Backcover: Im Jahre 2010 kommen gnomenhafte Aliens auf die Erde, die eigentlich nur ihre vor vier Jahrhunderten gestrand...
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Backcover: Im Jahre 2010 kommen gnomenhafte Aliens auf die Erde, die eigentlich nur ihre vor vier Jahrhunderten gestrandeten Gefährten aufnehmen wollen. Doch als die Hobbs erkennen, in welch beklagenswertem Zustand der blaue Planet ist, beschließen sie einzugreifen. Die Menschen werden aufgefordert, nach ökologischen Gesichtspunkten zu leben, andernfalls droht ihnen die Vernichtung. Nach und nach beginnen die Menschen zu verstehen, und alle, die mit den Hobbs in Kontakt treten, verändern sich auf eine rätselhafte, wunderbare Weise. »Judith Moffett ist eine großartige und kunstfertige Erzählerin. Sie haucht ihren Figuren so viel Leben ein, dass wir es bedauern, wenn ihre Geschichten erzählt sind.« LOS ANGELES TIMES BOOK REVIEW
JUDITH MOFFETT Die Rückkehr der Hobbs Science Fiction Roman Ins Deutsche übertragen von Jürgen Martin
BASTEI LÜBBE BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH : Band 24158 Erste Auflage August 1992 © Copyright 1991 by Judith Moffett All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1992 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Originaltitel: The Ragged World Lektorat: Reinhard Rohn Titelillustration: Tim White Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: Fotosatz Schell, Bad Iburg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-20185-X Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
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Einleitung 23. Februar 2023 Die Hobbs auf Erden Mein Name ist Nancy Sandford. Ich bin Pflanzenzüchterin und Herausgeberin einer Zeitschrift, und früher einmal habe ich an einem College Botanik unterrichtet. Und ausgerechnet mich hat sich Godfrey ausgesucht, damit ich diese Einleitung schreibe, sozusagen der Rahmen für das Buch. Godfrey, das ist der HobbsBeobachter am Rodale-Forschungszentrum in Maxatawny/Pennsylvania, der außerdem noch für mehrere über den ganzen Norden Ohios verstreute Amish-Gemeinden zuständig ist. Es gibt nur weniges, was ich für Godfrey nicht tun würde. Seinem Eingreifen vor einigen Jahren verdanke ich, dass ich noch lebe und er nahm gewiss einige Unannehmlichkeiten dafür in Kauf. Und weil Hilfe von niemandem sonst als den Hobbs kommen konnte, ist es wohl kein Wunder, dass ich, was sie betrifft, nicht objektiv sein kann. So konnte ich mir das Wortspiel meiner Überschrift einfach nicht verkneifen, was immer Sie darüber denken mögen: Aus meiner (zugegebenermaßen sehr eigenen) Sicht der Dinge drückt es nichts als die Wahrheit aus. Nicht, dass ich so weit gehen möchte, zu behaupten, dass die Hobbs in Englands grünen Gefilden das Neue Jerusalem erbaut hätten oder dass sie das eines Tages schaffen werden - doch eines muss ganz klar sein: Ich bin uneingeschränkt für die Machtübernahme, für das Experiment - okay? Ich bin es aus Überzeugung. Wer glaubt, ich hätte mich nur für eine Werbekampagne der Hobbs einspannen lassen, der mag das tun; aber ich könnte nichts anderes schreiben, selbst wenn ich wollte. Und natürlich will ich nicht. Glauben Sie mir, es geht nicht nur darum, dass ich den Tod vor Augen hatte und sie mich gerettet haben - nein; viel eher darum, dass ich, obwohl ein Mensch, mich schon vor langer Zeit den Menschen und dem, was sie denken und fühlen, entfremdet hatte, weil das Leben, das ich zu führen gezwungen war, eben kein menschliches Leben war. Es war weit weniger als das. Vor einem solchen Hintergrund ist es tatsächlich leichter, die Dinge lediglich
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aus der Sicht der Hobbs zu betrachten. Nun gut, nachdem das geklärt ist, kann es weitergehen. Was Godfrey wünschte, war ein kurzer Überblick über die Ereignisse der letzten siebzehn Jahre, eine Geschichte dieser Welt seit dem Erscheinen der Hobbs. Den meisten Lesern wird ein Großteil davon, wenn nicht alles, bekannt sein; doch Godfrey meinte, ich sollte auf jeden Fall die wichtigsten Punkte noch einmal zusammenstellen: über die Ankunft der Fremden, wie sie sich zurückzogen und dann wiederkamen, um zu bleiben - und keineswegs, um das Leben einer Melonenzüchterin zu retten, sondern das Leben auf einem Planeten überhaupt. Also, lassen Sie mich beginnen: Die Hobbs, über und über behaarte, zwergenhafte Humanoide (oder Gnomoide, wenn Sie so wollen), kehrten im Frühling 2006 zur Erde zurück, denn es war nicht das erste Mal, dass sie hier landeten. Im selben Jahr verließen sie unseren Planeten auch wieder, nachdem sie alles Erdenkliche versucht hatten, um jene Artgenossen zu finden, die sie lange Zeit zuvor zurückgelassen hatten und um derentwillen sie gekommen waren. Vier Jahre später, als das Kommando auf ihrem Schiff gewechselt hatte, kamen die Hobbs wieder. Ihre erste Tat bestand darin, zu demonstrieren, dass sie unseren Planeten in Stücke reißen konnten, wenn sie nur wollten. Für die meisten Menschen war jedoch weit erschreckender, dass sie auch über Möglichkeiten verfügten, unsere Gedanken auszuforschen und ebenso ganz nach Wunsch Erinnerungen oder gar das gesamte Gedächtnis zu löschen. (Lassen Sie mich ein wenig vorgreifen, damit es keine Mißverständnisse gibt: Die Androhung einer solchen >Gehirnwäsche< diente den Hobbs, dazu, uns gefügig zu machen, ohne Gewalt anwenden zu müssen - mit oder ohne Zerstörung der irdischen Biosphäre. Das muss man sich immer vor Augen halten. Man kann wohl kaum daran zweifeln, dass sie die Menschheit hätten ausrotten können, ohne irgendein Ökosystem auf diesem Planeten zu schädigen, zumindest keines, das von den Menschen unabhängig existierte. Niemand weiß, wie groß ihre Fähigkeiten der Suggestion wirklich sind. Da es in ihrer Macht liegt, die gesamte Menschheit unfruchtbar zu machen, warum sollten sie nicht auch einen unwiderstehlichen Todeswunsch in die Herzen aller Menschen säen können? Einige von Ihnen werden jetzt sagen, dass sie uns so gut wie ausgerottet haben - dass das Verbot, Nachkommen zu zeugen, nur
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eine Variante jenes Schicksals de r Menschheit ist, wie es in Die letzte Generation beschrieben wird, und dass wir ja nichts weiter in der Hand haben als ihr Versprechen, dass dieses Verbot eines Tages wieder aufgehoben wird. Nun ja, man hört allenthalben Klagen und Jammern darüber, was die Fremden uns angetan haben, vielleicht für uns getan haben - doch wäre es nicht einmal angebracht, dass wir uns klarmachen, was sie hätten tun können oder was sie uns alles angedroht haben, ohne es je auszuführen?) Aber wie dem auch sei - und was immer auch die Gründe waren: Jene Partei, die im Jahr 2010 das Schiff kommandierte, ließ verkünden, dass man sehr interessiert sei, die überaus drängenden Probleme dieses Planeten zu lösen. Noch immer hofften die Hobbs, Hinweise über das Schicksal jener meuterischen Besatzungsmitglieder zu finden, die man einst, in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, in Schweden und Nordengland ausgesetzt hatte, doch war für die neue Führung ein weiteres, noch wichtigeres Motiv hinzugekommen. Also ließ man sich erst einmal auf dem Mond nieder, drohte mit all seiner Macht und schickte Kundschafter, die wie die leibhaftigen sieben Zwerge aussahen, zur Erde und unter die Menschen. Nach einer mehrere Monate dauernden Periode intensiver Beobachtung verlangten die Hobbs nach Schreibkräften und diktierten ihre Anweisungen für die Bewohner der Erde. Sie ließen sie dem Generalsekretär der Vereinten Nationen überbringen, damit sie übersetzt und in allen Sprachen der Erde veröffentlicht würden. Schlangen von Papier spien die Übersetzungscomputer aus, und nun erscholl auf der ganzen Erde ein einziger Aufschrei der Empörung. Was die Hobbs da befahlen, war hart; jeden einzelnen traf es, und für viele bedeutete es den Ruin. Die Liste der Forderungen war unüberschaubar lang und detailliert, doch konnte man die Hauptgedanken leicht auf einen Nenner bringen: Wir, die Erdlinge, hatten neun Jahre Zeit, uns zu bessern. Neun Jahre, nicht mehr und nicht weniger. Sollten wir es bis zum Jahr 2020 nicht geschafft haben, die Forderungen der Fremden zu erfüllen, dann würde das Menschengeschlecht ausgelöscht werden - ohne Gnade, ohne Ausnahme. Sie sagten nicht, wie das geschehen sollte, aber niemand wagte zu bezweifeln; dass sie die Mittel besaßen, ihre Drohung wahr zu machen. (Es entspricht natürlich der menschlichen Natur, solche Dinge zu verdrängen und zu glauben, dass sie nicht wirklich diese Absicht hatten. Verdrängen, sagen die Hobbs, das sei eines der Dinge, die wir am besten können.)
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Die Menschheit sollte ihr umweltschädigendes, das ganze irdische Ökosystem bedrohende Verhalten sofort ändern, das verlangte die Direktive der Hobbs - ohne Rücksicht auf die Folgen, gleich, wieviel an Leiden, Entbehrungen und Hungersnöten über die Menschen kommen würde, ungeachtet eines Zusammenbruchs der ganzen Weltwirtschaft. Was man im Westen um 1970 aus Sorge um die Umwelt unternommen hatte, war kaum der Rede wert; die etwas beherzteren Eingriffe in den späten achtziger Jahren, als die Nachrichten über Umweltschäden immer alarmierender wurden, auch die weltweite Panik im Jahr 2000 - all das führte zu nichts, konnte Profitdenken und Egoismen nicht überwinden. Politiker machten Pläne, setzten Ziele, doch überwog allgemein das Bedürfnis, die Probleme zu verdrängen, bis man schließlich die Versuche, etwas zu ändern, ganz aufgab: So hoffnungslos war die Lage geworden, dass Abhilfe undenkbar schien. Gesetzliche Bestimmungen waren bei weitem nicht ausreichend, wenn es sie überhaupt gab. Kein Lebewesen existierte, das nicht ernsthaft bedroht war; wenn es mit den Menschen denselben Lebensraum teilte. Das galt schon im Jahr 2006 und erst recht 2010, als die Hobbs zurückkehrten. Trotzdem entschlossen sie sich zu einem letzten, verzweifelten Versuch, die Erde zu retten - zu verhindern, dass eine neue Phase der Evolution begann, mit Lebensbedingungen, die für die Hobbs ebenso unzuträglich waren wie für die Menschen. Jeder, der ihr Eingreifen nicht schätzte, wusste jedoch, dass sie das Heft in der Hand hatten: Sie gaben keine Ratschläge, sie befahlen. Und sie bemühten sich nicht einmal, höflich zu sein. So lauteten die Direktiven der Hobbs: - Die Nutzung fossiler Brennstoffe musste eingeschränkt werden und sollte schließlich ganz auslaufen; auch auf Kernenergie sollten wir verzichten. Erlaubt waren nur regenerierbare Energiequellen Holz, Alkohol oder Pflanzenöle. Strom sollte aus Wasserkraft, Wind und Sonnenlicht erzeugt werden, doch keinesfalls mit Hilfe der großen, landschaftszerstörenden Staudämme. Den Leuten in Detroit und anderswo gab man neun Jahre, um ein Auto zu entwickeln, das entweder mit Sonnenzellen betrieben wurde oder mit Wasserstoff, der durch Elektrolyse erzeugt wurde, und innerhalb neun Jahren mussten die Fahrzeuge auf den großen Autobahnen der Welt zur Verminderung der Reibung auf Schienen rollen. Kühlschränke und Klimaanlagen, die Fluorchlorkohlenwasserstoffe als Kühlmittel benutzten, durften
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nicht mehr repariert werden, wenn sie defekt waren. Die wenigen Länder, die diese chemischen Verbindungen noch herstellten, mussten sofort damit aufhören. - Alle industriellen Verfahren, bei denen giftige Abfälle entstanden, mussten aufgegeben werden. - Kunststoffe mussten biologisch abbaubar sein - alle, ohne Ausnahme, ob sie nun auf der Basis von Erdöl oder sonstwie hergestellt wurden. - Die Aufforstung abgeholzter Waldgebiete musste dramatisch beschleunigt werden, und kein einziger Quadratmeter des noch übrigen Regenwaldes durfte mehr angetastet werden. - Wasserläufe und Seen durften nicht länger verunreinigt werden, nicht mit organischen Verbindungen, nicht mit Phosphaten und Nitraten. Mit Wasser sollte sparsam umgegangen werden. - Das Versenken von Abfall in den Meeren war verboten. - Endlich wurde Ernst gemacht mit dem, was nachdenkliche Leute, die unsere Methoden der Landwirtschaft für ruinös hielten, schon seit dreißig Jahren gefordert hatten: Jeder, der ein Stück Land bestellte, ob klein oder groß, musste lernen, Boden und Natur zu pflegen, anstatt auszubeuten - denn kein Kunstdünger, kein Unkrautvernichtungsmittel und kein Pestizid war mehr erlaubt, statt dessen gab es Gründüngung und biologische Schädlingsbekämpfung. Um die Bodenerosion zu stoppen, gebot die Direktive eine schützende Bepflanzung des Brachlandes, unbebaut durfte kein Stück Ackerland liegenbleiben. Auch mit Monokulturen sollte Schluss sein. Für die Maschinen der Bauern galt ebenfalls, dass keine fossilen Brennstoffe benutzt werden durften. Jede Bewässerung, die zu Lasten des Grundwasserspiegels ging oder zur Versalzung der Böden führen konnte, musste unterbleiben. Das war mehr als nur eine Umstellung für die Landwirtschaft, es war eine Zerreißprobe. Und für die Bauern war es ein Wirklichkeit gewordener Alptraum. Dabei war noch gar nicht die Rede von den Bestimmungen, die für die gesamte Industrie und das Transportwesen galten: Waren und Produkte durften über längere Strecken nur noch mit der Bahn oder per Schiff transportiert werden. Das bedeutete nichts anderes, als dass man von der globalen zur lokalen Verteilung der Waren übergehen musste, und die Erträge der Wirtschaft fielen ins Bodenlose. Es schien, als erwarteten die Hobbs, dass die Bewohner einer jeden Region sich selbst mit allen Lebensnotwendigkeiten versorgten - in vielen Fällen ganz offensichtlich eine schiere Unmöglichkeit.
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Aber darauf nahm die Direktive keine Rücksicht. Es stand da auch nichts zu lesen, wie man mit Pflanzenextrakten Schädlinge bekämpfen konnte oder wie man aus Pflanzenöl Brennstoff herstellte. Nichts erfuhr man, wie die Katalysatoren aussehen sollten, die man dringend benötigte, wollte man verhindern, dass die geforderten Holzöfen ihrerseits zu einer neuen, gefährlichen Quelle der Luftverschmutzung wurden - oder wie man solche Öfen und Pflanzenölbrenner in ausreichender Zahl herstellen sollte, um die Wohnhäuser eines ganzen Planeten zu heizen. Es war schon eine ganze Menge, worüber die Direktive sich ausschwieg. Die Hobbs sagten, was zu tun war, das Wie überließen sie den Menschen. Genau betrachtet bedeutete die Direktive, dass man die Uhren um die Kleinigkeit von dreihundert Jahren zurückstellte. Dass die Weltbevölkerung damals um ein Vielfaches kleiner gewesen war, dass die Welt inzwischen zusammengewachsen war, dass Computernetze eine einheitliche Weltwirtschaft mit vielfältigsten Wechselbeziehungen geschaffen hatten - es zählte nicht. Dass jeder Eingriff unübersehbare Folgen haben konnte, besonders für die hochindustrialisierten Länder, dass die Direktive Not und Leiden bedeutete und für viele den Tod, nicht nur deshalb, weil medizinische Forschung und hochtechnisierte Behandlungsmethoden auf dem bisherigen Niveau nicht beibehalten werden konnten - das alles war für die Hobbs kein Thema. Überhaupt zeigten sie für die Menschen und die menschliche Gesellschaft wenig Interesse: In die Politik mischten sie sich nicht ein; Probleme des Zusammenlebens, Gewalt und Kriminalität schienen ihnen bedeutungslos. Mochten die Menschen weiter Kriege führen, solange es kein Nuklearkrieg war; tatsächlich war Krieg nicht verboten, nicht einmal ausdrücklich missbilligt. Die irdischen Regierungen sollten ihre Angelegenheiten untereinander regeln, auch wenn sie nun mit völlig neuen Gegebenheiten rechnen mussten, denn was Landwirtschaft, Industrie, Verkehr und Abfallbeseitigung betraf, war einiges zu tun, wollte man das Ultimatum der Hobbs einhalten. Ein Kuriosum sei am Rande vermerkt: Die Direktive forderte, dass in Washington, D. C., ein Institut für Zeitphysik eingerichtet wurde (allerdings wurde das Ausbildungszentrum des Instituts später nach Santa Barbara verlegt, um Probleme mit der fatalen Neigung der Hobbs zum Winterschlaf zu umgehen, die sich bei kaltem Wetter bemerkbar macht). Die Fremden, die behaupteten, die wahre Natur der Zeit zu verstehen, wollten dieses Wissen mit
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den Menschen teilen - ein Geschenk, wie sie sagten, um uns ein wenig für die von der Direktive auferlegten Entbehrungen zu entschädigen. Überflüssig, zu erwähnen, dass die Direktive der Hobbs weithin mit Empörung aufgenommen wurde, doch überwog bei weitem die Angst. Aber ich war nicht der einzige Mensch, der froh war, dass die Hobbs aufgetaucht waren. Eine Menge Leute entdeckte, dass es nicht Unmut und Groll war, was sie fühlten, sondern Erleichterung und sogar ein wenig Dankbarkeit. Die Zustände in dieser Welt waren ein Skandal; dass die Fremden das Sagen hatten, bedeutete doch, dass die notwendigen Maßnahmen zur Rettung der Umwelt, die seit Jahrzehnten nicht durchzusetzen waren, nun endlich Wirklichkeit werden konnten. Mehr als nur ein paar Außenseiter betrachteten die Hobbs deshalb als die Retter der Menschheit. Doch auch sie hatten Angst. Neun Jahre schienen eine kurze Frist, um so vieles zu ändern und um trotz der vielen Restriktionen die Probleme in Angriff zu nehmen, selbst wenn die Hobbs dabei helfen sollten. In den ersten beiden Jahren nach ihrer Rückkehr betrachtete man die Hobbs darum mit gemischten Gefühlen; vorsichtiger Optimismus und offene Besorgnis hielten sich die Waage. Dann, im Jahr 2012, erfuhren die Menschen, dass die Hobbs die ganze Zeit nur Befehle ausgeführt hatten. Eine andere Rasse mit Namen Gafr befehligte das Schiff, und sie lebten mit den Hobbs in einer rätselhaften Art Symbiose zusammen. Die dreißig Hobbs, die man vorzeiten in England und Schweden ausgesetzt hatte, waren so für ihren Ungehorsam gegenüber den Gafr bestraft worden. Die HobbsDirektive war also tatsächlich eine Direktive der Gafr. Das machte eigentlich keinen Unterschied, doch bekamen viele Menschen es erneut mit der Angst zu tun - oder der alte Groll erwachte, denn man wurde sich bewusst, in welchem Maße man sich den Fremden unterordnen musste. So kostete diese Enthüllung die Außerirdischen einiges an Unterstützung. Die Direktive hatte über den Umfang und die jährliche Zuwachsrate der Weltbevölkerung nichts ausgesagt, doch durften sich jene, denen diese Zurückhaltung eher beunruhigend erschienen war, schon im folgenden Jahr, 2013, bestätigt fühlen: Endlich zeigte sich ein Hobbs im Fernsehen, um eine wichtige Botschaft zu verlesen. Die Gafr, sagte er, seien über die bisherigen Fortschritte der Menschheit sehr unzufrieden und hätten angesichts der ewigen Streitereien unter den Nationen, der gegenseitigen
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Schuldzuweisungen die Geduld verloren. Die Vorgaben der Direktive könnten bei dem gegenwärtigen Tempo nicht bis zu dem Ultimatum des Jahres 2020 erfüllt werden. Offensichtlich nähmen die Menschen die Androhung ihrer Vernichtung nicht ernst genug, um darüber ihren Streit zu begraben und zusammenzuarbeiten. Der Sprecher der Hobbs meinte, er persönlich staune immer wieder aufs neue über die Fähigkeit der Menschen zur Selbsttäuschung, über die Leichtigkeit, mit der sie Wunschdenken an die Stelle von rationalem Verhalten setzen könnten. Die Gafr wollten jedenfalls nicht gezwungen sein, ihre Drohung wahr zu machen. Sie hätten beschlossen, einen anderen Weg zu gehen. Mit sofortiger Wirkung sei das Neun-Jahres-Ultimatum widerrufen. Stattdessen würde jeder, der nun vor dem Fernseher sitze (und das war praktisch jedermann), von diesem Augenblick an unfähig sein, sich fortzupflanzen. Von heute an in neun Monaten würde es keine Babys mehr geben -, und zwar so lange, bis die Ziele der Direktive erreicht waren. Vor diesem Fernsehauftritt wussten nur einige wenige Menschen, in welchem Maße die Hobbs das menschliche Bewusstsein durch Suggestion beeinflussen konnten. Danach wusste es jeder. Das Opfer einer Massenhypnose mit dem Resultat weltweiter Sterilität zu sein, das war für die meisten Menschen die einzige mehr oder weniger >unmittelbare< Begegnung mit den Außerirdischen. Doch gab es auch Kontakte persönlicher, ja freundschaftlicher Art, und einige Erdenbewohner, deren Leben mit Arbeit und Problemen so ausgefüllt war, dass sie für nichts anderes Augen hatten, stolperten zu irgendeinem Zeitpunkt ganz unvermutet über einen der Fremden. So wie ich zum Beispiel. So wie einige Leute, die ich kenne. Dieses Buch berichtet über das, was einige von uns erlebten, als die Hobbs auf die Erde kamen.
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1 1990 Erinnerungen an die Zukunft Ich stolperte in die Dunkelheit, weg von dem Wagen, Und stand im Schein des Schlusslichts vor dem Bündel - eine Hindin, nicht lange tot; Sie war fast steif, fast schon erkaltet. Ich zerrte sie beiseite; ihr Leib war dick. William Stafford, >Traveling Through the Dark< Jener Tag war nur ein weiterer unschöner, grauer Tag am Ende eines hässlichen Oktobers, und was ich zu tun hatte, machte es nicht besser: Die Prüfungsarbeiten zur Semestermitte mussten korrigiert werden. An solchen Tagen lohnte uns unser winziger Holzofen alle die Umstände, die wir seinetwegen in Kauf genommen hatten: das Abnehmen der Holzverkleidung über der Feuerstelle, das Wiedermontieren, nachdem das vorgeschriebene Isoliermaterial angebracht war - sonst hätte uns die Baupolizei nicht erlaubt, den Ofen anzuschließen. Vom Feilschen mit den Holzhändlern, die einen übers Ohr hauen wollen, will ich gar nicht reden. Die Männer, die ihn aufgestellt hatten, konnten es kaum glauben: Das sei nicht nur der kleinste Ofen, den sie je installiert hätten, nein, einen solchen Winzling hätten sie überhaupt noch nie gesehen. Passendes Feuerholz musste eigens bestellt werden, aber der Kleine heizte phantastisch und sah einfach zu niedlich aus. Normalerweise wechselten mein Mann und ich uns ab, wenn es darum ging, wer das Sofa vor dem Ofen als Arbeitsplatz benutzen durfte, doch wer immer einen Stapel Arbeiten zu korrigieren hatte, hatte natürlich den Vortritt. Es war hier nicht nur unglaublich gemütlich, das ständige Hantieren und Justieren, um die richtige Brenntemperatur von vierhundert Grad einzuhalten, war auch eine willkommene Ablenkung und machte die eintönige Arbeit erträglich. So hatte ich früh an diesem Oktobermorgen meinen Anspruch auf den Ofenplatz angemeldet. Ich hatte den Aschenkasten geleert,
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Holz und Material zum Anfeuern hereingetragen, bis die Holzkiste gefüllt war; ich rieb das Ofenfenster blank, stapelte Scheite in den Brennraum, stellte Luftklappe und Katalysator ein, und als es gar nicht mehr anders ging, holte ich tief Luft und setzte mich mit einem Stapel Aufsätze aus meinem Kurs über zeitgenössische amerikanische Lyrik auf das Sofa, während rote Flammen anheimelnd hinter der Glasscheibe züngelten. Um die ersten beiden Arbeiten zu überstehen, braucht es eine Menge Selbstdisziplin, ja finstere Entschlossenheit; danach verfällt man in eine Art Trance, was die Sache erleichtert. Matt war an diesem Tag außer Haus. Hin und wieder stocherte ich in der Glut, legte Holz nach, justierte Luft- und Ofenklappe, schrieb Anmerkungen auf den Rand einer Seite oder unten auf das letzte Blatt eines Aufsatzes. Das Telefon klingelte nur einmal: Ein Student, der seine Hausarbeit am Montag nicht abgegeben hatte, fragte nach dem Weg, um sie vorbeibringen zu können. Das war die einzige Unterbrechung, und als ich mir schließlich eine Pause gestattete, da hatte ich schon fünf Arbeiten geschafft - ein Viertel des Kurses und eine hervorragende Bilanz für einen Vormittag. Noch zwei, versprach ich mir, dann darfst du bis heute Abend alles stehen und liegen lassen. Aber an der ersten Arbeit, die ich nach dem Lunch in die Hand bekam, war etwas faul. Es begann ganz normal mit der Beantwortung einer der vier Multiple-choice-Fragen, die ich dem Kurs am Montag vorgelegt hatte; auf der zweiten Seite nahm es jedoch eine höchst seltsame Wendung. Ganz unvermittelt las ich von Kernkraftwerken und einer zukünftigen Katastrophe und brach mit einem lauten Stöhnen ab, als die Rede darauf kam, dass nur Invasoren aus dem Weltall uns daran hindern könnten, uns selbst zu vernichten. Invasoren aus dem All! Ich sah nach dem Namen auf der Arbeit und stöhnte wieder. Terry Carpenter, das war der Junge, der nun auf dem Weg hierher war, um mir die verspätete Hausarbeit zu bringen. Das ließ mir nicht sehr viel Zeit, um zu überlegen, was zu tun war. Ich blätterte zur ersten Seite zurück und las noch einmal, Wort für Wort, während ich leise vor mich hinfluchte. Es ist an einer sehr leistungsorientierten Universität keineswegs ungewöhnlich, dass Studenten der unteren Semester in der Zeit der Zwischenprüfungen, wenn sich Hausarbeiten und Klausuren häufen, in eine psychische Krise hineinschlittern - besonders, wenn sie ohnehin nicht sehr robust sind. Ich wusste von Fällen, in denen
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Studenten mit Selbstmord drohten. Das ist wirklich alles andere als ungewöhnlich, aber man glaubt und hofft natürlich, dass es nicht in einem der eigenen Kurse passiert - denn die Zeit der Zwischenprüfungen ist für die Dozenten nicht weniger mühsam als für die Studenten. Was man sich daher am wenigsten wünscht, ist zusätzliche Arbeit, die ein Student mit Problemen allerdings stets mit sich bringt. Man muss nach den Ursachen forschen, die Sache überdenken, Abhilfe schaffen. Man kann es nicht ignorieren, würde es auch nicht ignorieren wollen aber am liebsten wäre es einem, wenn das Problem gar nicht erst auftauchen würde. Das Thema, das Terry sich ausgesucht hatte, war eine vergleichende Gegenüberstellung des wundervollen Gedichts >Der Elch< von Elizabeth Bishop, das von den Reisenden in einem Bus berichtet, die sich auf der Fahrt von Neuschottland nach Boston plötzlich einer Elchkuh gegenübersehen, mit William Staffords viel kürzerem Gedicht > Reise durch die Nacht<; es berichtet von einem Mann, der eine vom Auto angefahrene Hindin am Straßenrand findet, in deren Leib das Kitz noch lebt. Wir hatten uns mit dem Gedicht Elizabeth Bishops eingehend befasst, aber die >Reise durch die Nacht< hatte ich meinen Studenten am Tag der Klausur zum ersten Mal vorgelegt. Die Gemeinsamkeiten der beiden Gedichte - die nächtliche Reise, das Gegenüber von Maschine und Tier, Mensch und Tier, die starken emotionalen Reaktionen der Menschen und so weiter - legten ganz selbstverständlich nahe, jedes Gedicht aus der Perspektive des anderen zu betrachten, obwohl die Unterschiede in Länge, Tonfall, Inhalt, Form und Absicht des Autors beiden ein ganz eigenes Profil gaben. Dieses Thema war mir von Anfang an als das einfachste und interessanteste von allen vieren erschienen. Aber etwas daran musste Terry Carpenter völlig aus der Fassung gebracht haben: > ...oben am Berg die Bäume waren alle tot, verdorrt, verkrüppelt, die Hirsche von der Strahlung vernichtet, so dass der Fremde auf seiner Seite der Linse keinen einzigen sehen konnte, und als der Hirsch dann vor mir auftauchte, wurde mir ganz elend zumute, denn all diese Kraft und Schönheit würde zu nichts führen, wie ausdauernd er auch den Weibchen nachstellte. Die Kitze würden alle sterben: Irgendwann in der Linie seiner Nachkommen würde alles enden, denn verdammt waren sie, durch unsere Dummheit zu sterben, und dieser bedauernswerte prächtige Hirsch, vergeudet waren seine Kraft und Schönheit ...< Seite um Seite ging es so weiter, in diesem beinahe poetischen Stil, nur Kommas gliederten die Sätze, es wirkte seltsam entrückt und
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suggestiv. Nein, das war nicht der Stil, der zu einem Studenten wie Terry Carpenter passte. Obwohl ich die Arbeit nun schon zum dritten Mal las, schweiften meine Gedanken immer wieder ab; unmöglich, sich auf den Sinn dieses Textes zu konzentrieren wenn man hier überhaupt von einem >Sinn< reden konnte. Zweifellos hatte Terry sein Thema verfehlt, aber was weiter hatte das alles zu bedeuten? Ein Blick auf den Ofen ließ mich aufspringen; während ich mir über Terrys Aufsatz den Kopf zerbrochen hatte, war die Anzeige des roten, runden Thermometers auf 275 Grad zurückgegangen. Ich zog die Handschuhe an und stocherte hastig in der Glut; ich musste eine gleichmäßige Schicht herstellen, auf die ich kleinere Holzstücke und Späne streuen konnte, damit sich genug Hitze für die größeren Scheite entwickelte. Dann schloss ich die kleine Eisentür, machte die Luftklappe auf und wartete, dass das Feuer wieder in Gang kam. Zeit, um mir ins Gedächtnis zu rufen, wie denn Terrys Stimme am Telefon geklungen hatte; so sehr ich mich bemühte, mir war nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Aber ich hatte es ja so eilig gehabt, den Hörer wieder wegzulegen, dass mir wohl nichts aufgefallen wäre, was sich nicht schon über die Maßen beängstigend angehört hätte. Überhaupt war mir an Terry Carpenter noch nie etwas aufgefallen. An seinen Leistungen war nichts auszusetzen; das einzige Mal, da ich ihn bisher benoten musste, hatte er eine Zwei bekommen. Er war auch nie bei mir in der Sprechstunde gewesen und hatte bis heute nie etwas getan, was meine Aufmerksamkeit erregte. Ich musste feststellen, dass ich absolut nichts über diesen Jungen wusste. Ich ließ den Ofen sein, warf die Handschuhe in die Holzkiste und rief im Büro meines Mannes an: Er war nicht da. Dann versuchte ich es im Sekretariat unseres Lehrstuhls und erfuhr, dass die Frau Professor noch den ganzen Nachmittag in einer Ausschusssitzung sein würde, und bevor ich noch darum bitten konnte, einmal nach der Akte von Terry Carpenter zu sehen, hörte ich, wie draußen eine Autotür zugeschlagen wurde. Terry und ich erreichten gleichzeitig die Haustür, jeder auf seiner Seite. Ein großes, blitzblankes Auto, dessen Motor noch lief und unnötig Benzin vergeudete, hatte sich hinter meinen zehn Jahre alten Toyota in die Auffahrt gequetscht. Als ich öffnete, sagte Terry gutgelaunt »Hi!«, drückte mir einen Umschlag in die Hand und hatte sich schon wieder zum Gehen gewendet, als er noch sagte: »Tut mir leid, Sie zu Hause zu stören. Und entschuldigen Sie, dass ich
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nicht rechtzeitig abgegeben habe.« Aber er wirkte keinesfalls zerknirscht, sondern erleichtert, und ein wenig müde - wie jeder andere Student auch, der glücklich ist, eine lästige Arbeit endlich erledigt zu haben. Er trug Jeans und einen teuren Cordmantel. Die Haare waren ungekämmt, er hatte sich nicht rasiert - typische Symptome einer durchgearbeiteten Nacht. Wenn man die Umstände bedachte, dann hätte er nicht normaler aussehen können. Auch die Eile, mit der er verschwinden wollte, war durchaus normal. Fast hätte ich ihn gehen lassen - aber ich konnte den Eindruck dieses rätselhaften Textes nicht einfach ignorieren. »Wollen Sie nicht kurz hereinkommen? Ich habe einige Fragen zu Ihrer Klausur.« Ich sagte es mehr wie einen Befehl als eine Bitte. »Oh ...«, erwiderte Terry, »okay, geht in Ordnung«, aber sein Lächeln verschwand. »Ich werde wohl besser den Motor abstellen. Der Wagen gehört einem Freund«, fügte er fast verlegen hinzu, als hätte er eben meinen alten Toyota bemerkt. Er trat ein. Ich schloss die Tür, ging in die Küche, füllte den Elektrokocher mit Wasser, schaltete ein. »Tee?« fragte ich kühl und geschäftsmäßig, während Terry seinen Mantel auszog und über einen Stuhl warf. »Danke, ja ... Ist etwas mit meiner Arbeit nicht in Ordnung?« »Darauf komme ich gleich.« Unter lautem Klappern suchte ich Tassen, Löffel und alles andere zusammen, um die Pause zu überbrücken. Das Wasser kochte, ich goss so rasch wie möglich den Tee auf, stülpte die Haube über die Kanne und trug das schwere Tablett hinüber ins Wohnzimmer. Nun konnte ich dem Problem nicht länger ausweichen. »Setzen Sie sich.« Ich ließ mich in die andere Sofaecke fallen, nahm die oberste Arbeit vom Stapel und sah ihm fest in die Augen. »Also, Terry: Es wäre das beste, wenn Sie mir die Wahrheit sagen. Hatten Sie irgendwelche Drogen genommen, als Sie das geschrieben haben?« »Großer Gott, nein!« Er setzte sich kerzengerade auf, offensichtlich erschrocken - aber noch immer konnte mein geschultes Auge keine Auffälligkeiten an ihm entdecken; jeder andere Student, dem man ohne Vorwarnung so etwas an den Kopf geworfen hätte, hätte ähnlich reagiert. »Das heißt, wenn Sie so wollen, Kaffee natürlich. Ich habe fast die Nacht durchgemacht, um die Hausarbeit abzuschließen. Aber warum fragen Sie das?« »Haben Sie jemals LSD genommen? Tut mir leid, dass ich so indiskret bin, aber ich muss es wissen.« »Na ja, einmal. Das war noch an der High School.« »War es ein Horrortrip?«
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»Nein, überhaupt nicht. Ich hatte nur wissen wollen, wie das ist, und ich habe es nie wieder getan.« »Nie wieder?« Jetzt war er wirklich beunruhigt; er lehnte sich gegen die gepolsterte Seitenlehne des Sofas, weit weg von mir, und schüttelte den Kopf. »Warum stellen Sie mir solche Fragen? Was hat das mit meiner Klausur zu tun?« »Das hoffte ich von Ihnen zu hören.« Ich reichte ihm seine Arbeit. Rasch überflog er das erste Blatt, dann das nächste; ich sah zu, wie seine Augen über die Zeilen huschten, während sich seine Stirn runzelte und das Gesicht erbleichte. Er las die dritte Seite, warf mir eine kurzen, entsetzten Blick zu und begann dann die vierte. Plötzlich sah er auf und ließ die Blätter auf den Schoß sinken. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll ... Ich verstehe das nicht.« »Erinnern Sie sich, das geschrieben zu haben?« »N-nein ... Ich fühlte mich sehr schlecht am Montag, ich hatte schon zwei Nächte kaum geschlafen. Es schien mir auch, als würde ich eine Erkältung ausbrüten.« »Aber Sie haben es geschrieben, ja?« Ich ließ nicht locker, ich musste es wissen. Aufgeregt sagte Terry: »Aber ja, ich habe es geschrieben ... ich meine, ich muss es geschrieben haben, weil es meine Handschrift ist. Aber mein Gott, ich erinnere mich nicht daran!« »Gut. Aber wie wollen Sie es dann erklären?« Er sah aus, als würde er gleich losheulen. »Nun ..., vielleicht ging es mir noch viel schlechter, als ich damals dachte. Ich weiß nicht, vielleicht hatte ich Fieber oder so.« »Aber jetzt geht es Ihnen besser?« »Bevor ich das hier gelesen habe, ging es mir gut, tatsächlich. Ich habe Montagnacht eine Menge Schlaf nachgeholt.« Ich dachte eine Weile nach, während Terry in seiner Sofaecke kauerte und der Tee vor sich hinzog, ohne dass jemand ans Abgießen dachte. »Also gut. Gehen wir davon aus, dass Sie sich ans Schreiben nicht erinnern können - aber erkennen Sie den Inhalt wieder? Ich meine, ist es vielleicht etwas, was Sie gelesen haben, ein Science-fiction-Roman vielleic ht oder ein Film im Fernsehen?« »Das ist das Unheimlichste daran«, sagte er heiser. »Irgendwie kommt es mir bekannt vor. Ich hatte ... einen Traum. Ich denke, es muss ein Traum gewesen sein!« »Wann war das?« »Irgendwann am Wochenende. Ich hatte es völlig vergessen, bis
