Maddrax – Band 97
Die Rückkehr
Jo Zybell
Maddrax Band 97
Die R¸ckkehr von Jo Zybell
Prolog Es bewegte sich. Die...
24 downloads
395 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Maddrax – Band 97
Die Rückkehr
Jo Zybell
Maddrax Band 97
Die R¸ckkehr von Jo Zybell
Prolog Es bewegte sich. Die Dampfschwaden dar¸ber zerfaserten, als wollten sie die Sicht freigeben. Eine Blase stieg aus der vor N‰sse gl‰nzenden Masse empor, noch eine, dann viele Blasen auf einmal. Wie eine Quelle tr‰ge kochenden Schleims. An den R‰ndern zog sich die brodelnde Fleischdecke zusammen, und f¸r kurze Zeit flackerte gr¸nes Leuchten an den Hˆhlenw‰nden. Wenn jetzt ein Mensch in der Grotte gewesen w‰re, h‰tte er mˆglicherweise erkannt, was da unter Dampfschwaden und schleimigem Fleisch keimte: Leben. Achtundvierzigfaches Leben; oder, aus einer anderen, zuk¸nftigen Perspektive betrachtet, millionenfacher Tod...
WAS BISHER GESCHAH Auf der Suche nach Antworten, was mit der Erde nach der Kometenkatastrophe geschehen ist, taucht die WeltratExpedition unter Lynne Crow und Prof. Dr. Smythe in den Kratersee hinab – und scheitert. Auch die Gruppe um Matthew Drax wagt den Vorstofl und birgt einen gr¸nen Kometenkristall. Der Hydrit Quart'ol, Vertreter einer unterseeischen Rasse, nimmt Kontakt mit dem Kristall auf, der in Wahrheit ein Bewusstseins-Speicher ist. Sie erfahren, dass das Volk der Daa'muren mit dem Kometen auf die Erde kam und seither bestrebt ist, durch fortw‰hrende Mutationen der Tier- und Pflanzenwelt eine Lebensform zu erschaffen, in die ihre Millionen kˆrperlose Geister schl¸pfen kˆnnen. Auch die Degeneration und Reorganisation der Menschheit diente diesem Zweck. Der Wirtskˆrper steht kurz vor der Vollendung – als Matt in einer Bruthˆhle eines der Eier zertritt. Die Auflerirdischen pr‰gen ihn als obersten Feind und hetzen ihm ihre Mutanten auf den Hals. Die Freunde fliehen in einem ARET-Panzer. Da der Barbar Pieroo an der Strahlenkrankheit leidet, fahren der Cyborg Aiko und Honeybutt mit ihm im Dingi des ARET voraus. In der Hafenstadt Nydda trennen sich die Freunde: Dave und Rulfan wollen auf einem Raddampfer nach Britana, fallen im Nordmeer Piraten in die H‰nde und werden an einen Sklavenh‰ndler verkauft. Die Dingi-Besatzung erreicht schliefllich London. Pieroo wird geheilt – und setzt sich nach Meeraka ab, um dort seine ebenfalls verstrahlte Familie zu retten, kommt aber zu sp‰t und bleibt gebrochen dort. Matt, seine Gef‰hrtin Axuula und Mr. Black, der Klon des letzten US-Pr‰sidenten, nehmen im ARET den Landweg. In Perm beginnen sie die russischen Bunker auf ein B¸ndnis gegen die Daa'muren einzuschwˆren. Dabei hilft ihnen ein Serum, das
nur aus Blacks Blut gewonnen werden kann und die Immunschw‰che der Technos ¸berwindet. In Moskau lebende Nosfera, mumienhafte Blutsauger, helfen Matt, die Mutantenarmee zu vernichten. Bei einer Prophezeiung haben sie ihn als Sohn der Finsternis erkannt. Weiter geht die Reise in Richtung Berlin, wo Matts fr¸heres Crewmitglied Jennifer Jensen als Kˆnigin residiert. Dass die Amazonen vor ¸ber drei Jahren Matt zum Sex mit Jenny zwangen, hatte Folgen: Er ist Vater! Doch Jenny und ihre Tochter wurden entf¸hrt. Nachdem Matthew als Kˆnig einspringen musste, stellt sich heraus, dass Jenny selbst die Entf¸hrung inszeniert hat, um eine Intrige bei Hofe aufzudecken. F¸r Aruula ist die Vertrautheit zwischen Matt und Jenny eine zunehmende Belastung. Sie l‰uft davon, und Matt rettet sie aus den H‰nden von Hamburger Technos, die bei eigenen Versuchen, ein Serum zu entwickeln, mutierte Vˆlker missbraucht haben. Das r‰cht sich nun – in einer Explosion des Bunkers, aus dem Matt und Aruula mit einem Flugpanzer fliehen kˆnnen. Mit ihm und Mr. Black gelangen sie nach London, wo man sie schon sehns¸chtig erwartet – vor allem Queen Victoria, die in Matt verliebt ist. Endlich erhalten die Communities das Serum und schlieflen Frieden mit den Barbarenst‰mmen.
Ein Mensch h‰tte etwas entdeckt, das er vermutlich als "Eier" bezeichnet h‰tte; riesenhafte, t¸rkisfarbene Eier. Und tats‰chlich war es schon vorgekommen, vor einigen Mondzyklen erst, dass Menschen die Grotte betreten und die schleimbedeckten und mit Adern und W¸lsten ¸berzogenen Gebilde als "Eier" bezeichnet hatten. Ein einziges Mal. Da waren sie erst k¸rbisgrofl gewesen, und neunundvierzigfaches Leben hatte noch unter der Fleischdecke und ¸ber dem gr¸nen Leuchten gekeimt. Ein Mensch hatte eines der Heranwachsenden in einem barbarischen Akt zertreten. Ein Mensch, der seitdem gnadenlos verfolgt wurde, und seine Begleiter dazu. Die reptilienhafte Kreatur, die – wie gerade jetzt – von Zeit zu Zeit aus den Tiefen des Grottensystems heraufkroch, verf¸gte ¸ber keinen Namen f¸r das Leben unter dem kochenden Schleim. Ihr kleines Hirn benˆtigte keine Sprache. Ihr gen¸gte es, die seltsamen Gebilde zu beschnuppern oder manchmal daran zu lecken. Sp‰ter w¸rde sie f¸r kurze Zeit besch¸tzen m¸ssen, was da herankeimte. Daf¸r war sie erschaffen worden. Und daf¸r, diese achtundvierzig Brutzellen einst produziert zu haben. Denn so bezeichneten ihre Schˆpfer das, was ein Mensch "Eier" genannt h‰tte: Brutzellen. Aber was bedeuten schon Namen angesichts des unaussprechlichen R‰tsels "Leben"? Und erst recht angesichts millionenfachen Todes? Und was bedeuten schon Formen? Das Ding zum Beispiel, das in diesem Augenblick die Felswand drauflen vor der Grotte hochkroch, w‰hrend drinnen die schleimige, grauweifle Fleischdecke Blasen warf und sich an den R‰ndern zusammenzog – sollte man es als mutierte Qualle bezeichnen? Oder als elastische Kugel aus gummiartigem Gewebe mit schlauchfˆrmigen Ausst¸lpungen? Oder als F¸hler einer gigantischen Schnecke?
Ann‰hernd formlos kroch es der Grotte entgegen, w‰hrend sich die Sonne am ˆstlichen Horizont von der dunstverh¸llten Fl‰che des Kratersees lˆste. Unter seiner Oberfl‰che, tief unten am Grund des Sees, der eigentlich ein Meer war, lebten die Wesen, denen die Bruteinheiten, die grauweifle Fleischmasse, das Muttertier und das Quallen-Ding ihre Existenz verdankten. Sogar das eher zuf‰llige gr¸ne Flackern auf den Hˆhlenw‰nden stammte von denselben Schˆpfern. Das Licht sogar mehr als alles andere denn in diesem gr¸nen Licht lebten sie, eingeschlossen in ein Meter grofle Kristalle. Einer jener Kristalle lag mitten zwischen den eifˆrmigen Gebilden, und wenn die Fleischdecke sich an den R‰ndern zusammenzog, drang sein Schein bis an die Hˆhlenw‰nde. Die Kreatur, die an den Brutzellen leckte und schnupperte, fuhr hoch und blickte hinter sich, als sich am Eingang etwas regte. Die Schuppen auf ihrem R¸ckgrad richteten sich auf, ihre schwarzen Lefzen gaben spitze Z‰hne frei. Das formlose Leben kroch da drauflen heran, wucherte vom Strand aus die Klippe zum Grotteneingang empor. Und dann streckte es etwas wie einen R¸ssel oder unglaublich flexible Tentakel in den Hˆhleneingang hinein. Drinnen sp¸rte die Kreatur die Gegenwart eines St‰rkeren und floh instinktiv in eine Seitenhˆhle. Sechs oder sieben Brutzellen am vorderen Rand blieben in diesen Momenten ohne Schutz und ohne die w‰rmende Decke der grauweiflen Masse zur¸ck. Die Ausst¸lpungen krochen ohne Eile dem grauweiflen H¸gel entgegen, dem brodelnden Fleischhaufen, den gl‰nzenden, t¸rkisfarbenen Brutzellen. Wie R¸ssel schoben sie sich an die vordersten heran, ber¸hrten sie, tasteten sie ab. Unter den Ber¸hrungen erbebten die Wucherungen auf den Eiern. An ihrer Spitze schoben sich Spalten wie d¸nne Lippen auseinander. Sanft schmiegten sich die Tentakel dar¸ber. Und
dann pulsierte etwas von dem Ding drauflen durch die R¸ssel hindurch; etwas Gelbes, Dickfl¸ssiges mit roten und braunen Schlieren darin. Der Brei sickerte durch die Zwischenr‰ume in die vordersten Eier hinein. Als der Vorgang, der an eine F¸tterung erinnerte und wohl auch genau dies war, endete, zogen sich die F¸hler der amorphen Lebensmasse wieder zur¸ck. Das Ding floss an der Klippe hinab und strebte dem Kratersee entgegen, aus dem es gekommen war. Sp‰ter, die Sonne ¸ber dem See n‰herte sich bereits dem Zenit, wagte es die reptilienhafte Kreatur, ihre tiefer gelegene Grotte wieder zu verlassen. Sie leckte die Spur aus dickfl¸ssigen Schleim auf, die zum Hˆhlenausgang f¸hrte. Ein Mensch h‰tte sich ¸bergeben, so intensiv roch der Brei nach Ammoniak und Stickstoff. Dem Reptil machte der Gestank nichts aus. Es leckte und schl¸rfte und schmatzte. Und beobachtete seine Brut. Instinktiv sp¸rte es, dass der Tag des Schl¸pfens nicht mehr fern war. * "London ist reichlich waldig, w¸rde ich sagen." Regen klatschte auf die Frontscheibe. Mr. Black steuerte den futuristischen Panzer durch die Uferbˆschung. Viel Platz hatte er nicht. Links sch¸ttelte sich der Wald im st¸rmischen Wind, rechts w‰lzte sich die Themse schmutzig braun dahin. Der Regen peitschte ihre Oberfl‰che auf. "Und ziemlich nass dazu, oder t‰usche ich mich?" "Schon mˆglich", brummte Matt. Viel mehr wusste er nicht zu entgegnen auf Blacks bissige Bemerkungen. Die Spitze darin war gegen ihn gerichtet. Denn schliefllich war er es gewesen, der nach der ‹berquerung des ƒrmelkanals im englischen Nebel so ungl¸cklich gelandet war, dass sich ein
Felsblock in den linken Heckantrieb des Taktischen Flugger‰ts gebohrt hatte. Seitdem war es vorbei mit der Fliegerei. Bei dem Versuch, mit nur drei Antigrav-Triebwerken abzuheben, h‰tten sie sich fast in den Boden geschraubt. Also mussten sie sich mit den weit weniger komfortablen Kettenr‰dern begn¸gen, die eigentlich nur als Notbehelf gedacht waren. Nun, es gab Schlimmeres. Den harten Sattel eines Frekkeuschers bei diesem Mistwetter, zum Beispiel. Matt safl im Navigatorensessel des TFG und beobachtete das Headup-Display und den Uferwald. Hier und da erkannte er Ruinen zwischen den B‰umen – Mauerreste zwischen B¸schen und Baumst‰mmen, von Dornenhecken ¸berwucherte Schutth¸gel, von Gestr¸pp ausgef¸llte Hochhausskelette und Fabrikanlagen. Er versuchte Anhaltspunkte daf¸r zu finden, wie weit sie noch vom Zentrum – vom ehemaligen Zentrum – entfernt waren. Noch viel zu weit, wie es aussah. "Eine Br¸cke!" Aruula deutete auf das Display. Dort visualisierte der Bordcomputer jetzt die Umrisse einer Br¸ckenruine, deren zertr¸mmerte Formen er aus den Daten des Bordradars und der Ultraschallortung errechnet hatte. Kurz darauf sahen sie hinter dem Regenschleier die Konturen eines Br¸ckenpfeilers. Mitten im Fluss ragte er aus den Wellen. Schlingpflanzen schl‰ngelten sich daran empor, und auf seiner einsamen Spitze riss der Sturm die Krone einer Trauerweide hin und her. Ein zweiter Pfeiler schob sich in ihr Blickfeld, ‰hnlich begr¸nt wie der erste. ‹berreste einer Strafle hingen an ihm in die Themse hinein. Gestr¸pp wucherte auf Stahltr‰gern und zerbrˆselten Betonplatten. Zum Ufer hin erstreckte sich die ehemalige Fahrbahn vom Pfeiler aus ohne nennenswerte Br¸che in den Wald hinein. Oder pr‰ziser gesagt: Der Wald hatte sich ¸ber die Fahrbahn zum
ufernahen Pfeiler hin ausbreiten kˆnnen, ohne dass nennenswerte L¸cken und Br¸che auf dem ersten Br¸ckenabschnitt ihn hatten aufhalten kˆnnen. "Sieh an, sieh an", sagte Black. "Br¸cken haben sie auch hier in London." Die ganze Zeit schon schlug er diesen spˆttischen Ton an. Seit sie mit dem deutschen Flugtank durch die Uferbˆschung pfl¸gten. Vermutlich war es die Diskrepanz zwischen der Realit‰t und dem, was Matthew Drax ihm von der Community London vorgeschw‰rmt hatte, was Black zu diesen Bemerkungen veranlasste. Der Commander wunderte sich selbst ¸ber die Euphorie, mit der er dem Wiedersehen mit den englischen Technos entgegen fieberte. "Ob ich Ihre schweigsamen Freunde wohl noch kennen lerne, bevor ihr mich in diesem idyllischen Wald begraben m¸sst?", nˆrgelte Black. Mit einer Kopfbewegung deutete auf die regen- und sturmgepeitschte gr¸ne Wand links. "In diesem Regenwald." Matt beschloss, sich nicht weiter um Blacks schlechte Laune zu k¸mmern. Zum sechsten Mal setzte er ein Funksignal ab. "Sie reden Taratzenscheifle, Black", fauchte stattdessen Aruula den Klon des letzten US-Pr‰sidenten an. "Dass der Panzer nicht mehr fliegt, war ein Unfall, der Ihnen genauso h‰tte passieren kˆnnen. Und dass wir nicht mit den Bunkermenschen reden kˆnnen, ist nicht Maddrax' Schuld. Schon mal was von CF-Strahlung gehˆrt?" Matt grinste in sich hinein. Wie sie ihn verteidigte – obwohl sie die CF-Strahlung, die von den weltweit verstreuten Kristallen ausging und eine Funkverbindung ¸ber weite Strecken unmˆglich machte, bis heute nicht ganz verstanden hatte. Seit Stunden versuchte Matt vergeblich Kontakt zur Community London herzustellen. Der Regen wurde immer heftiger, und die Kettenr‰der des TFG hatten zunehmend
Probleme mit den Bodenverh‰ltnissen. Im gleichen Mafle war auch Blacks Missmut angewachsen. Doch weil der Rebellenf¸hrer stets um korrekte Umgangsformen bem¸ht war, liefl er seinen ƒrger nicht in einer kurzen, aber heftigen Gef¸hlsaufwallung heraus, sondern kaschierte ihn mit Sarkasmus. Er sollte dringend mal den Bunkerpsychologen aufsuchen, dachte Matt, bevor er noch explodiert. Andererseits – sehr lustig war es vermutlich nicht, eine drei Meter durchmessende und gut f¸nfzehn Meter lange Metallrˆhre auf Kettenschuhen ¸ber eine Uferbˆschung zu balancieren. Selbst Matthew, der sich um Navigation und Funk k¸mmerte und dem Running Man die manuelle Steuerung ¸berlassen hatte, wischte sich von Zeit zu Zeit den Schweifl von der Stirn. Sie konnten sich nicht darauf verlassen, auf diese Weise das Zentrum der Ruinenstadt zu erreichen: Zugewachsene Schutth¸gel erhoben sich, wohin man blickte, Mauerreste ragten unverhofft auf, und ¸berall wucherte Wald. Straflen? Fehlanzeige. Und Br¸cken gar? Ein paar ‹berreste, die wie zusammengebrochene Blumenb‰nke im Fluss verfielen. Irgendwann aber mussten sie die Themse ¸berqueren, denn die relativ gut erhaltene Ruine der Houses of Parliament befand sich am gegen¸berliegenden Themseufer. Und unter den Houses of Parliament lag die unterirdische Stadt der Community London. Vergeblich hatte Matt versucht, sich an den Zustand der Westminster Bridge zu erinnern. Sie f¸hrte direkt neben den Parlamentsgeb‰uden ¸ber den Strom. Aber selbst wenn sie befahrbar sein sollte – der fl¸gellahme deutsche Panzer wog gut zwanzig Tonnen. Vermutlich w¸rden sie aussteigen und zu Fufl gehen m¸ssen... Der Commander setzte den siebten Funkspruch ab. Die Br¸ckenruine r¸ckte n‰her. In dem Vorhang aus Gestr¸pp zwischen Waldrand und erstem Br¸ckenpfeiler klaffte
ein ausgefranstes Loch, beunruhigend nahe am Ufer. Matt beobachtete das Headup-Display. Er tippte einen Befehl in den Bordrechner. In Nullkommanix berechnete ihm der elektronische Schlaumeier die Topographie der Uferbˆschung in Br¸ckenn‰he. Das Ergebnis gefiel dem Mann aus der Vergangenheit. "Sie kˆnnen die L¸cke zwischen den Schlingpflanzen nehmen", sagte er an Black gewandt. "An dieser Stelle trennen uns noch gute vier Meter vom Fluss. Das reicht." "Ihr Wort in... wie hiefl er noch gleich?... in Wudans Ohr." Vor dem Frontfenster schien der gr¸ne Vorhang zwischen ehemaliger Fahrbahn, Wald und Br¸ckenpfeiler in der Themse zum Greifen nahe. Vor der stumpfen Spitze des rˆhrenfˆrmigen Panzers g‰hnte die Durchfahrt. An ihrem Ausgang verschwammen Wald und Bˆschung hinter Regenschleiern. Aruulas Blick flog vom Fenster zum Headup-Display und zur¸ck: Sie waren von Gestr¸pp und Ge‰st umgeben, und es war jetzt relativ dunkel vor der Frontscheibe. Auf einem der B‰ume, die sie gleich passieren w¸rden, hatte sie dennoch eine menschliche Gestalt erkannt. "Da ist jemand!" Und schon glitt der Baum vorbei. "Wo?" Black schaltete die Auflenscheinwerfer ein. Das grelle Licht riss Gr¸n in allen Schattierungen aus dem Halbdunkeln – und wurde bugw‰rts von einer feuchten erdfarbenen Fl‰che reflektiert. Und jetzt sahen sie es alle drei: Zwei M‰nner in brauner Kleidung huschten am Rande des Morasts durch das Unterholz. Plˆtzlich neigte sich der Rumpf des Panzers nach vorn. Die Gurte schnitten ihnen in B‰uche und Achseln. Blacks Finger flogen ¸ber die Instrumentenkonsole; er schaltete den R¸ckw‰rtsgang ein. Der Motor heulte auf. Schlammfont‰nen schossen rechts und links ins Gestr¸pp. Doch das Fahrzeug blieb an Ort und Stelle, sackte langsam nach unten weg und versank im Morastloch. Eine Schlammdecke schloss sich ¸ber
dem Bug, kroch bis an den unteren Rand der Frontkuppel. Es kam nicht oft vor, dass Mr. Black seine "gute Kinderstube" vergafl. Jetzt war es soweit. "Shit! Shit! Shit!" Seine F‰uste bearbeiteten die Armlehne des Pilotensessels. "Was f¸r einen Mist haben Sie da ausgerechnet, Drax?!" Seine Augen verspr¸hten Zorn. "Der Bordcomputer, nicht ich." Matt starrte in den Schlamm vor der Sichtkuppel. Drauflen war es wieder d¸ster geworden, weil die vorderen Auflenscheinwerfer l‰ngst den Grund des Schlammlochs ausleuchteten. Bedrohlich langsam kroch die braune Masse die Frontkuppel hinauf. "Eine Falle!", rief Aruula. "Seht euch die Bruchstellen an den ƒsten an, frisch geschlagen!" Jetzt sahen es auch die M‰nner: Im Gestr¸pp, das sich von oben und von den Seiten an die Frontkuppel schmiegte, erkannten sie deutlich die Schnittstellen im Ge‰st. Austretendes Harz gl‰nzte im Licht, das aus der Kuppel fiel. "Jemand hat die Schneise frisch geschlagen", murmelte Matt. "Jemand, der unseren Kurs schon seit l‰ngerem beobachtet." Wenigstens hˆrte die Schlammschicht endlich auf, weiter die Frontkuppel hinauf zu kriechen. Der fl¸gellahme Panzer sank nicht noch tiefer ein. "Sie wussten, dass wir hier vorbeikommen m¸ssen." Mr. Black schnallte sich los. "Und sie m¸ssen unglaublich schnell gearbeitet haben." Alles Missmutige war von ihm abgefallen. So viel zur kurzen, heftigen Gef¸hlsaufwallung, dachte Matt. Black b¸ckte sich nach seinem Waffengurt, zog ihn unter dem Sitz hervor und schnallte ihn um. "Oder es sind sehr viele", erg‰nzte Aruula. "Steigen wir aus." Matts Finger flogen ¸ber die Tastatur. Er stellte das Funkger‰t auf Automatik. Alle sechzig Sekunden w¸rde es von nun an einen Notruf absetzen. Danach schnallte auch er sich selbst los. "Schauen wir uns diese Figuren mal an!"
Metallene Schl‰ge drˆhnten auf einmal am Heck. Alle drei erstarrten sie und lauschten. Jemand schlug mit einer Axt oder einem Schwert gegen den Panzerrumpf. Wieder und wieder tˆnte es wie Glockenschlag. "Das m¸ssen Wahnsinnige sein", fl¸sterte Black. "Einen Hightech-Panzer mit Keulen anzugreifen..." "Rechnen wir vorsichtshalber mit etwas mehr als nur mit Keulen." Matt kletterte aus dem Cockpit, Aruula und Black folgten ihm. Je n‰her sie dem seitlichen Hauptschott kamen, desto lauter drˆhnten die Schl‰ge. Auch Stimmen hˆrte man. Es klang, als h‰tte sich eine Horde Vandalen dort drauflen zusammen gerottet. "Moment." Black kehrte um und nahm den UniversalTranslator an sich. Matt und Aruula sprachen das Idiom der Barbaren; er selbst musste sich mit dem praktischen kleinen ‹bersetzer behelfen, um die Sprache des Feindes zu verstehen. Sie erreichten das Hauptschott. Aruula zog ihr Schwert, Matt z¸ckte seinen Driller, Mr. Black die Laserpistole. Dann ˆffnete Matthew den kleinen Armaturenkasten seitlich des Schotts und dr¸ckte den entscheidenden Knopf. Breitbeinig standen sie vor der sich auseinander schiebenden Ausstiegsluke. Die Schl‰ge von auflen hˆrten von einer Sekunde zur anderen auf. Die Stimmen wurden erst lauter – sie brachen in eine Art Jubel aus –, dann verstummten sie; ein Augenblick, dessen Spannung Matts Kehle zuschn¸rte. Beide Lukenfl¸gel versanken langsam in der Metallh¸lle des Panzers – und gaben eine in braunes Wildleder geh¸llte Gestalt nach der anderen frei, ein b‰rtiges Gesicht nach dem anderen, und die Spiefle und Schwerter und ƒxte in den H‰nden der Gesellen dort drauflen. Eine Rotte wilder Ruinenkrieger vor dichtem Unterholz. Matt und Aruula erkannten sofort, mit wem sie es zu tun hatten: mit Lords. Genauer: mit mindestens zwanzig Lords. "Hey, iah da!", br¸llte einer aus der vorderen Reihe, ein
grofler st‰mmiger Bursche mit roten Zˆpfen und verfilztem roten Bart. "Was machta inne Wald und anne Fluss hia! Isse nich eua Wald, sinne de Wald unne Fluss vonne Gwanload, yea?!" Die anderen sch¸ttelten F‰uste, Beile und Schwerter und stimmten ein Wutgeschrei an. Mit offenem Mund starrte Black zuerst den keifenden Waldschrat und dann Matt an. Der Translator hatte es nicht geschafft, den grauenhaften Slang zu ¸bersetzen, oder er arbeitete noch daran. "Sind das Ihre Londoner Freunde?" Gelinder Spott stand in seiner Miene. "Reden Sie nicht solchen Unsinn, Black!", parierte Matt. "Das sind die Lords, die hiesigen Barbaren. – Nehmen Sie um Himmels willen das provozierende Grinsen aus Ihrem Gesicht! Der da hat sich eben beschwert, dass wir im Wald und am Fluss seines Grandlords spazieren fahren." "Aha!" Black grinste weiter. Aber keiner der Lords f¸hlte sich davon bedroht, denn keiner der Lords beachtete Black noch. Und Matt auch nicht. Alle starrten einzig und allein auf Aruula, und die Augen in ihren verwitterten, gelblichen Gesichtern leuchteten plˆtzlich. Aruula spannte die Muskeln an unter den vielen l¸sternen M‰nnerblicken; sie hob das Schwert und zischte einen Fluch in der Sprache der Wandernden Vˆlker. "Was ne lekka woom...!" Die Stimme des rothaarigen Waldschrats klang auf einmal sanft und heiser. Wieder Blacks fragender Blick von der Seite. "Woom bedeutet Frau", kl‰rte Matt ihn auf. "Er findet Aruula attraktiv." "Soso", sagte Black. "Na, kein Wunder. Trotzdem sollten wir -" "Was f¸r eine schmackhafte Frau", unterbrach ihn der Translator, der endlich Zugang zu der primitiven Sprache gefunden hatte. "Willse nich zu uns auskomme?", fragte der Rothaarige
derweil Aruula. Matt schn¸ffelte – Alkoholdunst ging von der Rotte aus. Ihr Anf¸hrer streckte seinen dreckigen Arm nach Aruula aus. "Oda sollema zu dia einkomme?" Aruula gab ein gurgelndes, f¸r eine Frau an sich untypisches und auch unschˆnes Ger‰usch von sich, spitzte die Lippen und spuckte ihm auf den Lederharnisch. Der wilde Krieger blickte an sich hinunter – und stimmte Wutgeheul an. Sofort br¸llte die ganze Horde, dr‰ngte zum Schott, schwang Beile und Schwerter. Black gab einen Warnschuss ab. Der Laserstrahl fegte ¸ber die Kˆpfe der Menge in den Wald, verursachte dort eine Dampfwolke und einen Lichtblitz. Die Lords br¸llten noch lauter, und ein Speer zischte knapp ¸ber Black in den Panzer hinein. Matt richtete den Driller auf die Horde. Die M‰nner spritzten auseinander. Das Explosivgeschoss explodierte im Unterholz hinter ihnen, die Druckwelle fegte ein paar der Krieger von den Beinen. Vier oder f¸nf Pfeile sirrten dem Trio im offenen Panzerschott entgegen. Zwei prallten am Rumpf ab, einer fuhr Black in die Brust. Er schrie, ging in die Knie, dr¸ckte ab. Auch Matthew Drax schoss jetzt gezielt in die kriegerische Rotte, und Aruulas Schwert fuhr auf zwei Lords herab, die Anstalten machten, in den Panzer zu klettern. Die Situation war aufler Kontrolle. * Der Ostwind blies von Stunde zu Stunde st‰rker. Die anschwellenden Flugger‰usche verrieten es ihm. Halb bet‰ubt war er schon vom Schwirren, Rasseln und Pfeifen der Andronenfl¸gel. Wenn er sich hin und wieder an dem hohen Lederb¸gel zwischen seinen Beinen festhielt, um auf dem Sattel in die Knie zu gehen – nur unter Schmerzen gelang ihm das –, konnte er
auf das Laubdach der W‰lder in Flugrichtung sehen. Kr‰ftige Bˆen sch¸ttelten die Baumkronen durch. Rechts und links verdeckten die rasselnden, schwirrenden Doppelfl¸gel die Sicht und vorn der Vorderkˆrper mit Kopf und F¸hler des schwarzen Fluginsekts; der Sattel war in der Kerbe zwischen Hinterleib und Vorderkˆrper befestigt. Der Schwertkrieger raffte den weiten Mantel um seinen ausgemergelten Kˆrper zusammen. Bald schwitzte er. Nicht nur st‰rker wurde der Wind, auch w‰rmer. Als er feucht zu riechen begann, richtete Bulba'han sich immer h‰ufiger im Sattel auf, um ¸ber den dicht behaarten Chitinpanzer in Richtung des s¸dlichen Horizonts zu sp‰hen. Zerw¸hltes, schwankendes Laubdach, sonst nichts. Er stˆhnte jedes Mal, wenn er sich auf den Knien abst¸tzte oder sich wieder niederliefl. Manchmal, wenn der linke Beinstumpf unter dem Mantel die Sitzfl‰che oder den harten Ansatz des Lederb¸gels ber¸hrte, schrie er auf. Und trotzdem richtete er sich wieder und wieder auf. Sehnsucht trieb ihn nach Osten, und leidenschaftlicher denn je hatte sie ihn ergriffen, seit er die N‰he des Wassers sp¸rte. Sehnsucht nach der Heimat, und Sehnsucht nach dem geliebten Menschen, der dort auf ihn wartete. Sehnsucht nach Tata'ya. Alle waren sie tot – Birgel'wost, Taqua'floydan, sogar Mur'gash, der Freund der Macht im See. Nur er allein war davongekommen. Bulba'han wusste, dass auch er w¸rde sterben m¸ssen. Hatte er doch die Schlacht in den Ruinen der groflen Stadt verloren. Hatte er doch das gesamte Mutantenheer verloren. Und vor allem: Hatte er doch Mefju'drex entkommen lassen. Ja, Mefju'drex lebte noch. W‰re wenigstens er tot, Todesrochen w¸rden Bulba'han jetzt eskortieren. Die Macht im See h‰tte ihn als Sieger begr¸flt – wenn es ihm nur gelungen w‰re, Mefju'drex zu tˆten...
