Konsole in der Strahlenglut einer Energiewaffe zerschmolzen. Cloud fuhr mit dem Finger über die Gravur. Es handelte sich dabei um ein Oval, in dessen Mitte sich mehrere fremdartige Schriftzeichen befanden. »Kennst du dieses Zeichen?«, fragte er. Der Gloride nickte bedeutungsvoll. »Bei unserer letzten Verschmelzung transferierte mir Fontarayn sein gesamtes eigenes Wissen – so wie ich es im Austausch mit meinem tat. Seither weiß ich um die Verhältnisse in dieser Galaxie so gut Bescheid, als wäre ich hier beheimatet. Es ist das Wappen der Havajaner, ein uraltes Herrschergeschlecht der Heptonen – einer mit der Allianz assoziierten Rasse. Mit dem Eintritt in die Allianz haben die Havajaner schon vor langer Zeit freiwillig auf ihren Herrschaftsanspruch verzichtet und konzentrieren sich seitdem auf repräsentative Aufgaben. Nicht nur deswegen genießen sie ein hohes Ansehen. Sie sind vor allem auch für ihren Großmut und ihre Barmherzigkeit bekannt.« Cloud hörte aufmerksam zu. Wenn dieses Schiff im Auftrag der Havajaner unterwegs gewesen war – sich möglicherweise sogar Mitglieder dieses Geschlechts an Bord befunden hatten –, dann war nicht schwer zu erraten, worauf es die Angreifer abgesehen hatten. Dennoch … auch bei dieser Hypothese gab es einige Unstimmigkeiten. Er sprach den Gloriden darauf an. »Wenn dieses Schiff aus Andromeda stammt, warum hast du es dann nicht sofort erkannt?« Diese Frage schien sich der Gloride selbst schon gestellt zu haben.
»Dieser Typus ist in der Tat völlig ungewöhnlich, sowohl für die Havajaner als auch für die Heptonen. Wenn sie in geheimer Mission unterwegs waren, dann haben sie womöglich ganz bewusst ein Modell gewählt, das sie nicht bereits auf den ersten Blick als Angehörige der Havajaner ausgewiesen hat.« Das ergab durchaus einen Sinn. Cloud versuchte, die Antwort des Gloriden mit dem zuvor Gesagten in Einklang zu bringen. Der Zustand der Raumstation JORR-1, der zum Erliegen gekommene Raumverkehr, das Auftauchen dieses Wracks … alles deutete darauf hin, dass die Allianz der JORR in einen schrecklichen Krieg verwickelt worden war. Wenn diese Vermutung stimmte, lag es in der Tat nahe, dass führende Angehörige der Havajaner versucht hatten, sich an Bord eines als Forschungsschiff getarnten Raumers in Sicherheit zu bringen. Möglicherweise sogar, um aus dem Exil heraus den Widerstand gegen die Invasoren anzufachen. Hatte der Feind Wind von dem Vorhaben bekommen und das Schiff deshalb überfallen? Das hätte jedenfalls erklärt, warum das Schiff samt Besatzung nicht einfach zerstört worden war. Wenn die Havajaner eine solche Symbolkraft für ihr Volk hatten, wie Ovayrans Worte es nahe legten, dann war es den Zwecken der Invasoren unter Umständen dienlicher, sie lebend in ihre Gewalt zu bringen. Cloud beschloss, diese Überlegungen zunächst für sich zu behalten, auch wenn er ziemlich sicher war, dass sich auch Ovayran längst seinen Reim darauf gemacht hatte. »Wir sollten wirklich so bald wie möglich zur Perle reisen und uns anhören, was uns deine Artgenossen zu berichten haben«, sagte er, und der Gloride pflichtete ihm bei, bat ihn jedoch, die übrigen Decks wenigstens noch oberflächlich zu durchsuchen. Offenbar hatte er die Hoffnung, Überlebende zu finden, noch immer nicht ganz aufgegeben. Und das vielleicht sogar zu Recht. Der Überfall auf das Schiff konnte noch nicht allzu lange zurückliegen. Die Spuren in der Zentrale waren noch frisch. Von der Brücke aus führte neben dem Lift auch eine schlichte Treppe in die übrigen Etagen.
Sie beschlossen, von nun an systematischer vorzugehen und das Wrack von unten nach oben zu durchkämmen. Sie passierten drei weitere Etagen, bis sie den untersten Bereich des Schiffes erreichten. Je tiefer sie kamen, desto deutlicher wurde der Kontrast zu der klinischen Sterilität der oberen Etagen. Als sie die unterste Ebene erreicht hatten, meldete Clouds Raumanzug seltsame Gerüche, die so gar nicht zu seinen bisherigen Eindrücken passen wollten. Gerüche, die ihn an Verwesung erinnerten und mit jedem Schritt intensiver wurden. Nach einer Weile erreichten sie ein weit offen stehendes Türschott. Es war unverkennbar, dass die Gerüche ihren Ursprung in dem Raum dahinter hatten. Cloud rechnete mit so ziemlich allem, als er durch das Schott trat. Der Anblick, der sich ihm tatsächlich bot, verschlug ihm dennoch den Atem. Es war eine riesige Halle, so weitläufig, dass er Mühe hatte, das gegenüberliegende Ende zu erkennen. Doch sie war nicht etwa leer, sondern voll gepfercht mit einer Vielzahl von Käfigen unterschiedlichster Größe und Form. Grund für den Gestank waren die Geschöpfe in den Käfigen, von denen die meisten schon eine ganze Weile tot sein mussten. »Mein Gott …!« Cloud ging vor einem der Käfige in die Hocke. Darin befanden sich zwei winzige Kreaturen, die an Nagetiere erinnerten, jedoch schon so weit deformiert waren, dass ihre ursprüngliche Gestalt kaum mehr zu bestimmen war. Er ging weiter, fassungslos, und ohne zu wissen, wohin er zuerst blicken sollte. Da waren die Überreste einer Spezies, die irgendwo zwischen einer Echse und einer Vogelart angesiedelt war. Zwei tote Raubkatzen, deren pelzige Körper noch relativ gut erhalten waren. Selbst ein Aquarium mit mehreren auf dem Rücken schwimmenden Fischen war vorhanden … »Tiere«, rann es ihm fassungslos von den Lippen. »Das sind Hunderte verschiedener Tierarten. Und stets zwei von jeder Gattung …« Und erst nachdem er das ausgesprochen hatte, wurde ihm klar,
womit er all das assoziierte. »Unglaublich … Dieses Schiff erinnert an die biblische Arche Noah …«
Erschrocken wich Scobee von der Tür zurück, den Blick starr auf das bedauernswerte Wesen gerichtet. Noch während sie überlegte, wie man diesen Behälter wohl öffnen konnte, war auch schon ein Zischen zu hören, und die Tür schwang wie von Geisterhand auf. Gebannt beobachteten sie, wie das Wesen mühevoll versuchte, ein Bein vor das andere zu setzen, was kläglich misslang. Scobee sah es sich genau an, sah in seine großen Augen, die von trüben, dunklen Schleiern bedeckt waren. Schließlich öffnete es den Mund, versuchte irgendetwas zu sagen. Heraus kam nur ein klägliches Krächzen. »Ich glaube, es liegt im Sterben«, sprach Algorian aus, was auch seine beiden Begleiter vermuteten. »Denkt ihr, wir können noch irgendetwas für es tun?«, fragte Scobee hilflos. »Wir könnten es mit zur RUBIKON nehmen und versuchen, es aufzupäppeln«, schlug Jarvis vor. Ihm war anzumerken, dass er selbst nicht an den Erfolg eines solchen Versuchs glaubte. Der bloße Anblick dieser Kreatur genügte, um zu wissen, dass sie den Transport nicht überstehen würde. Wieder öffnete sie den Mund, und dieses Mal gelang es ihr, klar verständliche Laute zu formulieren. Zunächst waren es nur einzelne Worte, dann brach ein regelrechter Schwall aus ihr hervor. Es dauerte eine Weile, bis die Translator-Chips die Sprache analysiert hatten und versuchten, sie in eine für Scobee und ihre Gefährten verständliche Sprache zu übertragen. Und selbst das erwies sich als zweifelhaftes Unterfangen. Scobee war sich nicht sicher, ob der Chip versagte oder ob das kleine Wesen tatsächlich nur wirres, unzusammenhängendes Gebrabbel von sich gab. Immer wieder mischten sich jedoch Satzfetzen darunter, die durchaus einen Sinn ergaben. So erzählte das Geschöpf irgendetwas
von einem Angriff und davon, dass alle das Weite gesucht hatten. Außerdem ging aus seinen Worten hervor, dass er sich bewusst dafür entschieden hatte, auszuharren, um seine Forschungen, an denen er im Auftrag der Allianz gearbeitet hatte, fortzusetzen. Vieles reimte sich Scobee nur zusammen, indem sie ihrerseits versuchte, dem Gesagten einen Sinn zu verleihen. Aber im Großen und Ganzen mochte das Bild, das sie von der Situation erstellte, zutreffend sein. Irgendwann hielt das Wesen erschöpft inne und schloss die Augen. Zunächst glaubte Scobee, dass sein schwacher Körper den Kampf endgültig aufgegeben hatte, doch dann sah sie, dass sich seine Brust noch immer langsam hob und senkte. Bei diesem Behälter musste es sich um eine lebenserhaltende Maßnahme handeln. Möglicherweise um eine Art eiserne Lunge. Sie hatte noch so viele Fragen, die sie ihm hätte stellen wollen, doch sie sah ein, dass es keinen Sinn hatte, das Wesen noch weiter zu quälen. Was wohl auch gar nicht mehr möglich gewesen wäre. Bevor sie noch etwas sagen konnte, sank sein Kopf zur Seite, und seine Atmung setzte aus. Die Anstrengung war zu viel für es gewesen. Es war tot. Unwillkürlich fragte sich Scobee, ob es ihre Schuld war. Ob sie es getötet hatten, indem sie es veranlasst hatten, den Behälter zu öffnen. »Glaub mir, es ist besser für ihn«, sagte Jarvis, als habe er ihre Gedanken erraten. Sie sah ihn traurig an, nickte und sagte: »Lass uns wieder nach oben gehen!« Sie wollten sich gerade umdrehen, als vom Eingang her ein knackendes Geräusch ertönte. Scobee griff nach ihrem Strahler und wirbelte blitzschnell herum. Als sie den Ankömmling erkannte, atmete sie tief aus und ließ die Waffe sinken. Es war Fontarayn, der unbemerkt von allen das Labor betreten hatte.
Scobee kam nicht mehr dazu, ihn für sein plötzliches Verschwinden zur Rede zu stellen. Seine Worte ließen sie ihre Wut auf ihn schlagartig vergessen: »Ich weiß jetzt, was mit JORR-1 passiert ist«, sagte er leise.
Cloud hatte nicht sagen können, wie lange sie die Reihen der Käfige nun schon abschritten. Er hatte mittlerweile jegliches Zeitgefühl verloren. Ungläubig wanderten seine Blicke über die Kadaver. Dem Verwesungsgrad nach mussten die Tiere schon eine ganze Weile allein und ohne Versorgung gewesen sein. Die meisten waren wahrscheinlich qualvoll verhungert und verdurstet. Manche hatten bereits damit begonnen, sich gegenseitig aufzufressen. John entdeckte eine Art Leguan, der allein in seinem Käfig war. Lediglich einige sauber abgenagte Knochen zeugten noch von einem früheren Artgenossen. Ovayran hatte mittlerweile erklärt, dass es sich bei den Tieren ausschließlich um Arten handelte, die in freier Wildbahn auf Hepton vorkamen. Damit bestätigte sich Clouds Vermutung, dass die Initiatoren dieses Fluges ganz gezielt ein Paar jeder Art mit an Bord genommen hatten. Dafür musste es einen Grund geben. Wieder fiel ihm dazu nur Noah ein, der der biblischen Mythologie zufolge die Lebewesen der Erde vor dem Aussterben durch die Sintflut gerettet hatte. Was war Hepton widerfahren, dass sich die Havajaner gezwungen gesehen hatten, so viele Arten wie möglich ihres Planeten in Sicherheit zu bringen? Hatten die Invasoren so entsetzlich gewütet, das Antlitz der Welt so stark verheert, dass ein Leben darauf nicht mehr möglich war? Es war die einzige Erklärung, die Cloud einfiel. Darüber hinaus passte es zu der selbstlosen Opferbereitschaft, die das Geschlecht der Havajaner Ovayrans Berichten zufolge auszeichnete. Urplötzlich blieb John stehen und ging dann einige Schritte zurück. Im Vorbeigehen hatte er etwas erspäht, das ihm ganz und gar nicht gefiel. Tatsächlich … er hatte sich nicht getäuscht. Einer der Käfige war weit aufgebogen worden. Daneben, achtlos weggewor-
fen wie ein Stück Müll, lagen die Überreste von etwas, das entfernt an ein Murmeltier erinnerte. Cloud räusperte sich, während eine böse Ahnung in ihm aufstieg. Er wartete, bis der Gloride zu ihm aufgeschlossen hatte, dann zeigte er auf den Käfig und fragte: »Was hältst du davon?« Ovayran sah sich unbehaglich um, dann meinte er: »Sieht aus, als habe jemand den Käfig von außen geöffnet.« »Nicht nur das. Er hat sich die Tiere geholt, die darin waren …« Als sie weitergingen, entdeckten sie noch mehr zerstörte Käfige. Bei einigen waren die Gitterstäbe verbogen, andere sahen aus, als wären sie mit immenser Kraft förmlich zertrümmert worden. Nervös zog Cloud seinen Strahler und sah sich nach allen Richtungen um. Urplötzlich hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Von etwas, das nur darauf wartete, dass es ihm in den Rücken fallen konnte. »Ich will ja wirklich nicht den Teufel an die Wand malen«, sagte er mit belegter Stimme, »aber ich fürchte, wir haben einen Ausbrecher …!« Einen hungrigen Ausbrecher, fügte er in Gedanken hinzu.