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Sie mir das hier gezeigt haben.« »Terry, ich fürchte, das ist eine ernste Sache«, sagte ich. »Sind Sie vielleicht überarbeitet? Oder gibt es private Probleme?« Er erwiderte nichts, aber warum sollte er ausgerechnet mir davon erzählen? »Was auch immer das Problem ist, ich schlage vor, dass Sie sich an den Gesundheitsdienst der Universität wenden. Sie zeigen ihnen diese Arbeit, sagen, dass Sie ein Blackout hatten und es geschrieben haben, ohne davon zu wissen.« Ich hielt inne. Terry hörte gar nicht mehr zu; er hatte sich vornübergebeugt, die Ellbogen auf den Knien, und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Auch ich musste mich vorbeugen, um ihn überhaupt verstehen zu können: »Vielleicht ist es wirklich passiert, im Park ... o Gott, ich glaube, mein Kopf zerspringt!« »Sie wollen doch nicht sagen, dass das mit den Außerirdischen wahr ist?« Ich bereute sofort, was ich da sagte. Terry schaukelte stärker, er wimmerte beinahe lautlos: »Könnte ich ... haben Sie vielleicht Aspirin oder so etwas? Ich kriege meine Gedanken nicht mehr zusammen.« »Ich werde es holen. Können Sie es mit Tee einnehmen? Gießen Sie doch schon mal ein, ja? Der Tee müsste so weit sein.« Ich lief nach oben zum Arzneischrank und war auch schon wieder zurück, das Flaschen mit den Tabletten in der Hand. Nachdem Terry sich bedient und an seinem Tee genippt hatte, sagte ich: »Okay, ich muss mich für meine Bemerkung entschuldigen. Aber sagen Sie mir doch, was Sie mit >Park< gemeint haben - was war das für ein Park?« »Der Naturpark nördlich von hier. Ich werde versuchen, es Ihnen zu erklären, aber mir ist so komisch ... ich bringe es einfach nicht zusammen ...« Er würgte plötzlich und sprang auf. »Ich glaub', ich muss mich über ... Wo ist die Toilette?« Er stürzte aus dem Zimmer, während ich ihn in die richtige Richtung dirigierte. »Es muss mich wirklich ganz schön erwischt haben«, sagte er, als er langsam wieder die Treppe hinuntergekommen war, »das passiert mir sonst nie. Kann ich noch ein paar Tabletten haben?« Er versuchte mühsam, zu lächeln. »Die anderen waren wohl nicht lange genug vor Ort, um etwas ausrichten zu können.« Ich gab ihm noch zwei Tabletten. »Trinken Sie langsam. Also gut, zurück zum Park, wenn Sie sich in der Lage fühlen, zu reden.« Terry ließ sich gegen die Lehne sinken und wendete mir das Gesicht zu, ein hübsches Gesicht trotz des grünlichen Schimmers und der Bartstoppeln. »Also, ich war dort am frühen
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Sonntagmorgen. Ich dachte, dass mir vielleicht etwas zu der Hausarbeit einfallen würde - es war schrecklich, die ganze Zeit habe ich überlegt, was ich nur schreiben sollte. Stundenlang saß ich am Samstag am Schreibtisch. Dann habe ich einige Stunden geschlafen, und als ich aufwachte, war es fünf Uhr. Und plötzlich hatte ich das Gefühl, ich müsste einmal aus der Stadt heraus vielleicht konnte etwas frische Luft meine trübe Stimmung verscheuchen, verstehen Sie? Ich lieh mir das Auto meines Zimmergenossen und fuhr zum Park. Kurz davor hielt ich an einer Imbißbude, holte mir Kaffee und eine Tüte Blaubeer-Muffins. Dann ließ ich das Auto stehen und spazierte durch die Gegend, während es allmählich hell wurde.« »Warum soviel Aufhebens um die Zwischenprüfung? So schlimm ist das doch gar nicht.« »Ich weiß nicht. Nur hatte ich noch zwei andere Klausuren in der letzten Woche und eine Hausarbeit, die am Freitag abzugeben war. Vielleicht war ich einfach ausgebrannt, hatte keine Ideen mehr. Letzte Nacht setzte ich mich dann hin und schrieb - das war es schon.« »Einen Augenblick, bitte.« Ich war aufgestanden, um nach dem Ofen zu sehen. Doch dann besann ich mich anders, nahm den Umschlag zur Hand, den er mir gebracht hatte, und zog das Bündel Blätter heraus. Ich überflog die Arbeit - ein ganz normaler Aufsatz; keine Außerirdischen, keine Katastrophen. »Gut. Sie waren also im Park. Wo hatten Sie das Auto abgestellt?« »Unten am Bach, am Parkplatz von Sycamore Mills. Kennen Sie die Gegend? Ich war dort oft mit meinem Vater, als ich noch klein war. Wir wohnten damals hier draußen, er arbeitete in der Stadt. Er liebte diesen Park über alles und konnte sich am Rotwild nicht sattsehen. Es ist wirklich merkwürdig, aber ich war dort seit vielen Jahren nicht mehr, nicht, seit meine Eltern sich getrennt haben aber ich kannte noch alle Wege und wusste genau, wie man von der Hauptstraße dort hinkommt.« Hier spitzte ich nun die Ohren: Das hörte sich ganz so an, als hätte da ein zufälliges Erlebnis an ein Kindheitstrauma gerührt - ein seelischer Schock also? Ich sagte: »Ich bin sehr oft dort, es ist eine meiner liebsten Laufstrecken. Sie sind also von Sycamore Mills aus die Straße am Bach entlanggegangen. Und was dann?« »Nun, ich blieb auf der Straße, solange sie dem Bach folgt, bis der markierte Weg beginnt« - er sah mich an, und ich nickte; es war der sogenannte >Weiße Weg<, »dann bin ich hügelaufwärts gegangen, bis zu den Felsblöcken zwischen den Bäumen oben auf
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der Hügelkuppe.« Wieder ein fragender Blick, wieder ein Nicken. »Ich bin einen der Felsen hochgeklettert, und dann ... saß ich ganz einfach da. Ich versuchte nachzudenken, Robert Penn Warren und seine erzählende Lyrik ... es führte aber zu nichts. Und dann ging ich wieder - zurück zum Auto, nach Hause.« Nervös fuhren seine Hände über das Gesicht und strichen durch das schwarze, wirre Haar. Das Gesicht war verzerrt, eine starre Maske, plötzlich nichts als Falten und Furchen auf der Stirn. »Nein! Von wegen! Das ist das, was ich die ganze Zeit geglaubt habe, aber als ich vorhin in meiner Arbeit las, da kam es wie eine Flut über mich - undeutliche Traumfetzen, aber dann wurde es ganz klar, und alles spielte sich vor dem Hintergrund dieses Wäldchens ab ... Himmel, ich glaube, mein Kopf explodiert!« »Sie haben gesagt, Sie hätten in dieser Nacht nur ein paar Stunden geschlafen. Vielleicht sind Sie da oben eingenickt?« »Vielleicht, aber ... wissen Sie, es war verdammt kalt. Und obwohl ich keinerlei Erinnerung daran habe, wie ich dieses Zeug geschrieben habe, huschen mir bei jedem Lesen diese Bilder durch den Kopf, als hätte ich alles mit meinen eigenen Augen gesehen. Etwas ist da draußen am Sonntag passiert, ich weiß es, ich kann es fast greifen.« Plötzlich versagte ihm die Stimme, seine Hände umklammerten den Kopf: Er wimmerte, er konnte es nicht unterdrücken. Es mussten wirklich grauenhafte Kopfschmerzen sein. Ich war jetzt überzeugt, dass dieses mysteriöse automatische Schreiben Symptom einer ernsten Störung war, und sagte so ruhig und besänftigend ich konnte: »Warum legen Sie sich nicht eine Weile hin? Vielleicht verschwindet der Schmerz, wenn Sie etwas schlafen; ich könnte jemanden vom Gesundheitsdienst rufen, vielleicht auch Ihre Eltern benachrichtigen. Das ist keine Sache mit der man spaßen sollte, Terry, glauben Sie mir. Sie müssen zum Arzt.« Bei dem Wort Eltern setzte Terry die Tasse, die er eben gehoben hatte, klirrend wieder ab. »Nein!« Heftig schüttelte er den gequälten Kopf. »Ich meine ... sehr freundlich von Ihnen ... aber ich will nicht, dass meine Eltern sich in meine Angelegenheiten einmischen. Ich möchte etwas ganz anderes - und ich werde es gleich tun: dort hinfahren und sehen, ob ich irgend etwas herausfinden kann über das, was Sonntag passiert ist.« Er stand auf. Erschrocken tat ich es ihm nach, während ich protestierte: »Das scheint mir keine gute Idee zu sein! Sie sind hochgradig erregt und in einer schlechten Verfassung. Sie sollten
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auf keinen Fall Auto fahren - geschweige denn, an den Ort zurückkehren, an dem die ganze Sache angefangen hat!« Doch das hinderte Terry nicht daran, seinen Mantel anzuziehen; also versuchte ich aufzubieten, was mir an professoraler Autorität zur Verfügung stand: »Terry, ich kann das nicht zulassen! Sie bleiben hier, während ich einen Arzt rufe, dann werden wir weitersehen.« Das war nun der Ton, der bei meinem Mann viel überzeugender klang - eine wirkliche Respektsperson, groß, mit Schnurrbart und grauen Schläfen. Ich wünschte, Matt wäre an diesem Tag zu Hause geblieben. »Rufen Sie, wen immer Sie wollen, aber ich gehe. Ich will nicht unhöflich sein, ich weiß, dass Sie mir helfen wollen. Wahrscheinlich haben inzwischen die Leute da oben auch alles plattgetreten, aber ich muss mich vergewissern, ob nicht irgend etwas noch zu sehen ist.« Aber er war ein wohlerzogener Junge und widersetzte sich nur ungern seinem Lehrer, der keine Mühe gescheut hatte, ihm zu helfen. Und als ich, während er zur Tür ging, mit aller Strenge sagte, »Terry, es hat doch keinen Sinn, ich kann Sie in diesem Zustand nicht fahren lassen«, da zögerte er. »Also gut«, beeilte ich mich zu sagen. »Schauen Sie sich im Park um, ob Sie etwas entdecken. Aber ich werde fahren, ich komme mit und bringe Sie auch wieder hierher. Und danach werden wir einen Termin beim Gesundheitsdienst arrangieren, und mein Mann oder ich werden Sie in die Stadt zurückfahren. Abgemacht?« »Da mache ich Ihnen eine Menge Umstände«, sagte er matt. »Weniger Umstände, als wenn man Sie von der Straße aufkratzen muss. Kommen Sie, wir füllen den Tee in eine Thermoskanne, und unterwegs kaufen wir etwas zu essen. Wir machen es genauso, wie Sie es am Sonntag gemacht haben. Es ist noch eine Weile hell, wir müssen uns nicht beeilen. Lassen Sie mich nur noch die Ofenklappe schließen, das war's schon ... und jetzt nichts wie weg.« So plauderte ich munter drauflos, um zu verbergen, wie erleichtert ich war, schob ihn dann aus der Tür und ließ ihn das Automonster aus der Einfahrt rangieren. Rasch schrieb ich eine Notiz für Matt und packte die Teeutensilien in einen kleinen Proviantbeutel, dann ließ ich recht zufrieden meinen Toyota auf die Straße rollen. Wir würden nicht länger als zwei Stunden für unseren Ausflug brauchen; Matt würde bis dahin zurück sein, und mit vereinten Kräften konnten wir Terry leicht dazu bringen, das zu tun, was wir für das beste hielten. Es war nicht gerade das Wetter, das man sich für so einen
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Ausflug wünscht, aber wir waren ja nicht zu unserem Vergnügen unterwegs. Wir parkten dort, wo Terry am Sonntag das Auto seines Freundes abgestellt hatte; die Tüte mit Gebäck, die wir an einer Imbissbude gekauft hatten, steckte ich in den Proviantbeutel aus rotem Nylon. Ich hängte ihn über die Schulter, und wir marschierten los. Schon seit Wochen war der Himmel in dicke Wolken gehüllt, doch geregnet hatte es kaum, so dass der Bach kaum Wasser führte. Auch Terry schien die frische Luft gut zu tun. Anscheinend tat auch das Aspirin jetzt seine Wirkung; er schaute sich um, schien wieder Interesse an seiner Umgebung zu gewinnen. »Wenn wir alles genauso machen wollen wie Sonntag ... etwa hier habe ich zum ersten Mal die Tüte mit den Muffins geöffnet«, sagte er, und ich ließ den Beutel von der Schulter gleiten und gab ihm einen Krapfen. Wir sahen eine ganze Menge Jogger und Radfahrer. Ein ziemlich kleiner Läufer in sonderbarer Aufmachung fiel uns auf: eine weite Trainingshose, die nur bis über die Knie reichte, eine schwarze Mütze mit Gesichtsmaske, darin Löcher für Mund und Nase. Abwesend starrte er uns an, als er vorbeizog. Terry sah ihm lächelnd nach. »Außerirdische Invasoren, hab' ich's nicht gesagt?« Es klang so unbeschwert und fröhlich, dass ich mich im stillen beglückwünschte: Dieser Spaziergang schien genau das richtige für seine strapazierten Nerven zu sein. Bald hatten wir die Stelle erreicht, an der der >Weiße Weg< die Straße kreuzte. Terry war schon nach links abgebogen, wo es nun steil aufwärts ging. Weiße Markierungen an Blumen und Felsen wiesen den Weg zur Hügelkuppe. Dort lagen noch immer drei oder vier riesige Granitblöcke, wie sie ein Gletscher vor langer Zeit abgelagert oder freigelegt hatte. Während des Aufstiegs schreckten wir ein Rudel von fünf Hirschkühen auf. Einen halben Kilometer vielleicht waren wir aufwärtsgegangen, seit wir von der Straße abgebogen waren, als Terry auf einen der großen Brocken rechts von unserem Pfad zeigte, der in einem weiten Bogen darum herumführte. Oben auf dem Felsen gab es eine Stufe im Gestein, eine steinerne Bank, die zum Sitzen einlud. Dort packte ich aus, was ich mitgebracht hatte: Thermoskanne, Gebäck, Plastiktassen und -löffel, und zwei Schaumstoffkissen, von denen ich eines Terry gab. »Passen Sie auf, was Sie anfassen! Vom Sommer weiß ich, dass hier jede Menge giftiges Efeu wächst«, warnte ich ihn, und nachdem ich die Utensilien dieser wahrlich verrückten Teegesellschaft vor uns ausgebreitet hatte, goss ich ein und
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reichte ihm seine Tasse. »Ist das nicht komisch? Auch mein Vater hatte immer ein Lunchpaket dabei, wenn wir hier oben waren - Brote, Äpfel und zwei Dosen Cola in so einem isolierten Beutel, mit dem man eine Flasche Wein kühlhalten kann.« »Haben Sie jemals Proust gelesen? Nein, vermutlich nicht. In seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit beschreibt er, wie ein Kuchenkrümel, der in einem Löffel voll Tee schwimmt, ihm alle die verschütteten Erinnerungen seiner Kindheit wieder zum Bewusstsein bringt.« Ich öffnete die Tüte und bot ihm von den Krapfen an. »Alles, was Sie ans Tageslicht befördern sollen, ist die Erinnerung an letzten Sonntag.« Terry brach seinen Krapfen in zwei Teile und tunkte eine Hälfte in die Tasse; er grinste. »Dann mal los!« Er biss das aufgeweichte Ende ab, kaute unschlüssig, schnitt eine Grimasse. »Wie lange, denken Sie, wird es dauern? Alles von diesem Sonntagmorgen ist noch ein weißer Fleck auf der Landkarte.« Aber er wirkte jetzt nachdenklich; er sah sich um, aß, trank seinen Tee. Ich goss nach, aber ich hütete mich, etwas zu sagen; er sollte sich konzentrieren. Seine Klausur steckte in der äußeren Reißverschlusstasche meines Beutels. Was würde passieren, fragte ich mich, wenn ich sie hier laut vorlesen würde? Terry unterbrach mein Grübeln; mit einer seltsamen Stimme sagte er plötzlich: »Das war ein Hirsch.« »Was?« Er deutete in die Baumgruppe hinter uns, wo sich inmitten des rostfarbenen Laubs ein großes Rund abzeichnete, an dem die Erde aufgewühlt war. »Da ... er hat hier geforkelt. Forkeln, so nennt man das, wenn die Hirsche vor Beginn der eigentlichen Brunftzeit herumtoben. Ja, sie müssten jetzt wieder so weit sein. Bei den Hindinnen beginnt die Brunft meist ein oder zwei Wochen später, aber die Hirsche werden jetzt schon munter, also lassen sie Dampf ab, indem sie mit dem Geweih die Erde aufwühlen und nach den tiefen Ästen schlagen - sehen Sie sich die abgebrochenen Äste an und die abgeschürfte Rinde!« Terry machte eine Pause. »Bloß: Woher weiß ich nur, dass es ein Hirsch war?« Er legte den halben Krapfen vor sich auf den nackten Felsen und presste dann die Arme um den Leib. »O je ... schon wieder ... auf einmal fühle ich mich gar nicht mehr so wohl!« Einen Augenblick später klapperten ihm tatsächlich die Zähne. War ich kurz zuvor noch überzeugt, wie klug es war, ihn hierherzubringen und auf eigene Faust von seinem Leiden zu heilen, dann änderte ich jetzt sehr rasch meine Meinung. »Ich denke, Ihr Vater hat es Ihnen erzählt - als Sie noch klein
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waren«, sagte ich; ich musste mich sehr zusammennehmen, um ihn nicht merken zu lassen, wie sehr ich erschrocken war. »Nein. Ganz und gar nein! Ich war nicht klein, und es war nicht mein Vater - Sonntag! Mit eigenen Augen habe ich es gesehen! Ich habe den Hirsch gesehen, wie er hier tobte, wie er den Boden aufwühlte, sich aufbäumte und nach den Ästen schlug. Er knurrte und keuchte wie ein Irrer. Ich sah ihn, ich saß doch hier, aber er bemerkte mich nicht, er ging völlig auf in dem, was er tat. Mein Gott, er war phantastisch - und - sie machten nicht weniger große Augen als ich ...« Er brach ab, und sein Gesicht bekam wieder jene grünliche Blässe, die ich von zu Hause kannte. Er atmete schnell und flach. »Was heißt sie? Wer sonst war denn noch am Sonntagmorgen hier?« »Die ... es waren ... diese zwei. Einer ... er stand dort drüben auf der Anhöhe, er trug so etwas wie einen Imkeranzug. Und der andere - war ...« Terry schrie gellend auf, so abrupt, dass ich die Thermosflasche umstieß, die fünf Meter tief den Felsen hinabrollte. Und Terry legte sich flach auf den Stein, den Kopf über der entfernten Kante, wieder war ihm übel. Mindestens eine Minute ließ er den Kopf nach unten hängen, keuchte und würgte. Mein Herz schlug wie wild; mir selbst drohte schlecht zu werden, und ich hatte nicht die blasseste Ahnung, was ich tun sollte. Aber als er sich wieder aufsetzte, und eine Papierserviette nahm, um sich den Mund abzuwischen, da war es offensichtlich überstanden. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »schrecklich, was ich Ihnen zumute - aber damit ist jetzt Schluss.« Er steckte das zusammengeknüllte Papiertuch in seine Manteltasche. »Wissen Sie was - ich sollte mich nicht erinnern! Das ist der Grund, warum mir jedes Mal schlecht wird, wenn ich es versuche. Aber diesmal habe ich es geschafft, jetzt habe ich alles zusammen.« Es war noch etwas kalter Tee in seiner Tasse; er spülte damit den Mund aus. »Ich verstehe kein Wort davon«, sagte ich unsicher, » W A S haben Sie wieder zusammen - oder möchten Sie es sich lieber für jemanden aufsparen, der mehr damit anfangen kann als ich? Ich glaube eher, es hat alles von vorn begonnen, nicht wahr?« Terry lächelte, das Gesicht noch immer schweißnass. »Das geht schon in Ordnung, ich brauche keinen Irrenarzt«, sagte er. »Ich werde es Ihnen erzählen, obwohl Sie es nicht glauben werden. Niemand wird es glauben ... kann ich bitte den letzten Krapfen haben?
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Also, hier meine Geschichte: Ich war heraufgestiegen und saß genau hier, wie ich schon sagte; ich dachte nach. Robert Penn Warren ging es mir durch den Kopf, und dabei starrte ich Löcher in die Luft, ohne recht zu sehen, verstehen Sie? Und plötzlich bemerkte ich dort drüben, neben dem markierten Pfad eine Stelle, an der es Sommer ist.« »Sommer?« Er nickte. »Wie soll ich das verstehen?« »Einfach Sommer und eine andere Tageszeit obendrein; früher Nachmittag, schätze ich. Es war, als würde man durch ein rundes Fenster sehen, das aber keinen Rahmen hat. An den Rändern war das Bild undeutlich, aber in der Mitte dieses >Fensters< erkannte man genau jene Stelle dort - nur eben an einem strahlend blauen, sonnigen Tag, und alles war grün - das Laub an den Bäumen, Kräuter und Sträucher am Boden ... wirklich alles grün. Als es mir zuerst auffiel, da war es ein verschwommener grüner Fleck, der hin und her tanzte; aber dann blieb er plötzlich stehen, und man konnte - als wäre eine Linse richtig eingestellt worden - alles genau sehen. Es war tatsächlich, als würde man durch eine riesige Linse blicken, eine Kameralinse.« Er hatte die ganze Zeit, während er sprach, dort hinübergestarrt; jetzt sah er mich an und lächelte zufrieden. »Es war richtig, hierherzukommen, nicht wahr?« »Eine riesige Linse?« Stand da nicht etwas von einer Linse in seiner Arbeit? »Äh - wie groß mag sie etwa gewesen sein?« »Ungefähr so groß wie die Leinwand eines Diaprojektors.« Terry verzog das Gesicht und schüttelte sich. »Es war ein trüber Morgen, überall Wolken; vielleicht hätte man es bei anderem Wetter übersehen können, aber so war es ausgeschlossen. Zuerst staunte ich mit offenem Mund, dann machte ich mir vor Schreck fast in die Hose. Aber ich fasste mich und nahm mir vor, hinüberzugehen und auszuprobieren, was passierte, wenn ich in diesen Fleck Sommer eintreten würde. Bevor ich mich aufraffen konnte, erschienen zwei Leute - na ja, irgendwelche Gestalten - in Imkeranzügen in dem grünen Fleck. Sie schienen von ihrer Seite der Linse zu mir herüberzustarren. Da war ich sicher, dass es nicht nur eine optische Täuschung war. Ich meine ... da es doch derselbe Hügel war, da hätte es doch auch eine Halluzination sein können - der Kaffee, die Übermüdung und ein verirrter Lichtstrahl aus den Wolken, irgend so etwas. Aber diese ... Gestalten waren nur teilweise zu sehen. Von dem größeren konnte ich fast den ganzen Körper sehen, aber eben wie bei jemandem, der dicht an einem Fenster vorbeigeht, während
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man selbst in der Stube sitzt. Man sieht nur einen Ausschnitt nicht wahr? Der Rest ist vom Fensterrahmen verdeckt. Es war«, sagte Terry ganz sachlich, »als ob man die Jalousie hochzieht und in einen schönen Sommertag hinausblickt.« »Und Sie hatten wirklich keine Drogen genommen?« »Wirklich nicht«, erwiderte Terry bestimmt. »Ich hatte doch die ganze Zeit an meiner Arbeit gesessen.« Es war wohl besser, nicht vorschnell zu urteilen und erst einmal abzuwarten. »Und was war mit dieser anderen Person, diesem kleineren Wesen?« »Das war der Außerirdische«, sagte er, und das Schweigen, das nun folgte, war für keinen von uns angenehm. Terry ergriff schließlich wieder das Wort: »He, es wäre sicher besser, wenn ich einfach erzählen würde, was passierte.« »Ja, ich werde Sie nicht mehr unterbrechen.« »Nun, die größere Gestalt, der Mensch sagte, >Du lieber Himmel, da ist jemand, drüben!< Und der Fremde erwiderte: >Ich sehe ihn. Wir wussten, dass es riskant ist, aber das ist wirklich ein Pech.< Er der Außerirdische trug ebenfalls diese Schutzkleidung. Er war viel kleiner und sehr stämmig gebaut, und sein Gesicht war von einem dichten Bart bedeckt. Ich hockte jedenfalls zu Tode erschrocken hier, doch als ich sie ganz gewöhnliches amerikanisches Englisch reden hörte, brachte ich es immerhin fertig zu sagen: >He, was ist denn hier los?<« »Sprach der Außerirdische nicht mit Akzent?« rutschte es mir heraus. »Überhaupt nicht. Er sprach nicht anders als wir auch. Genau wie der andere, als er nun antwortete: >Ich werde es gleich erklären.< Dann fragte er: >Hör mal, ist heute Halloween bei euch?< Und ich sagte: >Nein, erst in ein paar Tagen<, während mir durch den Kopf geht, dass es eigentlich nur zwei Arten von Leuten gibt, die so etwas fragen können: solche, die ihr Gedächtnis verloren haben, und Zeitreisende. Und ich sage mir: Ganz gleich, was ich jetzt tue oder sage, es wird immer so wirken, als wäre es aus einem schlechten Science-fiction-Film. Aber ich musste es wissen, deshalb sagte ich zu ihnen: >Ich glaube, ihr kommt aus der Zukunft.< Und der Mensch antwortete: >Du hast's erfasst, aber das beste an der Geschichte ist, dass wir noch immer in der Zukunft sind. Wir können hinübersehen, aber nicht hinübergehen, und du kannst auch nicht herüberkommen. Welche Uhrzeit habt ihr jetzt? Es ist zu dunkel, um es von hier aus beurteilen zu können. < Also sage ich ihm, dass es früher Morgen ist. Ich spielte mit, ohne dass
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ich es tatsächlich glaubte - verstehen Sie? Aber immer noch hatte ich wahnsinnige Angst, weil ich nicht wusste, was sie vorhatten und was wirklich vorging.« Aber während Terry das berichtete, glaubte ich zu verstehen, was >wirklich< vorgegangen war: ein großer Mensch, ein kleiner Fremder, die zusammen in eine Vergangenheit blickten, die für sie nicht (mehr) erreichbar war. Das alles, sagte ich mir insgeheim, würde Wasser auf die Mühlen der Psychiater sein; ich durfte mir kein Wort davon entgehen lassen. »Deshalb sagte ich - und ich fühlte mich wirklich wie ein kompletter Idiot: >Aber he, Sie können doch nicht riskieren, in die Vergangenheit einzugreifen.< >Tun wir nicht<, sagte der Typ, >mein Freund wird deine Erinnerung auslöschen. Tut mir leid, es muss sein. Ich hätte das Ganze eigentlich gar nicht machen dürfen, außerdem haben wir noch den falschen Tag erwischt. < Er schien darüber sehr enttäuscht zu sein. Also frage ich: >Was hätten Sie nicht machen dürfen?<, und er antwortet: >Ich bin am Institut für Zeitphysik und habe meinen Freund hier, der Abteilungsleiter und mein Chef ist, zu diesem Experiment überredet, weil ich für jemand in meiner Verwandtschaft, der in ein paar Monaten siebzig wird, ein Geburtstagsgeschenk basteln wollte. Es war wirklich eine tolle Idee für ein Geschenk!< Wissen Sie, er wollte etwas filmen, was dieser Jemand vor vielen Jahren genau in diesem Park erlebt hatte.«« »Das ist eine phantastische Geschichte, mindestens so phantastisch wie die Entschuldigungen der Studenten, wenn sie eine Arbeit zu spät abgeben.« Terry grinste. »Und nie kann man sicher sein, ob nicht die unglaublichste Geschichte die einzig wahre ist! Aber als ich das gehört hatte, sagte ich mir: Guter Mann, du kannst mir viel erzählen, mach nur so weiter. Aber er begann ganz selbstverständlich, das Experiment zu erklären - dass man das Zeitfenster an jenem Ort installieren muss, an dem das Ereignis passierte, das man sehen möchte; dass sie wussten, dass es nur schwerlich funktionieren würde, weil sie es nicht auf den Tag genau justieren konnten, sondern nur auf eine Spanne von mehreren Tagen. Er wusste also, dass sie entweder Tage zu früh oder zu spät kommen würden, und trotzdem war er schrecklich enttäuscht: Er hatte nur einen Versuch, denn der Aufwand für ein solches Zeitfenster ist gewaltig: Man benötigt eine Menge Energie, um auch nur dreißig Jahre in die Vergangenheit blicken zu können. Aber zurück zu diesem Geburtstagsgeschenk. Dieser Jemand hatte ihn wieder und wieder in diesen Park geschleppt, wo sie mit
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dem Fernglas das Rotwild beobachteten; und jedes Mal musste er sich anhören, dass einmal an Halloween, als es gerade dämmerte, hier vor diesem Felsen ein Hirsch und eine Hirschkuh auftauchten und sich paarten. Er hatte vorgehabt, diese Szene zu filmen, so, wie es sich damals ereignet hat! Ohne dabei gesehen zu werden, natürlich; kein Wunder, dass er zu Tode erschrak, als er mich da sitzen sah. Es war ihm gar nicht recht, wenn man Leuten am Gedächtnis herummanipulieren musste, er war ein netter Mensch«, sagte Terry. »Ich mochte ihn wirklich, obwohl ich die ganze Zeit dachte, er würde mir etwas vormachen.« Was mich betraf, so fügte sich hier Detail an Detail, alles passte zusammen; aufschlussreich auch dieses Motiv des Blicks in die Vergangenheit als Geschenk, als eine geschenkte Erinnerung. Eigentlich nur um etwas zu sagen, machte ich den Einwand, dass die Technik dieses Zeitfensters doch wohl reichlich unvollkommen sein musste; angenommen, sie wären mitten in das Picknick einer Kirchengemeinde geplatzt, hätten sie dann das Gedächtnis all dieser Leute bearbeitet? War es notwendig, dass sie das Zeitfenster präzise an den Ort des Ereignisses brachten, das sie beobachten wollten? Wenn ja, dann war diese Technik doch wohl von sehr beschränktem Nutzen, vor allem, wenn eine zeitliche Feinabstimmung sich als unmöglich erwies. Terry runzelte die Stirn. »Weiß ich doch. Es sieht aus, als ... aber normalerweise scheinen sie besser damit zurechtzukommen. Dieses eine Mal hatten sie wohl über den Daumen gepeilt. Aber Lee sagte, dass der eigentliche Grund ...« »Der junge Mann hieß Lee?« »So nannte ihn der Fremde. Er sagte, dass sie das Zeitfenster genau an den Ort bringen müssten, es ist das Prinzip, das auch für Spukhäuser gilt - das nämlich Zeit und Ort verknüpft sind. Man kennt das doch: Da erscheint ein Geist in der Kleidung des siebzehnten Jahrhunderts in der Bibliothek des Herrenhauses, oder Menschen, die gewaltsam ums Leben kamen, tauchen immer wieder am Ort ihres Todes auf, als wollten sie es einfach nicht glauben. Solche Dinge ... Wir beide«, sagte er mit einem Schmunzeln, »dürften das eigentlich noch gar nicht wissen - nicht, bevor die Fremden es uns gesagt haben. Diese Zeitspielerei ist der Zaubertrick, mit dem sie uns beeindruckten. Wir hatten es noch nicht herausgefunden, als sie auftauchten - wir werden es nicht herausgefunden haben, wenn sie auftauchen, müsste ich sagen.« »Und wann wird das sein?« »Recht bald schon, nehme ich an. Kurz bevor wir uns selbst in
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die Luft jagen. In weniger als dreißig Jahren, denn sie befanden sich ja dreißig Jahre in der Zukunft; das heißt, sie befinden sich dreißig Jahre in der Zukunft.« Er lachte. »Die Schwierigkeiten fangen schon bei der Grammatik an. Aber noch einmal zu diesem Geschenk; Sie werden nicht kommen, bevor es nicht einen Unfall in einem Kernkraftwerk gegeben hat. Dieser ganze Landstrich wird ebenso schlimm radioaktiv verseucht sein wie in Tschernobyl. Die meisten Leute werden davonkommen, aber die Tiere, die Vegetation, der Boden werden absterben. Tot werden natürlich auch alle Tiere im Park sein, auch das Rotwild. Alle werden sie sterben.« In meiner Brust verkrampfte sich etwas, denn diesen Teil von Terrys Geschichte konnte man nicht so leicht abtun. Aber ich ließ mich nicht von dem abbringen, was ich inzwischen als Grundmotiv ausgemacht zu haben glaubte: Selbstverständlich musste das herrliche, unschuldige Wild in dem Paradiesgarten von Terrys Kindheit sterben; alles verging, eine Welt zerbrach, als Terrys Familie auseinanderfiel. Ich fragte ihn, ob dieser Lee ihm gesagt hätte, in welchem Kernkraftwerk denn dieser Unfall geschehen würde, und war nicht überrascht, als er wieder die Stirn runzelte und sagte: »Ich glaube nicht.« »Aber Sie hatten doch solche Angst«, kam es mir plötzlich in den Sinn, »warum sind Sie da nicht einfach weggelaufen? Sie hätten sich doch leicht in die Büsche schlagen können.« Terry machte ein erstauntes Gesicht. »Auf diese Idee bin ich überhaupt nicht gekommen ... ich denke, dass ich einfach zu neugierig war, dass die Faszination weit größer war als die Angst. Vielleicht hat mich dieser Hobbs dazu gebracht, dass ich bleiben wollte, ohne dass es mir bewusst war. Das ist gut möglich.« »Der Hobbs? Ist das der Außerirdische?« »Lee sagte, sie hätten schon vor langer Zeit einige Leute hier zurückgelassen, und sie hatten vor, sie nach einem Jahr abzuholen, aber dann gab es Schwierigkeiten mit ihrem Schiff. Und als sie schließlich zurückkehrten, da waren ihre Leute alle tot, und die Menschheit war in das Industriezeitalter eingetreten und hatte mit der Raumfahrt begonnen. Also machten sie eine Bestandsaufnahme der Zustände auf der Erde, und einige von ihnen wollten hierbleiben und uns helfen, unsere Probleme zu lösen. Und kurz bevor sie kamen, da ging das Kraftwerk in die Luft. Also sind sie einfach gelandet und haben die Dinge hier in die Hand genommen.«
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Erwartungsvoll sah er mich an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das war nun wirklich nicht originell, ein Deus ex machina, dazu dieser groteske Name: Hobbs. »Aber wie dem auch sei«, sagte er schließlich, »irgendwie brachten sie eine Art Jalousie für das Zeitfenster zustande, dass sie für das Wild nicht mehr zu sehen waren. Dann sagte der Außerirdische, ich solle mich hier in dem Sattel zwischen den beiden Hauptteilen des Felsens verkriechen, und ich gehorchte; ich war wie hypnotisiert, so dass ich nur reglos dahockte, sicher einige Stunden lang. Und deshalb bin ich überzeugt, dass sie wirklich das waren, was Lee behauptete. Und ich sah auch den Hirsch kommen und hier herumtoben; das ging ihnen wirklich unter die Haut. Sie haben es gefilmt. Das war immerhin fast so gut wie das, weswegen sie eigentlich gekommen waren. Dann begannen sie mit den Vorbereitungen, um das Zeitfenster wieder abzubauen, aber erst mussten sie noch meine Erinnerung löschen.« Ich musste mir einen Ruck geben, um wenigstens noch einen Einwand anführen zu können. »Lee hat in der kurzen Zeit eine ganze Menge geredet. Wann hat er dir all das erzählt - während du hypnotisiert warst?« »Nein, vorher, während sie die Jalousie errichtet haben. Ich hatte das Gefühl, dass der Hobbs überhaupt nicht einverstanden war, aber er sagte nichts. Es kam mir vor, als hätte Lee noch nie mit jemandem aus der Vergangenheit geredet. Als er merkte, dass der Hobbs verärgert war, da wurde Lee ziemlich nervös; er hatte Angst, dass er zuviel gesagt hatte - aber warum eigentlich? Wenn sie doch ohnehin vorhatten, meine Erinnerung daran zu löschen? Aber ich redete mir die Zunge wund, um sie davon abzubringen. Ich sagte, wer ihnen denn das Recht gäbe, Leute für einige Stunden zu hypnotisieren und anschließend ihr Gedächtnis zu blockieren, und das alles wegen eines Geburtstagsgeschenks? Man hat schließlich Rechte, nicht wahr?« »Und was meinte er dazu?« »Er sagte, dass die Hobbs sich aus den Grundrechten nicht viel machten. Meistens liefe es bei ihnen darauf hinaus, dass der Zweck die Mittel heilige. Und sie hätten eben nun mal das Sagen, und überhaupt, wenn ich das Geburtstagskind kennen würde, dann würde ich verstehen, warum ausgerechnet dieser Hobbs erlaubt hatte, dass sie den Film zu drehen versuchten. Er hat sich bestimmt zwanzigmal entschuldigt, ich sah ihm an, dass es ihm unangenehm war. Wirklich, er war ein netter Kerl.«
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Schweigend saß ich da, Terry tat mir aufrichtig leid. Seine phantastische Geschichte um Hirsche, Familienangehörige, Geburtstagsgeschenke und verschüttete Erinnerungen bot ein völlig klares, wenn auch verfremdetes Bild seiner eigenen Situation. »Ich bin sicher, dass diese Blockade meines Gedächtnisses funktioniert hätte«, fuhr er fort »wenn ich nicht am nächsten Tag die Klausur geschrieben hätte. Die Hirschkuh!. Verstehen Sie? Weil genaugenommen das, was passierte - was passieren soll -, das ist, was das Gedicht von Stafford beschreibt. Tote Hindinnen und Kitze, die durch die Unachtsamkeit der Menschen nie geboren werden. Technik, die die natürliche Umwelt zerstört, weil sie nicht völlig beherrschbar ist. Das ist im Grunde dasselbe Thema.« Er seufzte und lächelte dabei. »Ich bin froh, dass ich mich erinnert habe. Niemand wird mir jemals glauben. Sie denken, das alles hätte mein Unbewusstes ausgebrütet ... mein Vater, die Scheidung und so weiter, nicht wahr?« Ich schrak zusammen, als ich mich durchschaut sah, und Terry lachte: »Mir ist auch klar, warum jeder das denken muss, mindestens so lange, bis die Hobbs gelandet sind! Aber ich schwöre bei Gott, es ist genauso passiert, wie ich es gesagt habe.« Was hätte ich darauf antworten sollen? Ich versuchte meine Verlegenheit darüber, dass er mich durchschaut hatte, zu verbergen, indem ich begann, die Reste unseres Picknicks zusammenzuräumen. Es war höchste Zeit, sich auf den Heimweg zu machen; es würde längst dunkel sein, bevor wir das Auto erreichten. »Und außerdem«, sagte er mit ganz leisem Spott, »einiges paßt ja wirklich nicht ins Bild, nicht wahr? Dieser Jemand, für den das Geburtstagsgeschenk gedacht ist, müsste eigentlich ein männlicher Verwandter sein, ein Onkel vielleicht. Denn brauchte man nicht eine Figur, die man als Stellvertreter meines Vaters interpretieren kann? Und warum hat der Außerirdische, der Kleine, mein Gedächtnis blockiert, der doch eigentlich eine Projektion von mir selbst sein müsste? Außerdem, glauben Sie nicht, dass der Junge...« Aber ich hörte nicht mehr zu. Wie betäubt starrte ich vor mich hin. »Terry«, unterbrach ich ihn, »dieser Jemand, dieses Geburtstagskind, war eine Frau?« »Ja, habe ich das nicht gesagt?« »Dann muss ich es überhört haben.« Jetzt begann auch Terry zu begreifen. Was für eine verrückte Idee! Auge in Auge standen wir da und dachten beide dasselbe, unfähig, uns der Magie dieses
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kühnen Gedankens zu entziehen. »Ich denke, heute ist Halloween«, sagte ich, und gleichzeitig fragte Terry: »Und wann haben Sie Geburtstag?« Aber bevor einer von uns noch antworten konnte, da hörten wir schon das Laub rascheln. Damit nun endlich das geschah, was längst erinnert worden war, kam die Hindin den Hang heraufgerast, dicht gefolgt von einem zweiten, größeren stattlicheren Schemen, der sie nun einholte. Sie verharrten, er schnüffelte, leckte und besprang sie dann mit einem einzigen Satz. Mit einem solchen gewaltigen Satz warf er sich auf sie, dass ihr die Vorderbeine einknickten und seine Hinterbeine für einen Augenblick in der Luft hingen. Und dann waren sie wieder auf und davon, so schnell, dass wir wohl nicht ein einziges Mal geatmet, nicht eine Bewegung gemacht hatten, bis sie im Dämmerlicht über dem Hang wieder verschwunden waren.