Unwillk¸rlich zog er die Beine an, schrie auf, weil der Stumpf ¸ber den Sattelrand scheuerte, umklammerte den B¸gel und richtete sich auf. Diesmal sp‰hte er nicht zum Horizont, diesmal suchten seine Augen den Himmel ab. Der Ostwind jagte bizarre Wolkengebilde ¸ber ihn hinweg. Ein Vogelschwarm – Wasservˆgel! Der See war nahe! – und hier und da ein einzelner Bonta, doch nirgends die gef¸rchteten Umrisse eines Rochenschwarms. Bulba'han atmete auf. Die Lesh'iye f¸rchtete er am meisten; von ihnen wollte er auf keinen Fall begr¸flt werden, auch wenn er einverstanden war mit dem nahen Tod. Er liefl sich wieder sinken. Einmal noch die Geliebte sehen, sie in den Armen halten, ihre Lippen und ihre Haut sp¸ren, einmal noch Tata'yas Duft, L‰cheln und Hitze aufsaugen – bis Blut und Herz voll davon waren. Und danach... Sollten sie danach doch mit ihm machen, was sie wollten! Er w¸rde k‰mpfen und sterben und vorbei. Bulba'han stˆhnte auf. Diesmal war der Stumpf gegen das Schwert gestoflen. Er hatte die grofle Klinge knapp unter dem Sattel am Chitinpanzer der Flugandrone befestigt. Neben der Kr¸cke, die er sich im Gebirge aus einem geraden Ast zurecht gehauen hatte. Ja, Tata'ya. W‰re ihr Bild nicht wieder lebendig geworden in seiner Brust, er w‰re l‰ngst tot. Dem Wundfieber erlegen, oder dem Gift seines verfaulenden Beines. Doch schon in der groflen Ruinenstadt flammte es wieder auf, ihr Bild. Nachdem die Feuerkugel sein Heer gefressen, der Feind die kleine Schar der Entronnenen zusammengehauen und jener Pfeil ihn getroffen hatte. Genau in diesem Moment war es wieder gegenw‰rtig. Vergessen war der Hass auf Mefju'drex – Bulba'han kannte ihn nicht einmal von Angesicht zu Angesicht –, unwirklich die dr‰ngende Macht in seiner Brust, in weite Ferne ger¸ckt das unerkl‰rliche Raunen und Fl¸stern in seinem Sch‰del. Nur
manchmal noch erreichte es ihn wirklich seitdem und verwirrte seinen Verstand. Es musste mit dem Pfeil zusammenh‰ngen, ganz gewiss. Es konnte nicht sein, dass die Macht im See die Kontrolle ¸ber das Heer auf dem Hˆhepunkt der Schlacht aufgegeben hatte. Bulba'han raffte abermals seinen vom Flugwind aufgebl‰hten Mantel zusammen. Der Pfeil. Er tastete nach seiner Stirn. St‰ndig tat er das, wohl hundert Mal am Tag. Sie war noch immer geschwollen rund um die Eintrittsstelle. Den Schmerz allerdings ertrug Bulba'han inzwischen, manchmal sp¸rte er ihn kaum. Das Holz des Pfeilschaftes f¸hlte sich feucht an, die Bruchstelle spitz und zersplittert. Bulba'han hatte geschrien und gegen die Ohnmacht angek‰mpft, als er ihn vor vielen Wochen zwei Finger breit ¸ber der metallenen Spitze abgebrochen hatte. Auch die Metallspitze selbst konnte er f¸hlen. Jedenfalls den unteren, breiteren Teil davon – kaum die Breite seines kleinen Fingers weit ragte sie aus seiner Stirn. Der Hauptteil steckte im Stirnknochen, und die ‰uflerste Spitze vermutlich im Stirnhirn. Er zog den Kapuzensaum ¸ber die Pfeilspitze. Wie seltsam – ein Pfeil trifft ihn in den Sch‰del, und der Nebel lichtet sich. Plˆtzlich war sie wieder pr‰sent gewesen, die Heimat, der Clan, die Frau, die er liebte und f¸r die er auf Bluterde getˆtet hatte. Bulba'han hatte oft dar¸ber nachgegr¸belt in den letzten Wochen. Seine Intuition sagte ihm, dass es mit dem Pfeil in der Stirn zusammenh‰ngen musste; das lebendige Bild der Geliebten, die Erinnerung an den Geruch von Fisch und Rauch an den abendlichen Feuern der Ratsversammlungen, die wieder erwachte Sehnsucht und Liebe nach dem Clan und der Geliebten, und der verblasste Einfluss der Stimmen der Macht im See. Sicher war er sich nicht, und etwas in Bulba'han wollte es auch gar nicht so genau wissen. Denn manchmal, wenn er
dar¸ber nachdachte, gewannen die Stimmen wieder Macht und befahlen ihm umzukehren, um ihn zu suchen, den Feind der neuen Schˆpfung. Der Hass auf Mefju'drex loderte in solchen Momenten wieder auf, und das Gef¸hl, der Macht im See etwas schuldig zu sein. Er f¸rchtete beides: den Hass auf den h‰sslichen gelbhaarigen Mann und das qu‰lende Gef¸hl der Schuld. Plˆtzlich sackte die Androne ab. Bulba'han stieg der Magen bis fast in die Kehle hinauf. Der Wind riss ihm die Kapuze vom eckigen, grauh‰utigen Sch‰del. Sein Beinstumpf knallte gegen das Schwert unter dem Sattelriemen. Bulba'han warf den Kopf in den Nacken, schrie und klammerte sich am vorderen Sattelb¸gel fest. Ein Luftloch? Er biss die Z‰hne zusammen, versuchte ¸ber die schwarze, haarige Wˆlbung des Insektenleibes in Flugrichtung zu sp‰hen. Die schwankenden Baumkronen erschienen ihm jetzt n‰her als zuvor. Fast glaubte er einzelne ƒste erkennen zu kˆnnen. Und dort vorn, die dunkle Linie in all dem wogenden Gr¸n – war das nicht ein Flusslauf? Der Stumpf klopfte vor Schmerz. Dennoch zog Bulba'han sich am Halteb¸gel hoch. Augenblicklich vergafl er die Qual: Ein verwaschener grauer Streifen am Horizont trennte Wald und Himmel; die Dunstschicht ¸ber dem warmen See. Was sonst sollte das sein? Bulba'han schluckte. Seine Lippen wurden zu einem schmalen grauen Strich. Niemand beobachtete ihn, und so liefl er es zu, dass ihm das Wasser in die Augen stieg. In Gegenwart anderer zu weinen verbot das eherne Gesetz der Vorv‰ter. Der See, die Heimat, Tata'ya, der Clan. Dort vorn unter dem Dunst warteten sie auf ihn. Er liefl sich nieder, lˆste die Z¸gel vom Lederb¸gel, steuerte das Fluginsekt ein St¸ck tiefer den Laubkronen entgegen. Der heifle Schmerz in seinem Stumpf war Bulba'hans t‰glicher Begleiter, seit er sich von seinem linken
Unterschenkel getrennt hatte. Seltsamerweise klopfte er nicht direkt unter dem Knie, also an der Stelle, wo der verfaulende Unterschenkel abgetrennt worden war, sondern weiter unten, in der Wade, die l‰ngst irgendein Aasfresser verdaut hatte. Es war ein Albtraum gewesen. Das Randgebiet der groflen Ruinenstadt im Westen schien in Glut und Asche zusammenzufallen, als damals die unheimliche, lautlose Feuerkugel ganz allm‰hlich wieder erlosch. Nur Minuten zuvor war er, Bulba'han, von dem Pfeil getroffen worden und nicht schnell genug gewesen, dem Ruf zu folgen. So entging er – wie nur wenige andere auch – dem Verh‰ngnis. Im Angesicht der Niederlage hatte er mit letzter Kraft noch einige Stadtbewohner niedergemetzelt und schliefllich die Flugandrone entdeckt, sich auf den haarigen Leib der Riesenameise gezogen und war entkommen. W‰hrend unter ihm die k¸mmerlichen Reste des Heeres vernichtet wurden. Wieder sackte die Androne ab. Bulba'han schreckte hoch; die Bilder der Erinnerung zerstoben. Das Fluginsekt schlingerte auf einmal. Was war geschehen? Am Lederb¸gel zog er sich hoch. Und da: der See! Keine f¸nf Speerw¸rfe entfernt glitzerte seine Oberfl‰che blaugrau unter Dunstschwaden in der Nachmittagssonne. Bulba'han biss sich auf die Unterlippe. Dann mischte sich das Ger‰usch gegen Chitin peitschenden Laubes in das Fl¸gelrauschen. Die Hitze j‰her Freude in Bulba'hans Brust verwandelte sich augenblicklich in Schrecken: Er sah, wie sich der Kopf des Fluginsekts in eine Baumkrone bohrte... Laub raschelte, ƒste brachen, Bulba'han umklammerte den Halteb¸gel mit beiden Armen und zog den Sch‰del ein. Das Rasseln der Fl¸gel verstummte, der gewaltige Insektenkˆrper neigte sich nach links, kippte nach rechts, brach schliefllich durch Birkenkronen in den Saal des Waldes ein und bohrte sich
ins Unterholz. Zweige schlugen Bulba'han ins Gesicht. Etwas prallte so hart gegen seinen Beinstumpf, dass er br¸llte und keinen anderen Schmerz mehr wahrnahm. Aus seinem Kopf schoss ein dunkler Nebel, und der Wald f‰rbte sich schwarz... Wenige Augenblicke nur konnten vergangen sein, als er wieder zu sich kam, denn unter ihm wand sich das Insekt. Sein rechtes Fl¸gelpaar zuckte und schlug in dorniges Gestr¸pp. Bulba'han liefl sich aus dem Sattel gleiten. Er fiel in Farn und Moos. Irgendwo im Wald, gar nicht weit entfernt, brachen ƒste. Und fl¸sterte da nicht jemand? Der Instinkt eines Schwertkriegers zwang ihn, sich aufzurichten und die Scheide aus den Riemen des Sattelzeugs zu lˆsen. Er warf sie ¸ber seinen R¸cken, zog das Schwert, rammte es in den weichen Waldboden. Blitzschnell ging das. Und als er dann seine Kr¸cke vom bebenden Leib der Androne lˆste, sah er es. Ein Speer! Er ragte schr‰g aus dem Brustteil des Insekts, sein Schaft bohrte sich in den Waldboden, und mit jedem Zucken des Andronenleibes drang er tiefer in das Tier ein. Auf die Kr¸cke gest¸tzt, ging Bulba'han ins Knie und betrachtete den Hinterleib des Insekts. Vier Pfeilsch‰fte z‰hlte er. Ein Angriff! Kein Zweifel, ein Angriff! Bulba'han richtete sich auf. Sein Sch‰del flog hin und her, wie der Kopf eines sp‰henden Raubvogels. Er klemmte die Kr¸cke unter die linke Achsel, umklammerte das Schwert mit der Rechten. Schon wieder k‰mpfen, schon wieder... "F¸r dich, Tata'ya", fl¸sterte er. "F¸r unser letztes Wiedersehen..." Er hinkte Richtung S¸den in den Wald hinein. Er musste mˆglichst viele Schritte zwischen sich und das Fluginsekt bringen. Vielleicht stieflen sie dann nicht sofort auf seine
Spur... * "London ist ein Minenfeld in diesen Tagen, Eure Majest‰t. Muss ich Euch wirklich darauf hinweisen?" Jefferson Winter spielte auf die mit ungewˆhnlicher Heftigkeit tobenden Machtk‰mpfe unter den Socks an. Er machte ein besorgtes Gesicht. "Niemals d¸rft Ihr mit dem Stofltrupp nach oben gehen, unter gar keinen Umst‰nden!" "Zwei Dinge, Sir Jefferson. Erstens: Ich bin die Queen und tue, was ich will. Zweitens: Wir haben Commander Drax als Botschafter nach Nordamerika geschickt. Nun kehrt er zur¸ck. Noch dazu mit einem Know-How, das unsere Zukunft revolutionieren wird, wie wir bereits von Mr. Aiko und Miss Honeybutt Hardy wissen. Und Sie wollen ihn tats‰chlich durch einen einfachen Offizier begr¸flen lassen? Das w‰re ein diplomatischer Fauxpas ersten Ranges." Sie standen unter der Kuppel der kˆniglichen Privatgem‰cher inmitten einer alpinen Schneelandschaft: Queen Victoria, ihr Berater und die Prime. Auf einem der Schneeh‰nge, in einem Rechteck aus rotem Licht, wartete Matthew Drax. Er trug eine nagelneue Galauniform der ehemaligen US Air Force. Nicht der echte Matt Drax, sondern der persˆnliche E-Butler der Queen. So wie auch die ganze Landschaftsdarstellung lediglich eine Projektion war. Es hatte heftige Kontroversen gegeben, als sie ihm das Gesicht des Commanders verliehen hatte. "Charles Draken Yoshiro ist kein einfacher Offizier", bemerkte die Prime in resignierendem Tonfall. "Er ist General, sogar Stabschef der Community-Force." Josephine Warrington war es gewohnt, dass die Queen keine Gelegenheit f¸r einen Seitenhieb auf den ungeliebten General ausliefl; und vor allem wusste sie, dass die Queen genau das zu tun pflegte, was sie
sich in den Kopf gesetzt hatte. Immer. "Und auflerdem ist General Charles Draken Yoshiro Mitglied des Octaviats", f¸gte sie dennoch hinzu. Funksignale waren aufgefangen worden, irgendwo im s¸dlichen Umland der Ruinenstadt aus dem Uferwald. Sie hatten Sp‰her hingeschickt – Kolkraben mit implantierten Kameras. Nach Auswertung der Bilder und undeutlichen Signale stand fest: Commander Matthew Drax hatte die britischen Inseln erreicht, und zwar in einem Panzer deutscher Bauart. Wie es aussah, war er in K‰mpfe mit einer Horde rebellischer Socks – so nannte man in der Community die Lords -verwickelt worden. Er schien seine Mobilit‰t eingeb¸flt zu haben. Hoffentlich nicht mehr. "Ich bitte Euch, Milady!" Der kˆnigliche Berater und Octavian f¸r Kunst und Kultur faltete die H‰nde und schlug einen flehenden Tonfall an. "Ihr seid unersetzbar! Was immer der Commander mitbringt, und sei es das Serum selbst, niemals kann es den Preis Eurer Gesundheit wert sein, Eure Majest‰t, von Eurem Leben ganz zu schweigen..." All seine rhetorischen und dramaturgischen F‰higkeiten – in der Community galt er als wichtigster Dichter der letzten beiden Jahrhunderte – bot er auf, um Queen Victoria umzustimmen. "Bedenkt! Noch seid Ihr ohne Nachkommen, Eure Majest‰t! Wer soll den Thron besteigen, wenn Eurer Majest‰t etwas zustiefle?" F¸r seine emotionalen Verh‰ltnisse klang seine Rede geradezu pathetisch. "Und wer die Regierungsgesch‰fte f¸hren?", schloss er. Josephine Warrington, eine grofle, korpulente Frau in weiflen, weiten, ihre Fettleibigkeit kaschierenden Gew‰ndern und mit steifer schwarzer Langhaarper¸cke, atmete insgeheim auf. Als Prime, als Vorsitzende des regierenden Octaviats also, wusste sie genau, wer in einem solchen Fall – den der Himmel verhindern mochte! – die Regierungsgesch‰fte f¸hren w¸rde. Und ein Nachfolger auf dem Thron w¸rde sich schon finden.
Einer, der ein wenig kooperativer war als die zickige Tochter des verstorbenen Roger III. "Euer Vater pflegte in solchen F‰llen auf seine Ratgeber zu hˆren", sagte die Prime mit spitzen Lippen. "Mein Vater tat, was er f¸r richtig hielt, und ich tue, was ich f¸r richtig halte." Victoria wandte sich der Schneelandschaft und ihrem E-Butler zu. "Matt! Sorge bitte daf¸r, dass mein EWAT startklar gemacht wird!" "Sehr wohl, Darling." Der E-Butler mit dem Gesicht und der Stimme Matthew Drax' deutete eine Verbeugung an. * "London liegt unter einer stabilen Schlechtwetter-Front", pl‰rrte die Stimme des Schleusenbutlers. "Permanenter Flugmodus ist ratsam." "Schon klar", knurrte General Charles Draken Yoshiro. "Die Identifizierung ist abschlossen, mach endlich das Tor auf!" Nicht nur in seiner angriffslustigen, knurrigen Art erinnerte der General an einen Terrier, auch sein ƒufleres hatte etwas Gedrungenes, Kraftvolles. Kleingewachsen war er, dabei breitschultrig und kurzbeinig. Seine hohe Stimme passte zu ihm wie eine misslungene Rosenz¸chtung zwischen die Nagez‰hne einer Taratze. Die Stimme des Generals ¸berschlug sich n‰mlich h‰ufig, weil Draken weniger redete als dass er schimpfte. Wie immer trug der Nachfahre asiatischer Briten auch heute seine legend‰re blaue Per¸cke. "Aye, General, Sir", schnarrte es aus der Steuereinheit neben dem Hauptschott. Der E-Butler an der Schleuse identifizierte jeden, der Ein- oder Auslass begehrte, durch Stimmanalyse. "Gute Fahrt, und Gott sch¸tze Euch, Eure Majest‰t!" "Danke", sagte Victoria geistesabwesend. In Gedanken war sie l‰ngst bei dem Mann, den sie insgeheim liebte. Honeybutt grinste Aiko an. Teilweise, weil sie dieses in fast
feierlichem Ton gef¸hrte Gespr‰ch zwischen Mensch und Maschine zum Schreien komisch fand, zum anderen, um ihren Gef‰hrten aufzumuntern. Der aber reagierte nicht. Der Umgang dieser Briten mit ihren elektronischen Geschˆpfen war f¸r die schwarze Honeybutt Hardy ein unerschˆpflicher Quell von Spott und Spafl. F¸r den amerikanischen Asiaten gab es in diesen Tagen keine solche Quelle. Mˆglicherweise konnte Aiko Tsuyoshi die Erheiterung seiner Geliebten deswegen nicht nachvollziehen, weil sein eigener Kˆrper teilweise eine Maschine war: beide Arme und Teile seines Gehirns waren bionische Implantate. Vor allem aber lag die Ernsthaftigkeit der letzten Wochen einfach an seiner schweren Verletzung: Eine riesenhafte mutierte Eule, ein Eluu, hatte ihm den linken Arm abgerissen. Der Verlust eines Armes – selbst f¸r einen Cyborg mehr als nur ein Wehwehchen: Aiko Tsuyoshi kr‰nkelte. Und die hiesigen Wissenschaftler schienen nicht f‰hig, passende Ersatzteile herzustellen, um den Schaden zu beheben. Dennoch hatte er selbst darauf bestanden, Matthew Drax, Mr. Black und Aruula persˆnlich zu begr¸flen und ihnen, wenn nˆtig, aus dem Schlamassel zu helfen, in das sie dort drauflen geraten waren, wenn die Technos die Bildern ihrer Sp‰her richtig interpretiert hatten. Selbstverst‰ndlich hatten sich Honeybutt und Aiko in Schutzanz¸ge zw‰ngen m¸ssen, bevor sie die septische Auflensektion der Community verlassen und den kˆniglichen Flaggpanzer betreten durften. Wie fast s‰mtliche BunkerZivilisationen litten auch die Briten unter einer Immunschw‰che, die jeden Krankheitskeim zu einer tˆdlichen Gefahr werden liefl. Das Glastor aus Titan hob sich langsam. Regenschleier unter trostlosem Grauhimmel wurden sichtbar. "Dann fahren Sie uns mal in diese idyllische Waschk¸che hinein, Captain", sagte der Offizier, der hinter Victoria auf dem
Navigationssessel safl: Commander Curd Merylbone. Er befehligte die kleine Panzerflotte der Community und den Flaggpanzer der Queen. Die Panzerpilotin, Captain Cinderella Loomer, dr¸ckte einen Knopf. Eine rote LED-Leuchte erlosch, eine gr¸ne flammte auf. Der Earth-Water-Air-Tank setzte sich in Bewegung, schob sich aus dem gleiflenden Licht ins Freie. Die schwarzen Ruinen des ehemaligen Parlamentsgeb‰udes wurden sichtbar. Ein paar grofle Rabenvˆgel hockten in Mauernischen – Kolks. Die Community richtete die intelligenten Tiere seit knapp zweihundert Jahren in einem Spezialtraining als Sp‰her ab. Im Brustgefieder eines jeden Kolks waren winzige Kristalle befestigt: Mikrofone und Kameras. Hinter ihnen senkte sich das Hauptschott vor dem letzten S‰ulenspalier des silbrig gl‰nzenden Kuppelhangars. Vor hundertachtzig Jahren hatte die Community die Prachtkuppel vollendet. In sie m¸ndete der lange Panzerglastunnel aus der Innenschleuse. Jenseits des ehemaligen Parlamentariereingangs, hinter ihrem Schott, begann mit der Ruinenstadt eine f¸r die Bunkerkolonisten tˆdliche Welt. Nie hatte einer ¸berlebt, der die Ruinenwelt ohne Schutzanzug betreten hatte. Nur selten sprach man im Bunker dar¸ber, dass sich das vielleicht bald ‰ndern kˆnnte. Zu m‰rchenhaft erschien diesen Menschen die Nachricht von einem Serum, wie es die amerikanische Bunkerkolonie in Washington seit dreiflig Jahren erfolgreich benutzte. Sie kannten ja nichts anderes als das Leben unter der Erde. Schweigend betrachtete die Besatzung die Welt auflerhalb der Frontkuppel. Linker Hand weitete sich ein mit niedrigen Str‰uchern bewachsenes Feld. Nach und nach ging es in die Tr¸mmerhalden ¸ber, die von ehemaligen Regierungsgeb‰uden ¸brig geblieben waren. Rechts, vor den j‰mmerlichen Resten Big Bens, erhoben sich schwarze Gem‰uer und ein ausgedehnter S‰ulengang. Ein paar Fell-Tipis standen dort,
und unter der teilweise erhaltenen ‹berdachung des S‰ulenganges hockten sie um niedrige, stark qualmende Feuer, w‰rmten sich und brieten Fisch: Socks. Seit Monaten hatte eine Delegation der Lords – wie sie sich witzigerweise selbst nannten – ein Lager ¸ber der Bunkerstadt aufgeschlagen. ‹ber diese Abgeordneten stand das Octaviat in st‰ndiger Verbindung mit ihren vier Clan-Regierungen. Seit Grandlord Rudy ermordet wurde, herrschte eine Art B¸rgerkrieg in den Ruinen und W‰ldern entlang der Themse. Die Socks, die kein R aussprechen konnten, hatten den Grandlord Wudie genannt. Eine Rotte Aufst‰ndischer k‰mpfte daf¸r, von einem Sohn Rudys regiert zu werden, einem S‰ufer und Weiberheld namens Biglord Walka. Der Kerl selbst nannte sich bereits Grandlord. Die Mehrheit seines Clans verabscheute ihn jedoch genauso, wie sein Vater ihn verabscheut hatte. Nur konnte man sich auf keinen Nachfolger des Ermordeten einigen. Verschiedene Gruppen hatten verschiedene Sˆhne des Verstorbenen auf den Schild gehoben. Das Chaos war inzwischen un¸bersichtlich. Der EWAT erreichte das Themseufer, folgte eine Zeitlang dem Flusslauf. Manchmal hˆrten sie Gestein unter den Teflonketten knirschen, manchmal zerbrachen ƒste von B¸schen und kleinen B‰umen. Wenn die Fahrtger‰usche nachlieflen, und gleichm‰fliges Kettensirren sich wieder einstellte, konnten sie wie von fern das Summen des Reaktors hˆren. "Schwebemodus", sagte der Commander Merylbone. Mauerruinen erhoben sich in Fahrtrichtung wie gigantische und zusammengebrochene Backenz‰hne. Captain Cinderella Loomer beugte sich ¸ber das Mikro der Steuereinheit. "Ketten einfahren, Magnetfeld aufbauen, Gleitschwingen spreizen." Sie sprach mit einer ruhigen Altstimme. Ein EWAT glich ein wenig dem Triebwagen eines dieser Hochgeschwindigkeitsz¸ge, wie man sie in den Goldenen Jahrzehnten vor "Christopher-Floyd" gebaut hatte. Sein Rumpf
– zwanzig Meter lang, zweieinhalb Meter hoch, knapp drei Meter breit – bestand aus vier Segmenten, die durch Teleskoplamellen miteinander verbunden waren. Das verlieh ihm eine Mobilit‰t, die auch in der Luft, vor allem aber in Ruinengel‰nde und W‰ldern von unsch‰tzbarem Wert war. Tiefschwarze Kuppeln wˆlbten sich am stumpfen Heck und am spitz zulaufenden Bug. Die Sichtkuppeln waren von auflen nicht einsehbar. Je nach Gel‰nde konnten Kettenschuhe, Gleitschienen oder Radachsen ausgefahren werden. Die kurzen Tragfl‰chen ragten knapp ¸ber dem Fahrwerk aus allen Fragmenten des Rumpfes, wenn sie ausgefahren waren. Hinter dem Steuersegment, knapp hinter der Kuppel und auf dem Hecksegment saflen Schotte f¸r versenkbare Gesch¸tzt¸rme. Der EWAT schwebte auf die Themse hinaus. Etwa acht Meter ¸ber dem Wasser flog der kˆnigliche Panzer stromabw‰rts. Zwei Stunden sp‰ter etwa erreichten sie die ‹berreste einer Br¸cke. "Das ist sie." Commander Merylbone holte die Aufnahmen der Sp‰her auf den in die Frontscheibe integrierten Monitor. Die einsam aus dem Wasser ragenden Pfeiler waren identisch. Captain Cinderella Loomer glich die Koordinaten ab. "Ja, wir sind da." "Dann schrauben Sie die Kiste gef‰lligst ein St¸ck hˆher!", blaffte General Charles Draken Yoshiro. "Ich brauche einen ‹berblick ¸ber die gottverdammte Landschaft!" Die Queen starrte in den Regen hinaus. Ihre Gesichtsz¸ge wirkten vertr‰umt. Sie fieberte dem Augenblick entgegen, in dem sie ihn wiedersehen w¸rde, den Mann, den sie liebte. Plˆtzlich straffte sich ihre Gestalt, ihre Augen wurden schmal. "Seht ihr den Rauch?" Tats‰chlich: Eine Rauchs‰ule stand ¸ber den Baumwipfeln, sogar Flammenschein war zu erkennen. "Der Wald brennt!" "Da!" Aiko deutete auf das Gestr¸pp zwischen dem zweiten, ufernahen Pfeiler und dem Wald. Etwas Rundes, Schwarzes
ragte aus B‰umen, Schlingpflanzen und Buschwerk. "Das muss ihr Fahrzeug sein...!" * Einer wie er stand plˆtzlich vor ihm, ein Schwertkrieger. Viel j¸nger als er selbst, fast noch ein Knabe und eben erst dem Schwert geweiht. Auflerdem ein wenig kleiner und schwerer als Bulba'han. Sein Schwert hielt er mit beiden H‰nden, duckte sich zum Angriff – und zuckte im letzten Moment zur¸ck. Schlagartig wurde es Bulba'han bewusst, wie entstellt er aussehen musste: schmutzig, von Brandwunden vernarbt, Blut im Gesicht, und dann der Pfeil! Und wirklich, der andere Schwertkrieger wich zur¸ck – statt anzugreifen oder sich zu verneigen und den Grufl zu murmeln, den das Gesetz der V‰ter f¸r die Begegnung zweier einander fremder Schwertkrieger vorschrieb. Und starrte dabei auf Bulba'hans Stirn. Die abgebrochene Pfeilspitze verwirrte ihn. Ein tˆdlicher Fehler. Bulba'han nutzte den Augenblick der Verbl¸ffung – blitzschnell stiefl er ihm die Klinge in den Leib. Er hielt ihn fest, w‰hrend der Sterbende nach vorn fiel. Behutsam liefl er die Leiche ins Gestr¸pp sinken. Auch Schwertkrieger also. Die Macht im See schickte selbst Angehˆrige seines eigenen Volkes, um ihn zu bestrafen. Und so junge. Waren nicht alle, die Waffen f¸hren konnten, mit ihm ¸ber das Gebirge gezogen, um Mefju'drex zu jagen? Aber nein – wer krank oder verwundet gewesen war, hatte dem Ruf in den Krieg nicht folgen kˆnnen damals. Eine Zeitlang stand er still und lauschte. Irgendwo hinter ihm schrie jemand einen Befehl. So rief kein Schwertkrieger. Und wieder, diesmal n‰her. Ein Narod'kratow? Wahrscheinlich. Die Stimme jedenfalls klang tief und heiser. So wie die Stimmen der verwachsenen Maulwurfsmenschen klangen. Und
den Dialekt der kleinen Stollentreiber meinte er auch zu erkennen. Vermutlich hatten sie die Androne gefunden. Weiter! Zum Ufer! Es war nicht einfach, sich mit der Kr¸cke durch das Unterholz zu arbeiten. Bulba'han gelang es dennoch relativ ger‰uschlos. Zwischendurch verharrte er minutenlang und lauschte. Rascheln von rechts, das Splittern von ƒsten von links, und hinter ihm von Zeit zu Zeit ein Ruf. Von vorn keine Stimmen, keine Schritte. Vorn war der Weg frei. Also pirschte Bulba'han in diese Richtung voran. Das Rauschen der Brandung wurde lauter, der Geruch nach Wasser intensiver. Irgendwann lichtete sich der Wald, irgendwann musste der geschlagene Heerf¸hrer sich hinter niedrige B¸sche ducken, und dann stand er an den Steilklippen und sah Strand und Seek¸ste unter sich. F¸nf Schiffe lagen vor Anker. Zwei klobige, kastenartige Galeeren, wie die Narod'kratow sie benutzten, und drei anmutig geschwungene Segler. Ein einziges Volk an den Ufern des Sees baute solche Schiffe: die vierarmigen Rriba'low. Auch die schlanken Kanus am Strand sprachen f¸r die Anwesenheit von Fischf‰ngern. Die Ruderboote dagegen gehˆrten den Maulw¸rfen. Ein Schiff! Genau das brauchte er, um ins Dorf, um zum Clan, um zu Tata'ya zu gelangen. Oder sollte er etwa wochenlang auf einem Bein durch W‰lder und ¸ber Str‰nde hinken? Nein, ein Schiff war genau das Richtige. Bulba'han legte Kr¸cke und Schwert ab. Auf dem Bauch kroch er bis dicht an den Abhang. Unten, zwischen den Beibooten, w‰lzte sich die Brandung auf den Strand. Niemand zu sehen dort unten. Spuren f¸hrten jedoch zu den Steilklippen, verschwanden direkt unter ihm aus seinem Blickfeld. Etwa zehn Beiboote lagen dort unten. Selbst wenn jedes nur mit drei Mann besetzt gewesen war, durchk‰mmten in diesen Augenblicken dreiflig Schwertkrieger, Narod'kratow und
Rriba'low den Wald nach ihm. Bulba'hans Kindheit und Jugend war im Grunde eine vierzehn Jahre w‰hrende Ausbildung zum Schwerttr‰ger gewesen. Unangenehme Gedanken und Gef¸hle zu verdr‰ngen hatte im Zentrum dieser Ausbildung gestanden. Er blendete sie einfach aus, die Dreiflig hinter ihm im Uferwald, und richtete seine Aufmerksamkeit auf die f¸nf Schiffe drauflen, im tieferen Gew‰sser. Schwer, auf die Entfernung – etwa vier bis f¸nf Speerw¸rfe – Einzelheiten auszumachen. Aber die vielen Kˆpfe und Kˆrper auf den Auflendecks waren nicht zu ¸bersehen. Wozu brauchten die K‰hne eine derart grofle Besatzung? Oder transportierten sie Reisende? Doch wohin wollte diese Menge? Bulba'han erinnerte sich sehr gut daran, dass ausschliefllich Alte, Verkr¸ppelte, schwangere oder kranke Frauen und Kinder zur¸ckgeblieben waren, als Mur'gash, Birgel'wost, Taqua'floydan und er mit dem Mutantenheer nach Westen aufgebrochen waren. Vermutlich auch ein paar Sklaven aus den Bergwerken der Narod'kratow. Er fasste den Segler ins Auge, der dem Strand am n‰chsten lag. Seltsam gebeugt kamen ihm die Gestalten an Deck vor. Viele kleine fielen ihm auf – Kinder und Halbw¸chsige mˆglicherweise. Und einige der Grˆfleren – trugen sie nicht Fesseln...? Plˆtzlich begriff er: Gefangene! Die Schiffe waren vollgestopft mit Gefangenen! Er verdr‰ngte Fragen, Mitleid, Entsetzen. K¸hl arbeitete es hinter seiner vernarbten und durchbohrten Stirn. Die Dunkelheit abwarten, eines der Beiboote kapern, den vorderen Segler entern, einige Gefangenen befreien, die verbliebene Besatzung ¸berw‰ltigen... Ja, so konnte es gehen, vielleicht... Was aber, wenn die J‰ger vor Sonnenuntergang zu den Schiffen zur¸ckkehrten?