»Es ist genau so, wie wir vermutet hatten«, meinte der Gloride, während sie ihm durch den Korridor folgten. Ihre Waffen hatten sie verstaut, nachdem Fontarayn ihnen versichert hatte, dass ihnen hier oben keine Gefahr drohte. »Die Station wurde Ziel eines Angriffs. Doch nicht nur das. Offenbar hat es das gesamte Territorium der Allianz getroffen.« »Das würde einiges erklären«, murmelte Scobee erschüttert. »Zum Beispiel den fehlenden Raumverkehr«, fügte Jarvis hinzu. Auch ihm gingen Fontarayns Worte nahe. »Aber wer könnte es auf die JORR abgesehen haben?«, fragte Algorian, der seitlich hinter den anderen ging. Seine Frage blieb unbeantwortet, und Algorian verzichtete darauf, sie zu wiederholen. Fontarayn hatte angekündigt, ihnen etwas zeigen zu wollen. Was es war, hatte er nicht gesagt, aber wahrschein-
lich würde es zumindest einen Teil ihrer Fragen beantworten. »Doch der Angriff ist nicht das Einzige, das mich verwirrt«, sagte der Gloride, nachdem sie dem Verlauf des Ganges eine Weile gefolgt waren. »Was meinst du damit?«, wollte Scobee wissen. »Ich weiß es selbst nicht genau«, gab der Gloride zögernd zurück. Abermals war Scobee sich nicht sicher, ob er die Wahrheit sagte oder wieder einmal ein Geheimnis für sich behalten wollte. Nein, dachte sie dann, als sie das Flackern in seinen Augen bemerkte. Er ist wirklich ratlos. »Es ist die Station selbst«, setzte Fontarayn erneut an. »Ich selbst habe sie nur einmal besucht. Doch sie ist so ganz anders, als ich es in Erinnerung habe.« Scobee lauschte den Worten des Gloriden einen Moment lang nach, ohne zu wissen, was sie darauf erwidern sollte. Zumal sie seit ihrer Ankunft noch ein ganz anderer Gedanke quälte, der sich seit der Entdeckung des Wissenschaftlers wieder in den Vordergrund drängte. »Hast du … irgendwelche Hinweise auf die ehemaligen Bewohner gefunden?«, fragte Scobee. Was sie wirklich wissen wollte, war, ob er ihre Leichen gefunden hatte. Doch zu ihrer Erleichterung verneinte der Gloride. »Anscheinend wurde die Station rechtzeitig evakuiert. Obwohl man das bei dieser Größe wohl nicht mit letzter Gewissheit sagen kann.« Als sie ein offen stehendes Türschott erreichten, hielt Fontarayn unvermittelt inne. Scobee sah an ihm vorbei in den kreisrunden Saal dahinter. Offenbar handelte es sich dabei um eine Art Tagungsraum. Seinen Mittelpunkt bildete ein halbkreisförmiger Tisch. In die Wände waren mehrere Monitore eingelassen, und in der gegenüberliegenden Ecke stand ein hohes Pult. »Nehmt bitte Platz«, forderte der Gloride sie auf, als sei er hier zu Hause. Scobee, Jarvis und Algorian sahen sich fragend an, kamen jedoch der Aufforderung nach. Vorsichtig ließ sich Scobee in eine der unförmig aussehenden Sitz-
gelegenheiten sinken, die in gleichmäßigen Abständen hinter dem Tisch aufgereiht waren. Im ersten Moment fühlte es sich an, als würde sie sich in eine weiche, nachgiebige Masse setzen. Dann stellte sie überrascht fest, dass das eigenartige Möbelstück augenblicklich um sie herumfloss und sich ihrem Körperbau anpasste. Es war ein eigenartiges Gefühl. So als würde sie in sitzender Haltung schweben und dennoch eine feste Unterlage unter sich spüren. Die merkwürdige Sitzgelegenheit hatte so sehr ihre Aufmerksamkeit gebannt, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie sich Fontarayn von ihnen abgewandt hatte. Er machte sich jetzt an einigen der Gerätschaften zu schaffen, die sich vor ihm an der Wand befanden. Kurz darauf begann die Luft über dem Tisch zu flimmern. Scobee dachte zunächst an eine optische Täuschung, hervorgerufen durch die schlechten Lichtverhältnisse. Doch dann erkannte sie ein Bild, das urplötzlich aus dem Nichts heraus materialisierte. Die holographische Darstellung eines Feuergefechts. Zu sehen war ein kugelförmiges Raumschiff, das sich einer Armada von Feinden entgegenstellte. Die Salven der gegnerischen Kanonen schlugen im Sekundentakt in den Schutzschirm des hoffnungslos überforderten Schiffes ein. Das Ganze dauerte knapp zwei Minuten, dann loderte der Schild ein letztes Mal grell auf, bevor er in sich zusammenfiel. Den Einschlägen nun schutzlos ausgeliefert, hielt das Schiff dem Angriff nur noch kurz stand, bevor es in einer gewaltigen Explosion ausgelöscht wurde. Scobee wich instinktiv zur Seite aus, als sie mehrere Wrackteile auf sich zujagen sah. Kurz bevor sie sie erreicht hatten, lösten sie sich jedoch in nichts auf. Doch das war längst nicht alles. Das Bild schwenkte um neunzig Grad. Die GenTec stöhnte leise auf, als sie das Objekt erkannte, das jetzt zu sehen war. Es war die Raumstation JORR-1. Auch sie hatte es mit einer Vielzahl jener Kampfschiffe zu tun, die soeben den Kugelraumer zerstört hatten. Dabei war aber offensichtlich, dass sich JORR-1 sehr wohl zu wehren wusste. Immer wieder wurden feindliche Schiffe getroffen, ex-
plodierten oder zogen sich zurück, um sich neu zu formieren. Es war ein bizarres Bild. Es sah aus wie ein Schwarm von Fliegen, die eine riesige Frucht umschwirrten und dabei nur auf einen geeigneten Moment warteten, um sich auf sie zu stürzen. Und dann, von einem Moment zum anderen, erlosch das Bild, und zurück blieb bleierne Finsternis. »Bei dem Schiff, das zu Beginn der Aufzeichnung zerstört wurde«, erklärte Fontarayn, »handelt es sich um ein Botschafterschiff der JORR.« »Wer waren die Angreifer?«, wollte Jarvis wissen. »Das weiß ich nicht«, gab der Gloride zu. »Sie stammen jedenfalls nicht aus Andromeda.« »Also sind wir so schlau wie zuvor«, seufzte Algorian, doch der Gloride widersprach. »Nicht ganz. Ich habe im hiesigen Archiv noch zahlreiche weitere Aufzeichnungen gefunden. Einige zeigen gezielte Angriffe auf die der Allianz angeschlossenen Welten. Andere enthalten Hinweise darauf, dass das Bündnis zerbrochen ist, da die einzelnen Völker zu sehr damit beschäftigt waren, ums nackte Überleben zu kämpfen. Einige von ihnen wurden gar zurück auf prätechnisches Niveau gebombt, ihre Flotten vollständig zerstört.« »Wie lange ist das alles her?« »Darauf fand ich keine verwertbaren Hinweise«, gab der Gloride unumwunden zurück. »Es ist jedoch offensichtlich, dass es noch andauert.« Scobee wusste nicht, wie er es tat. Ohne dass er sich vom Fleck bewegte, wurde ein weiteres Hologramm in den Raum projiziert Es zeigte einen blauen Planeten. Und mehrere Kampfschiffe, die sich darüber formiert hatten und jetzt zum Angriff übergingen. Eine Flotte kleinerer Schiffe stellte sich den Angreifern in den Weg, doch es bestand kein Zweifel, dass ihre Gegenwehr auf Dauer vergebens sein würde. »Was ihr hier seht, ist keine Aufzeichnung«, verkündete Fontarayn zur Überraschung der anderen. »Es ist eine Direktübertragung der Ereignisse, die derzeit über einem Planeten der ehemaligen Allianz
zu beobachten sind.« »Du meinst, dieser Krieg ist noch in vollem Gange?« Scobees Worte sickerten in die entstandene Stille. Der Gloride nickte nur stumm. Augenblicklich sprang Scobee von ihrem Platz auf. »Wir müssen umgehend zur RUBIKON zurück! Wer weiß, wie lange es dauert, bis wir die Aufmerksamkeit der Angreifer auf uns ziehen.« Niemand widersprach. In einen Krieg hineingezogen zu werden, war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten. Eine wichtige Aufgabe lag vor ihnen. Scobee bedauerte es, Cloud nicht umgehend Bericht erstatten zu können. Dies war erst vom Beiboot aus wieder möglich. Eilig verließen sie den Tagungssaal, bogen um die Ecke und wollten gerade in Richtung Ausgang hetzen, als Scobee eine schnelle Bewegung aus den Augenwinkeln bemerkte. Sie wollte sich gerade umdrehen, als es passierte. Es fühlte sich an wie ein Stromstoß, der gleißend durch ihren Körper zuckte. Sie sackte zu Boden, während Sterne vor ihren Augen zerplatzten, ihr für Sekunden die Sicht raubten. Über sich hörte sie ein weiteres Summen, gefolgt von Algorians aufgeregtem Ruf: »Scobee, pass auf!« Instinktiv rollte sie sich zur Seite, ohne zu wissen, ob sie sich damit nicht erst recht in Gefahr brachte. Sie hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Etwas ging mit lautem Getöse zu Boden, nur eine Handbreit von ihrem Kopf entfernt. In ihrem sich allmählich klärenden Blickfeld erkannte sie ein stählernes Rohr, etwa so dick wie ihr Arm. Es ragte gut drei Meter in die Höhe und mündete dort in ein silbern glänzendes Etwas. Scobee konnte förmlich spüren, wie ein Adrenalinschub durch ihre Adern tobte. Ausgelöst durch den Anblick dieses unförmigen … Dings, das direkt über ihr zum Stehen gekommen war. Was ist das, Grundgütiger …? Sie war sich ziemlich sicher, dass es künstlichen Ursprungs war. Dennoch sah sie ein riesiges Maul mit scharfen Zähnen, das bereit war, jeden Moment zuzuschnappen. Dazu meterlange, gebogene
Spinnenbeine, auf denen dieses Ding sich vor und zurück wiegte, als würde es sich auf den nächsten Angriff vorbereiten. Ein vertrautes Geräusch bohrte sich in Scobees Gehör. Es war das Sirren eines Strahlers. Vermutlich war es Algorian, der geschossen hatte, aber sicher war sie sich nicht. Sie sah nur, wie das energetische Geschoss gegen den metallenen Leib schlug. Funken sprühten auf. Davon abgesehen konnte die Salve dem monströsen Geschöpf jedoch nichts anhaben. Es geriet nicht einmal ins Wanken. Scobee ließ sich davon nicht abhalten, ihre eigene Waffe zu ziehen. In einer geübten Bewegung zog sie den Strahler aus der Halterung ihres Anzugs, richtete den Lauf auf das gewaltige Maul – und drückte ab. Der Strahl fuhr in das künstliche Geschöpf, doch dessen Reaktion war dieselbe wie zuvor. Es wirkte über die Gegenwehr nicht einmal überrascht. Mit nacktem Entsetzen sah Scobee, wie es eines seiner Beine hob, das sich in Sekundenschnelle in einen rotierenden Bohrer verwandelte, der im nächsten Moment auf sie zuschoss. Wieder warf sich Scobee zur Seite. Und dieses Mal konnte sie genau sehen, wie sich die Spitze des Bohrers nur knapp von ihrem Gesicht entfernt in den Boden fräste. »Komm weg da!« Sie hörte Algorians Stimme und spürte den harten Griff unter ihren Achseln. Jemand zerrte sie außer Reichweite des roboterartigen Ungetüms, das indes Probleme damit hatte, sein Bein wieder aus dem Boden zu ziehen. Während Scobee über den Boden geschleift wurde, sich dabei immer weiter von dem Ding entfernte, konnte sie es deutlicher erkennen. Es hatte einen runden Leib, der sich auf absonderliche Weise in permanenter Bewegung befand. Wenn sie es richtig erkannte, dann bestand er aus mehreren Elementen, die sich wie bei einem Vexierspiel ständig verschoben und wieder neu zusammensetzten. »Was ist das?«, keuchte die GenTec, während sie sich in den Stand schraubte und das Geschöpf aus sicherer Entfernung beobachtete. Jarvis hatte dazu eine Idee: »Eine Hinterlassenschaft der JORR,
nehme ich an. Schätze, dass sie dieses Ding kurz vor der vollständigen Evakuierung der Station als Gastgeschenk an ihre Feinde zurückgelassen haben …« Scobee nickte. Damit hatte er wahrscheinlich sogar Recht. Dumm nur, dass dieser »Wachhund« nun ihnen zum Verhängnis wurde. »Kommt weg hier!«, rief Algorian ihnen zu. Der Aorii war bereits losgelaufen, hielt jetzt aber inne, um nach den Freunden zu sehen. Fast im selben Moment riss sich das Ungetüm los. Und jagte wie tollwütig auf Scobee und Jarvis zu. Scobee hielt noch immer ihren Strahler in der Hand, obwohl sich dieser als ausgesprochen nutzlos erwiesen hatte. Sie zielte erneut, gab eine weitere Salve ab, die ebenso wirkungslos verpuffte wie all die anderen zuvor. Jarvis hatte den besseren Einfall. Blitzschnell veränderte er seine Form, wurde zu einer schillernden Pfütze, die sich direkt vor der heranstürmenden Bestie ausbreitete. Klackend bewegte sich der Roboter auf seinen Metallbeinen auf Scobee zu. Bis er den »zusammengeschmolzenen« Jarvis erreichte. Kaum hatte eines seiner Beine die Pfütze auch nur angetippt, kroch die Masse daran in die Höhe und hüllte es gänzlich ein. Das Monster drohte, sein Gleichgewicht zu verlieren. Ein heftiger Ruck ging durch den Körper, als es versuchte, sich loszureißen. Fast wirkte es wütend über das unerwartete Geschehen. Scobee musste sich dazu zwingen, sich von dem Anblick loszureißen. Lange würde Jarvis das Ding nicht zurückhalten können. Bereits jetzt stemmte es sich mit aller Kraft gegen den lästigen Widersacher. Der Anblick hatte durchaus etwas Komisches an sich. Scobee fühlte sich an eine gewaltige Spinne erinnert, die in einen achtlos weggeworfenen Kaugummi getreten war und nun nicht mehr davon loskam. Die GenTec wollte sich gerade umdrehen und weglaufen, als sich der Roboter mit einem Ruck aus seiner misslichen Lage befreite. Wieder riss Scobee den Strahler in den Anschlag. Es war eine rein instinktive und hilflos wirkende Geste.
Mit Entsetzen beobachtete sie, wie das Ungetüm heranjagte und das gewaltige Maul zu immenser Größe anwuchs, bis es ihr gesamtes Blickfeld ausfüllte. Die Zeit schien für einen entsetzlich langen Moment stillzustehen. Sie glaubte schon zu spüren, wie das Biest sie zwischen ihre Kiefer nahm und ihren Kopf mit einem einzigen schnellen Biss von den Schultern trennte … Nichts davon wurde jedoch Wirklichkeit. Eine Sekunde verging, dann noch eine. Und sie lebte noch immer, wie sie überrascht feststellte. Erst jetzt sah sie, dass das Monster mitten in der Bewegung erstarrt war. So als wäre es von einer Sekunde auf die andere schockgefrostet worden. Ganz still stand es da, wie ein ausgestopftes Urzeitwesen in einem Museum. Und kurz darauf verstand Scobee, was passiert war. Zunächst sah sie nur ein gleißendes Licht, das sich wie eine zweite Haut um den Körper des Kolosses legte, kurz aufglühte und gleich wieder erlosch. Und dann fiel ihr Blick auf die Gestalt, die daneben wie aus dem Nichts materialisierte. »Fontarayn …!« Der Gloride musste wie ein Blitz in das Gebilde gefahren sein. Was er genau gemacht hatte, konnte Scobee nur ahnen. Aber offensichtlich hatte es zu einem Kurzschluss geführt. Scobee atmete tief durch. So suspekt ihr der Gloride auch war, so freimütig musste sie sich eingestehen, dass sich seine Fähigkeiten wieder einmal als äußerst nützlich – und lebensrettend – erwiesen hatten. »Jetzt aber nichts wie weg hier!«, meinte Jarvis, der in Sekundenschnelle wieder in seine humanoide Gestalt gewechselt war und an dem erstarrten Ungetüm vorbei auf Scobee zuging. Das ließ sich die GenTec nicht zweimal sagen. Sie verstaute ihre Waffe, dann folge sie Jarvis und Algorian zurück zum Antigravlift.
Was auch immer die Käfige zerstört und die Tiere darin gefressen hatte, musste über eine enorme Körperkraft verfügen. Das behielt
Cloud in seinem Bewusstsein, als er den Raum bis zu seinem Ende durchwanderte. Entsprechend vorsichtig bewegte er sich vorwärts, die Strahlenwaffe schussbereit in der Hand. Als sie den Saal zu zwei Dritteln durchquert hatten, klang urplötzlich ein lautes Kreischen auf. Cloud wirbelte herum, richtete die Waffe auf den bewegten Schatten zu seiner Rechten und drückte ab. Der Strahl zischte durch die Luft und bohrte sich in ein pelziges Etwas, das gerade zuckend zu Boden ging. Bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass die Kreatur gerade mal so groß wie ein Erdmännchen war. Unwahrscheinlich, dass es sich dabei um ihren »Delinquenten« handelte. Cloud nahm eher an, dass es ihm irgendwie gelungen war, sich durch die Gitter seines Käfigs zu quetschen. Wahrscheinlich, weil das Wesen so sehr abgemagert war. Irgendwann – nach Clouds Empfinden eine kleine Ewigkeit später – hatten sie den Raum hinter sich gelassen, ohne dass sie auf eine entlaufene Bestie gestoßen waren. Vielleicht, dachte Cloud, ist sie inzwischen selbst verendet. Die Nahrungsvielfalt war mit der Zeit schließlich nicht größer geworden. Wenn das Geschöpf kein Aasfresser war, hatte es ein ziemliches Problem. Oder wir, schob er sofort hinterher. Für den Fall, dass das Biest bisher überlebt hatte, musste es einen enormen Hunger entwickelt haben, der es wahrscheinlich noch gefährlicher machte, als es ohnehin schon war. Auch nachdem sie sich unbehelligt bis zur nächsten Ebene vorgewagt hatten, fühlte Cloud sich keineswegs sicherer. Es fiel ihm zunehmend schwerer, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. Auf der Ebene über den »Stallungen« befanden sich hauptsächlich leere Lagerräume, die wenig Interessantes boten. Dass sie jetzt noch Überlebende fanden, war ohnehin zweifelhaft. Selbst Ovayran äußerte diese Meinung nach einer weiteren halben Stunde ergebnisloser Suche. Schließlich beschlossen sie, den Rückweg zur RUBIKON anzutreten. Schon allein deshalb, weil Cloud nach allem, was er hier erfahren hatte, das Schiff nicht länger als nötig auf sich allein gestellt wissen wollte. Außerdem wollte er anwesend sein, falls eine Nachricht
von Scobee, Jarvis, Algorian und Fontarayn eintraf. Sie hatten gerade die Ebene erreicht, auf deren Höhe sie das Beiboot angedockt hatten, als Cloud ein kratzendes Geräusch vernahm. Er drehte sich um und durchforstete den hinter ihm liegenden Korridor mit misstrauischen Blicken. Als sich das Geräusch nicht wiederholte, wollte er weitergehen, doch Ovayrans lauter Zuruf versetzte ihn in Alarmbereitschaft. »Pass auf!« Cloud sah sich hektisch um. Sekundenlang wusste er nicht, worauf ihn der Gloride aufmerksam machen wollte. Er erfuhr es in dem Moment, da es sich wie eine Furie von oben herab auf ihn stürzte. Cloud erkannte zunächst nicht, was es war. Er sah nur ein geiferndes Maul, gelb blitzende Augen sowie scharfe Krallen, die vergeblich versuchten, sich in das widerstandsfähige Material seines Anzugs zu bohren. Er begann, sich wie ein Wahnsinniger auf dem Boden zu rollen, während er in das Fell des Wesens griff und verzweifelt versuchte, es von sich abzuschütteln. Es wehrte sich buchstäblich mit Klauen und Zähnen. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass es nicht größer als ein Schimpanse war. Auf jeden Fall hatte es mörderisch scharfe Zähne. Es hatte sich fest in seinen Arm verbissen, und obwohl das Material den kleinen Dolchen tapfer standhielt, fühlte es sich an wie im Griff eines Schraubstocks. Schließlich warf Cloud sich mit voller Wucht auf es. Er glaubte, jeden einzelnen Knochen im Körper der Kreatur brechen zu hören, und ein nervenzerfetzender Schrei entwich seiner Kehle. Cloud sprang auf, legte seinen Strahler auf das zuckende Bündel an und drückte ab. Während das Biest im Blitz der Waffe verging, verspürte Cloud fast so etwas wie Mitleid mit ihm. Es war völlig ausgemergelt, und die Rippen stachen schon durch seinen Brustkorb. Vermutlich war es vor Hunger schon halb wahnsinnig gewesen. Mit einem flauen Gefühl im Magen steckte er den Strahler wieder ein und wandte sich von dem leblos auf dem Rücken liegenden Ka-
daver ab. »Lass uns gehen«, sagte er nur noch.