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2 1994 - 2007 Ein Hobb im Moor 1 Elphi erwachte in diesem Frühling als erster, und das hieß, dass er auch der erste war, der den leichten Verwesungsgeruch bemerkte. So entsetzlich er sich auch fühlte, wenn er aus dem Winterschlaf erwachte, zwang er sich doch, von seinem Lager aufzustehen und die Runde zu machen, um zu sehen, wer von den alten Hobbs während dieses Winters gestorben war. Er torkelte durch die dunkle Höhle. Noch würden seine Hände nicht gehorchen, wenn er jetzt versuchte, ein Streichholz anzuzünden. Aber das brauchte er auch nicht, Hobbs waren Nachtwesen. Außerdem benutzten sie diese Höhle schon seit fast hundert Jahren zum Überwintern. Tarn Hole und Hasty Bank lagen nebeneinander, noch in tiefem Schlaf versunken. Mit Hodge Hobb schien alles in Ordnung zu sein ... auch mit Broxa ... und Scugdale. Oh! ... Woof Howe Hobb war es also. Um sich zu vergewissern, sah Elphi auch noch nach Hart Hall, denn es konnte ja mehr als ein Toter sein, dann ging er zu seiner Koje zurück. Er musste jetzt nachdenken. Man musste Woof Howe aus der Höhle schaffen, und zwar schnell. Wenn Elphi eine Aufgabe hatte, konnte er am besten das Gefühl der Leere in seinem Innern verdrängen, das bald der Trauer und dem Schmerz weichen würde. Alle zehn oder zwanzig Jahre mussten sie nun von einem der ihren Abschied nehmen. Ihre endlos lange Verbannung schien sich unaufhaltsam einem Ende zu nähern, nicht weil man sie rettete, wie sie immer gehofft hatten, sondern weil es bald keine Verbannten mehr gab. Sieben waren noch übrig von den fünfzehn, die man hier ausgesetzt hatte, und das Ende war abzusehen. Wieder zwang Elphi sich, aufzustehen; solche Gedanken waren einfach sinnlos, waren immer schon sinnlos gewesen. Er brauchte etwas zu trinken, musste essen. Der große Stein, der den Höhleneingang den Winter über verschlossen hatte, war ein ernstes Hindernis. Für ihre Größe waren die Hobbs sogar im hohen Alter geradezu unglaublich stark,
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doch hätte Elphi unter normalen Umständen nicht versucht, den Stein allein beiseite zu schieben - denn das monatelange Fasten hatte ihn geschwächt. Aber schließlich hatte er es geschafft und konnte seinen Kopf mit der gebotenen Vorsicht hinaus in die Welt recken. Es war Anfang April, Frühling, und vor ihm lag die Heide- und Moorlandschaft von Nord-Yorkshire. Obwohl er sich sehr schwach fühlte, spürte er einen freundlichen Schauder, als ihm der frische Wind ins Gesicht blies. Der Wind war kräftig und eisig kalt, aber Kälte hatte den Hobbs noch nie etwas ausgemacht, und es war nicht der Kälte wegen, dass Elphi rasch die Leiter wieder hinunterkletterte, um eine Art Kleidungsstück zu holen - etwas, in das er sich hüllen konnte, das die Augen eines späten Wanderers täuschen konnte, der in den letzten Stunden vor Einbruch der Nacht vielleicht noch hier oben unterwegs war, auch wenn damit kaum zu rechnen war. Danach wuchtete er den schweren Stein wieder über den Eingang, als wollte er den Geruch nach Tod hier einschließen und hinter sich lassen, und machte sich auf den Weg. Auf allen vieren lief er los und bahnte sich, noch immer steif und ungelenkig, seinen Weg durch das schneeverkrustete Heidekraut. Er folgte einer Spur, die Schafe getreten hatten, während er aufpaßte, dass er nicht auf einen Bauern stieß, der die im Moor weidenden trächtigen Schafe einsammelte, um sie zum Werfen auf den Hof zu bringen. In den Jahren, in denen die Hobbs etwas länger als gewöhnlich schliefen, konnte es vorkommen, dass sie auf ihren ersten Streifzügen auf einen Bauern oder einen Hund trafen - und weder Bauer noch Hund waren durch die Verkleidung der Hobbs so leicht zu täuschen. In solchen Fällen lebten sie gezwungenermaßen als die Nachtwesen, die sie eigentlich waren. Aber die Schafe, die Elphi sah, würden noch eine gute Woche auf der Weide bleiben, bevor man sie in die Pferche trieb; das war beruhigend. In dieser ungemütlichen Jahreszeit war auch kaum ein Wanderer unterwegs, und von den Archäologen, die im letzten Sommer bei den prähistorischen Siedlungen von Danby Rigg gegraben hatten, war nichts zu sehen. Vielleicht würde es viel leichter sein, den guten Woof Howe loszuwerden, als er sich das vorgestellt hatte - nicht wie damals, als sie Mitte April erwachten und den toten Kempswithen fanden und es überall in der Gegend von Menschen und Hunden nur so wimmelte. Die einzigen Menschen, denen er jetzt am späten Nachmittag noch begegnen konnte, waren auf dem Weg zu ihren Herden, um den Tieren Heu zu bringen, und weil ihre Traktoren und Autos laut genug waren, dass
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man sie meilenweit hörte in dieser offenen Landschaft, brauchte er keine Entdeckung zu fürchten. Die Hunde in dieser Gegend wussten Bescheid über die Hobbs, das war klar, nicht anders als sie Bescheid wussten über Moorhühner und Hasen, doch kamen sie nur selten hierherauf, wenn sie nicht Schafe hüten mussten. Zumindest blieben sie pflichtbewußt bei der Herde. Lästig waren jene Hunde, die der eine oder andere Wanderer frei laufen ließ, ob sie nun auf Zuruf gehorchten oder nicht. Sie konnten wirklich lästig werden. Im August und September, wenn das Heidekraut das Moor mit einem üppigen, dicken Teppich aus purpurnen Blüten überzog und eine Flut von Touristen sich in die Landschaft ergoß, dann ließen die Hobbs bei Tage nicht einmal ihre Nasenspitzen sehen. Aber das war alles andere als angenehm, obwohl sie auch bei Nacht mit traumwandlerischer Sicherheit zurechtkamen, denn zwischen April und November pflegten die Hobbs kaum zu schlafen, und es gab tatsächlich mehr als genug zu tun. Dann war da noch die Moorhuhnjagd, die jedes Jahr am 12. August begann und noch andauerte, wenn Elphi und seine Freunde sich längst in ihre Höhlen zum Schlafen gelegt hatten ... Natürlich hatte der Touristenstrom im August auch seine guten Seiten. In jedem Sommer konnten die Hobbs Beute machen, und sie hatten gute Verwendung für das, was die Besucher achtlos wegwarfen oder liegenließen. Im August war es, als täte sich eine Goldgrube auf: Halstücher, Wollsocken, Schokoladenriegel, kleine Notizblöcke, Bleistifte und Kugelschreiber, Landkarten, Gummibänder und Sicherheitsnadeln, Rollen mit Nylonschnur, vierzehn Schweizer Offiziersmesser in fünfzehn Jahren, Reiseführer, Comics, frische Batterien für die drei Transistorradios und die fünf Taschenlampen, die sie besaßen. Keine Sommernacht, in der sie nicht alle unterwegs waren und die Wanderwege wie den Lyke Wake Walk und den Cleveland-Weg absuchten, jeder mit einem großen Beutel versehen, um die Fundstücke nach Hause zu tragen. Nun aber musste Elphi sich zuerst einmal etwas zu essen besorgen. Glücklicherweise konnten er und seinesgleichen so gut wie alles essen, was sie in die Hände bekamen. Besonders wussten sie die Kaninchen dieser Gegend und im Frühling die jungen Lämmer zu schätzen, aber sie verschmähten auch nicht ein vom Auto überfahrenes Schaf. Aber da im Moment nichts dergleichen in Aussicht stand, musste sich Elphi mit jenem Moorhuhn zufriedengeben, das er aufgeschreckt hatte. Er brach ihm das
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Genick, zerlegte es und aß es auf der Stelle auf. Doch er achtete auf saubere Arbeit und verteilte sorgfältig die Federn so, dass es nach einem Fuchs aussah. Endlich war er satt und konnte wieder einigermaßen denken; er lief noch ein, zwei Kilometer bis zu einem Fluß, wo er sich die blutigen Hände wusch und zum ersten Mal seit mehr als vier Monaten trank. Inzwischen war er schon nicht mehr so steif. Seine Hände und die breiten Füße bewegten sich mit der gewohnten Ausdauer und Schnelligkeit über den verharschten Schnee, ohne Spuren zu hinterlassen, mit denen jemand etwas anfangen konnte. Immer noch auf allen vieren, beschleunigte er jetzt sein Tempo. Was also sollten sie mit Woof Howe Hobb machen, damit nie ein Mensch erfuhr, dass er jemals existiert hatte? Verbrennen wäre das beste. Aber ein Feuer im Moor war eine ernste Sache. Es würde bemerkt werden, man würde nachschauen. Der Rauch wäre über eine große Entfernung zu sehen, und die Parkwächter waren wachsam. Wenn nicht ein hilfreicher Nebel seinen Mantel darüberbreiten würde ... aber die Hobbs riskierten fast nie ein Feuer, und außerdem war ihr Torfvorrat in der Höhle viel zu klein, um eine Leiche zu verbrennen, auch wenn es nur die eines kleinen Hobbs war. Elphi hatte plötzlich Woof Howe vor Augen, wie er auf einem Haufen schwelender Torfstücke brannte, und etwas in ihm verkrampfte sich. Er verscheuchte das Bild. Sie mussten eine Stelle finden, an der sie Woof Howe begraben konnten, ohne dass ihn jemand je entdeckte. Aber wo? Er verfluchte sich selbst und die anderen, dass sie nie einen Plan entwickelt hatten, um mit einem solchen Problem fertig zu werden. Dass sie davor zurückgeschreckt waren, verdammte nun ausgerechnet ihn dazu, ganz allein eine Lösung zu finden, wenn nicht einer der anderen noch rechtzeitig erwachte. Elphi wurde ganz ärgerlich bei dem Gedanken, wie mühsam ihr Leben in den letzten hundertfünfzig Jahren geworden war. In der guten alten Zeit hätte sich niemand über ein paar merkwürdige Knochen aufgeregt. Damals mussten die Leute nicht alles wissen; es war ihnen klar, dass die Welt voller Wunder und Geheimnisse war. Aber heute war es zur Sicherheit der noch lebenden Hobbs notwendig, dass sich ein verstorbener Kamerad buchstäblich in Luft auflöste. Bei Kempswithen hatten sie es geschafft, indem sie ihn in kleine Stücke zerteilt hatten, die sie in den Nächten über ein Gebiet von gut tausend Quadratkilometer Moorlandschaft ausstreuten. Keiner von ihnen würde so etwas gern noch einmal machen, es sei denn, es wäre die einzige und letzte Möglichkeit.
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Darüber dachte Elphi nach, während er von der Flußböschung aus über die Landschaft blickte. Bald war es Abend. Die Luft war ungewöhnlich klar; weit im Nordwesten sah man den Roseberry Topping mit seinen Gipfelgraten, wie das Spiralmuster auf einer Kugel Softeis (Elphi kannnte das, er hatte es in einer Zeitung gelesen, die ein Radfahrer weggeworfen hatte), und überall zwischen dem Gipfel und dem Westerdale-Moor erstreckte sich nichts als Heide - schneebedecktes Buschwerk, Meile um Meile. Sie hob und senkte sich wie eingefrorene Wogen eines Meeres, ein Meer der Trostlosigkeit, das auf seltsame Weise zugleich atemberaubend schön war. Der Schnee hörte ungefähr da auf, wo der Flickenteppich der Felder und Weiden von Danby Dale und Westerdale begann. Dazwischen konnte man verstreut die Höfe erkennen, kleine Grüppchen von Steinhäusern. Elphi hatte die beiden ersten Jahrhunderte seines Exils dort unten auf verschiedenen Höfen in Danby Dale und Great Fryup Dale verbracht. Diese Täler hier und der Streifen Ödland darüber, das war nun seine Heimat. Er konnte sich kaum erinnern, je etwas anderes gesehen zu haben. Wie sehr sich auch er nach dem rettenden Schilf sehnte, so mochte er doch eigentlich den Anblick dieser Landschaft nicht mehr missen, und das Moor selbst liebte er mit einer Inbrunst, die ihn erstaunte. Alle Hobbs liebten es, mit Ausnahme von Hob o' Hurst und Tarn Hole Hobb. Und Woof Howe war es kaum anders gegangen als ihm selbst. Elphi sog die klare, eisige Luft in sich ein und drehte sich einmal in die Runde, um alles in sich aufzunehmen, was er von hier aus sehen konnte. Dass vom Meer her Nebel aufzog, ein breites, geschlossenes Band, darüber brauchte er sich nicht zu sorgen. Er ließ sich wieder auf die Hände hinab, ein Vierfüßler, doch einer mit einem großen Problem vor Augen. Sie könnten Woof Howes Leiche vielleicht aussetzen, fiel ihm plötzlich ein, auch so würde sie mit der Zeit verschwinden. Es war nicht ungefährlich, aber durchführbar, wenn man eine geeignete Stelle fand und wenn sie die Leiche tagsüber versteckten. Elphi hielt sich jetzt nordwestwärts, bewegte sich sehr schnell, nun, da jede Steifheit aus seinen Gliedern geschwunden war. Zielsicher bahnte er sich seinen Weg dort entlang, wo das kratzige Heidekraut am wenigsten widerspenstig war. Er würde sich zwei oder drei Stellen anschauen, bevor er zur Höhle zurückkehrte, um nachzusehen, ob nun auch einer der anderen aufgewacht war.
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Jenny Shepherd betrachtete auf ihrer Wanderung die heraufziehende Nebelwand kaum weniger gelassen. Einige Jahre war es her, dass sie sich auf ihrer ersten Tour durch Yorkshire in einem wirklich dichten Nebel verirrt hatte. Eine ganze Zeit irrte sie damals umher, um dann zu begreifen, in welche Gefahr sie geraten war. Aber der Weg über das Große und Kleine Hograh-Moor war kaum zu verfehlen. Weniger aufgeweicht hätte man sich gewünscht, was sich da wie ein schlammiges Bachbett braun durch die dünne Schneedecke zog. Und Jenny war schon oft genug hier gewesen, um genau zu wissen, wo sie sich befand. Bis zur Jugendherberge würde sie es auch im Dunkeln schaffen, und überhaupt war sie für jedes erdenkliche Wetter gerüstet. Der Weg führte nun steil eine Flußmündung hinunter zu einer kleinen Brücke aus Stein. Spontan beschloss Jenny, hier zu rasten, wo sie etwas vor dem unermüdlichen, schneidenden Wind geschützt war. Sie ließ den Rucksack von der Schulter gleiten, lehnte ihn gegen die Brückenmauer und holte zwei Schaumstoffkissen heraus, eines für den Boden, eines, um den Rücken vor dem kalten Gemäuer zu schützen. Dann kramte sie eine Thermosflasche, eine kleine Tüte Studentenfutter, die Proviantdose mit dem halben Sandwich, eine hauchdünne Decke aus metallbeschichteter Isolierfolie und einen weiten, grünen Nylonponcho hervor. Nicht, dass sie nicht warm genug angezogen war: Unter ihrer wasserabweisenden Nylonhose trug sie eine Cordhose, darunter lange Unterhosen aus weicher Wolle sowie mehrere Pullover unter ihrem Parka - aber so ein Poncho würde den Wind abhalten und sie vor der Feuchtigkeit des Nebels schützen. Jenny schüttelte die Isolierfolie auseinander und wickelte sich ein. So eingemummt ließ sie sich umständlich nieder und rückte die Sitzkissen zurecht. Die Thermosflasche mit Tee war noch halbvoll; sie schraubte den Deckel ab und trank aus der Flasche. Sie vergaß nicht, nach jedem Schluck den Deckel wieder aufzusetzen, damit der Inhalt nicht abkühlte. Dann nahm sie sich das Sandwich vor. Bequem gegen die Brücke gelehnt, saß Jenny und aß; einen ihrer Handschuhe hatte sie dazu abgestreift. Sie genoß diese Rast sehr. Der Bach plätscherte unter dem Brückenbogen hindurch, der Wind blies, allerdings nicht in die Richtung, wo Jenny saß. Jenny schien ein Stück dieser Landschaft zu sein, wie sie reglos da kauerte, fast benommen von dem Gefühl vollkommener Zufriedenheit. Als die ersten feinen Nebelfäden über ihr auftauchten, da vergrößerte das nur ihr Wohlgefühl; sie blieb sitzen - bald wäre es
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Zeit, aufzubrechen, aber sie zögerte, den Zauber dieses Augenblicks zu brechen. Nicht weit von ihr kam ein Schaf die Uferböschung hinunter, ein schwarznasiges Schaf, eine Rasse aus den Bergen hier. Ein Swaledale? Ein Herdwick vielleicht? Nein, Herdwick-Schafe züchtete man im Lake District. Fast gelangweilt beobachtete sie das Tier, wie es mit kleinen Sprüngen hinunterkletterte, ganz selbstverständlich und ohne Hast, denn hier war es zu Hause. Jenny sah zu, wie es näher kam, kleine Steine lostrat - und musste ganz unvermittelt an den Albinohirsch in jenem Park bei ihr zu Hause in Pennsylvania denken: Bei flüchtigem Hinsehen hätte man das Tier auch für eine Art Hirsch oder eine Ziege halten können. Wandte es sich ab, dann sah man den kurzen Schwanz, dann wieder zeigte es den typischen Kopf des Rotwilds mit den spitzen Ohren. Jenny hatte auf ihren Wanderungen durch die Berge Englands schon eine Menge Schafe gesehen. Das hier war ein höchst eigenartiges Schaf. Waren die Beine zu dick? Lag es an den Bewegungen? Der Nebel wurde immer dichter, die herumwirbelnden Schwaden machten es auch nicht leichter, zu sagen, was sie da vor sich hatte. Sie strengte sich an, sie wollte es wissen. Für einen Augenblick lichtete sich der Nebel ein wenig, und erschrocken fuhr sie zusammen, als sie erkannte, dass dieses Schaf etwas in der Schnauze trug. Jenny hatte sich merklich bewegt, und dabei schwenkte das Schaf den Kopf und richtete seine stumpfen, toten Augen auf sie. Es erstarrte, wirbelte dann herum und jagte die Böschung wieder hinauf. Als es herumfuhr, gab es einen kurzen, bellenden Keuchlaut von sich und ließ das Bündel aus der Schnauze fallen. Jenny versuchte eilends auf die Beine zu kommen, schälte sich aus dem Kokon der Isolierdecke und kletterte die Böschung entlang. Was das Schaf hatte fallen lassen, war ins eisige Wasser gerollt; mit zusammengebissenen Zähnen tauchte sie die Hand ein und zog das Ding heraus. Es war ein totes Moorhuhn mit einem gebrochenen Genick. Jenny Shepherd wusste trotz ihres Namens nur sehr wenig über Schafe. Aber dass sie auf der Weide zu grasen pflegten und nicht etwa Fleischfresser waren, das war jedem Kind klar. Jenny schauderte, sie ließ den toten Vogel wieder in den Bach fallen und steckte die Hand in ihre Jacke. Sie hatte das Gefühl, dass hier etwas sehr Sonderbares vorgegangen war, und ihre gute Laune war dahin.
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Nervös blickte sie auf die Uhr. Am besten machte sie sich allmählich auf den Weg. Die rutschige Böschung hinauf kehrte sie zur Brücke zurück und packte hastig ihre Sachen zusammen. Vor ihr lagen noch sieben Kilometer offenes Moor, bis sie eine feste Straße erreichte, und der Nebel würde sie einiges an Zeit kosten. Bevor sie den Rucksack schulterte, nahm sie noch ihre Taschenlampe aus einer der Außentaschen. Elphi rannte über das Moor. Wie konnte man nur so unvorsichtig sein! Schlimm genug, dass er diesen Wanderer nicht gleich bemerkt hatte - aber es hätte ja noch gutgehen können, wenn er nicht den Kopf verloren hätte! Wer war denn schon sicher, was er da im Nebel, bei Anbruch der Dämmerung, gesehen hat ... Aber das Moorhuhn fallen zu lassen, das war einfach unverzeihlich. Einhundertfünfzig Jahre lang hatte ihre unablässige Wachsamkeit und Geistesgegenwart ihnen ein Leben im Verborgenen gesichert und er hatte beides vermissen lassen. Dass er gerade aus dem Winterschlaf erwacht war, dass Kummer und Sorgen ihn bedrückten, dass Wanderer im Moor zu dieser Jahreszeit und Stunde noch seltener waren als ein Sonnenstrahl am Himmel - das alles war keine Entschuldigung für solche Tölpelhaftigkeit. Jetzt hatte er nicht ein großes Problem, sondern zwei. Das alte Männchen stöhnte laut auf und blickte sich wie hilfesuchend um, aber da war niemand, der ihm helfen konnte. In einem großen Bogen lief er die Strecke zurück, die er gekommen war, so dass er den Weg einen knappen Kilometer östlich der Steinbrücke kreuzen musste. Dass dort keine Fußspuren im Schnee waren, bedeutete, dass der Wanderer in diese Richtung nach Westerdale ging und bald auftauchen würde. Er kauerte sich ins Heidekraut und wartete; Minuten später, als ein dunkler Schatten aus dem Nebel auftauchte, trat er aus dem Gebüsch und stellte sich ihm aufgerichtet in den Weg. Er fühlte sich mehr als seltsam, denn seit fast zweihundert Jahren hatte er nicht mehr von Angesicht zu Angesicht mit einem Menschen gesprochen. Mit heiserer, unsicherer Stimme sagte Elphi: »Bleiben Sie stehen, Mann, und versuchen Sie nicht, wegzulaufen!« Und als ein lautes, erschrockenes »Oh!« von dem Wanderer kam, sagte er noch: »Ich werde Ihnen nichts tun, aber Sie müssen jetzt mit mir kommen.« Sein Yorkshire-Dialekt war so unglaublich breit, dass die Worte wie klebriger Brei aus dem Mund zu quellen schienen. Der Wanderer stand steif und starr vor ihm auf dem Weg. »Was
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... ich ... ich kann Sie nicht verstehen!.« Eine Frau! Und eine Amerikanerin! Elphi wusste, wie sich ein amerikanischer Akzent anhörte, er kannte ihn vom Radio - aber er hatte noch nie im Leben mit einem Amerikaner gesprochen. Was hatte denn eine Amerikanerin in dieser Jahreszeit hier zu suchen? Aber er konnte seine Verblüffung überwinden und bemühte sich nun um eine bessere Aussprache. »Ich sagte, Sie müssen mit mir kommen. Haben Sie keine Angst, und versuchen Sie nicht, wegzulaufen. Es wird Ihnen nichts geschehen.« Die Frau schnappte nach Luft. Sie war offensichtlich zu Tode erschrocken, dann krächzte sie: »Wer, um Himmels willen, sind Sie?« Um das zu verstehen, brauchte sich Elphi nur vorzustellen, was die Frau da vor sich auf dem Weg sah: ein kleines, nacktes, greisenhaftes Etwas, das über und über behaart war. Er beeilte sich zu sagen: »Ich werde es Ihnen erklären, ja, aber nicht jetzt. Wir haben noch eine schöne Strecke zu gehen.« Jetzt kam Leben in die Frau. Sie zerrte und nestelte hektisch unter ihrer weiten Hülle herum, dann fiel ein unförmiger Rucksack zu Boden. Elphi war schon auf dem Sprung, aber anstatt zu fliehen fragte sie: »Haben Sie eine Pistole?« »Eine Pistole?« Jetzt war Elphi verblüfft. »Nein, aber wenn Sie ... wenn Sie nicht freiwillig gehen, dann werde ich Sie tragen. Aber anders wäre es mir lieber. Also, kommen Sie?« »Das ist doch verrückt!« Die Frau starrte Elphi an, der ihr den Weg versperrte, dann starrte sie auf ihren Rucksack. Ganz offensichtlich rechnete sie sich ihre Chancen aus, mit oder ohne an dem Wegelagerer vorbeizukommen. Plötzlich packte sie den Rucksack an einem der Schulterriemen und stürzte auf ihn los. »Geh aus dem Weg!« Aber Elphi gab nur ein Knurren von sich und schüttelte den Kopf. »Mistress, kommen Sie jetzt!« befahl er verzweifelt, und mit einem Satz zu ihr hin ergriff er mit seiner großen, knotigen Hand ihr Handgelenk. »So, versuchen Sie doch, ob Sie stärker sind!« Aber die Frau wehrte sich nicht, und am Ende blieb Elphi nichts anderes übrig, als sie hochzunehmen und den matschigen Weg entlangzutragen. Sie zeterte unablässig; nach hundert Metern setzte er sie ab und ging zurück, um den Rucksack zu holen, während sie sich ihr Handgelenk rieb. Er schulterte ihn, und ohne weitere Diskussion machten sie sich auf ihren Weg durch den Nebel.
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Als sie die verlassene Kohlengrube erreichten, die den Hobbs als Winterquartier diente, hatte Jenny schon lange aufgehört, irgend etwas zu denken. Recht bald hatte sie jede Furcht vor Elphi verloren, aber mit diesen verstörend seltsamen Geschehnissen fertig zu werden, das war mehr, als sie geistig verkraftete. Sie fühlte sich gedemütigt und erschöpft. Schon in jenem Augenblick, als Elphi in seinem schmuddeligen Schaffell vor ihr aus dem Nebel auftauchte, hatte sie einen langen Tag hinter sich gehabt. Die Stunden, die sie sich nun noch durch dieses nebelnasse Heidekraut quälen musste, hatten sie völlig ausgelaugt. Es gab keinen Gedanken mehr außer dem Vorsatz: Diesen Marsch zu überleben. Als er ihr von Mal zu Mal schwerer fiel, die Stiefel mit den anhaftenden Klumpen Morast überhaupt vom Boden zu heben, da stolperte sie nur noch, und immer öfter fiel sie. Und jedesmal half ihr ihr Entführer, dieses seltsame, zwergenhafte, keineswegs ungefährliche Wesen, freundlich auf - ganz offensichtlich ohne seine unglaublichen Kräfte in Anspruch nehmen zu müssen. Anfangs waren ihr die Zirkusplakate im Bahnhof von Middlesbrough in den Sinn gekommen, die sie beim Umsteigen aus dem Zug von London gesehen hatte; vielleicht war der Kleine ein Clown, einer dieser bedauernswerten Mißgebildeten, die man im Zirkus zeigte. Aber das war ihr doch recht unwahrscheinlich erschienen. Später, als wieder einmal ein Moorhuhn aufflog und der Zwerg sich pfeilschnell darauf stürzte und ihm das Genick brach, gab sie den Gedanken an den Zirkus endgültig auf. Vielleicht war er aus einer Heilanstalt entflohen. Aber genaugenommen wirkte er nicht im geringsten bedrohlich. Jenny hatte jedoch längst aufgehört, sich über ihn den Kopf zu zerbrechen, als sie ihn schließlich sagen hörte: »Da wären wir, meine Liebe.« Sie sah, wie er sich bückte, um den Stein vom Höhleneingang wegzuschieben, da gaben ihre Knie nach, und sie sank einfach zur Seite auf das Heidekraut. Als Jenny erwachte, drang gedämpft eine Radiostimme an ihr Ohr. Sie lag auf einer harten Unterlage, sorgsam in ein Schaffell eingewickelt; es war so herrlich warm, dass sie einfach liegen blieb, um das wohlige Gefühl auszukosten. Die Radiostimme wirkte so normal, so alltäglich - aber nur so lange, bis sie völlig wach war und die Erinnerung zurückkehrte, dann ließ das Adrenalin ihren
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Puls rasen. Sie schien in einer Höhle zu sein, die nicht groß war, und schwach von einer kurzen, weißen Kerze erleuchtet wurde. Die Kerze stand in einem Aluminiumschälchen, wie sie für kleine Kuchenportionen verwendet wurden. Das Radio war nicht zu sehen. Jemand hatte sie entkleidet; statt eines Nachthemds trug sie nur ihren dünnen Leinenschlafsack. Langsam und beklommen drehte Jenny den Kopf, um sich umzusehen; sie musste sich darüber klarwerden, was hier vorging. An allen Wänden standen solche Schlafbänke; auf jeder konnte man eine Gestalt ausmachen ... Sieben waren es; alle schliefen, und alle glichen jenem Zwerg, der sie entführt hatte. Als Jenny das sah, begann sie nach Luft zu schnappen; die Furcht, die während des Marsches verflogen war, hatte sie wieder fest im Griff. Wo war sie? Was erwartete sie hier? Was, zum Teufel, hatte das alles zu bedeuten? Die erste Erklärung beunruhigte sie am meisten: dass sie den Verstand verloren hatte, dass das, was sie seit ihrer abgebrochenen Therapie unbewältigt mit sich herumschleppte, nun die Oberhand gewonnen hatte. Vielleicht war nicht der kleine Mann aus einer Anstalt geflohen - vielleicht war sie mehr oder weniger auf dem Weg dorthin. Nun gab es in Jennys Seelenleben durchaus den einen oder anderen schwachen Punkt, aber eigentlich neigte sie weder zu Halluzinationen, noch litt sie an Verwirrtheitszuständen, wie sie als Spätfolge von Drogenkonsum auftreten können. Aber wenn es sonst keine vernünftige Erklärung gab ... Doch konnte man eine Verunsicherung dieser Art am besten überwinden, wenn man sich entschlossen den greifbaren und drängenden Problemen zuwandte. Es war kalt in der Höhle, und ihre Blase drohte zu platzen. An einer Wand befand sich eine Leiter, die in einem Loch in der Decke verschwand, und weil kein anderer Eingang zu existieren schien, durfte sie annehmen, dass es dort nach draußen ging. Sie warf das Schaffell von sich, wand sich aus dem Schlafsack und humpelte barfuß über den steinernen Boden; aber in dem Loch war nichts als gähnende Schwärze. Da oben konnte keine Öffnung sein. Jenny war gefangen. Also, dann musste sie etwas finden - einen Eimer, eine Schüssel, gleich was! Beim Herumtasten entdeckte sie ihren Rucksack im Schatten der gegenüberliegenden Wand. Darin war ein Topf aus weichem, dünnen Plastik, den Jenny wie von Sinnen hervorwühlte,
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um sich dann endlich zu erleichtern. Sie zitterte danach ganz entsetzlich, riß darum ein Bündel Kleider und etwas zu essen aus dem Rucksack und eilte zurück in ihr Bett. Es war ja nicht viel, was sie sich als Kleiderreserve eingepackt hatte: ein Paar Wollsocken, Unterwäsche, Pantoffeln und ein Baumwollpullover. Keine Hose, keine Schuhe; so ausgerüstet würde sie im Moor nicht weit kommen. Doch zog sie dankbar das wenige an, was sie gefunden hatte, und fühlte sich bald besser. Als nächstes stand Jenny noch einmal auf und kletterte die Leiter ganz hinauf; aber das Loch am Eingang war mit einem Stein verschlossen, der viel zu schwer war, um ihn beiseite zu schieben. Das Radio stand in einer Art Küchenschrank ohne Türen, ein winziges Transistorgerät in einem Gehäuse aus rotem, geriffelten Kunststoff. In großen goldenen Buchstaben stand darauf: >Das beste für den Haushalt - nur aus der Drogerie<, und ein Draht führte von der Spitze des Antennenstabes zur Leiter und dann nach oben in das Loch. Jenny nahm das Radio mit ins Bett, wobei sie sorgfältig darauf achtete, den Antennendraht nicht abzureißen. Sie streifte gerade das Gummiband von ihrer Proviantdose, als sie von oben ein Scharren und Poltern hörte und ein Strahl Tageslicht in die Höhle fiel. Dann war es wieder dunkel, und zwei weißliche, behaarte Beine erschienen auf der Leiter. Wie erstarrt saß Jenny da, wartete; ihr Herz hämmerte wild. Am Fuß der Leiter drehte sich die Gestalt um und wandte sich ihr zu. Was sie da im Schein der Kerze sah, schien tatsächlich ein Zwerg - ein uraltes, sehr kleines Männchen, das über und über mit Haaren bedeckt war. Seine mit Schaffell umwickelten Hände und Füße wirkten eigentümlich groß. Und bei genauerem Hinsehen bemerkte man auch, dass die Arme viel länger und die Beine viel kürzer waren, als sie eigentlich hätten sein dürfen. Jenny erinnerte sich, wie dieser Gnom auf allen vieren vor ihr her durch den Nebel gelaufen war. Wieder musste sie an den Albinohirsch denken. Wortlos starrten sie sich an. Langsam, ganz langsam schwand ihre Furcht, wie fremdartig er auch aussah; ihr Puls beruhigte sich. Der Zwerg schien jetzt zu lächeln. »Ein schöner Tag, die Sonne hat den Nebel verdunsten lassen«, sagte er in makellosem Englisch, nur bei den Vokalen erahnte man einen Hauch von YorkshireDialekt. Jenny sagte mühsam beherrscht: »Hören Sie - ich weiß nicht, was das alles soll! Zuerst möchte ich wissen, ob Sie vorhaben, mich wieder gehen zu lassen?« Soweit sie sehen konnte, lächelte er freundlich. Er nickte. »O ja,
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sicher!« »Wann?« »Heute nachmittag. Bis dahin werden Ihre Kleider trocken sein; ich habe sie in die Sonne gehängt. Wir haben großes Glück, dass wir einen sonnigen Morgen erwischt haben.« Während er sprach, zog er das Schaffell aus und hängte es an einen Haken an der Wand, wo eine ganze Reihe anderer Felle hingen. Dann schlüpfte er aus den mokassinartigen Fußhüllen und den Handschuhen und legte sie auf das Regal, in dem das Radio gestanden hatte. Er trug nichts weiter auf dem Leib als sein dichtes Haar. Soviel Fremdartigkeit war mehr, als Jenny ertragen konnte; die Sinne drohten ihr zu schwinden, und sie schloss die Augen. »Würden Sie mir bitte erklären, was das alles soll? Wer sind Sie? Und wer sind diese anderen hier? Wo bin ich, und warum haben Sie mich hierhergebracht?« Ihre Stimme hatte immer schriller geklungen und überschlug sich bei den letzten Worten beinahe. »Ja, ich werde Ihnen alles erklären, und wenn Sie es gehört haben, dann werden Sie sicher verstehen, was gestern passiert ist - und warum es notwendig war.« Er zog einen Hocker unter dem Tisch hervor und setzte sich. Doch gleich sprang er wieder auf. »Ach, haben Sie eigentlich genug zu essen? Ich fürchte, wir haben um diese Jahreszeit nichts, was man einem Gast anbieten könnte, nichts als dieses Moorhuhn - aber wir können bei diesem klaren Wetter kein Feuer machen, und ich bezweifle, dass Sie es roh essen mögen. Ich habe es gestern abend gefangen für den Fall, dass noch jemand anders aufgewacht ist und etwas zu essen braucht, leider umsonst ... aber lassen Sie mich überlegen: Ich hab' mir Ihren Rucksack genau angeschaut und einige Tüten und Tee gesehen. Wenn wir einige dieser Kerzen zu einem Bündel zusammenbinden, dann müssten wir doch einen kleinen Topf Wasser zum Kochen bringen können, oder? Ich denke, dass Ihnen kalt ist.« Während das alte Männchen sprach, hatte es sich schon an die Arbeit gemacht - geschäftig wie ein Heinzelmännchen: Es durchwühlte den Rucksack, holte Kerzen und Topf hervor, füllte ihn zur Hälfte mit Wasser aus Jennys Feldflasche, entzündete an der schon brennenden die übrigen Kerzen und improvisierte über dieser Feuerstelle eine Halterung für den Topf. So schnell, so geschickt ging das alles, dass es fast wieder komisch war; man glaubte eine Comic-Figur durch die Höhle sausen zu sehen. »Das wär's schon! Essen Sie ein paar Kekse, bis alles fertig ist, und ich werde mein Bestes tun, Ihre Fragen zu beantworten.«
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Jenny hatte die ganze Zeit wie hypnotisiert dagesessen, während ihr Entführer rumorte. Jetzt packte sie Tee, Zucker, Milchpulver, zwei Beutel Ochsenschwanzsuppe von Knorr und ein Päckchen Kekse aus. Sie war halb verhungert und beruhigte sich nun zusehends, als dieses Männchen sich mehr und mehr wie ein Dozent von Oxford oder Cambridge gebärdete, der umständlichhöflich einen Studenten in seinem Arbeitszimmer bewirtet. Sie hatte keineswegs vergessen, wie er sie mit der Gewalt einer Lokomotive den Moorpfad entlanggeschleppt hatte, aber sie verdrängte bereitwillig diese Erinnerung. »Was ist denn aus Ihrem Dialekt geworden? Gestern abend konnte man Sie kaum verstehen - oder sind Sie nicht derselbe, der mich hergebracht hat?« »Sicher bin ich derselbe. Wie ich schon sagte, außer mir schlafen noch alle.« Er warf einen recht unbehaglichen Blick über die Reihe der Betten. »Eigentlich wäre es jetzt höchste Zeit ... Aber so hatte ich ausreichend Gelegenheit, mein Englisch etwas aufzupolieren, um mit Ihnen in der Hochsprache reden zu können. Mit dem Radio hier war das nicht schwierig, wissen Sie ... Besser, wir schalten es jetzt aus, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, fügte er hinzu. »Batterien gibt es hier nur ... hin und wieder.« Ohne ein Wort schaltete Jenny das rote Radio aus. Sorgfältig verstaute er es an seinem Platz. Dann setzte er sich wieder auf den Hocker. Erwartungsvoll sah er sie an. Jenny schluckte einen halben Keks hinunter und sagte ungläubig: »Man kann sich doch nicht über Nacht einen Dialekt abgewöhnen und die Hochsprache lernen, nur indem man Radio hört? Das ist unmöglich!« »Für Sie natürlich, aber wir sind, was Sprachen betrifft, wirklich gut. Das ist etwas, auf das unsere Meister großen Wert legen.« Nun ging das schon wieder los, Jenny hielt es nicht aus; sie schloss die Augen und schluckte mehrmals, um die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Es musste sich eine Erklärung finden, dieser Alptraum musste aufhören, sonst konnte es geschehen, dass sie anfing zu schreien, ohne je wieder damit aufhören zu können. Sie konnte nicht einfach dasitzen und mit diesem Schneewittchenzwerg plaudern. Jenny Shepherd war ein Mensch, der das Gefühl haben musste, zu verstehen, was um ihn herum vorging; und verstehen heißt zu einem gewissen Grade doch, dass man die Dinge auch beherrscht. »Bitte«, flehte sie, »sagen Sie mir doch einfach, wer oder was Sie sind!« Sofort sprang das alte Männchen wieder auf. »Wenn Sie
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erlauben ...«, murmelte er entschuldigend und spähte wieder in Jennys Rucksack, der sich als wahre Schatzgrube zu erweisen schien. »Ich konnte unmöglich dieses kleine Buch übersehen, das Sie bei sich haben. Ich kenne es - ja, da ist es.« Er brachte das Taschenbuch zum Tisch, wo es hell genug zum Lesen war: der Dalesman-Führer zum Cleveland Way. Rasch hatte er die Seite gefunden, die er meinte, und reichte das Buch Jenny, die neugierig von ihrem Bett aufstand, um im Schein der Kerzen zu lesen: In der Gegend von Cleveland findet man eine reiche Überlieferung, die auf skandinavische Quellen zurückgeht und oft noch viel weiter. Vielleicht waren die Hobbs, diese seltsamen behaarten Zwerge, die bemerkenswerte Dinge vollbrachten, eine Art Erinnerung an jene Urbewohner der Moore, die teilweise noch bis in historische Zeiten dort anzutreffen waren. Zwischen 1814 und 1823 sammelte George Calvert die Sagen und Geschichten, an die sich die Älteren noch erinnern konnten. Er zählt dreiundzwanzig Hobbs auf, >von denen gemeinhin die Rede geht, dass sie noch in dieser Gegend leben<, darunter den berühmten Hobb von Farndale, Hodge Hobb von Bransdale, Tarn Hole Hobb, Hawnby Hobb und Hasty Bank Hobb. Doch ist auch seine Liste lückenhaft, denn es fehlen andere, an die man sich noch erinnerte, so Hobb Hole Hobb von Runswick, von dem es hieß, er könne den Keuchhusten heilen. Calvert stellte auch eine Liste von Hexen zusammen ... Das machte es nicht besser, ganz im Gegenteil! »Wollen Sie im Ernst behaupten, Sie seien ein Hobb?« stieß Jenny hervor, nun vollkommen verstört. Was war das für ein Alptraum, in den sie da geraten war? »Ein Hobb ... vielleicht noch ein Hobbit?« So sehr Jenny auch immer Tolkiens meisterlichen Roman geliebt hatte, die Vorstellung, eine Nacht in einer Hobbithöhle verbracht zu haben, war vollkommen absurd. Sie war hier nicht bei den Sieben Zwergen! Hobbits und Gnome waren Phantasiegestalten, gehörten nicht der wirklichen Welt an - und das war doch die Welt, in der Jenny zu leben vorzog. Das seltsame Wesen sah sie unverwandt an. »Ein Hobbit? Warum nicht? Ein Kobold, einer vom Elfenvolk? Noch besser - aber was die Frage angeht, ob wir tatsächlich Hobbs sind, so heißt die Antwort ja und nein zugleich.« Er nahm ihr das Buch aus der Hand und legte es auf den Tisch. »Setzen Sie sich, meine Liebe, und
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vergessen Sie nicht Ihre Decke ... Soll ich eingießen?« Inzwischen hatte das Wasser in dem kleinen Topf zu sprudeln begonnen. »Was meinen Sie mit ja und nein?« fragte Jenny etwas später, als sie mit einem Plastikbecher Tee in der Hand auf ihrem Bett saß und sich sagte: Versuch einfach, das Beste daraus zu machen! »Darf ich mir eine Tasse Tee nehmen? Es ist eine lange Geschichte«, sagte er, »und am besten fange ich ganz von vorn an. Ich heiße übrigens Elphi. Zumindest nannten mich die Leute in den Tälern so, und mit der Zeit hatte ich meinen richtigen Namen fast vergessen - und das ging uns allen hier so: Wir haben die Namen angenommen, die sie uns gaben, und wir haben auch ihre Sprache übernommen. Nun sprechen wir sie so gut, dass wir auch unter uns keine andere gebrauchen. Und die Wahrheit ist, ob Sie mir glauben oder nicht, dass meine Freunde und ich zur Besatzung eines Forschungsschiffs von einem anderen Stern gehörten. Das Schiff kam hierher, um Vorräte aufzunehmen, aber auch um Informationen zu sammeln. Wir wussten schon, dass es eine Lebensform auf diesem Planeten gibt, die imstande ist, die Naturgesetze zu erkennen und sich nutzbar zu machen. Das findet man oft, doch waren es auf meinem Heimatplaneten zwei Spezies, die diese Entwicklungsstufe erreichten, obwohl sie einander nicht ebenbürtig sind. Doch ordneten die Unterlegenen sich bereitwillig unter; unsere Meister, die Gafr sind physisch größer als wir und haben auch eine überlegene Taktik entwickelt, außerdem halten sie keinen Winterschlaf; dafür leben sie nicht so lange wie wir. Wir glauben, dass die Gafr schon seit Urzeiten mit uns zusammenleben, als beide Spezies eher noch Tiere als denkende Wesen waren, und schon damals waren sie unsere Herren. Unsere Entwicklung muss Hand in Hand mit ihrer gegangen sein - aber ihre Aufgabe war zu herrschen, unsere zu dienen. Und seit den Anfängen der Geschichte ist unser Schicksal mit ihrem eng verknüpft, denn wir sind uns gegenseitig von größtem Nutzen. Wir Hobbs haben großes Sprachtalent - und außerdem sind wir für unsere Größe sehr kräftig und in jeder Beziehung schneller, obwohl ich zugeben muss, dass wir nicht ganz so klug sind wie sie. Ich habe mir oft gesagt: Würden die Neandertaler hier auf der Erde bis heute überlebt haben, dann wäre das Verhältnis zwischen ihnen und euch vielleicht ganz ähnlich ... aber die Gafr sind keine so aggressive Rasse wie ihr und haben uns nie als Konkurrenten betrachtet. Dabei sind wir weit weniger miteinander verwandt als
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ihr und die Neandertaler ...« »Woher wissen Sie so gut über die Neandertaler Bescheid?« unterbrach ihn Jenny. »Durch das Radio natürlich! Der Rundfunk hält uns auf dem laufenden. Ohne ihn wären wir ziemlich arm dran, habe ich recht? Also, die Gafr haben die Raumschiffe konstruiert, und wir haben sie gebaut und auch die Besatzung gestellt. Sie müssen wissen, dass sie niemals schlecht zu uns sind. Weder wir noch sie können sich das Leben ohne den anderen vorstellen, nachdem wir ein ganzes Weltalter aufeinander angewiesen waren. Bis auf dieses eine Mal, an Bord unseres Schiffes. Einige von uns, den Grund kann ich hier nicht erklären, begehrten eines Tages auf und verlangten, dass wir an den Entscheidungen besser beteiligt würden. Nun, das ist etwa so, als würden eines Tages die Hirtenhunde in dieser Gegend von den Bauern verlangen, dass man ihnen von nun an eigene Herden überließe. Unsere Meister waren nicht weniger verblufft, als ein Bauer es wäre, wenn sein Hund plötzlich zu sprechen anfinge. Da kein Argumentieren und Drohen uns von unseren Forderungen abbringen konnte, beschlossen die Gafr, uns für eine Weile hier abzusetzen, damit wir die Sache überdenken konnten. Sie wollten nach einiger Zeit zurückkehren, wenn wir wohl herausgefunden hatten, wie wir ohne sie zurechtkamen. Das war vor etwas mehr als dreihundertundfünfzig Jahren.« Jenny, die gespannt zugehört hatte, saß nun mit offenem Mund da. Dann sagte sie: »Dreihundertfünfzig von euren Jahren, wollen Sie sagen?« »Nein, eure Jahre. Wir leben sehr lange. In euren Augen sehen wir schon alt aus, wenn wir noch ziemlich jung sind, aber inzwischen sind wir wirklich alt - und sehen auch so aus, fürchte ich. Nun gut, sie haben fünfzehn von uns hier in Yorkshire abgesetzt und ein gutes Dutzend andere irgendwo in Skandinavien. Ich frage mich oft, ob wohl einer von ihnen noch am Leben ist - oder ob das Schiff sie vielleicht abgeholt hat, uns aber nicht ... Es war Frühherbst; wir dachten, sie würden zurückkehren, bevor es Winter wurde, denn sie wissen ja, dass wir in Winterschlaf fallen, wenn es richtig kalt wird. Sie ließen uns ausreichend Vorräte da und verschwanden, und wir hatten tatsächlich eine Menge Zeit, um darüber nachzudenken, wie es sich ohne die Gafr lebte. O ja, was haben wir gewartet! Aber das Schiff kam nicht. Schnee fiel, blieb schließlich liegen, und wir mussten uns eine Höhle suchen.