Etwas zischte durch die Luft, scheuerte ¸ber Bulba'hans verhornte Sch‰delplatte. Er schrie auf, duckte sich. Eine mit Erzbolzen gespickte Keule schlug auf den Fels neben seiner rechten Hand, prallte ab und fiel die Steilklippe hinab. W‰hrend Bulba'han sich zur Seite warf, riss er das Schwert hoch. Zu sp‰t. Die dichten Maschen eines Netzes fielen ¸ber ihn. Vier Echsenartige schlugen mit Holzpr¸geln und Eisenstangen auf ihn ein. Es waren Mur'gashs Rassengenossen, Geistmeister, oder Mastr'ducha, wie sie selbst sich nannten. Halbw¸chsige waren es; einem fehlte ein Arm. Das Netz zog sich zusammen, einer der Angreifer entriss Bulba'han das Schwert, und aus war das Spiel. * London zeigte sich von seiner schw‰rzesten Seite. Der Schaden am Panzer, der Sturm, der Regen, die Eingeborenen... Die wilden Lords setzten Commander Matthew Drax, Mr. Black und der wackeren Barbarin gewaltig zu: Obwohl die H‰lfte von ihnen schon tot oder zuckend im Unterholz lag, rannten sie noch immer gegen das offene Schott an. Im Unterholz qualmte es, doch der Regen lˆschte die durch Laserund Drillerbeschuss entstandenen Br‰nde rasch wieder. Black lag hinter dem Lukenrahmen in Deckung. Der Pfeil ragte aus seiner Brust, die flache Seite einer Schwertklinge hatte ihn in der rechten Ellenbeuge erwischt, die stumpfe Seite einer Axtklinge ein St¸ck Kopfhaut abgeledert, samt Haar. Er sah rot, und zwar buchst‰blich, weil ihm n‰mlich das Blut ¸ber das Gesicht strˆmte. Sein rechter Arm war taub. Schon halb benommen hielt er die Laserpistole in der Linken, konnte zwar schieflen, traf aber kaum mehr. Die psychologische Wirkung der gleiflenden Laserstrahlen allerdings war nicht zu
untersch‰tzen. Aruula richtete so gut wie gar nichts aus mit ihrem Schwert. Als Matt beobachtete, wie die Lords vor der Luke sich immer im richtigen Moment unter der Klinge wegduckten, oder wie sie die Hiebe der Barbarin mit Speeren und ƒxten parierten, da fiel ihm siedend heifl ein, was diese wilden Kerle, diese struppigen Waldschrats und Ruinenkrieger wirklich brandgef‰hrlich machte: ihre parapsychologische Begabung. Sie vermochten n‰mlich den Bruchteil einer Sekunde in die Zukunft zu sehen. Nicht eben viel, aber doch den einen, entscheidenden Augenblick, auf den es oft ankam. Fast vier Jahre war es her, dass die ersten Lords dem Mann aus der Vergangenheit ¸ber den Weg gelaufen waren – damals war alles noch so neu gewesen, so albtraumhaft unwirklich, dass Matt die Lords und ihre Psikr‰fte schon fast vergessen hatte. Einem dieser wilden Eber auf zwei Beinen gelang es, die Barbarin an den Knˆcheln zu packen und umzuwerfen. Der Kerl wollte sie aus dem Schott ziehen – Matt blieb gar nichts anderes ¸brig, als auf seinen Sch‰del zu zielen. Aber kaum kippte der Kerl hinten¸ber, sprang schon der n‰chste heran, der Rotb‰rtige persˆnlich, und riss Aruula zu sich hinunter. Unmˆglich f¸r Matt abzudr¸cken: Er h‰tte auch Aruula getroffen. Die umklammerte den betrunkenen Waldschrat mit Armen und Beinen, biss ihn in den Hals und zog ihre schmutzigen Fingern‰gel ¸ber seine Wangen. Rotbart br¸llte und fluchte und w‰lzte sich mit seiner vermeintlichen Beute im Unterholz, und als er plˆtzlich auf ihr zu liegen kam, packte Matt den Driller am Lauf, sprang aus dem Panzer und schlug dem Burschen den Griff der Waffe ¸ber den Sch‰del. Der rote Leitlord seufzte kurz, sackte zusammen und hing schliefllich auf der Barbarin wie ein Sack. Ein Laserstrahl aus Mr. Blacks Pistole sengte dicht ¸ber die Kˆpfe der letzten vier wilden Krieger und erwischte einen von
ihnen tˆdlich. Ein anderer hatte gerade einen Pfeil auf Matt angelegt. Er duckte sich, verzog den Schuss, und der Pfeil knallte gegen die Auflenhaut des TFG. Matt schoss gedankenschnell zur¸ck, und das winzige Explosivgeschoss zerriss dem Bogensch¸tzen die Brust. Ein ungleicher Kampf alles in allem, trotz des Psi-Vorteils der Lords. Matt f¸hlte sich nicht wohl dabei, wirklich nicht, aber er wollte leben, und er wollte, dass Aruula und Mr. Black lebten! Als die letzten beiden Lords sahen, dass ihr Anf¸hrer kampfunf‰hig war, sprangen sie ins qualmende Unterholz und waren im n‰chsten Moment unsichtbar. Unter dem Bewusstlosen fluchte Aruula. Matt w‰lzte den Rothaarigen von ihr. Schreie kamen vom Bug des Panzers. Dort strampelten zwei Lords im Schlammloch. Vermutlich waren sie im Kampfget¸mmel hinein gest¸rzt. Matt und Aruula fischten sie mit dem Speer eines Gefallenen heraus und fesselten sie. Auch den Bewusstlosen wickelten sie in Nylonschnur ein. Vor dem offenen Schott lag Mr. Black und stˆhnte. "Was f¸r eine Scheiflgegend ist das hier?", knurrte er. Der Pfeil in seiner Brust hob und senkte sich im Rhythmus seiner Atemz¸ge. "Was hab ich hier eigentlich verloren?! Ahh, verdammt, passen Sie doch auf...!" Matt untersuchte die Platzwunde an der linken Sch‰delseite. "Zwˆlf Stiche", sagte er. "Mindestens. M¸ssen die in der Community machen. Sie sehen fast aus wie Ihr Original in seiner Paraderolle." Black sah ihn ratlos an. "Der Terminator", erkl‰rte Matt. "Fehlt nur noch das metallene Endoskelett unter Ihrer Haut." "Ich bin keiner Ihrer Cyborg-Freunde", ‰chzte Black. "Und trotzdem kommen Sie immer wieder", murmelte Matt und deckte die Wunde steril ab. Dann wickelte er einen Druckverband um den Sch‰del, denn das Blut strˆmte aus der
groflfl‰chigen Platzwunde, als h‰tte ihm jemand die Pipeline im Hirn aufgedreht. Anschlieflend zogen sie Black die Kombi aus, jedenfalls das Oberteil. Eigentlich schnitten sie ihn mehr aus dem Stoff, denn weder Aruula noch Matt trauten sich, ihm den Pfeil aus der Brust zu ziehen. Black selbst h¸tete sich, das Geschoss auch nur zu ber¸hren, nicht einmal hinsehen wollte er. Die Wunde um die Pfeilspitze herum blutete kaum. Zur H‰lfte etwa steckte das Metall im Brustbein. Gl¸cklicherweise hatte ihn der Pfeil in die rechte Brustseite getroffen; mit einer Verletzung des Herzens war also nicht zu rechnen. Aus dem Notfallkoffer suchte Matt zusammen, was er brauchte – Desinfektionsmittel, Morphium, ein lokales Schmerzmittel, Spritzen und so weiter. Fr¸her war das immer David McKenzies Job gewesen. Aruula verpasste Black eine Morphiumspritze in den Oberarm – das hatte Dave ihr beigebracht –, und w‰hrend sie den Spritzenkolben hinunter dr¸ckte, fragte sie sich, wie es dem Professor aus der Vergangenheit wohl gehen mochte. Gemeinsam mit Rulfan und Wulf war er schon vor Monaten in einem Dampfer Richtung Westen aufgebrochen; irgendwo jenseits des Gebirges, das Matt und Dave Uraal genannt hatten. Der Commander spritzte seinem Kampfgef‰hrten das Lokalan‰sthetikum rund um die Pfeilspitze in die Haut ¸ber dem Brustbein. Dann setzte er ihm das Knie auf die Schulter, packte zu und riss den Pfeil heraus. Black, vom Morphium benebelt, sagte "Hey!", b‰umte sich kurz auf, und das war's auch schon. Die Blutung verst‰rkte sich nicht. Lediglich etwas Knochenmark sickerte aus der Wunde. Matt atmete auf und klebte dem Running Man einen Verband auf die Heldenbrust. Was man nicht alles gelernt hat bei der US-Army, dachte er. Er wollte zur¸ck ins Cockpit gehen, um nach dem Funkger‰t zu sehen, doch Aruula lauschte mit eigenartig auf
die Schulter geneigtem Kopf. Mit einer Kopfbewegung deutete sie aus dem Schott in den grauen Himmel ¸ber dem Wald. Da war was, tats‰chlich! Mehr als nur der Sturm in den Baumkronen und der Regen auf dem Laub! Matt sprang aus dem TFG. Zu seinen F¸flen im nassen Ufergras regten sich die drei gefesselten Lords. Er k¸mmerte sich nicht um sie. Der Commander blickte zum Himmel. Vom Strom her n‰herte sich ein Ger‰usch, das ihm seltsam bekannt vorkam: ein tiefes Brummen, unverwechselbar eigentlich, aber Matthew Drax kam nicht gleich drauf. Als er den EWAT dann endlich ¸ber den Baumkronen auf der Br¸ckenruine schweben sah, stimmte er Freudengeheul an: "Yeah! Sie sind es!" Ein Gef¸hl nach "heimkommen" war plˆtzlich in seiner Brust. Wie einer, der nach langer Zeit nach Hause zur¸ckkehrt, genauso f¸hlte er sich. Dabei kam der Tank aus der Community London, und in London war Matthew nie zu Hause gewesen. Aber es gab eben nur wenige Orte, wo sich ein Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts in dieser Zeit zu Hause f¸hlen konnte... Aruula sah das Ger‰t erst, als es ¸ber Br¸cke und TFG hinweggeflogen war und zur Landung ansetzte. Sie allerdings beobachtete das Unget¸m mit eher gemischten Gef¸hlen. Luken ˆffneten sich an seiner Unterseite, Kettenschuhe st¸lpten sich heraus. Eben noch zu einem Halbkreis gebogen, senkten sich die vier Fragmente des Tanks nun in einer geraden Linie auf die Uferbˆschung hinab. Etwa f¸nf Speerl‰ngen hinter dem deutschen Panzer setzte der EWAT zwischen Themseufer und Waldrand auf. Kein Lichtschein, nicht einmal ein Schatten war hinter der schwarzen Frontkuppel zu erkennen. "Was... was is das f¸r'n Ding da?", stˆhnte Black mit schwerer Zunge. Aruula legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.
Matt aber stapfte durch das hohe Gras. Vor dem Bugsegment des Panzers blieb er stehen. Die Abbildung einer bunten Krone prangte seitlich unter der Frontkuppel. Man hatte also den EWAT der Queen geschickt. Eine angemessene diplomatische Geste in Matts Augen. Er sah zur vorderen Schleusenluke hinauf. Eine Minute verging, dann endlich schob sie sich auf. Eine kleine Stiege wurde ausgefahren, eine Frauengestalt im Schutzanzug kletterte r¸ckw‰rts aus dem EWAT. Ein ziemlich gewagt geschnittener Schutzanzug ¸brigens, figurbetont und eng. Das Ges‰fl erinnerte Matt an ein umgedrehtes, verchromtes Herz. Und wie anmutig schwang es hin und her, dieses Herz, w‰hrend die Frau herabstieg. Matt wollte es scheinen, als liefle sie sich mehr Zeit als nˆtig. Dann sprang sie ins Gras und drehte sich zu ihm um. Sie trug einen Klarsichthelm. Regentropfen klatschten auf die fast unsichtbare Kugel ¸ber einem formvollendeten, haarlosen Kopf. Aus einem samth‰utigen braunen Gesicht blickten ihn zwei grofle smaragdgr¸ne Augen an: Queen Victoria die Zweite. Die Kˆnigin der Community London persˆnlich! "Willkommen auf den britischen Inseln, Commander Drax!" Ihre Stimme klang heiser, und so nat¸rlich, als w¸rde sie direkt aus ihrem schˆnen Mund und nicht aus Mikroboxen unterhalb des Helmes dringen. "Im Namen der Community London heifle ich Sie willkommen! Und im Namen der Community London darf ich Ihnen sagen, wie sehr wir uns freuen, Sie unversehrt wiederzusehen, und wie sehr wir Ihre Leistung bewundern." Matt nickte stumm. Nicht allein deshalb, weil er nie ein Freund von Sonntagsreden gewesen war, nein – dieser Augenblick ber¸hrte ihn wirklich. Wie oft hatte er daran gezweifelt noch einmal nach London zur¸ckzukehren... Die Queen hob die linke Hand, dr¸ckte einen Knopf auf einer unter Stoff verborgenen Schaltleiste an der H¸fte, trat ein wenig n‰her und legte ihre Rechte auf Matts Arm. "Matthew Drax..."
Jetzt klang ihre raue Stimme dumpfer. Sie hatte das Helmmikro deaktiviert. Und damit die Funkverbindung ins Cockpit ihres EWAT unterbrochen. "Matthew Drax, Sie glauben nicht, wie sehr ich mich freue..." Ihre Stimme streichelte Matt an einer Stelle tief in seinem Brustkorb. Ein feuchter dunkler Schleier zog durch die leuchtenden Smaragde ihrer Augen. "Sie glauben nicht, wie oft ich von Ihnen getr‰umt habe..." * Bulba'han war zur¸ckgekehrt. Die Wellen des geliebten Sees pl‰tscherten gegen den Rumpf des Ruderbootes. Vertraute Gestalten standen um ihn herum: Gedrungene Narod'kratow auf den Ruderb‰nken, echsenhafte Mastr'ducha rechts und links von ihm, in den Kanus an der Spitze der kleinen Flotte zumeist vierarmige Rriba'low – auch Fischf‰nger genannt –, und wenige Woiin'metcha. Nur drei Angehˆrige seiner eigenen Rasse z‰hlte der gescheiterte Feldherr. Und dazu der warme Wind, die feuchte Luft und die grofle Sonnenscheibe am dunstigen Himmel. Ja, der junge Bulba'han war zur¸ckgekehrt. Doch der Himmel ¸ber seiner Heimat, die Sonne hinter den Dunstschwaden und der See waren nicht derselbe Himmel, dieselbe Sonne und derselbe See, die er Monate zuvor hinter sich gelassen hatte. Der Dunsthimmel schien ihn zur¸ckzuweisen, das verhangene Auge der Sonnenscheibe feindlich auf ihn herunter zu sp‰hen und der See l‰ngst darauf zu warten, sein Grab zu werden. Und er selbst, Bulba'han, schien in diesen wenigen Monaten um viele Jahre gealtert zu sein. Sie hatten ihn ins Netz eingeschn¸rt. Er beschwor Tata'yas
Bild vor sein inneres Auge, konzentrierte sich darauf, um die Schmerzen zu bew‰ltigen. Sein von Brandnarben entstelltes Gesicht blutete aus vielen Sch¸rfwunden, seine Knochen waren taub, sein von der stumpfen Seite des Beils getroffener Sch‰del schmerzte, sein Beinstumpf klopfte und brannte: Wie ein Beutetier hatten sie ihn im Netz den Abhang hinunter geschleift. Die Echsenartigen neben ihm belauerten ihn argwˆhnisch. Ob sie seine Gedanken belauschten? Viele unter den Mastr'ducha besaflen F‰higkeiten, die nach Bulba'hans Ansicht allein der Macht im See zustanden: Gegenst‰nde ohne Muskelkraft hochheben und bewegen, Flammen aus dem Nichts entstehen lassen, oder eben Gedanken zu verstehen, die keiner aussprach. Manchmal sah er, wie sie nach dem abgebrochenen Pfeil in seiner Stirn schielten. Auch die verwachsenen Zwerge auf den vorderen Ruderb‰nken drehten sich von Zeit zu Zeit um und warfen verstohlene Blicke auf seine Stirn. Die Beiboote n‰herten sich den f¸nf vor Anker liegenden Schiffen. Das Ruderboot, in dem Bulba'han safl, legte am Rumpf einer Narod'kratow-Galeere an. Bulba'han blickte in den Dunsthimmel. Nirgendwo war eine Spur von den obersten Dienern der Macht im See zu entdecken, von den Todesrochen. Solange die Lesh'iye sich nicht blicken lieflen, solange w¸rde er die Hoffnung nicht fahren lassen. Die Hoffnung, Tata'ya noch einmal zu sehen und in die Arme zu schlieflen, bevor er starb. Die Geistmeister rechts und links von ihm standen auf, rissen ihn hoch; das Boot schwankte. Oben beugten sich Narod'kratow ¸ber die Reling. Sie fingen die Zugseile des Netzes auf, das die Echsenm‰nner ihnen hochwarfen. Ein Ruck ging durch das Netz. Noch enger schn¸rte es sich um Bulba'hans geschundenen Kˆrper. Die Maschen dr¸ckten ihm die Luft ab. Sein Fufl lˆste sich von den Bootsplanken. Am
Rumpf entlang zogen sie ihn zur Reling hinauf. Wieder und wieder knallte sein Stumpf gegen die Bordwand. Der Schmerz wurde zu gl¸hendem Erz und brandete durch seinen Leib. Wer den eigenen Schmerz sp¸rt, sp¸rt bald den Schmerz der ganzen Welt – diesen Satz murmelte er wieder und wieder, um nicht laut br¸llen zu m¸ssen. Ein Satz aus den altehrw¸rdigen ‹berlieferungen der V‰ter. Er gehˆrte zu den fr¸hsten S‰tzen, die Bulba'han auswendig gelernt hatte. Wer den eigenen Schmerz sp¸rt, sp¸rt bald den Schmerz der ganzen Welt. Sein Lehrer hatte ihm diese Worte eingepr¸gelt. Die knotigen Lederzwerge – es waren Narod'kratow-Frauen! – zerrten ihn ¸ber die Reling und lieflen ihn auf die Decksplanken fallen. Bulba'han k‰mpfte mit Schwindel, mit Wut und mit Scham! Weiber hatten ihn ber¸hrt, wie man ein geschlachtetes Wild ber¸hrt! Er war vollkommen durchgeschwitzt. Der mˆrderische Kampf gegen den Schmerz in seinem Stumpf... Aber er hatte ihn gewonnen. Neugierige, ‰ngstliche Blicke musterten ihn von allen Seiten: Narod'kratow-Kinder, verkr¸ppelte Rriba'low-M‰nner, junge Weiber aus der Rasse der Rriba'low mit kleinen Kindern, greise Woiin'metcha, M‰nner und Frauen, uralte Mastr'ducha in Ketten. Auch einige der verkr¸ppelten oder alten Fischf‰nger und Maulwurfsm‰nner trugen Fesseln. Hatte er sich also nicht get‰uscht – Gefangene. Die beiden Echsenm‰nner wickelten ihn aus dem Netz und fesselten seinen Knˆchel an einen Holm der Reling. Bald wurden die Anker gelichtet. Das linke Ohr auf den Decksplanken, hˆrte Bulba'han ¸berdeutlich die Peitschenhiebe auf den R¸cken der Ruderer unter sich. Das Holz vibrierte von den Paukenschl‰gen, mit denen auf dem Unterdeck der Rhythmus vorgegeben wurde. Auch die Ketten der Rudersklaven hˆrte er rasseln, und Scharniere und Holzb‰nke knarren.
Die Stunden bis zum Sonnenuntergang verbrachte er mit geschlossenen Augen und in einer Art D‰mmerzustand. Allein auf das Pochen seines Herzens und auf das Gleichmafl seines Atems konzentriert – und auf Tata'yas Bild – sammelte Bulba'han neue Kr‰fte. Nein, er hatte nicht aufgegeben. Noch lange nicht. "Was ist das f¸r ein Splitter in deiner Stirn?", fragte eine kr‰chzende Stimme neben ihm. Bulba'han schlug die Augen auf – und sah in das lederh‰utige Gesicht eines greisen Maulwurfsmannes. Der alte Narod'kratow trug Ketten an Knˆcheln und Handgelenken. Er war nicht der Einzige, der ihn betrachtete. Eine ganze Traube von Gefangenen hatte sich um ihn versammelt. Bulba'hans Blicke begegneten denen von Rriba'low-Weibern, Narod'kratow-Kindern und zwei greisen Mastr'ducha; auch sie in Fesseln. "Ich bin Korsow'rulas", kr‰chzte das Ledergesicht, als Bulba'han nicht antwortete. "Was ist das f¸r ein Ding in deiner Stirn?" Ein kleines Rriba'low-M‰dchen streckte gleich drei H‰nde nach Bulba'han aus, um den abgebrochenen Holzschaft zu befummeln. Bulba'han wandte den Kopf zur Seite, schlug die H‰nde der Kleinen weg. "Erz‰hl schon", knurrte ein ein‰ugiger Echsenmann. Vor ein paar Monaten noch w‰re es unter Bulba'hans W¸rde gewesen, die Gegenwart dieses Pˆbels ¸berhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Vor Monaten, als er im Kampf auf Bluterde einen Mann tˆtete, um Tata'ya zu gewinnen, h‰tte er dieses Gesindel davon gejagt. Nichts wusste dieses Pack, nichts! Kannte nicht einmal den unter Schwertkriegern ¸blichen Begr¸flungsritus! Kein Schwertkrieger nannte seinen Namen, bevor er sich nicht ausf¸hrlich nach Ergehen, Sippe, Gesch‰ften und Weg des Angesprochenen erkundigt hatte.
War er das gewesen, der auf Bluterde gegen einen ƒlteren siegte? War wirklich er es gewesen, der s‰mtliche waffenf‰higen M‰nner und Frauen am See in den Krieg gegen Mefju'drex und seine Verb¸ndeten f¸hrte? Hundert Jahre her. Kaum erinnerte er sich noch daran. Die Einschussstelle auf seiner Stirn brannte. "Ein abgebrochener Pfeil", sagte Bulba'han. "Wer hat ihn abgebrochen?", wollte der alte Narod'kratow wissen. "Ich. Wohin geht die Fahrt?" "Nirgendwo hin", sagte der Alte. "Und was ist mit deinem Bein?" "Verfault", antwortete Bulba'han knapp. "Wohin geht diese Fahrt?" "Sagt er doch", mischte ein Angehˆriger von Bulba'hans eigener Rasse sich ein. Er lehnte am Rand der Gruppe gegen die Reling, ein greiser Schwertkrieger in Ketten. "Nach nirgendwo. Wer hat dir den Unterschenkel abgenommen?" Der alte Woiin'metcha deutete auf Bulba'hans Mantelsaum. "Wer? Was? Wie?! Bulba'han schnaubte ver‰chtlich. "Neugierig wie die Weiber seid ihr!" Er st¸tzte sich auf die Ellbogen, um nach seinem Stumpf zu sehen. Ein schmutziger feuchter Lumpen verh¸llte das Knie. Mit ihm hatte Bulba'han Waldkr‰uter und Laub auf die Wunde gebunden. Lauter Kr‰uter, die nach den Lehren der altehrw¸rdigen Woiin'metcha als heilsam galten. Es stank nach Eiter, nach altem Blut und nach verrottetem Laub. "Ich selbst hab es mir abgenommen, mit dem Schwert." Er sah dem greisen Schwertkrieger ins fahle Gesicht. "Was heiflt 'nach nirgendwo'?" "Wenn du dort bist, wirst du dir w¸nschen, du h‰ttest dir das Bein nicht abgeschlagen, sondern w‰rest mit ihm verfault, Bulba'han."