Um Zeit zu gewinnen, einigten sie sich darauf, dass Jarvis vorausging, um via Bordfunk des Beibootes Kontakt zur RUBIKON aufzunehmen. Auch wenn der Abstieg, objektiv gesehen, deutlich schneller vonstatten ging als der Aufstieg, so zog er sich nach Scobees persönlichem Empfinden noch immer wie Kaugummi. Die Neuigkeiten, die sie im Bezug auf das Schicksal der JORR erfahren hatte, waren wie ein Stachel in ihrem Fleisch, der sie unnachgiebig vorantrieb. Es war ein Fehler gewesen, dieses System zu durchfliegen, das wusste sie jetzt. Der unbekannte Gegner, gegen den sich die JORR-Völker tapfer, wenn auch auf lange Sicht wohl ergebnislos, zur Wehr setzten, war stark. Das Foronenschiff war zwar ebenfalls mit allen Wassern gewaschen, dennoch war es unklug, sich auf eine Konfrontation mit einem nicht näher definierten Feind einzulassen. Vor allem dann nicht, wenn dieser Feind so offensichtlich in der Übermacht war. Jarvis und Fontarayn erwarteten sie und Algorian neben dem Beiboot im Hangar. »John ist informiert«, erklärte der ehemalige GenTec über das Audiosystem seines Kunstkörpers. »Bisher ist offenbar alles ruhig, aber er hat versprochen, die Augen offen zu halten.« Scobee nickte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schwang sie sich in den Pilotensessel und nahm ihrerseits Funkkontakt zum Mutterschiff auf. »Scob! Alles klar?«, hörte sie die vertraute Stimme des Kommandanten. Die Verbindung war so deutlich, als würde Cloud direkt neben ihr stehen. »Ich habe gehört, was euch passiert ist.« »Reden wir nicht mehr davon!«, wehrte Scobee ab. »Wir machen uns umgehend auf den Rückweg. Hoffe, dass alles glatt geht.« »Warum so pessimistisch?«, gab er zurück. Scobee hörte, dass er sich förmlich dazu zwang, Optimismus zu verbreiten. Sie kannte ihn lange genug, um die Sorge, die in seiner Stimme mitschwang, zu be-
merken. Aber vielleicht bildete sie es sich auch nur ein. Was Jarvis ihm erzählt hatte, konnte ihm unmöglich gefallen haben. Andererseits … vielleicht war das, was sie da zu hören glaubte, auch nur eine Projektion ihrer eigenen Besorgnis. »Wir reden später«, gab sie zurück und beendete das Gespräch. Sie wollte keine Minute länger als nötig an diesem Ort verweilen. Das Wissen um die Dinge, die sich hier ereignet hatten, verstärkte ihr Unbehagen. Diese Station war ein riesiges Grab, mitten im Nirgendwo. Sie wartete, bis Fontarayn die Schleuse geöffnet hatte, dann steuerte sie das Boot hinaus ins All.
Der Rückflug zur RUBIKON verlief ohne Zwischenfälle, auch wenn Scobee jeden Moment mit dem Auftauchen einer Armada jener feindlichen Schiffe rechnete, denen JORR-1 zum Opfer gefallen war. Die entsetzlichen Bilder der Aufzeichnungen, die sie im Archiv gefunden hatten, blitzten immer wieder vor ihrem geistigen Auge auf. Selbst als sie das Mutterschiff erreicht hatten und somit in relativer Sicherheit waren, ließ das dumpfe Pochen hinter ihren Schläfen nicht nach. Cloud empfing sie und den Rest der Truppe in der Kommandozentrale. Als sie ihn sah, wusste sie sofort, dass ihr vorheriger Eindruck sie nicht getrogen hatte. Aus dem Blick des Commanders sprach nicht nur die Sorge um seine Crew, sondern auch ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil er diese Mission erlaubt und sie damit in Gefahr gebracht hatte. Nachdem Jarvis und Scobee zuvor nur kurz Meldung erstattet hatten, berichteten sie jetzt ausführlich über all das, was ihnen in der Raumstation widerfahren war. Und über die beunruhigenden Entdeckungen, die sie gemacht hatten. »Das ehemals so friedliche JORR-Territorium ist also zum Schauplatz eines furchtbaren Krieges geworden«, murmelte Cloud. Das deckte sich mit den Erkenntnissen, die er selbst im Wrack des Hava-
janer-Schiffes gewonnen hatte. Sein Blick pendelte zwischen den beiden Gloriden hin und her und verharrte schließlich auf Fontarayn. »Es ist ja nun nicht allzu lange her, dass du Andromeda verlassen hast«, meinte er. »Gab es denn früher gar keine Hinweise auf eine sich ankündigende Bedrohung?« Fontarayn verneinte und beteuerte gleichzeitig, dass er nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatte, woher dieser Feind so unvermittelt gekommen war. »Wir sollten schleunigst das Weite suchen und dieses Gebiet großräumig umgehen, so wie wir es ursprünglich geplant hatten.« Der Vorschlag kam von Scobee und erntete breite Zustimmung. Jarvis war der Einzige, der aus seiner Skepsis keinen Hehl machte. »Dürfen wir einfach so abhauen und die JORR ihrem Schicksal überlassen?«, fragte er. »Die Allianz scheint zerbrochen und verfügt über keinen gemeinsamen Verteidigungsapparat mehr. Wir haben es mit unseren eigenen Augen gesehen, John. Das Chaos regiert in diesem einst so stolzen Reich.« John Cloud schwieg. Sein Blick fiel auf Scobee. Es sah aus, als wolle er sie um ein Gegenargument ersuchen. Und dieses folgte, wie aus der Pistole geschossen: »Es gibt nichts, was wir hier noch tun könnten, Jarvis. Du hast es selbst gesehen. Wir haben es hier nicht mit ein oder zwei feindlichen Schiffen zu tun, sondern mit einer ganzen Flotte, die mächtiger ist, als es die gebündelte Kraft der Allianz war.« »Was schlägst du stattdessen vor?«, wollte Cloud wissen. »Wir sollten wie geplant zur CHARDHIN-Perle vordringen und dort in Ruhe über unser weiteres Vorgehen nachdenken. Sicherlich erhalten wir dort auch Auskunft über die Natur der Bedrohung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass den Andromeda-Gloriden die Ereignisse im Gebiet der JORR-Partikelvölker verborgen geblieben sind.« Cloud nickte. Was Scobee sagte, klang durchaus plausibel. Zumal auch die Gloriden erkennen ließen, dass sie an einer weiteren Unterbrechung ihrer Reise nicht das geringste Interesse hatten. »Sie hat Recht«, sagte Ovayran. »Wir können von hier aus nicht
das Mindeste tun. Wir würden höchstens riskieren, in einen Krieg verwickelt zu werden, den wir unmöglich gewinnen können.« Diesen Argumenten hatte auch Jarvis nichts mehr entgegenzusetzen. Cloud wollte der RUBIKON gerade den Befehl zur Kurskorrektur erteilen, als es geschah. Urplötzlich erschienen sie in der Ortung, als wären sie mitten aus dem Raum gefallen. Wahrscheinlich hatten sie sich bisher unter einem Tarnfeld verborgen gehalten. Vier fremdartige Schiffe, die Kurs direkt auf die RUBIKON nahmen. »Das sind dieselben Schiffe, die wir in den Aufzeichnungen auf JORR-1 gesehen haben!«, rief Algorian aus, kaum dass sie sich in der Holosäule abbildeten. Die Schiffe hatten eine längliche Form und sahen wie umgefallene Kegel aus. »Verdammt!«, entfuhr es Cloud. »Genau das galt es zu vermeiden.« »Wahrscheinlich haben sie bereits unsere Funksprüche aufgefangen und seitdem nur auf einen geeigneten Moment gewartet, um zuzuschlagen.« Die RUBIKON war schon aufgrund ihrer schieren Größe Respekt einflößend, deshalb war in der Tat anzunehmen, dass ihre Feinde erst einmal abgewartet hatten, bevor sie einen Angriff wagten. Jetzt schien eine direkte Konfrontation unausweichlich. »Noch ist kein Angriff erfolgt«, meinte Cloud. »Vielleicht gelingt es uns, die Angelegenheit friedlich zu lösen.« Innerhalb weniger Sekunden waren alle auf ihren Plätzen. Cloud, der wie immer im mittleren Kommandosessel thronte, gab Sesha den Befehl zu einer Kontaktaufnahme. »Kontaktaufnahme gescheitert«, vermeldete die Schiffsinstanz etwa eine halbe Minute später. »Erhalte keine Antwort.« »Versuch es noch einmal!« »Denkst du, das hat jetzt noch einen Sinn?«, rief ihm Jarvis von seinem Platz aus zu. »Wir müssen es wenigstens versuchen«, kam Scobee dem Commander zu Hilfe.
»Du hast doch auch gesehen, was sie mit den JORR-Schiffen gemacht haben«, fuhr Jarvis sie an. »Das sollen sie mit uns erst einmal versuchen!«, presste Cloud entschlossen hervor. Sein Optimismus kam nicht von ungefähr. Die Daten der Ortung ließen nicht vermuten, dass die um ein Vielfaches kleineren Schiffe dem Rochenraumer ernsthaft gefährlich werden konnten. Das Einzige was Cloud auf einen friedlichen Ausgang der Konfrontation hoffen ließ, war sein Unwille, unnötig Blut zu vergießen. Auch wenn die unbekannte Macht, die hinter den Angreifern steckte, bisher keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass sie keine Gefangenen machte. Als die KI zum mittlerweile wiederholten Male das Scheitern einer Kontaktaufnahme vermeldete, sagte Cloud: »Sende einen erneuten Funkspruch. Und betone dabei unsere friedlichen Absichten.« Etwa zehn Sekunden vergingen, dann eröffnete das vorderste der Schiffe das Feuer. »Da hat es wohl einen Fehler in der Übersetzung gegeben«, meinte Jarvis bissig. Das Geschoss der Energiewaffe verpuffte wirkungslos im Schmiegschirm der RUBIKON, doch die Tat an sich war niederschmetternd, zerstörte sie doch jegliche Hoffnung auf eine friedliche Lösung. Ohne zu zögern, erwiderte Cloud das Feuer mit einem Warnschuss. Mit chirurgischer Präzision jagte der Energiestrahl in den Schild des gegnerischen Schiffes, der für die Dauer mehrerer Sekunden bläulich aufleuchtete. Jetzt gab es kein Halten mehr. Alarmiert durch diese Gegenwehr, eröffneten auch die anderen Schiffe das Feuer. »Abwehrschild erreicht mittlere Belastungsgrenze«, meldete die KI für alle in der Zentrale hörbar. Cloud kniff die Lippen zusammen. Offenbar hatte er den Gegner unterschätzt. Die Bewaffnung der Schiffe war stärker, als es ihre Größe vermuten ließ. »Ist eine Fernanalyse der Waffensysteme möglich?«, fragte er die Schiffsinstanz.
»Negativ«, meldete diese kurz darauf. »Wir haben es mit einem gänzlich unbekannten Waffentyp zu tun.« Cloud überlegte kurz, dann befahl er, das Feuer mit Vehemenz zu erwidern. »Das hat doch keinen Zweck, Commander«, ließ Jarvis vernehmen. »Mit diesen Typen ist nicht gut Kirschen essen. Das wissen wir doch inzwischen.« Cloud wollte gerade darauf antworten, als ihn die Stimme des Aorii daran hinderte. »Da kommen ja immer mehr!« Cloud wandte sich der Holosäule zu. Tatsächlich! Immer weitere Schiffe materialisierten sich wie aus dem Nichts. Wie Geister, die sich langsam aus der Dunkelheit schälten und manifestierten. »Das war's dann«, meinte Cloud. »Fertig machen zum Rückzug!« Seine Worte richteten sich sowohl an die KI als auch an seine Mannschaft. Jarvis hatte zweifelsohne Recht. Diesem Feind war auf Dauer nicht beizukommen, auch wenn bereits die Schutzschilde der ersten Schiffe unter dem Dauerbeschuss brachen, wie Cloud in der Holosäule beobachten konnte. Allein ihrer schieren Masse wegen würde ihnen auf Dauer nicht standzuhalten sein. Schon rückten die nächsten Schiffe nach, um die entstandenen Lücken in der Linie der Angreifer zu schließen. Cloud kannte jetzt keine Gnade mehr. Mit unerbittlicher Härte ließ er jedes Schiff, das ihnen zu nahe kam, unter Beschuss nehmen. Es dauerte nicht lange, bis weitere Angreifer zerstört waren. Zu diesem Zeitpunkt hatte die RUBIKON bereits Fahrt aufgenommen. Zunächst sah es so aus, als würden ihnen die Angreifer folgen, doch dann drehten sie überraschend ab. Cloud nahm an, dass sie über Funk Befehl erhalten hatten, weitere Verluste zu vermeiden und sich zunächst damit zu begnügen, den Eindringling in die Flucht zu schlagen. Wir hätten nie hierher kommen dürfen, wurde es Cloud schmerzhaft bewusst. Wir hätten zunächst zur CHARDHIN-Perle vordringen und uns dort über die aktuelle Lage in Andromeda informieren sollen.
Die Sorge um Artas hatte ihn unvorsichtig werden lassen. Das sowie die Behauptung der Gloriden, Andromeda sei ein Hort ewigen Friedens. Ein Trugschluss, wie sich jetzt herausgestellt hatte. Tatsächlich war von Ovayran und Fontarayn vorerst keine Hilfe mehr zu erwarten. Jede Pore ihrer Körper schien Ratlosigkeit auszudünsten. Insbesondere Fontarayn wirkte regelrecht paralysiert, auch wenn er bemüht war, es nicht zu stark durchschimmern zu lassen. Cloud war gespannt, was ihre Artgenossen in der CHARDHINPerle zu all dem zu berichten hatten.
6. Der Vorstoß Er hatte den Menschen gegenüber nicht offenbart, wie beunruhigt er über die Vorkommnisse und gewonnenen Erkenntnisse wirklich war. In Wahrheit war er mehr als perplex, mehr als erschüttert. Er war wie betäubt. Als hätte er den Kontakt zu jedem Muskel, jedem Empfinden, dessen sein materieller Körper fähig war, verloren. Schleppend wie ein alter Mann bewegte sich Fontarayn durch die Korridore und Räume des Schiffes. Er hatte versucht, mit seinem Perlenbruder darüber zu sprechen – aber nicht einmal Ovayran schien ihn verstehen zu können … oder zu wollen. Fontarayn war verzweifelt. Die Heimkehr nach Andromeda hatte er sich anders vorgestellt. Zumal das Gefühl nicht weichen wollte, noch längst nicht alle Überraschungen hinter sich gebracht zu haben. Als dann – endlich – das Gebiet erreicht wurde, in dem sich das hiesige Schwarze Loch mit der CHARDHIN-Perle befand, wusste er nicht so recht, ob er darüber erleichtert … oder noch beunruhigter sein sollte …
»Es gefallt mir nicht, wie sie sich zurückziehen. Sie kapseln sich mehr und mehr von uns ab, fast so, als wollten sie nichts mehr – oder zumindest momentan nichts – mit uns zu tun haben. Es ist der denkbar schlechteste Moment.« Bis auf die Gloriden hatten sich alle aus der Stammcrew in der Zentrale der RUBIKON versammelt. Und genau um sie, die Perlengeschöpfe, ging es. Seit den schockierenden Erlebnissen im Gebiet der JORR-Partikelvölker war Fontarayn immer häufiger ebenso unauffindbar wie Ovayran – von dem man es schon gewohnt war.