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Und als wir im Frühling wieder erwachten, mussten wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass wir unwiderruflich hier gestrandet waren. Einige kamen zu dem Schluss, dass ein Leben in dieser fremden Umgebung ohne die Gafr, die ihnen sagten, was sie tun und denken sollten, nicht lebenswert war. Sie starben schon im ersten Jahr. Doch die übrigen zogen das Leben dem Sterben vor - und immer wieder sagten wir uns, dass das Schiff eines Tages zurückkehren würde. Als wir aus unserem ersten Winterschlaf erwachten, schrieb man das Jahr 1624. Damals waren die Hochmoore sehr viel unzugänglicher für den Rest der Welt. Die Dörfer waren durch einige wenige aufgeweichte Wege für die Pferdekarren verbunden. Kein Mensch gelangte hierher, den nicht seine Arbeit herführte oder der von einem Tal zum anderen unterwegs war: Bauern, Wilderer, die Steinträger, später auch Quäker ... Die Bauern kamen auf den schlammigen Wegen von ihren Höfen herauf, um Adlerfarn zu sammeln, für ihren Herd Torf zu stechen oder Heidekraut zum Anfeuern zu holen. Sie brannten das alte Heidekraut ab, um neue Weideflächen zu schaffen, und sammelten auch die angekohlten Strünke als Brennmaterial. Und im Spätsommer kamen sie wegen der Heidelbeeren, im Winter dann, um Heu für die Schafe auf die Weiden zu bringen, wie es manche heute noch tun. Aber von außerhalb kam niemand, keine Reiseroute, die hier durchführte, und die Einheimischen galten überall als unwissendes und abergläubisches Volk, das eben nichts kannte als diese gottverlassene Heide. Am Abend saß die ganze Familie um den Herd und erzählte sich die alten Geschichten. Und wir schlichen uns heran und spitzten die Ohren. Während jenes ersten Frühlings hier spähten wir einen Hof nach dem anderen aus; wir lernten die Sprache und überlegten, wie wir hier überleben konnten. Einige von uns wollten zu den Leuten gehen und ihnen unsere Geschichte erzählen; sie wollten sich bei ihnen verdingen - denn es wäre immerhin ein Trost, wieder einen Herrn zu haben. Andere dagegen waren der Meinung, dass das nicht nur vergebliche Mühe, sondern auch höchst gefährlich wäre: Denn man hätte uns nicht geglaubt, und die Kirche hätte dafür gesorgt, dass man uns als Teufelsbrut verfolgte. Aber wir sehnten uns so sehr nach Gesellschaft und einem Herrn, dem wir dienen konnten, dass wir trotz des Risikos um die Höfe herumlungerten und den Männern und Mägden bei der Arbeit zuschauten. Wir lernten sehr schnell, wie man melkt, Butter
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herstellt, wie man drischt und Heu macht, und nach und nach legten wir selbst Hand an, nachts, wenn alles schlief. Wir dienten einem Herrn, ohne dass er davon wusste. Wir sagten uns, dass die Bauern uns deswegen wohl nicht als Helfershelfer des Teufels betrachten würden. Es schien uns ein gerechter Handel zu sein: Wir droschen das Korn, dann füllten wir unsere Taschen mit Gerste und tranken das Schüsselchen Milch, das für die Katze vor der Haustür stand. Wenigstens dachten wir, dass es für die Katze gedacht war. Aber eines Abends hörte einer von uns, wie der Bauer zu seiner Frau sagte: >Vergiß nicht die Milch für den Hobb. Er hat über Nacht mehr geschafft als zwei Männer an einem ganzen Tag.< So erfuhren wir, dass die Leute Bescheid wussten, wer ihnen da half. Wir konnten unser Glück nicht fassen. Natürlich hatten wir alle die Geschichten von Hexen und Elfen gehört, abergläubisch wie die Leute damals waren, und hin und wieder erzählte jemand von kleinen Wesen, den Hobbs - halb Elfe, halb Kobold -, die manchmal freundlich und hilfsbereit waren, ein andermal neckisch und boshaft. Deshalb stellten sie eine Schale Milch vor die Tür, denn wenn sie es vergaßen, dann würde der Hobb seinen Schabernack mit ihnen treiben, anstatt sich erkenntlich zu zeigen.« »Das war auch in Skandinavien ein weitverbreiteter Brauch - eine Schüssel Haferbrei für den tomte hinauszustellen«, warf Jenny ein. »Ach ja? Schön ... sicher haben sich die Katzen und Füchse über die Milch gefreut, bevor wir kamen. Also, wir schnappten begierig alles auf, was uns über die Hobbs zu Ohren kam, und je mehr wir hörten, desto besser wussten wir, was wir zu tun hatten. Wir hatten verdammtes Glück, dass wir in diese Rolle paßten. Wir ähnelten den Menschen, obwohl wir genausogut auf allen vieren wie auf zwei Beinen gehen können; wir waren auch damals kleiner als die meisten Menschen, obwohl sie nicht so groß waren wie heute. Das bedeutete, dass es nicht so schlimm war, wenn wir zufällig einmal gesehen wurden: Das war sehr wichtig. Es hatte in dieser Gegend lange Zeit nicht viel über die guten Taten der Zwerge zu berichten gegeben, so wurden die Menschen immer neugieriger und stellten uns nun ihrerseits nach - aber ich will nicht vorgreifen. Nach einigen Jahren hatten wir uns über alle Täler ausgebreitet. Bestimmte Höfe, bestimmte Plätze wurden als verwunschen bezeichnet, weil dort der Sage nach ein Hobb hauste; mit der Zeit fanden wir heraus, wo das war, und einer von uns machte sich dann auf, um dort zu wohnen und sich gemäß der Überlieferung zu verhalten. Nicht alle von uns taten das, manche fanden einen Hof,
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der ihnen gefiel und machten ihn zu ihrem Revier. Aber was die alten Sagen angeht, so glaubten die Leute beispielsweise, dass ein Zwerg mit Namen Hobb Hole Hobb, der in einer Höhle an der Küste bei Runswick lebte, den Keuchhusten heilen könnte, also ging einer von uns dorthin, um Hobb Hole Hobb zu spielen, und die Mütter brachten ihre kranken Kleinen und riefen nach ihm, dass er sie gesundmachen solle. Und er tat, was er konnte.« »Und was konnte er wirklich?« »Nicht übermäßig viel, aber mehr als gar nichts. Er erreichte, dass das Kind sich besser fühlte, und das war ein Schritt auf dem Weg zur Heilung, wenn es nicht schon zu krank war.« »Durch Kräuter und Zaubertränke?« »Nein, nicht doch - allein durch Suggestion. Einfach, aber wirksam, o ja! Es gab auch eine Sage von einem Hobb in Farndale, einer von der neckischen Sorte, und es schien uns, als sollten wir diese Seite unseres Charakters nicht vernachlässigen; deshalb schickten wir von Zeit zu Zeit einen der unsrigen dorthin, damit er heimlich die Kühe aus dem Stall trieb, die Milch verschüttete oder einen Karren auf dem Scheunendach deponierte und sonst auf jede erdenkliche Weise lästig fiel. So hielten wir den alten Glauben am Leben. Es hätte nicht funktioniert, wenn wir die Leute hätten glauben machen wollen, alle Hobbs wären mit einem Mal gutmütig und fromm wie Lämmer geworden, so gut kannten wir die Menschen. Die Leute in den Tälern pflegten zu sagen: >Dem Zwerg zu geben bringt dir Glück, doch gibt er nicht in jedem Fall auch dir zurück!< Wir wollten, dass sie auch weiter so dachten. Doch wir mochten die Menschen, denen wir dienten, obwohl die Gafr und die Leute in dieser Gegend doch sehr verschieden waren. Die Bauern in Yorkshire waren zu jener Zeit so etwas wie das Salz der Erde. Sie waren uns gute Herren, und wir dienten ihnen nahezu zweihundert Jahre lang.« Jenny räkelte sich behaglich und beugte sich näher zu Elphi; die Geschichte fesselte sie. »Haben Sie jemals mit Menschen gesprochen, von Angesicht zu Angesicht? Haben Sie je Freunde unter den Menschen gehabt, denen Sie schließlich die Wahrheit gesagt haben?« »Nein, meine Liebe. Wir hatten keine Freunde unter den Menschen, obwohl wir uns einigen wenigen tatsächlich zeigten. Wir sprachen auch nur selten mit Menschen. Wir waren der Meinung, dass es für uns lebenswichtig sei, in ihren Augen einer fremden, geheimnisvollen Welt anzugehören dem Reich des
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Übersinnlichen. Aber hin und wieder gab es schon Begegnungen. Ich werde Ihnen von einem dieser Vorfälle erzählen. Viele, viele Jahre wohnte ich dort, wo der Sage nach Hobb Garth zu Hause war, nicht weit vom Great Fryup Dale, auf dem Gut einer Familie namens Stonehouse. Dort gab es einmal einen Thomas Stonehouse, der Schafe hielt. Nun, ich rede von der Zeit so um 1760 herum, und Tommy kam, nachdem er sich jahrelang abgemüht hatte, endlich ein bißchen voran. Aus irgendeinem Grund zerstritt er sich mit einem Nachbarn, der Matthew Bland hieß und ein übler Kerl war. Eines Nachts sah ich Bland heranschleichen, ein Loch in die Umzäunung reißen und Tommys Schafe heraustreiben. Tommy war den ganzen folgenden Tag im Regen unterwegs, um die Tiere aufzusammeln, aber er hatte wenig Glück; er fand nur fünf seiner vierzig Schafe. Und ich sagte mir: Das ist ein Job für den Hobb! Am nächsten Morgen waren alle vierzig Schafe wieder im Pferch, und der Zaun war mit neuen Pfosten und Brettern geflickt. Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte: Als ich hörte, dass Tommy mit einer Erkältung im Bett lag und so über jeden Verdacht erhaben war, kam ich herbeigehuscht und ließ die Rinder von Bland laufen. Endlich konnte ich einmal ein boshafter Zwerg sein! Der alte Bland war vierzehn Tage lang damit beschäftigt, die Tiere einzusammeln. Und natürlich hatte Tommy zu dieser Zeit mit Fieber und Schüttelfrost im Bett gelegen, und jedermann wusste es; aber Bland kam erneut, riß die neuen Pfosten wieder um, damit die Schafe davonliefen - so wütend war er, dass er einfach irgend etwas tun musste. Da Tommy noch immer zu krank war, um sich selbst um die Schafe zu kümmern, kamen die Nachbarn, um sie für ihn einzutreiben. Aber die meisten waren auf die Höhen gelaufen, wo ein so dichter Nebel lag, wie wir ihn gestern erlebt haben: Keines wurde gefunden. Aber natürlich sammelte der gute Zwerg sie in der Nacht ein und trieb sie nach Hause, wo er den Zaun ein weiteres Mal ausbesserte. Vergessen Sie nicht, meine Liebe, dass Kunststückchen dieser Art, die den Bauern als Wunder erschienen, für uns einfach sind, denn wir können nachts sehr gut sehen, und bei der niedrigen Schwerkraft hier haben wir Bärenkräfte. Nun, vier von Tommys Schafen waren im Nebel in einen Steinbruch gestürzt und hatten sich das Genick gebrochen; sie waren unwiederbringlich verloren. Sobald er einigermaßen bei Kräften war, ging er hinaus aufs Feld, um zu sehen, was von seiner Herde übrig war, und um Heu zu machen für seine Tiere - es war zu
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Beginn des Frühlings, ich erinnere mich noch sehr gut daran. Damals waren wir etwas früher als gewöhnlich aufgewacht. Ich hatte Tommy aufbrechen sehen und folgte ihm. Und als ich merkte, wie sehr ihn der Verlust der vier Tiere bekümmerte, da sprach ich ihn auf der Straße an und sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen, das mit den Schafen würde in Ordnung gehen, er werde schon sehen, wenn die Zeit zum Werfen käme - denn ich wusste, dass die meisten Muttertiere Zwillinge trugen. Er hielt mich für irgendein altes Männchen, das wohl nicht ganz richtig im Kopf war. Aber später, als alles so geschah, wie ich gesagt hatte, war die Geschichte in aller Munde - und es hieß auch, dass es Matthew Bland nichts bringen würde, Tommy Stonehouse Streiche zu spielen, denn der Hobb war sein Freund, und wenn der Hobb wiedergibt ... Es war wirklich ein Glück, dass wir damals so früh aufgewacht waren. Aber dass wir einen Bauern so direkt ansprachen, war wirklich selten. Häufiger kam es vor, dass die Leute ihrerseits den Kontakt suchten und verstohlen aus dem Hause schlüpften, um uns bei der Arbeit zu belauschen. Oder man kam, um uns wegen einer Erkrankung um Hilfe zu bitten. Es gab zum Beispiel eine Geschichte von einem Hobb, der in einer Höhle in den Wäldern von Mulgrave hausen sollte. Die Leute streckten ihre Köpfe in das dunkle Loch und riefen, »Hobthrush, Hobthrush, wo bist du?<, und erwarteten, dass der Zwerg ihnen antwortete: >Ich bind' mir grad' den linken Schuh und bin bei dir - im Nu!< Nun, so weit wollten wir doch nicht gehen, aber von Zeit zu Zeit schlüpfte einer von uns in die Höhle, um etwas zurückrufen zu können, wenn jemand vorbeikam. Meistens waren es Kinder. Eigentlich hatten die Leute vor den Hobbs keine Angst. Aber, wie ich schon sagte, wir hielten es für angebracht, den Glauben an unsere Zugehörigkeit zum Elfenvolk zu unterstützen. Da gab es so einen alten Kerl. Gray hieß er, der drüben in Bransdale seinen Hof hatte; er hatte ein zweites Mal geheiratet, und diese Frau vergaß, am Abend die Schale Milch vor die Tür zu stellen. Und Hodge Hobb, der dieser Familie seit Generationen schon zur Seite gestanden hatte, zog sich zurück und kam niemals wieder auf diesen Hof. Eine andere Familie, die Oughtreds, auf einem Gut in der Nähe von Upleatham, verlor ihren Hobb, weil er starb. Das war Hobb Hill Hobb, der sich bei einem Fehltritt in einem Grubenschacht zu Tode stürzte; es war der erste Todesfall seit jenem schlimmen ersten Jahr. Kempswithen hörte, wie die Oughtreds die Sache besprachen, es musste doch einen Grund
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geben, warum ihr Hobb gegangen war - und sie kamen zu dem Schluss, dass es daran liegen müsse, dass einer der Arbeiter seine Jacke an die Worfelmaschine gehängt und sie dort vergessen hatte: Der Zwerg hatte geglaubt, dass das ihm galt, und jedermann wusste doch, dass man denen vom Elfenvolk keine Kleider anbieten darf, weil sie das als Beleidigung betrachteten. Nun gut, wir hatten schon überlegt, ob nicht ein anderer von uns zu jenem Hof gehen und dort leben sollte, aber so ließen wir das besser sein. Und als die neue Magd drüben in Hart Hill dem Hobb nachspürte und eines Nachts sah, wie er ohne einen einzigen Fetzen auf dem Leib das Getreide drosch, nähte sie ihm ein Hemd und ließ es in der Scheune liegen. Da wussten wir, dass es auch hier Zeit zum Rückzug war. Es war ganz lustig, wie man sich auf Hart Hill den Kopf zerbrach: War der Hobb beleidigt, weil er ein Hemd bekommen sollte oder weil es aus grobem Tuch anstatt aus feinem Leinen war? Das haben wir alles mitbekommen, denn sie haben sich monatelang mit dieser Frage beschäftigt. Das Mädchen wurde entlassen. Wir versuchten den Leuten bei all diesen Gelegenheiten klarzumachen, dass man den Hobb nicht beleidigen und nicht stören durfte, und das bewährte sich sehr gut. So ließ es sich aushalten, auch wenn wir noch immer auf Rettung hofften. Wir lebten überall hier, in allen Tälern, im Norden wie im Süden. Und hin und wieder tauchten wir auch an den anderen Orten auf, die man mit Hobbs in Verbindung brachte, wie der Mulgrave-Höhle und Obtrush Rook oberhalb Farndale. Das war kein übles Leben. Aber eines schönen Tages wurde alles anders. Das ist nun vielleicht hundertfünfzig Jahre her. Schwer zu sagen, was genau passierte, aber mehr und mehr verloren die Menschen den Glauben an das Wunderbare, vertrauten immer weniger dem, was Großvater erzählte, der die Elfen auf der Hochebene von Fairy Cross mit eigenen Augen hatte tanzen sehen, waren auch keineswegs mehr überzeugt, dass bei Obtrush Rook ein Zwerg hauste. Und allmählich wurde auch uns klar, dass das Zwergspielen nicht mehr so ungefährlich wie früher war. Sogar in dieser Gegend gab es nun Leute, die den Dingen auf den Grund zu gehen suchten, und sie waren durchaus geneigt, ganz unverfroren ihre Nase auch in unsere Angelegenheiten zu stecken. So begann ein langsamer, aber stetiger Rückzug aus der Welt der Menschen. Obwohl wir nicht länger befürchten mussten, als Satansbrut verfolgt zu werden, war unsere Taktik, im Verborgenen zu bleiben, so lange erfolgreich gewesen, dass wir sie nicht
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aufgeben wollten. Aber zum ersten Mal seit langem ertappten wir uns wieder öfter bei dem Gedanken an das Schiff und machten uns Hoffnungen, dass es doch noch zurückkehrte. Aber ich fürchte, dass das Schiff verlorengegangen ist, und ich sage Ihnen auch, warum ich das glaube. Die Gafr haben eine Technik entwickelt, die es ermöglicht, in die Vergangenheit zu blicken. Es ist wie ein Fenster; man bringt es an einen bestimmten Ort, und wenn man durch dieses Fenster blickt, kann man alles sehen, was an diesem Ort je geschehen ist. Und wen immer man durch dieses Fenster beobachtet, der kann auch von der anderen Seite herüberblicken. Das ist der Clou, meine Liebe. Es ist eine teure Angelegenheit, aber nicht ganz so schlimm ist es, wenn man nur in die jüngste Vergangenheit blickt, und deshalb hätten sie längst ein solches Zeitfenster benutzt, um nach uns zu sehen, wenn sie je zurückgekehrt wären. Seit wir hier gelandet sind, hat es keinen Tag gegeben, an dem sich nicht einer von uns an der Stelle, wo man uns abgesetzt hat, umschaute, damit wir auf keinen Fall das Fenster übersehen, wenn sie mit uns Kontakt aufnehmen wollen. > ... wurden leider aufgehalten stop kommen in spätestens dreihundertsiebzig Jahren stop bis bald!< Nein, kein Telegramm - ein vertrautes Gesicht würde man sehen, ein Gesicht in einem Fenster, das aus der Zukunft zu uns spricht. Eben ein Zeitfenster! Aber es kam keine Botschaft, und wir zogen uns allmählich aus den Tälern in die Hochmoore zurück; wir hausten in den Höhlen, die wir schon immer für den Winterschlaf benutzt hatten, und richteten uns darauf ein, ausschließlich hier oben zu leben. Wir lernten Moorhühner und Hasen zu fangen, sammelten Eier und Beeren, anstatt uns an den Vorräten der Bauern zu bedienen. Oh, wir sind gute Jäger, und wir liebten die Moore schon immer, aber es war trotzdem eine harte, schwierige Zeit - als wären wir ein zweites Mal in die Verbannung geschickt worden. Ich erinnere mich, wie ich einmal ein Schaf melkte, weil ich etwas Milch haben wollte - bis mir klar wurde, dass es nicht die Milch war, was ich mir wünschte, sondern die übliche Schale Milch vor der Haustür als Anerkennung für meine Dienste. Ich vermisste den Herrn, dem ich dienen konnte und der zu schätzen wusste, was ich für ihn tat. Aber es kamen noch schlimmere Zeiten. Es gibt Gruben in den Mooren, so lange es hier Menschen gibt; aber bald nachdem wir uns in die Moore geflüchtet hatten, begann man in Rosedale in großem Maßstab Eisenerz zu schürfen, und sie
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bauten eine Eisenbahn über die Berge von Rosedale und Farndale, um es hinunter zum Güterbahnhof von Battersby zu schaffen. Wahrscheinlich kennen Sie diese Route, denn heute ist sie nur noch ein Fußweg, der Teil des Lyke Wake Walk ist. Aber in der Mitte des letzten Jahrhunderts strömten die Menschen geradezu in die Hochmoore, um die Bahn zu bauen. Einige wohnten hier sogar in eigens errichteten Hütten, solange gebaut wurde. Und noch mehr Menschen strömten herbei, um in den Gruben von Rosedale zu arbeiten. Es war vorbei mit unserer Ruhe, und ständig waren wir in Gefahr, entdeckt zu werden. Das war die Zeit, als wir anfingen, uns mit Schaffellen zu tarnen, wenn wir tagsüber draußen waren. Es war Kempswithens Idee, er war ein cleverer Bursche. Die Felle aufzutreiben war nicht schwierig; es kommt oft genug vor, dass ein Schaf aus ganz natürlicher Ursache ums Leben kommt, und es ist auch einfach, sie zu töten, obwohl wir nie mehr als ein Schaf aus der Herde eines Bauern töteten. Es fiel uns schwer, so die Leute zu bestehlen, aber was hätten wir machen sollen? Ohne die Möglichkeit, sich auch am Tag frei bewegen zu können, wären wir verloren gewesen. Dieser Trick funktionierte sehr gut, denn fast alle Gruben- und Eisenbahnarbeiter kamen von außerhalb und kümmerten sich nicht um herumlaufende Schafe, außerdem waren wir sehr vorsichtig. Aber der Lärm, der Rauch, die Unruhe - all das trieb uns in die Flucht, bis kein Hobb mehr an den alten, überlieferten Orten zu finden war. In die ödesten Gegenden der Moore gingen wir und setzten unsere ganze Energie ein, um nur zu überleben. Es war eine trostlose Zeit. Und kaum waren die Erzlager erschöpft, die Eisenbahn wieder abgebaut, da begann der Zweite Weltkrieg, und im Rudland Rigg oberhalb Farndale übte die Armee. Panzer dröhnten über Obtrush Rook und walzten alles platt, und nicht anders war es im Fylingdales-Moor, wohin wir vor den Bergleuten und der Eisenbahn geflüchtet waren.« »Fylingdales, wo jetzt die Frühwarnstation errichtet wurde?« »Ja. Während des Kriegs schafften es ein paar Flugzeuge bis hierher, und auf einige der Dörfer fielen Bomben. Wir haben das meiste davon verschlafen, glücklicherweise - es war um diese Zeit, dass wir diese Höhle fanden, eine alte Kohlengrube, zu der uns ein Fuchsloch führte. Aber es war kein erholsamer Schlaf. Das Schlimmste war, dass wir keinen Herrn hatten, dem wir uns nützlich erweisen konnten - das machte uns tatsächlich krank, und wir alterten zusehends. Zwei von uns starben noch vor Ende des Kriegs, ein dritter bald darauf. Und noch immer ließ das Schiff auf
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sich warten.« Eine Frage quälte Jenny, die sie endlich loswerden musste. »Aber warum habt ihr euch nicht fortgepflanzt? Hättet ihr Nachwuchs gehabt, dann wäre vielleicht eine lebensfähige Gemeinschaft entstanden. Dann verliert man nicht so leicht den Mut!« »Nein, meine Liebe. Nicht auf diesem Planeten. Das war nicht möglich, das wussten wir von Anfang an.« »Warum war es unmöglich?« Aber Elphi schüttelte sehr bestimmt den Kopf; das war ein Thema, über das er offensichtlich nicht reden wollte. Vielleicht schmerzte es so sehr. »Nun gut, dann seid ihr also noch acht?« »Sieben«, sagte Elphi. »Als ich gestern aufwachte, sah ich, dass Woof Howe tot war. Dass ich Ihnen so einfach in die Arme gelaufen bin, kam daher, dass ich mir den Kopf darüber zerbrochen habe, was wir mit der Leiche anfangen sollen.« Jenny warf einen erschrockenen Blick über die Reihe von Betten; sie fragte sich, in welchem wohl eine Leiche lag. Aber etwas anderes beunruhigte sie noch mehr. »Soll das heißen, dass man in den letzten hundertfünfzig Jahren nie einen von euch überraschte, als er unaufmerksam war - bis auf dieses eine Mal, gestern?« Elphi lächelte. »O nein, meine Liebe; der eine oder andere von uns hat sich schon einmal ertappen lassen, das ist sicher ein dutzendmal geschehen, besonders seit der Zeit, als man die Gruben in Rosedale auszubeuten begann. Eine ganze Reihe von Leuten hat schon hier gesessen, wo Sie jetzt sitzen, und zugehört, so wie Sie auch. Und sie haben dieselbe Geschichte gehört, die ich Ihnen jetzt erzählte. O ja, das können Sie mir glauben! Einmal haben wir acht Menschen gerettet, deren Zug in einer Schneewehe steckengeblieben war, und mehr als einen Wanderer haben wir aufgelesen, der sich schon im letzten Stadium der Unterkühlung befand - und dazu kommen noch jene, von denen wir uns überrumpeln ließen.« Die Augen in dem Greisengesicht, wie Inseln zwischen den Strähnen aus weißem Haar, blickten sie forschend an. Jennys Befürchtungen wuchsen. »Und keiner von ihnen hat je davon berichtet? Das kann ich nicht glauben.« »Meine Liebe, keiner von ihnen hat auch nur den Funken einer Erinnerung daran behalten! Würden wir denn so viel Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, um im Verborgenen leben zu können, nur um dann jedem Fremden, der uns über den Weg läuft, unsere Geschichte in aller Breite zu erzählen? Doch sicher nicht.
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Es vertreibt die Zeit, unterhält unsere Gäste - aber alle vergessen sie, was sie hier erlebt haben. Auch Sie werden es vergessen, das dürfen Sie mir glauben, doch wird Ihnen kein Haar gekrümmt werden. Ihr einziges Problem wird sein, dass Sie sich wundern werden, was nur aus diesem Tag Ihres Lebens geworden ist.« Jenny hatte ihre Notration bis auf den letzten Krümel aufgegessen und lag unter ihr Schaffell gekuschelt. Beim Schein einer neuen Kerze wartete sie auf Elphi, der bald zurückkommen musste. Er hatte ihr nicht erlaubt, nach oben zu klettern und ihre trockenen Kleider zu holen. »Tut mir leid, meine Liebe, aber heute haben wir keinen Nebel. Wenn Sie diesen Ort je Wiedersehen würden, dann würden Sie ihn auch erkennen - außerdem macht es mir nicht das geringste aus, das alles für Sie zu besorgen.« Also wartete sie, gefangen hinter dem schweren Stein, der den Eingang verschloss, und überlegte verzweifelt, wie sie Elphi davon abbringen konnte, ihr die Erinnerung an dieses Abenteuer zu rauben. Ihm zu versprechen, niemals auch nur ein Sterbenswörtchen verlauten zu lassen, hatte nichts bewirkt. (»Das versprechen sie alle, aber wie könnten wir dieses Risiko eingehen? Versetzen Sie sich in meine Lage!« Sie zermarterte ihr Hirn: Was könnte sie ihm anbieten, damit er im Austausch dafür ihr die Erinnerung ließe? Nichts, gar nichts fiel ihr ein. Das, was sich die Hobbs wünschten eine andere Gesellschaftsordnung auf diesem Planeten, das GafrSchiff, das sie abholte, das Yorkshire, wie es drei Jahrhunderte zuvor gewesen war -, all das lag nicht in ihrer Macht. Jenny musste feststellen, dass sie Elphis Geschichte glaubte. Sie glaubte ihm, dass er von einem anderen Planeten stammte, dass er ihr nichts tun würde und dass er in der Lage war, ihr Gedächtnis zu manipulieren - so mühelos, wie sie selbst eine Schiefertafel mit einem feuchten Tuch blankwischen konnte. Die Macht der Suggestion. Je mehr er erzählte, desto mehr war sie überzeugt, dass er die Wahrheit sagte; bald hatte diese Überzeugung Angst und Skepsis besiegt. Daran war nichts auszusetzen, es war besser, als befürchten zu müssen, unwiderruflich verrückt geworden zu sein. Und plötzlich hatte sie eine Idee. Sie sprang aus dem Bett, huschte über den Steinboden zu ihrem Rucksack und wühlte wild in einer der Taschen. Kaum einige Sekunden, nachdem sie wieder unter das Schaffell geschlüpft war und dalag, wie Elphi sie verlassen hatte, kam er die Leiter hinunter.
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Das alte Männchen ließ in einer Hand das Eimerchen für ihre Notdurft baumeln, in der Beuge des anderen Arms hielt er ihre Kleider; diesmal ließ er den Eingang der Höhle offen, so dass Licht und Kälte eindrangen. Das Brausen des Windes war zu hören. Er trug wieder sein Schaffell. »Wird Zeit, dass sie sich anziehen, denke ich - wir wollen Sie zur gleichen Tageszeit an derselben Stelle des Wegs wieder abliefern.« Er ließ den Blick besorgt über die Betten gleiten und schien dabei zu seufzen. Jennys Cordhose und die Wollsocken waren so gut wie trocken, ihre Pullover, die langen Unterhosen und die Stiefel noch etwas feucht. Sie wickelte sich aus dem Schaffell und machte sich daran, sich anzuziehen. »Da ist noch etwas, was ich gern wüßte«, sagte sie. »Wie kommt es, dass ein Hobb so einfach den Hof verlassen kann, auf dem er hundert Jahre gelebt und gearbeitet hat?« Elphi sah sie aus seinen glanzlosen Augen milde an. »Uns geht es um das Dienen an sich, verstehen Sie? Es gab ja immer noch andere Bauern, die einen heimlichen Helfer brauchen konnten. Dass wir das Leben in den Tälern ganz und gar aufgeben mussten, das hat uns schon bekümmert.« Das hieß doch, dass ihnen die Leute, denen sie dienten, im Grunde gleichgültig waren. Was sie taten, taten sie nicht aus Freundschaft; vielleicht kannten sie dieses Gefühl nicht einmal. Hatte er das nicht früher gesagt? »Warum laßt ihr nicht einfach das Versteckspiel? Zeigt euch doch den Menschen! Was würden die Leute nicht alles geben, um von eurer Existenz zu wissen!« Elphi schien das gleichermaßen zu belustigen und traurig zu machen. »Nein, meine Liebe. Das sollten Sie vergessen. Erstens müssen wir hierbleiben und warten, ob das Schiff zurückkehrt, solange noch einer von uns am Leben ist. Zweitens lieben wir diese Moore und möchten sie nicht verlassen. Drittens - wir haben hier auf der Erde so lange im Verborgenen gelebt, dass wir gar nicht mehr anders können, dazu sind wir zu alt. Und viertens würden die Menschen, uns nie mehr in Ruhe lassen. Das wissen Sie sehr gut.« Damit hatte er recht; mit der Ruhe wäre es vorbei, selbst wenn man für die anderen Punkte eine zufriedenstellende Lösung fand. Jenny selbst ging es ja nicht anders, auch sie war nicht willens, ihn in Ruhe zu lassen. Es hatte keinen Sinn. Als sie sich zur Leiter wandte, hielt sie der alte Hobb am Arm fest. »Ich fürchte, Sie werden das hier überziehen müssen«, sagte er entschuldigend. »Sie werden noch etwas sehen können, aber nicht so viel, als dass sie den Ort wiedererkennen werden.« Bei diesen Worten hatte er die Arme gehoben und ließ nun eine
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Kapuzenmaske über ihren Kopf fallen, die er um den Hals locker zusammenschnürte. »Zuletzt musste ein Ladenbesitzer aus Bristol das tragen. Er hat mehr gesehen, als er sehen durfte, und war an einem schönen Sommernachmittag unser Gast.« »Wann war das? Letzten Sommer?« »Zwischen den beiden Kriegen, meine Liebe.« Jenny war gehorsam stehengeblieben, bis er die Kapuze befestigt hatte. Als er beiseite trat, fragte sie durch das grobgewebte Tuch: »Wer ist denn der Tote?« Stille. Dann: »Woof Howe Hobb.« »Was werdet ihr mit ihm anfangen?« »Ich weiß es noch nicht ... Ich habe gehofft, dass die anderen bald aufwachen, aber der Geruch ... Es stört mich so sehr, dass ich nicht länger warten kann. Ich glaube nicht, dass Sie es schon riechen können.« »Kann man sie nicht einfach wecken?« »Nein, sie müssen von allein aufwachen.« Jenny holte tief Luft. »Warum lassen Sie mich nicht helfen, wenn sonst keiner da ist?« Nun folgte eine wirklich lange Pause, und Jenny schöpfte Hoffnung. Aber schließlich sagte Elphi: »Sie können mir helfen, darüber nachzudenken, während wir gehen. Ich gebe zu, dass ich für einen brauchbaren Ratschlag sehr dankbar wäre, aber ich muss Sie bis zum späten Nachmittag zu jenem Weg gebracht haben.« Und damit schob er sie vor sich her die Leiter hinauf. Draußen vor der Höhle konnte man unmöglich reden. Nach der Totenstille zuvor erschien ihr der unablässig auf sie einstürmende Wind betäubend laut. Diesmal trug Jenny ihren Rucksack selber, und mit der Kapuze über dem Gesicht nahm sie allein schon das Gehen völlig in Anspruch; sie war es müde, weiter mit Elphi zu diskutieren. Es dauerte eine ganze Zeit, bis Elphi sagte, dass sie die Kapuze abnehmen könne. Sie sollten ein paar Minuten verschnaufen. Es gab nichts, worauf man sich setzen konnte, nur Heidekraut und Blaubeersträucher, weshalb Jenny ihren Rucksack abnahm und sich auf ihn hockte; sie wünschte, sie hätte nicht ihren ganzen Proviant schon aufgegessen. Es war ein schöner Tag; die tiefstehende Sonne stand völlig klar über der buschigen, schneebedeckten Heidelandschaft, der Himmel war blau und weit, dass man auch die fernen Hügelketten noch deutlich unterscheiden konnte. Elphi lief eine Strecke voraus, um sich umzusehen. Nur Rücken
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und Kopf ragten aus dem Gebüsch, und aus einiger Entfernung glaubte man wirklich ein Schaf zu sehen, so erstaunlich gut ahmte er auch dessen Bewegungen nach. Sie sagte es ihm, als er zurückkam. »O ja, es ist eine gute Tarnung, das hat sich oft gezeigt. Und wir konnten uns damit eine Menge Ärger ersparen. Aber man kann die Bauern hier nicht so leicht täuschen. Sie kennen ihre eigene Herde genau, sie wissen, wo sie gerade weidet und wo die anderen Herden sind. Die Tiere entfernen sich nicht weit vom angestammten Platz. Deshalb müssen wir auf einer bestimmten Route etwa ein Fell mit einer blauen Markierung an der linken Seite tragen, auf einem anderen Gang eines mit einem roten Fleck an der Schulter - sonst würden wir auffallen, und das ist das letzte, was wir wollen.« »Tot oder lebendig«, meinte Jenny vielsagend. Er sah sie scharf an. »Ist Ihnen etwas eingefallen?« »Ja ... Könnte man die Leiche nicht in diesen vielen verlassenen Gruben und Steinbrüchen verstecken? Unter einem Haufen Geröll etwa?« Elphi sagte: »Man interessiert sich heute wieder für die alten Erzgruben. Wir haben das schon verworfen, als Kempswithen starb.« »Was habt ihr mit ihm gemacht? Sie haben es mir nicht gesagt.« »Nichts, was wir noch einmal machen wollen.« Es schien, als schauderte Elphi. »Ist es nicht so«, sagte Jenny langsam, »dass es hier im Frühling leicht brennt? Da war eine Warntafel am Bahnhof, wie gefährlich das sei und dass das Torf wochenlang brennen würde, wenn es sich erst mal entzündet hat.« »Das können wir nicht machen!« Er war ehrlich erschrocken. »Nein, so ein Brand ist eine schreckliche Sache! Auf dem verbrannten Boden würde fünfzig Jahre lang und länger nichts mehr wachsen.« »Aber man brennt doch von Zeit zu Zeit die alte Heide ab, das haben Sie mir selber gesagt.« »Das ist ein kontrolliertes Abbrennen, unter ständiger Beobachtung.« »Oh.« Eine Zeitlang saßen sie schweigend da, während Jenny nachdachte und Elphi geduldig wartete. »Aber wie wär's damit: Ich weiß, dass man eine Menge Skelettreste von ausgestorbenen Tieren in einer Höhle irgendwo am Rand des Parks gefunden hat, aber noch nie hat man dergleichen aus einem Moortümpel gefischt, weil die Säure im Schlamm alles zerfrißt. Ich hab' einen
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wissenschaftlichen Artikel darüber gelesen. Könntet ihr euren Freund nicht in einem Sumpfloch versenken?« Elphi schien sehr interessiert zu sein. »Ja ... Das könnte gehen. Niemand sticht mehr Torf bis in die Tiefe, und in den Sümpfen lohnt sich auch das Weiden nicht. Die Wanderer machen einen Bogen darum. Die einzigen Leute, die sich für die Sumpfteiche interessieren, kommen wegen der Wildblumen, und dafür ist es jetzt noch zu früh.« »Gibt es nicht auch im umzäunten Gelände von Fylingdales, das man nicht betreten darf, Sumpfteiche?« Elphi stöhnte leise und wiegte den Kopf. »Ach je, Woof Howe konnte diese öde Gegend nicht ausstehen. Aber die Blumen hätten ihm gefallen.« »Hat man nicht kürzlich innerhalb des Sperrgebiets einige seltene Pflanzen gefunden, weil sie dort nicht abgeweidet werden können?« »Nun, das ist richtig«, sagte Elphi vor sich hin. »Ich habe davon reden hören. Man wird die Stelle, wo die Andromeda wächst und noch eine andere Art der Rosmarinheide in Ruhe lassen.« Er sah nach der Sonne. »Schön, Sie haben mir sehr geholfen, meine Liebe. Und nun sollten wir es zu Ende bringen. Es ist höchste Zeit. Es wäre mir auch recht, wenn Sie die Karte zur Hand nehmen und Ihr Regentuch überziehen würden.« »Mein was?« »Dieses grüne Ding mit der Kapuze, das Sie über allem ändern getragen haben, als ich Sie traf.« »Ach, der Poncho.« Sie suchte ihn heraus, hob dann den Rucksack und schwang ihn über die Schulter. Sie klinkte die Gurte ein und brachte es fertig, den Poncho überzuwerfen und ganz auszubreiten, dass er auch den Rucksack bedeckte, obwohl der Wind daran zerrte. Das alles dauerte seine Zeit, und als sie schließlich die Druckknöpfe an den Seiten zusammengeheftet hatte, da war Elphi ziemlich nervös geworden und trat von einem Bein aufs andere. Jetzt stand sie ihm gegenüber und sah ihm in die Augen. Der Wind blies ihr ins Gesicht. »Wenn ich dazu beigetragen habe, euer Problem zu lösen, wie wär's dann, wenn Sie mir bei meinem Problem auch helfen würden?« »Und das wäre?« »Ich möchte, was ich hier erlebt habe, nicht vergessen; und ich möchte zurückkommen und Sie Wiedersehen.« Das war zu viel für Elphi. Er stöhnte und wackelte mit dem Kopf. Unvermittelt fasste er sich und richtete sich zu voller Größe auf.