Ein paar Kinder und Frauen fingen an zu weinen, leise und mit gesenkten Kˆpfen. "Psst!", zischte Bulba'han. Er hob den Kopf, sp‰hte nach allen Seiten – die bewaffneten Seeleute nahmen keine Notiz von ihm und der Gruppe um ihn herum. "Du kennst meinen Namen?" "F¸rchtest du, sie kˆnnten dich bestrafen, weil du Mefju'drex nicht getˆtet hast?" Der Alte an der Reling verzog sein greises Gesicht zu einem bitteren L‰cheln. "Keine Sorge. Du bist ihnen so gleichg¸ltig wie jeder einzelne von uns; ihnen und der Macht im See sowieso..." Bulba'han war nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte. "Was redest du, V‰terchen? Warum beachtest du den Ritus der Schwertkrieger nicht? Was bedeutet das alles hier...?" "Gar nichts." Der alte Narod'kratow ergriff wieder das Wort. "Wir bedeuten nichts mehr, du bedeutest nichts mehr, euer Ritus bedeutet nichts mehr..." "Wie?" Bulba'han fuhr hoch. Er starrte den Schwertkrieger an. "Es ist vorbei, weiflt du?" An der Balustrade entlang rutschte der Greis aus seinem Volk auf die Decksplanken. Seine Ketten rasselten. Er musste die Arme ¸ber den Kopf nach oben strecken, weil sie ihm die Handgelenke an der Reling festgekettet hatten. "Ja, Bulba'han, vorbei." Eine Frau weinte jetzt sehr laut. "F¸r die Macht, f¸r die Macht", jammerte sie. "Mein Leben und meine Kinder f¸r die Macht im See..." Andere Frauen stimmten ein, selbst ein paar Greise und einige Kinder und Halbw¸chsige, die das Gejammer hˆrten. "Mein Leben f¸r die Macht, mein Herz f¸r die Macht, meine Sippe f¸r die Macht...!" Sogar einzelne Besatzungsmitglieder stimmten mit ein. Bald stieg das Gejammer wie ein vielstimmiger Choral vom Deck in den Abendhimmel. "Unser Blut f¸r die Macht, unsere Herzen f¸r die Macht, unsere Kinder f¸r die Macht...!" Nicht lange, und Bulba'han hˆrte den Singsang
auch von den anderen Schiffen. Wenige nur, die schwiegen. Der Maulwurfsmann namens Korsow'rulas zum Beispiel; oder der Woiin'metcha-Greis an der Reling. Zerknautscht waren ihre Mienen, schmale Schlitze ihre Augen, lauernd ihre Blicke. Als wollten sie sagen: Hˆrst du auch gut zu, Bulba'han? "Was bedeutet das?", fragte Bulba'han. Die beiden Alten schwiegen und lauerten. Bulba'han sp¸rte, dass er zitterte. "Ich frage euch: Wo bringen die Schiffe uns hin?" Die beiden Alten schwiegen und lauerten. * "Ein aus Ruinen auferstandenes London unter einer Titanglaskuppel – das war der Lebenstraum Rogers des Dritten." Jefferson Winter war zu ihnen in das SEF gekommen – das Septisch Externe Foyer des Bunkers. Der Octavian f¸r Kultur und Unterhaltung trug einen Schutzanzug – eine l‰cherliche Anzahl von Bakterien aus Blacks Mundflora oder Honeybutts Haar h‰tte ihn innerhalb weniger Tage umgebracht. "Aber das im Augenblick einzig mˆgliche London liegt unter uns", fuhr Sir Jefferson Winter fort. Sein spitzer, hochstirniger Sch‰del war kahl, die blasse Haut seines Gesichts von feinem violetten Venengeflecht ¸berzogen und zerknittert wie uralte Seide, seine Augen glitzerten in tiefem Rot. Er hatte ziemlich genau hundertdreiunddreiflig Jahre auf dem Buckel. Kein Alter in den Communitys auf den britanischen Inseln, wie die Bevˆlkerung sie nannte. "Sie haben ja auf dem Herflug einen ‹berblick auf das ehemalige London erhalten", sagte er mit einem Anflug von Bitterkeit. "Jedenfalls auf das, was von der Stadt ¸brig blieb: Ruinen und Schutt. Bevˆlkert von – verzeihen Sie meine
Offenheit – schmutzigen, kriegerischen Barbaren. Sie f¸hren gerade einen B¸rgerkrieg; auf Schritt und Tritt begegnet man dort oben marodierenden Rotten von Socks." Er wandte sich direkt an Matt. "‹brigens, Commander, einer der drei gefangenen Socks ist der Anf¸hrer der Aufst‰ndischen, ein gewisser Biglord Walka. Die Queen will Sie in K¸rze persˆnlich empfangen, um Ihnen den Dank der Community f¸r diesen speziellen Fang auszusprechen..." Matt deutete eine Verbeugung an, und Sir Jefferson Winter fuhr fort, das einzig wahre London, das unterirdische London zu preisen und den Ruinen-Dschungel rechts und links der Themse zu beklagen. Auch beschwor er den Lebenstraum des verstorbenen Kˆnigs. "Die Pl‰ne Roger des Dritten haben gewaltigen Aufschwung erhalten, seit wir wussten, dass Sie uns das Geheimnis eines Immunserums mitbringen w¸rden." Mit einer Kopfbewegung unter seinem Helm wies er auf die beiden ƒrzte, die sich an Blacks Liege zu schaffen machten. Sie waren im Begriff, dem Mann aus Washington eine Probe dessen abzunehmen, was f¸r die Community von praktisch unbezahlbarem Wert war: sein Blut. "Fast jede Abteilung arbeitet seit vier Wochen an der Verwirklichung des Roger-Plans, nachdem Mr. Tsuyoshi und Miss Hardy zu uns gestoflen waren. Nun droht der B¸rgerkrieg der Barbaren uns einen Strich durch die Rechnung zu machen. Vielleicht kˆnnen Sie jetzt ermessen, wie dankbar wir f¸r die Gefangennahme dieses Walka sind. Bald werden wir London wieder aufbauen kˆnnen. Das Geb‰ude, in dem wir uns befinden, beherbergte ¸brigens einst das Parlament von Groflbritannien..." Er wandte sich in erster Linie an den nackten und bis zum Bauchnabel nur mit einem weiflen Tuch zugedeckten Mann auf der Behandlungsliege. Eigentlich nur an ihn; die anderen kannten ja die ˆrtlichen Verh‰ltnisse mehr oder weniger gut. Gesehen allerdings hatte Mr. Black im Grunde nichts,
w‰hrend man ihn in einem EWAT durch die Ruinen Londons transportiert hatte. Erstens lag er w‰hrend des Fluges schon auf einer Trage, und zweitens hatte Commander Curd Merylbone ihm vor dem Start den Sch‰del dermaflen gr¸ndlich bandagiert, dass sein linkes Auge verdeckt und das Blickfeld seines rechten stark eingeschr‰nkt war. So hatte er durch die Sichtkuppel des Hecksegments vor allem einen verregneten Himmel gesehen. Nur als der EWAT Queen Victorias – ein Witz, dieser Name f¸r eine vor Erotik spr¸hende Frau, fand Black – die Themse ¸berflog, schauten f¸r Sekunden die maroden T¸rme der Towerbridge auf ihn herunter. Ein Anblick noch trauriger als der graue Himmel und ganz und gar dazu angetan, Blacks Verdrossenheit zu vertiefen. Jetzt steckte der grˆflte Teil seines kantigen Sch‰dels in einer Art Blase – einer mit Plasma gef¸llten Kunststoffkugel –, und nur sein Gesicht schaute heraus. Ein bisschen sah das aus, als w¸rde sein Kopf jeden Moment in einem ballfˆrmigen Kissen versinken. Die anderen – Matthew Drax, der einarmige Aiko und Honeybutt Hardy – standen um die Behandlungsliege herum, und betrachteten ihn mitleidig oder besorgt. Die beiden ƒrzte trugen Schutzanz¸ge. Einer bohrte eine lange d¸nne Nadel in die Haut unter Blacks rechtem Schl¸sselbein. Der andere verband den Konus am Ansatz der Nadel mit einem d¸nnen Plastikschlauch. Und Aruula? Ein paar Stunden lang hatte sie geschlafen und danach ohne Fr¸hst¸ck das SEF verlassen. Die N‰he der kahlkˆpfigen Menschen in Schutzanz¸gen war ihr unangenehm, in den Kuppelr‰umen f¸hlte sie sich eingesperrt und die Nahrung schmeckte ihr nicht. Von den verb¸ndeten Lords auflerhalb des SEF hatte sie sich Speer und Bogen geliehen und lauerte nun am Themseufer auf frischen Fisch. General Charles Draken Yoshiro hatte zwei Unteroffiziere der Community-Force zu ihrem Schutz abkommandiert, und ein
Veto der Queen hatte einen der beiden wieder zur¸ck in die Bunkerstadt beordert. "Ihre Majest‰t, Roger der Dritte, fiel vor drei Jahren in der Schlacht gegen die Invasoren aus dem ehemaligen Skandinavien, die sogenannten Nordm‰nner", fuhr Jefferson Winter fort. "Aber das werden Sie inzwischen gehˆrt haben, Mr. Black." Winter seufzte so tief, dass sein Helm sich f¸r kurze Zeit von innen beschlug. "Handlanger jenes selbst gek¸rten 'Weltrates', wie wir mittlerweile von Miss Hardy und Mr. Tsuyoshi erfahren haben. Der Traum des toten Kˆnigs aber kann nun bald Wirklichkeit werden: Dank Ihnen, Mr. Black." Jefferson Winters rote Augen lˆsten sich von dem Running Man und ruhten ein paar Atemz¸ge lang wohlgef‰llig auf dem Kunststoffbeutel, der ¸ber den d¸nnen Schlauch mit Blacks Schl¸sselbeinvene verbunden war und sich nun langsam mit seinem Blut f¸llte. "Schon okay, Mister." Black sprach so laut, dass Matt zusammenzuckte. "Wissen Sie, ich versteh Sie sehr schlecht!" Black deutete mit beiden H‰nden auf die Stellen des PlasmaKissens, wo man in der gelblichen Fl¸ssigkeit verschwommen seine Ohren erkennen konnte. "Was glauben sie, wie lange ich hier noch liegen muss?!" "Ein paar Stunden noch", sagte einer der beiden ƒrzte. "Hˆchstens zwˆlf." Behutsam strich er die kleine Folie aus Trockenplasma auf Blacks Brustbein glatt. Matt beugte sich ¸ber den Gef‰hrten. "Machen Sie sich keine Sorgen." Aus schmalen Augen versuchte er die gelbliche Fl¸ssigkeit innerhalb des Plasma-Kissens zu durchdringen. Sie hatten die Sch‰delschwarte lediglich an drei Stellen mit einer klebrigen Peptidmasse fixiert. An dem gut f¸nfzehn Zentimeter langen Wundrand waberten Blutschlieren, Bl‰schen perlten aus ihnen. "Man kann dabei zusehen, wie es zusammenw‰chst." "Und das Haar?", knurrte Black. "W‰chst es auch schon
wieder?" Matt sch¸ttelte den Kopf. Sie hatten dem Klon Pr‰sident Schwarzeneggers den Sch‰del kahl rasiert. Ein am¸santer Anblick, Matt verkniff sich aber jeden diesbez¸glichen Scherz. Er wandte sich wieder den anderen zu. Stundenlang hatten sie einander ihre Erlebnisse berichtet – Matt, Aruula und Black einerseits, und Aiko und Honeybutt andererseits. Vier Wochen war es her, dass das Paar in der Community London angekommen war. Der strahlenkranke Pieroo war noch mitten in seiner Behandlung auf eigene Faust und mit Hilfe der Hydriten nach Meeraka aufgebrochen, um seine Familie zu suchen. Matt hoffte, dass sein barbarischer Freund wohlauf war. Bei n‰chster Gelegenheit w¸rde er sich bei den Hydriten nach ihm erkundigen. Von Rulfan und Dave McKenzie wussten Aiko und Honeybutt genauso viel zu erz‰hlen wie das Trio um Matt: nichts. Dabei h‰tte deren Schaufelraddampfer nicht lange nach dem Dingi eintreffen m¸ssen. Es schien eine Verzˆgerung gegeben zu haben. "Schade, dass wir lediglich Mr. Blacks Blut f¸r das Serum verwenden kˆnnen", sagte einer der ƒrzte. "Ein zweiter Spender h‰tte den Vorgang beschleunigt." "Ich wollte, es w‰re mˆglich", sagte Matt schulterzuckend. "Aber mein Blut..." Nat¸rlich hatte er darauf gedr‰ngt, sein eigenes Blut untersuchen zu lassen, nachdem es bei den russischen Wissenschaftlern schon f¸r einige Aufregung gesorgt hatte. Mittlerweile lagen die Ergebnisse vor. Die ƒrzte der Community waren wie die Kollegen der Bunkerliga auf Tachyonen gestoflen! Woher sie stammten und wie sie sich in Matts Kˆrper halten konnten, blieb nach wie vor ein R‰tsel; sicher war nur, dass es unmˆglich war, exakt die Blutzellen aus seinem Blutplasma zu
isolieren, die man zur Herstellung eines Immunserums benˆtigte: die Lymphozyten. Die weiflen Blutkˆrperchen gehˆrten zu den Hauptdarstellern in der komplizierten Dramaturgie menschlicher Immunabwehr. "Ah, richtig, das R‰tsel um Ihr mit Tachyonen angereichertes Blut", liefl sich Sir Jefferson Winter vernehmen. Er r‰usperte sich. "Unsere Vordenker haben sich mit dem Thema befasst und eine Theorie entwickelt." Er verstummte bedeutungsschwanger. "Und?" Matt war ganz Ohr, und auch die anderen wandten sich zu Sir Jefferson um. "Nach ihr", fuhr der Octavian fort, "h‰ngt der ungewˆhnliche Befund mit Ihrem Zeitsprung vor fast vier Jahren zusammen, Commander Drax. Tachyonen gehˆren zur kosmischen Strahlung, und sie sind schneller als das Licht." Unterdessen lˆste der Arzt den blutgef¸llten Schlauch vom Shunt unter Blacks Schl¸sselbein und nahm den mit einem halben Liter Blut gef¸llten Kunststoffbeutel von dem Haken einer Teleskopstange, die aus der Kuppeldecke ragte. "Redet lauter, ich versteh nicht mal die H‰lfte!", forderte Black in seinem Plasma-Kissen. Sir Jefferson r‰usperte sich erneut und hob die Stimme. "Nun ja, die Theorie geht davon aus, dass Sie – und jedes andere Mitglied Ihrer Staffel – mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit jenen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum passiert haben. Vermutlich wurde bei der Gelegenheit Morphologie und Molekularstruktur ihrer Kˆrper f¸r unmessbar kurze Zeit auf gelˆst, ihr individuelles Raum-Zeit-Kontinuum gewissermaflen. So kˆnnten die Teilchen in ihre Organismen gelangt sein – und nach dem Wechsel zur¸ck auf die normale Zeitebene waren sie quasi darin eingekapselt." ƒhnliche Gedanken – allerdings weniger wissenschaftlich fundiert – hatte auch Matt schon gew‰lzt. Was lag n‰her, als den Zeitsprung f¸r die Ver‰nderung verantwortlich zu
machen? Der Octavian zuckte mit den Schultern. "Wenn nun die Blutuntersuchung der anderen ¸berlebenden Staffel-Mitglieder ebenfalls Tachyonen ergibt, w‰re dies schon fast der Beweis f¸r diese Theorie. Leider haben wir bei unseren StandardUntersuchungen mˆgliche Tachyonen in Professor MeKenzies Blut nicht entdeckt, als er noch bei uns weilte." Matt dachte an Jenny – und an Professor Dr. Smythe. Demnach w‰ren auch sie... ja, was? Infiziert? Belastet? Gesch‰digt? Im gleichen Augenblick sprach Aiko die Frage aus, die in Matts Eingeweiden bohrte, seit er im Bunker Grofler Peter den Begriff Tachyonen zum ersten Mal gehˆrt hatte: "Und was kˆnnten diese Teilchen in Commander Drax' Kˆrper bewirken?", wollte der Cyborg wissen. "Genau diese Frage versucht Bacon zur Zeit zu lˆsen." Den Beutel mit Blacks Blut in der Hand, stand der Arzt neben Matt. "Er f¸ttert die Zentral-Helix schon mit allen verf¸gbaren Daten." "Wer ist Bacon?", fragte Matt mit heiserer Stimme. "Ein Mˆnch aus dem Hochmittelalter." Der Arzt grinste. "Oder ein Philosoph und Schriftsteller der Renaissance. Bruder Roger Bacon oder Sir Francis Bacon, suchen Sie es sich aus." "Verzeihen Sie, Sir", ein Reiflverschluss ging durch Matts Miene, "aber verarschen kann ich mich selbst." "Francis Bacon ist der E-Butler unseres WissenschaftsOctavians Anthony Hawkins", beeilte Winter sich zu sagen. Jetzt erst erinnerte Matt sich an den Mˆnch. "Ihr Freund, Professor McKenzie, hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass der mittelalterliche Mˆnch Bacon mit Vornamen Roger hiefl. Francis Bacon dagegen war ein Philosoph des siebzehnten Jahrhunderts. Gemeinsam war beiden, abgesehen von ihrem Nachnamen, ihr Scharfsinn. Insofern macht der Irrtum Sinn, und Sir Hawkins' E-Butler beh‰lt seinen Namen und seine Kutte."
"Aha", machte Matt. Der Mediziner ging zur Schleuse des Septisch Externen Foyers – ehemals ein Teil der Westminster-Hall-Ruine, den man durch ein Kuppelgewˆlbe abgest¸tzt und durch Schleusen einerseits von der Auflenwelt, andererseits von der eigentlichen Bunkerstadt unter der Erdoberfl‰che abgeschottet hatte. "Was meinen Sie?", rief Winter dem Mediziner hinterher. "Wie lange werden Sie brauchen, bis das Serum an einem von uns getestet werden kann?" "Mindestens eine Woche. Allerdings..." Der Mediziner drehte sich um, betrachtete den Verletzten auf seiner Behandlungsliege und fuhr dann leiser fort. "Allerdings kˆnnen wir die Nebenwirkungen, von denen Mr. Black sprach, in dieser kurzen Zeit nicht hinreichend erforschen, geschweige denn neutralisieren. " Nebenwirkungen – so konnte man es auch nennen. Fakt war, dass der Weltrat ¸ber kurz oder lang durch diese Nebenwirkungen aussterben w¸rde. Denn das Serum machte bei l‰ngerem Gebrauch unfruchtbar. Die Russen waren bereits dabei, dieses Problem einzugrenzen und wenn mˆglich zu eliminieren. "Gehen Sie an die Arbeit, Dr. Snyder." Sir Jefferson Winter winkte ab. "Das Octaviat wird sich morgen damit auseinandersetzen." Eine T¸r in der Kuppelwand schob sich auseinander, der Mediziner betrat die Schleuse und verliefl das SEF. Sir Jefferson Winter wandte sich an Matthew Drax. Seine roten Augen schienen plˆtzlich heller geworden zu sein, ein L‰cheln spielte um seine farblosen Lippen. "Nicht mehr lange, Commander Drax, dann werden wir einander ohne Schutzanz¸ge gegen¸bertreten kˆnnen..." *
"Die Geschichte Londons wird in Zukunft immer mit Ihrem Namen verkn¸pft sein, Mr. Black", sagte Sir Jefferson Winter. "Mit Ihrem und mit Commander Drax' Namen." "Was haben Sie gesagt?!", rief Black. Der Octavian zuckte zusammen. Mit lauter Stimme wiederholte er seine Worte. Black verdrehte die Augen; nach Matts Geschmack h‰tte er ruhig ein wenig hˆflicher sein kˆnnen. "Lady Warrington und die Queen werden in den n‰chsten Stunden persˆnlich nach Ihnen schauen, Mr. Black." Winter dr¸ckte die rechte Hand des Rebellenf¸hrers. "Wenn's sein muss", knurrte der Mann aus Washington. Nein, bisher hatte ihm London keinerlei Anlass zu gehobener Stimmung geboten. Winter r‰usperte sich. Die verschlossene Miene des Mannes aus Washington machte ihn verlegen. "Mr. Black erh‰lt jeden Komfort, den er w¸nscht", sagte er an die Adresse des verbliebenen Arztes. Schliefllich ber¸hrte er Matt am Arm und f¸hrte ihn von der Behandlungsliege weg. "Die Queen wartet, Commander." Ein paar Meter neben der Schleuse schoben sich die beiden Fl¸gel einer Luke auseinander. Durch sie verlieflen der kˆnigliche Berater und der Mann aus der Vergangenheit den Behandlungsraum. Matt drehte sich um und winkte Honeybutt Hardy und dem Cyborg zu. "Bringt ihn irgendwie zum Lachen!", rief er, w‰hrend die Luke sich schloss. Sie betraten einen Gewˆlbegang. Rechts und links in der durchsichtigen Wand bewegten sich die Illusionen dichter Baumkronen hin und her – Eichen, Weiden, Buchen, Ahorn – das Rauschen der Bl‰tter und des Windes hˆrte Matt nicht. Dahinter erhob sich schwarzes Gem‰uer jeden Zersetzungszustandes – keine Illusionen. Matt sah Reste von Spitzbogenfenstern, Giebelt¸rmchen, fast vollst‰ndig erhaltene Portale und einen ehemals weiten Saal, dessen Decke teilweise zusammengebrochen war, sah Schutth¸gel, sah vor allem
Gestr¸pp, B‰ume und dunkles, glattes Gr¸n ganzer Teppiche von Klettergew‰chsen. Etwas entfernt unter einem S‰ulengang stiegen Rauchfahnen in die Ruinen eines Turmes. An einem der Feuer erkannte er Aruula unter ein paar Lords. Unwillk¸rlich sch¸ttelte er den Kopf – der Kampf gegen die betrunkene Horde des Rotbartes schien seine Gef‰hrtin nicht sonderlich eingesch¸chtert zu haben. "Hol dir blofl keine L‰use", murmelte er und winkte. Sie sah ihn nicht. Winter ¸berhˆrte sein Gemurmel diskret. "Dieser Gang f¸hrt zum Hauptschott", sagte er. "Fr¸her gingen hier die Parlamentarier zu den Sitzungen. Da brauchte man allerdings noch keine Titanglaskuppel." T‰uschte sich Matt und flog da ein sarkastisches Grinsen ¸ber die Miene des Octavians f¸r Kultur und Unterhaltung? Plˆtzlich nahm er einen Lichtschein rechts von sich wahr – er wich zur¸ck, verlangsamte seinen Schritt. Das Licht nahm eine quadratische Form an, leuchtete in hellem Blau und glitt in Schrittgeschwindigkeit ¸ber die bis auf die Baumillusionen durchsichtige Wand. Eine Gestalt kristallisierte sich aus dem Milchblau, eine Cartoon-Maus. Micky Maus, der E-Butler des toten Kˆnigs Roger III. "Biglord Walka gibt auf." Es sah aus, als w¸rde die Comicfigur neben ihnen herlaufen. "Wenn wir ihn freilassen, liefert er die Mˆrder von Grandlord Rudy an Grandlord Parcival aus. Auflerdem w¸rde er in diesem Fall eine Erkl‰rung unterzeichnen, in der er auf jede weitere Kampfhandlung verzichtet, und einen der Sˆhne Rudys als neuen Grandlord seines Clans akzeptiert." Micky Maus hob die rechte, weifl behandschuhte Pfote, dr¸ckte eines seiner eierfˆrmigen Augen zu und sagte: "Hi, Drax! Nett, dich in organisch strukturierter Form wiederzusehen. Wie geht's denn so?" Matt fehlten die Worte. "Sie erinnern sich doch noch an Micky?", fragte Winter.
"Willst du mich beleidigen, Jeff?" Micky schloss die Augen und sch¸rzte die Lippen. "Niemand, der mich einmal gesehen hat, vergisst mich je wieder." "Die Queen hat ihn zwar von ihrem Vater ¸bernommen, konnte sich aber auf die Dauer nicht an seine Umgangsformen gewˆhnen", erkl‰rte der Octavian. "Eine aristokratische Zicke erster G¸te!" Micky Maus zischte. "Wenn du ihren neuen E-Butler siehst, kippst du aus deinen alten Army-Stiefeln, das gebe ich dir schriftlich...!" "Ich muss doch sehr bitten, Micky!" "Und was ist mit Ihrem E-Butler?" Sehr gut erinnerte Matt sich an Sokrates. "In Urlaub." Wieder zwinkerte Micky. "Eine Geschichte, ¸ber die ich nicht gern spreche, Commander Drax." Winter wandte sich im Laufen an den EButler. "Walka w¸rde alles unterschreiben, nur um genau so weitermachen zu kˆnnen wie bisher. Wir werden morgen oder ¸bermorgen im Octaviat dar¸ber beraten. Setz dich mit Herkules in Verbindung, er soll den Punkt auf die Tagesordnung setzen." Herkules war der E-Butler der Prime. Auch das hatte Matt nicht vergessen. Der Monitor stand still, zwischen den B‰umen wurden die Fugen einer Luke sichtbar. "Sie werden erwartet, Drax." Micky zog eine feierliche Miene. Das sah ziemlich ulkig aus. Sir Jefferson Winter r‰usperte sich. "Die Queen will Sie sprechen, ich erw‰hnte es bereits." Matt fragte sich, warum der bleiche Mann plˆtzlich keinen Blickkontakt mehr mit ihm hielt. "Unter vier Augen. Danke, Micky, das w‰re es." Und dann an Matts Adresse: "Wir sehen uns sp‰testens in achtundvierzig Stunden zur Octaviatssitzung." Die Luke zwischen den B‰umen ˆffnete sich. Matt betrat einen halbdunklen Kuppelraum. Ein paar Sterne glitzerten an einem d‰mmrigen Morgenhimmel. Am anderen Ende des Raumes, also Matt gegen¸ber, waberte ein Glutstreifen ¸ber
einem imagin‰ren Horizont. Vor seinem zunehmenden Licht erkannte Matt die Umrisse einer menschlichen Gestalt. "Treten Sie n‰her, Commander Drax. Ich freue mich ¸ber diesen kostbaren Augenblick allein mit ihnen", hauchte eine Frauenstimme. Matt hˆrte, wie sich die Luke hinter ihm schloss. Zˆgernd ging er auf die Gestalt zu. W‰hrend die imagin‰re Sonne sich in den imagin‰ren Himmel schob, umh¸llte ein immer intensiver leuchtender Schein die Queen. Was f¸r eine raffinierte Inszenierung! Matt l‰chelte, und bewunderte zugleich die Hartn‰ckigkeit, mit der diese Frau, die dort nur vier Schritte entfernt in einem tief ausgeschnittenen und hautengem Kleid auf ihn wartete, ihr Ziel anstrebte. Was f¸r ein Ziel das war, hatte der Commander l‰ngst begriffen: Queen Victoria II wollte ihn. Matt blieb stehen. Der Schreck fuhr ihm in alle Glieder. "Hˆren Sie, Victoria! Ihre Hormone in allen Ehren, aber wie kˆnnen Sie so leichtsinnig sein, mir ohne Schutzanzug gegen¸ber zu treten?!" Sie l‰chelte nur, trat einen Schritt vor, hob die Handfl‰chen und spitzte ihre vollen Lippen. Ihre Innenhand entf‰rbte sich, die Maserung ihrer Haut trat hervor, und der Kreis ihrer feuchten Lippen schwoll, als w¸rde sie eine Glasscheibe k¸ssen. Was sie auch wirklich tat. Sie stiefl sich ab und lachte laut. "Noch trennt uns diese Scheibe, Matt. Aber bald kˆnnen wir ohne solche Sicherheitsmaflnahmen miteinander verkehren. Ohne Schutzanz¸ge und..." Ihre heisere Stimme betonte die entscheidenden Worte – ohne und verkehren und Schutzanz¸ge – auf eine Weise, dass auch der harmloseste Mann den Satz in Victorias Sinn h‰tte erg‰nzen kˆnnen. Matt war alles andere als harmlos. Ohne Kleider, hallte es durch seinen Kopf. "Ich sch‰tze Sie, Victoria, ich mag Sie sehr, aber..." Matt
bewegte sich auf sie zu, st¸tzte sich mit den Handfl‰chen gegen die unsichtbare Wand. Sie f¸hlte sich warm an. "... aber Sie wissen sicher, dass Aruula und ich ein Paar sind. Und das schon seit fast vier Jahren." "Eine Barbarin, Commander!" Sie wurde heftig. "Eine wunderbare Frau und treue Gef‰hrtin." "Sie sind an Sie gewˆhnt, weiter nichts! Und dann, Matthew – alles geht einmal vorbei! " "Ich teile Ihre Weltsicht, Victoria, alles geht einmal vorbei. Aber ich m¸sste verr¸ckt sein, mich auf Grund dieser Einsicht von einer Frau zu trennen, die ich liebe und der ich Treue versprochen habe!" "Treue!" Sie winkte ab. "Wir hier unten pflegen durchaus die Beziehung zu mehreren Geschlechtspartnern, verstehen Sie, Matt?" Sie setzte ein verf¸hrerisches L‰cheln auf und stemmte die F‰uste in ihre schmale Taille. "Ich bin – im fortpflanzungsethischen Sinn unserer Gesetze gesprochen – eine Eins. Sie wissen was das heiflt." O ja, Matt kannte die Rechte einer Eins: Wessen Gene von den Molekularbiologen der Community mit der Ziffer Eins ausgezeichnet wurden, der durfte sich seinen Geschlechtspartner frei w‰hlen. Die Queen dr‰ngte sich an das unsichtbare Hindernis, legte ihre Handfl‰chen auf Matts, dr¸ckte ihren Kˆrper an der gleichen Stelle gegen das Glas, an der Matt lehnte. Nur die Scheibe trennte sie, und Matt war auflerstande, zur¸ckzuweichen. Er sah die samtbraune Haut ihrer Schultern, er sah ihre Brustans‰tze und meinte ihren Duft zu riechen. "Ich mache Sie zum Vater einer k¸nftigen Kˆnigin, eines k¸nftigen Kˆnigs von Britannien." Jetzt fl¸sterte sie nur noch. "Bitte, Matt, sag ja... ich liebe dich so sehr..." Eigenartig trocken wurde Matts Mund. Das Herz schlug ihm in der Kehle, und er glaubte zu versinken in den Smaragden ihrer Augen. Himmel, was f¸r eine Frau!