Cloud wartete ab, ob einer seiner Gefährten auf die Worte reagierte, die er in die Runde geworfen hatte. Als dies nicht geschah, fuhr er fort: »Eigentlich müsste zumindest Fontarayn heilfroh, wenn nicht gar euphorisch sein, weil er bald wieder ›daheim‹ ist. Stattdessen spukt er sonst wo an Bord herum und macht sich rar. Man hat fast den Eindruck, als würde ihn der eigentliche Grund unserer Reise kaum mehr interessieren.« »Vielleicht hat er die Absicht verworfen, eine Zeitreise anzutreten und eine Korrektur der Vergangenheit vorzunehmen«, warf Algorian ein. Wie gewohnt saß er neben seinem ältesten Freund Cy, der sich nur selten in diesen Tagen zu Wort gemeldet hatte. Sich dazu aber offenbar in diesem Moment veranlasst sah. »Hätte er uns darüber nicht unverzüglich informieren müssen?«, fragte er mit hoher zirpender Stimme. »Wäre es nicht seine vorrangigste Pflicht, uns –« »Auf so was wie ›müssen‹ reagieren die Glühwürmchen gemeinhin allergisch«, grollte Jarvis. »Falls es außer mir noch niemand gemerkt hat: Die geborenen Befehlsempfänger oder Teamarbeiter sind Fonti und Ovi nicht gerade. Die kochen lieber ihr eigenes Süppchen. Wir sind denen doch völlig schnurz … aber ich glaube, das hatten wir schon. Genau deshalb sind wir, wenn ich mich der Worte unseres Commanders entsinne, ja hier. Wir können nur hoffen, dass nicht alle Perlentypen solche Egozentriker sind wie unsere beiden Spezialisten hier an Bord …« Scobee lehnte sich zur Seite und stieß Jarvis vorsichtig mit dem Ellbogen an. Sehr vorsichtig. Es war nicht anzunehmen, dass er es körperlich spürte – aber hundertprozentig sicher, dass er es registrierte. Ihm entging so gut wie nichts in seiner Umgebung. Mehr und bessere »Augen« hatte niemand auf diesem Schiff – außer vielleicht das Schiff selbst. In diesem Moment materialisierte einer der beiden, über die sie beratschlagt hatten, vor ihnen in der Zentrale. Es war Fontarayn. »Entschuldigt, dass ich euch warten ließ.«
Cloud ersparte sich die Frage, wo sich der Gloride herumgetrieben hatte. »Wir haben die Koordinaten erreicht, die du Sesha zur Verfügung gestellt hast. Ich persönlich traue mir nicht zu, das Schiff allein in diesen Mahlstrom der Gewalten zu steuern. Ich bin auch wenig begeistert von dem Gedanken, noch einmal – wie schon in unserer Milchstraße – in jene Gefilde vorzustoßen, in denen ihr die Perlen zu verstecken pflegt, aber –« »Nicht wir – die ERBAUER«, korrigierte Fontarayn ihn sanft. Cloud fuhr unbeeindruckt fort: »– es muss wohl sein. Sonst hätten wir uns den ganzen Aufwand sparen können. – Bist du bereit, den Lotsendienst zu übernehmen?« »Deshalb kam ich.« Es klang, als hätte er die ganze Zeit irgendwo im Hintergrund darauf gewartet, dass er gebraucht wurde. »Gut. Dann lass es uns in Angriff nehmen … Bist du aufgeregt, bald deine Leute wiederzusehen?« »Nein«, sagte der Gloride. Mehr nicht. Aber er übernahm gewissenhaft die Aufgabe, vor der sich ein jeder an Bord fürchtete. Denn zu gegenwärtig waren noch die extremen psychischen Reaktionen, die ihr Bewusstsein beim ersten Vorstoß hinter einen Ereignishorizont gezeigt hatte. »Wird es wieder so sein wie beim letzten Mal?«, fragte Cloud. »Nein«, antwortete Fontarayn noch einmal auf seine »gesprächige« Art. Aber niemand glaubte ihm. Alle wappneten sich gegen das Schlimmste.
Die Tür war verschlossen wie immer. Es war eine geheimnisvolle Tür. Ohne Übertreibung die wohl geheimnisvollste auf der ganzen Welt … seiner Welt. Von nichts anderem mehr als von ihr wurde Tuvayn permanent daran erinnert, wie es um die Macht seines Titels tatsächlich bestellt war.
Perlenweisester … Die Oberfläche seiner Haut begann sich zu kräuseln wie das Wasser eines Sees, über den ein scharfer Wind hinwegfährt. Perlenweisester. Tuvayn wünschte, er hätte seine Weisheit auch einmal gegen Wissen tauschen können; nur ein einziges Mal. Es bedrückte ihn über die Maßen, dass er – wie jeder gewöhnliche Gloride der Perle CHARDHIN auch – das Vermächtnis der ERBAUER lediglich verwaltete, aber auch nach so langer Zeit, da er sein Amt bekleidete, nicht begriff. Schlimmer: dass ihm – auch wie jedem gewöhnlichen Gloriden – zu den Bereichen, die ihm vielleicht Antworten auf seine brennenden Fragen hätten geben können, der Zutritt verwehrt war. So gesehen war die Tür ein Symbol. Das Symbol seiner eigenen Unzulänglichkeit und der seines ganzen Volkes. Es ist, als hätten wir keine Vergangenheit, keine Wurzeln. Als seien wir irgendwann einfach ›da‹ gewesen und vom Schicksal in die Rolle gepresst worden, die wir seither ausfüllen. Perlenbewahrer. Das klang wunderbar, war aber im täglichen Dasein im Grunde nicht mehr als das Bewältigen von Aufgaben, die anderenorts – jenseits des Horizonts – in abgewandelter Form bei anderen Völkern von simplen Hilfskräften verrichtet wurden. Genau das sind wir, dachte Tuvayn deprimiert. Nichts anderes als eine Arbeitskolonne. Wir reparieren, wir kontrollieren, wir warten die Elemente dieses technischen Fabelwerks, das uns die ERBAUER hinterließen. Er wusste nicht, wann und unter welchen Umständen die ersten Gloriden auf einer der zahllosen Perlen des kosmischen Netzwerks Einzug gehalten hatten. Ich weiß noch nicht einmal mit Gewissheit, ob alle Perlen mit Wartungspersonal besetzt sind … und ob dieses Personal universumweit mit Gloriden besetzt ist! Anderenorts mochte es tatsächlich andere Völker geben, die mit der Hohen Pflicht betraut worden waren. Seine Haut geriet in noch größeren Aufruhr. Gedanken wie diese wühlten ihn stets auf bis in seinen innersten Kern.
Einmal, erinnerte er sich schaudernd, war es sogar zu einer spontanen und unkontrollierbaren Auflösung seiner materiellen Gestalt gekommen. Nur einem glücklichen Zufall war es zu verdanken, dass er in dem Moment allein und nicht in der Gesellschaft anderer Gloriden gewesen war. Kaum einer hätte einen solchen Mangel an Selbstbeherrschung wohl eines Weisesten als würdig betrachtet. Tuvayn gab sich einen Ruck, sah sich noch einmal nach allen Seiten um, überzeugte sich, dass sein Tun unbeobachtet blieb … und tat den entscheidenden Schritt auf die Tür zu. Verwandelte sich im Gehen in eine Lichtlanze, die gegen das Oktagon des glyphenübersäten Schottes stach und sie ebenso durchdringen wollte wie jede andere, x-beliebige Tür innerhalb der riesigen Perle, die hinter dem Ereignishorizont des Schwarzen Loches verankert war. Noch während er transformierte, wusste er, wie aussichtslos auch dieser Versuch war – und wie er enden würde. Enden musste. Er wurde zurückgeschleudert. Mit enormer Wucht … … aber bei weitem nicht der Wucht, die er sich insgeheim erhofft hatte. Warum straft es mich nicht so, wie es einem Ungläubigen und Ketzer gebührte? Warum vernichtet es mich nicht als Antwort auf mein unverzeihliches Tun? Sein Tod wäre die einzig logische Reaktion auf das gewesen, was er hier in den letzten Zeitquanten wieder und wieder probiert hatte. Er hatte Antworten auf seine Fragen erzwingen wollen – zuletzt mit dem Starrsinn, der manchen primitiven Säugetieren zu Eigen war. Aber alles, was geschah, war, dass er wieder einmal abgewiesen wurde. Dass er sich eine Weile zuckend am Boden vor der Tür wand, dabei realisierte, dass er in seine materielle Gestalt zurückgekehrt war … und eine Stimme hörte, die aus echter oder gespielter Besorgnis heraus sagte: »Verzeiht meine Aufdringlichkeit, aber … darf ich fragen, was passiert ist? Kann ich Euch helfen? Ihr wirkt, mit Verlaub, völlig desolat …« Tuvayn erstarrte regelrecht. Doch letztlich half ihm die Anwesen-
heit des anderen Gloriden, sich rascher zu fangen, als es sonst der Fall gewesen wäre. »Danke, Nepolayn, ich danke dir aufrichtig, aber es ist alles in Ordnung.« Lügner! Warum sagst du ihm nicht die Wahrheit? Er ist dein engster Vertrauter. Du teilst sonst jeden Gedanken mit ihm. Er ist loyal … zumindest hattest du nie Anlass, das Gegenteil anzunehmen. Vielleicht wartet er nur darauf dass du dich ihm offenbarst. Gemeinsam könntet ihr vielleicht – Tuvayn unterbrach seinen Gedankenflug. Er wusste, dass er es nicht wagen würde, seine Zweifel und Ängste mit einem anderen Gloriden zu teilen. Nicht einmal mit Nepolayn. Und nicht einmal in … Zeiten wie diesen. Umso mehr überraschte ihn die nächste Äußerung seines Vertrauten. »Ihr könnt offen zu mir sein – warum denkt Ihr, bin ich hier?« Ja, dachte Tuvayn, warum? »Wir hatten offenbar denselben Gedanken«, fuhr Nepolayn fort. »Wenn wir schon die Heimat aufgeben werden, sollte sie uns wenigstens noch ein letztes Geschenk machen.« »Geschenk?«, echote Tuvayn in diesem Moment tatsächlich ohne jedes Begreifen. »Die Wahrheit«, sagte sein Vertrauter. »Wäre es nicht mehr als billig, dass sie uns vor unserem Weggang wenigstens noch mit einem Fünkchen Erkenntnis belohnte – nach all den Ewigkeiten treuen Dienens?«
Damit hatte Jiim nicht gerechnet. Nein, damit nicht. Er hatte damit gerechnet, den geistigen Restriktionen unterworfen zu werden wie jedes andere nicht-gloridische Wesen an Bord. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass er … der Einzige sein würde, den es diesmal erwischte. Wird es wieder so sein wie beim letzten Mal?
Nein. Fontarayns Antwort auf John Clouds Frage erwies sich als die reine Wahrheit. Für alle, die ein erstes Mal erlebt hatten. War Jiim während des kaum messbaren Moments der RUBIKONTransition noch einer der Wenigen gewesen, die sich den dramatischen Begleiterscheinungen hatten entziehen können, so traf es ihn jetzt umso härter und kompromissloser. Die Geister seiner Vergangenheit erwachten. Die absurde Region, in die die RUBIKON unter Fontarayns Lotsenhilfe vorstieß, scheuchte sie aus den verstecktesten Winkeln seines Hirns auf … und seiner Rüstung …
Jiim schrie nicht nur wie ein waidwundes Tier auf – er versuchte sich auch aus seinem Sitz hochzustemmen. Doch dann versagten Stimme und Kräfte abrupt, und er sank in sich zusammen, sodass Cloud – wie alle, die Zeugen des Kollapses wurden – das Schlimmste befürchtete. Sein Kommandositz war offen. Er hatte auf die Abschottung im Sarkophag verzichtet, um den Gefährten beim riskanten zweiten Vorstoß in die Perlenzone nahe zu sein und Ansprechpartner bleiben zu können. Fontarayn hatte sich mit Sesha vereinigt, um die RUBIKON auf Kurs zu bringen und wider alle äußeren Einflüsse zu halten. Die Stimmung in der Zentrale war zum Zerreißen angespannt. Sesha hatte Weisung, bei dem geringsten Anzeichen geistiger Verwirrung vorübergehend nur noch auf Fontarayns Weisung zu hören und die Betroffenen in einen vorsorglichen Kunstschlaf zu versetzen, der sie vor sich selbst schützen sollte – bis die RUBIKON an der Perle andockte … Während sich irrsinnige Wirbel, Farb- und Lichteffekte in der Holosäule spiegelten – nur ein Abglanz der wahren Verhältnisse draußen –, eilte Scobee zu Jiim und wollte sich um ihn kümmern. Noch bevor sie ihn jedoch erreichte, meldete sich Sesha aus dem
Off. »Der Narge wurde laut Anweisung von mir narkotisiert. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Die Vitalwerte aller übrigen Besatzungsmitglieder sind unverändert stabil.« Die entstandene Aufregung legte sich wieder. Zumal sich an Seshas Aussage auch beim weiteren Vorstoß hinter den Ereignishorizont nichts änderte. Cloud ordnete an, Jiim in die Krankenstation zu bringen. Und leistete dem Gloriden insgeheim Abbitte. Denn der hatte nicht übertrieben. Wird es wieder so sein wie beim letzen Mal? Es war anders – besser! – als beim letzten Mal. Mit jeder Minute wurde dies deutlicher. Als überraschend Ovayran in der Zentrale auftauchte, sprach Cloud ihn unverblümt darauf an. »Wie kann das sein?«, schloss er seine Frage nach dem Ausbleiben all der Heimsuchungen, denen sie noch im Milchstraßen-Black-Hole ausgesetzt gewesen waren? »Sowohl eure Physis als auch eure Psyche hat sich beim ersten Besuch den hiesigen Verhältnissen angepasst. Der Effekt war uns – zumindest theoretisch – bekannt. Ihr seid immunisiert gegen die Einflüsse, die euch zuletzt so zu schaffen machten.« »Deshalb reagierte nur Jiim«, warf Algorian ein. »Er war beim ersten Besuch einer Perlenzone nicht an Bord, sondern weilte zu der Zeit auf Saskana – als Gefangener. Demnach fehlen ihm als Einzigem die Voraussetzungen einer Immunisierung …« Cloud entschied, dass er dies wohl einfach als gegeben hinnehmen musste. »Wie sehen Jiims Hirnstromaktivitäten aus?«, wandte er sich an Sesha. »Sie deuten auf hohen mentalen Stress hin, den ich durch eine behutsame Medikation, abgestimmt auf den Organismus des Nargen, zu lindern versuche.« »Mit anderen Worten: Er träumt.«
Sesha verblüffte mit einer launigen Formulierung, zu der sie nur in seltenen Fällen neigte. »Das ist gelinde ausgedrückt«, meinte die KI. »Menschen würden sagen: Er durchlebt gerade die Hölle.«
Im ersten Moment war Tuvayn völlig verblüfft über Nepolayns Bemerkung. Dann wurde ihm klar, dass er seinen Vertrauten all die Zeit unterschätzt hatte. »Du bist also auch auf der Suche nach mehr Erkenntnis – und frustriert über die Grenzen, die uns diesbezüglich auferlegt sind … oder wurden.« »Von den ERBAUERN«, bestätigte Nepolayn. Er zeigte auf die Tür, hinter der der Perlenbereich begann, zu dem niemand – nicht einmal der amtierende Weiseste – Zutritt hatte. »Wolltest du da durch?« Tuvayn entschied sich für die Wahrheit – und zugleich zum ultimativen Test, ob er Nepolayn vertrauen konnte oder nicht. »Ja. Und zwar nicht zum ersten Mal. Ich habe es oft versucht, seit feststeht, wohin unser künftiger Weg uns führen wird.« Kurz sah es aus, als würde Nepolayn um seine Fassung ringen. Aber es war, wie sich herausstellte, weniger Bestürzung als Sorge, die ihn innerlich vibrieren ließ. »Ihr hättet dabei … umkommen können.« »Ich hätte dabei umkommen müssen«, bestätigte Tuvayn. »Und vielleicht … legte ich es darauf sogar an.« Sein Vertrauter verstand ohne weitere Erklärung. Er zeigte auf die Symbole, die die Tür zierten. »Heilige Glyphen«, sagte er. »Sie verbieten den Zutritt. Jegliche Zuwiderhandlung … selbst der bloße Versuch einer solchen … führe zum qualvollen Tod, heißt es darin.« »Ja.« »Dem ist aber offenbar nicht so. Ich muss gestehen …« »Ja?« »… dass ich auch schon oft kurz davor stand, es gegen alle Vernunft zu probieren. Deshalb komme ich hin und wieder hierher. Bis-