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»Wollen Sie mich zwingen, zu lügen? Was Sie wünschen, kann unmöglich sein. Ich habe es Ihnen erklärt.« »Ich schwöre, dass ich niemandem etwas sagen werde, kein einziges Wort!« Doch als Antwort begann Elphi von neuem zu jammern und zu stöhnen, und Jenny gab es auf. »Schon gut, vergessen wir's. Wo bringen Sie mich hin?« Elphi ließ sich auf alle viere sinken, er zitterte ein wenig, doch seine Stimme klang völlig normal, als er antwortete. »Auf den Wanderweg durch das Große Hograh-Moor, wo wir uns getroffen haben. Gleich dort drüben, sehen Sie? Die Steinmale?« Und tatsächlich konnte man fast am Horizont eine Reihe winziger Kegel erkennen. »Gehen Sie jetzt vor mir her, bis Sie auf den Weg stoßen.« Jenny setzte sich gehorsam in Bewegung. Es war ein mühsames Gehen; jeder Schritt bedeutete, das Bein erst einmal aus dem schneebedeckten Gestrüpp zu befreien. Doch hatte sie nun den Wind im Rücken. Dann stieß sie auf eine Schafspur, die in ihre Richtung führte; sie folgte dem Trampelpfad, bis er zur Seite schwenkte. Sie fand einen anderen, und so ging es weiter, bis sie schließlich den schmalen Wanderweg erreicht hatte. Sie blieb stehen, um zu verschnaufen und die Aussicht zu genießen, dann machte sie sich wieder nach Osten auf, wo sie die Jugendherberge von Westerdale erwartete. Eine halbe Stunde ging sie, ohne an etwas anderes zu denken als an die fremdartige Schönheit dieser Landschaft und an das warme, aber miserable Abendessen, das sie in Westerdale bekommen würde. Dann schreckte sie auf, sie hatte überhaupt nicht bemerkt, wie sich der Nebel verflüchtigt hatte. Sie zog den im Wind flatternden Poncho aus, rollte ihn zusammen und griff nach hinten, um ihn unter die Rucksacklasche zu schieben. Dann nahm sie die Karte wieder zur Hand und versuchte sich zu orientieren. Wenn dieser Hang auf der anderen Seite des Tals der Kempswithen war, dann war es nicht mehr weit bis zur Landstraße nach Westerdale. In einer Stunde vielleicht würde sie in der Jugendherberge sein, dort gab es ein heißes Bad und etwas zu essen. Das üppigste Abendessen, versprach sie sich, das sie kriegen konnte. »Sie haben Glück, dass die Saison noch nicht begonnen hat«, sagte der Herbergsvater. »Wir haben Sie gestern erwartet. Im Sommer hätten wir jetzt kein einziges Bett mehr frei. Aber so haben
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wir nicht viele Gäste, also ist das kein Problem. Möchten Sie zu Abend essen?« »Ich war für den fünften angemeldet«, sagte Jenny etwas ärgerlich. »Da bin ich mir ganz sicher, denn am fünften hat meine Schwester Geburtstag.« »Genau. Und der fünfte war gestern, heute haben wir den sechsten.« Er legte seinen dicken Zeigefinger auf den Kalender, der hinter ihm an der Wand hing. »Donnerstag, der sechste April. Einverstanden?« »Es ist Mittwoch, der fünfte«, sagte Jenny geduldig wie zu einem Kind. Sie hielt ihm die Armbanduhr entgegen, damit er Wochentag und Datum ablesen konnte. Er blickte auf ihre Uhr. »Wenn Sie's genau wissen wollen, hier steht: Donnerstag, der sechste. Aber es ist schon in Ordnung, wir haben ein Bett für Sie. Wollen Sie auch etwas zu essen?« Jenny starrte auf die beiden quadratischen Fensterchen auf dem Zifferblatt ihrer Uhr; sie fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Entschuldigung, das war ein Irrtum ... Ja, ich möchte etwas essen.« Einige halbwüchsige Jungen, die in der Schlange hinter ihr warteten, starrten sie neugierig an. Sie nestelte an ihren Stiefeln, konnte sich endlich von ihnen befreien und schwang sie in das Schuhgestell; dann schulterte sie ihr Gepäck und machte sich, mühsam beherrscht, auf den Weg zu dem Schlafraum, den man ihr zugewiesen hatte. In dem leeren Raum suchte sie sich ein Bett aus und setzte sich; den Rucksack ließ sie neben sich auf dem Boden liegen. »Ich bin am dritten von Cambridge aufgebrochen«, sagte sie laut vor sich hin, »und habe zwei Nächte in York verbracht. Dann bin ich heute morgen in den Zug nach Middlesbrough gestiegen, nahm den Anschlusszug nach Whitby und bin bis Kildale gefahren. Von dort bin ich über die Berge nach Westerdale gelaufen. Wie und wo konnte mir ein ganzer Tag abhanden kommen?« Dann holte sie ihre Platzkarte für den D-Zug hervor. Die Reservierung galt für den dritten. Der Schaffner hatte kontrolliert und die Fahrkarte abgestempelt; niemand im Zug, der ihr den Platz streitig gemacht hätte. Es war unmöglich, dass sie sich im Tag irrte. Doch auf ihrer Uhr, die vor zwei Tagen Montag, den dritten April gezeigt hatte, war nun zu lesen: Donnerstag, 6. April. Wo war der fehlende Tag? Niemand war da, der ihr darauf hätte antworten können, und in dem Schlafsaal war es kalt. Das half Jenny in die Welt der
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Tatsachen zurück: Was sie jetzt brauchte, war heißes Wasser, etwas zu essen, saubere Socken, ihre Pantoffeln und noch einige Decken für ihr Bett. Sie zog ihren Rucksack heran, öffnete ihn und nahm Handtuch und Seife heraus. Doch ihre Socken zum Wechseln waren schmutzig, sie musste sie längere Zeit getragen haben: Feine Heidekrautästchen stecken in den Maschen, und feucht waren sie obendrein noch. Die kleinen Reste Erika erinnerten Jenny daran, dass auch die Socken, die sie anhatte, juckten. Sie fuhr mit dem Finger in jene Socke, doch was da störte, war nicht Heidekraut, sondern ein kleines, mehrfach gefaltetes Stückchen Papier. Mit zitternden Händen breitete Jenny das Zettelchen aus und strich es auf dem Schenkel glatt. Es war die Hülle eines Lipton-Teebeutels, auf deren Innenseite mit einem Kugelschreiber einige Sätze geschrieben waren. Es war ihre eigene Handschrift. Da stand: Hobb namens ELFY (?) - begegnet mir im Nebel, zwingt mich, mit in seine Höhle zu kommen - tarnt sich als Schaf - lebt mit sechs anderen in der Höhle sie sind Außerirdische - er wird es aus meinem Gedächtnis löschen, aber VERSUCHE, ZU ERINNERN Danby-Hochmoor? Bransdale? Farndale? VERSUCHE, ZU ERINNERN, UNBEDINGT!! Diese Sätze, die sie in größter Eile geschrieben haben musste, sagten ihr überhaupt nichts. Was sollte das heißen: ein Hobb? Aber sie hatte es eigenhändig geschrieben, da gab es keinen Zweifel. Jetzt war sie wieder da, wo sie angefangen hatte ... der sechste April. Donnerstag, nicht Mittwoch. Jenny faltete den Zettel zusammen und verstaute ihn sorgfältig in ihrer Brieftasche. Systematisch durchsuchte sie den Rucksack. Der Notproviant war ebenso verschwunden, wie ihre Taschenlampe und die Kerzen. Die Bluse, die sie noch eingepackt hatte, und die frische Unterwäsche waren schon getragen. Der kleine Aluminiumtopf des Essgeschirrs, den sie immer sofort wusch, damit der Schmutz nicht antrocknete, war auf der Unterseite schwarz vor Ruß. Irgendetwas Unerhörtes war geschehen, und sie hatte vergessen, was es war. Sie war dazu gebracht worden, es zu vergessen, wenn man es nach der Botschaft auf dem Zettel beurteilte. Also gut, sagte sie sich, während sie ungewaschen und mit schmerzenden Gliedern auf dem harten Bett hockte. Sie hatte
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jedoch etwas, an das sie sich halten konnte. Warum sollte sie dem misstrauen, was sie selbst geschrieben hatte? Sie zog es vor, an sich zu glauben, dann würde man schon sehen, auch wenn es Jahre dauern sollte. Es dauerte tatsächlich Jahre, aber Jenny gab nicht auf. Sie kam nun häufig in den Nationalpark von Nord-Yorkshire, wann immer die ungewöhnlich heißen Sommer und die Semesterferien ihr Gelegenheit boten. Und sie lernte die Moore dort so gut kennen, wie man einen Landstrich als Tourist nur kennen lernen konnte. Mit jedem Urlaub liebte sie dieses rauhe Land ein wenig mehr. Bald war sie regelmäßiger Gast auf einem Hof in Danby Dale, wo Zimmer an Touristen vermietet wurden, und nie wieder war sie gezwungen, in der Jugendherberge von Westerdale zu übernachten. Der Wunsch, das Geheimnis jenes fünften Aprils, des verlorenen Tages in ihrem Leben, zu enträtseln, blieb unvermindert bestehen, ohne dass dies zum Glück zu einer fixen Idee wurde. Das bestärkte Jenny in dem Glauben, dass sie jenen Zettel aus Angst vor dem Vergessen bekritzelt hatte, nicht aus Angst vor dem, was sie vergessen hatte. Aber Elphis Fähigkeiten der suggestiven Beeinflussung waren phänomenal. So sehr Jenny es auch versuchte, sie bekam das verlorene Ende des Fadens nicht wieder zu fassen. Sorgfältig trug sie zusammen, was sie über Hobbs erfahren konnte, und das war eine Menge (einschließlich der korrekten Schreibweise von Elphi, denn von diesem Hobb war in den alten Geschichten oft die Rede). Und Jenny machte es sich auch zur Aufgabe, so viel wie nur möglich über jene Menschen zu erfahren, die glaubten, von Außerirdischen entführt worden zu sein und mit ihnen gesprochen zu haben. Viele dieser Leute hatten das Ereignis verständlicherweise nicht ohne ein seelisches Trauma überstanden, und unaufhörlich quälte sie, dass ihnen der größte Teil der Erinnerung daran verloren gegangen war. Jenny folgte ausschließlich ihrem Beispiel und absolvierte einige Hypnosesitzungen; aber entweder war sie vom Nutzen nicht überzeugt genug, oder Elphis Fähigkeiten waren einfach zu überlegen - jedenfalls konnte sie sich hinterher an nicht mehr erinnern als zuvor. So sehr sie sich auch bemühte, der gewünschte Erfolg blieb aus. Es musste schon das Gafr-Schiff zurückkehren, um ihrem
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Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. 2 Das Auftauchen des riesigen Schiffs im Sonnensystem war das Ereignis des Jahrhunderts, wenn nicht des Jahrtausends. Diesmal blieb das Raumschiff nicht verborgen. Noch bevor es die Umlaufbahn des Mars gekreuzt hatte, waren ihm die Teleskope auf der Spur. Jenny war nicht weniger erschrocken und aufgeregt als jedermann, und wie jedermann staunte sie darüber, dass die Fremden sich in hervorragendem amerikanischem Englisch an die Menschen wandten, um die Einzelheiten der Landung zu besprechen. Merkwürdigerweise kam es Jenny nicht in den Sinn, dass diese Fremden, die unzweifelhaft Außerirdische waren, irgend etwas mit jenen rätselhaften Fremden zu tun hatten, nach denen sie so lange schon suchte. Die Botschaft auf der Teebeutelhülle hatte über Gafr oder ein Raumschiff nichts gesagt, und vielleicht hatte dieser Teil von Elphis Geschichte sich Jennys Unbewusstem weniger stark eingeprägt als das, was er über ihren Überlebenskampf im Verborgenen berichtet hatte. Aber in dem Augenblick, als sie in ihrem Wohnzimmer vor dem Fernseher sah, was da nach der Landung auf dem John-F.Kennedy-Flughafen aus dem Zubringerschiff stieg und von der UNDelegation begrüßt wurde, traf es sie wie ein Blitz. Für Sekunden schien ihr Herz stillzustehen, so groß war der Schock. Wie gelähmt saß sie da, bis es sie förmlich aus dem Sessel riss: »Elphi!« brüllte sie. Sie schrie es dem Bildschirm zu, und alles, was sie so lange vergeblich gesucht hatte, stand ihr wieder klar und deutlich vor Augen. Aber das Lachen und Weinen im hysterischen Wechsel dauerte nicht lange, sie fasste sich schnell; eine Minute später telefonierte sie schon mit ihrem Lehrstuhl, gleich danach rief sie in England an. Am nächsten Morgen stand sie in der Schlange der Stand-byPassagiere nach London, am darauffolgenden Morgen schlief sie tief und fest in dem D-Zug, der sie durch die verwaschen graue Winterlandschaft nach York brachte. Zu dieser Zeit wusste schon die ganze Welt, dass etwa dreihundertfünfzig Jahre zuvor die Fremden schon einmal auf der Erde gewesen waren und einige ihrer Kameraden in der schwedischen Provinz Skane und in Nordengland abgesetzt hatten: Technische Probleme hatten dazu geführt, dass sie nicht planmäßig
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zurückkehren konnten. Die Zeitdilatation tat ein übriges, dass sie nun reichlich spät kamen. Die Fremden waren sehr bekümmert, dass es keinerlei Lebenszeichen ihrer gestrandeten Kameraden gab; natürlich konnte man das nach so langer Zeit auch nicht erwarten. Aber sie würden sich gerne selbst auf die Suche machen. Weil im Fylingdales-Moor das Frühwarnsystem installiert war, sahen gewisse Regierungen gar nicht gern, dass die Fremden sich in Yorkshire umschauen wollten. Man überlegte also, die Besucher aus dem All erst einmal nach Skane zu führen. Beim Anblick der Fremden hatte jeder Schwede sofort an die berühmten tomte-Bilder von John Bauer und Harald Wiberg denken müssen, was man als Indiz dafür betrachtete, dass die auf der Erde Ausgesetzten zumindest einige Zeit überleben konnten und der schwedischen Landbevölkerung in früheren Zeiten nicht unbekannt waren, auch wenn es keinen eindeutigen Beweis für ihre Existenz gab. Die Delegation bestand aus fünf Hobbs, die alle akzentfrei amerikanisches Englisch sprachen und wie Elphi aussahen, wenn auch weniger heruntergekommen. Die Sprache hätten sie mittels der Radiosendungen erlernt, die sie schon weit draußen im Raum aufgefangen hatten, sagten sie, nicht ohne hinzuzufügen, dass sie wirklich großes Sprachtalent besäßen. Wie um das zu beweisen, fingen sie nach wenigen Tagen schon an, ganz passabel schwedisch zu sprechen. Nie ließen sie ein einziges Wort über die Gafr verlauten, die oben auf dem Mond in ihrem Riesenschiff warteten. Jenny hätte nicht genau sagen können, warum sie jetzt unbedingt in Yorkshire sein wollte. Einerseits schien es ganz logisch, ein Versuch, ihre lange, quälende Suche zum Abschluss zu bringen. Auf der anderen Seite war es unsinnig, denn sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie die Höhle der Hobbs finden konnte, in der sie jene vierundzwanzig Stunden verbracht hatte, die ihrem Gedächtnis abhanden gekommen waren. Wenn Elphi und seine Freunde noch am Leben waren, dann wussten sie, dass das Schiff zurückgekommen war - sie hätten es im roten Transistor mit dem Reklameaufdruck oder irgendeinem anderen mitbekommen, das ein müder Wanderer auf dem Lyke Wake Walk hatte liegenlassen. Dass man nichts von ihnen gehört hatte, machte es unwahrscheinlich, dass einer der Hobbs tatsächlich noch am Leben war. Ein kalter, durchdringender Märzwind fegte über den Bahnsteig von Danby, als sie aus dem klapprigen Zug stieg. John Dowson stand schon bereit, um sie und ihr Gepäck in Empfang zu nehmen.
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Ihm gehörte der Hof, der zu ihrem Stützpunkt für die Streifzüge durch Yorkshire geworden war. »Schön, Sie wieder zu sehen!« rief er. »Wir sind froh, dass wir das so kurzfristig einrichten konnten!« Fünfzehn lange Jahre kannte sie nun schon John und seine Frau, und etwas erschrocken sah Jenny, dass John ein alter Mann geworden war. Sie selbst war ja erst in den besten Jahren. Möglich, dass sie nach diesem Mal nicht mehr so oft hierherkommen würde. »Wir dachten, dass es was mit diesen Weltraumleuten zu tun hat«, bemerkte John in seiner freundlichen, bedächtigen Art, als sie dann im Landrover talaufwärts fuhren. »Da könntest du recht haben.« Jenny starrte aus dem Fenster. Gierig sog sie das Bild dieser Landschaft in sich auf. »Die Regierung will sie nicht in Fylingdales haben«, knurrte er. »Was glauben die Dummköpfe in Whitehall denn? Dass sie irgend etwas über unsere militärischen Anlagen erfahren könnten, was sie nicht schon wissen?« »Sind die Leute hier nervös wegen dieses Theaters, John?« »Ich schätze eher, sie genießen es. Wir sind nicht oft in den Nachrichten.« Er verlangsamte das Tempo, weil die Straße in zwei scharfen Kurven um einen Kirchhof führte. »Glauben die Leute hier denn, dass in den Tälern einige der ausgesetzten Außerirdischen lebten?« John ließ sich mit der Antwort viel Zeit. »Einige schon. Es sind nicht viele, die beschwören würden, dass es unmöglich ist. Das hier war früher ein sehr einsamer Landstrich, kaum jemand kam auf die Berge. Da oben kann es alles mögliche gegeben haben. Wurde auch viel erzählt von Hexen und Elfen.« Er lachte leise in sich hinein. »Macht ihr euch Gedanken darüber, du und Rita?« John bremste wieder ab und ließ den Landrover vorsichtig über einen Weiderost rollen. »Kann man nicht sagen. Scheint so direkt nichts mit uns zu tun zu haben. Kann mich nicht erinnern, dass ich mir bisher darüber den Kopf zerbrochen hätte. Aber immerhin gibt es hier welche, die das tun. Ein Kerl hat gestern abend im Pub behauptet, er hätte als Kind einige dieser kleinen Männchen oben in den Bergen gesehen. Sicher, die Leute sagen so manches, wenn sie erst ein paar Gläser getrunken haben. Aber wieso redet er erst jetzt davon, wenn es schon dreißig Jahre her ist?« Als Jenny sich so weit gefasst hatte, dass sie ihre Stimme wieder in der Gewalt hatte, fragte sie: »Wer war das denn, kennst du ihn?« »Ja, Frank Flintoft war der Bursche. Sein Vater ist ein Freund von mir, hat einen Hof drüben in Westerdale. Der liebe Frank war
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schon immer ein Träumer, obwohl er sein Handwerk versteht. Sein Hof liegt in der Nähe von Swainby, da, wo der Nationalpark anfängt. Er war auf der Universität, hat sein Examen gemacht und kam dann hierher zurück. Das tun nicht viele, weißt du. Wenn sie einmal weg sind, dann bleiben sie auch weg. Aber er scheint ein wenig auf einer rosa Wolke zu schweben mit seinen verrückten Ideen - keine Chemie, kein Kunstdünger und keine Unkrautvertilger. Trotzdem läuft es ganz gut bei ihm; seine Zuchtlämmer bekommen fast jedes Jahr einen Preis. So, da wären wir.« Sie bogen in die steile Auffahrt ein, die hinauf zur Talseite des Hauses führte. »John«, sagte Jenny so ruhig sie nur konnte, »mit diesem Frank würde ich ganz gern mal reden. Könntest du das für mich arrangieren?« »Du kannst heute abend das Auto haben, wenn du willst. Frank wird bestimmt zu Hause sein, er ist keiner von denen, die mehr als einen Abend in der Woche in der Kneipe sitzen. Wir sollten bloß vorher anrufen.« Jenny sah nachts nicht gut; auch zu Hause fuhr sie bei Dunkelheit nur Strecken, die sie kannte. Dennoch machte sie sich in Rita Dowsons kleinem Auto auf den Weg: vierzig Kilometer über steile, kurvige Straßen bis zu dem Dorf Swainby. Dort starrte sie sich fast die Augen aus den Höhlen, um die Wegmarken zu finden, an denen sie Frank Flintofts Hof erkennen sollte. Er kam schon beim ersten Klopfen, ein hagerer Mann in ihrem Alter mit einem sehr anziehenden, wettergegerbten Gesicht, das aber merkwürdig kindlich wirkte. Er hatte widerspenstiges, graues Haar, die rauhen Hände und die bedächtige Sprache eines Bauern, nicht anders als John Dowson, aber seine blauen Augen blickten ungewöhnlich wach und lebhaft. Er schien allein zu sein. Jenny kam sofort zum Thema. »Ich habe von John gehört, was Sie über die im Moor ausgesetzten Fremden gesagt haben. Stimmt es, dass Sie ihnen vor dreißig Jahren begegnet sind?« »Nicht ganz achtundzwanzig Jahre, aber im übrigen ist es nur zu wahr.« »Haben Sie etwas dagegen, wenn sie mir die ganze Geschichte erzählen?« »Keineswegs. Aber bitte, verraten Sie mir vorher, was Sie daran so interessant finden.« »Ich denke, Sie haben es schon erraten«, sagte Jenny, und ihre Stimme überschlug sich. Sie schluckte. »Ich habe sie auch gesehen. Vor zwölf Jahren, genau um diese Zeit.« Frank Flintoft starrte Jenny an, als hätte er auf eine solche
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Begegnung Zeit seines Lebens gewartet, als könnte er sich kaum zurückhalten, sie in die Arme zu schließen. Dann breitete sich ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht. »Mein Gott, was für ein Tag! Warten Sie, möchten Sie etwas trinken? Die Geschichte wird eine Weile dauern, und ich fürchte, Sie werden etwas zum Aufwärmen brauchen.« Es war tatsächlich kalt in diesem Haus. »Aber bitte nur Tee - ich sehe in der Nacht schon schlecht genug.« »Gut. Am besten gehen wir in die Küche.« In der Küche war es geringfügig wärmer als im Wohnzimmer. Frank schaltete ein elektrisches Heizgerät ein, das in einen gekachelten Kamin eingebaut war, schob zwei Stühle heran und begann, während er am Wasserhahn hantierte und die Teeutensilien aus dem Regal holte, ohne Umschweife mit seiner Geschichte. »Ich war über Ostern von der Universität nach Hause gekommen, und hatte einen Freund aus Cornwall mitgebracht. Kurz bevor wir wieder nach Cambridge zurückfuhren, hatten wir die Idee, noch einmal den Lyke Wake Walk zu sehen. Das war noch, bevor der Weg durch das Wheeldale-Moor aussah wie die Landebahn eines Flughafens. Der Hof, der Bill Cowley gehörte, ist übrigens nur ein Steinwurf von hier entfernt. Er war derjenige, der 1955 den Marsch durchs Moor erfunden hat und auch die Regeln aufstellte: vierzig Meilen in vierundzwanzig Stunden durch, und zwar auf den eigenen zwei Beinen. Nun, Sie können sich denken, wie so etwas auf einen Zwanzigjährigen wirkt. Mein Freund und ich, wir waren begeistert von unserer Idee. Trotzdem war es eine unentschuldbare Dummheit. Wir zogen mit den Sachen los, die wir auf dem Leib trugen, und in den Rucksäcken hatten wir einige Brote, ein paar Schokoladeriegel und eine Feldflasche. Ungefähr nach der Hälfte der Strecke gerieten wir in einen dieser verrückten Schneestürme, die es nur im Frühling gibt. Wir kämpften uns tapfer voran, aber das Schneetreiben war so dicht, dass wir schon nach kurzer Zeit nicht mehr wussten, wo wir waren. Ich weiß noch, es war weniger Angst, was ich fühlte, sondern Wut: Wut über meine Dummheit. Ich hatte doch mein ganzes Leben hier verbracht; ich wusste, dass man mit so etwas rechnen musste, und hatte nun Toby in diese Lage gebracht. Nun, wir nahmen den Kompass in die Hand und zogen weiter. Es gibt da oben keinen Unterschlupf, der auch nur einen Pfifferling wert ist. Ich weiß noch, dass ich irgendwann ein Stück Schokolade in den Mund schob, aber es schmolz nicht. Und da kriegte ich es mit der
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Angst zu tun: Jetzt waren wir wirklich in Schwierigkeiten. Was danach passierte, davon weiß ich kaum noch etwas. Irgendwann kam ich zu mir und fand mich zusammen mit Toby in einer Höhle wieder. Um uns herum hatten sich vielleicht ein Dutzend Hobbs versammelt. Wir waren einige Stunden dort unten. Sie sorgten dafür, dass wir uns aufwärmen konnten, sie fütterten uns mit uralten Keksen, und erzählten uns ihre Geschichte - dass sie von einem anderen Planeten stammten, dass man sie zur Strafe für einige Zeit hier ausgesetzt hatte, dass aber nie jemand gekommen war, um sie abzuholen. Und sie erzählten, sie wären die Hobbs aus den alten Sagen, und wir hätten verdammtes Glück gehabt, weil sie Winterschlaf zu halten pflegten und erst ein paar Wochen zuvor aufgewacht seien. Schließlich legte sich der Sturm, und die kleinen Kerle schaufelten den Höhleneingang frei. Dann verbanden sie uns die Augen und zogen uns in einer Art Schlitten aus Fell über den Schnee. Sie trugen auch sonderbare Schneeschuhe, um über den Schneewehen nicht einzusinken. Sie brachten uns zur Straße, die ein ganzes Ende von ihre Höhle entfernt sein musste - zumindest dauerte die Fahrt recht lange. Die Straße war schon geräumt, als wir dort ankamen; wir brauchten ihr nur zu folgen, um aus dem Moor nach Castleton zu kommen und meine Eltern anzurufen. Die waren natürlich außer sich; sie hatten die Polizei alarmiert und die Parkwächter, aber keiner von denen hatte irgendetwas unternehmen können, solange sich der Sturm nicht gelegt hatte. Niemand konnte sich erklären, wie wir überlebt hatten. Toby und ich wussten nicht mehr als alle anderen auch; wir erinnerten uns nur daran, dass wir das Bewusstsein verloren und am folgenden Tag wieder zu uns kamen, als wir uns im tiefen Schnee eine Spur zur Landstraße nach Castleton Rigg bahnten. Mein ganzes Leben lang habe ich an dieser Geschichte herumgerätselt. Aber dann, als ich vorgestern den Fernseher eingeschaltet habe, da kam die Erinnerung wieder, als ich diese fünf Hobbs sah - wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, wem ich es sagen sollte. Toby ist vor zehn Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, und für meine Eltern bin ich auch so schon verrückt genug. Aber ich musste darüber sprechen, so verzweifelt wünschte ich mir das, dass ich im Duke of Wellington mehr trank als gut war und die Geschichte herausposaunte.« »Und Gott sei Dank«, sagte Jenny, »wie hätte ich sonst davon
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erfahren sollen.« Dann berichtete sie von ihrem Erlebnis mit den Hobbs. »Ich frage mich die ganze Zeit schon, warum sie nichts von den Gafr gesagt haben«, schloss sie. »Vielleicht, weil die Hobbs kleiner und sprachlich geschickter sind als ihre Meister; also können sie sich zum einen besser verständlich machen, zum anderen wirkten sie weniger bedrohlich auf uns.« Das Thema interessierte Frank. »Oder es gehört zu ihren Pflichten im Dienst der Gafr, bei solchen Gelegenheiten die Verhandlungsdelegation zu stellen - vielleicht auch wollen sie vermeiden, irgendwelche Assoziationen an eine Versklavung durch die Gafr in uns zu wecken.« »Vielleicht sind die Gafr absolut nicht menschenähnlich. Das wäre ein Grund! Kann doch sein, dass sie aussehen wie große Schleimklumpen mit Gesichtern, dass die Milch im Euter sauer wird.« »Aber ist es nicht logisch, einen Hobb auf die Suche nach einem Hobb zu schicken? Oder ist ...« »Moment mal, Frank!« unterbrach ihn Jenny. »Wann genau habt ihr diese leichtsinnige Tour auf dem Lyke Wake Walk unternommen - in welchem Monat?« »Es war um die Zeit, in der die Schafe werfen, die dritte Aprilwoche ungefähr.« »Ich bin Elphi in der ersten Aprilwoche begegnet. Er war der einzige, der schon aufgewacht war. Sie sind noch gar nicht aus dem Winterschlaf erwacht, Frank - wenn noch einer von ihnen am Leben ist, dann schläft er jetzt. Sie wissen noch nichts davon, dass das Schiff zurückgekommen ist!« Frank beugte sich zu Jenny hinüber, die blauen Augen schienen sie festnageln zu wollen. »Ja, nichts wissen sie davon - und nicht nur das, diese Hobb-Delegation weiß auch ganz genau, dass ihre Kameraden noch schlafen oder immerhin schlafen könnten. Warum sind sie nicht offen zu uns? Was bezwecken sie damit, dass sie uns etwas vormachen?« »Es gibt noch eine viel schwierigere Frage: Was sollen wir jetzt tun?« Die Teekanne leerte sich, während sie über die Möglichkeiten, die ihnen blieben, nachdachten. Spinner mussten schon zu Hunderten aus ihren Löchern gekrochen sein, die alle behaupteten, die gestrandeten Fremden gesehen und mit ihnen gesprochen zu haben; so war es doch nach jeder Ufo-Sichtung, wie Jenny bei ihren Nachforschungen herausgefunden hatte. Die Behörden waren nicht in der Lage zu beurteilen, was davon authentisch war und was
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nicht - also würde man ausnahmslos alle Berichte verwerfen. Nur die Hobbs selbst konnten auf Anhieb die Spreu vom Weizen trennen, aber die waren hinter einem Wall von Sicherheitsbeamten abgeschirmt. »Für mein Leben gern«, sagte Jenny, und unterdrückte ein Gähnen, »würde ich Elphi finden und ihn fragen, was er meint, was seine Leute vorhaben. Oh, ich muss ins Bett. Ich habe kaum eine Nacht richtig geschlafen, seit ich weiß, dass die Hobbs da sind.« »Sie können hier schlafen, wenn Sie möchten«, sagte Frank, was sie sehr überraschte. »Es gibt jede Menge Platz hier. Ich weiß nicht, ob John und Rita es Ihnen erzählt haben - ich war verheiratet, aber das ist lange her. Meine Frau lernte ich in Cambridge kennen, dann zogen wir hierher, doch nach einiger Zeit war klar, dass sie dieses Leben nicht ertrug. Ich aber kann unmöglich in London leben. Also haben wir beschlossen, die Sache zu begraben.« Er lächelte verlegen. »Sie sind mir willkommen.« Jenny erwiderte sein Lächeln. »Man erwartet mich leider, außerdem muss ich auf jeden Fall Ritas Wagen zurückbringen. Aber ich danke Ihnen.« Am anderen Morgen setzte sich Jenny vor den nagelneuen Fernseher der Dowsons und sah sich die Nachrichten an, während sie ihr Rührei mit Speck aß. Die Fremden waren jetzt in Südschweden, begleitet von einem ganzen Tross aus UNDiplomaten und Sicherheitsbeamten. Ein Lebenszeichen ihrer Kameraden hatte man dort nicht gefunden, aber die Schweden waren jetzt überzeugt, dass die weitverbreiteten Darstellungen der tomten nicht erfunden, sondern nach dem Leben gezeichnet waren. Die japanische Regierung hatte erklärt, dass sie jegliches formelle Bündnis zwischen den USA und den Besuchern aus dem All als feindseligen Akt betrachten würde. Tokio war verärgert, weil der Raumgleiter auf einem amerikanischen Flughafen gelandet war und weil die Fremden sich dafür entschieden hatten, Englisch zu lernen anstatt Japanisch. Die britischen und amerikanischen Behörden berieten noch immer über die schwierige Frage, ob man den Außerirdischen den Zugang zum Fylingdales-Moor erlauben solle. Eine Entscheidung wurde für die nächsten Tage erwartet. Die ängstliche Aggressivität der Japaner brachte Jenny auf einen ganz neuen Gedankengang. Sie hatte den Eindruck, dass die Fremden sich für keines der Länder auf diesem Planeten zu interessieren schienen. Natürlich waren sie im Umgang äußerst freundlich und zuvorkommend, aber die Suche nach ihren Kameraden war offensichtlich ihr einziges Anliegen. Das war
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keineswegs das, was sich die Menschheit unter einem Erstkontakt mit Außerirdischen vorgestellt hatte. Was die Menschen dagegen empfanden, dafür genügte das Wort >Interesse< kaum; Carl Sagan & Co. waren völlig aus dem Häuschen, andere Reaktionen schwankten von ängstlicher Scheu bis würdeloser Anbiederung; niemanden jedenfalls ließ es kalt. Ganz sicher konnte man zwar nicht sein, doch musste man den Eindruck bekommen, dass dieser Planet den Hobbs ziemlich gleichgültig war. Natürlich war es für sie kein Erstkontakt - aber sie sagten auch nicht ein einziges Wort, wie es nun weitergehen solle: kein Angebot über kulturellen und wissenschaftlichen Austausch, kein Freundschaftspakt ... Noch schlugen die Wogen der Erregung so hoch, dass es keinem aufgefallen war, doch war Jenny überzeugt, dass es für Japan keinen Grund zur Sorge gab. Die Hobbs waren nicht auf der Suche nach einem Bündnispartner. Wahrscheinlich würden sie allen Spuren ihrer ausgesetzten Freunde nachgehen und anschließend wieder verschwinden. Möglicherweise hatten sie die Tatsache, dass ihre Kameraden sich im Winterschlaf befinden mussten, deshalb verschwiegen, um einige Wochen lang Gelegenheit zu einem flüchtigen Blick auf diesen Planeten zu haben. Bisher schienen sie auch nichts gesehen zu haben, was sie beeindruckte. Als sie mit dem Frühstück fertig war, kam ein Anruf. Eine Erinnerung daran, dass Franks Einladung am Abend zuvor keineswegs beiläufig gemeint war. »Wie war's mit einem Ausflug in die Berge? Ich habe jemanden aufgetrieben, der sich um meinen Hof kümmert. Vielleicht finden wir mit vereinten Kräften diese verdammte Höhle!« In den nächsten drei Tagen suchte Jenny mit Frank die Moore ab. Anhand einer genauen Karte nahmen sie sich jede aufgegebene Kohlengrube vor, die sie in der Umgebung ausfindig machen konnten. Frank, der sich auch mit Archäologie beschäftigte, kannte sich hier hervorragend aus. Er und sein Freund Toby hatten sich in dem Gebiet zwischen Rosedale- und Danby-Moor befunden, genau südöstlich von Castleton Rigg, als der Sturm losbrach - und das war vielleicht zwölf, fünfzehn Kilometer von der Brücke entfernt, wo der zerstreute Elphi fast über Jenny gestolpert wäre. Beiden war es vorgekommen, als hätte man sie ein gutes Stück von der Höhle entfernt wieder in ihr Leben zurückgebracht, doch hatte man ihnen ja die Augen verbunden, und wie konnten sie wissen, dass man sie nicht die ganze Zeit im Kreis herumgeführt hatte. Das Wetter blieb schön, und die gemeinsam verbrachten Tage waren wundervoll. Aber alle Mühe war umsonst, drei Tage lang
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suchten sie vergeblich. Und auch zu einem Entschluss waren sie nicht gekommen, ob sie sich den Behörden mitteilen, ob sie auf die Existenz der Gafr hinweisen sollten oder nicht. »Wir wissen nicht, ob sie tatsächlich da oben sind«, meinte Frank, »und ich bin mir nicht sicher, ob es einen Unterschied macht.« Als sie am Abend des dritten Tages ihrer erfolglosen Suche wieder ins Tal von Danby hinabfuhren, sagte Jenny nach langem Schweigen: »Weißt du, selbst wenn wir die Höhle gefunden hätten ... Ich habe Elphi damals gefragt, warum er keinen von den anderen geweckt habe, damit sie sich gemeinsam um den Toten kümmern konnten, und er sagte etwas wie >Sie müssen von allein aufwachen< - und es klang, als ob es gefährlich wäre, wenn man sie vor der Zeit aus dem Schlaf riss.« »Ja. Wie wenn man ein Küken aus dem Ei holt.« »Ja ... Aber wenn man die Hobbs hierherbringt, dann wird es vielleicht mit etwas Glück möglich sein, zu einem von ihnen vorzudringen, oder überhaupt zu irgend jemand. Gibt es schon eine Entscheidung über Fylingdales?« Statt einer Antwort schaltete Frank das Autoradio ein. Während ihre Augen über den bunten Flickenteppich der Felder glitten, hörte Jenny die Nachrichten. »Eine Entscheidung darüber, ob man den Hobbs Zugang zum Nationalpark von Nordyorkshire gewährt, wo sie nach Lebenszeichen ihrer verschollenen Gefährten forschen wollen, wird für morgen erwartet. Im Fylingdales-Moor innerhalb des Parks ist das Frühwarnsystem installiert, das von den USA und Großbritannien gemeinsam betrieben wird.« »Was aber geschieht, wenn die Militärs ablehnen und die Hobbs darauf bestehen?« Frank schüttelte den Kopf und wollte schon abschalten, als der Nachrichtensprecher fortfuhr: »Einige Regierungen haben Zweifel geäußert an dem, was die außerirdischen Besucher sagen. Es wurde vermutet, dass sie ihre weithergeholte Geschichte dazu benutzen wollten, um sich in den innersten Zirkel dreier westlicher Regierungen einzuschleichen. In Japan wendet man sich vor allem gegen die durch nichts belegte Behauptung, dass die Hobbs mit dem identisch seien, was man in Schweden als tomte bezeichnet. In der schwedischen Sagenwelt ist ein tomte ein Gnom, der sich einen Bauernhof als Zuhause wählt und sich nachts, wenn alles schläft, nützlich macht.« »Allmächtiger«, sagte Frank und schaltete aus. »Wenn sie so weitermachen, dann werden wir, bis die Hobbs endlich erwacht sind, ganz schön in der Tinte sitzen. Und weißt du was? Ich wette, dass die Hobbs das ganz genau wissen. Sie
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schauen zu, wie die internationalen Spannungen wachsen, und warten ab, wie wir wohl damit fertig werden. Ich weiß immer noch nicht, was ich machen soll, aber ich muss spätestens morgen abend den Zug nach London nehmen.« Sie stöhnte, müde und deprimiert. »Was sollen wir tun? Wir müssen uns entscheiden!« »Weiß der Himmel«, sagte Frank kaum weniger bedrückt. »Man könnte versuchen, andere Leute ausfindig zu machen, die sich auch an eine Begegnung mit den Hobbs erinnern können. Vielleicht eine Anzeige in der Times: >Wenn das Wort GAFR Ihnen etwas sagt, dann schreiben sie bitte an Postfach 777, Danby, Distrikt Whitby, Nord-Yorkshire.< Wenn es genug von uns gibt, dann können wir vielleicht jemandes Aufmerksamkeit erregen - obwohl ich das Gefühl habe, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt.« »Ich verstehe nicht, dass diese Idioten nicht merken, dass die Hobbs an jedweder Allianz absolut uninteressiert sind!« »Vielleicht weil es das ist, was sie an Stelle der Hobbs tun würden. Denk an Vietnam! Lyndon Johnson hatte vielleicht nicht so ein Tamtam gemacht, wenn er sich hätte vorstellen können, dass es tatsächlich Leute auf der Welt gibt, die nicht so leben möchten wie die Amerikaner. Nimm mir das nicht übel, bitte«, fügte er hinzu. »Aber nein, es ist die reine Wahrheit. Sie unterstellen ihnen menschliche Motive, aber das ist ein lebensgefährlicher Unsinn!« Sie fuhren schweigend und in düsteren Gedanken versunken weiter. Nach einigen Minuten begann Jenny zu zitieren: Strenger Winter, bittrer Frost, Die Sterne glitzern klar. Der Hof liegt leer und öd, Denn alles schläft um Mitternacht. Im Mondlicht glänzt die stille Straße Und weiß der Schnee auf Baum und Strauch. Weiß strahlt das Dach, und alles träumt, Doch wacht der Gnom. Frank warf ihr einen fragenden Blick zu, aber er unterbrach sie nicht, und Jenny fuhr fort: Er geht zum Schuppen und zur Scheune, Er prüft die Riegel, jede Tür. Die Kühe, groß und schwer an ihren Pfosten, Träumen, Mondglitzern auf dem Fleckenfell; Geschirr und Peitsche sind vergessen.