Tief atmete er durch, stiefl sich endlich von der unsichtbaren Wand ab und sch¸ttelte den Kopf. "Sorry, Victoria, das wird nichts. Ich bin ein guter Freund. Vergiss den Mann Matthew Drax, okay?" Die Abdr¸cke ihrer H‰nde auf der Glasscheibe verfl¸chtigten sich. "Wie kˆnnte ich das?!" Ihre Stimme klang zornig, ihre Miene nahm einen harten Zug an. Sie fuhr herum, stolzierte der Sonnenillusion entgegen und verschwand in einer Luke am rot leuchtenden Horizont eines imagin‰ren neuen Tages... * In der Nacht blies der Wind von Stunde zu Stunde heftiger. Die See hob das Schiff hoch, hielt es atemlose Augenblicke lang auf dem Kamm der Welle, um es dann aufs Neue in die bodenlose Tiefe zu st¸rzen. Wieder und wieder, hinauf und hinab, stundenlang. Aus der Dunkelheit hˆrte Bulba'han W¸rgen, Rˆcheln und Keuchen. Auch er selbst ¸bergab sich mehrmals. Im Morgengrauen dann tobte ein Orkan. Anstatt heller, wurde es dunkler, bis auf die Augenblicke, da Blitze ¸ber einen Himmel wie aus Teer zuckten. Holz knarrte, und manchmal, wenn die Wellen das Auflendeck ¸bersp¸lten, warfen sie Ger‰t, Holzplanken und Segeltuch gesunkener Schiffe an Bord, um daf¸r einen Gefangenen mit sich in den kochenden See zu reiflen, ein Kind, eine Frau oder einen Greis. Bulba'han klammerte sich an der Reling-Balustrade fest. Sein Geist besch‰ftigte sich mit seinen Atemz¸gen, z‰hlte seinen Herzschlag, liebkoste Tata'yas Bild. Irgendwann krachte es, als w¸rden sich Blitz und Donner im Ruderdeck austoben, und ein Zittern durchlief den Schiffsrumpf. Das Holz ‰chzte und stˆhnte. Von diesem Augenblick an hˆrte die Galeere auf, von Wellengipfeln in
Wellent‰ler zu st¸rzen. Das Rauschen verebbte allm‰hlich, das Heulen des Sturmes verstummte, der Himmel hellte sich auf. Von allen Seiten hˆrte Bulba'han Stˆhnen und Weinen. Bewaffnete wankten ¸ber das Auflendeck. Sie schwankten, stolperten, b¸ckten sich nach den Gefangenen, ¸berpr¸ften ihre Ketten und Stricke, verteilten Tritte und Kn¸ffe. Der Schiffsrumpf bewegte sich nicht mehr, und das Deck schien Bulba'han Richtung Bug leicht erhˆht zu sein. Waren sie auf ein Riff gelaufen? Oder gestrandet? Er zog sich an der Reling hoch, sp‰hte in Dunst und Wellen. Der Strand! Zwei, drei Schiffsl‰ngen entfernt dehnte er sich aus. Seeleute vom Volk der Narod'kratow wateten durchs Wasser. Es reichte ihnen bis an die H¸ften, hˆchstens bis zu den Schultern. Am Strand versammelten sie sich. Ratlos betrachteten sie ihre gestrandete Galeere, palaverten, kratzten sich die nassen Sch‰del. Bulba'han blickte auf den See hinaus und dann die K¸ste hinunter und hinauf: Nirgendwo entdeckte er eines der anderen vier Schiffe. Entweder waren sie gesunken oder weit entfernt gestrandet oder vom Kurs abgetrieben. Mit den beiden Beibooten brachten die Seeleute der Narod'kratow die Gefangenen in kleinen Gruppen an den Strand. Bulba'han hatte keine Ahnung, was sie planten. Auch die Rudersklaven aus dem Ruderdeck zwangen sie, in Ketten an Strand zu waten und sich dort in den Sand zu hocken. Von den bewaffneten Echsenm‰nnern sah er keinen mehr. Waren auch sie ¸ber Bord gegangen? "Was haben sie vor?", fl¸sterte Korsow'rulas. "Es ist nicht mehr weit bis nach Nirgendwo", entgegnete Dol'maan, so hiefl der greise Schwertkrieger. "Sie werden uns zwingen, zu Fufl in den Tod zu gehen." "In den Tod?" Bulba'han lehnte sich ¸ber die Reling. Sein Beinstumpf brannte. "Warum solltet ihr sterben m¸ssen? Habt
ihr auch ein Heer und eine Schlacht verloren?" "Du nimmst dich zu wichtig, junger Schwertkrieger", kr‰chzte Dol'maan. "Viel zu wichtig..." Am Strand fielen zwei Narod'kratow in den Sand. Die Echsenm‰nner, die ihn mit dem Netz gefangen hatten, tauchten plˆtzlich auf, br¸llten und schwangen ihre Eisenstangen zu den Steilklippen hinauf. Einen streckte ein Pfeil nieder. Gejammer brach unter den Gefangenen aus, ihre W‰chter und J‰ger duckten sich in ihrer Mitte, z¸ckten Schwerter und Messer, schwangen Beile, spannten Bˆgen. Von den Klippen her hˆrte man Geschrei. Kampfgeschrei. F¸r Bulba'hans Ohren klang es vertraut, ja, geradezu nach Heimat. "Die Abtr¸nnigen", fl¸sterte Korsow'rulas. Und Dol'maan kr‰chzte: "Sie greifen an!" Die Mienen beider Greise sahen nicht aus, als w¸rden sie das bedauern oder gar den Angriff der Krieger f¸rchten, die sie "die Abtr¸nnigen" nannten. Auch die anderen Gefangenen in Bulba'hans Blickfeld schienen wie elektrisiert: Sie hoben Kˆpfe und F‰uste, ihre R¸cken waren plˆtzlich straff, sie klammerten sich aneinander. Bulba'han selbst beobachtete das alles mit kaltem Hirn. W‰hrend des Sturmes hatte er seinen Geist entfernt von all dem Ungl¸ck – von Schmerz und Sturm und Tod. Wie entr¸ckt, als ginge es ihn nichts an, beobachtete er auch jetzt die Rotte der Schwertkrieger, die sich plˆtzlich von den Steilklippen lˆste. In seinem Kopf raunte es: Eine neue Chance. Sein Herz aber f¸hlte keine Freude, f¸hlte nichts. Nur so w¸rde es auch keine Entt‰uschung f¸hlen, wenn seine W‰chter den Angriff zur¸ckschlugen. Etwa ein Dutzend Schwertkrieger fuhr mit ihren Schwertern unter die Besatzung der gestrandeten Galeere. Ihre M‰ntel wehten, ihre Klingen sirrten durch die Luft, fuhren knirschend in Leiber und Sch‰del. Bulba'han beobachtete, wie Narod'kratow und
Echsenm‰nner blutend in den Sand sackten, wie Kˆpfe ins Wasser rollten, und wie die Brandung sich mit Blut f‰rbte. Ohne R¸hrung beobachtete er das. Keinen einzigen Gefangenen griffen seine Artgenossen an; nat¸rlich fiel ihm das auf. Er hatte sich nicht ¸ber seine Gefangennahme gewundert, nicht ¸ber den Sturm, nicht ¸ber den Schiffbruch. Auch ¸ber den Angriff seiner eigenen Leute wunderte er sich nicht. Nichts ber¸hrte ihn in diesen Augenblicken, also konnte ihn auch nichts verwirren. Er lebte, er atmete. Das allein war wichtig. Die fremden Schwertkrieger k‰mpften wie die Besessenen, als ginge es f¸r sie persˆnlich um Leben und Tod. So schien es Bulba'han, und nach wenigen Atemz¸gen war alles vorbei. Selbst die J‰ger, die sich ergaben, machten die Angreifer nieder. Danach hoben sie Schwerter und F‰uste und stimmten das Triumphgeschrei an, das der Ritus der Woiin'metcha seit Anbeginn der Zeit nach gewonnener Schlacht vorschrieb. Die Rotte der Krieger verk¸ndeten dem Morgenhimmel, dem See und den Klippen den Sieg. Bulba'han glaubte zu tr‰umen. Weitere Angehˆrige seines Volkes kletterten die Klippen hinunter, st¸rzten mit wehenden M‰nteln und Haaren an den Strand. Ja, mit wehenden Haaren – viele Frauen waren dabei. Sie k¸mmerten sich um die Gefangenen, lˆsten Fesseln, zerschlugen Ketten, streichelten Kinder, verteilten Fr¸chte, getrockneten Fisch und Leders‰cke mit Wasser. "Die Abtr¸nnigen...!" Die Stimme des alten Maulwurfsmannes zitterte. "Wir sind frei, wir werden leben..." "So alt und noch so dumm." Dol'maan zeigte sich vˆllig unber¸hrt. "Ein Aufschub, weiter nichts. Es ist vorbei." Nun stiegen die siegreichen Schwertkrieger in die Ruderboote, ruderten zur gestrandeten Galeere und kamen an Bord. Mit ƒxten zerschlugen sie die Ketten der Gefesselten und halfen ihnen ¸ber die Reling in die Ruderboote.
Einer starrte Bulba'han an, als h‰tte er einen D‰mon vor sich. Sein Kopf senkte sich, er blickte an Bulba'han hinunter. Sein Blick verharrte auf dem einzelnen Stiefel. "Wie es dir geht, sehe ich, Bruder. Ich frage nicht. Mein Name ist Haiku'karim." Er deutete eine Verbeugung an. "Wer bist du?" Der Krieger war noch j¸nger als Bulba'han selbst. "Bulba'han." "Bulba'han, der Mir'put auf Bluterde schlug und Tata'ya gewann?" Die rˆtlichen Augen des Schwertkriegers leuchteten auf. Er trat einen Schritt zur¸ck, verbeugte sich, trat wieder an Bulba'han heran, verbeugte sich wieder und sagte: "Komm, Bruder, leg deinen Arm um mich, ich helfe dir ¸ber die Reling." "Lass." Bulba'han zog dem anderen das Schwert aus der Scheide. "Ich gehe allein." Auf das fremde Schwert gest¸tzt, humpelte er zur Reling, stieg dar¸ber und kletterte aus eigener Kraft in das Ruderboot hinab. Neben Korsow'rulas sank er auf eine Ruderbank, fasste nach dem Holm und tauchte das Ruderblatt ins Wasser. Die Schwertkrieger beobachteten den Kr¸ppel voller Respekt, w‰hrend sie gemeinsam mit ihm das Boot an den Strand ruderten. "Ihr m¸sst mir das Boot ¸berlassen", sagte Bulba'han. "Ich brauche es. Noch zwei Tagesreisen liegen vor mir. Ich muss weiter nach Norden rudern. Zu meinem Dorf, zu Tata'ya..." "Du brauchst kein Boot, Bulba'han", sagte ihr Anf¸hrer. "Dort dr¸ben neben den Kinder der Narod'kratow, dort kniet sie..." Es war, als w¸rde die Zeit stehen bleiben. Sein Herz setzte aus, sein Atem. Er sah hin¸ber zum Strand, und weil sie im gleichen Moment ihren Kopf hob, begegneten sich ihre Blicke. Bulba'han sah Tata'ya, und Tata'ya erkannte Bulba'han... *
"... London und den Kratersee trennen ¸ber zehntausend Meilen, Miladys und Milords. Das kˆnnte Sie verleiten, die Probleme, die von dort auf uns zukommen werden, auf die lange Bank zu schieben oder gar zu ignorieren." Bis in die Einzelformulierungen hinein hatte Matthew Drax aufgeschrieben, was er der Regierung der Community London sagen wollte. Nun blickte sich der Mann aus der Vergangenheit in der Runde um und registrierte befriedigt den gleichen Ernst, ja sogar einen ‰hnlichen Schrecken in den Mienen der f¸nf M‰nner und vier Frauen, der auch ihn w‰hrend seines Berichts wieder erfasst hatte. "Wir hoffen inst‰ndig, Sie mit unseren Schilderungen vor einem derart tˆdlichen Fehler bewahrt zu haben", schloss er. "Die Daa'muren schicken sich an, unsere Erde in Besitz zu nehmen. Entweder wehren wir uns, oder wir verschwinden endg¸ltig von der Oberfl‰che dieses Planeten." Mit vollkommener Ruhe sprach er es aus. Dann nickte er der Queen zu und warf einen letzten fl¸chtigen Blick in die Runde der andere Acht. "Danke, Eure Majest‰t. Danke, Miladys und Milords." Matthew Drax' Schutzanzug raschelte, als er sich zur¸cklehnte. Neben ihm, unter dem runden Tisch aus hellblauem Glas, klatschte Mr. Blacks Stiefelsohle auf den Boden, wieder und wieder, in nervenzehrend langen Intervallen, als w¸rde unter dem Tisch ein sterbendes Herz nur noch ein paar Mal klopfen, bevor es ein f¸r alle Mal aufgab. Sonst herrschte Totenstille. Abwechselnd hatten sie ihre Erlebnisse am Kratersee geschildert. Matt eindringlich und mit manchmal heiserer Stimme, Mr. Black mit seinem Bass, der auch die Eingeweide des gelangweiltesten Zuhˆrers vibrieren lassen konnte gl¸cklicherweise ohne den steirischen Akzent, der seinem genetischen Vater zueigen gewesen war. Ein wenig grobschl‰chtig sah er aus mit seinem kantigen
Kahlsch‰del unter dem Helm. Keine Narbe war mehr zu sehen, dunkelblonde Stoppeln sprossen wieder. Mr. Black und Commander Drax waren die einzigen Schutzanzugtr‰ger am runden Glastisch. Miss Honeybutt Hardy, das Leben unter freiem Himmel genauso gewohnt wie Aruula von den Dreizehn Inseln, hatte sich der Barbarin beim Fischen und Jagen angeschlossen. Aiko Tsuyoshi hatte sich irgendwo in den teilweise exotischen R‰umen des SEF verkrochen. "Lasst mich in Ruhe", hatte er gesagt. "Ich hab denen das alles schon hundert Mal erz‰hlt." Matt sp¸rte die Blicke der Regierungsmitglieder auf sich ruhen. Jedes Mal, wenn er hoch schaute, sah er in smaragdgr¸ne und gerˆtete Augen. Die Queen sah schlecht aus; dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, und sie war blasser als sonst, mit einem bitteren Zug um den Mund. Hatte wohl wenig geschlafen seit ihrem Gespr‰ch vor zwei Tagen. Irgendwie tat sie Matt Leid, und irgendwie f¸rchtete er sie gleichzeitig. Doch das gestand er sich nur in besonders klarsichtigen Momenten ein. Winters gefaltete H‰nde lagen vor ihm auf dem Tisch. Wie von Pergament ¸berzogene Marmorbruchst¸cke sahen sie aus, als w¸rden sie nicht zu ihm gehˆren. Kaum waren die Aug‰pfel zwischen seinen Lidern zu erkennen. Ein Mann, der sich grofle Sorgen macht, dachte Matt erleichtert. Mit vor der Brust verschr‰nkten Armen und vorgeschobenem Kinn hockte die Prime auf ihrem Stuhl, fixierte irgendeinen Punkt in der Lagune hinter Black und Matt. Anderen schienen die Mienen eingefroren zu sein – dem dunkelh‰utigen Ibrahim Fahka zum Beispiel oder der hochgewachsenen, d¸rren Rose McMillan, Octavian f¸r Frauen, Kinder und Fortpflanzung – bis auf die Kaumuskeln, die pulsierten, als w‰ren sie zu selbstst‰ndigem Leben erwacht. Wieder andere notierten eifrig in Notizb¸cher oder Kleinstcomputer, die sie vor sich auf dem Tisch liegen hatten.
So wie der Wissenschafts-Octavian Anthony Hawkins, oder auch Valery Heath, die Octavian f¸r Auflenbeziehungen. Und das alles geschah unter der idyllischsten Kulisse, die man sich vorstellen kann – inmitten von Palmen, unter einem blauen Himmel und an einem weiflen Strand. Matt dachte an jene Hˆhle am Ufer des gewaltigen Kratersees, an die Eier, die er dort gesehen hatte, und er dachte an den Hydriten Quart'ol und an das, was der Fischmensch ¸ber die Daa'muren herausgefunden hatte. Und wieder schauderte es den Mann aus der Vergangenheit. Dampfende Lava statt S¸dsee, humanoide Echsenwesen auf dem Strand und ein brennender Himmel statt wolkenlosem Blau – das w‰re eine angemessene Kulisse auf der Kuppelwand des Sitzungssaals gewesen. Quart'ols Worte, nachdem er mentalen Kontakt zu einem der Geistwesen in den gr¸nen Kristallen aufgenommen hatte, klangen noch in seinen Ohren: "Sie sehen aus wie... Fische? Reptilien? Keine H‰lse, die Kˆpfe spitz wie die von Delfiinen. Keine Augen! Schuppen bedecken ihre Kˆrper wie Panzerplatten... und ihr Kˆrper endet in einer Flosse! Daa'muren! Sie nennen sich Daa'muren..." Das musste die Erscheinungsform der Auflerirdischen auf deren Heimatplaneten gewesen sein, einer Welt aus Lava. Bevor sie mit dem Kometen auf die Erde kamen, ihre Geister eingeschlossen in die Kristalle. Auch ihren neuen Kˆrper hatte Quart'ol in einer kurzen Vision gesehen: ein silbergl‰nzendes Reptil, aufrecht auf zwei Beinen gehend. So musste der Organismus aussehen, der in den Eiern heranreifte. General Charles Draken Yoshiro war der Erste, der wieder Worte fand. "Es f‰llt mir verflucht schwer, etwas zu glauben, das ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe." Seine hohe Stimme kr‰chzte heiser, er r‰usperte sich ein paar Mal. "Schon gar nicht, wenn es sich um derartige Schauergeschichten handelt, wie Commander Drax und
Commander Black sie uns aufgetischt haben." Aus irgendeinem Grund nannte er Mr. Black Commander. "Aber ich kann mir nicht helfen: Ich glaube den M‰nnern. Schon ihren Gef‰hrten Mr. Tsuyoshi und Miss Hardy habe ich geglaubt." Er wandte sich an die Queen und die Prime; die Frauen saflen nebeneinander. "Mein Vorschlag: Total-Mobilmachung, die Produktion einer zweiten EWAT-Flotte, Kontaktaufnahme mit der russischen Bunkerliga, und die sofortige Serienproduktion des neuen Serums." Wilde Freude loderte in Matts Brust auf. Zum ersten Mal mochte er den knurrigen Haudegen. Der Mann hatte die Schrift an der Wand erkannt und verstanden! "Klingt gut", sagte Lady Warrington. "Aus diesen Stichpunkten liefle sich ein vern¸nftiges Konzept basteln." Die Prime blickte in die Runde. "Und was meinen die anderen?" So war sie immer, so gab sie sich auch jetzt: knapp und k¸hl. Valery Heath ergriff das Wort. "Wir kˆnnen keine Entscheidung treffen, ohne diese schwerwiegende Angelegenheit mit Sir Leonard und der Community Salisbury zu diskutieren..." "Niemand verbietet uns das!" Der General neigte dazu, anderen ins Wort zu fallen. "Doch je klarer unser Standpunkt dann ist, desto k¸rzer wird die Diskussion sein!" "... und mindestens genauso wichtig scheint mir ein endg¸ltiger und rechtskr‰ftiger Friedensvertrag mit den Socks", fuhr die Octavian f¸r Auflenbeziehungen unbeirrt fort. "Wohl wahr." Diesmal wiegte der General seinen kurzen Sch‰del hin und her. "Die wilden Stinkstiefel da oben sind als K‰mpfer nicht zu verachten. Nur, wenn wir Pech haben – oder Gl¸ck, je nach Standpunkt –, rotten sie sich demn‰chst gegenseitig aus." "Das mit dem Serum gef‰llt mir nicht", schaltete Rose McMillan sich ein. "Hat Mr. Black uns nicht vor der daraus resultierenden Unfruchtbarkeit gewarnt? Was n¸tzt es uns, ohne
Schutzanz¸ge an der Erdoberfl‰che zu agieren, St‰dte und Maschinen im groflen Stil bauen zu kˆnnen, wenn wir in ein paar Jahrzehnten sowieso aussterben? Ist es das wirklich wert?" "Nun, Ma'am", meldete sich Black zu Wort. "In Washington hat es um die f¸nf Jahre gedauert, bis diese Nebenwirkung sich einstellte." "Zeit genug, um ein Gegenmittel zu finden", warf Hawkins ein, der Wissenschafts-Octavian. "Im mittleren Westen des Nordamerikanischen Kontinents trafen Aruula und ich auf Agenten des Weltrats, die den Entzug des Serums ¸berlebt hatten", berichtete Matt. "Ihre Kˆrper schienen wieder selbst Immunzellen zu produzieren. Eine Langzeitwirkung des Serums, vermute ich." Dass viele der im Westen verschollenen Expeditionsmitglieder verstorben waren, nachdem ihnen das Serum ausgegangen war, erw‰hnte er lieber nicht. Genau wie Black hatte der Commander nur ein Ziel: Die Bunkerkolonisten von London sollten alle zur Verf¸gung stehenden Register ziehen, um sich f¸r den Kampf gegen die Daa'muren zu r¸sten. "Angesichts der drohenden Gefahr sollten wir nicht zˆgern, das Serum einzusetzen", sagte die Prime. "Selbst in Anbetracht des Risikos." Sie wandte sich an den Wissenschafts-Octavian. "Wann kˆnnte das Serum in Serienproduktion gehen?" "Theoretisch schon morgen", antwortete Hawkins. "Nur sollten wir es vorher an einem Freiwilligen testen." "Ich bin die Testperson." Alle Blicke hingen auf einmal an der Queen. "Das bin ich meiner Community schuldig", fuhr Victoria fort. "Ihre Leute werden mir das Serum injizieren, Sir Anthony, und ich werde ohne Schutzanzug die Bunkerstadt verlassen." "Ausgeschlossen!", platzte es aus Sir Jefferson Winter heraus. "Ganz und gar ausgeschlossen!" "Ihr seid es der Community schuldig, dass Ihr am Leben bleibt, Eure Majest‰t", sagte die Prime auf ihre trockene Art.