lang hatte ich jedoch nie den Mut, die drohende Konsequenz auf mich zu nehmen.« »Das ist keine Schande. Eher ein Beweis für Verstand. Der bei mir offenkundig aussetzte …« Nepolayn straffte sich. »Von mir wird es niemand erfahren.« Tuvayn musterte ihn. »Danke«, sagte er schließlich. »Zumindest hat meine Unvernunft gezeigt, dass es sinnlos ist, Antworten auf uralte Fragen erzwingen zu wollen. Mag diese Tür auch keinem Gloriden, der das Verbot ignoriert, zum Verhängnis werden, so weist sie ihn doch mit Nachdruck ab. Es gibt kein Mittel, sie zu öffnen oder in unserer energetischen Form zu durchdringen.« »Es gäbe nur die Möglichkeit von Brachialgewalt. Vielleicht …« Was Nepolayn da ansprach, hatte auch Tuvayn viele Mal angedacht, sich den gesperrten Bereich unter Einsatz schweren Geräts quasi freizusprengen. Doch die Folgen, die ein solches Vorgehen nach sich gezogen hätte, waren noch weit unabsehbarer als der Versuch eines Einzelnen, sich in die geheimen Regionen zu schleichen. »Wir werden gehen, ohne je zu erfahren, was –« Es gelang ihm nicht, seinen Satz zu beenden. Der Boden unter seinen Füßen leitete plötzlich jene Impulse in seinen und Nepolayns Körper, der bei einem Großalarm üblich war. Großalarm? Tuvayns Körper schien sich komplett zu verkrampfen. Überall in der CHARDHIN-Perle, wo Gloriden unterwegs oder tätig waren, erreichte sie die Warnung, die auf eine externe Bedrohung hinwies. Auf die Ankunft eines Objektes, das niemand kannte … und mit dem auch niemand gerechnet hatte. Erst recht nicht so kurz vor dem eigenen Exodus …
7. Exodus Die Perle war so gigantisch, dass die RUBIKON neben ihr wie ein Spielzeug anmutete. Golden war die Station und, zumindest äußerlich, makellos. Cloud ertappte sich bei dem Gedanken, dass dies täuschen mochte. Wer gab ihnen die Garantie, dass die fremde Macht, die zu Hause in der Milchstraße für eine totale Entvölkerung der dortigen CHARDHIN-Station gesorgt hatte, zwischenzeitlich nicht auch in Fontarayns Heimat zugeschlagen hatte? War es dieser Gedanke, der auch den Gloriden bedrückte, ohne dass er bereit oder fähig gewesen wäre, es seinen Verbündeten gegenüber zu äußern? Wie dem auch sein mochte, in einem Bereich, wo weder Zeit noch Raum gewohnte Konstanten waren und sich sämtliche bekannten Naturgesetze zu negieren schienen, war nicht feststellbar, wie groß die Entfernung genau war, die noch zwischen RUBIKON und Perle lag. Auf jeden Fall hatte Fontarayn sie bereits auf Sichtweite herangebracht. Seine überlegenen Sinne schienen die hier herrschenden Verhältnisse und Kraftströme mühelos zu lesen. Nachdem diese »Nähe« erreicht war, kehrte der Gloride aus Sesha zurück und materialisierte sich neben seinem Artgenossen Ovayran, wo er für alle hörbar sagte: »Ich werde jetzt die Kontaktaufnahme vollziehen und unser Kommen ankündigen. In diesem Schiff rechnet niemand mit mir. – Und mit dir schon gar nicht.« Ovayran schwieg. Er wirkte geradezu stoisch gelassen, so als ginge ihn all dies überhaupt nichts an. »Wie willst du diese Kontaktaufnahme bewerkstelligen?«, fragte Cloud, der aus seinem Sitz aufgestanden war und zu ihnen trat. »Funk dürfte hier wohl versagen – obwohl ich nicht einmal das si-
cher behaupten könnte.« »Wir benötigen keine Funkverbindung«, sagte Fontarayn und wandte sich ihm zu. »Ich selbst werde die Perlenbesatzung, den Weisesten, auf euer Kommen vorbereiten. Mein Bruder kann mich begleiten oder hier auf meine Rückkehr warten.« »Ich warte«, sagte Ovayran. Fontarayn gab weder einen Kommentar dazu ab, noch wartete er auf eine neuerliche Äußerung Clouds. Stattdessen verwandelte er sich in jene Erscheinungsform, die, wie es Cloud vorkam, seine eigentlich bevorzugte war, und verschwand durch die nächstbeste Wand. »Er hat das Schiff soeben verlassen«, bestätigte Sesha auf Nachfrage. »Die Richtung, die er einschlug, zeigt mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die CHARDHIN-Perle.« Restlos sicher schien sich die KI nicht. Aber was war in diesen Zeiten an einem solchen Ort schon sicher. »Na, dann warten wir mal das Ergebnis des Plauschs ab«, polterte Jarvis. »Ein Glühwürmchen ist uns ja immerhin treu geblieben. Vielleicht nicht das Schlechteste, wenn wir es als Faustpfand für alle Eventualitäten behielten. Sesha … lässt sich da etwas machen, damit er unserer Gastfreundschaft nicht doch noch plötzlich überdrüssig wird?« »Ist das eine Anfrage, den Gloriden unter Arrest zu setzen?« »Vergiss es«, mischte sich Cloud mit tadelndem Blick auf Jarvis ein. Dann wandte er sich entschuldigend an Ovayran. »Ich hoffe, du nimmst diesen Scherz nicht übel. Niemand denkt daran, dich zu –« »Ich weiß«, unterbrach ihn der Gloride. »Das könntet ihr auch gar nicht.« Cloud gab sich Mühe, freundlich zu bleiben. »Wenn du das so siehst …« Mit diesen Worten ließ er Ovayran stehen und kehrte zu seinem Platz auf dem Kommandopodest zurück. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, ehe Fontarayn ebenso warnungslos zurückkehrte, wie er verschwunden war. »Tuvayn ist informiert und einverstanden. Die RUBIKON darf anlegen. Als meine … Begleiter seid auch ihr willkommen.«
»Tuvayn?«, fragte Scobee. »Der erhabene Perlenweiseste.«
Der erhabene Perlenweiseste beriet sich indes mit seinem Vertrauten Nepolayn. »Wie beurteilst du seine Rückkehr?« »Mich irritiert eher sein Verhalten.« »Ja. Es ist den Umständen kaum angemessen.« »Und dann dieses … Schiff.« »Er berichtete, wie es zum Verlust der Kugel kam, mit der er zur Nachbargalaxie aufbrach. Die Umstände sind Besorgnis erregend.« »Aber nicht Besorgnis erregender als das, was hier vonstatten geht.« »Ich habe ihn geschaut«, sagte Tuvayn. »Er trägt kein Falsch in sich. Allerdings wollte ich auch nicht mit ihm verschmelzen, um hinter die Gründe seines Verhaltens zu blicken. Ich möchte, dass du das tust – bei unserer nächsten Begegnung.« »Er wird das seltsame Schiff an die Perle heranführen und anlegen.« »So wurde es ihm gestattet.« »Ich bin auf die Geschöpfe gespannt, die es bewohnen.« »Ich bin auf die Erklärung gespannt«, erwiderte Tuvayn, »mit der Fontarayn sein Fernbleiben rechtfertigt.« In der Aussichtsprojektion, die er in seiner Amtshalle geschaltet hatte, war das Schiff zu sehen, das sich mit sanftem, kaum wahrnehmbarem Schwingenschlag der Perle näherte. Mehr und mehr. Bis ihre beiden Hüllen einander berührten.
»Was ist das?« Fasziniert starrte Cloud in die Holosäule, die ein Bild der CHARDHIN-Perle offerierte, wie sie es noch nicht gesehen hatten – keiner an Bord, die Gloriden ausgenommen.
Eine der von Fontarayn neu freigelegten Möglichkeiten der RUBIKON präsentierte ihnen quasi eine dreidimensionale »Aufrisszeichnung« der goldenen Station. Mit anderen Worten: Der Gloride offenbarte ihnen den inneren Aufbau, so als gehörten sie selbst plötzlich seinem Volk an und wären damit befugt, solche Geheimnisse zu schauen. Seine erklärenden Worte klangen jedoch einleuchtend. »Ich verstoße damit gegen keinen Kodex«, sagte er unaufgefordert. »Nichts, was ihr hier seht, könnte von euch gegen die Perle eingesetzt werden, selbst wenn ihr dies wolltet, was ich ausschließe. Euer technisches Verständnis dieses ERBAUER-Vermächtnisses reichte niemals aus, es –« »Schon gut«, unterbrach ihn Jarvis grob. »Wir haben kapiert, dass wir blöd sind. – Was ist dieses leuchtende Zentrum, das mit Blauton hervorgehoben ist?« Er meinte das, was auch den anderen bei Betrachtung der 3D-Wiedergabe sofort ins Auge fiel: Im Kern der goldenen Station befand sich eine kugelartige Ausdehnung von etwa hundert Kilometer Durchmesser – bei einer Gesamtgröße der Perle von gut tausend Kilometer. »Das«, sagte Fontarayn bereitwillig, »ist die Portalschleuse.« »Die …?« »Portalschleuse. Die Internzone, die es selbst Objekten von der Größe eines Raumschiffs ermöglicht, innerhalb der zeitlichen Permanenz der Perlen zu wechseln.« Obwohl er dagegen ankämpfte, war es Cloud nicht möglich, das aufkommende Gefühl eisiger Kälte gänzlich zu unterdrücken. Was Fontarayn ihnen gerade fast beiläufig vorgestellt hatte, war das Werkzeug, die Möglichkeit, deretwegen die RUBIKON den Weg nach Andromeda auf sich genommen hatte. »Und diese uneinsehbare Zone im oberen Polbereich?«, fragte Jarvis, der einen seiner Arme so weit verformte, dass er wie ein Tentakel in die Holosäule vorstieß und mit der Spitze über den betreffenden Bereich der Wiedergabe strich. »Darauf kann ich keine Antwort geben.«
»Kannst du nicht, oder willst du nicht?«, fragte Jarvis fast lauernd. »Kein Gloride hat je hinter die Türen dieses Bereichs geschaut. Außerdem ist es … verboten.« Nicht nur Cloud horchte auf. »Oh«, trieb Jarvis seine Sticheleien auf die Spitze. »Das hört sich interessant an. Könnte einen Ausflug wert sein …« Niemand an Bord hatte einen Gloriden jemals die Farbe wechseln sehen – in dem Sinne, dass er erbleichte. Jarvis' Worte schafften es offenbar mühelos, dies zu bewirken. Selbst Ovayrans Brust, der sich spürbar im Hintergrund hielt, entrang sich ein Stöhnen. »Du weißt nicht, was du sprichst! Diese Zone ist in jeder Perle tabu. Heilig. Nur ein Narr könnte glauben …« »Schon gut. War ein Scherz. Scherz. Du verstehst doch? Die Lektion haben wir doch wieder und wieder durchgekaut. Wir Menschen … selbst solche genügsamen Burschen wie ich … haben und verstehen Spaß. Humor, Meister Glühbirne. Ach …« Er machte eine wegwerfende Geste und schwieg. Ovayran schien keine Veranlassung zu sehen, das Gehörte noch einmal aufzugreifen. Und Fontarayn … »Wir werden jetzt zur Perle überwechseln. Jeder ist dort willkommen – sofern er sich seiner Verantwortung der Perlenallgemeinheit gegenüber bewusst ist.« Das saß. »Danke, Fontarayn. Ich werde meine Leute entsprechend anweisen, sei unbesorgt. Hast du dem Perlenweisesten dein Anliegen schon vorgetragen?« »Die Idee, in die Vergangenheit zu reisen, um das Aufkommen der Treymor zu verhindern?« »Ja.« »Nein, das habe ich mir für mein nächstes Treffen aufgehoben. Ich habe ihn bislang lediglich über die Situation in der Milchstraße aufgeklärt – und darüber, wie es dazu kam, dass ich in diesem Schiff anreisen musste.« »Kann ich an dieser nächsten Begegnung teilnehmen?«
Cloud hatte Fontarayn selten ablehnender gesehen. »Das ist unmöglich.« Aber genau deshalb bin ich gekommen. Nur deshalb habe ich dich hierher mitgenommen, Freundchen! »Dann musst du es möglich machen.« »Warum?« »Weil ich denke, wir haben uns das Recht erarbeitet, auch unseren Standpunkt zu deinem Vorhaben vorzubringen.« Fontarayn zögerte. »Ich bin sicher, Tuvayn wird selbst den Wunsch äußern, dich kennen zu lernen. Aber später. Und dann wird es die Höflichkeit gebieten, dass du dich mit Äußerungen, die von existenzieller Tragweite sind, zurückhältst.« Noch nie zuvor hatte der Gloride der RUBIKON-Crew – allen, nicht nur Cloud – so klar und offen zu verstehen gegeben, als was er sie in Wirklichkeit betrachtete. Als unmündige Helfer nämlich. Als reine Handlanger. Er und sein Volk waren die Bewahrer der hypersuperdupermegatollen CHARDHIN-Perlen … das daraus resultierende Selbstvertrauen war in diesem Moment nicht mehr von Selbstherrlichkeit und Hochmut zu unterscheiden. »Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt«, sagte Cloud gepresst. »Ich bestehe darauf, dem Perlenweisesten und damit der höchsten Instanz der Gloriden vorgestellt zu werden! Sofort!« »Später«, wiederholte Fontarayn fast lakonisch. »Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet. Ich habe einen … Termin.« Mit diesen Worten ging er. Auf die ihm eigene, unnachahmliche und absolut unaufhaltsame Weise.
Das Betreten der Perle war auch hier begleitet von einer regelrechten Ehrfurcht, die sich Clouds bemächtigte und auch nicht davon gemindert wurde, dass er schon einmal eine andere, baugleiche CHARDHIN-Station betreten hatte. Im Gegensatz zur Milchstraßen-Perle herrschte hier das pralle Le-
ben. »Wow«, entlockte der herrschende Betrieb auch Scobee einen Ausruf der Verblüffung. Sie hatten sich dazu entschieden, sich gemeinsam ein wenig die Beine in der Perle zu vertreten – um sich die Zeit bis zu Fontarayns Rückkehr zu vertreiben. »Der kann was erleben«, grollte ihm Cloud selbst jetzt noch. »Wer?« »Fonti«, gab er süffisant zurück. »Ah, verstehe. Du machst dir berechtigte Sorgen. Wenn er mit dem ollen Weisen konferiert und uns vor vollendete Tatsachen stellt, ist das genau das, was wir mit unserem Shuttle-Dienst nach Andromeda nicht bewirken wollten.« »Eben.« »Jetzt sieh mal nicht so schwarz. Noch ist nicht aller Tage Abend.« »Für jemanden, der – ebenso wie ich natürlich – jeden Augenblick verschwinden könnte, als hätte jemand einen Schalter … den eines Zeitparadoxons … umgelegt, bist du wirklich erstaunlich guter Dinge.« »Ich habe mir eben meinen natürlichen Optimismus bewahrt. Sehr zu empfehlen, wenn du mich fragst.« »Gut, dann frage ich dich lieber nicht.« Cloud versuchte, sich vom allgemeinen Treiben in der Perle ebenfalls etwas von seinen schlimmsten Befürchtungen abzulenken. »Wohin gehen wir?« »Hm, lass mich überlegen. Heißt es nicht, alle Wege führen nach Rom?« »Wenn ein Sprichwort von der guten alten Erde hier deplatziert ist, dann das. Überleg dir was Besseres.« Sie verblüffte ihn, indem sie in der Tasche ihrer eng anliegenden Montur kramte und etwas zu Tage förderte. »Was ist denn das?« »Ein Plan. Ovi war so nett …« »Ovi war …?« »Ich bat ihn um eine kleine Weghilfe für unsere Ausflügler. Er hatte nichts dagegen. Die Folie hier war mit Seshas Hilfe ruck, zuck fer-
tig.« Baff erstaunt trat Cloud dicht neben Scobee und schaute sich den Plan genauer an. An einer Stelle war eine Farbmarkierung, die sich schwach bewegte, als Scobee ihn ein Stück weit am Arm durch den Gang führte. »Wie geht denn das?« »Frag mich nicht. Der Punkt ist unsere permanente Markierung auf dem Plan. In die Folie integriert ist ein Mechanismus, der mit Sesha und deren 3D-Scan der Station verbunden bleibt – was nur möglich ist, weil die RUBIKON angedockt hat. Sonst würden die Interferenzen wahrscheinlich jede Datenübertragung sabotieren.« »Unglaublich …« »Wie alles hier. Wie unser ganzes Leben seit dem Mars … oder?« Sie grinste spitzbübisch. Das war einer der Momente, in denen Cloud an sich halten musste, sie nicht einfach zu küssen. Ringsum blieben immer wieder Gloriden stehen, die die Ankömmlinge interessiert betrachteten, aber niemals ansprachen. »Was bedeutet das hier?«, fragte Cloud und tippte auf die entsprechende Stelle des Plans, wo zu lesen stand: TROPHÄEN. »Vielleicht starten die Gloriden ab und zu Jagdgesellschaffen?«, frotzelte die GenTec. »So eine kleine Safari hier und da …« »Würde das zu ihnen passen?« »Wohl eher nicht. Aber es könnte auch mit den Expeditionen zusammenhängen, die sie laut Fontarayn immer mal wieder in die galaktische Umgebung der Perle starten.« »Lass es uns herausfinden«, sagte Cloud. »Du bist die bessere Kartenleserin. Führ mich.« »Na, solange du nicht ›verführ mich‹ verlangst …« Cloud überlegte kurz, ob das nicht die vielversprechendere Idee gewesen wäre, anstatt sich eine »Trophäensammlung« der Gloriden anzusehen. Aber er entschied sich dann doch für die Sightseeing-Variante.