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Pferd Prinz in seinem Stall träumt jede Nach Und immer wieder sieht er seinen Trog Gefüllt mit Bergen süßen Klees. »Es ist aus einem Kinderbuch, eine Übersetzung eines Gedichts über den tomte«, erklärte sie ihm. »Komisch, es ist genau mit jenen Wiberg-Bildern illustriert, von denen überall die Rede ist - aber ich würde nicht sagen, dass sie den Hobbs allzusehr ähneln. Sonst hätte ich mich sicher früher erinnert. Das Buch liegt bei mir zu Hause irgendwo herum.« »Entweder hat sich dieser Dichter geirrt, oder die schwedischen Hobbs halten keinen Winterschlaf«, meinte Frank. »Es klingt auch mehr nach einem Aufpasser als nach jemandem, der hart arbeitet. Dichterische Freiheit?« »Vielleicht, vielleicht auch sind die tomtes und die Hobbs eben nicht identisch.« »Tomtar«, verbesserte Jenny automatisch. »Hör zu, Frank: Ich glaube, mir ist da eben eine Idee gekommen.« »Fein, dann lass hören.« »Sag mir erst, ob du May Moss kennst.« Frank war überrascht. »Ein Sumpfgelände drüben in Fylingdales, hinter dem Sperrzaun. Einige sehr seltene Sumpfpflanzen sind dort wieder aufgetaucht, weil die Schafe da nicht hinkommen Sumpfrosmarin, kleinblütige Sumpfbinse und solche Sachen. Nichts, was äußerlich viel hermacht, aber unglaubliche Raritäten. Ich bin einmal an einem Sonntag mit einer Gruppe Botaniker dort gewesen und habe mir das alles angesehen.« »Gut«, sagte Jenny, »ich bin mir ziemlich sicher, dass Elphi dort Woof Howe begraben hat.« Sie waren vor der Auffahrt zum Haus der Dowsons angekommen. Frank hielt an. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du so etwas wie Leichenschändung planst?« Jenny wurde sich wieder einmal bewusst, dass man auf Frank wirklich nichts kommen lassen durfte. »Warum sollte ein toter Hobb nicht genauso nützlich sein wie ein Lebender? Jedenfalls würden beide Tokio fürs erste das Maul stopfen und uns den Weg zu den Hobbs freimachen - soweit das überhaupt möglich ist. Dann könnten wir vielleicht von ihnen erfahren, warum sie die Existenz der Gafr geheimhalten - und dann könnten wir entscheiden, ob wir unser Wissen für uns behalten oder nicht. Und überhaupt, es ist die einzige Möglichkeit, die ich noch habe.« »Ich glaube kaum, dass noch etwas von ihm übrig sein wird.«
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»Früher dachte ich auch, dass die Säure den Körper rasch zersetzen würde. Aber da wusste ich noch nichts von den zweitausend Jahren alten Moorleichen in Dänemark und Irland und anderswo. Man hat nämlich herausgefunden, dass überall da, wo einmal Eichen wuchsen, der Morast Gerbsäure enthält, die die Leichen konserviert.« »Ich verstehe.« Dann schwieg Frank wieder. Es war mittlerweile dunkel. »Du bist dir doch über den wahrscheinlichen Grund, weshalb sie nichts über die Gafr verlauten ließen, im klaren oder?« Jenny sah ihn prüfend an. »Du meinst, sie machen es nicht anders als jeder Aggressor - sie halten ihre entscheidende Waffe so lange geheim, bis sie sie einsetzen. Und das soll heißen: Wären ihre Absichten ehrlich, dann hätten sie das mit dem Winterschlaf nicht verschwiegen, dann hätten sie auch über die Gafr geredet.« »Ja.« »Du meinst also, sie wollen uns unterwerfen? Uns im Schlaf ermorden?« Jenny lachte ein wenig zu laut. »Warum verhandeln sie dann noch mit uns und drücken nicht einfach auf den Knopf?« »Ich weiß es nicht. Ich bin kein Hobb. Aber es ist doch nicht auszuschließen, oder?« Ziemlich unglücklich saßen sie eine Weile da, bis Frank schließlich das Schweigen brach. »Entschuldige, ich bin einfach unausstehlich ... erst bringe ich dich dazu, mich für einen Paranoiker zu halten, dann bin ich beleidigt, weil mich deine Begründung nicht überzeugt.« Er legte die Hände wieder auf das Lenkrad und fuhr aus John Dowsons aufgeweichtem Steckrübenacker. »Aber eigentlich denke ich, dass eine Machtübernahme weitaus wahrscheinlicher ist. Und außerdem ist mir bei dieser Gelegenheit klar geworden, dass unsere Aussichten kaum schlechter sein dürften, wenn die Gafr über uns herrschen, als wenn die Supermächte uns weiterhin als Figuren in ihrem Schachspiel benutzen und der ganze Planet im Namen des Wirtschaftswachstums ruiniert wird. Vielleicht ergeht es uns mit den Gafr etwas besser, vielleicht etwas schlechter, aber ich bezweifle ganz im Ernst, dass sie auf lange Sicht uns in eine schlechtere Lage bringen können als wir selbst.« Er lächelte gequält. »Ich wusste gar nicht, was für ein Zyniker ich geworden bin.« »Also die Wahl zwischen dem >Ungeheuer, das Chicago fraß< und einer Riege beschränkter Wichtigtuer in höchsten Ämtern? Ich verstehe«, sagte Jenny. »Aber angenommen, die Gafr wollen uns zu ihren Sklaven machen? Die Hobbs sind die geborenen Knechte, anders als wir. Ich denke, es könnte recht schlimm für uns werden,
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wenn das ihre Absicht wäre.« Frank knurrte unwillig. »Schlimmer als ein Atomkrieg? Da kann ich nicht folgen. Wo es Leben gibt ..., du verstehst. Kann schon sein, dass ich schiefliege. Aber wahrscheinlicher als alles andere scheint mir zu sein, dass sie uns uns selbst überlassen, weil wir den Versuch einer Rettung nicht wert sind. Wenn du dir unbedingt Sorgen machen willst, dann mach sie dir darüber.« Er schüttelte ungläubig den Kopf, als bedauerte er, was er gesagt hatte. »Da siehst du, was passiert, wenn ich vergesse, dass ich nur ein Bauer bin. Ich weiß seit langem, dass das Leben für mich nur Sinn hat, wenn ich mich um mein Stück Land kümmere.« Unvermittelt drehte er sich auf dem Sitz herum und blickte Jenny ins Gesicht. »Also gut, so werden wir es machen: Der einzige Weg zum May Moss führt durch das Tor - ich habe keine Lust, mich den Hunden zum Fraß vorzuwerfen oder mich als Spion erschießen zu lassen. Ich werde heute noch meinen Freund in York anrufen. Mal sehen, was sich für morgen arrangieren lässt. Man kennt ihn auf der Station, und er wird sich für mich verbürgen. Ich glaube nicht, dass sie etwa vorhaben, die Gegend völlig abzuriegeln, auch nicht, wenn sie in Kürze die Hobbs-Delegation erwarten.« Jenny war von dem plötzlichen Themenwechsel überrascht und brauchte einige Zeit, um zu verstehen. »Du meinst ... du willst mir helfen?« »Natürlich will ich. Was könnte man denn sonst noch tun? Aber ich warne dich - wenn wir einem einzigen Sumpfrosmarin auch nur ein Haar krümmen, dann wird Dennis uns bei lebendigem Leibe verspeisen.« Es regnete leicht, als Frank am nächsten Morgen die Auffahrt heraufgefahren kam. Er war müde, aber er lächelte, als er sich hinüberbeugte um Jenny die Beifahrertür zu öffnen. »Wo hast du bloß deine gute Laune her?« fragte sie ziemlich mürrisch, während sie einstieg. Sie hatte sehr schlecht geschlafen. »Du wirst dich nicht weniger freuen als ich«, sagte er, »wenn du hörst, dass ich heute morgen schon in York war.« »Und warum um alles in der Welt?« »Um bei Dennis einen Brief abzuholen, die Eintrittskarte für das Sperrgebiet, und um mir ein hübsches, ziemlich neues Maschinchen auszuleihen, mit dem man den Boden durchleuchten kann.« »Was?!« Jennys schlechte Laune war wie weggeblasen. »Weißt du denn, wie man damit umgeht?« »Ich habe es von einem Typ, den ich kenne. Er ist Archäologe und hat es von der Polizei in York geborgt. Heute morgen hat er es
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mir vorgeführt. Wenigstens weiß ich jetzt so viel, dass ich weder dich noch mich mit Röntgenstrahlen behelligen werde. Wenn dort im Moor etwas ist, dann werde ich's mit dem Ding finden.« Frank lachte vergnügt, er war mit sich sehr zufrieden. »Ich musste feierlich schwören, dass die Maschine heute abend wieder in seinem Labor stehen wird und dass ich ihm ein Essen spendiere. Aber das ist mir die Sache wert. Wenn das Sumpfloch nicht übermäßig tief ist, dann müssten wir den armen Verblichenen mit diesem Apparat finden.« Jenny strahlte ihn an. »Du hast wirklich was los, weißt du das? Und als Freund bist du einsame Klasse.« »Und weißt du was? Ohne dich käme ich nicht auf solche Ideen.« Wie drei riesige Golfbälle ragten die Radarkuppeln des Frühwarnsystems in die Höhe; in dieser offenen Landschaft waren sie kilometerweit zu sehen. »Ich muss die ganze Zeit an die Augen von Dr. T. J. Eckleburg denken«, sagte Jenny. »Wie bitte?« »Vergiß es. Etwas aus einem Roman.« »Ach so. >Der große Gatsby<, hab' ich recht? Das mit den Augen hatte ich vergessen«, sagte Frank selbstzufrieden, und wieder strahlte Jenny ihn an. Die Wache am Tor besah sich den Brief. Ja, man sei informiert, und dort drüben könnten sie das Auto parken. Dieser Dennis aus York musste hier großen Eindruck gemacht haben. Niemand fragte, was sie vorhatten. Gerade als sie ankamen, wurde der Regen heftiger. Unbeirrt schritt Frank voran, vorbei an den Riesenkuppeln, die bis in die tiefhängenden Wolken reichten. Sie bogen von der befestigten Straße ab und waren bald draußen im Moor. So einfach gelang ihnen etwas, was den Besuchern aus dem All noch immer verwehrt war. Frank stapfte voraus. Über der Schulter hielt er dieses Teufelsding von Maschine, als trüge er in einen Sack eingewickelt einen Spaten. Jenny ging hinterher, die Regenspritzer auf ihrem Gesicht ließen sie blinzeln. Plötzlich musste sie lachen, er hatte angefangen, das Lyke Wake Dirge, das alte Klagelied, zu singen, und er sang es im Rhythmus seiner Schritte. Das richtige Lied für zwei Grabräuber im Moor! Frank hatte genug Zeit, alle zehn Strophen zu singen; das Heulen des Windes begleitete ihn. Plötzlich brach er ab und sagte: »Das ist May Moss. Paß auf, wo du hintrittst.« Die dunkle Oberfläche des Moortümpels lag tot und lebensfeindlich wie eine Jauchegrube unter dem niedrigen grauen Himmel. Beide Grabräuber trugen Schaftstiefel
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aus Gummi, aber das schwarze Wasser schien an den meisten Stellen zu tief für Jennys Stiefel zu sein, die einmal einer Tochter der Dowsons gehört hatten. Der Apparat, den Frank nun auspackte, sah ein wenig wie ein Metalldetektor aus; auf den Rücken geschnallt trug man das Stromaggregat. »Wie heißt das Ding eigentlich?« fragte Jenny. »Keine Ahnung! Andrew hat es mir gesagt, ich hab's vergessen. Vielleicht Leichendetektor.« Umständlich hängte er sich das Gerät über, dann bewegte er versuchsweise den Suchkopf hin und her. »Also, es geht los«, sagte er und warf den Motor an. »Ich glaube nicht, dass Elphi ihn genau da versenkt hat, wo damals die seltenen Pflanzen wuchsen!« schrie Jenny, um den Motorlärm zu übertönen. »Er wusste, wie sehr sich die Leute dafür interessieren. Er hätte Spuren hinterlassen können, die aufgefallen wären.« »Genau. Wir werden einen Bogen um diese Stellen machen - ich hoffe nur, das Sumpfrosmarin hat sich nicht so stark ausgebreitet, dass es nun genau über ihm wächst.« Frank stellte die Gurte nach und watete schwerfällig hinein in den Morast; er schwenkte den Detektor hin und her, dass man an den tastenden Saugrüssel eines Insekts denken musste, während er im Sichtgerät das Röntgenbild des Untergrunds betrachtete. So watete er durch den Tümpel und suchte systematisch den Boden ab. Der Regen konnte ihm nichts anhaben. Jenny war nicht kräftig genug, das Gerät zu tragen, so konnte sie nichts weiter tun, als sich über ihre Nutzlosigkeit zu ärgern. Der große Ernst, mit dem Frank seine Arbeit tat, ließ ihn auf liebenswerte Weise komisch erscheinen - doch war seine unerschütterliche Geduld bei diesem Unternehmen sicher nützlicher als ihre nervöse Unruhe. Nach einer Stunde ungefähr gab es Alarm, aber es war nur ein Schafskadaver, der tief im Schlamm eingesunken war. Immerhin wussten sie jetzt, dass das Gerät funktionierte. Der Nachmittag zog sich dahin, ohne dass sich noch etwas zeigte. Ohne Franks beispiellose Ausdauer vor Augen hätte Jenny längst aufgegeben; sie war auch über alle Maßen erstaunt, als sie nach fünf Stunden der Suche tatsächlich den erhofften Fund machten. Nicht einmal ein Meter unter der Wasseroberfläche lag eine kleine, wie gegerbt wirkende Gestalt - die sterblichen Überreste des Hobbs Woof Howe.
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Die Wogen der Erregung schlugen in den nächsten Wochen hoch, doch hoffte Jenny insgeheim immer noch, dass Elphi oder ein anderer der Ausgesetzten in Yorkshire oder Schweden erwachen würde, das Radio einschaltete und eilends aus seinem Versteck käme. Der kleine Mann aus dem Moor hatte die Geschichte der Hobbs bestätigt. Aber als man Jenny, Frank und den fünf aalglatten Hobbs-Gesandten endlich erlaubte, eine Stunde in einem abhörsicheren Raum unter sich zu sein und Frank die Karten auf den Tisch legte, da wurden die fünf ganz still und saßen da wie Statuen. Der Obrigkeit etwas zu verschweigen sei für einen Hobb unvorstellbar. Dass sich niemand bei den Behörden gemeldet hatte, war für sie gleichbedeutend mit der Tatsache, dass kein Mensch von den Gafr wusste. Warum hatten diese beiden Menschen geschwiegen? Als Frank antwortete, sie hätten Angst gehabt, dass jemand durchdreht, da schienen sie erleichtert zu sein. »Das war sehr klug«, sagte der eine, der ihr Sprecher zu sein schien. »Wir werden noch in der Minute dieses Sonnensystem verlassen, in der wir unsere Kameraden gefunden haben - oder uns überzeugt haben, dass sie nicht mehr leben. Behalten Sie Ihr Wissen für sich, und die Welt wird weiterleben, als wären wir nie dagewesen. Es erspart uns allen eine Menge Ärger.« »Sie haben nicht vor, den Kontakt mit uns aufrechtzuerhalten«, sagte Jenny. »Wir sind lange genug hier, um davon mit Bedacht Abstand zu nehmen. Sie werden keine Informationen, keinen Rat von uns erhalten, aber wir werden auch nichts tun, was Ihnen schadet - es sei denn, man zwingt uns dazu.« »Mit >wir< meinen Sie die Gafr«, sagte Frank. »Selbstverständlich.« »Ich nehme an, sie könnten den ganzen Planeten zerstören, indem sie einfach auf einen Knopf drücken?« »Mehr oder weniger, ja.« »Aber könnten sie ihn nicht auch retten? Die Macht übernehmen, für Abrüstung sorgen und zusehen, dass wir unsere Angelegenheiten in Ordnung bringen?« Der Sprecher der Hobbs zögerte. »Sie könnten alles das tun, aber sie könnten damit euren Hang zur Gewalt, eure Habgier nicht dauerhaft überwinden - das sind Folgen eurer Evolution. Und sehr wenige Gafr sind daran interessiert, sich für andere Rassen zu engagieren - die, die unser Schiff befehligen, mit Sicherheit nicht.« »Sie wollen also nichts mit uns zu tun haben«, sagte Jenny, und sie wusste nicht, ob sie darüber unglücklich oder erleichtert sein
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sollte. »Ganz und gar nichts. Einige eurer Wissenschaftler sind so fasziniert von uns, dass sie einfach nicht begreifen können, dass wir nicht auch von ihnen fasziniert sind oder uns wenigstens für wissenschaftlichen und kulturellen Austausch interessieren und so weiter. Wir müssen sie die ganze Zeit schon hinhalten, damit wir niemanden beleidigen. Wir wollen auch keine falschen Hoffnungen wecken. Aber je eher wir unsere Aufgabe hier erledigt haben und aufbrechen können, desto eher werden wir wieder aufatmen. Sagen Sie um Himmels willen nichts von den Gafr! Sie werden nur Ihren eigenen Leuten schaden, wenn Sie das tun.« »Armer Carl Sagan«, sagte Jenny später. »Armer Francis Crick, Sir Francis Crick«, sagte Frank. Der streitbare, hochbetagte Mann war fast ununterbrochen im Fernsehen und dozierte über die zukünftige interstellare Gemeinschaft aller Intelligenzwesen des Universums. »Wenn sie als Vertreter der Gafr sprechen, dann sind diese Hobbs richtige Mistkerle. Unsere Hobbs im Moor waren da eine andere Sorte.« »Und sie liebten das Moor. Elphi nannte die Bauern in den Bergen >das Salz der Erde<.« »Aber wir werden tun, was sie gesagt haben, nicht wahr?« sprach Frank weiter. »Arrogant oder nicht, sie haben recht. Es würde mehr schaden als nutzen, es hieße, schlafende Hunde zu wecken.« Jenny seufzte. »Ich wünschte so sehr, dass sich nach der Sache mit May Moss noch andere Augenzeugen gemeldet hätten, damit wir nicht ganz allein die Verantwortung tragen müssen - es ist einfach zu viel für uns!« »Es ist jedenfalls zu viel für die Idioten, die die Welt regieren«, sagte Frank sehr bestimmt. »Besser wir als die, wenigstens dieses eine Mal.« Und damit ließen sie es bewenden. Inzwischen war die Suche nach den ausgesetzten Hobbs weitergegangen. Die fünf ersten Gesandten drohten bei dem anhaltend kalten Wetter einzuschlafen und wurden durch fünf andere abgelöst. Aber noch immer war kein Hobb aus dem Moor oder tomte aufgetaucht. Für den Fall, dass keine der Gruppen in ihrem Versteck noch ein Radio besaß oder die Batterien fehlten, fuhren Ende April Lautsprecherwagen über die Straßen im Moor und durch Südschweden; sie verkündeten die Nachricht von der Rückkehr des Schiffs und forderten die Hobbs auf, aus ihren
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Verstecken zu kommen und sich zu zeigen. Man versuchte es auch an den beiden Landeplätzen mit einem Zeitfenster und schickte Botschaften zurück in die Vergangenheit: dreihundertfünfzig Jahre zurück in Skane, zwölf Jahre zurück in Yorkshire. Denn 1994, als Jenny ihm begegnet war, hatten Elphi und seine Kameraden nichts von einem Zeitfenster gewusst. Es hatte also keinen Sinn, eine Nachricht in eine Zeit zuvor zu schicken. Die Hobbs brachten die irdischen Physiker an den Rand des Wahnsinns, indem sie ihnen freundlich lächelnd erklärten, dass natürlich die Zeit unveränderlich sei, dass es nur eine Zeit gebe und wenn in dieser heutigen Gegenwart feststand, dass die Hobbs bis 1994 keine Botschaft erhalten hätten, dann würde es auch nie eine Vergangenheit geben können, in der sie eine Botschaft erhalten hatten - es sei denn nach jenem Zeitpunkt des Jahres 1994. Wenn Botschaften durch ein Zeitfenster ausgetauscht wurden, dann mussten diese Ereignisse schon fester Bestandteil der einen unveränderlichen Zeit sein. Die Physiker der Menschen traten im Fernsehen auf und gaben Zeitungsinterviews: Übereinstimmend hieß es, dass dies absurd und unmöglich sei, und die Hobbs sollten solche Behauptungen gefälligst begründen. Die Fremden erwiderten mit großer Höflichkeit, dass eine Antwort nur ein Experte in Zeittheorie geben könne, und unglücklicherweise sei kein solcher Experte an Bord des Schiffs. Sie bedauerten außerordentlich, dass sie keinem der Wissenschaftler erlauben könnten, das Zeitfenster zu untersuchen, das allerdings auch keineswegs zufriedenstellend funktioniere. Und als auch dieser letzte Versuch, die Vermißten zu finden, gescheitert war, kündigten die Gesandten ihre Abreise an. Den mumifizierten Leichnam Woof Howes würden sie ebenso mitnehmen wie die Aufzeichnung der öffentlichen Anhörung von Jenny und Frank, aber sonst rein gar nichts. Schließlich gestanden sie vor aller Augen ein, dass sie keinerlei Austausch mit den Bewohnern der Erde wünschten; sie würden auch nicht die Position ihres Heimatsterns preisgeben. Ihr einziger Wunsch war nach Hause zu kommen. Während die Regierungen protestierten und die Wissenschaftler ihre Enttäuschung darüber äußerten, dass die Fremden nicht bleiben wollten, waren die meisten Menschen schlichtweg froh darüber, dass die Fremden gehen und nie mehr wiederkommen wollten. Doch in diesem Punkt irrten sich Menschen und Hobbs gleichermaßen. Am selben Tag, als das Gafr-Schiff sich von der Mondoberfläche
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erhob, flog Jenny nach Hause, um für den Rest des Semesters ihre Vorlesungen zu halten, und Frank kehrte auf seinen Hof zurück. »Was ist, wenn wir uns geirrt haben?« hatte Jenny gefragt, als er sie in Heathrow zum Flugsteig brachte. Aber er hatte nur den Kopf geschüttelt, er war seiner Sache sehr viel sicherer als sie. An einem milden Sommerabend des folgenden Jahres stand Frank Flintoft an der Hintertür und rief durch die Küche zu seiner Frau: »Was ist nur in dich gefahren, dass du ganz alleine den Hühnerstall ausmistest?« Es hörte sich richtig böse an. Jenny kam mit einem Buch unter dem Arm in die Küche. »Ist das ein Trick, um mich zum Arbeiten zu bringen? Du weißt, dass ich mir den verdammten Hühnerstall schon seit Wochen vorgenommen habe, aber wenn jemand ausgemistet hat, dann nicht ich!« »Komm her und schau es dir an.« Frank führte sie im letzten Licht des Tages über den Hof. In ihrem Hühnerstall war der Unrat abgetragen und auf den hölzernen Dielen lag frisches Streu. Die Hennen gluckten zufrieden. Jenny stand mit offenem Mund da. »Willst du allen Ernstes sagen«, meinte Frank, »dass nicht du das warst?« »Es wär' mir mehr als recht, aber ich hab's nicht gemacht!« Langsam gingen sie zurück zum Haus und fragten sich, wer sich wohl ihres Hühnerstalls angenommen hatte. »Vielleicht ist Billy Davies nach der Schule vorbeigekommen, um noch etwas dazuzuverdienen, und vielleicht wollte er uns damit überraschen«, sagte Frank. »Ich habe ihn dafür bezahlt, dass er bei den Schweinen ausmistet. Aber irgendwie sieht es ihm nicht ähnlich.« »Dann war es vielleicht John oder Peter«, erwiderte Jenny recht halbherzig, »aber dass sie von selbst darauf kamen ... und der einzige Mensch, mit dem ich über den lästigen Hühnerstall gesprochen habe, bist du. Hast du es jemandem erzählt?« Der Gedanke traf sie beide gleichzeitig wie ein Blitz. »Du denkst doch nicht etwa ...«, sagte Jenny, und Frank entgegnete: »Das ist doch nicht möglich ...« Dann waren sie beide sprachlos. Frank fand als erster seine Sprache wieder. »Angenommen, das Radio funktionierte die ganze Zeit ...« » ... und sie haben gehört, dass wir geheiratet haben, und
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wissen, wo wir leben.« » ... und sie kamen zu dem Schluss, dass sie das Moor nicht verlassen konnten. Aber das ist nicht dein Ernst!« »Ausgeschlossen!« »Wer sonst würde einen Hühnerstall ausmisten, ohne dass man ihn drum fragen müsste!« Sie lachten und fielen sich in die Arme. Dann riß Jenny sich los und lief zur Küche, nahm die wenigen Stufen mit einem Satz. Sie griff sich einen Krug aus Steinzeug vom Bord und füllte ihn randvoll mit Milch aus dem Topf im Kühlschrank, dann stellte sie ihn auf die oberste Treppenstufe, vorsichtig, damit kein Tropfen verschüttet wurde.
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3 1985-2012 Tiny Tango Es war nicht meine Idee, dies hier zu schreiben; ein Freund, ein Hobb namens Godfrey, hat mich recht nachdrücklich dazu aufgefordert. Was er sich davon verspricht, weiß ich nicht. Es sollte die Geschichte meines Lebens werden, das, offengesagt, nicht sehr viele schöne Seiten hatte. Godfrey sagte, dass meine Geschichte als Beispiel dienen könne, doch wofür und wer daraus lernen sollte, das sagte er nicht. Mit zweiundzwanzig musste ich eine wichtige Entscheidung treffen. Dass ich noch lebe, hängt unmittelbar mit dieser Entscheidung zusammen, doch frage ich mich noch heute, ob sie richtig war. Kann man eine Entscheidung weise nennen, wenn man die folgenden fünfundzwanzig Jahre lebt, als wäre man längst gestorben? Ich hatte gehofft, beim Schreiben eine Antwort auf diese Frage zu finden, wenn ich mein ganzes Leben einmal Revue passieren lasse. Es wäre so wichtig, dass ich mir endlich Klarheit über dieses Leben verschaffe. Jetzt, wo ich schlafen soll, sehr lange schlafen - vielleicht sogar für immer. Ich muss es wissen ... und auch, was Godfrey dazu meint. Und wozu es gut sein soll, wozu das alles gut war. Ich kann wirklich nicht sagen, dass es funktioniert hätte, denn ich sehe nicht klarer als zuvor. Aber muss das das letzte Wort sein? Vielleicht werden Sie, die Sie in den Archiven herumstöbern, Dinge in meinem Bericht lesen, die mir völlig entgangen sind (Godfrey würde jede Wette eingehen, dass es so sein wird).