"Ich bin die Testperson", beharrte Victoria. "Doch das brauchen wir hier nicht zu diskutieren. Ich stimme ¸brigens mit Lady Valery darin ¸berein, dass wir das B¸ndnis mit den Socks ein f¸r alle Mal besiegeln sollten. Wir kˆnnen es uns nicht leisten, London mit feindlichen Vˆlkern zu teilen..." "Bravo, Eure Majest‰t! Meine Worte...!" General Yoshiro klatschte in die H‰nde, andere nickten beif‰llig. "Eine andere Mˆglichkeit w‰re nat¸rlich zu warten, bis sie sich gegenseitig aus der Welt geschafft haben!" Es sagte das mit einem spˆttischen Unterton, und Matt war sich nicht sicher, ob es ein Witz gewesen sein sollte. Die Queen nahm ihren General ernst. "Falsch!", rief sie. "Wir brauchen sie! Wir brauchen sie als Soldaten, als Arbeiter. Ihre Konflikte also m¸ssen wir so schnell wie mˆglich aus der Welt schaffen, nicht sie!" Sie beugte sich ¸ber den Tisch, legte die Fingerspitzen ihrer schˆnen H‰nde zusammen und blickte angriffslustig in die Runde. "Deswegen habe ich mich entschlossen, den Biglord Walka zu begnadigen." Kein Tumult, nein, verbl¸fftes Schweigen war die Reaktion. Selbst dem Choleriker Yoshiro hatte es die Sprache verschlagen. Allerdings sah Matt violette Adern zwischen blauen Haarstr‰hnen an seiner Schl‰fe anschwellen. Die Luft im Kuppelsaal knisterte plˆtzlich. ‹ber Palmen und Meer schien sich ein Gewitter zusammenzubrauen. Das breite Gesicht der Prime verf‰rbte sich rot. Irgendjemand sog scharf die Luft durch die Nase ein. Matt selbst begriff nicht ganz, was die Queen mit diesem Coup beabsichtigte. Der Otavian f¸r Bauwesen, Infrastruktur und Logistik r‰usperte sich. "Verzeiht, Eure Majest‰t, aber das scheint mir doch ein grofler Fehler zu sein." Louis Blair fiel normalerweise nur durch Wortkargheit auf. Allenfalls noch durch sein Mondgesicht und seinen Zwergwuchs. Man hatte ihm ein paar Kissen auf den Stuhl gelegt, damit sein Oberkˆrper die
Tischkante wenigstens vom Brustbein aufw‰rts ¸berragte. "Mit Walka haben wir den Schl¸ssel zur Beendigung der Clankriege in der Hand!" "Falsch, Sir Louis!", blaffte die Queen. "Mit seiner Begnadigung haben wir den Schl¸ssel zum Frieden in der Hand. Denn er wird uns die Mˆrder von Grandlord Rudy..." "Das ist mein Gefangener!" Endlich polterte der General los. "Was untersteht Ihr Euch...!" Der Rest seines Satzes ging in allgemeinem und lautstarkem Stimmengewirr unter. Vor allem Josephine Warrington, die Prime, erregte sich stimmgewaltig ¸ber die Eigenm‰chtigkeit ihrer Queen. "Ich muss doch sehr bitten, Ladys und Gentlemen!" Mit beiden Handfl‰chen schlug Victoria auf den Glastisch. Sofort senkte sich der Ger‰uschpegel. "Ich bin die Queen, und unser Gesetz r‰umt mir nicht nur Vetorecht ein, sondern auch das Recht zu begnadigen, wen immer ich begnadigen will!" "Jedoch nicht ohne zuvor die Regierung informiert zu haben!" Die Prime klopfte mit der Faust auf den Tisch. "Immerhin handelt es sich um einen Gefangenen des Octaviats...!" "Sorry, Ma'am", unterbrach Matt. Er nickte in Richtung des Generals. "Pardon, Sir. Aber der Rotbart ist mein Gefangener. Und wenn die Queen beliebt, ihn zu begnadigen, akzeptiere ich das selbstverst‰ndlich." Sp‰ter, als er sich wegen dieser beiden S‰tze am liebsten die Zunge abgebissen h‰tte, fragte sich Matt, warum er sich ¸berhaupt eingemischt hatte. Wahrscheinlich eine Geste der Versˆhnung an Victoria. Jetzt waren sie gesagt, die w¸tenden Octaviane verkniffen sich jede weitere Kritik, und die Queen schenkte Matt ein bezauberndes L‰cheln. "Ich danke Ihnen, Commander Drax. Biglord Walka wird in diesen Minuten freigelassen..." *
Sie stand hastig auf, drehte sich um, torkelte, schritt zu den Klippen, und jeder Schritt war, als w¸rde sie auf d¸nnem Eis laufen. Bulba'han biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte. Seine Finger umklammerten den Ruderholm. Sie schauten weg, alle Schwertkrieger, jedenfalls taten sie so. Doch gleichzeitig wechselten sie verstohlene Blicke. Die Kinder unter den Gefangenen sp¸rten die Spannung. Unbarmherzig ruhten die Blicke der meisten auf dem geschundenen, verkr¸ppelten Schwertkrieger, neugierig auf dem R¸cken der jungen Woiin'metcha-Frau. Ein Kleinkind riss sich von seiner Mutter los und tapste hinter der Frau her, die so seltsam steif den Klippen entgegen wankte. Dol'maan hinkte dem Rriba'low-Kind hinterher, hielt es fest und brachte es der Mutter zur¸ck. Ohne sich noch ein einziges Mal umzublicken, erreichte Tata'ya die Klippe, verschwand schliefllich hinter einem bewachsenen St¸ck Hang. Bulba'han rammte das Schwert Haiku'karims in den Bootsrand. Er zog sich hoch, atmete durch, bis er das Schwanken, den Schmerz und den Schwindel unter Kontrolle hatte. Sein Blick war leer, seine Lippen ein grauer Strich. Die Angehˆrigen seines Volkes taten besch‰ftigt. Sprachen mit den Gefangenen, lˆsten Fesseln, verbanden Wunden, hantierten an den Booten herum. Das Gesetz der Vorv‰ter verbot es Liebenden vor Zeugen zu zeigen, was sie f¸hlten. Und den Zeugen verbot das Gesetz, sich anmerken zu lassen, dass sie es dennoch sahen. Jetzt wankte Bulba'han nicht mehr. Er blickte in den Himmel, als wollte er den Kurs der Wolken pr¸fen. Mit beiden H‰nden packte er den Schwertgriff, zog die Klinge aus dem Holz und stiefl sie tief in den nassen Sand neben dem Boot. Dann ging er in das Knie und sprang ¸ber den Bootsrand. Er
wankte, hielt sich vergeblich am Schwertgriff fest, kippte mitsamt der Klinge in den Sand. Keiner wandte sich nach ihm um, keiner k¸mmerte sich um ihn. Und doch sp¸rte Bulba'han genau, wie sie alle den Atem anhielten. Der alte Korsow'rulas war es schliefllich, der herbei sprang, kaum dass seine Ketten in den Sand gefallen waren. Er griff Bulba'han unter die Achseln. "Weg, Greis! Was f‰llt dir ein!" Bulba'han hob abwehrend beide Arme. Der alte Narod'kratow wich zur¸ck, grunzte beleidigt. Bulba'han rammte das umgekippte Schwert wieder in den Sand und richtete sich St¸ck f¸r St¸ck auf. Keinen Ton gab er von sich, auch nicht, als er sich f¸r kurze Zeit auf seinem Stumpf aufst¸tzen musste. Endlich stand er. Er raffte seinen dunkelroten, fleckigen Mantel hoch, wickelte ihn unter dem Knauf um die Klinge und legte seine Achsel auf den Knauf. Um sich dann Schritt f¸r Schritt, abwechselnd auf die Klinge und auf sein rechtes Bein gest¸tzt, ¸ber den Strand den Klippen entgegen zu arbeiten. Alle Frauen und M‰nner seines Volkes, an denen er vorbei hinkte, hoben die Kˆpfe. Dutzende von verschleierten Blicken sahen hinter ihm her, Dutzende von H‰nden wischten sich Augen aus. Dann war er an der Klippe. Bei einem Felsvorsprung, hinter einem Geb¸sch lag eine Frau auf den Knien und weinte in den Sand. Er liefl sich neben Tata'ya sinken. Arme ˆffneten sich und Lippen. Gefl¸ster, zitternde Leiber, H‰nde unter M‰nteln, Finger in Haar, auf verbrannter Haut, auf Schenkeln, auf Wunden. Fern waren der Kratersee und der Tod auf einmal, fern die Macht im See. Bis zur Atemlosigkeit fl¸sterten, weinten und k¸ssten sie. Dann sanken sie nebeneinander in den Sand und
hielten sich fest, als wollten sie einander nie wieder loslassen. "Deine Stirn..." Tata'ya tastete nach dem abgebrochenen Pfeil. "Seit er mich traf weifl ich wieder, wo ich hingehˆre." "Dein Bein", sie tastete nach seinem Stumpf. "Es wollte mich hindern, zu dir zu zur¸ckzukehren. Es musste weg." Sie riss die Augen auf, legte die Hand auf die Lippen. "Du hast es selbst..." Sie dr¸ckte ihn an sich. Er hielt ihren zuckenden Kˆrper fest. "H‰tte ich es nicht getan, h‰tte ich dich nie wieder gesehen." "Wir werden sowieso sterben", schluchzte sie. "Aber wir lieben uns", antwortete er. * "London steht vor einer der entscheidendsten Weichenstellungen der letzten f¸nfhundert Jahre, Ladys und Gentlemen." Anthony Hawkins stand auf. Die anderen anwesenden Octaviane taten es ihm gleich. Manche seufzten, manche schnalzten mit der Zunge vor innerer Ergriffenheit. Matt und Black hatte man als G‰ste zu diesem denkw¸rdigen Augenblick in die Forschungssektion der Community geladen. Ein streng geheimer Festakt; nur eine Handvoll Wissenschaftler und das Octaviat waren eingeweiht. Sonst keiner der Bunkerkolonisten. Nicht einmal die Queen; vor allem sie nicht. Ein Arzt fixierte einen Beutel mit gelblicher Fl¸ssigkeit auf der knochigen Altm‰nnerbrust von Sir Jefferson Winter. Seit einigen Tagen wurde dem Octavian und der Queen das Serum alle vier Stunden injiziert. Von diesem Moment an sollte der kˆnigliche Berater einen Beutel mit einer Monatsdosis unter seinen Kleidern tragen. ‹ber einen Shunt unterhalb seines
Schl¸sselbeins wurde das Immunserum durch eine elektronisch gesteuerte Nanopumpe in Winters Vena Cava gepumpt – in die grofle obere Hohlvene. "Ich bitte Sie vielmals, Sir Anthony." Die Prime war die einzige im Labor, die noch safl. "Wollen wir die Sache doch nicht ganz so hoch h‰ngen. Wissen wir denn, ob Sir Jefferson den Test ¸berleben wird?" Niemand antwortete ihr, aber an den Mienen ihrer sieben Regierungsmitglieder konnte Josephine Warrington ablesen, dass man ihre Bemerkung f¸r unpassend hielt. "Was ist mit der Dokumentation, Micky?" Mit Aktionismus, lauter Stimme und grimmiger Miene versuchte Sir Jefferson Winter seine Angst zu ¸berspielen. "Klar doch, Jeff! Die Szene wird dreifach aufgenommen und ins Bildarchiv kopiert", sagte die Comicfigur auf dem Monitor in der Kuppelwand. "Aber bitte so, dass weder die Queen noch ihr E-Butler sie zu Gesicht bekommen!", mahnte Anthony Hawkins. Der Arzt nahm den d¸nnen Schlauch, der aus dem Beutel ragte, in die rechte, und den Konus in der Pergamenthaut unter Winters Schl¸sselbein in die Linke. "Verlasst euch auf uns! Vicky glaubt, sie sei die Einzige, der jeden Tag das Zeug gespritzt wird. Von dem, was hier geschieht, hat sie keinen Schimmer. Und dieser Hohlkopf Drax gleich gar nicht." Micky Maus zwinkerte Matt zu. "Wir reden vom E-Lakaien der Queen, Drax, nicht von dir." Der Mann aus der Vergangenheit war inzwischen mit seinem virtuellem Ebenbild konfrontiert worden. Seine Reaktion war Wut und tiefes Erschrecken gewesen. Wut, weil er sich missbraucht f¸hlte, Erschrecken, weil er schlagartig begriff, dass die Queen ihn nicht nur liebte, sondern dass sie besessen war von Leidenschaft f¸r ihn. Matt begriff das in dem Augenblick, als sein virtuelles Ebenbild sie Darling nannte. Winters E-Butler, Micky, hatte ihm gesteckt, dass es ein
Community-Gesetz gab, nach dem kein Lebender als Vorlage f¸r einen E-Butler dienen dufte. Daraufhin hatte der Commander die Lˆschung seines virtuellen Ebenbildes beantragt. "Sind Sie soweit, Dr. Snyder?", fragte Hawkins. Der Arzt nickte, Sir Jefferson Winter schluckte, und endlich erhob sich auch die Prime aus ihrem gl‰sernen Schalensessel. "Musik, Francis!" Der Wissenschafts-Octavian wandte sich an seinen eigenen E-Butler, einen Mˆnch. So laut und so unerwartet ertˆnten Bl‰ser und Streicher, dass Matthew Drax zusammenzuckte. Feierliche, bombastische Musik erf¸llte den Kuppelraum: die Ouvert¸re von H‰ndels Feuerwerksmusik. Es war ergreifend. Matt sah feuchte Augen in einigen Gesichtern, als der Arzt den Beutel mit der Vene verband. Black dagegen wirkte unbeteiligt. Vielleicht dachte er an den Weltrat, und welch gef‰hrlichen Machtzuwachs das Serum dieser Clique einst verschafft hatte. "Eine kleine Handbewegung", rief der Arzt und schaltete die Nanopumpe ein, "und doch der Beginn einer neuen Epoche!" Seine Stimme ¸berschlug sich, weil er ja die laute Musik ¸bertˆnen wollte, und sein Tonfall war mindestens so pathetisch wie die Fanfarenstˆfle der Bl‰ser. "Langsam, langsam", hˆrte Matt die Prime murmeln. Sie stand direkt neben ihm. Er selbst dachte an jene Hˆhle am Kratersee und an die Eier unter der dampfenden Fleischdecke, und an die silberschuppigen Humanoiden, die sie ausbr¸tete und die Quart'ol in einer Vision gesehen hatte. Eine neue Epoche... Ein bitterer Geschmack zog ¸ber seine Zunge, er konnte sich nicht dagegen wehren. Auf den Bildschirmen applaudierten drei E-Butler: Micky, der Mˆnch Roger Bacon und der halbnackte, muskelbepackte Herkules. Die Musik trat ein wenig in den Hintergrund. Sir
Jefferson Winter zog den Reiflverschluss seines weiflen Anzuges zu. ‹ber Schultern und Brust drapierte er einen roten Umhang, aber auch ohne diese Tarnung h‰tte man den Beutel unter dem Stoff nicht gesehen. "Bringen Sie mich nach oben", sagte er leise. Wenig sp‰ter verlieflen zwei EWATs die Hauptschleuse. Offiziell sollten sie ein paar Meilen weit die Themse hinunter fliegen und an einer Br¸ckenruine den deutschen Flugpanzer aus Gestr¸pp und Morast ziehen. Auch Queen Victoria II glaubte das. Von dem, was hier vorging, ahnte sie nichts. Erst in vier Tagen hatte sie einen Termin in der Laborsektion; dann sollte sie einen Serumsbeutel erhalten. Bis dahin w¸rde man aber l‰ngst wissen, ob Winter den Test ¸berlebte oder nicht. Winter selbst hatte darauf bestanden, anstelle der Kˆnigin als Erster ohne Schutzanzug die Bunkerstadt zu verlassen. Lieber wollte er sein Leben riskieren, als das der Queen aufs Spiel zu setzen. * "Es hat keinen Sinn", sagte der alte Dol'maan. Die Sonne ging unter, und die Abtr¸nnigen hatten alle Gefangenen samt Waffen, Ger‰t und Proviant die Klippen hinauf geschafft. "Ihr wisst nichts, ihr seht nichts, begreift nichts." Die Augen aller hingen an Dol'maans Lippen. "Ich bleibe hier", schloss er seine kurze Rede. "Es ist mir gleichg¸ltig, wo der Tod mich schliefllich finden wird." Durch die Baumst‰mme des K¸stenwaldes hindurch sah Bulba'han, wie der Dunst ¸ber dem See mit dem Grau des Abendhimmels verschwamm. Er verstand nicht genau, um was es ging. Vom Ende war die Rede, von Marschkolonnen aus Hunderten von Greisen, Kindern, Frauen und Kranken, die aus allen Regionen der Seek¸ste zu Anlegestellen und H‰fen
getrieben wurden. Per Schiff oder gar zu Fufl trieben und transportierten die J‰ger ihre Gefangenen zu jenem Ort am S¸dufer des Sees, dessen Namen keiner nannte, den niemand n‰her beschrieb, und bei dessen Erw‰hnung die Stimmen heiserer wurden und die Mienen sich verdunkelten. Ganz nah war er, so viel hatte Bulba'han den Andeutungen der anderen immerhin entnehmen kˆnnen, kaum eine Tagesreise entfernt von der Stelle, an der sie sich jetzt im Wald verbargen. Nat¸rlich musste auch Bulba'han berichten, wie es ihm ergangen war. Mit d¸rren Worten schilderte er die Schlacht um die grofle Ruinenstadt an jenem Fluss im Westen, erz‰hlte, wie eine lautlose Explosion das Heer verschlungen hatte und die kl‰glichen Reste von den fremden Kriegern niedergemacht wurden, von Kriegern mit Feuer speienden Waffen zum Teil. Schweigend hˆrten sie ihm zu. Er sp¸rte die Bedr¸ckung, die sich unter den Befreiten und den Abtr¸nnigen breit machte. Auch, wie ein fremder Barbar einen Pfeil in seine Stirn schoss und sich ihm dann arglos n‰herte, im Glauben, den feindlichen Heerf¸hrer getˆtet zu haben. Bulba'han war aber nur benommen gewesen. Zu seinem eigenen Erstaunen lebte er noch. Der Schmerz sprengte schier seinen Sch‰del, hinderte ihn aber nicht daran, dem Sch¸tzen die Kehle durchzuschneiden. Mefju'drex erw‰hnte er mit keinem Wort. Keiner der Abtr¸nnigen erw‰hnte den Erzfeind der Macht im See, der die Neue Schˆpfung verhindern wollte. Jetzt war Bulba'hans Geist erschˆpft. Er lehnte neben Tata'ya gegen einen Baumstamm. Von Zeit zu Zeit tasteten ihre H‰nde durch Farn und Moos, um einander heimlich zu ber¸hren. Das Palaver der anderen erhob sich aufs Neue, aber es ber¸hrte ihn kaum. Er war heimgekehrt, er hatte seine Geliebte gesehen, im Arm gehalten, gek¸sst. Mehr meinte er nicht mehr
vom Leben verlangen zu kˆnnen. Sie stritten weiter dar¸ber, ob sie fl¸chten oder sich dem Kampf mit den J‰gern stellen sollten. Manche f¸hlten sich durch Bulba'hans Bericht dazu ermutigt. "Habt ihr nicht gehˆrt, was der Heerf¸hrer berichtet hat?", fragten sie. "Das ganze Heer ist vernichtet worden, alle, die von der Macht im See entsandt wurden. Und ihr wisst, sie hat fast alle entsandt, die an den Ufern dieses gewaltigen Sees lebten. Schaut euch den Heerf¸hrer an!" Haiku'karim wies auf Bulba'han. "Ist er selbst nicht der Beweis daf¸r, dass die Macht im See besiegt werden kann?" Die Art, wie Haiku'karim von der Macht sprach, liefl Bulba'hans Atem stocken. Mit offenem Mund starrte er ihn an. "Da seht ihr's!", kr‰chzte Dol'maan. "Da seht ihr, wie Dummheit sich mit Jugend paart! " Und dann wandte er sich an Haiku'karim direkt. "Haben wir etwa Waffen, die Feuer verschleudern? Haben wir Pfeile und Speere, mit denen man mit einem Schuss eine ganze Stadt in Brand schieflen kann?" Er ruderte mit den Armen, w‰hrend er sprach. "Haben wir nicht! Vergesst also den Kampf, und wenn ihr euch die Flucht nicht aus dem Kopf schlagen kˆnnt, dann fl¸chtet eben! Umsonst werdet ihr rennen, Narren! Zu m‰chtig sind die Diener der Macht, zu stark f¸r euch, zu schnell!" "Warum redest du so?", zischte Haiku'karim. "Haben wir nicht an diesem Tag viele J‰ger der Macht getˆtet? Haben wir nicht vor wenigen Atemz¸gen dich und viele Todgeweihte gerettet?" Todgeweihte? Bulba'han fragte sich, was den jungen Schwertkrieger so sicher machte, dass alle Gefangenen dem Tode geweiht waren. Niemand hatte es ihm bisher erkl‰rt. Niemand hatte ihm verraten, wohin die J‰ger die Gefangenen bringen wollten. "Wir werden immer mehr", ergriff der Schwertkrieger neben Haiku'karim das Wort. "Wir kˆnnen die J‰ger besiegen. Wir
kˆnnen das Biest tˆten." Er hiefl Russa'sibyr, war ‰lter als alle anderen Schwertkrieger hier aufler Dol'maan und schien der F¸hrer der Abtr¸nnigen zu sein. "Narren! Ihr wisst ja nicht, was ihr redet!" Der alte Dol'maan winkte ab. Nun meldeten sich einige Narod'kratow zu Wort. Greise, Halbw¸chsige und Frauen. Einige pl‰dierten daf¸r, sich in den W‰ldern zu verstecken, wenige wollten "das Biest" bek‰mpfen, die meisten sprachen sich f¸r die Flucht aus. Bulba'han begriff plˆtzlich, wie viel sich hier am Seeufer ver‰ndert hatte, seit er das Mutantenheer nach Westen ¸ber das Gebirge gef¸hrt hatte. Teilweise verstand er einfach nicht, wovon die Rede war. Er beugte sich zu Tata'yas Ohr. "Was meinen sie mit 'Biest'?", fl¸sterte er. "Einen m‰chtigen Diener der Macht im See." Bulba'han runzelte die vernarbte Stirn. Die Einschussstelle schmerzte. "Sie wollen einen Diener der Macht tˆten? Bist du sicher, dass du das richtig verstanden hast?" "Wir glauben nicht mehr an die Macht im See", fl¸sterte sie. "Wir haben uns von ihr losgesagt. Deswegen nennt man uns Abtr¸nnige. Die Macht im See ist unser Feind." Bulba'han zuckte zusammen. Er starrte Tata'ya an, vergafl zu atmen. Ob sie verr¸ckt geworden war? Er blickte in die Runde. Waren sie alle verr¸ckt geworden? Er betrachtete seine Artgenossen, suchte in Haiku'karims Z¸gen nach Anzeichen von Wahnsinn, genauso in denen Russa'sibyrs und des alten Dol'maan. Er sah aber nur die Gesichter besorgter oder resignierter oder zu allem entschlossener Krieger. "Was redest du, meine Liebste?", fl¸sterte er. "Was redest du denn da...?" Hinter seiner Stirn brannte plˆtzlich ein ungeheurer Schmerz, und eine Stimme in seinem Sch‰del raunte: Schlag sie tot, schlag alle tot, die hier sitzen... Er richtete Haiku'karims Schwert auf, wollte sich am Knauf hochziehen. Tata'ya aber fasste ihn bei den Schultern und hielt ihn fest.
Sie sah ihm in die Augen. "Hˆr nicht auf die Stimme, glaub ihr nicht", sagte sie eindringlich. "Woher weiflt du...?" Und im gleichen Moment kannte er schon die Antwort. "Kannst du...?" Die plˆtzliche Einsicht traf ihn wie ein Fausthieb. Tata'ya nickte. "Wenn ich will, kann ich deine Gedanken lesen. Aber ich tue es nicht, glaub mir. Deinem Blick sah ich an, dass die Macht nach dir greift." Bulba'han merkte, dass um sie herum das Palaver verstummt war. Alle musterten sie plˆtzlich ihn und Tata'ya. "Und sie?" Der verkr¸ppelte Schwertkrieger wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Haiku'karim, Russa'sibyr und all die anderen. "Kˆnnen sie auch...?" "Viele von uns besitzen Gaben, f¸r die man einst den Rest seines Lebens in Sklaverei verbringen musste", erkl‰rte Russa'sibyr. "Die meisten von uns sind Ausgestoflene, haben jahrelang in Bergwerken geschuftet. Aber es gibt auch Abtr¸nnige ohne die Gabe. Sie waren krank oder verletzt, als die Macht im See die Vˆlker in den Kampf schickte. Oder sie befanden sich weit entfernt auf Jagdexpeditionen, so wie ich oder Haiku'karim." "Aber..." Bulba'han begriff ¸berhaupt nichts mehr. "Aber... warum...?" "Ich habe einfach aufgehˆrt, ihr zu glauben", erkl‰rte Russa'sibyr. Bulba'han sah Tata'ya und Haiku'karim nicken. Auch andere ballten die F‰uste und nickten. "Statt zu ihr zu beten, haben wir es laut heraus geschrien: Du willst uns tˆten! Du bist unser Feind!" Auch einige Narod'kratow und Rriba'low ballten jetzt die F‰uste. Viele sprachen den Satz nach: "Du willst uns tˆten! Du bist unser Feind!", tˆnte es von allen Seiten. "Vielleicht hat dich deine Kopfverletzung gerettet." Tata'ya zuckte mit den Schultern. "Hinter der Stirn sitzt der Geist, schreiben die Alten. Vielleicht kann ein verletzter Geist nicht mehr beeinflusst werden."
Bulba'han schwirrte der Kopf. Die Einschussstelle pulsierte, dahinter regte sich stechender Schmerz und f¸llte sein Hirn aus. "Hˆr ihr nicht zu, dieser Stimme!" Beschwˆrend klang Russa'sibyrs Stimme. "Glaub ihr kein Wort und hˆre ihr nicht zu." "Aber..." Bulba'han presste die H‰nde gegen seinen Sch‰del. Tata'ya hielt ihn fest und dr¸ckte ihn an sich. "Aber die J‰ger..." "Ehemalige Priester oder Freunde der Macht zumeist." Haiku'karim ergriff wieder das Wort. "Oder arme Kreaturen, die ihnen verfallen sind. Du hast doch gesehen, wie jung sie teilweise sind, ohne Erfahrung und Verstand. Sie f¸rchten die Todesrochen, und die Macht im See hat ihnen versprochen, in der neuen Schˆpfung mit ihr gemeinsam ¸ber diese Welt zu herrschen." "Sie ist stark, sehr stark..." Allm‰hlich fand Bulba'han seine Sprache wieder. "Sie werden euch vernichten." "Ja, sie werden uns vermutlich vernichten. Aber wir haben eine kleine Chance, Bulba'han", sagte Tata'ya. "Und wenn wir dennoch sterben m¸ssen, ist es immer noch besser, im Kampf zu fallen, als so zu enden wie die Alten, Kranken, Kinder und Frauen." "Niemals", beharrte der alte Schwertkrieger Dol'maan. "Ihr kˆnnt ihr nicht entkommen. Wenn die J‰ger euch nicht finden, sp¸ren euch die Lesh'iye auf. Wenn die Lesh'iye euch nicht finden, sp¸rt euch das Biest auf. Wenn das Biest euch nicht findet, sp¸ren euch die Kreaturen der neuen Schˆpfung auf." Bulba'han begriff nicht. "Was ihr redet! Was sind das f¸r R‰tsel, von denen ihr da sprecht? Wie werden sie denn enden, die Alten, die Kinder, die Kr¸ppel, die Frauen? Wie?" "O Bulba'han!" Dol'maan streckte beide Arme gegen die Baumkronen aus. "So vieles ist geschehen, das wir nicht verstehen! Und so vieles geschieht gerade jetzt, von dem wir nichts wissen und das dennoch unseren Lebensraum vernichten
wird!" "Hˆr auf, Greis!", fuhr der Anf¸hrer den alten Schwertkrieger an. Dann wandte sich Russa'sibyr an Bulba'han "Willst du es wirklich wissen, Bruder?" "Ja", sagte Bulba'han. "Ich will es wissen." "Gut." Russa'sibyr schlug mit der flachen Hand auf seine Klinge, die er sich ¸ber die gekreuzten Knie gelegt hatte. "Es geschieht nicht weit von hier. Morgen sollst du es mit eigenen Augen sehen." Er sah sich unter den Geretteten um. "Ihr alle sollte es morgen mit eigenen Augen sehen. Wenn ihr es wirklich sehen wollt." * "London oder Land‰n, Washington oder Waashton – Namen, Ruinen, neue Namen, neue Ruinen. Immer das Gleiche, wieder und wieder." Aiko Tsuyoshi winkte ab. "Was bedeuten schon Namen? Was bedeutet es schon, hier zu sitzen und nicht irgendwo anders? Und ihr?" Mit dem halben Fisch in der Rechten deutete er auf die struppigen Gesellen zu seinen F¸flen. "Was bedeutet ihr schon? Genauso wenig wie ich." Er blies die Backen auf, stiefl die Luft aus. "Der Wind f‰hrt dazwischen, und weg sind wir!" Aruula befremdete, was der Cyborg da von sich gab, und Miss Honeybutt Hardy erschreckte es. Aber wenigstens redete er wieder und br¸tete nicht mehr in undurchdringlicher Schwermut vor sich hin. Die Lords hatten ihm ein Sitzgestell aus Leder und ƒsten gebaut. Nun hockten sie mit ihm am Feuer und lauschten. "Irgendjemand baut sie neu auf, die St‰dte, und gibt ihnen Namen, irgendjemand – oder irgendetwas – zertr¸mmert sie wieder, und die Namen geraten in Vergessenheit. Es sei denn, irgendjemand findet sich, der die Tr¸mmer neu aufbaut und ihnen wieder einen Namen gibt. Und so weiter, und so weiter."
Und dennoch: Genau wie die struppigen Barbaren lieflen sich auch Aruula und Miss Honeybutt Hardy von Aiko Tsuyoshi faszinieren. War es im Grunde nicht fesselnd, was er da von sich gab? Und wahr dazu? Und was er von seinem Leben erz‰hlte... Sie hatten geglaubt, schon alles ¸ber den Cyborg zu wissen. Doch was hatte Aiko nicht schon alles erlebt in seinen nicht einmal f¸nfzig Lebensjahren, wo war er nicht schon ¸berall gewesen, und wie klug klangen manche S‰tze, die er da in halb schwerm¸tigem, halb zynischem Tonfall aussprach. "Apropos aufbauen." Aiko schlug sich gegen seinen linken Armstumpf. "Diese Ruine hier sollte auch bald wieder aufgebaut werden." Er hob den Kopf, suchte Honeybutts Blick. "Hey, Honeybabe lange halt ich's nicht mehr aus ohne den Arm. Wir m¸ssen schleunigst nach Amarillo. Nur dort verf¸gen sie ¸ber die bionische Technik, um mir zu helfen." Er neigte den Kopf, sein schwarzer Zopf fiel ihm von der Schulter auf die Brust. Ein Ausdruck des Zweifels huschte ¸ber seine jugendlichen Z¸ge. "Du gehst doch mit, oder?" "Was denn sonst?" Honeybutts schwarzes Gesicht verzog sich zu einem wunderbar weichen L‰cheln. "Glaubst du etwa, ich will sterben vor Sehnsucht nach dir?" Sie hockte neben Aruula auf einem Mauerrest. Beide lutschten sie die letzten Fleischfetzen von den Gr‰ten gebratener Barsche. Kaum zu glauben, wie reich an Fischen und Fischarten die Themse war. Jedes Mal, wenn Aruula mit Speer oder gespanntem Bogen im Ruderboot stand, schlug ihr Herz hˆher. "Amawillo? Wassis Amawillo?", wollten die Lords wissen. "Az‰hl, Aiko, az‰hl von Amawillo", forderte ein junger Barbar namens Biglord Touny. Und Aiko erz‰hlte von Amarillo. Wo die Unsterblichen lebten. Und seine Mutter. Wo man menschliche Kˆrper seit Jahrhunderten durch immer neue Implantate am Leben erhielt, bis auch der letzte Rest
Menschlichkeit – das Gehirn – durch einen Datenspeicher ersetzt wurde. So wie bei seinem Vater... Vˆgel flatterten etwa anderthalb Speerw¸rfe weit entfernt aus den schwarzen Ruinen. Aruula erkannte drei m‰chtige Kolks im Schwarm. Etwas rasselte an der Stelle, ¸ber der sie jetzt ihre Kreise zogen, etwas summte, Steine knirschten und ƒste splitterten. Beide, Aruula und Honeybutt, sp‰hten in die Richtung der Ger‰usche. Die dunkelgr¸ne H¸lle eines EWATs erschien in den Mauerl¸cken der Ruinen. Seine Kettenschuhe walzten ein Brennnesselfeld nieder, ein zweiter Tank folgte ihm. Aiko Tsuyoshi hatte seine Erz‰hlung unterbrochen, und die Lords verrenkten sich die H‰lse nach den gewaltigen EWATs. "Wohin geht die Reise?", fragte Miss Honeybutt Hardy. "Hab ihr was gehˆrt?" "Ja." Aruula wusste Bescheid; das glaubte sie jedenfalls. Maddrax hatte ihr erz‰hlt, was die Technos f¸r diesen Tag planten. "Sie holen unseren steckengebliebenen Panzer." Maddrax. Sie sah ihn morgens, wenn sie gemeinsam fr¸hst¸ckten. Sie hˆrte ihn abends, wenn er von den Vorg‰ngen in diesem unterirdischen Labyrinth berichtete, und nachts sp¸rte sie seinen Kˆrper. Es gefiel ihr nicht, dass er so viel Zeit mit den bleichen Kahlkˆpfen verbrachte. Und diese Frau mit den smaragdgr¸nen Augen... die Mˆglichkeit, dass er ihr begegnen, mit ihr reden kˆnnte, gefiel Aruula am allerwenigsten. Erhaltene Fassaden des ehemaligen Parlaments verdeckten erst den einen, dann den anderen EWAT. Die Lords wandten sich wieder dem Cyborg zu, und Aiko erz‰hlte von seiner Kindheit in Amarillo, wo die Menschen gelernt hatten, ihre Organe und Kˆrperteile durch Elektronik und Kunststoff zu ersetzen. Miss Honeybutt Hardy warf ihre Gr‰te in die Glut. Zischend kr¸mmte sich das Fischgerippe und verkohlte. Der
erste EWAT stieg ¸ber die Mauerkrone in den Himmel. Ein Himmel, weniger grau und regnerisch als die Tage zuvor. Die Kettenschuhe des Tanks verschwanden in seinem Rumpf. Aruula fragte sich, wo das zweite Fahrzeug blieb. Seltsam lange dauerte es, bis der zweite EWAT startete. Erst viele Atemz¸ge sp‰ter erschien er oberhalb der Mauer in der Luft. Fast ger‰uschlos schwebte er zur Flussmitte, wo der andere auf ihn wartete. Aruula widmete sich den letzten Resten ihres Fisches. Irgendwann unterbrach sich Aiko. Er runzelte die Stirn, stand auf, sp‰hte mit einem Ausdruck des Unglaubens in die Ruinen hinein. Nicht lange, da sahen sie alle den Mann. Er n‰herte sich von der Uferseite den ehemaligen Houses of Parliament. Durch Mauerl¸cken hindurch sah man ihn zwischen S‰ulen gehen, auf Treppen steigen, ¸ber Mauerreste klettern und Schutthalden ausweichen. Besonders geschickt stellte er sich nicht an. "Isse eina vonne Maulwˆafe", sagte ein Biglord namens Djeyms. Alle standen sie jetzt, alle blickten sie dem Mann entgegen. Er trug einen schneeweiflen Anzug aus einem dieser glatten, festen Stoffe, die Aruula nicht mochte. Um seine Schulter hing ein tiefroter Umhang. Seine roten Stiefel waren bis dicht unter die Knie geschn¸rt. Sein Sch‰del war kahl und spitz, sein Gesicht alt. Ein Mitglied der Community – tats‰chlich! –, ein Octavian sogar; Aruula kannte ihn. "Der Berater der Kˆnigin", murmelte sie. "Octavian Sir Jefferson Winter", sagte Aiko Tsuyoshi. "Isse ohne seine Kopfkugel, isse ohne H¸lle!", rief der Biglord Djeyrns. "Was ist mit Ihnen?!", rief Aiko dem Techno zu. "Sind Sie lebensm¸de? Warum kommen Sie ohne Schutzanzug an die Oberfl‰che?" Zwanzig Schritte entfernt war der Octavian noch. Er l‰chelte, und auf einmal begriff Aiko. "Das Serum...?