Obwohl Fontarayn den Perlenweisesten Tuvayn von mehreren Begegnungen kannte, hatte er – wie schon bei seiner Ankunft in der CHARDHIN-Perle – das beklemmende Gefühl, einem Fremden gegenüberzustehen. Dazu trug einiges die Kühle bei, mit der der Weiseste ihn begrüßt hatte … und seither behandelte. Dieselbe Distanz vermittelte der dem Gespräch beiwohnende Nepolayn, offenbar Tuvayns Berater. »Das … kann nicht sein!«, stammelte Fontarayn. »Ich meine … wie ist es dazu gekommen?« »Die Details tun momentan nichts zur Sache«, erklärte Tuvayn vollmundig. »Wichtig für dich ist nur, dass du dich uns anschließen wirst. Die Situation erfordert eine Reaktion. Und meine Verantwortung gebietet mir, dass ich nicht länger auf das Prinzip Hoffnung setze und ausharre, sondern handele.« Der Perlenweiseste hatte Fontarayn gerade eröffnet, dass sich die Perlenbesatzung im Aufbruch befände. Dass die letzten Vorbereitungen zur vollständigen Evakuierung der CHARDHIN-Station liefen … »Seit wann seid ihr vom Rest des Netzes isoliert?«, ächzte Fontarayn und rang immer noch um Fassung. Tuvayn überging die Frage. »Willst du dich uns überhaupt anschließen? Oder zurück zu deinen neuen Freunden, um mit ihnen andere Ziele anzustreben?« »Welche anderen Ziele könnte ich haben? Das hier ist … mein Zuhause.« »Das fällt dir früh ein.« »Wie meint ihr das?« »Stimmst du einer Verschmelzung zu?« Falls dies überhaupt möglich war, wurde Tuvayn mit dieser Frage noch ernster als ohnehin schon. »Aber ja – warum sollte ich nicht …?« »Gut, dann komm her, tritt näher, damit ich dich umarmen und die Vereinigung vornehmen kann. Danach werde ich dich besser verstehen – und du mich. Du erhältst Antworten auf deine dringendsten Fragen … und ich die meinen. Denn augenblicklich steht
eine große Barriere zwischen uns. Das darf nicht sein. Der Konsens ist uns Gloriden heilig, und er fängt im Kleinsten an.« Treffender hätte es auch Fontarayn nicht ausdrücken können. Hoffnungsvoll trat er auf den Perlenweisesten zu, wurde von ihm umschlungen. Nepolayn wich weiter in den Hintergrund, nahm höflich Abstand, um den intimen Austausch von Wissen nicht zu stören. Fontarayn empfand die Umarmung des Weisesten wie eine Gnade. Hoffnungsvoll schloss er die Augen seines stofflichen Körpers, und es war Tuvayn, der das Feuer als Erster entfachte. Das Feuer des Lebens, das auch Fontarayn erfasste und verwandelte und mit dem Weisesten verschmelzen ließ. Nepolayn als stillem Beobachter mochte es nur wie ein kurzer Augenblick vorkommen, in dem die geeinte Flamme aus zweierlei Existenz über dem mosaikartigen Boden der Amtshalle schwebte. Aber dieser scheinbare Moment genügte, um Tuvayn in Fontarayn und Fontarayn in Tuvayn schauen zu lassen. Tief in den Kern des jeweils anderen. Und einer von beiden erschrak fürchterlich.
»Irgendetwas ist seltsam«, sagte Scobee. »Nicht, dass ich mich sonderlich in gloridischem Alltagsleben auskennen würde, aber … kommt es dir nicht auch alles etwas bedrückt vor?« Wieder einmal fasste sie in Worte, was auch Cloud schon eine Weile aufgefallen war, er aber nicht hatte artikulieren können, weil der Eindruck allzu diffus gewesen war. »Wie du schon sagtest, wir kennen uns zu wenig in der Mentalität und den Gepflogenheiten der Gloriden in der Gemeinschaft aus, aber … nun, auch mir kommt einiges hier spanisch vor. Die da drüben zum Beispiel …« Er zeigte auf eine Gruppe, die am Boden kniete, nach vorne gebeugt und fast Kopf an Kopf, fast als würden sie ein gemeinsames stummes Gebet sprechen. Was erneut die Frage aufwarf, ob die Perlenbewahrer so etwas wie eine Religion pflegten. »Vielleicht eine Art von Meditation, stiller Einkehr«, mutmaßte
Scobee, die seinem Fingerzeig gefolgt war. Er quittierte es mit Schulterzucken. »Vielleicht hätten wir uns einen gloridischen Führer nehmen sollen – Ovi zum Beispiel.« »Bewahre!«, lachte Scobee. »Seine Mitteilsamkeit ist ja noch legendärer als die von Fonti.« »Immerhin haben wir die Karte.« »Und die sagt, dass wir … angekommen sein müssten.« Scobee blickte sich suchend auf der Fläche um, die fast wie ein großer Platz wirkte … hätte sie einen »Himmel« und nicht nur eine Decke gehabt, die sich in knapp fünf Metern Höhe erstreckte. Bislang hatte die Perle nirgends den Eindruck aufkommen lassen, sich in etwas anderem als einer – zugegeben riesigen – Raumstation zu befinden. Ihr innerer Aufbau war geprägt von einem Labyrinth aus Korridoren und Räumlichkeiten unterschiedlicher Ausprägung. Und alles schimmerte golden. »Goldig«, hatte es Scobee gleich nach dem Wechsel von der RUBIKON hierher kommentiert. »Da!« Cloud wies auf eine torgroße Öffnung in einer Wandfläche, die über mehrere Treppenstufen erreichbar war. Die erste Treppe, die sie überhaupt in der Gloridenstation sahen, die ansonsten eher funktionell denn verspielt daherkam. »Ich glaube, du hast Recht.« Scobee nickte. »Sollen wir?« »Wenn uns niemand daran hindert …« Das tat keiner. Die Neugier der Gloriden, denen sie begegneten, war weiterhin spürbar – aber ebenso ihre Scheu, ihr Respekt … wie auch immer man es nennen wollte. Als sie den Fuß auf die Stufen setzten, hakte sich Scobee bei Cloud unter. »Ich habe keine große Erfahrung in Museumsbesuchen«, gestand sie. »Du erwartest ein Museum?« »›TROPHÄEN‹, steht auf der Karte.« Cloud nickte zögernd. »Wir werden sehen.« Er empfand die Nähe und Berührung als durchaus angenehm. Wieder einmal wurde ihm bewusst, wie weit abseits normaler Bedürfnisse sein Leben in letzter Zeit verlief.
Aber diese Anwandlung schüttelte er sogleich wieder ab. Spätestens am Ende der kurzen Treppe, als der dahinter beginnende Saal ihn in seinen Bann zu ziehen begann.
Es war in der Tat ein Museum. Die gloridische Abart eines solchen zumindest. Gleich bei Betreten wurden Cloud und Scobee von veränderten, gedämpften Lichtverhältnissen empfangen, durch die die einzelnen Exponate – von einer eigenständigen, auf sie abgestimmten Lichtquelle umhüllt – noch hervorgehoben wurden. Und der Raum, etwa vierzig Meter im Quadrat, war voll von Ausstellungsstücken, sodass kein einfacher Rundblick ausreichte, sie alle zu erfassen. »Irre«, kommentierte Scobee. »Schau dir diese Statuen an. Diese … Werkzeuge? Waffen?« »Ich bin schon froh, wenn ich nirgendwo einen Schrumpfkopf ausmache.« Cloud sagte es fast mechanisch, trat dabei tiefer in den Saal, der ihn und Scobee mit leisen Klängen empfing, die ebenso unter die Haut gingen wie das Sichtbare. Scobee hielt sich dicht hinter ihm. Vor einer Art Obelisk blieb er stehen. Er war mit unbekannten Schriftzeichen oder Symbolen verziert. »Ich dachte mir, dass ihr kommen würdet«, sagte eine Stimme, die aus dem Objekt zu kommen schien. Es war anthrazitfarben, fast schwarz; nur seine Glyphen schienen das Rampenlicht, in das es gehüllt war, zu reflektieren. Kaum waren die Worte verstummt, stand Scobee auch schon neben Cloud. »Hast du das gerade gehört?«, fragte er. »Oder halluziniere ich?« »Manchmal«, erwiderte sie augenzwinkernd. »Aktuell nicht.« Sie nickte. »Ja, ich habe es gehört.« Noch während sie sprach, leuchtete einer der Glyphen stärker auf. Ein gebündeltes Licht stach daraus hervor … … und materialisierte sich wenige Schritte von den Besuchern ent-
fernt zu einem Gloriden. »Ovayran! Was tust du hier? Hast du uns etwa die ganze Zeit –« Er verneinte. »Dies ist ein Ort, der auch mein Interesse weckt. Die HALLE DER RELIKTE gibt es offenbar in jeder Perle. Sie war einst auch Bestandteil meiner Heimatwelt.« Er sprach stets von Welt, wenn er eine CHARDHIN-Station beschrieb. Aber das war nicht weiter ungewöhnlich, immerhin waren die Perlen für Gloriden, was Planeten für konventionelle Bewohner einer Galaxis waren. »HALLE DER RELIKTE nennt ihr es? Auf deinem Plan stand nur TROPHÄEN. Was genau hat es damit auf sich?« »Wahrscheinlich vermutet ihr es bereits: Hier werden gemeinhin – jedenfalls war das in meiner Welt so, einst, vor langer Zeit – Dinge aufbewahrt, die Expeditionen ins Umfeld der Perle mitbrachten. Jedes Exponat erzählt eine Geschichte. Und die Gloriden, die ihre Perle niemals, ein Leben lang nicht verlassen – das Gros also –, sind immer ganz begierig darauf, etwas von ›draußen‹ zu erfahren.« »Verstehe«, sagte Cloud. »Was, äh, hast du denn in dem Obelisk gemacht?« »Mir seine Geschichte angehört – das sagte ich doch gerade. Sie ist darin verankert worden, von jenen Gloriden, die ihn einst auf einer Welt namens Obsolyn bargen. Eine zerstörte Welt, in der es nur noch Gräber und Ruinen gab. Und dieses Mahnmal, das von den letzten Bewohnern, kurz bevor auch sie dahinschieden, errichtet wurde.« »Eine traurige Geschichte«, sagte Scobee. »Trotzdem wünsche ich ausnahmsweise, ich wäre wie du, Ovayran, könnte mich in pure Energie verwandeln und die Ausstellungsstücke ebenfalls ›hören‹ und begreifen, wie es offenbar nur euch Gloriden möglich ist. Ich würde kein einziges Exponat auslassen, wenn es meine Zeit erlaubte. Ich glaube, ich begreife jetzt erst, was für ein unglaublicher Schatz hier gehortet wurde …« Ovayran nickte in menschlicher Manier. »Ich glaube, es gibt hier etwas, das euch weit mehr interessieren wird als die tragische Geschichte der Obsolyden.« »Und was?« Cloud sah sich um.
»Etwas, wonach ihr seit unserer Ankunft in dieser Galaxie gesucht habt.« Cloud verstand noch immer nicht, und auch Scobee hatte offenbar Mühe, Ovayran zu folgen. »Kommt, ich zeige es euch. Ich selbst habe bereits darin ›gehört‹ – und bin erschüttert.« Das hörte sich nicht gerade verlockend an. Cloud zermarterte sich den ganzen Weg, den Ovayran sie durch das Gewirr von Objekten lotste, den Kopf darüber, was es sein könnte, das der Gloride vor ihnen entdeckt hatte und ihnen zeigen wollte. Als sie es dann erreichten, traf ihn der Anblick dennoch völlig unvorbereitet. Ein rechteckiger Block, der an die Stase-Apparaturen der Foronen erinnerte, transparent und mit einem Lebewesen gefüllt … »Große Galaxis! Nein!«, entfuhr es Scobee. »Ein … Satoga!« »Nicht nur«, sagte Ovayran. »Nicht nur?«, echote Cloud. »Dies ist nach allem, was ich aus ihm erfuhr, auch einer der schrecklichen Aggressoren, die für die Zerschlagung der JORR-Zivilisationen verantwortlich sind.« »Das … das ist unmöglich!«, keuchten Cloud und Scobee fast unisono, nachdem sie sich wieder gefangen hatten. »Dann müsste dieses Objekt lügen.« Objekt. Es war mehr. Es … »Lebt es … er noch?«, fragte Cloud. »Ich meine, ist das eine Art Lebenserhaltungssystem, das –« Ovayrans nächste Worte zerstörten jede diesbezügliche Hoffnung. »Nein. Der Block dient lediglich der Konservierung. Der Krieger ist tot.« Krieger. Die Satoga als neuerliche Täter, die ein unfassbares Blutvergießen angerichtet hatten? Aber – das war doch schon zeitlich unmöglich! Cloud sah genauer hin. Konnte sich eine in Andromeda beheima-
tete Spezies äußerlich fast identisch entwickelt haben wie die Satoga? Es gab so viele Humanoide, auch schon in der Milchstraße. Manche mochten den Menschen sehr ähnlich sehen, warum sollte es also nicht auch …? »Was sagt das Exponat über sich selbst? Beziehungsweise, welche Angaben dazu wurden von den Gloriden darin verankert?« Scobees Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. »Die Expedition, die dieses Geschöpf tot barg, beschreibt es klar als Angehörigen der Kriegsmeute, die das Chaos über diese Sterneninsel brachte. Die Beschreibungen, die ihr über die Satoga gabt und die ich in euren Datenbänken fand, halfen mir, ihn sofort zu erkennen, als ich ihn sah. Den Rest ›hörte‹ ich mir an, es war nicht viel. Er wird auch nicht Satoga genannt – aber es ist offensichtlich, oder?« »Was enthält er noch an Informationen. Ich will alles wissen«, rief Cloud aufgewühlt, »denn es kann nicht sein! Artas würde nie … Er hatte es versprochen …« »Euch das mitzuteilen, möchte ich anderen überlassen. So viel vorweg: Euch erwartet ein Schock. Mich selbst betrifft er weniger, da ich extrem langlebig bin und ohnehin meine Heimat verloren hatte. Ihr hingegen …« »Verdammt! Rede Klartext!« »Später. Ich bin sicher, Fontarayn wird nach seiner Rückkehr vom Perlenweisesten weitere Steinchen in das noch unvollständige Mosaik einfügen können.« Mit diesen Worten verwandelte sich Ovayran in Licht … und stob aus dem Museum hinaus. Cloud und Scobee blieben hoch lange wie vom Donner gerührt zurück.