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1 Ich erinnere mich an einen strahlenden Junimorgen, es war die Zeit zwischen den beiden Katastrophen - meiner persönlichen und jener in Peach Bottom, die alle traf: ein klarer, recht frischer Morgen, wie ich sie in meiner Kindheit oft erlebt hatte, die aber durch den Treibhauseffekt in den letzten Jahren selten geworden sind. In Morgenmantel und Pantoffeln humpelte ich hinaus auf die Terrasse und machte mich dann in aller Ruhe über meine selbstgemachten Vollkorn-Muffins mit Honig und Rosinen und das Erdbeershake aus Sojamilch her. Ich blätterte in der neuesten Ausgabe von Der Biogarten, in der ein Artikel von mir abgedruckt war; es ging darum, wie man Eichhörnchen von Obstgarten und Kornfeld fernhalten konnte. Nach einer Weile nahm ich meinen Stock und machte in aller Ruhe meine Runde durch den Garten, um die Pflanzen zu inspizieren. Ich hatte den Knöchel gebrochen, und das braucht seine Zeit, bis es geheilt ist. Dass ich den gewohnten Sport am Morgen ausfallen lassen musste, war ärgerlich, doch hatte es auch seine angenehmen Seiten. Weil mein Garten mich mit allem versorgte, was ich an Obst und Gemüse brauchte, schenkte ich ihm naturgemäß mehr Aufmerksamkeit als ein reiner Hobbygärtner. Vielleicht schwang etwas von der ängstlichen Sorge eines Siedlers irgendwo weit draußen mit. Zwar wusste ich, dass ich nicht darben würde, wenn eine Pflanze nicht gedieh, doch weil ich andererseits aus Überzeugung nie Obst und Gemüse kaufte, bedeutete so ein Fehlschlag, dass ich ein ganzes Jahr lang auf ein bestimmtes Produkt verzichten musste. Deshalb war die tägliche Runde durch den Küchengarten nie langweilig. Mit den Kennebec-Kartoffeln war irgend etwas Schlimmes passiert, das sah man sofort. Gestern abend bei Sonnenuntergang waren die Pflanzen noch buschig und grün gewesen, die Stiele fest und saftig, wenn sie auch vom Gewitter der letzten Woche arg zerzaust worden waren. Aber sie hatten es unbeschadet überstanden und begannen zu blühen: diese kleinen Blüten, die anzeigten, dass ich bald einige kleine Knollen nehmen konnte, um sie mir mit den neuen Erbsen schmecken zu lassen. Jetzt waren an vielen Stöcken die Blätter eingerollt und gelb gefleckt. Ich riß die kranken Pflanzen auf der Stelle aus, es hatte keinen Sinn mehr, obwohl mir fast das Herz brach. Die größte Gefahr für die Pflanzen in einem Biogarten sind Krankheiten, die durch Insekten übertragen werden - in diesem Fall
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wohl Blattläuse oder Zikaden, die inzwischen so gut wie sicher auch die anderen Pflanzen ringsherum infiziert hatten. Die gelben Flecken bedeuteten, dass die Insekten meine Kartoffeln mit einem Virus infiziert hatten. Die Ameisen würden sich schon bald über das ganze Beet verbreitet haben, wenn es nicht schon geschehen war. Auch bei den scheinbar gesunden Pflanzen würden sich in Kürze diese Symptome zeigen. Wenn Eric kam, musste ich ihn bitten, das Beet mit Rotenon-Lösung zu spritzen, doch war es wohl schon zu spät, die Kartoffeln zu retten. Ich weiß noch, dass ich mir sagte: Also schön, wieder einige von uns, die es erwischt hat. Ich ließ das Häufchen ausgerissener Kartoffelstöcke liegen; Eric sollte es mit der Schubkarre zum Verbrennungsofen bringen. Kompostieren durfte man diesen Abfall nicht, er musste verbrannt werden, sonst gab es keine Chance, die übrigen Pflanzen zu retten, und das würde ein Jahr ohne Kartoffeln bedeuten. Die Infizierten vernichten, um die Gesunden zu retten. Die Hexenjagd auf AIDS-Kranke in den späten neunziger Jahren, als aufgebrachte Bürger die Behandlungszentren im ganzen Land stürmten, um die Namen infizierter Menschen zu erfahren, folgte demselben Prinzip: Identifizieren! Vernichten! Man jagte nicht nur jene, die akut an AIDS erkrankt waren, sondern alle, die ein positives Testergebnis aufwiesen, ob es sich nun um HIV-I, II oder III handelte. Ich hatte Glück gehabt: Meine Akten lagen im Büro einer Selbsthilfegruppe, deren Mitarbeiter dem Mob einige Zeit standhalten konnten; während ein verängstigter Helfer in größter Eile die Datenspeicher des Computers löschte, verbrannten zwei weitere im Waschbecken alle Papiere. Die Polizei kam noch rechtzeitig, um sie zu retten. In anderen Städten wurden Helfer erschossen, und bei jenem grausigen Vorfall in St. Louis hatte man die Ausgänge des Hauses verbarrikadiert, nachdem jemand einen Brandsatz durchs Fenster geworfen hatte. Das war nicht das letzte Mal gewesen, dass ich Glück hatte. Ich war infiziert, ganz ohne Zweifel, aber nach fünfundzwanzig langen Jahren zeigten sich immer noch keine Krankheitssymptome. Auch die letzten, sporadischen Verfolgungen endeten im Jahr 2001, als das Löwenfels-Serum entdeckt wurde. Der Menschheit im allgemeinen war damit geholfen; aber wo blieb die Heilmethode für die bereits Erkrankten? Niemand glaubte mehr, dass jemals eine Möglichkeit gefunden wurde, das Virus aus dem Körper jener zu eliminieren, die bereits infiziert waren. Das beste, was wir erhoffen durften, war eine Behandlung, die die Krankheit nicht zum
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Ausbruch kommen ließ - oder wenigstens erst nach langer, langer Zeit. Der Impfstoff, der gegen ein Hüllprotein des Virus wirkte und seit 1994 als Standardtherapie eingesetzt wurde, war bei vielen Patienten wirkungslos. Zidovudin und ähnliche Substanzen waren einfach zu toxisch. Es blieb noch eine Menge zu erforschen. Wir hofften, dass man sich auch tatsächlich an die Arbeit machte, dass man uns nicht vergaß - aber wir glaubten nicht, dass es eine wohl begründete Hoffnung war. Die Knochenmarkspunktion und besonders die Impfung mit dem Löwenfels-Serum, die rasch jene umständliche und ziemlich schmerzhafte Prozedur ersetzte, bedeutete das Ende des Schreckens für jene, die verschont geblieben waren; für die weniger glücklichen bedeutete es zumindest das Ende der Verfolgung. Daher war es auch für uns ein großer Tag, als die Massenimpfungen begannen. Einige waren jedoch so demprimiert, dass sie dem Selbstmord nahe waren. Man braucht sich nur vorzustellen, was ein Mensch, den die Kinderlähmung schon früh zum Krüppel gemacht hatte, empfinden musste, als man endlich den Salk-Impfstoff an die Schulkinder ausgeben konnte, die nur ein kleines Stückchen Würfelzucker zu schlucken brauchten. Es war besser, wenn man nicht allzuviel darüber nachdachte. Der Arzt, der mir die Neuigkeit mitteilte, schob mich zu einem Stuhl und sagte: »Als das Ergebnis hereinkam, habe ich Ihnen gleich heute abend einen Termin bei einer Beratungsstelle besorgt. Man kann dort mehr für Sie tun, als Sie für möglich halten vergessen Sie, was immer Sie heute vorhatten: Sie werden dort sein.« Er schrieb Adresse und Uhrzeit auf einen Zettel, und ich ging. Die Frau in der Beratungsstelle war Mitte Dreißig, sympathisch, aber äußerst energisch, und sie hatte einiges zu sagen an diesem Abend, während ich dasaß und in immer neuen, eisigen Wellen Angst und Schrecken über mich hereinbrachen. »Man weiß nicht, warum manche Leute dem Virus besser widerstehen können als andere, oder warum einige HlV-Positive die Krankheit recht schnell entwickeln, während bei anderen die Latenzzeit fünf bis sechs Jahre beträgt«, sagte Elizabeth. »Man weiß auch nicht genau, welche Faktoren das akute Stadium auslösen, wenn es überhaupt dazu kommt, oder welcher Prozentsatz der Infizierten schließlich erkrankt. Doch wird im Augenblick sehr viel über die sogenannten Kofaktoren geforscht, von denen im Einzelfall abhängt, was das Virus ausrichten kann. Zu den Kofaktoren gehören etwa der
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Allgemeinzustand eines Menschen, Streß, Lebensstil. Wir glauben, dass es für Sie äußerst wichtig ist, so gesund und harmonisch zu leben wie nur irgend möglich. Wir haben es mit einem Virus zu tun, das sich im Immunsystem einnistet. Bekommen Sie etwa Grippe und Ihr Immunsystem nimmt den Kampf gegen die Grippeviren auf, dann führt das zur Vermehrung der AIDS-Viren; es kommt also darauf an, Ihrem Immunsystem so wenig wie möglich zu tun zu geben, so gewinnen Sie Zeit. Was das konkret bedeutet? Dass Sie auf sich aufpassen. Schlafen Sie viel, sorgen Sie für Bewegung. Übermüdung und Streß sind Gift für Sie. Achten Sie auf Ihre Ernährung. Meditieren Sie. Und geben Sie sich vor allem selbst nicht auf! Die Chancen stehen nicht schlecht, dass es in vier oder fünf Jahren eine Behandlung gibt, die den Ausbruch von AIDS verhindern kann.« So etwa redete sie auf mich ein. Was die Behandlung betraf, irrte sie natürlich. Damals glaubte man, dass wohl nie ein Impfstoff gefunden würde, dass aber ein Medikament im Rahmen des Möglichen lag. Gut, dass wir es nicht wussten. Aber was immer die Zukunft an Chancen bereithielt - eine Überlebensfrist von mehr als vier bis fünf Jahren durfte man kaum erhoffen. Elizabeth schlug mir vor, mich einer Therapiegruppe anzuschließen. Dies sei ein Forschungsprojekt, und alle hätten sie sich bereiterklärt, mitzuarbeiten. Es waren Psychoneuroimmunologen, die dieses Projekt bearbeiteten, obwohl wir das damals nicht wussten. Für uns waren sie einfach Leute, die uns Hoffnung gaben. In den folgenden Wochen arbeitete ich, unterstützt von Elizabeth und der ganzen Gruppe, einen Plan aus, der mein Leben von Grund auf neu organisierte; alles musste getan werden, damit ich so gesund lebte, wie es nur möglich war. Denn schließlich wollten die Forscher herausfinden, wie ein solches Leben den Krankheitsverlauf bei einem symptomfreien HlVInfizierten beeinflußte. Meine Arbeit für die Zwischenprüfung in Biologie war gut genug gewesen, dass mir die Cornell-Universität eine Assistentenstelle, verbunden mit einem Stipendium, anbot. Bevor ich mein Testergebnis kannte, begeisterte mich der Gedanke, dass hier eine neue Herausforderung auf mich wartete, ebenso wie die Aussicht auf einen Ortswechsel; nach einigen Sitzungen mit Elizabeth und der Gruppe aber kamen mir Bedenken: War das nicht alles zu anstrengend -neue Kollegen, eine andere Universität, das Leben in einer Stadt, in der es sechs Monate im Jahr Winter war? War es nicht besser, in der vertrauten Umgebung zu bleiben? Schließlich
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hätte ich auch meine Therapiegruppe aufgeben müssen. Also bewarb ich mich nachträglich an meiner eigenen Universität um einen Platz für das Hauptstudium, wurde akzeptiert und blieb: die erste wichtige Entscheidung, die ich revidieren musste. Die erste von vielen, in denen ich die weniger ehrgeizige, weniger anstrengende Alternative jener vorziehen musste, die mir wesentlich attraktiver schien. Es war mein Professor im Hauptfach, bei dem ich mich angesteckt hatte; ich war ganz sicher, denn er war mein einziger Liebhaber. Bevor ich mich noch aufgerafft hatte, ihm von dem Testergebnis zu erzählen, starb er bei einem Autounfall auf der Interstate 95. So blieb es mir erspart, und ich fürchte, dass meine Erleichterung darüber die Trauer überwog. Sein Tod hatte auch das letzte Hindernis für mein Bleiben aus dem Weg geräumt. Es wäre mir schwergefallen, ihn immer wieder sehen zu müssen. Vom ersten Augenblick an wusste ich, dass niemand außerhalb der Selbsthilfegruppe es erfahren sollte. Weder meine konservativen Eltern noch meine Freunde, von denen ich mich nun allmählich zurückzog. Sozusagen über Nacht waren unsere Interessen nicht mehr dieselben; sie lebten für Partys und für ehrgeizige Karrierepläne, ich kämpfte um mein Leben. Ich beobachtete sie vom gegenüberliegenden Rand eines tiefen Abgrunds, aus einer völlig anderen Welt. Mein Studium in den folgenden Semestern geriet mehr oder weniger zu einem Spaziergang, obwohl ich gute Arbeit leistete. Doch tat ich nichts, womit ich auffallen konnte. Ich hatte auch keine Eile. Auf sich aufmerksam machen hätte weit größere Anstrengung bedeutet - und meine Hauptaufgabe hieß: am Leben zu bleiben. Doch begann sich allmählich ein Bild zu formen, was man aus diesem Leben machen konnte. Zuallererst musste ich mich von all dem trennen, was mir bisher als erstrebenswert erschienen war. Das Yuppie-Dasein, dem ich vor kurzem noch wie selbstverständlich entgegengesehen hatte - eine Ehe zweier Erfolgsmenschen, zwei hochbegabte Kinder, das Haus im Grünen, ein Blockhaus in den Pocono-Bergen, die Urlaube in Europa -, war nun so unerreichbar fern. Auch Sex war für mich tabu. Kaum dass ich es probiert hatte, war mein ganzes Leben ruiniert. Die wissenschaftliche Karriere hatte sich in Rauch aufgelöst. Ich würde keine dieser bemerkenswerten Mütter sein, die neben weltbewegenden Forschungen in ihrem Labor noch genügend Zeit für Kinder und Ehemann finden. Ich breitete den Entwurf meines Lebens, wie ich es mir vorgestellt hatte, vor Elizabeth und
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der Gruppe aus; ich betrachtete ihn lange und gründlich und nahm Abschied davon. All das war vorbei. Danach musste ich mir einen neuen Entwurf machen, der an die veränderten Gegebenheiten angepaßt war. Wir überlegten, wo meine Fähigkeiten lagen und was mir nun noch zu wünschen blieb. Kurze Zeit spielte ich mit dem Gedanken, in der AIDS-Forschung zu arbeiten - aber AIDS-Forschung in den späten achtziger Jahren war etwa so geruhsam und nervenschonend wie das Besteigen der Eigernordwand im Winter. Den Märtyrer zu spielen lag mir damals wie heute fern. Nach vielen Stunden des Gesprächs in der Gruppe stellte sich heraus, dass ich nur eines wollte: überleben, bis andere Wissenschaftler ein Medikament gegen das Virus gefunden hatten. Alle in der Gruppe wollten ausharren und jenen Tag erleben, an dem ein Held im weißen Kittel auf einem weißen Roß zum Fort galoppierte und das Reagenzglas mit dem Wundermittel wie ein Banner schwenkte. Aber wie sollten wir ausharren? Wir wollten in der Lage sein, für uns selbst zu sorgen ohne uns einschränken zu müssen, und wir wollten für uns behalten, dass wir infiziert waren. Für mich war es naheliegend, Hochschullehrer zu werden und mir einen möglichst ruhigen Posten zu suchen. Also schaute ich mich um, ob es nicht irgendwo in der Nähe, bei einer der vielen Nebenstellen der Pennsylvania State University, ein stilles Plätzchen für mich gab. Ich fand eines. Während der letzten Studienjahre wurde ich nach außen ein völlig anderer Mensch. Es dauerte nicht lange, bis mein Institut, das so erfreut gewesen war, mich zu behalten, mich in die Gruppe jener Studenten einordnete, die nach einer vielversprechenden Zwischenprüfung ihr Pulver verschossen haben. Bald beschränkten sich meine menschlichen Kontakte auf die Therapiegruppe. Niemand am Lehrstuhl für Biologie hätte je ein so vitales Interesse mit mir teilen können wie meine Freunde in der Gruppe. Als im Lauf der Zeit der eine oder andere die Schlacht um die Gesundheit verlor, da pflegten die anderen den kränkelnden Kameraden nach Kräften, um ihm die letzten Monate so erträglich wie möglich zu machen. Wir waren wie die Mitglieder einer Kirchengemeinde, jeder war für jeden da. Elizabeth, deren ganzes Leben der Arbeit der Gruppe und dem Forschungsprojekt an der Universitätsklinik gewidmet war - sie war uns Seelsorger und Freundin und blieb dennoch eine Außenseiterin. Als sie mich fragte, was ich denn so einfach zum Vergnügen tun würde, da konnte ich nur antworten, dass gesund und am Leben zu bleiben für
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den Augenblick Vergnügen genug wäre. Wir nannten nie unsere richtigen Namen und betrachteten uns als ein Kollektiv, nie als eine Gruppe von Individuen. Für die Leute an meinem Lehrstuhl, die meinen Namen nur allzu gut kannten, war ich mit neunundzwanzig eine vertrocknete alte Jungfer. Niemand wunderte sich, dass ich eine Stelle annahm, für die ich absolut überqualifiziert war. Ich sollte an einem zweijährigen College >Biologie für Anfänger und Botanik unterrichten, fünfundzwanzig Kilometer weit draußen in den Vorstädten des Bezirks Delaware. Meine Eltern in Denver waren genausowenig überrascht. Niemand hatte versucht, zwischen den Zeilen zu lesen, als ich meine Entscheidung verkündete, nicht zur Cornell-Universität zu gehen. Für sie war das Lehren an einer Hochschule etwas höchst Besonderes, und alle Hochschulen waren gleichermaßen respektabel. Hocherfreut konnten sie nun allen Freunden und Bekannten erzählen, dass ihre Tochter bald Professor für Biologie sein würde, aber da sie keine Vorstellung hatten, wie mein Leben nun aussehen würde, waren sie nicht weiter versucht, darüber nachzudenken. Als das erste Enkelkind angekommen war, wurden sie, was mich betraf, noch gleichgültiger. Ohnehin musste ihnen mein Leben immer fremder und unwirklicher erschienen sein, seit ich aus der Kirche ausgetreten war. Meine neue Kirche war die Gruppe, von der sie allerdings nichts wussten. Meine Arbeit war öde, aber die Bezahlung war nicht übel. Ich blieb meinem Ruf als ordentliche, aber farblose Biologin treu; ich tat, was notwendig war, ohne jedoch andere oder mich selbst mitzureißen. Ich unterrichtete, schwamm einen Kilometer oder lief zehn an jedem Tag, meditierte morgens und abends eine halbe Stunde, kaufte mit größter Sorgfalt ein, um meine grauenhaft vollwertigen Menüs kochen zu können, und nahm einen Abend die Woche den Zug in die Stadt, um die Gruppe zu treffen, sowie an einem Nachmittag im Monat, um mir jenes Präparat mit dem überaus passenden Namen gag p24 spritzen zu lassen. Fünf Jahre lang verbrachte ich jeden Sommer einige eher gemächliche Stunden im Labor, um dann in meiner schönen Wohnung zu sitzen und eine solide, gewissenhafte, aber möglichst knappe Abhandlung zu schreiben, in der ich den einen oder anderen Aspekt meiner Doktorarbeit über die Auswirkungen von Streß auf das Immunsystem von Ratten weiterentwickelte. Alle diese Aufsätze wurden nacheinander in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht.
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In diesem Schicksalsjahr 1999 waren alle meine Krankenakten vernichtet. Kein Blatt Papier, keine Diskette gab es auf der ganzen Welt, die einen Hinweis darauf hätten geben können, dass ich mit HIV-I infiziert war - als ob nicht schon die Tatsache, was für eine traurige Figur aus mir geworden war, beredt genug gewesen wäre. In den fünfzehn Jahren, die nun vergangen waren, hatten sich die Reihen meiner Kameraden gelichtet, doch waren wir immer noch ein stattliches Häuflein. Alle hatten gewissenhaft den Behandlungsplan beachtet, was Ernährung und körperliche Fitneß betraf, so dass unsere Ärzte anfingen, uns zu beglückwünschen, dass wir gegen alle Wahrscheinlichkeit dem Tod >von der Schippe< gesprungen waren. Ich selbst war kaum jemals krank, hatte nie Erkältungen oder Verdauungsprobleme, was ich auf meine extreme Gewissenhaftigkeit zurückführe. Meine Lebensgewohnheiten glichen einer zickigen alten Jungfer. Aber es half. Hatte es mich trotz aller Vorsicht erwischt, dann legte ich mich ins Bett, schluckte Aspirin, trank Unmengen von Vitamin C. Als ich dann Professor auf Lebenszeit war, kaufte ich ein kleines Haus in einem schönen Neubaugebiet nicht weit vom Campus, ein zierlicher Backsteinbau mit einem Grundstück von einem halben Morgen. Hier konnte man es sicher auf Dauer aushalten. Seit Jahren schon hatte ich die Zeitschrift Präventive Medizin abonniert. Jetzt endlich konnte ich mir den Rat zu Herzen nehmen, das Gemüse selbst anzubauen, anstatt das giftige Zeug aus dem Supermarkt zu kaufen. Ich abonnierte auch noch den Biogarten, ließ den Boden untersuchen, kaufte die Geräte: Spaten, Hacke, Pflanzkelle, Rechen sowie Naturdünger und grub ein Stück Land hinter dem Haus um. Nun konnte es losgehen. In den ersten Sommerferien nach der Festanstellung legte ich meinen Garten an. Diesmal schrieb ich keinen wissenschaftlichen Aufsatz. Die ganze Zeit war ich sehr nachdenklich, doch mein Nachdenken führte zu nichts. Im folgenden Studienjahr passierte nicht viel. Ich tat meine Arbeit, ging jeder Auseinandersetzung aus dem Weg und verhielt mich, wie man es von mir erwartete. Doch als der nächste Frühling kam, wurde ich unruhiger. Immer unbehaglicher fühlte ich mich in meiner Haut. Auch wenn ich im Garten den Boden lockerte, den Kompost ausstreute, den ich nun selbst bereiten konnte, konnte ich den Gedanken nicht verscheuchen, dass die Karten in meinem Spiel nun ausgereizt waren, dass es Zeit wurde für etwas Neues. Was ich damals fühlte, waren die ganz normalen ersten
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Anzeichen der Midlife-Crisis. Und wenn es auch völlig normal war, so erschreckte es mich doch gewaltig. An dieser Stelle meines Berichts habe ich innegehalten, um einmal durchzulesen, was ich bisher geschrieben habe. Es ist alles ohne Zweifel richtig, aber es fehlt doch eine ganze Menge. Vor allem habe ich nichts über die Angst geschrieben, und ich meine nicht jene Zeit der Angst und des Schreckens, die wir heute als AIDSTerror bezeichnen - der Aufruhr in den Straßen, die Jagd auf Kranke und Infizierte in den Jahren 1998 und 1999, wo ich so gut wie tot gewesen wäre, wenn der Mob, der das Alternative Behandlungszentrum in der Walnut Street stürmte, Unterlagen mit meinem Namen in die Klauen bekommen hätte. Monatelang musste sich die Gruppe in verdunkelten Kellerräumen von Kirchen treffen, Nacht für Nacht wurde Elizabeth von Drohanrufen geweckt und wagte nicht, zu unseren Treffen zu kommen, weil der Ku-Klux-Klan sie beschattete. Ich will nicht leugnen, dass wir uns zu Tode ängstigten, solange dieser Alptraum dauerte, aber es war eben ein Alptraum, aus Hysterie geboren und nicht von Dauer. Nach einer Weile war es eben vorbei. Das also meine ich nicht. Wir alle wissen auch, dass wir sterben müssen. Ob wir morgen von einem Lastwagen zerquetscht werden, wenn wir die Straße überqueren, oder mit neunzig friedlich im Schlaf den Geist aufgeben - wir wissen, dass irgendwann der Augenblick kommt. Solange nun eine Art zu sterben nicht wahrscheinlicher scheint als die andere, gelingt es den meisten Menschen, einigermaßen zufrieden in dem Wissen zu leben, dass das Unausweichliche eines Tages eben geschehen wird. Aber wenn man weiß, dass die Chancen, jung und auf unschöne Weise zu sterben, beträchtlich größer sind als die der anderen, dann ändert man seine Ansichten über den Tod. Eine Zeitlang half mir meine kompromißlose Lebensweise, die dunklen Dämonen fernzuhalten, aber es gab Tage, da stand ich auf, lief meine zehn Kilometer, duschte, zog mich an, meditierte, fuhr zum College, unterrichtete, kaufte Kohl und Orangen auf dem Markt, fuhr nach Hause, korrigierte Arbeiten, meditierte, aß und ging schlafen: Aber die Angst folgte mir auf Schritt und Tritt, so dass ich fast wahnsinnig wurde. Es gab Medikamente, die etwas halfen, doch die wirksamsten machen auch abhängig, so dass man sie nicht zu häufig nehmen durfte. Das einzige, was mich solche monatelangen Angstzustände überstehen ließ, war das Mitgefühl meiner Freunde in der Gruppe.
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Wir richteten uns gegenseitig auf, wir redeten über unsere ohnmächtige Wut auf die Mediziner, als die Zeit verging, ohne dass die Wundermittel auftauchten, die man uns mehr oder weniger versprochen hatte. Hatten wir nicht ein Recht darauf, dass endlich diese Ungewissheit von uns genommen wurde, damit wir Menschen sein konnten wie andere auch - sterblich zwar, aber nicht immer mit einem Bein im Grab? Angst und Wut, das bedeutet extremen Streß. Streß bedeutet Tod, so stand es auch in meinen Aufsätzen; meine weißen Ratten und ich, wir hatten es im Labor bewiesen, und mit welcher statistischen Methode man die Meßwerte auch prüfte, sie zeigten, dass man von der Angst mehr zu fürchten hat als von irgend etwas sonst. Und deshalb erschreckte uns unsere Angst am allermeisten. Aber zusammen konnten wir besser damit fertig werden als jeder für sich allein. Einige wenige in der Gruppe rückten in solcher Not noch enger zusammen und wurden ein Paar; und bei ein oder zweien dieser Paare kannten die Partner sogar den richtigen Namen des anderen. Ich dachte keinen Augenblick daran, eine Beziehung einzugehen. Aber sexuelle Frustration ist ein weiterer Streßfaktor. Doch gibt es ja Videoshops, aus denen ich mir gelegentlich die eine oder andere Kassette holte. Meistens ist Pornographie einfach öde, aber mit der Zeit wusste ich, bei welchen Produzenten man mit etwas Phantasie rechnen konnte. Auf Bildschirmgröße verkleinert, wirkten die erigierenden Penisse und das herausspritzende Sperma so unglaublich harmlos. Kaum zu glauben, dass einige wenige solcher Tropfen mein Leben zerstört hatten. Lange Zeit war ich damit zufrieden, dass meine Sexualität, aus medizinischen Gründen, sich auf so engen Bahnen bewegte. Es gab auch Männer in der Gruppe, die nicht homosexuell waren, vielleicht war der eine oder andere sogar interessiert, aber mich auf eine Beziehung einzulassen, kam für mich nicht in Frage. Aber zurück zu jenem Sommer, ein Jahr nach meiner Festanstellung an dem zweijährigen College; nun schien ich verdammt, den Rest meines Lebens dort zu verbringen. Ein Jahr war es her, dass die schlimmsten Pogrome vorüber waren, und zu Beginn dieses Sommers war ich äußerst nervös und deprimiert und wiederum besorgt darüber, dass ich nervös und deprimiert war. Ungefähr zu dieser Zeit musste ich feststellen, dass ich mir eine Verhaltensweise angewöhnt hatte, die ich bisher nur aus den Erzählungen der Freunde in der Gruppe kannte: Eines Morgens ertappte ich mich dabei, wie ich sorgfältig meine Beine untersuchte, ob sich einer dieser typischen violetten Flecke des
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Kaposi-Sarkoms fand - eine Tumorart, die früher einmal sehr selten war, die jedoch eines der typischen Symptome der akuten AIDSErkrankung darstellt. Von jenem Morgen an hatte ich gegen diesen neurotischen Zwang anzukämpfen, ohne ihn je wieder ganz loszuwerden. Ich war in einem Alter, in dem Pigmentflecke und Unregelmäßigkeiten auf der Haut nichts Ungewöhnliches sind, aber etliche Male war ich nun einer Herzattacke nahe, wenn ich einen harmlosen blauen Fleck oder einen Kratzer entdeckte. Nach einigen Wochen, in denen ich immer verzweifelter wurde, hörte ich auf, mir die Beine zu rasieren und quälte mich in weiten Overalls durch die Hitze, um auf jeden Fall den Anblick meiner eigenen Haut zu vermeiden. Ich brachte mich selbst an den Rand des Wahnsinns. Die Gruppe stürzte sich auf mein Problem. »Dein Unbewusstes will dir etwas sagen, Kleines«, hörte ich mehr als einmal. »Überleg dir, was du falsch machst, und bring es in Ordnung, dann wirst du das loswerden. Als erstes versuchst du herauszufinden, ob es etwas ist, was in deinem Leben fehlt, oder etwas, das du loswerden musst.« Ich konnte mir nicht vorstellen, was ich loswerden sollte, denn in meinem Leben war ich so ziemlich alles schon losgeworden, was man nur loswerden kann. Aber ihre Ratschläge waren nicht dumm. Elizabeth hatte allerdings einen konkreten Vorschlag. Auf ihren Rat hin mietete ich für einige Zeit eine Ferienwohnung in den Poconos, nicht weit vom Durchbruch des Delaware - ungefähr jene Gegend, in der das Ferienhaus meiner Yuppie-Träume hatte stehen sollen. Ich verbrachte die beiden Wochen in diesem Refugium mit Radfahren auf dem Höhenweg, mit Kanufahrten auf dem Delaware und einigem Nachdenken über die Frage, was aus meinem Leben geworden war. Nun, ich war noch am Leben. Fast die Hälfte der Freunde aus der Gruppe lebte nicht mehr. Früher hatte man geglaubt, dass ein Infizierter, der nach sechs oder acht Jahren nicht krank geworden war, es wahrscheinlich nie würde, aber das hatte sich als Irrtum erwiesen. Je länger wir lebten, desto größer war die Menge Viren, die wir in uns trugen; nach so langer Zeit am Leben zu sein war wirklich erstaunlich. Ich hatte eine passende Arbeit gefunden, und niemand würde mir je meine Stellung streitig machen. Mein Gehalt reichte für eine Person, die sehr häuslich lebte und deren einziger Luxus in der besten Sportausrüstung und dem teuersten Videorecorder bestand. Ich besaß fast alles, was ich an Möbeln brauchte, und meine
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Bibliothek an Fachbüchern, Kassetten und Disketten über Ernährung, Fitneß, Streßbewältigung und einigen medizinischen Themen bot alles, was man zum Nachschlagen brauchte. Also, der Plan, den ich mir vor sechzehn Jahren ausgedacht hatte, war bis ins einzelne erfüllt. Und er hatte funktioniert: es gab mich noch. Aber warum fühlte ich mich dann so elend? Als erfolgreiche College-Absolventin hatte ich mir vorgenommen, etwas aus meinem Leben zu machen. Diesen Traum hatte ich aufgeben müssen. Aber was hatte ich eigentlich nach dem Studium vorgehabt? Ich konnte mich kaum erinnern. Eine gute Stunde wanderte ich über den steinigen , Bergpfad und genoß den großartigen Blick über New Jersey, bis längst Vergessenes wieder Gestalt annahm. Dass es in einem Leben auch Platz für andere geben konnte, dass es möglich war, der Welt etwas zu geben dass ein Mensch sich nicht ausschließlich mit sich selbst beschäftigen durfte. Ich hatte mir einmal gewünscht, zur weltweiten Gemeinde aller Wissenschaftler zu gehören. Nun dachte, plante und arbeitete ich für das Wohlergehen einer einzigen Person, mir selbst - denn was war die Gruppe anders als ich selbst, multipliziert mit fünfzehn oder elf oder neun? Ich hatte seit langer Zeit kaum einen Gedanken auf normale Leute verschwendet, Menschen, die von unserem Leiden verschont geblieben waren. Ich bog von dem dichtbevölkerten Weg ab und kletterte auf einen grauen, von zahlreichen Sträuchern überwucherten Felsen; ich setzte mich und starrte hinaus über die sommerlichen Wälder, erinnerte mich an die langen Gespräche mit Bill, meinen Professor, der mich angesteckt hatte, über Bevölkerungswachstum und Geburtenkontrolle, über eine neue, schonende Landwirtschaft. An Einzelheiten erinnerte ich mich nicht, aber allein den Mut zu visionären Gedanken zu haben und schwierige Fragen von solcher Bedeutung nicht einfach anderen zu überlassen, das schien mir jetzt unvorstellbar. War ich so klein und unbedeutend geworden? Ich saß auf dem Felsen, und mein Triumph, dass ich überlebt hatte, erschien mir nur noch schäbig. War ich nicht überhaupt längst tot? Ein lebender Leichnam? War dieses Leben nicht eine Art schleichender Selbstmord? Im Grunde wusste ich schon, dass es nicht unehrenhaft ist, dort zu überleben, wo andere fallen. Doch nichts konnte diese Anwandlung von Selbsthaß noch aufhalten. Ich stieg vom Felsen hinunter und ging den Weg zurück zu meinem Auto. Ich wusste nun, was meinem Leben fehlte: sinnvolle Arbeit, Engagement und Selbstachtung - nicht, weil ich es geschafft hatte,
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zu überleben, sondern weil ich auch etwas für die Allgemeinheit tat. Und dann ließ ich auch zu, dass ich mich erinnerte, wirklich erinnerte, was damals an diesem Frühlingsnachmittagen in Bills sonnigem Büro passiert war. So fand ich noch etwas, was mir fehlte: Vertrautheit, Nähe und jemand, dessen Du anders klang als das aller anderen Menschen. Der Weg war holprig und steil, und meine Wanderung hatte mich erschöpft. Als ich die Wohnung erreicht hatte, war die Sonne schon untergegangen, und plötzlich überkam mich ein seltsamer, insgeheim langgehegter Groll: Wie schön es wäre, nur ein einziges Mal eine Dose Bohnen mit Frankfurter Würstchen in den Mikrowellenherd schieben zu können und eine Cola zu öffnen, wie es gewöhnliche Amerikaner in ihren Ferien tun. Es war an einem der ersten Tage meines Rückzugs in den stillen Winkel, dass mich die Erleuchtung überkam; so hatte ich ausreichend Zeit, die notwendigen Schlüsse zu ziehen. Was körperliche Nähe anging, so fühlte ich mich noch immer nicht stark genug, um dieses Risiko einzugehen. Die Probleme, die eine Beziehung mit sich brachte, schienen mir größer zu sein als der mögliche Gewinn. Ich war in solchen Dingen eben nicht sehr geschickt. Aber mehr Engagement - das hörte sich schon besser an. Der Gedanke, vielleicht doch ein nützliches Glied der Gesellschaft zu werden, ohne mein inneres Gleichgewicht aufs , Spiel setzen zu müssen, war sehr verlockend. Ich könnte mehr aus meinem Unterricht machen ... aber das ging zu sehr ins Persönliche, konnte ebenfalls riskant sein. Dann fiel mir etwas anderes ein, das mir geradezu ideal schien: Ich könnte als freiwilliger Helfer AIDSKranke betreuen. Das klingt im ersten Moment zwar so, als müsste es für jemanden wie mich ungeheuer belastend sein, aber seltsamerweise ist es das nicht. Ich wusste so gut wie alles über den Verlauf der Krankheit, dass mich nichts mehr erschüttern konnte. Ich brauchte nicht zu befürchten, mich anzustecken, und ich war sicher, genügend Kraft zu besitzen, um den nötigen Abstand zu dem fremden Schicksal wahren zu können. Blieb also noch der Punkt >sinnvolle Arbeit<. Darüber dachte ich die ganzen zehn Tage nach, die mir noch blieben. Am Ende war es ein Traum, der mir zeigte, was zu tun war. Ich träumte von Gregor Mendel, dem österreichischen Augustinermönch, der die Grundlagen der modernen Genetik entdeckte - allein in seinem Klostergarten, ohne dass die Welt davon erfuhr. Mendels Foto kannte ich aus dem Biologielehrbuch,
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das ich am College benutzte; jenes gütige, etwas füllige Gesicht mit der runden Brille. Mit rotem, schwitzendem Gesicht beugte er sich über ein Beet junger Erbsen und führte die Triebe an die Drähte des Spaliers, damit sie klettern konnten. Ich stand in einiger Entfernung und sah zu; die liebevolle Sorgfalt, mit der er die zarten Ranken um die Drähte legte, rührte mich tief. Als ich näher kam, blickte er auf und lächelte, als wollte er sagen, >Ach, da bist du ja endlich<, und reichte mir Notizbuch und Bleistift. Als ich zögerte, ob ich es annehmen sollte, richtete er sich langsam auf und schritt näher. Er zog mich in seine Arme und umarmte mich wie ein Vater; aber sofort bemerkte ich, wie sich mir unter den dicken Tuchfalten eine Erektion entgegendrängte, und an meinen Busen preßten sich zwei feste Brüste. Dann küßte er mich auf die Stirn. Und schon war er durch das Gartentor verschwunden, und ich stand allein zwischen den Bohnen mit dem Notizbuch in der Hand - und es war mein eigener Garten hinter dem Haus, wo ich mich befand. Es war lange her, dass ich geweint hatte; doch als ich an jenem Morgen aufwachte, war mein Kissen naß und die Augenlider klebten. Seit meinen Kindertagen hatte ich nicht mehr so viel Liebe gespürt, so innig hatte mich seither niemand geliebt und in die Arme genommen. Fast brach mir diese Erinnerung das Herz, aber es hatte auch eine heilende Wirkung. Ich lag auf dem feuchten Kissen und dachte über Mendel nach wie er, der das Lehrerexamen nicht bestanden hatte, ins Kloster zurückgekehrt war, um dort unter dem Eindruck seines Versagens seine Versuche zu planen, seine Erbsen pflanzte, ohne dass der Bischof es wusste oder billigte. Es war ein karges, mönchisches Leben, das er führte, und sicher hatten wir da Gemeinsamkeiten. Aber anstatt zu jammern und zu nörgeln, nahm er das in Angriff, was er zu leisten vermochte, und es gelang ihm eine Großtat. Ich dagegen hatte den Gedanken an eigene Forschungsarbeit ganz aufgegeben, weil die Laboreinrichtungen des Colleges so dürftig und außerdem überlastet waren; Forschungsgelder zu beantragen oder mich für einen oder zwei Sommer nach einem Arbeitsplatz in einem gutausgerüsteten Labor umzusehen, so etwas schien mir nicht ratsam. Es war auch richtig, dass ich über den Einfluß von Streß auf das Immunsystem schon mehr gearbeitet hatte, als mir lieb war, und die weißen Ratten wurden von Jahr zu Jahr teurer, so dass die Verwaltung jedes Frühjahr noch mehr murrte, wenn ich meine Materialanforderung vorlegte. Aber wenn ich etwas ganz Neues anfing ...