Sie sind der Erste? Sie testen das Zeug?!" Davon hatte Maddrax ihr nichts erz‰hlt. Es versetzte Aruulas Herzen einen Stich. Was verschwieg er ihr wohl noch alles? Ein paar Schritte vor ihnen blieb Sir Jefferson Winter stehen. Er war ein wenig aufler Atem. Nicht direkt ein L‰cheln, aber doch die Andeutung davon flog ¸ber sein zerfurchtes Gesicht; sehr w¸rdevoll. "Einer muss es ja tun." Er kam n‰her. "Und h‰tte ich es nicht getan, w‰re die Queen als Erste gegangen. Das wollte ich vermeiden." Er trat zu Aruula, griff nach ihrer vom Fisch fettigen Hand und f¸hrte sie an seine Lippen. "Verzeihen Sie, dass ich Sie erst heute begr¸flen kann, wie man eine Lady ihres Schlages zu begr¸flen hat." Er k¸sste ihre Hand, und Aruula verstand die Welt nicht mehr. "Und auch Sie, Miss Honeybutt Hardy." Mit einer Vemeigung liefl er Aruula Hand los, griff nach den Fingern des schwarzen M‰dchens. "Sie glauben gar nicht, wie sehr ich Mr. Tsuyoshi beneide." Und schon dr¸ckte er seine welken Lippen auf ihre schwielige, kr‰ftige Hand. "Sie erlauben, dass ich mich ein wenig zu Ihnen setze, Gentlemen?" Zwischen zwei Lords liefl er sich am Feuer nieder. Seine Knochen knackten, und er ‰chzte. Einer nach dem anderen setzten sich auch die verbl¸fften Barbaren wieder ans Feuer. Winter sah ins Feuer und seufzte. "Hˆren Sie, Biglord James", sagte er schliefllich, und irgendwie kam es ein wenig unvermittelt. "Krieg droht. Ein Feind, schrecklicher als alles bisher da Gewesene, wird uns angreifen. Sie, uns alle. N‰chsten Monat, n‰chstes Jahr niemand weifl es. Seien Sie so freundlich und senden Sie Boten an Grandlord Parcival. Er mˆge gemeinsam mit den Grandlords Silvester und Merwin und M‰nnern seiner Wahl zu uns kommen. Wir m¸ssen reden." "Was saggseda?" Grandlord Djeyms zeigte sich verbl¸fft.
"Kwieg?" Die Lords steckten die Kˆpfe zusammen, palaverten. Schliefllich standen Grandlord Touny und zwei weitere Krieger auf und liefen in die Ruinen hinein. Sir Jefferson Winter blickte den Boten ein Weilchen hinterher. Dann wandte er sich an Aruula. "Es riecht nach gebratenem Fisch hier. H‰tten Sie eventuell noch eine Portion f¸r mich?" "Fisch aus der Themse?" Aiko runzelte die Stirn. "Unsterilisiert? Sind Sie sicher?" Etwas ratlos breitete der kˆnigliche Berater die Handfl‰chen aus. "Ich muss mich mit mˆglichst vielen Keimen konfrontieren. Anders erfahren wir die Wahrheit nicht, und wir sollten sie mˆglichst rasch erfahren." "Die Wahrheit?" Aruula neigte den Kopf auf die Schulter. "Die Wahrheit kˆnnte Sie das Leben kosten, Sir Jefferson." "Das ist mein Einsatz", erwiderte der Alte, und diesmal l‰chelte er wirklich. "Um dieses Spiel zu spielen, bin ich ohne Schutz zu Ihnen herauf gekommen. Bitte, Lady Aruula, Fisch." "Gut." Sie schulterte den Bogen, h‰ngte sich Kˆcher und Schwert auf den R¸cken und zerrte den Speer aus dem Boden. "Lasst das Feuer nicht ausgehen. Wir sind bald zur¸ck." Alle Lords wollten sie begleiten. Biglord Dscheyms aber bellte seine Krieger an, bis sie wieder Platz nahmen. Danach w‰hlte er persˆnlich drei M‰nner aus. An ihrer Spitze verliefl Aruula die Ruinen der Houses of Parliament. An den bewachsenen Auflenw‰nden entdeckten sie zwei Schutzanzugtr‰ger im Geb¸sch. Sie trugen LaserphasenGewehre. Einer war der Mann, den die Community zu ihrem persˆnlichen Schutz abkommandiert hatte. Und der andere? Hatte sich der Berater der Kˆnigin also doch nicht ohne Begleitschutz an die frische Luft gewagt? Unten am Themseufer machten sie zwei Boote los und ruderten hinaus in die Mitte des Flusses. Dort stellten sie sich breitbeinig an Bug und Heck auf oder knieten mit gespannten
Sehnen und erhobenen Speeren auf den Bootsplanken, und lauerten auf Barsche, Karpfen oder Welse. Normalerweise brauchte man nicht lange warten, bis einzelne Fische oder ein ganzer Schwarm sich dicht unter der Oberfl‰che des erdigen Wassers blicken liefl. Doch an diesem fr¸hen Nachmittag sah Aruula keinen Fisch, nicht einen. Seltsam kam ihr das vor. Was mochte die Fische vertrieben haben? Plˆtzlich schlug hinter ihr etwas hart auf der Ruderbank auf. Das Boot begann zu schaukeln. Sie fuhr herum, und im gleichen Augenblick schrien die beiden Lords im zweiten Boot auf. Ihr Begleiter hing seitlich ¸ber der Ruderbank. Drei Pfeile ragten aus seinen Rippen. Er wand sich, Blut rann aus dem Mundwinkel in seinen Bart. Lauter klangen die Schreie der anderen beiden jetzt. Aruula blickte auf. Ein Schatten stieg aus der Bˆschung am gegen¸berliegenden Ufer, eine feine Wolke, die zischte und sirrte und n‰her kam: Pfeile! Aruula warf sich nieder und zog den Toten ¸ber sich... * Ein paar Stunden lang schlief er in Tata'yas Armen. Immer wenn sich die lautlose Feuerglocke vor ihm aufbl‰hte oder er von dem Pfeil in die Stirn getroffen wurde, schreckte er hoch. Und jedes Mal, wenn er hochschreckte, hielt sie ihn fest, streichelte seinen R¸cken, k¸sste sein von Brandwunden entstelltes Gesicht. Und Bulba'han schlief wieder ein. Bis er schrie, w‰hrend er sich den Pfeil abbrach, oder weil er sich den absterbenden Unterschenkel abhackte. Und wieder fuhr er hoch; und wieder waren da ihre K¸sse, ihre H‰nde, ihr Fl¸stern. Sie schlief nicht. Die ganze Nacht wachte sie ¸ber ihn.
Er tr‰umte weiter, brach mit der Flugandrone in das Laubdach des Waldes ein, wurde im Fangnetz an Bord einer Galeere gezerrt. Das letzte Mal wachte er auf, als er im Traum jenen Augenblick durchfieberte, in dem er sie am Strand erkannt hatte. Wieder und wieder st¸rzte er in den nassen Sand, wieder und wieder richtete er sich auf seinem verbliebenen Bein auf, nur um aufs Neue zu wanken und zu st¸rzen. "Ist gut", fl¸sterte Tata'ya. "Ist ja gut." Sie wischte ihm den Schweifl aus dem Gesicht und stand auf. "Es ist Zeit", sagte sie. "Lass uns aufbrechen." Das Licht des Vollmondes lag auf ihrem schˆnen Gesicht. Sie l‰chelte. Dabei war es noch dunkel, keine Spur des neuen Morgens rˆtete den Horizont. Bulba'han sch‰lte sich aus seinem Mantel. Haiku'karim reichte ihm ein Gestell, das Bulba'han im Schein einer ÷llampe als Kr¸cke erkannte. "F¸r dich. Habe ich dir gebaut." Auch der junge Schwertkrieger schien nicht geschlafen zu haben, "Und nimm auch das", sagte er, und reichte Bulba'han dessen eigenes Schwert. Sie hatten es aus dem Rumpf der gestrandeten Galeere geborgen. ‹berall raschelte es, ¸berall wurden Decken zusammengerollt, Lederschl‰uche mit Wasser weitergereicht, getrocknetes Fleisch geteilt. Auch als sie in den dunklen Wald huschten – die Umrisse von etwa dreiflig Gestalten z‰hlte Bulba'han –, stand der Vollmond noch in einem schwarzen Himmel ¸ber den Wipfeln von Birken und Eichen. Zwˆlf Gerettete hatten sich Russa'sibyr und seiner Truppe angeschlossen, die H‰lfte Greise aus den Vˆlkern der Narod'kratow und Rriba'low. Nur ein alter Geistmeister war dabei. Den Rest bestritten mutige Frauen und halbw¸chsige Narod'kratow, in deren Herzen Haiku'karims und Russa'sibyrs Worte so etwas wie Begeisterung angefacht hatte. Auch der alte Korsow'rulas war unter ihnen. Zwei Stunden lang pirschten sie durch den k¸stennahen
Wald. Der Mond stand dicht ¸ber dem See, als sie die Steilklippen erreichten. Sein Spiegelbild flimmerte im schwarzen Wasser wie ein riesiges gelbes Feuer. Drei oder vier Dutzend Speerw¸rfe weit arbeiteten sie sich nahe des Klippenrandes Richtung Norden voran. Irgendwann – am ˆstlichen Ufer k¸ndigte ein roter Streifen den neuen Tag an – gab Russa'sibyr das Zeichen zum Lagern. "Wir m¸ssen uns eine gute Deckung suchen", fl¸sterte Tata'ya neben Bulba'han. Die jungen Woiin'metcha schw‰rmten aus und kehrten mit ƒsten, B¸scheln langer Grashalme und abgeholztem Buschwerk zur¸ck. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf ungewˆhnlich viele Grash¸gel, B‰umchen und B¸sche am Rand der Klippen. Seite an Seite mit Tata'ya lag Bulba'han unter einem Grashaufen. Unten am Strand sah er in der Ferne undeutliche Umrisse von etwas, das ihn an Mauern erinnerte. Doch Stimmen drangen an sein Ohr. Stimmen die seufzten, die weinten, die fluchten, die um Hilfe riefen. Und je weiter die Sonne sich in den roten Himmel schob, desto mehr Stimmen meinte er von dort unten zu hˆren. Die Brandung rauschte, warmer Wind spielte mit Laub und Gras. Bulba'han schob sich ein St¸ck n‰her an den Klippenrand, denn er glaubte die Silhouetten von Lebewesen zu sehen. Er t‰uschte sich nicht: Bald enth¸llte die aufgehende Sonne ganze Scharen von Rriba'low, Narod'kratow, Woiin'metcha und Mastr'ducha, die wenig mehr als einen halben Speerwurf weit unter ihm den Strand bevˆlkerten. Sie saflen, liefen umher, lagen im Sand, in Gruppen, einzeln, zu zweit oder zu dritt. Manche standen oder saflen vollkommen reglos, r¸hrten sich nicht vom Fleck, und als die Sonne sich vom Horizont lˆste, erkannte Bulba'han, dass eine schleimartige Haut diese Elenden umgab und vermutlich festhielt. Um sie herum hielt sich niemand auf. Es sah sogar so aus, als w¸rden die anderen
Gefangenen die N‰he der Bewegungslosen meiden. Heller und heller wurde es. Im S¸den entdeckte Bulba'han eine Palisade aus oben angespitzten Baumst‰mmen, mindestens so hoch, wie vier Speere lang waren. Und im Norden der gleiche Wall. Das Gebiet, das die Palisaden einz‰unten, mochte zwanzig oder dreiflig Speerw¸rfe lang sein. Tausende Gefangene fristeten zwischen ihnen ihr Dasein. "Achte auf den Kokon, der sie einh¸llt", zischte Tata'ya neben ihm. "Achte darauf." Sie sprach von der schleimigen Haut, die jene Reglosen festhielt. Ihre Kˆrper gl‰nzten, und ihre Formen schienen zu zerflieflen. Jetzt sah Bulba'han auch faltige Ausl‰ufer der Haut, die sie einschloss: Alle Verh¸llten verband sie miteinander, vereinigte sich zu teilweise sehr dicken Str‰ngen, die farblich kaum vom Sand zu unterscheiden waren. Diese faltigen Hautstr‰nge f¸hrten in f¸nf, nein: sechs Haupt‰sten zur Brandung. Dort, kurz bevor ihre Ausl‰ufer im See verschwanden, schimmerten sie t¸rkisfarben. Diejenigen unter den Verh¸llten, die saflen oder standen, kippten plˆtzlich um. Die Hautstr‰nge im Sand strafften sich, zogen die Kokons mit den Eingesponnenen ¸ber den Strand bis zum Ufer und von dort aus in die Brandung hinein. Etwas T¸rkisfarbenes erhob sich plˆtzlich aus dem seichten Uferwasser, eine Blase, eine riesige Qualle, ein Haufen dampfenden, zuckenden Fleisches... Bulba'hans Kiefermuskeln schmerzten, so fest biss er die Z‰hne zusammen. Seine Finger verkrallten sich im trockenen Boden. "Das Biest", zischte es neben ihm. "Der willige, gefr‰flige Diener der Macht im See..." Zum ersten Mal meinte er den gepressten, scharfen Unterton des Hasses in der Stimme der Geliebten zu hˆren. Tats‰chlich: Ein schleimgl‰nzender Kokon nach dem anderen vereinigte sich mit der amorphen Masse dort unten im
Wasser. Wie eine hellblaue Beule wucherte sie schliefllich aus dem Seegrund. Und dann senkte sie sich ins Wasser, zerfloss schier an den R‰ndern, tauchte unter und verschwand. Die Brandung sch‰umte ¸ber ihr zusammen. "Komm!" Tata'ya zog ihn von der Klippe weg. Dreiflig B¸sche, Grash¸gel und B‰umchen entfernten sich ger‰uschlos Richtung K¸stenwald. "Was ist das?", keuchte Bulba'han. "Was macht es mit ihnen...?" Als h‰tte er es nicht gesehen. Brechreiz w¸rgte ihn. Russa'sibyr winkte seine Truppe hinter sich her. In der Deckung des Waldes huschten sie knapp f¸nfundzwanzig Speerw¸rfe weiter nordw‰rts. Bulba'han und Tata'ya fielen zur¸ck, weil der verkr¸ppelte Schwertkrieger einbeinig kaum halb so schnell voran kam wie die anderen. Sogar die Greise arbeiteten sich rascher durchs Unterholz als er. Als das Paar sich Stunden sp‰ter und ein ganzes St¸ck weiter nˆrdlich erneut den Klippen n‰herte, flimmerte die lodernde Scheibe der Mittagssonne am dunstigen Himmel. Die anderen lagen l‰ngst wieder unter ihren B¸schen und Grash¸geln. Die vorhin noch nˆrdliche Palisade befand sich jetzt s¸dlich von ihnen. Bulba'han erkannte Zelte, zwei Ruderboote lagen in der N‰he des Walls am Strand, mit Speeren Bewaffnete patrouillierten entlang des Zauns. Am Ende der Palisade ragte zum Wasser hin ein Eckturm aus der Brandung. Mit der Palisade verbunden, war er gut zwei Speerl‰ngen hˆher als diese. Unter dem Dach des Turmes konnte Bulba'han drei oder vier W‰chter ausmachen: Bogensch¸tzen. Vermutlich Rriba'low. Wahrscheinlich gab es einen ‰hnlichen Postenturm am felsnahen Ende der Palisade, aber den konnte er aus seiner Perspektive nicht erkennen. Bulba'han ballte die F‰uste. Ja, er kannte diesen Strand. Er kannte diese Klippen. Er wusste, dass sich irgendwo dort unten
eine Hˆhle im Fels ˆffnete. Denn an diesem Strand dort unten hatte seine Jagd auf Mefju'drex begonnen. An diesem Strand, direkt unter einer Hˆhle. Plˆtzlich begannen die Patrouillen am Strand zu rennen. An den wehenden M‰nteln erkannte Bulba'han auch zwei Angehˆrige seiner eigenen Rasse. Die meisten aber waren klein und breitschultrig oder hochgewachsen und d¸rr; Narod'kratow und Rriba'low in erster Linie. Die W‰chter fl¸chteten aus irgendeinem Grund auf den Turm oder in die Ruderboote, manche auch in die Zelte. Und erst als sich das Wasser am Strand teilte und die formlose Bestie auftauchte, begriff Bulba'han die Hektik der W‰chter. Die t¸rkisfarbene Qualle zerfloss, bildete... Tentakel. Bulba'han wusste nicht, wie er die baumlangen Ausw¸chse sonst nennen sollte. Das Tier – falls es ein Tier war – verf‰rbte sich weifllich, als seine Masse sich durch die Brandung w‰lzte. Manchmal hatte es die Grˆfle einer Galeere, wie die Maulwurfsmenschen sie benutzten, und dann wieder erinnerte sie Bulba'han an den H¸gel, um den herum sie in seinem Dorf die H¸tten errichtet hatten. "Sie kˆnnen es nicht tˆten", fl¸sterte er, w‰hrend ein Schauer nach dem anderen ¸ber seinen R¸cken rieselte. "Es ist zu grofl, zu stark. H‰tten wir Waffen wie Mefju'drex' Verb¸ndete, Waffen, die Feuer und Blitze verschleudern, dann vielleicht, aber so...?" Tata'ya antwortete nicht. Sie reagierte mit keinem Blick, mit keiner Geste. Das Biest nahm die Farbe des Sandes an, als es sich aus der Brandung schob. Seine Tentakel schl‰ngelten sich Richtung Klippen. Der unfˆrmige Kˆrper kroch ihnen hinterher. Bulba'han erschrak. "Wird es zu uns heraufklettern?" Tata'ya sch¸ttelte den Kopf. "Sieh hin und versuch zu verstehen." Bitter und traurig sah sie aus. Der einbeinige Schwertkrieger kroch aus dem Grashaufen, schob sich ¸ber die Klippen, bis sogar seine Schultern ¸ber dem
Abgrund hingen. Tata'ya packte seinen Knˆchel und hielt sie fest. "Vorsicht, Liebster! Pass auf!" Unter sich sah Bulba'han die ersten Tentakel des ekelhaften Riesen zwischen den Felsspalten z¸ngeln. Sie schoben sich die Klippe hinauf. Der schleimige Quallenkˆrper staute sich geradezu an der Klippenwand, wuchs seinen Ausst¸lpungen gleichsam hinterher. Sein helles Beige wechselte in dunkles, stellenweise schw‰rzliches Braun. Wie ein glatt polierter Felsbrocken sah es jetzt aus. Bulba'han verstand: Das Wesen nahm in einer perfekten Mimikri die Beschaffenheit des jeweiligen Untergrundes an. Die Spitzen seiner r¸sselfˆrmigen Ausl‰ufer verschwanden im Fels. "Die Hˆhle", entfuhr es Bulba'han. Die Masse des Biestes nahm ab, ging in seine Tentakel ¸ber, wanderte ihnen so in die Grotte hinterher. "Was tut es in der Hˆhle?" Tata'ya sah ihn an, antwortete aber nicht. "Was tut die Bestie in der Hˆhle da unten?!" Bulba'han fasste in ihr Haar. Sie sch¸ttelte seine Hand ab und zog sich von der Klippe zur¸ck. * Land‰n soll dein Grab sein... Pfeile schlugen am Bootsrand, in die Ruderholme, in die Planken ein. Tak-tak-tak-tak... Dein Grab, die Ruinen von Land‰n. Eiszapfen bohrten sich in ihren Scheitel, durch ihr Hirn, in Brust und Eingeweide. Doch dann... kehrte Ruhe ein. Kein Pfeil schlug mehr ins Boot. Nichts sirrte mehr durch die Luft. Nur ein Mann schrie j‰mmerlich. Aruula arbeitete sich unter dem Toten hervor und hob den Kopf. Pfeilsch‰fte ragten ¸berall aus den Planken. Drei
Speerl‰ngen entfernt, im anderen Boot war nur noch ein Krieger der Lords. Er kr¸mmte sich und klammerte sich an einem Speerschaft fest, der aus seinem Bauch ragte. Sie blickte zum Ufer. Dort standen sie – zwanzig, dreiflig wilde, struppige Gesellen, und mitten unter ihnen der Rotbart. Walka. Schon wieder Walka! Wieso liefl er sie nicht in Ruhe?! War er nicht gerade erst begnadigt worden? "Orguudoo soll dir die Eier abbeiflen!" Wie von Sinnen br¸llte sie. Tr‰nen schossen ihr aus den Augen. Tr‰nen der Wut – und der Erleichterung. Immerhin atmete sie noch. Anders als der Mann unter ihr. Aruula sah, wie sie die Pfeile in die Sehnen legten und anspannten. Nicht warten, bis die Wolke sich wieder aus Ruinen und Gestr¸pp erhebt! Nicht warten, bis die Luft vom Tod singt! Sie rollte sich von dem Toten, ¸ber die Bootskante, klatschte ins Wasser. Ihr Schwert zog sie nach unten. Sie packte die Bootskante am Bug, hielt sich fest, tauchte unter, dr‰ngte sich an den Bootsrumpf, und dann: Tak-tak-tak tak. Tak-tak-tak-tak... Hinter und neben ihr zischten die Pfeile ins Wasser. Dann herrschte wieder Ruhe. Der Lord schrie nicht mehr, jedenfalls nicht in dieser Welt. Aruula wagte es, Augen und Nase aus dem Wasser zu strecken, doch sie achtete darauf, den Kopf nicht ¸ber den sch¸tzenden Bootsrand zu erheben. Langm‰hnige b‰rtige M‰nner hasteten am Ufer vor der Parlamentsruine umher. Sie schoben Boote ins Wasser. Unter ihnen war eine Frau: Honeybutt! Auch den roten Umhang des Octavians erkannte Aruula. Der einarmige Aiko hob eine Waffe. Ein Laserstrahl zischte ¸ber sie hinweg. Von oben, aus den Ruinen schossen die beiden Technos. Als Aruula es endlich wagte, sich am Bootsrand hochzuziehen und ans andere Ufer zu sp‰hen, brannte dort der Wald zwischen den Ruinen. Ein EWAT senkte sich hinter der Wand aus Qualm und Flammen herab.
Aruula zog sich zur¸ck ins Boot. * Der Abend kam. Sie versteckten sich im Wald. Bis auf Korsow'rulas waren alle geflohen, die nicht zum Volk der Woiin'metcha gehˆrten. Die sechzehn Schwertkrieger hatten beschlossen, unter Russa'sibyrs und Haiku'karims Kommando zur Hˆhle hinunter zu klettern und das Biest zu tˆten. Weder Tata'ya noch Bulba'han konnten dem Greis aus dem Volk der Maulwurfsmenschen ausreden, sich den zumeist jungen Schwertkriegern anzuschlieflen. Im Schutz der Dunkelheit wollten sie angreifen. "Was geschieht in dieser Grotte?" Zum dritten Mal stellte Bulba'han diese Frage. Zum dritten Mal richteten sich die Augen aller auf ihn. Aber diesmal antwortete Russa'sibyr. "Wir wissen es nicht genau", sagte er. "Etwas Ungeheuerliches muss es sein, etwas, das unsere Vorstellungskraft ¸bersteigt." "Die meisten glauben, es hat mit der neuen Schˆpfung zu tun." Tata'ya sprach leise und mit gesenktem Blick. "Die Macht im See soll das Biest erschaffen haben." "Man erz‰hlt, dass es einst ungehorsam war." Haiku'karim hatte das Wort ergriffen. "Lesh'iye haben es gefangen und gez¸chtigt, und jetzt dient es der Macht im See um so gehorsamer." "Aber wie dient es ihr?" Bulba'han sch¸ttelte die ausgestreckten H‰nde, als suchte er nach treffenden Worten. "Warum verschlingt es die Gefangenen? Was tut es in der Hˆhle?" Alle senkten die Kˆpfe, alle aufler dem alten Narod'kratow. "Bist du so blind, Heerf¸hrer?", fragte Korsow'rulas. "Oder willst du nicht sehen?" Der ausgestreckte Arm des Greisen
deutete Richtung Strand, w‰hrend er sich vorbeugte. "Sie pumpen das Fleisch der Gefangenen in die Hˆhle! Vermutlich dient es dort als Nahrung." Seine Augen gl¸hten, sein Blick hielt Bulba'han fest. "Sie...?" Bulba'han konnte es nicht aussprechen. Aber ihm war, als h‰tte ihm jemand eine schwarze Binde von den Augen genommen. Hinter der Einschussstelle pochte und stach es auf einmal. Er schloss die Augen. "Ist das wirklich wahr?", fl¸sterte er. Dann lauter: "Und was? Was f¸ttern sie mit dem Fleisch der Opfer?" Lange sagte niemand etwas. Alle starrten auf Moos, Waldbeeren, Farn oder ihre Knie oder F¸fle. Schliefllich sog Tata'ya ger‰uschvoll die Luft ein. "Wie gesagt, es hat mit der neuen Schˆpfung zu tun." Sie seufzte. "Irgendwas w‰chst dort unten in der Hˆhle heran. Irgendetwas F¸rchterliches." Russa'sibyr hob den Kopf. "Etwas auflerordentlich Gefr‰fliges", sagte er heiser. "Tausende warten schon zwischen den Palisaden. Und immer mehr jagen sie und bringen sie in Schiffen oder endlosen Marschkolonnen hierher. Ungeheuer gefr‰flig muss es sein, was dort unten heranw‰chst..." Haiku'karim sprang auf, riss sein Schwert aus der R¸ckenscheide. "Wir m¸ssen es tˆten! Und wenn wir sterben, was soll's? Besser wie ein Schwertkrieger sterben, als zu Brei verdaut an Ungeheuer verf¸ttert werden...!" Es rauschte in den Laubkronen ¸ber ihnen. Alle Kˆpfe legten sich in die Nacken. An manchen Stellen der Baumkronen schimmerte der graue Abendhimmel durch die Zweige. Ein Schatten schoss dar¸ber, ein zweiter und noch einer. Auch Russa'sibyr sprang auf. Dann Tata'ya, dann viele Schwertkrieger auf einmal. Keine Hand, die sich nicht um einen Schwertknauf schloss, kein Augenpaar, das nicht versuchte, das dichte Laubdach des Birkenwaldes zu durchdringen. Und Bulba'han? Seine Hand tastete nach Tata'yas Hand.
Sicher – auch er sp‰hte in die Baumkronen hinauf, auch er versuchte sie zu erkennen, die ¸ber ihnen durch den abendlichen Dunsthimmel rauschten. Er wusste l‰ngst, dass sie es waren, deswegen liefl er sein Schwert stecken. Mit dem Schwert gegen die obersten Diener der Macht im See k‰mpfen? L‰cherlich. Der Himmel verdunkelte sich j‰h. Die Birkengruppe, unter der sie standen und saflen, sch¸ttelte ihre Kronen. ƒste brachen, Bl‰tter schwebten herab, ein Schrei ertˆnte, und auf einmal hing Russa'sibyr zwischen Baumkronen und Waldboden. Ein Tentakel schn¸rte seinen Bauch ein. Er br¸llte, liefl sein Schwert fallen und strampelte mit den Beinen. Der junge Haiku'karim wollte den Tentakel abschlagen, doch viel zu sp‰t sprang er herbei: Der Todesrochen stieg steil in den Abendhimmel und riss den schreienden Anf¸hrer der Abtr¸nnigen durch das Ge‰st hindurch aus dem Wald und mit sich in schwindelnde Hˆhe... * London hatte zwei Gesichter in diesen Tagen. Einmal das Gesicht einer Stadt vor der Schwelle in ein neues Zeitalter – ¸berall sp¸rte man es, und selbst die wilden Krieger mit der gelben Haut hatte ein gewisse Nervosit‰t ergriffen, seit Sir Jefferson Winter die Bunkerstadt ohne Schutzanzug verlassen hatte und seit die Vorbereitungen f¸r ein Gipfeltreffen zwischen den Grandlords und den Vertretern des Octaviats auf Hochtouren liefen. Und auf der anderen Seite die tˆdliche Stadt, der Dschungel aus Tr¸mmern, Ruinen und Wald. ‹berall schien es zu lauern, das Verderben. Biglord Walka und drei seiner Krieger hatten ¸berlebt. Diesmal war Rotbart der Gefangene General Charles Draken Yoshiros, und diesmal sollte er an Grandlord Parcival ausgeliefert werden.