8. Am Kreuzweg Cloud fühlte sich regelrecht ausgezehrt. Er wartete angespannt auf Fontarayns Rückkehr, der offenbar immer noch – oder schon wieder – mit dem Perlenweisesten tagte. Nach seiner Rückkehr auf die RUBIKON hatte Cloud seine Kabine aufgesucht und alle gebeten, ihn wenigstens für die nächste Stunde nicht zu stören. Es sei denn, der Gloride wurde gesichtet. Oder es ergaben sich andere Dinge von wirklicher Dringlichkeit. Seine Gedanken hatten ein Eigenleben entwickelt. Sie drehten sich in seinem Kopf wie ein immer schneller werdendes Karussell, während sie die Eindrücke, die er im Innern der CHARDHIN-Perle – speziell im »Museum« – gesammelt hatte, zu verarbeiten versuchten. Was auch immer in dieser Galaxie vor sich ging, es musste auf irgendeine Art und Weise mit der Satoga-Flotte zu tun haben, die hierher aufgebrochen war. Hatten sich Artas und seine Mannen in einen Krieg mit den Andromeda-Bewohnern hineinziehen lassen? Trotz ihres Schwures, künftig bei ihren Vermehrungsbestrebungen jedwedem Konflikt mit Fremdvölkern aus dem Weg zu gehen? Cloud seufzte. Auch das wäre nur eine unzureichende Erklärung für die seltsamen Vorgänge gewesen. Die Schiffe, die sie im JORR-Territorium angegriffen hatten, waren keine Schiffe der Satoga gewesen. Woher kamen sie aber dann? Waren die Satoga zum Spielball zweier Mächte geworden. So wie einst die Foronen, als sie zwischen die Fronten von Dex und Satoga gerieten? Sosehr John auch versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, tauchte doch immer wieder das Bild des »eingefrorenen« Satoga vor seinem inneren Auge auf. Unwillkürlich fühlte er sich an jene Schläfer erinnert, die in den bernsteinartigen Stase-Quadern der Foronen dahinvegetiert waren. Es waren Menschen der unterschied-
lichsten Epochen gewesen. Menschen aus allen Erdteilen, die eingefangen und dann konserviert worden waren, wie Insekten unter Glas. Einer von ihnen war John Clouds Vater gewesen, der im Zuge der legendären ersten Marsmission verschwunden war. Und der hauptsächlich schuld daran gewesen war, dass John sich seit frühester Kindheit für die Raumfahrt begeistert hatte. Der Gedanke daran schnürte ihm noch jetzt die Kehle zu. Nathan Cloud, sein Dad, hatte ausgesehen wie ein perfekt konservierter Toter, in einem gläsernen Sarg aufgebahrt. Und doch war er am Leben gewesen. Bei vollem Bewusstsein. Und das über eine so lange Zeit. Cloud hatte es daher auch nicht im Mindesten überrascht, dass der Geist seines Vaters daran zerbrochen war. Wäre es nach ihm gegangen, er hätte es nicht gewagt, ihn aus seinem Gefängnis zu befreien. Die Hoffnung, ihn irgendwann einmal unversehrt in die Arme schließen zu können, war zumindest für den Moment zu schön gewesen, um es der Realität zu erlauben, sie zu zerstören. Am Ende war ihm die Entscheidung jedoch abgenommen worden. Durch Boreguir, den Saskanen, der Nathan, den Mann aus einer längst vergessenen Zeit, quasi als seine Geisel genommen hatte … Nun, das alles war Vergangenheit – und verziehen. Was zählte, war das Hier und Jetzt. Und das war nicht minder kompliziert, wie Cloud nicht erst bei seinem Besuch der CHARDHIN-Perle festgestellt hatte. Auch die Art und Weise, in der die Andromeda-Gloriden auf ihren Artgenossen Fontarayn reagiert hatten, war höchst sonderbar gewesen. Was auch immer in der kurzen Zeit seit Fontarayns Abschied geschehen war, es musste schwerwiegende Folgen nach sich gezogen haben. Wieder dachte er an den konservierten Satoga. Und an die Erklärung, es würde sich dabei um einen uralten Aggressor handeln. Mehr war aus den Gloriden nicht herauszubekommen gewesen. Was hatte das zu bedeuten? Waren bereits lange vor Artas' Expedition Satoga nach Andromeda gekommen? Hatten sie einen Krieg angezettelt? Wenn dem so war, dann schwante John Böses. Wenn
Artas und seine Begleiter von den Andromeda-Bewohnern als Nachfahren jener uralter Kriegsfürsten erkannt worden waren, war ihnen gewiss kein warmer Empfang bereitet worden. Aber warum hatten die heutigen Satoga nichts davon gewusst? Und was noch seltsamer war: Warum wusste Fontarayn nichts davon? Je zahlreicher, je bohrender die Fragen wurden, die Johns Gehirn malträtierten, desto mehr zogen sich die Minuten in die Länge. Cloud schwor, sich Fontarayn nach seiner Rückkehr gründlich zur Brust zu nehmen. Dieses Mal würde er sich nicht mit lauwarmen, orakelhaften Erklärungen zufrieden geben. Nein, er würde energisch auf den Tisch schlagen und Antworten verlangen, die diese Bezeichnung wirklich verdienten. Eine leise Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Sie kam direkt aus den Wänden und hatte – obwohl sie künstlichen Ursprungs war – ein weiches, fast samtenes Timbre. »John, du wolltest informiert werden, sobald Fontarayn zurück an Bord ist.« »Danke, Sesha«, gab er zurück und erhob sich von der Liege, auf der er die letzten Minuten verbracht hatte.
Auf Clouds persönlichen Wunsch trafen sie sich zu einem Vier-Augen-Gespräch in einem gediegen eingerichteten Konferenzraum. Cloud wusste gar nicht mehr genau, wofür sie das Zimmer ursprünglich eingerichtet hatten. Zumindest er selbst hatte es bisher nur zwei-, dreimal betreten. Wir haben zu viel Platz, dachte er mit müdem Lächeln, das sofort erstarb, als er dem Gloriden gegenübertrat. Er wollte ihm nicht fälschlicherweise den Eindruck vermitteln, dass sich seine Laune gebessert hatte. Im Gegenteil. Fontarayn sollte spüren, dass Cloud auf dem besten Wege war, seine Geduld zu verlieren. Um von Anfang an die Fronten klar abzustecken, ließ er den Gloriden gar nicht erst zu Wort kommen, sondern riss die Gesprächsfüh-
rung an sich. »Ich weiß ja nicht, was ihr – du und deine Artgenossen – im Schilde führt. Aber eines wüsste ich doch ganz gerne: Wie um alles in der Welt kommt ein Satoga in euren ›Trophäenfundus‹? Ovayran behauptet, er sei einer der Kriegstreiber, die im JORR-Territorium wüteten, aber –« Fontarayn sah ihn lange schweigend an – und brachte ihn dadurch zum Schweigen. War es Trauer, die aus seinem Blick sprach? Bedauern? Mitleid? Fontarayn mochte sich redlich bemühen, seine Imitation eines Humanoiden mit dem von seinen menschlichen Begleitern abgeschauten Mienenspiel zu perfektionieren, doch das Ergebnis wusste nach wie vor nicht zu überzeugen. Als wäre er sich dessen bewusst, senkte er schließlich den Blick. »Es ist vieles nicht so, wie du es erwartet hast«, sagte er leise. »Wir haben uns geirrt. In allem, was wir bisher vermutet haben.« Cloud ballte die Hände zu Fäusten. Ging das schon wieder los? Nur einmal wollte er es erleben, dass der Gloride zur Sache kam, ohne sich in orakelartigen Anspielungen zu verlieren. Umso überraschender kam für ihn Fontarayns nächste Äußerung. »Was wir bisher in Andromeda erlebt und gesehen haben, sind die Auswirkungen eines gewaltigen und verheerenden Krieges, der diese Galaxie erschüttert hat. Ein Krieg, der viel weitreichender ist, als wir bisher ahnen konnten, und der nicht nur das Territorium der JORR verändert hat.« Cloud hielt den Atem an. Die Dramatik, mit der der Gloride die aktuelle Situation in Andromeda beschrieb, klang aus seinem Mund völlig ungewohnt. Er hatte Fontarayn als nüchternen Denker kennen gelernt, nicht als Propheten des Untergangs. Was auch immer er vom Perlenweisesten Tuvayn erfahren hatte, musste ihn zutiefst erschüttert haben. »Wie konnte das in der kurzen Zeit deiner Abwesenheit passieren?«, fragte Cloud und hatte dabei das unbestimmte Gefühl, dass ihm der Gloride noch nicht einmal einen Bruchteil dessen offenbart hatte, was er selbst in der Zwischenzeit erfahren hatte. »Und wie sollen die Satoga dafür verantwortlich sein? Sie können nicht –«
»Ich weiß nicht, wie ich es dir begreiflich machen soll«, gab Fontarayn zurück. »Versuch es einfach!« »Nun gut. Dann höre genau zu, denn im Grunde ist es schrecklich … simpel: Seit ich in eure Heimatgalaxie reiste, ist sehr viel mehr Zeit vergangen, als wir alle dachten. Ich rede nicht von Wochen oder Monaten, sondern von Jahren. Ja, du hörst recht, von vielen, vielen Jahren, denn es ist mehr als zwei Jahrhunderte eurer Zeitrechnung her, dass wir einander zum ersten Mal gegenüberstanden …«
Cloud stockte der Atem. Er fühlte sich, als wäre ihm gerade der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Was Fontarayn ihm erklärt hatte, war unfassbar. Und doch ergab es auf absonderliche Weise einen Sinn. Die Raumstation der JORR, die dem Gloriden so fremd erschienen war, obwohl er sie von früheren Besuchen her kannte. Der Krieg, der scheinbar in kürzester Zeit eine ganze Galaxie verheert hatte – und der in Wahrheit wahrscheinlich Jahrzehnte gedauert hatte. Und für all das konnte es nur eine plausible Erklärung geben: Die Transition hatte die RUBIKON nicht nur nach Andromeda geschleudert, sondern auch noch quer durch die Zeit in eine weit entfernte Zukunft katapultiert. Eine Zukunft, in der … ja, was war eigentlich genau geschehen? »Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Es sind Wesen jener Spezies, die du und deine Begleiter im Innern der Perle fandet«, erklärte Fontarayn. »Die Satoga waren es, die Andromeda in den Krieg stürzten! Und sie hatten dafür genau das, was du zunächst meintest, als Gegenbeweis anführen zu können: Zeit. Viel, viel Zeit für unglaubliche Gräueltaten …«
Auch dem Rest der Crew fiel es schwer, die unerwartete Entwicklung zu verdauen.
Cloud hatte die Stammcrew – auch Jelto und Aylea sowie Sarah Cuthbert und Prosper Mérimée – in die Zentrale gebeten, um die erschütternde Neuigkeit bekannt zu geben. Er überließ größtenteils dem Gloriden das Reden, da dieser die Informationen aus erster Hand hatte. Noch während er sprach, breitete sich allgemeines Gemurmel aus. Niemand schien so recht zu wissen, wie er auf die Tatsache, unbewusst einen Zeitsprung von zweihundert Jahren gemacht zu haben, reagieren sollte. Es war Sarah Cuthbert, die ehemalige Präsidentin der Vereinigten Staaten, die als Erste wissen wollte, was John Cloud nun zu tun gedachte. Cloud hatte viel über diese Frage nachgedacht. Ihm war klar, dass man von ihm, dem Kommandanten, konkrete Antworten erwartete. Nicht nur bezüglich jener unabänderlichen Tatsachen, die Fontarayn ihnen dargelegt hatte, sondern vor allem, wie mit der neuen Erkenntnis umzugehen war. Dabei lag die Antwort eigentlich auf der Hand. Eigentlich … Cy, das Pflanzenwesen, sprach es aus, nachdem Cloud seine Antwort auf Sarahs Frage hinauszögerte. »Warum benutzen wir nicht die Perle, um auf umgekehrtem Wege zurück in die Vergangenheit zu reisen?« Allein der Blick, den John dem Gloriden neben ihm zuwarf, hätte genügt, um die Unsicherheit der Anwesenden weiter zu steigern. Cloud, der sich dessen durchaus bewusst war, beschloss, seine Leute nicht länger auf die Folter zu spannen. »Andromeda, so hat Fontarayn vom Perlenweisesten erfahren, ist vom Netz der CHARDIN-Perlen abgekoppelt worden.« John musste die Stimme anheben, um sich gegen das erneut einsetzende Gemurmel behaupten zu können. »Ihre Permanenz ist damit nicht mehr gegeben. Sie reicht nur noch eine geringe Spanne in die Vergangenheit. Dagegen ist es unmöglich, ferne Gefilde zu erreichen oder gar in die Zukunft zu reisen. Die Gründe dafür sind angeblich unbekannt. Sicher scheint nur, dass es sich dabei nicht um eine Fehlfunktion der Andromedaperle
handelt. Die Ursache muss externer Natur sein und daher wohl bei den anderen Perlen zu suchen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat man Andromeda von dort aus isoliert.« »Übersetzt heißt das dann wohl, dass wir so richtig schön tief drinstecken – in der Scheiße«, ließ Sarah Cuthbert vernehmen. »Wir können weder vor noch zurück. Wir sitzen fest in einer fernen Zukunft, die hier in dieser Galaxie von Krieg und Zerstörung geprägt ist …« »Das ist nicht ganz richtig«, fiel ihr Cloud ins Wort. »Wie schon gesagt, ist es weiterhin möglich, mittels der Portalschleuse der Perle zurück in die Vergangenheit zu reisen – nur ist die Reichweite offenbar stark eingeschränkt. Ich denke, wir sollten diese Möglichkeit dennoch nutzen.« »Ist das denn noch sicher, nachdem die Andromeda-Perle vom Netzwerk abgeschottet wurde?«, fragte Jiim, der Narge. »Fontarayn zufolge dürfte diesbezüglich keine Gefahr bestehen«, versicherte Cloud, und der Gloride nickte zu seinen Worten. »Unklar ist lediglich, wie weit wir auf diesem Weg noch zurückreisen können.« »Das sagt der, der sich noch vor kurzem vehement gegen eine Zeitreise und den damit verbundenen Gefahren eines Paradoxons ausgesprochen hat?«, warf Scobee mit unverblümtem Vorwurf ein. Jetzt kam es erst recht zu hitzigen Diskussionen. Cloud war sich der Problematik durchaus bewusst. Wer konnte schon sagen, wohin sie ihre Reise führen würde – und ob es ihnen dort besser ergehen würde als hier. Andererseits … hatten sie überhaupt eine Wahl? Wenn sie das Risiko eines weiteren Zeitsprungs nicht eingingen, steckten sie erst recht im Schlamassel, wie es Sarah Cuthbert mit etwas anderen Worten angemerkt hatte. »Wie wir uns auch entscheiden«, rief Cloud in das Gemurmel hinein, das daraufhin abrupt abbrach, »uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Die Gloriden der hiesigen Perle bereiten bereits ihren Exodus vor.« »Sie wollen die Perle verlassen?«, fragte Scobee verwundert. »Aber … wohin wollen sie gehen? Sie kennen doch keinen anderen Lebensraum als die Perle … Wollen sie versuchen, die nächste Großgalaxie der Lokalen Gruppe zu erreichen und so bei ihren Artgenossen
vorstellig werden, die offenbar nichts mehr mit ihnen zu tun haben möchten? Schlimmer noch: Die sie vielleicht wie eine kranke Zelle aus dem Verbund herausgeschnitten haben …« Er schüttelte den Kopf. »Nein, sie wollen dorthin, wohin auch die überlebenden Völker des Krieges gegen die Satoga geflohen sind.« Erstmals seit seiner Ansprache zu Beginn der Versammlung ergriff der Gloride wieder das Wort. »Nach And II, wie ihr den vorgelagerten Sternhaufen in euren Katalogen nennt. Das System verfügt über zahlreiche Welten, auf denen sich mein Volk niederlassen kann.« Nachdem sich diese Information gesetzt hatte, herrschte weitgehend Einvernehmen darüber, dass es tatsächlich am Sinnvollsten war, den Zeitsprung zu wagen. Was sollten sie hier noch ausrichten, in einer Zeit, in der die Hoffnungslosigkeit regierte und selbst so mächtige Wesen wie die Gloriden nicht anders konnten, als ihre angestammte Heimat im Stich zu lassen. Nein, alles war besser als in dieser ihnen fremden Zeit gestrandet zu bleiben. Auch wenn es unter Umständen bedeutete, sich neuen, noch unbekannten Gefahren auszusetzen, so würden sie sich zumindest etwas erhalten können, was ihnen hier unweigerlich verloren gehen würde: Hoffnung. Immerhin war die Chance groß, dass sie sich zumindest bis in eine Zeit vortasten konnten, die der verlassenen sehr nahe kam. Als die Entscheidung getroffen war, war sogar eine gewisse Aufbruchstimmung zu spüren, die gedämpften Optimismus in der Crew weckte. Jarvis brachte es auf den Punkt. »Alles wird gut«, sagte er. Und vermutlich war er der Einzige, der es in diesem Moment dank der Audiosysteme seines Körpers schaffte, seine Stimme fest und zuversichtlich klingen zu lassen. Als glaube er wahrhaftig unverbrüchlich an das, was er sagte. Alks wird gut. Cloud zumindest war fest entschlossen, alles Menschenmögliche dafür zu tun. Aber es gab auch andere … die anders dachten …
Epilog Als Cloud schon nicht mehr damit rechnete, gewährte ihm der Perlenweiseste doch noch eine persönliche Audienz. Er sandte seinen Vertrauten Nepolayn, um den Kommandanten der RUBIKON zu sich in die Perle zu bitten – in das Allerheiligste der Gloriden sozusagen, die Amtshalle ihres geistigen Führers. »Fontarayn hat dir mein Anliegen, vorsprechen zu dürfen, übermittelt?«, fragte Cloud, nachdem er seine erste Beklemmung, die ihn in Tuvayns Gegenwart beschlich, abgelegt hatte. »Nein. Ich wollte einfach denjenigen kennen lernen, dem das Fahrzeug gehört, das es geschafft hat, in die Sphäre vorzudringen, in der unsere Welt ruht. Es ist das erste Mal, dass ein Fahrzeug, das offenkundig nicht aus der schöpferischen Allmacht der ERBAUER stammt, den hier herrschenden Kräften zu trotzen vermag, ohne in Stücke gerissen zu werden … Du bist doch kein ERBAUER?« Die Frage überrumpelte Cloud völlig. Dass Tuvayn offenbar die Möglichkeit in Betracht zog, die RUBIKON könnte mit den Konstrukteuren des Perlen-Netzwerks in Zusammenhang stehen, war befremdlich, zeigte aber zugleich, wie wenig die Gloriden tatsächlich über jene, deren Erbe sie verwalteten, wussten. »Nein, gewiss nicht. Ich bin ein Mensch und stamme aus der Galaxie, zu der Fontarayn vor …« Er räusperte sich angestrengt. »… rund zwei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung reiste, um die Gründe für die Abschottung der dortigen Perle zu ermitteln. Und dieses Schiff … nun, es wurde nicht von meinem Volk erbaut, sondern von einer Spezies, die damit vor einem übermächtigen Feind floh.« »Gute Wesen?« »Nein, ich glaube nicht, selbst wenn man unterschiedliche moralische Auffassungen haben kann … Aber die Foronen fallen durch jedes Raster, das etwas Positives filtern will.« »Foronen hießen die Erbauer deines Schiffes?«
»Ja.« »Die Art, wie du von ihnen sprichst, lässt darauf schließen, dass sie dir ihre Schöpfung nicht zum Geschenk machten.« »Das ist wahr.« Tuvayn schien es damit bewenden zu lassen. Cloud nutzte die Gelegenheit, um sein Anliegen vorzubringen. »Du bist über Fontarayns Absichten informiert, denke ich, ihr habt oft und lange konferiert.« »Wir waren einander so nah, wie Gloriden einander nur nahe kommen können.« Cloud zuckte die Achseln. »Wie dem auch sei … Er will die Treymor-Gefahr, die sich in meiner Heimatgalaxie ausbreitet, bei der Wurzel packen, indem er mit Hilfe der hiesigen Perle eine Zeitreise unternimmt, die es ermöglicht, den Moment abzupassen, da die Erbeutung von ERBAUER-Technologie durch die Treymor noch verhindert werden kann.« »So wurde es von Fontarayn dargestellt und vorgebracht. Ich war daraufhin einverstanden, dass ihr mit deinem Schiff die Portalschleuse passiert … Es war mehr oder weniger meine letzte offizielle Handlung, bevor ich mit den Meinen diese Welt verlasse …« Zum Ende hin wurde seine Stimme immer leiser, wie bei einem Menschen, der auf seine alten Tage noch einmal irgendwo sonst Fuß fassen und ein neues Leben beginnen soll. Fernab von allem Vertrauten. »Und genau das ist der Punkt. Ich … wir … die gesamte Besatzung meines Schiffes ist dagegen, dass Fontarayn den Zeitfluss manipuliert oder korrigiert, wie er es nennt. Denn es bringt unsere Existenz in Gefahr, die Existenz vieler Individuen … zählt das in euren Augen gar nichts?« »Das Individuum hat seinen Wert – weil es das Ganze ermöglicht, den Konsens.« Cloud spürte Ärger in sich aufwallen, trat näher auf den Perlenweisesten zu. Wenn er eins nicht wollte, waren es nebulöse, esoterisch verbrämte Parolen. »Ich hatte gehofft, dich als die höchste Autorität dieser CHARD-
HIN-Perle davon überzeugen zu können, dass das Risiko eines Zeiteingriffs höher als sein angestrebter Nutzen wäre.« »Das ist mir bewusst.« »Das ist dir bewusst?« »Natürlich. Nichts funktioniert ohne Risiko – aber wenn es um dein ganz persönliches Schicksal, deine Crew eingeschlossen, geht, kann ich dich beruhigen. Euch wird … euch kann nichts passieren.« »Und warum nicht?« »Weil es ein ehernes Gesetz ist, eine Naturkraft, wenn du so willst, dass diejenigen, die ein Paradoxon herbeiführen, eine Veränderung der Zukunft, nicht selbst davon ausgelöscht werden können.« Cloud starrte ihn nur an. »Du glaubst mir nicht?« »Es – fallt mir schwer …« »Ich habe keinen Grund, dich zu belügen. Es bedarf deiner Zusammenarbeit nicht, um Fontarayns Absichten umzusetzen. Ich könnte ihm jederzeit eines der hiesigen Fahrzeuge zur Verfügung stellen.« »Vielleicht brauchst du jedes verfügbare Schiff für die Perlen-Evakuierung …« Tuvayn schwieg. »Glaube es oder glaube es nicht. Ich spüre, dass du ein Geschöpf von großer Entschlusskraft bist. Du wirst selbst entscheiden, ob es nicht besser ist, dabei zu sein, wenn Radikales geschieht, statt nur seine eventuellen Auswirkungen beobachten zu können.« Zum ersten Mal hatte Cloud das Gefühl, dass der Perlenweiseste wirklich begriff, worum es ihm ging. Er nickte. »Das«, sagte er, »klingt wahrhaft weise.« Bald darauf verabschiedete er sich von Tuvayn und kehrte nachdenklich auf die RUBIKON zurück.
Diesmal war es Cloud, der Scobee in ihrem ganz persönlichen Erholungsraum aufsuchte. Überall war feiner Sand, und in der Ferne vermischte sich das Rauschen des imaginären Meeres mit dem Kreischen illusionärer
Möwen … All das verschwand, als er über die Schwelle trat, und sich der ganz in Gedanken versunkenen Frau näherte. Erst als er sanft seine Hände auf ihre Schultern legte, drehte sie sich zu ihm um und lächelte ihn müde an. »Du machst einen niedergeschlagenen Eindruck«, sagte Cloud, erwiderte dabei automatisch ihr Lächeln. »Wäre das ein Wunder?«, gab sie zurück, meinte dann jedoch: »Nein, mir geht es gut. Ich habe nur nachgedacht. Und du? Du wolltest doch zusammen mit Fontarayn und Sesha versuchen herauszufinden, wie es zu dieser katastrophal misslungenen Transition kommen konnte. Habt ihr etwas herausgefunden?« Cloud nickte und sank neben ihr in die Hocke. »Es zeichnen sich erste Hinweise ab. Eine Spur. Fontarayns Artgenosse Ovayran gab uns einen entscheidenden Hinweis.« Scobee schien aufzuhorchen. »Ovayran? Von was für einer Spur redest du?« »Sie führt zu jemandem, den wir nicht auf der Rechnung hatten – nicht in dieser Form jedenfalls. Er ist auch noch nicht lange Mitglied unserer Mannschaft.« »Wer?« »Prosper Mérimée.« Scobee fürchte leicht die Stirn. »Prosper soll etwas mit dem … Fehlsprung zu tun haben? Das kann ich mir nicht vorstellen. Er ist –« »Absolut loyal, ich weiß. Ich sagte ja auch nicht, dass er die Transition vorsätzlich sabotiert hat.« »Sondern?« »Wir haben es versäumt, uns rechtzeitig und umfassend mit seinem Sonderstatus vertraut zu machen. Sonst hätten wir vielleicht … ach was, nichts hätten wir anders gemacht! Die Umstände, die zur Transition führten, haben uns ja alle überrascht. Mich eingeschlossen!« »Geht es auch etwas präziser? Was hat Prosper getan, dass wir zweihundert Jahre durch die Zeit geschleudert wurden?«
»Getan? Nichts. Aber er hat etwas in sich. Etwas weitgehend Unerforschtes, das ihn schon sein ganzes Leben im Getto begleitete. Eine … Ovayran nennt es eine Anomalie. Eine Zeitanomalie. Offenbar kam Prosper irgendwann mit ihr in Berührung … und sie nistete sich in ihm ein. In seinem Kopf.« Scobees Blick wurde zusehends verwirrter. »Ich habe oft mit ihm gesprochen. Er ist ein völlig normaler –« »Die Anomalie zeigt sich im Alltag nicht. Zumindest nicht in einer Weise, die wir bislang wahrnahmen. Für Prosper selbst, das hat ein intensives Gespräch mit ihm ergeben, ist sie durchaus nichts Neues und ein Handicap, das ihn auch schon in kritische Situationen brachte.« »Aber noch in keine so kritische wie diese … habe ich Recht?« »Wie immer.« Sie schmunzelte. »Danke. Du lügst verdammt charmant. Weiter so.« Für einen Moment genoss er das Strahlen, das in ihre Augen zurückkehrte. »Jedenfalls muss es wohl so sein, dass die Energie der Megatransition, die uns bis nach Andromeda brachte, mit der Anomalie ins Gehege kam und letztlich auch den ungewollten Zeitsprung bewirkte.« Scobees Miene ließ erahnen, dass sie Clouds Worte eher als Spekulation denn als gesichertes Wissen betrachtete. Nach einer Weile des Schweigens fragte sie: »Du weißt, dass Ovayran die RUBIKON verlassen will?« Cloud nickte. Der Gloride hatte es ihm im Anschluss an die Versammlung eröffnet. »Diese Idee …«, setzte sie langsam an. »Sie ist nicht nur auf seinem Mist gewachsen.« »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.« Jetzt war Cloud erkennbar verwirrt. »Erschrick aber nicht! Ich war es, der ihn dazu … nun ja, man könnte sagen, angestiftet hat.« »Was soll das heißen?« Scobee schwieg sekundenlang, als würde sie ihre folgenden Worte
sorgsam wählen. »Zweihundert Jahre sind vergangen, seit wir …« Sie brach ab und setzte noch einmal neu an. »Nun, ich möchte wissen, was sich in all der Zeit in der Milchstraße verändert hat. Wie sich die Verhältnisse dort entwickelt haben. Gebieten noch immer die Master über die Erde? Oder mussten sie einer gänzlich anderen Herrschaftsstruktur weichen?« Cloud lauschte dem Nachhall ihrer Worte und war sich nicht ganz sicher, was sie ihm eigentlich sagen wollte. »Ich habe Ovayran den Vorschlag unterbreitet, mit ihm gemeinsam in die Milchstraße zurückzukehren, um die dortigen Verhältnisse auszuloten …« Das war ein Brocken, den Cloud erst einmal verdauen musste. Er lehnte sich zurück, und sein Blick wanderte ins Leere. »Scob, weißt du, welches –« »Ich weiß, welches Risiko ich damit eingehe, ja«, gab sie mit Nachdruck zurück. »Dann ist dir wahrscheinlich auch klar, dass wir uns möglicherweise niemals wiedersehen.« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, doch es wirkte gekünstelt. »Würdest du das denn als Verlust empfinden, Commander?« Clouds Gedanken wirbelten durcheinander. Er und Scobee waren in der langen Zeit, seit sie im 21. Jahrhundert zu ihrer gemeinsamen Marsmission aufgebrochen waren, gute Freunde geworden. Bisweilen hatte es sogar ausgesehen, als hätte daraus mehr werden können. Dieser Moment war verpasst, und er würde auch nicht wiederkommen. Das wussten beide. Dennoch ergriff ihn eine schwer zu beschreibende Wehmut, als er in ihre großen dunklen Augen sah und sich vorstellte, auf diesen Anblick in Zukunft verzichten zu müssen. »Ich hoffe, du weißt, was du tust«, setzte er an, korrigierte sich jedoch sofort. »Nein, Scob, ich bin mir sicher, dass du das weißt. Dazu kenne ich dich einfach zu gut. Wenn es dein Wunsch ist, dann respektiere ich ihn und wünsche dir und Ovayran viel Glück auf eurer Reise.«
»Dito«, sagte sie und erhob sich. »Und ihr … versprecht ihr mir, dass ihr dort in der Vergangenheit, wo immer das sein mag, nicht allzu viel kaputtmacht? Nichts, was … mich kaputtmachen könnte?« Er nickte, und vielleicht wurde ihm erst jetzt bewusst, worauf er sich eingelassen hatte. »Ich werde alles dafür tun, dass wir uns wiedersehen«, sagte er. Scobee sah ihn ein letztes Mal an, bevor sie ging, und begriff. Es war mehr als ein bloßes Versprechen. Es war ein Schwur. ENDE
Glossar 28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Scobee Weibliche in-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Jarvis Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«. Florenhüter Jelto Ein Klon mit »Kirlianhaut«, genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze – ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten – mentale Verbindung aufzunehmen. Jelto ist eine Art lebendiger »grüner John Cloud
Daumen«; er besitzt eine nicht mehr zu übertreffende Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütete eine gewaltige Parzelle Wald, der das »Getto« umgibt und – wie sich herausstellt – offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch aus der früheren Metrop Peking zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt … Mittlerweile ist Jelto vollwertiges Mitglied der RUBIKON-Crew, kümmert sich dort um den Hydroponischen Garten. Aylea Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsene 10-Jährige – die unversehens die Schattenseite der Gesellschaft kennen lernte und ins so genannte »Getto« abgeschoben wurde, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Dort traf sie auf John Cloud und gelangte auf Umwegen an Bord der RUBIKON, wo sie seither das Nesthäkchen ist. Besonders angefreundet hat sie sich dort mit Jelto. Fontarayn Ein geheimnisvolles Lichtwesen, das an Bord der RUBIKON gelangte, nachdem sein goldenes Kugelraumschiff von einer Flotte kleiner grüner Schiffe zerstört wurde. Fontarayn ist ein Gloride, und sein »Dank« für die Rettung besteht darin, die Kontrolle über das Raumschiff an sich zu reißen und die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des Super Black Holes im Milchstraßenzentrum zu lenken, wo ein technisches Wunder auf die Crew wartet: die CHARDHIN-Perle. Neuerdings haben die Menschen auch Kontakt zu einem zweiten Gloriden: Ovayran. Die Perle CHARDHIN So benannt vom Gloriden Fontarayn: Eine golden schimmernde, kugelförmige Sta-
Die Treymor
tion, die hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Super-Black-Holes verankert ist. Ihr Durchmesser beträgt gigantische hundert Kilometer. Fontarayns Volk, die Gloriden, sind quasi das »Wartungspersonal« dieser Perlen – von denen es unzählige in unzähligen Galaxien gibt. Der Clou jedoch ist, dass diese Stationen, deren Erbauer nicht einmal die Gloriden zu kennen scheinen, permanent existieren – vom Anbeginn der Zeiten bis … ans Ende aller Zeiten? Vieles, was diese Hinterlassenschaft eines uralten Volkes betrifft, ist noch ungeklärt. Sicher ist jedoch: Die Milchstraßen-Perle scheint aus dem Netz der übrigen Chardhin-Stationen herausgefallen zu sein. Und sie wurde von Unbekannten, die spezielle »Gloriden-Fallen« hinterließen, offenbar gezielt ausgeschlachtet und entvölkert. Ein Volk käferartiger Intelligenzen, die einst eine Gloriden-Expedition überwältigten, welche nach den rätselhaften ERBAUERN suchte, und sich deren Technologie zu eigen machte. Danach bauten die Treymor sich ein geheimes Reich in Zentrumsnähe der Milchstraße auf, das beständig im Expandieren begriffen ist. Um es vor der Außenwelt zu verbergen, bedienen die Treymor sich der speziellen Fähigkeiten der Saskanen, eines ebenfalls dort ansässigen Volkes, dem Boreguir angehörte. Die weitenteils latent vorhandene Fähigkeit der Saskanen, sich »vergessen« zu machen, wird – lange Zeit ohne deren Wissen – von den Treymor missbraucht, um eine Art Unsichtbarkeitsfeld um ihr Imperium zu legen. Nicht einmal hoch entwickelte Ortungssysteme können diesen Schleier durchdringen. Erst als die RUBIKON mit Hilfe der Gloriden auf ein anderes »Realitätslevel« gehievt wird,
fällt der Vorhang, und das Rochenschiff vermag im Reich der Treymor zu operieren.
Vorschau Insel im Nichts von Alfred Bekker Die Wege der Freunde trennen sich. Während John Cloud mit der RUBIKON durch die Portalschleuse der CHARDHIN-Perle in eine andere Epoche aufbrechen will, zieht es Scobee mit Macht zurück zur Milchstraße, um die dortigen Verhältnisse zu sondieren. Aber ebenso wie Andromeda hat sich auch die heimatliche Galaxis verändert. Und der Weg dorthin ist beileibe kein Katzensprung. Im Leerraum zwischen den Sterneninseln warten mannigfache Überraschungen. Und Gefahren. Und die schmerzliche Erkenntnis, dass es offenbar gar keinen Weg mehr zurück in die verlassene Heimat gibt. Das jedenfalls behaupten die geheimnisumwobenen Tormeister …