Warum aber hatte Aruula die Schrecken des Angriffs nicht l‰ngst ¸berwunden? Eine ganze Woche liefl sie Matthew Drax nicht einmal in die N‰he des Hauptschotts. "Bleib bei mir", fl¸sterte sie ihm abends ins Ohr und hielt ihn auf ihrem Lager fest und im Zelt, das die Lords ihnen ¸berlassen hatten. Tags¸ber bestand sie darauf, dass er sie auf die Jagd begleitete, oder sie dr‰ngte ihn, eine halbe Meile von der Parlamentsruine entfernt die Grundmauern eines Hauses zu errichten. Wenn sie schon l‰nger in London bleiben mussten – und daran hatte Matt keinen Zweifel gelassen –, dann wollte sie wenigstens vor¸bergehend ein Zuhause f¸r sich und ihn schaffen. Sie bestand darauf. Im SEF zu wohnen kam plˆtzlich nicht mehr in Frage. Matt dachte an die vielen lebensgef‰hrlichen Situationen, die Aruula und er in den vergangenen fast vier Jahren Seite an Seite ¸berstanden hatten. Es waren teils schreckliche Erinnerungen, aber sie hatten ¸berlebt. Warum nur setzte ihr der ‹berfall des Rotbarts und seiner Rotten so nachhaltig zu? Matt konnte sich das nicht erkl‰ren. Mr. Black kam h‰ufiger aus der unterirdischen Stadt in die Ruinen herauf, zweimal am Tag mindestens. Er hielt die anderen auf dem Laufenden. So erfuhr Matt, dass Sir Jefferson Winter an einer Darminfektion erkrankt war, und dass Sir Leonard Gabriel mit einem EWAT von der Community Salisbury aufgebrochen war, um das Ergebnis des Serum-Tests persˆnlich mitzuerleben und am Gipfeltreffen mit den Lords teilzunehmen. Und dass die Queen sch‰umte, weil das Octaviat das Serum hinter ihrem R¸cken und ohne sie getestet hatte. Leonard Gabriel war Prime der Community Salisbury und Rulfans Vater. Eines Nachts wachte der Mann aus der Vergangenheit auf und fand sich allein unter Decken und Fellen. Er stand auf, schl¸pfte aus dem Zelt und suchte Aruula. Sie safl am Ufer der
Themse und betrachtete das verschwommene Spiegelbild des Vollmonds auf dem Wasser. Angst konnte es also nicht sein, was ihr in den Knochen safl – oder was sollte Matt sonst davon halten, dass sie allein und bei Nacht das Ufer des Flusses aufsuchte, der Tage zuvor fast ihr Grab geworden w‰re? Matt liefl sich neben ihr im Gras nieder. Irgendwie ein schˆner Anblick, der zerflieflende Mond auf dem Fluss. "F¸rchtest du dich nicht?" Er legte den Arm um Aruula und zog sie an sich. "Ich f¸rchte nur eines", fl¸sterte sie. "Dich zu verlieren. Kˆnnen wir nicht weggehen von hier?" Etwas in ihrer Stimme liefl ihn aufhorchen. "Die Welt steht vor einem Krieg, von dem noch niemand weifl, wie er gef¸hrt wird", sagte er. "Wenn es einen Ort gibt, von dem aus wir den Kampf gegen die Daa'muren organisieren kˆnnen, dann heiflt er London. Hier ist im Moment unser Platz." Sie dr¸ckte sich an ihn, entgegnete aber kein Wort. "Warum willst du weg von hier?", fragte Matthew. "Warum ist es dir so unangenehm, mich dort unten in der Bunkerstadt zu wissen?" Aruula seufzte, druckste ein wenig herum und ˆffnete endlich ihr Herz. "Sie steckt dahinter." "Wer steckt hinter was?" Matt begriff nicht, wovon sie sprach. "Die Kˆnigin hat ihm befohlen, mich zu tˆten. Deswegen hat sie ihn freigelassen, nur deswegen..." Matt glaubte nicht recht zu hˆren. "Weiflt du, was du da redest?" Er machte sich von ihr los, hielt sie an den Schultern fest, versuchte im Mondlicht den Ausdruck ihrer Augen zu lesen. Kein Zweifel: Jedes Wort meinte sie ernst. "Hast du Queen Victoria belauscht?" "Ich habe es versucht", gab Aruula zu. "Ich finde sie nicht, und wenn mein Geist den ihren zuf‰llig einmal ber¸hrt, ist er verschlossen. Sie weifl ja, dass ich Gedanken erlauschen
kann..." "Du redest dir etwas ein, Aruula!" In seinen Eingeweiden rumorte es plˆtzlich. Die Szene in jenem Raum dr‰ngte sich in sein Ged‰chtnis: Victoria hinter der Glasscheibe, er davor: Bitte, Matt, sag ja... ich liebe dich so sehr... "Ich bin eine Frau, Maddrax. Eine Frau muss keine Gedanken lesen kˆnnen, um so etwas zu f¸hlen." Aruula dr¸ckte seine H‰nde von seinen Schultern weg, stand auf, blickte auf ihn hinunter. "Es ist anders als bei Jenny in Beelinn. Sie liebt dich, habe ich Recht?" "Wie kommst du nur auf so einen Blˆdsinn?!" Eine Zeitlang stand sie so da, ein schˆn geformter Schatten im Mondlicht. Eine Brise spielte mit ihrem Haar. Irgendwann wandte sie sich ab, lief zur¸ck in die Ruinen und zum Zelt. Matt blieb am Themseufer sitzen. Er safl noch da, als der Mond sank und die Sonne aufging. Und er f¸hlte sich miserabel dabei. * Sie rannten aus dem Wald und sahen, wie der Todesrochen mit Russa'sibyr im Tentakel ¸ber dem Strand seine Kreise zog. Tiefer und tiefer schraubte er sich herunter. Etwa f¸nf Speerl‰ngen ¸ber dem Strand gab sein Tentakel den Woiin'metcha frei. Russa'sibyrs Mantel bauschte sich auf, w‰hrend er auf den Strand fiel und zwischen die Gefangenen st¸rzte. "Folgt mir, Br¸der!", br¸llte Haiku'karim. Er rannte den Klippen entgegen, und bis auf einen folgten ihm s‰mtliche Schwertkrieger. Doch selbst Bulba'han, obwohl er wusste, dass sie verloren waren, selbst er machte Anstalten, zum Abhang zu hinken. Tata'ya und der alte Korsow'rulas hielten ihn fest. "Zur¸ck in den Wald!", schrie Tata'ya. Bulba'han r¸hrte sich nicht von der Stelle. Auf die Kr¸cke gest¸tzt, starrte er
Haiku'karim und seinen tapferen Rebellen hinterher. Ein Lesh'iye stach im Sturzflug auf die Krieger hinab, packte einen, riss ihn in die Luft und schleppte ihn ¸ber die Klippen. ‹ber dem Strand liefl er ihn fallen und kehrte zur¸ck. "Komm endlich, Liebster!" Tata'ya weinte. Sie zerrte an Bulba'hans Mantel. Er hatte M¸he, nicht zu straucheln. "Komm in den Wald!" Widerwillig folgte der ehemalige Feldherr. Immer wieder sah er ¸ber die Schulter zur¸ck. Sieben Lesh'iye griffen jetzt Haiku'karim und seine Krieger an. "Sie haben keine Chance", murmelte Bulba'han mit tonloser Stimme. "Sie werden sterben!" Einen nach dem anderen rissen die Todesrochen aus dem Unterholz, einen nach dem anderen schleppten sie zum Strand. Der junge Haiku'karim schwang sein Schwert vergeblich; so tollk¸hn und so vergeblich... Bulba'han konnte seinen Blick nicht von ihm losreiflen. Und w‰hrend er den tapferen Schwertkrieger mit dem Mut eines Verzweifelten sein Schwert gegen die angreifenden Rochen f¸hren sah, da sah er – sich selbst. Sich selbst an der Spitze Zehntausender. Sich selbst auf der Jagd nach Mefju'drex. Sich selbst als verblendeten, fanatisierten Sklaven ohne Verstand in der brennenden Ruinenstadt. "Haiku'karim!", br¸llte er. Er riss sich von Tata'ya los, blieb stehen. "Haiku'karim! Her zu mir! Ich befehle dir – her zu mir!" Auf die Kr¸cke gest¸tzt und mit gez¸cktem Schwert hinkte er Richtung Kampfplatz. "Haiku'karim!" Nicht ganz einen Speerwurf entfernt schl‰ngelten auf einmal faltige R¸ssel ¸ber den Klippenrand. Sie wickelten sich um B¸sche, Steine und Wurzelstr¸nke, schienen zu pulsieren, sich ins Erdreich zu bohren. Und dann tauchte es auf, das Biest. Einem ¸berdimensionalen Geschw¸r gleich wucherte es ¸ber die Kante des Abhangs, w‰lzte, schob und rollte seinen ekelhaften,
formlosen Kˆrper Haiku'karims eingekesselter Truppe entgegen. "Her zu mir, Haiku'karim!", br¸llte Bulba'han. "In den Wald! Rettet euch in den Wald!" Die heulende Tata'ya hatte sich an seinen Mantel geh‰ngt. Er konnte sie nicht absch¸tteln, schleifte sie mit sich. "Ich befehle es euch...!" Die unendlich dehnbaren Tentakel des Biests warfen sich ¸ber mindestens sechs von Haiku'karims Krieger, h¸llten sie ein und verwandelten sie binnen Sekunden in fleischige Kokons. Rochen packten drei, vier von ihnen, rissen sie von der Erde weg und schleppten sie in Richtung Strand. Endlich machte der junge Schwertkrieger kehrt, rannte dem Waldrand entgegen. Drei seiner Krieger folgten ihm. Alle drei fielen den unentwegten Angriffen der Lesh'iye zum Opfer. Hinter dem allein ¸berlebenden Haiku'karim sah Bulba'han das Biest heranwalzen. Keuchend erreichte Haiku'karim den Kr¸ppel, packte ihn, zerrte ihn mit sich durch Buschwerk, ¸ber Wurzelstr¸nke und an Felsbrocken vorbei in den Wald. Ein Tentakel traf Bulba'han und entriss ihm die Kr¸cke. Zwei Rochen st¸rzten sich vor ihnen in die Baumkronen, Birkenst‰mme brachen nieder. Der Weg nach Westen war versperrt. Sie wandten sich nach Norden. Und wieder splitterte Holz, wieder zuckte der riesige Kˆrper eines Lesh'iye zwischen den B‰umen. Sie entkamen nach S¸den. Wie, verstand Bulba'han nicht. Atemlos versuchte er mit den Gef‰hrten Schritt zu halten. Hinkte, liefl sich schleifen, sprang auf einem Bein, stiefl sich dann wieder mit dem Schwert ab. Tata'ya liefl seinen Mantel nicht los, Haiku'karim hielt ihn am Handgelenk fest. Der greise Korsow'rulas hatte die F¸hrung ¸bernommen. Sein Schwert fuhr ins Unterholz, hieb einen Weg frei. Schatten rauschten ¸ber die Baumkronen, Tentakel peitschten dicht an ihnen vorbei.
Sie erreichten einen Fluss. Vier Schritte breit strˆmte der Lauf dem See entgegen. Das Wasser war warm. Entwurzelte B‰ume deckten den Flusslauf an einer Stelle ¸ber mehrere Speerl‰ngen ab. Bis zu den H¸ften standen sie im Wasser: Tata'ya, Korsow'rulas und der junge Haiku'karim. Bulba'han st¸tzte sich am Ufer auf sein Schwert. Er atmete schwer. ‹ber ihnen rauschten Laubkronen und Luft. Viele Rochen jagten sie jetzt, ein ganzer Schwarm. "Achte auf sie", keuchte Bulba'han. "Dein Leben f¸r ihres... schwˆr es mir." "Komm ins Wasser", keuchte Haiku'karim. "Steig in den Fluss", fl¸sterte Tata'ya. Komm schon, winkte der greise Narod'kratow. "Schwˆre!", rief Bulba'han. "Schwˆre bei deinen V‰tern!" "Nein!" Tata'ya heulte auf. "Wir schaffen es, Liebster!" "Ihr kˆnntet es schaffen!" Das Unterholz knackte und splitterte vom Gewicht des herankriechenden Biests. "Ich bin am Ende...!" "Komm!", schrie Haiku'karim. "Steig endlich ins Wasser, Bruder!" "Schwˆre, Bruder!" Bulba'han rammte das Schwert neben sich ins schlammige Ufer. "Bis zum letzten Blutstropfen wirst du ihr Leben verteidigen!" Bulba'han blieb unerbittlich. Sein Hirn war eiskalt, er sah klar: Es war vorbei. Er konnte es nicht schaffen. Und die drei im schmalen Fluss? Nur ohne ihn hatten sie eine Chance. "Schwˆre oder sei mit Schande befleckt, bis du stirbst!" "Ich schwˆre!", schrie Haiku'karim endlich. "Ich schwˆre, und nun komm endlich!" "Komm du, nimm mein Schwert und erweise mir den letzten Dienst, den ein Schwertkrieger dem anderen erweisen kann!" "Niemals..." Haiku'karim hob abwehrend Schwert und Arm und wandte den Kopf zur Seite, als kˆnnte er Bulba'hans Anblick nicht ertragen.
"Dann komm du, Tata'ya!" Das Splittern, Knacken und Rascheln n‰herte sich. Rochen fegten ¸ber ihnen durch die Laubkronen. Die Zeit lief ab. "Wenn du mich liebst, dann komm und rette mich vor dem unw¸rdigen Ende in den Eingeweiden der Bestie!" Tata'ya begann zu zittern, kletterte aber ans Ufer. "Gˆnne mir den ehrenhaften Tod eines Schwertkriegers..." Tata'ya warf sich auf den Geliebten, bedeckte sein vernarbtes Gesicht mit K¸ssen, umarmte ihn zum letzten Mal. "Ich liebe dich, ich liebe dich..." "Dann zˆgere nicht l‰nger", stˆhnte der Schwertkrieger. "Ihr habt keine Zeit mehr. Ich habe auf Bluterde um dich gek‰mpft und gewonnen, also zˆgere nicht l‰nger..." Tata'ya richtete sich auf, riss Bulba'hans Schwert aus dem Waldboden. "Ich werde dich nie vergessen", fl¸sterte sie. "Und wenn ich bis ans Ende der Welt fliehen muss – in meinem Herzen werde ich dich mit mir tragen." Sie packte die schwere Klinge mit beiden H‰nden und hob sie ¸ber den Kopf... * "London braucht jetzt eine verdammt gute Nachricht. Spannen Sie uns also nicht l‰nger auf die Folter, Dr. Snyder." Der Mann, der das sagte, hiefl Leonard Gabriel. Er stand direkt hinter dem Arzt an der Instrumentenkonsole. Eine tiefe, volltˆnende Stimme hatte er und ein hartes, ernstes Gesicht. "Finden Sie noch irgendwelche Anzeichen einer Entz¸ndung?" Er trat neben den Arzt und richtete die stechenden Augen auf den Monitor. "Haben wir es geschafft oder nicht?" Gabriel trug ein bordeauxrotes weites Jackett und darunter ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose aus Kunstseide. Fahl und alterslos wirkte sein kantiges Gesicht. Tiefe Furchen querten die Stirn. Dicke blaue Adern ¸berzogen seinen Sch‰del. Die Augen lagen tief in ihren Hˆhlen. Obwohl er
keine Per¸cke trug, also kein langes Haar hatte wie Rulfan, fand Matt die ƒhnlichkeit zwischen Vater und Sohn verbl¸ffend. Alle dr‰ngten sie sich nun um den Arzt und seinen Monitor. "Die Darmflora ist wieder in Ordnung", sagte Dr. Snyder. "Und die Staphylokokken, die Sie sich bei den Socks eingefangen haben, konnten nicht einmal einen Husten bei Ihnen auslˆsen, geschweige denn eine Lungenentz¸ndung." Er wandte sich um und ergriff die Hand des Octavian f¸r Kultur und Unterhaltung. "Gratuliere, Sir Jefferson! Keine Anzeichen einer Entz¸ndung mehr!" Die E-Butler auf den Wandmonitoren applaudierten, und die sonst so beherrschten M‰nner und Frauen des Octaviats brachen in lauten Jubel aus. Die Prime und der b‰rbeiflige General Yoshiro fielen einander in die Arme. Auch Matt und Black klatschten in die H‰nde. Valery Heath und Rose McMillan dr¸ckten ihren Lippen auf ihre Helme. Sogar die Queen strahlte. Manchmal, wenn Matt pr¸fend ihren Blick suchte, wich sie aus. Leonard Gabriel legte den Arm um den Commander. "Die Reste der britischen Zivilisation haben Ihnen viel zu verdanken, Commander Drax! Sie lieflen sich von uns ¸ber den Atlantik schicken, und sie kehrten mit einem Serum zur¸ck, das uns den Wiederaufbau der alten Welt erlaubt! Wir sind Ihnen f¸r immer zu Dank verpflichtet!" "Die Zivilisation ist noch lange nicht gerettet", sagte Matt. Viel zu leise sprach er, und sie jubelten ihn nieder. * Im Morgengrauen des n‰chsten Tages bestatteten sie Bulba'hans abgeschlagenen Sch‰del tief in der weichen Walderde. Den Rumpf hatten sie der Strˆmung des Flusses ¸berlassen. Tata'ya hoffte, dass er bis in den See gelangt war. Den blutigen Kopf aber hatte sie unter ihrem Mantel
geborgen. Die ganz Nacht hielt sie ihn an ihre bebende Brust gedr¸ckt und fl¸sterte ihm all die Worte ins Ohr, die sie einzig f¸r Bulba'han aufgespart hatte. Hinter der Stirn wohnt der Geist, gib ihm ein sicheres Grab, damit er den Weckruf der Ahnen hˆrt, so hiefl es in den altehrw¸rdigen ‹berlieferungen der Woiin'metcha. Nun also, da die Sonne zu einem neuen, unsicheren Tag ¸ber das Laubdach des K¸stenwaldes stieg, hatte sie ihm den allerletzten Liebesdienst erwiesen. Tata'ya sah zu, wie Korsow'rulas und Haiku'karim Stein um Stein auf das zugesch¸ttete Erdloch h‰uften. Schliefllich rammte sie Bulba'hans Schwert neben den Steinh¸gel. Danach bedeckten sie das Grab mit ƒsten. "Wir m¸ssen weiter", dr‰ngte Haiku'karim. "Sie verfolgen uns." "Ich weifl", sagte Tata'ya. "Geht, ich komme nach." Der junge Schwertkrieger und der greise Maulwurfsmann schlichen ein St¸ck durch das Unterholz. Unter einer Birkengruppe blieben sie stehen und warteten. Tata'ya kniete vor dem Grab, hatte ihren Kopf auf die Knie gelegt. Niemand w¸rde je erfahren, was sie dem toten Geliebten zum Abschied schwor. Wenig sp‰ter huschten sie von Baum zu Baum. Sie wollten versuchen, Richtung S¸den zu entkommen. Haiku'karim liefl Tata'ya keinen Moment aus den Augen. Bis er starb, war er an seinen Schwur gebunden. So wollte es das eherne Gesetz der Woiin'metcha. Bis zu seinem Tod... Bis zum Mittag also? Oder bis zum Abend? Oder bis zum n‰chsten Morgen gar? Keiner der drei Fl¸chtlinge wusste, wie viele Stunden, wie viele Tage womˆglich ihnen noch gegˆnnt waren. *
Londons Ruinen im Morgengrauen. Es hatte die Nacht ¸ber geregnet. Dunstfetzen trieben ¸ber der Themse. Die Morgensonne machte Jagd auf sie und tauchte schon seit zwei Stunden die schw‰rzlichen Ruinen der Houses of Parliament und von Westminster Abbey in unwirkliches Licht. Die Lords hatten mit Hilfe einiger Spezialisten aus der Community den noch ¸berdachten Teil der Westminster Hall von Tr¸mmern und Gestr¸pp freiger‰umt und einen runden Plexiglastisch samt Sesseln aus der Bunkerstadt nach oben geschafft und dort aufgestellt. Hier sollten die Verhandlungen mit den F¸hrern der Lords stattfinden. Schon hatten sich mindestens drei Dutzend Biglords an den Eing‰ngen und Mauerl¸cken versammelt. Misstrauisch be‰ugten sie die fremdartigen Mˆbelst¸cke. Matthew Drax und seine Gef‰hrten sollten an der historischen Konferenz teilnehmen. Mr. Black und Miss Hardy als Vertreter der Untergrund-Regierung – wie Black es nannte – in Washington, Aiko Tsuyoshi als Delegierter der Cyborgs von Amarillo, und die Frau von den Dreizehn Inseln stellvertretend f¸r die Wandernden Vˆlker. Matt hatte Aruula gestern noch einmal Unterricht erteilt, damit sie ihren Namen richtig schreiben konnte. Man rechnete allgemein mit einem Schlussdokument, das alle Teilnehmer zu unterzeichnen hatten. Bald ˆffnete sich das Portal zur Hauptschleuse der Community. In einer feierlichen Prozession schritten sechs Technos aus der Schleuse: Queen Victoria II; ihr Berater, der Octavian Jefferson Winter; Josephine Warrington, die Prime der Community London; Leonard Gabriel, der Prime der Community Salisbury; an seiner Seite General Emily Priden, Milit‰r-Octavian von Salisbury (und Gabriels Geliebte, wie Matt munkeln hˆrte); und schliefllich der Milit‰rchef von London, General Charles Draken Yoshiro. Keiner der sechs trug einen Schutzanzug.
Einige Lords stieflen Laute aus, die f¸r Matts Ohren wie Gejodel klangen. Andere fielen ein. Die Regierungsspitzen der Communities winkten den struppigen Kriegern zu, blieben sogar stehen und deuteten Verbeugungen an: Ehemalige Feinde begr¸flten sich. Erhabene Augenblicke; niemals w¸rde der Mann aus der Vergangenheit sie vergessen. Er und seine Gef‰hrten gingen den Technos entgegen und begr¸flten sie. Die Queen hielt Matts Hand l‰nger fest, als es unbedingt nˆtig gewesen w‰re. Sie ging auf die Zehenspitzen, als wollte sie ihm etwas ins Ohr fl¸stern, und nur Matt hˆrte, was sie sagte. "Endlich", sagte sie. "Endlich sehe ich dich ohne den verdammten Schutzanzug. Es ist ein Gl¸ck f¸r mich, die Haut deiner Hand zu sp¸ren. Ich freue mich so sehr." Matt erwiderte nichts, sah sich nur um – und erhaschte einen halb ‰ngstlichen, halb w¸tenden Blick seiner Geliebten. Sir Jefferson Winter hatte in den letzten vier Wochen t‰glich viele Stunden mit den Lords verbracht – selbst in internen Gespr‰chen hatte er sich abgewˆhnt, sie Socks zu nennen. Etliche kannte er inzwischen mit Namen. Deswegen ¸bernahm er es, die Delegationen einander vorzustellen. Die Barbaren wurden von Grandlord Parcival angef¸hrt, einem rauscheb‰rtigen H¸nen, dem das graue Lockengestr¸pp wie eine Lˆwenm‰hne auf dem Sch‰del wucherte. Drei Grandlords und achtundzwanzig Biglords begleiteten ihn. Die Namen der Grandlords: Sylvester, Mervin und Roger, der ‰lteste Sohn des ermordeten Rudy. Sie selbst, unf‰hig, das "R" zu modulieren, sprachen sich nat¸rlich anders aus: S¸lwesta, Meawin und Rodscha. Selbst Yoshiro verhielt sich ausgesprochen hˆflich den Barbaren gegen¸ber. Artig und meilenweit entfernt von einem cholerischen Anfall sprach er sie mit ihrem anmaflenden Titel an: Grandlord. Grandlord Parcival bestand auf einer religiˆsen Zeremonie
vor dem Beginn der eigentlichen Konferenz. Die Queen stimmte zu, bevor irgendjemand Einspruch erheben konnte. Also bewegte sich die Prozession an der Ruine der Westminster Hall vorbei zum Themse-Ufer. Dort hatten die wilden Krieger ein Podest errichtet. Ein Kessel stand auf dem Podest, und ein Verr¸ckter, ein Mann mit langem weiflen Haar und Bart, tanzte um den Kessel herum, streckte zwischendurch seine Arme dem Himmel entgegen und rief unverst‰ndliches Zeug. Ein Art Druide, wie Matt rasch begriff – "Druud Alizan", hˆrte er die Lords hinter sich fl¸stern –, und der Gott, den er anrief, war kein geringerer als der finstere Orguudoo. "Das ist Gottesl‰sterung!", zischte Aruula ihm ins Ohr. "Ist doch egal", raunte Matt zur¸ck. "Wudan oder Orguudoo oder Fuflpilz was soll's? Hauptsache, sie k‰mpfen mit uns gegen die Daa'muren." Dann wurde ein Mann auf das Podest gef¸hrt – Rotbart Walker, halbnackt. Nur ein Lendentuch bedeckte seine Scham. Giftige Blicke verschoss er in die Menge, und Matt hatte den Eindruck, dass vor allem die Queen sein Ziel war. Doch hinter der Maske ihres Aristokratenl‰chelns hielt Victoria dem Blick des todgeweihten Barbaren stand. Aruula dr‰ngte sich neben Matt. Der Griff ihrer Rechten um seinen Oberarm schmerzte, so eisern war er. "Siehst du seine Blicke?", fl¸sterte sie. Matt sah sie, nat¸rlich. Und er kannte die Ger¸chte, die in den exklusiven Kreisen der Community kursierten: Walka h‰tte die Queen als Verr‰terin beschuldigt, sei daraufhin ¸berst¸rzt an Parcivals Rotten ausgeliefert worden, und das Erste, was man ihm angetan hatte, war, ihm die Zunge herauszuschneiden. Best‰tigte nicht all das Aruulas Behauptung? Matt verdr‰ngte solche Gedanken lieber. Jetzt ging es um die Einheit Britanas. Jetzt hatten sich persˆnliche Gef¸hle und Leidenschaften den politischen Notwendigkeiten
unterzuordnen. Ein globales B¸ndnis gegen die Daa'muren musste geschmiedet werden. Daf¸r war Victoria unentbehrlich. Was dann geschah, war nicht schˆn, und alle Angehˆrigen der Bunkerregierungen schauten weg. Matt wandte nicht den Blick, auch Black nicht: Der junge Grandlord Roger persˆnlich griff zur Klinge, um seinen Vater zu r‰chen. W‰hrend sich Walkas Blut in den Kessel ergoss und Druud Alizan den rothaarigen Sch‰del des Rebellen dem Feuer ¸bergab, schritten die Konferenzteilnehmer zur Ruine der Westminster Hall. Himmel, was f¸r ein Omen, dachte Matt. Victoria schaffte es, genau den Moment abzupassen, in dem Aruula zur¸ckblieb, weil Rulfans Vater sie in ein Gespr‰ch verwickelte. Sir Leonard Gabriel sch‰tzte die Gegenwart schˆner Frauen. Und Victoria sch‰tzte Matts N‰he. Sie dr‰ngte sich neben ihn, schob f¸r wenige Augenblicke ihren Arm unter seinen und sagte, w‰hrend sie der Zuschauermenge ein Lachen pr‰sentierte: "W‰ren wir nicht ein wunderbares Paar, Matthew?" "Mˆglicherweise, nur liebe ich eine andere." "Und ich liebe dich", sagte sie leise. "Das tut mir Leid, Victoria. Ich kann deine Gef¸hle nicht erwidern. Mein Herz gehˆrt Aruula, f¸r immer." Behutsam machte er sich von ihr los. "'F¸r immer' – was f¸r eine dumme Redensart!" Sie stiefl ein ver‰chtliches Lachen aus. "Man sollte sie nicht benutzen, in der Liebe schon gar nicht." Sie betraten die Konferenzst‰tte. "Jetzt ist dein Herz an sie gebunden, Matthew Drax, jetzt", fl¸sterte die Queen. "Doch alles ist im Fluss, alles ver‰ndert sich. Siehst du nicht, dass ich ohne Schutzanzug neben dir gehe? Siehst du nicht, dass wir ein B¸ndnis mit unseren ehemaligen Erzfeinden schlieflen werden? Und wer weifl
schon, was morgen erst sein wird..." ENDE
Das Abenteuer geht weiter! Im n‰chsten Band lesen Sie:
Am Vorabend der neuen Zeit von Claudia Kern und Bernd Frenz Rot oder Blau – die richtige Farbe entschied ¸ber Leben und Tod! Schweifl rann in Aikos Augen, w‰hrend er auf den bunten Kabelwust starrte, der ihm aus der offenen Abdeckung entgegen quoll. Der Seitenschneider in seiner Hand begann zu zittern. "Noch zwanzig Sekunden", fl¸sterte Mr. Black, als ob die unerbittlich r¸ckw‰rts laufende Digitalanzeige zu ¸bersehen w‰re. "Nehmen Sie den Roten!" Er bem¸hte sich um einen festen Tonfall, doch das war gespielt. In Wirklichkeit hatte er keine Ahnung. Aiko biss sich auf die Lippen. Der Seitenschneider kerbte bereits die rote Kunststoffumh¸llung ein, als er erneut zˆgerte. Was, wenn er die falsche Entscheidung traf? Sie w¸rden sterben! Wie hatten sie nur in diese missliche Lage geraten kˆnnen?