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Nun, was die Gruppe betraf, so war dieser Traum ein gefundenes Fressen, genug Stoff für eine ganze Sitzung, wie man sich leicht vorstellen kann. Sie waren alle ganz sicher, dass ich mir selbst hatte sagen wollen: Fang etwas Neues an! Denk dir Experimente aus, die du auch in deinem Garten machen kannst, und publiziere deine Ergebnisse. Was die symbolische Bedeutung des Zwitterwesens in der Mönchskutte betraf, so waren die Meinungen geteilt; einer meinte, dass es sich wohl um die Verkörperung von Vater und Mutter in einer Person handele, darauf deuteten die Brüste, die Kutte sei ohnehin ambivalent, und redete man einen Mönch nicht mit »ehrwürdiger Vater« an? »Mönche werden >Bruder< genannt«, warf ein anderer ein, der einmal katholisch gewesen war. Andere meinten, dass der Traum eine unterdrückte Bisexualität hätte ans Licht bringen wollen oder Inzestwünsche oder dass er einfach sexuelle Frustration symbolisierte. Sie alle schienen sich über diesen Aspekt des Traums sehr viel klarer zu sein als ich. Doch glaubte ich, dass sie im übrigen recht hatten: Ich wünschte mir, meinen Garten zum wissenschaftlichen Arbeiten zu nutzen, um dann die Ergebnisse auszuwerten und zu veröffentlichen (daher das anachronistische Notizbuch und der Bleistift). 2 Das war im Jahr 2000, als man schon vier verschiedene HIV-Typen nachgewiesen hatte und mehr als eine Million Menschen daran gestorben waren. Geeignete Helfer wurden verzweifelt gesucht, denn in aller Hast musste der neugeschaffene Nationale Gesundheitsdienst neue Kliniken bauen lassen, die bald mit AIDSPatienten überfüllt waren. Meistens handelte es sich um Drogenabhängige und Kinder von Drogenabhängigen, die völlig verarmt waren. Außer in den unteren Bevölkerungsschichten war die sexuelle Übertragung des Virus recht selten geworden. Vielleicht glaubte ich insgeheim, dass mein Einsatz für diese Menschen das Schicksal gnädig stimmen würde - oder dass das geheime Band zwischen uns (das ich nicht wahrhaben wollte) eben auf andere Weise Ausdruck finden musste. Ich weiß es nicht. Ich sagte mir eben, dass ich der Allgemeinheit etwas schuldig war und dass es diese Schuld hier und heute zu begleichen galt. Also ging ich, sobald ich aus meinem Refugium in den Appalachen zurückgekehrt war, zu einer Einführungsveranstaltung
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der örtlichen AIDS-Hilfe für freiwillige Helfer. Es war niederschmetternd. Mir wurde klar, dass ich mir etwas zuviel vorgenommen hatte. Ich hatte mich schon als Pflegerin auf der Krankenstation gesehen, wie ich Tabletts mit Essen austeilte und Bettpfannen leerte, aber ich begriff bald, dass mich diese Arbeit gefühlsmäßig mehr beanspruchen würde, als ich erwartet hatte. Schon vorher wusste ich, dass die Funktion einer Bezugsperson für einen bestimmten Patienten für mich nicht in Frage kam. Also blieb noch die ebenso langweilige wie notwendige Büroarbeit: Die neuen Patienten mussten registriert und identifiziert, Krankengeschichten aufgenommen und im Computer gespeichert werden. Ich war einverstanden und verpflichtete mich für einen Nachmittag die Woche. Verglichen mit dem, was sich andere Helfer aufbürdeten, fühlte ich mich als Drückeberger, aber für die Freunde in der Gruppe war ich eine Heldin, obwohl man mir auch grollte, weil ich sie zwang, insgeheim ihrer eigenen verdrängten Angst ins Auge zu sehen. Einige der schwulen Männer hatten sich schon früher solche Einführungsvorträge angehört, doch war es ihnen unmöglich gewesen, sich auf irgendeine Weise zu engagieren. Wir neun, die wir von der Gruppe noch übrig waren, waren keine Heiligen. Seit langem war niemand mehr hinzugekommen. Als der Nationale Gesundheitsdienst vom Kongreß beauftragt wurde, den obligatorischen anonymen Bluttest für alle Bürger einzuführen, und so jeder erfuhr, ob er infiziert war oder nicht, da war schon mal ein neues Gesicht bei uns aufgetaucht; aber diese neuen HIV-Träger hatten es meist vorgezogen, eigene Gruppen zu bilden. Auch behagte die kompromißlose Strenge der Psychoneuroimmunologie nicht jedem. Ich verstand jedenfalls den Groll meiner Gruppe nur zu gut. Gleichzeitig aber wuchs meine Selbstachtung, als sich herausstellte, dass keiner sonst diese Arbeit hätte ertragen können, so anspruchslos sie auch war; ich konnte es. Und auch die Belohnung folgte fast auf der Stelle. Die zwanghafte Gewohnheit, meine Haut nach Veränderungen abzusuchen, war überwunden; ich konnte wieder ohne Ängste meinen eigenen Körper betrachten. Doch gab es noch eine andere Belohnung - eine ziemlich seltsam und verrückt erscheinende Idee, auf die ich sonst wohl nie gekommen wäre. Eines Tages machte ich für eine Kollegin, die zu beschäftigt war, eine Besorgung im Sanitätsgeschäft, als mir ganz zufällig ein Gegenstand ins Auge fiel, etwas, das man erfunden hatte, um Diabetikerinnen das Leben zu erleichtern - eine Vorrichtung aus Hartplastik, die man zwischen
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die Beine klemmte, eine Art Tülle, so dass man einen kleinen Strahl Urin problemlos über einen Teststreifen laufen lassen konnte. Eine bizarre Idee überkam mich, ein Geistesblitz, und doch war es ein vollkommen ausgereifter Plan. Zu Hause kramte ich einen alten Massagestab hervor, dessen Motor schon lange durchgebrannt war - ein flexibler Stab mit einem hautähnlichen Überzug aus rosa Gummi. Ich schnitt das Gummiende ab und klebte das Stück von sieben, acht Zentimetern sorgfältig an das Ende der Plastikhülle, dann bohrte ich in die Spitze ein Loch. Jetzt hatte ich eine Vorrichtung, mit der man als Frau beim Pinkeln eine männliche Ausstattung vortäuschen konnte. Der Erfolg spornte mich an; mein nächster Schritt war, mich als Mann einzukleiden. Ich kaufte eine komplette Garderobe: Socken und Unterwäsche, weite Hosen, Hemd, Pullover, Krawatte und einen nicht zu knapp sitzenden Sportsakko - alles konservativ geschnitten, in dezenten Farben und von guter Qualität. Ich kaufte sogar Herrenschuhe. Ich bin recht groß für eine Frau, fast ein Meter achtzig, und habe ein breites Gesicht, flache Brüste und die muskulösen Arme und Schultern, wie man sie nach vielen Jahren am Rudertrainer bekommt. Und ich stellte fest, dass das Sprichwort Kleider machen Leute völlig zutreffend ist, denn der bodenlange Spiegel in meinem Badezimmer bestätigte mir, dass ich tatsächlich wie ein Mann aussah. Zu guter Letzt schob ich noch den Kunstpenis vorne in den nagelneuen Herrenslip. Die Generalprobe zog sich über das ganze Wochenende hin. Am Montag beherrschte ich auch das Pinkeln mit der von mir erfundenen Apparatur; wie es aussehen musste, wusste ich aus einigen Videos mit einschlägigen Spielereien. Es schien mir umwerfend realistisch. Wohin Bruder Mendel auch führt, ich folge! sagte ich zur mir, und ich freute mich schon diebisch. Dieses ganze Unternehmen war der einzige Spaß, das einzige ausgelassene Vergnügen, das ich mir gönnte. Von Bohnen mit Frankfurter Würstchen zu träumen war dagegen gar nichts. Als ich glaubte, einen Versuch wagen zu können, zog ich meinen, wie soll ich sagen, >Tuntenfummel mit umgekehrten Vorzeichen< an und fuhr in eine andere Stadt, wo ich drei Stunden lang übte, selbstbewussten Schrittes die Herrentoiletten der verschiedenen Kaufhäuser zu betreten. Mit gestrecktem Arm stieß ich die Pendeltüren auf, ging mit festen Schritten zum Urinal, stellte mich breitbeinig davor ... Ich übertrieb ein wenig, aber ich war ganz einfach umwerfend. Nur meinen Schließmuskel kriegte ich
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nicht auf. Viel Theater und nichts dahinter, so stand ich da zwischen all den pinkelnden Männern. Bei der Hauptsache hatte ich also versagt. Aber es ging mir ja um das Voyeurspielen, und so gesehen hatte ich durchschlagenden Erfolg. Es war ein milder Tag im Spätherbst. Eine Menge Kerle ohne Jackett kamen herein und stellten sich rechts und links von mir auf. Drei Stunden lang ließ ich im Schutz meiner Verkleidung verstohlene Blicke schweifen, und niemand schien auch nur den geringsten Verdacht zu haben. Es war unvergleichlich. Dieses Hochgefühl, als ich nach Hause fuhr, war nicht zu beschreiben. In die Bollwerke der Männlichkeit war ich eingedrungen, und nichts hatte mich aufhalten können! Was für ein Triumph, was für eine schauspielerische Leistung! In den folgenden Monaten dieses Jahres 2000 arbeitete ich daran, meine Fähigkeiten als Männer-Imitatorin weiter zu verbessern; ich kaufte einiges an Garderobe und übte, mich wie ein Mann zu bewegen - schwingende Schultern, weit ausgreifende Schritte. Ich spazierte weniger oft in Herrentoiletten, als ich mir gewünscht hätte, aber es war nur klug, jene in der näheren Umgebung meines Hauses zu vermeiden. Mit der Zeit wurde ich etwas mutiger bei meinem Geschäft. Ich machte die Erfahrung, dass große öffentliche Toiletten auf Bahnhöfen und Busstationen, Flughäfen, Autobahnraststätten und dergleichen für meine Zwecke am besten geeignet waren - die Männer dort waren gewöhnlich in Eile, der Andrang war groß, so dass ich kaum befürchten musste, dass man zu sehr Notiz von mir nahm. Es war an einem solchen Ort, wo es mir schließlich gelang, meine Rolle zu Ende zu spielen: Ich schaffte es tatsächlich, in die Porzellanschüssel zu pinkeln, und von jenem Tag an machte es gewöhnlich keine Schwierigkeiten mehr - niemand kann sich wohl eine Vorstellung davon machen, wie stolz ich nun war. Es war einfach himmlisch, was ich zu sehen bekam. Was ist dagegen schon ein Schwanz auf Video - ich brauchte mir keine Kassetten mehr auszuleihen. Auch gab es interessante Entdeckungen zu machen. Beispielsweise waren junge Homosexuelle sehr viel vorsichtiger geworden, wenn es galt, auf einem Bahnhof einen Partner aufzureißen; statt dessen standen sie an benachbarten Urinalen, sahen sich an und rieben an ihrem Penis, bis sie eine Erektion bekamen. Aber wir hatten durchaus Gemeinsamkeiten, denn der Grund für meine Anwesenheit unterschied sich nicht sehr von ihrem Motiv. Dennoch machten sie mich nervös, denn meine Attrappe konnte einem genauen Blick
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nicht standhalten und manchmal, wenn ich mich zu lange dort aufhielt, erregte ich mehr Interesse, als mir lieb sein konnte. Nach einiger Zeit fragte ich mich, ob jemals etwas über die Soziologie und Psychologie des Pissoirs veröffentlicht worden war. Ich schlug sogar nach, doch fand ich nichts, und so schloss ich, dass es keine wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema gab. Die Männer kannten es nicht anders, und die Frauen, denen der Unterschied zwischen einer Damentoilette und einem Ort, an dem die Genitalien vor allen Leuten präsentiert wurden, mächtig aufgefallen wäre, hatten naturgemäß keine Ahnung, was sich auf Herrentoiletten abspielte. Unsere Gruppe bestand anfangs in der Mehrzahl aus homosexuellen Männern, von denen nun fünf noch am Leben waren, doch hatte keiner von ihnen je etwas über den Exhibitionismus auf Pissoirs erzählt; was die normalen Männer betrifft, so ist es gut möglich, dass sie nie etwas davon gemerkt haben. Ich hätte schwören können, dass nach sechzehn Jahren wöchentlicher Treffen niemand in der Gruppe noch ein Geheimnis haben konnte; aber vielleicht wollten die Schwulen diese Dinge einfach nicht vor uns anderen ausbreiten. Vielleicht war es demütigend für sie, vielleicht erschien es ihnen erbärmlich. Das konnte ich verstehen. Auch was ich tat, hatte etwas Erbärmliches an sich. Doch wog das Abenteuerliche daran alles ganz gewiss auf. Aber ich tat es den Schwulen nach und behielt meinen verrückten neuen Zeitvertreib für mich - und machte so die Erfahrung, dass ein Geheimnis vor der Gruppe zu haben mir Vergnügen bereitete. Wenn das Traumbild der hermaphroditischen Mendel auf diese Weise auch immer gegenwärtig blieb, so spielte es in meinem Garten in diesem Sommer eine weit größere Rolle. Ich wusste oder fühlte nur zu gut, dass zwischen diesen beiden Aspekten eine Verbindung bestand. Zuerst erschien mir ein wissenschaftliches Arbeiten im Garten hinter dem Haus als schreckliche Kleinkrämerei. Ich wusste so gut wie jeder andere, dass die Zeiten längst vorbei waren, in denen ein einzelner Mensch im weißen Kittel im Keller seines Hauses ernstzunehmende Forschung treiben konnte. Selbst Mendel hatte eine größere Gartenfläche zur Verfügung gehabt als ich. Als ich mich jedoch ein wenig umgesehen und die Zusammenfassungen in Biological Abstracts einmal eingehender unter diesem Blickwinkel studiert hatte, musste ich mich revidieren: Es gab einiges an brauchbaren Experimenten, die man sozusagen auch im Hinterhof durchführen konnte. Einige der interessantesten
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Aufsätze waren von Amateurforschern publiziert worden. Mir schien, dass es nicht wenige Gärtner aus Liebhaberei gab und gegeben hatte, die Meister ihres Fachs waren und zu Themen wie Pflanzenzucht, Schädlingsbekämpfung und Anbaumethoden unschätzbares Wissen beigesteuert haben. Sie sind durchaus mit Amateurarchäologen zu vergleichen. Besonders der biologische Anbau, der mich am meisten interessierte, war ihre Domäne, und so fand man hier zahlreiche Beiträge von Gärtnern und Landwirten, die zwar keine Wissenschaftler waren, doch gelernt hatten, vernünftige Experimente durchzuführen und damit ihre Erträge zu verbessern. Gentechnik und Chemiewaffen waren sicher nicht die einzigen Möglichkeiten, um bessere Ernten zu erzielen. Je mehr ich las, desto vielversprechender erschienen mir meine Aussichten. Zwar war ich im Gartenbau eine Anfängerin, dafür hatte ich aber Erfahrung im wissenschaftlichen Arbeiten; wenn alle diese Leute mit bescheidenen Mitteln etwas Nützliches hatten tun können, warum sollte mir es nicht auch gelingen? Ich hatte meine beiden ersten Melonenernten durch Bakterienwelke verloren, und auch die Gurken waren in diesen beiden Jahren an der Welke eingegangen. Der gestreifte Gurkenkäfer war vermutlich in beiden Fällen der Überträger gewesen, ich hatte jedenfalls genug von diesen Mistviechern in meinem Garten. Nun kann man alles aus der Gattung Cucurbitaceae - alle Rankengewächse einschließlich Melonen, Kürbisse, Gurken, Flaschenkürbis - auch unter Tüchern aus indischer Baumwolle oder Abdeckplanen ziehen, was die Käfer fernhält; doch muss man die Abdeckung entfernen, sobald die weiblichen Blüten erscheinen, damit der Weg für die Bienen frei ist - und wo die Bienen hinkommen, kommen auch die Käfer hin. Außerdem bringt es einen um die halbe Freude, denn wer möchte nicht seine Pflanzen wachsen sehen? Nein, es kam darauf an, eine Pflanzenart zu züchten, die gegen eine oder mehrere der von Insekten übertragenen Krankheiten resistent war. Nachdem ich alles über Bakterienwelke gelesen hatte, was ich auf treiben konnte, kam ich zu dem Schluss, dass die Zucht einer wirklich aromatischen Sorte Zuckermelonen, denen die Welke nichts anhaben konnte, eine lohnende Aufgabe war. In meiner Gegend war die Welke wirklich ein Problem, und es gab eine Reihe von Versuchen mit resistenten Hybriden, auf denen ich aufbauen konnte. Aber die Idee, gegen das Virus zu kämpfen, ließ mich nicht mehr los. Es dauerte nicht länger als eine halbe Minute nachdem sie erst verstanden hatten, worum es ging - bis man in
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der Gruppe herausgefunden hatte, dass es mir um das Virus ging. Man kann nichts gegen dieses Virus tun, wenn eine Pflanze erst infiziert ist, geht sie zugrunde - Blatt für Blatt, Ranke um Ranke, bis zum bitteren Ende. Auch bei der Bakterienwelke gibt es keine Heilung, doch ich konnte mir nicht helfen: Ich entwarf ein Experiment, um den Kampf gegen das Mosaikvirus aufzunehmen. Ich wollte keine Zeit verlieren, indem ich Versuche wiederholte, die andere schon gemacht hatten, also fuhr ich in jenem Sommer einige Male nach University Park, zum Hauptsitz der Pennsylvania State University, wo es eine phantastische Bibliothek gibt. Dort suchte ich alles Material zusammen, das bisher über die Züchtung virusresistenter Zuckermelonen veröffentlicht worden war. Diese Fahrten machten großen Spaß. Einmal war ich glücklich, endlich wieder Wissenschaft zu treiben, zum anderen ging ich immer in meiner Verkleidung auf die Reise und hielt an jeder Autobahnraststätte zwischen Valley Forge und Harrisburg, um die Pissoirs zu inspizieren. Es stellte sich heraus, dass bis auf einen gewissen Henry Munger an der Cornell-Universität niemand je einen nennenswerten Erfolg im Kampf gegen die Viruskrankheiten von Zuckermelonen verbuchen konnte. Mungers Arbeit war bei seinem Tod noch nicht abgeschlossen, und nachdem man inzwischen dem Problem durch Abdeckplanen und Käferfallen notdürftig beigekommen war, machte sich niemand mehr die Mühe weiterer Forschungen. Die Großproduzenten von Zuckermelonen hatten die Schwierigkeiten umgangen, indem sie ganze Felder mit riesigen Zelten abdeckten und die zur Bestäubung nötigen Bienen in Stöcken innerhalb der Planen unterbrachten. Allerdings war das für den Kleingärtner kaum praktikabel, und so erfuhr man auch von der staatlichen Telefonberatung für Gartenbau nichts weiter als den Namen einiger Pestizide gegen Käfer. Ich informierte mich über die Lebensweise des gestreiften Gurkenkäfers, dann dachte ich mir eine Art Terrarium aus, in dem ich eine ausreichende Menge der mit dem Virus verseuchten Tiere überwintern lassen konnte - sie verkriechen sich normalerweise unter den Gartenabfällen, aber ich wollte mir für alle Fälle einen Vorrat sichern. In den fertigen Behälter baute ich einen Pflanztrog und eine Fluoreszenzlampe ein, um einige Zucchinipflanzen zu ziehen, von denen die Käfer sich ernähren sollten; nichts wächst schneller und problemloser als Zucchini, und die Käfer mögen sie sehr. Immer wenn die Pflanzen welken, pflanzte ich junge, gesunde
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Stöcke nach, schnitt die kranken ab und entfernte sie, nicht ohne die Käfer abgeschüttelt zu haben. Die Wurzeln im Pflanztrog ließ ich unberührt, denn die Erde ringsherum enthielt Eier, Larven und Puppen, und bis ich den Platz wirklich für neue Stöcke brauchte, waren die Wurzeln längst abgestorben. Es funktionierte sehr gut. Meine stattlichen schwarzgelben Käfer überlebten. Sie überlebten auch die nächsten vier Winter, und sie lebten wie Gott in Frankreich. Während des strengen Spätwinters des Jahres 2001 verbrachte ich meine ganze freie Zeit damit, mein Projekt zu planen, bis ich genau wusste, was ich tun würde. Bis April stand schon eine ganze Armee junger Netzmelonenpflänzlinge, abgezählt, mit Etiketten versehen, in meinem Keller unter den Fluoreszenzlampen und wartete auf den Tag, an dem sie ohne Risiko in die sorgfältig vorbereiteten Beete gepflanzt und mit Planen abgedeckt werden konnten; einige würden geschützt vor den Virusüberträgern wachsen, bis zu jenem Tag, an dem ich einige meiner verhätschelten Käfer unter die Abdeckungen bringen würde, andere sollten mit verschiedenen Varietäten gekreuzt werden, nach jenem Plan, den ich im Winter ausgearbeitet hatte. Und wieder andere stellten die Kontrollgruppe dar. Auf diese Weise wollte ich genau fünfundzwanzig Hybriden erzeugen, die noch nie auf ihre Resistenz gegen das Mosaikvirus untersucht worden waren. >Honigtau< und >Honigball< hießen die Sorten, die schon eine gewisse Resistenz hatten, weshalb ein Elternteil der Neuzüchtungen immer aus diesen Sorten stammte. Auch die Harper-Hybride war recht vielversprechend, und ich hatte vor, eine ihrer Ausgangssorten, >Perfection<, mit beiden Elternteilen von >Milky Way< zu kreuzen. Ich würde den Samen entnehmen und im nächsten Jahr die erste Tochtergeneration anpflanzen und testen. Gleichzeitig würde ich eine andere Gruppe von Pflanzen ziehen, deren Bestäubung ich dem Zufall überlassen würde. Der Plan verlangte ein genau ausgearbeitetes Schema von Versuchen. Ergab sich nicht ganz spektakulär ein rascher Erfolg, dann würde ich mit der Ausführung die nächsten fünf Sommer beschäftigt sein. In den ersten Maitagen, als die Azaleen gerade so richtig blühten, verkündeten Jacob Löwenfels und sein Team amerikanischer und französischer Wissenschaftler, dass sie einen Impfstoff gegen AIDS entdeckt hätten. Diese Bekanntmachung brachte mich und auch die anderen in
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der Gruppe an den Rand der Verzweiflung. Außer uns und einigen tausend Leuten, die im Sterben lagen, jubelte die ganze Stadt, sogar die Kriegsberichte in den Nachrichten rückten an die zweite Stelle. Zum Glück waren die Zwischenprüfungen schon vorbei, nur ein paar Arbeiten blieben noch, die ich notfalls auch im Halbschlaf hätte korrigieren können. Als ich am Abend des vierzehnten Mai die Melonenpflänzlinge goß, war ich nur um Haaresbreite davon entfernt, den Tisch umzustoßen und die ganze Pracht auf den Zementboden krachen zu lassen! Warum sollten diese albernen Cucurbitaceae weiterleben, wenn so viele Unschuldige starben? Ich weiß: Das Löwenfels-Vakzin war von enormer Wichtigkeit sogar für jene, die schon die ersten Symptome zeigten, aber vom endgültigen Siechtum noch Monate oder Jahre entfernt waren; denn über Nacht war die Angst vor Verfolgung und Entdeckung vorbei. Wir waren nicht länger Aussätzige, die Leute konnten sich nun vor uns schützen. Nur jenen nützte es nichts, die schon im letzten Stadium angelangt waren. Und natürlich wusste ich das auch damals schon ganz genau. Am fünfzehnten endlich trug ich meine Kästen mit Netzmelonen und >Honigtau< nach draußen und pflanzte sie nach Plan. Die Beete mit den Abdeckfolien sahen so merkwürdig aus, dass ich beschloss, das Grundstück einzuzäunen. Mein Herz war schwer an jenem Tag, die Arbeit machte keine Freude, doch schien es die Melonen nicht zu stören. Der Boden war gut vorbereitet; die schwere, lehmige Erde meines Gartens hatte ich gründlich mit Kompost, Torf und Vermiculit vermischt, und bald wuchsen zahlreiche Ausläufer hin und her, und die männlichen Blüten begannen zu sprießen. Als die weiblichen zehn Tage später folgten, nahm ich von einigen Beeten die Abdeckung ab, gerade so lange, wie ich brauchte, um die Staubbeutel gegen die Stempel reiben zu können. Über andere Beete ließ ich meine Käferschar herfallen. Natürlich zog ich in meinem Nutzgarten auch noch allerlei Gemüse für meinen täglichen Bedarf. Mit dem Computer überwachte ich, was draußen geschah, täglich gab ich die Resultate meiner Inspektionsrunden ein. Im August konnte ich meine Freunde in der Gruppe mit ganzen Wagenladungen Melonen versorgen, ich selbst aß Berge davon und fror einiges ein; was noch übrig war, ließ ich verrotten - im Herbst würden sie mit dem Laub zusammen einen riesigen Komposthaufen ergeben. Und den Samen meiner Hybriden hob ich mir auf - in sauberen Päckchen, beschriftet und tiefgefroren. Keine der Varietäten, die ich in diesem ersten Jahr dem Virus
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ausgesetzt hatte, zeigte auch nur die leiseste Spur einer Resistenz. Nur von einer der erkrankten Sorten bewahrte ich den Samen auf, sie hieß >Mi ting tang< und hatte sich bei Feldversuchen in Japan gegenüber dem Gurkenmosaikvirus als recht widerstandsfähig erwiesen. Diese Hybride hatte es immerhin geschafft, trotz Krankheit voll auszureifen und einige Früchte zu produzieren. Obwohl sie nur winzig waren, hatten sie ein schönes Aroma und festes, saftiges Fleisch; ich dachte, dass ich sie zurückkreuzen und mit einer anderen Varietät hybridiseren sollte, wenn ich erst die Ergebnisse des nächsten Jahres vorliegen hatte. Die Resistenz bei der Honigmelone >Ano< schien überhaupt vom Wetter abzuhängen, auch darüber wollte ich Näheres herausfinden. In der Zwischenzeit war ich mit Einmachen und Einfrieren beschäftigt, denn eine Gartenfrucht nach der anderen wurde reif. Nachdem ich den Schock über das Löwenfels-Vakzin erst einmal überwunden hatte, wurde es ein wundervoller Sommer, vielleicht der beste meines Lebens; die Arbeit draußen machte Freude - und auch in den folgenden vier Jahren sollte es nicht anders sein. Jeden Herbst, jeden Winter arbeitete ich meine Aufzeichnungen durch und plante anhand der Ergebnisse die neuen Versuche; ich kompostierte die Gartenabfälle, behandelte den käferverseuchten Boden, um alle Schädlinge abzutöten; ich züchtete neue Käfer für das kommende Jahr und sorgte für die Zucchini, die sie brauchten; ich säuberte und ölte meine Geräte, aß meine unerhört bekömmlichen Vorräte aus kontrolliert biologischem Anbau, hielt Vorlesungen, absolvierte meinen wöchentlichen Nachmittag im Krankenhaus, traf die Gruppe, erhielt meine Infusion. In ganz bescheidenem Umfang hatte ich auch für Gartenzeitschriften zu schreiben begonnen. Noch nie war ich so beschäftigt gewesen und noch nie so frei von Angst. Und ich glaube, dass ich unbewußt überzeugt davon war, dass mir keine Gefahr mehr drohte. Ein Irrtum, vielleicht - aber bestimmt war mein Leben jetzt erfüllter und darum auch gesünder. Es war im fünften Jahr meiner häuslichen Forschungsarbeit, dass zwei Dinge geschahen, die mein geordnetes Leben von Grund auf erschüttern sollten. Zuerst ein weltbewegendes Ereignis - die Ankunft des fremden Raumschiffs; aber noch waren die Hobbs in England und tauchten täglich in den Nachrichtensendungen auf, als eine private Katastrophe sowohl über mich als auch die Freunde in der Gruppe hereinbrach: Elizabeth, die unsere Gruppe führte, war seit einiger Zeit immer schmaler geworden und hatte ständig dunkle Ringe um die Augen; schließlich bekannte sie, was für ein
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schlimmes Geheimnis sie die ganzen Jahre vor uns verborgen hatte. Jeder von uns und alle zusammen waren wir bis ins Mark getroffen, alle acht Freunde, die es bis hierher geschafft hatten, und ich. Elizabeth, die unser Halt gewesen war, sie durfte nicht sterben. Wir reagierten wie kleine Kinder - trotzig, wütend, maßlos. Wer sollte denn auf uns aufpassen, wenn sie starb? Als Phil, einer aus unserer Gruppe, plötzlich Hautsymptome entwickelte, gaben wir Elizabeth die Schuld. Phils Symptome entpuppten sich als reine Hysterie; er musste alle Angst und Panik, die wir ausstrahlten, wie mit tausend Antennen aufgefangen haben. Danach nahmen wir uns dann zusammen und hörten mit dem Gejammer auf, so dass wir endlich auch Zeit hatten, ein wenig an Elizabeth zu denken. Sie war in die Universitätsklinik eingeliefert worden, der auch unser Team von Psychoneuroimmunologen angehörte. Eines Nachmittags saß ich lange bei ihr, ein schmollendes, nachtragendes Kind und seine todkranke Mutter. Ich bat sie um Verzeihung, aber Elizabeth lächelte nur müde. »Ich weiß doch, wie ihr euch fühlt. Weißt du, Sandy - es musste eines Tages passieren. Ihr seid zu unselbständig gewesen. Jetzt habt ihr Gelegenheit, auf euren eigenen Füßen zu stehen. Es tut mir aber trotzdem leid, dass ihr euch im Stich gelassen fühlt.« Sie verzog das Gesicht. »Das macht auch mir ganz schön zu schaffen.« Ich schluchzte und brach in Tränen aus; Elizabeth streichelte meine Hand, aber das machte es nur noch schlimmer. Und mit einem Mal hatte ich mich über sie gebeugt und drückte mein heißes, nasses Gesicht an ihre Schulter. Es war das erste Mal in zwanzig Jahren, dass ich einem anderen menschlichen Wesen körperlich so nahe war. Es erschien mir ganz unwirklich. Um ehrlich zu sein: Es war wundervoll, obwohl ich fürchtete, mir müsste vor Schmerz und Kummer die Brust zerplatzen. Als ich der Gruppe davon berichtete, nahm man es mit mißmutigem Schweigen zur Kenntnis. Larry, ein Physiotherapeut, sagte schließlich geringschätzig: »Na ja, nun fühl dich bloß nicht wie der Einsame Ritter, Sandy. Ich faß' auch niemanden an, außer bei der Arbeit. Zum Teufel, wir lieben Elizabeth doch alle! Aber ich habe es mir nie eingestanden, ich habe in so vielen Jahren nicht das mindeste Gefühl riskieren wollen, dass ich tatsächlich nicht mehr weiß, wann ich es zuletzt getan habe - und ihr seid kein bißchen besser als ich.« »Ich habe oft gedacht«, sagte Phil, »wie merkwürdig es ist, dass
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wir uns nicht lieben. Ich meine, so, wie wir aufeinander angewiesen sind, sollte man doch meinen ...« »Elizabeth weiß, dass wir sie lieben«, sagte Sherry, aber sie sprach über unsere Köpfe hinweg zur Wand hinüber. »Vielleicht tut sie das«, knurrte Larry, »aber wir sind diejenigen, die es wissen sollten.« »Andere Gruppen können das besser. Bei einigen steht man sich viel näher«, meldete ich mich zu Wort. »Vielleicht ist hier jeder zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er sich noch um andere kümmern könnte - außer natürlich, um ihre schwachen Stellen zu entdecken.« »Andere Gruppen haben auch nicht diese Überlebensquote wie wir«, meinte Mitch. Um das düstere Schweigen zu brechen, machte Phil einen Versuch, das Thema zu wechseln. »Was ist eigentlich mit diesen Außerirdischen, haben sie sich je in dieser Richtung geäußert?« Als die Hobbs das erste Mal kamen, verkroch sich die eine Hälfte der Menschheit vor Schreck, die andere glaubte, dass nun endlich eine Lösung aller unserer Probleme in Sicht war: Krieg, Krebs, Umweltverschmutzung, Überbevölkerung, Hunger, AIDS - für alles das mussten die Fremden doch ein Wundermittel wissen. Bisher hatten sie jedoch keinerlei Interesse an uns gezeigt. Die Delegation befand sich jetzt in London, nachdem man die mumifizierten Überreste eines der ihren, der vor Hunderten von Jahren hier ausgesetzt worden war, in einem Moortümpel in Yorkshire entdeckt hatte. Alle Vorschläge und Bitten wegen eines kulturellen und wissenschaftlichen Austauschs hatten sie jedoch höflich ignoriert, und ich zweifelte sehr daran, dass Elizabeths Leben nun durch das Eingreifen der Fremden gerettet werden würde. Die New Yorker AIDS-Hilfe hatte ihnen einen langen, flehenden Brief geschrieben, doch keine Antwort erhalten. Wir wussten das alle. Niemand machte sich die Mühe, Phil zu antworten, und bald darauf gingen wir auseinander. Als das Schiff der Fremden einige Wochen später wieder vom Mond aufstieg, ohne dass der Besuch der Fremden uns Nutzen oder Schaden gebracht hatte, waren wir nicht überrascht. Wir hatten es nicht anders erwartet. So, wie wir auch erwarteten, dass Elizabeths körperlicher Verfall nun nicht mehr aufzuhalten war. Und so starb sie dann auch und ließ die Gruppe ohne Führung zurück. Immerhin hatten wir uns in den letzten Wochen ihres Lebens eng umeinander geschart. Überraschenderweise überstanden wir alle dieses Trauma unbeschadet; keiner erkrankte. Doch die Erschütterung über
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Elizabeths Tod lehrte mich, nicht anders als es das Traumbild Mendels vor Jahren getan hatte, dass noch immer etwas in meinem Leben in Ordnung zu bringen war. Es war noch immer ein Leben ohne Liebe, und gerade, als ich sie am wenigsten zu brauchen schien, wurde mir klar, dass ich nicht länger ohne Liebe leben wollte. Ich hatte versäumt, Elizabeth zu lieben, als sie noch lebte; nun, da sie tot war, wollte ich wenigstens das Gefühl am Leben erhalten, das sie in mir erweckt hatte - und auch die Fähigkeiten, Gefühle zu empfinden und zu zeigen. Es musste kein romantisches Liebesverhältnis sein. Tatsächlich glaubte ich sogar, dass jede andere Art Liebe vorzuziehen wäre. Es hört sich vielleicht merkwürdig an, dass ich nie daran dachte, mir ein Haustier anzuschaffen - aber vielleicht kann man sich einen Hund auch nicht so leicht in einem Garten voller Melonenbeete vorstellen ... und gegen Katzenhaare bin ich allergisch. Die Monate zogen vorbei und wurden zu Jahren, bevor sich etwas änderte. 3 Es war nicht viel passiert, nur, dass ich irgendeinen kleinen Knochen am linken Fußgelenk gebrochen hatte. Ich trat beim Aufsetzen des Fußes auf den Rand eines Schlaglochs, knickte um und verdrehte den Fuß, als ich fiel. Das Röntgenbild zeigte nicht mehr als einen Haarriß. Ich bekam einen Gips und Krücken und durfte einen Monat nicht auftreten. Es war der Mai 2010, das vierte Jahr meines zweiten Fünfjahresplans. Da mein gesamtes Forschungsprogramm für dieses Jahr auf dem Spiel stand, hatte ich keine andere Wahl, als mir einen Helfer zu engagieren. Einer meiner Botanikstudenten im zweiten Studienjahr übernahm diese Arbeit. Er hieß Eric Meredith, und er war der einzige Mensch, der außer meinen ziemlich uninteressierten Eltern, dem Mechaniker, der die Spülmaschine reparierte, und dem Mann vom Wasserwerk in den zehn Jahren, da ich hier wohnte, mein Haus betrat. Ich war voller Groll, dass ich gezwungen war, einen Fremden einzulassen, und versuchte, nicht sehr erfolgreich, ihn Eric nicht merken zu lassen. Er schien meine Reserviertheit nicht persönlich zu nehmen und tat bereitwillig, was ich ihm auftrug, ohne mich ständig zu behelligen. Ich zeigte ihm einmal, wie man die Melonen umpflanzte, wie tief und in welchem Abstand man die Löcher grub, wie man
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Dünger und Kompost in die lockere Erde mischte, einen Liter Wasser darübergoß und den Boden um den Strunk herum festdrückte. Er vergaß nichts davon, machte keinen Fehler, auch wenn ich ihn noch so mißtrauisch beobachtete. Die Arbeit schien ihm sogar ausgesprochen zu liegen. Innerhalb einer Woche waren alle Pflänzlinge in der Erde. Die Dateneingabe in den Computer machte ich selber, aber alles andere besorgte Eric. Aber was noch wichtiger war: Er begann, sich für meine Forschungsarbeit zu interessieren, so dass er nach der zweiten Woche gar nicht mehr anders konnte, als Fragen zu stellen. Und ich war durch sein Interesse so geschmeichelt, dass ich ihm sogar anbot, sich meine Aufzeichnungen anzusehen. Denn so langsam schien etwas aus der Sache zu werden. Mehrere Hybriden der Sorte >Mi ting tang< hatten sich im Jahr zuvor ungewöhnlich gut entwickelt; ich glaubte nun zu wissen, welche ihrer Stammeltern ich mit >Perfection< und >Honigtau< kreuzen musste, um eine Varietät zu erzeugen, die sich vom Gurkenmosaikvirus nicht sonderlich beeindrucken ließ. Toleranz hieß das Schlüsselwort, nicht Immunität. Eine völlige Resistenz schien mir inzwischen undenkbar - aber ich wäre schon mehr als zufrieden mit einer Züchtung, die das Vorhandensein des Virus in ihrem Organismus überstand, die ohne größere Verkrüppelung überlebte und unbeeindruckt fortfuhr, Früchte hervorzubringen. Eric saß eine ganze Stunde vor dem Bildschirm, während die Aufzeichnungen nahezu eines Jahrzehnts Seite um Seite umgeblättert wurden. Als er wieder sprach, schrak ich überrascht zusammen. »Das ist wirklich eine tolle Versuchsplanung.« Sein Erstaunen konnte ich gut verstehen; was sollte er von einem Professor wie mir schon erwarten? »Sie haben es fast geschafft, nicht wahr?« Er hatte ein etwas ungewöhnliches, schmales Gesicht, das aber durch die Begeisterung verschönt wurde. Ich spürte, wie mein Gesicht sich rötete. »Das könnte sein. Ein Sommer noch, denke ich. Natürlich ist das nichts Großartiges, nicht zu vergleichen mit der Forschung in den großen Labors, genetische Manipulation und ähnliches.« »Das nicht«, sagte Eric, »aber es ist nicht so sehr das Experiment an sich, sondern das Konzept. Das könnte man doch auf jedes Merkmal anwenden, das man herauszüchten will. Haben Sie den Plan selbst entwickelt?« Ich glaubte erst, er zweifele daran, aber als ich nickte, nickte er auch. »Das dachte ich mir. Ich habe noch nie so ein System gesehen, und ich mache jede Wette,
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dass alle es ihnen nachmachen werden, wenn sie es erst veröffentlicht haben.« Wenn man so lange allein auf sich gestellt gearbeitet hat, dann kann man gar nicht anders, als für solches Lob dankbar zu sein. Meine Stimme muss ziemlich hölzern geklungen haben, als ich ihn einlud: »Wollen Sie nicht etwas trinken?« Er folgte mir in die Küche, und als ich eintrat, da rutschte der Gummipuffer meiner Krücke auf einem nassen Flecken Linoleum ab, und ich fiel; im Fallen schlug mein Kopf hart gegen die Kante eines Regals. Für einige Sekunden war ich vor Schmerz wie blind. Dann, als ich mühsam versuchte aufzustehen und Eric sich hilfsbereit über mich beugte, bemerkte ich die leuchtend roten Blutstropfen auf dem Boden. »Geh weg!« schrie ich und stieß ihn so kräftig, dass er gegen die Anrichte stolperte und ich selbst der Länge nach auf den Boden schlug. Außer mir vor Wut zog ich mich an der Anrichte in die Höhe, und es gelang mir auch, ein Stück Papiertuch von der Rolle abzureißen und meinen Kopf damit abzutupfen. Wieder kam Eric instinktiv näher, um mir zu helfen, und wieder fuhr ich ihn an: »Nein! Bleib mir vom Leib, hab' ich gesagt. Hast du von meinem Blut etwas abbekommen?« »N ... nein«, stotterte Eric und musterte Hände und Arme, sehr erstaunt erst, dann kam die Erleuchtung, »Keine Sorge, ich bin geimpft.« Ich erstarrte; in meinem Kopf dröhnte es. »Was hast du da gesagt?« »Ich bin gegen AIDS geimpft. Man hat es mir in den Knochen gestanzt, in der sechsten Klasse schon. Sehen Sie?« Und er zog den Halsausschnitt seines T-Shirts ein wenig herunter und zeigte mir die V-förmige Narbe am Schlüsselbein. Geimpft. Immun. Natürlich war er das. Jeder war das heute. Es hatte doch nicht die geringste Gefahr für Eric bestanden - aber in meiner kopflosen Panik hatte ich mich verraten. Zum dritten Mal in diesen zehn Jahren brach ich in Tränen aus, und es war schwer zu sagen, wer von uns mehr verlegen war. Ich weiß nicht mehr, wie und wann er schließlich ging. Diesen Abend überließ ich mich meiner Wut. Wut über mich, mein Leben, die Seuche, die es vergiftet hatte, meine Karriere zerstörte, mich in eine lebende Zeitbombe verwandelt hatte. Was war schon dabei, wenn herauskam, dass ich infiziert war? Niemand kümmerte sich noch darum. In den letzten Jahren war die Zahl der tödlichen Viren, die im ersten Jahrzehnt sich angeschickt hatten, die Herrschaft in meinem Körper zu übernehmen, immer weiter abgesunken. Es
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konnte sein, dass ich niemals AIDS bekommen würde, vielleicht auch niemanden anstecken konnte - man wusste es nicht. Aber selbst wenn es nicht so war, alle Welt war immun. Doch es war genug, dass ich mich ansteckend fühlte. Ich hatte in den letzten neun Jahren doch deshalb enthaltsam gelebt, weil Sex nicht in mein Leben paßte - und nicht, weil ich andere schützen wollte. Ich wusste es und wusste es wieder nicht. Die Wahrheit war, dass ich zu lange eine Aussätzige gewesen war, um aus dieser Rolle wieder herausfinden zu können. Nun war dieser Junge erschienen, der mein dunkles Geheimnis einfach so entdeckt und ausgesprochen hatte, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich musste einen anderen Helfer finden, vielleicht sollte ich ihm Geld anbieten ... Nein, was für ein dummer Gedanke. Aber die Vorstellung, ihn Wiedersehen zu müssen, war unerträglich. Am nächsten Morgen würde ich ihn auszahlen und wegschicken. Dass mich dieser Gedanke schmerzte, das erstaunte mich. Ich hatte jedoch die Rechnung ohne Eric gemacht. Am nächsten Morgen erschien er um die gewohnte Zeit und ging geradewegs in den Gemüsegarten, wo er Mulch über die Tomaten- und Pepperonibeete streute. Dabei pfiff er vor sich hin. Aus dem Küchenfenster sah ich die große, hagere Gestalt, wie sie sich bückte und wieder aufrichtete und eine Armvoll Stroh nach der anderen von der Karre nahm und um die Pflanzenstengel herum anhäufte; langsam wurde mir klar, dass er außerhalb der Gruppe das einzige lebende Wesen war, das die Wahrheit kannte. Langsam dämmerte mir sogar, dass es wundervoll sein könnte, dass jemand es wusste. Eric zog die leere Karre durch den Garten, um noch einige Strohballen zu holen, dann kam er zurück zu den Beeten mit Nachtschattengewächsen. Ich betrachtete seinen Rücken, auf dem das schweißnasse T-Shirt klebte, das Spiel der Schultermuskulatur, die Sehnen und Muskeln, die sich beim Bücken und Aufrichten an seinen Beinen abzeichneten - und etwas regte sich in mir, ließ sich nicht unterdrücken, erinnerte mich an längst vergangene Zeiten. »Eric«, murmelte ich erstaunt, und als hätte er es gehört, drehte er den Kopf, sah mich am Fenster und winkte. Er lächelte. Dann bückte er sich, um einen neuen Packen Stroh aufzunehmen und verschwand aus meinem Blickfeld. Dieses Lächeln ... Ich ließ mich auf einen Hocker fallen, und eine Stimme ging mir durch den Kopf. Laut sagte sie: »Er sah von der anderen Seite des Klassenzimmers zu mir herüber, und es machte ganz einfach >Peng
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an der High School. Peng! Hatte es einfach >Peng< gemacht? War es Erics Fröhlichkeit, sein Winken mit dem langen Arm, dem braunen Arbeitshandschuh an der Hand? Ich denke, in diesem Augenblick wusste ich, dass ich ihn nicht wegschicken würde. Um Mittag kam Eric zum Haus, um sich unter dem Wasserhahn abzuwaschen, bevor er ging. Eric in seinen khakifarbenen Shorts, den alten Turnschuhen - das Hemd hatte er längst ausgezogen; Staub und Stroh klebten auf der schweißglänzenden Haut von Brust und Rücken, hingen an dem blonden Gekräusel auf seinen Beinen und in der hellen Mähne seines Kopfs. Ein ziemlich dünner Kerl, und doch konnte ich mich an dem langen, schmalen Körper nicht sattsehen. »Ich werde morgen etwas später kommen, habe einen Zahnarzttermin«, sagte er. »Hören Sie, Sie müssen wissen, dass ich nicht vorhabe, irgend jemandem etwas über gestern zu erzählen. Nur für den Fall, dass Sie sich darüber Sorgen machen. Ich bin sowieso kein Klatschmaul, und über Sie würde ich sicher nicht reden.« Ich brachte sogar eine Antwort heraus. »Danke, das wäre mir sehr recht.« Eric hatte zuerst noch etwas sagen wollen, doch steckte er statt dessen den Kopf unter den Hahn und trocknete sich dann mit seinem Hemd ab. Schon war er um die Ecke des Hauses verschwunden. In der Gesäßtasche seines Shorts steckte ein Taschenbuch; das Wort Kellerassel! prangte in schreienden Farben diagonal auf dem Titel. Und so machten wir weiter wie zuvor; doch was mich betraf, hatte sich etwas verändert. Ein weiteres Mal wurde ich notgedrungen zum Schauspieler, denn ich musste feststellen, dass ich gegen jede Vernunft und jede Aussicht auf Erfüllung lichterloh entflammt war - für einen Jungen, der nicht einmal halb so alt war wie ich: ein intelligenter, netter, vielleicht nicht besonders bemerkenswerter Junge, der nun zum Objekt aller aufgestauten Liebe aus einem halben Leben wurde. Eric, das war wie der Docht einer Öllampe, genährt von einem tiefen, unerschöpflichen Reservoir brennbarer Substanz. >Docht< nannte ihn darum die Gruppe, und so hieß auch jener Freund Pinocchios, der ihn überredete, mit ins Spielzeugland zu kommen, und der vor den entsetzten Augen der Holzpuppe in einen Esel verwandelt wird. Nur, dass ich mich wie der Esel fühlte. In der Gruppe war seit Elizabeths Tod sehr viel häufiger von dem Thema Liebe die Rede. Jede Liebe ist zu einem Teil personenbezogen, zum anderen
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projiziert sie etwas in den geliebten Menschen hinein - so argumentierten die Gebildeten unter uns. Also, mach endlich voran! Geh aus dir heraus, tu es! Hast du nicht beim ersten Mal mit einem deiner Lehrer geschlafen? He, das Unbewusste kann ganz schön pedantisch sein - in deinem Fall besteht es wohl darauf, dass der Stab an die nächste Generation Weitergericht wird, indem du dich in einen deiner Studenten verliebst. Und ich muss sogar zugeben, dass ich meine leidenschaftlichen Gefühle genoß, so verrückt sich das auch anhören mag. Mein Libido war wieder zum Leben erwacht; ich wagte, gegen die selbstauferlegten Zwänge zu rebellieren. Ich war mehr als auf der Hut; nie würde ich diese Demütigung riskieren, mich von Eric ertappen zu lassen, so wie ich mich hatte ertappen lassen, was meine Infektion betraf. Er hatte keine Ahnung, dass ich mich geradezu verzehrte nach ihm. Ich vermute, er bedauerte mein abweisendes Verhalten, aber ich glaube nicht, dass es ihn kränkte. Und er hatte in jenem Sommer sicher mehr als einen Fisch an der Angel. Mein Knöchel war Ende Juli so weit verheilt, dass ich den Gemüsegarten wieder selbst hätte übernehmen können. Aber ich tat, als wäre das noch zuviel für mich, denn ich musste je einen Grund finden, um Eric hierzubehalten. Und als meine alte Mutter in Denver einen Schlaganfall hatte und ein Besuch nicht zu umgehen war, war ich froh, ihm die Verantwortung für Gemüsegarten und Melonenzucht übertragen zu können. Die neuen Hybriden sahen prächtig aus, aber die Niederschlagsmenge und die Sonnenstunden dieses wichtigen Monats mussten präzis aufgezeichnet werden. Ich bot Eric an, während meiner Abwesenheit im Haus zu wohnen, und versprach ihm eine Prämie, wenn er seine Arbeit zu meiner Zufriedenheit ausführte. Ich wollte nicht fliegen, sondern nahm das Auto. Ich fuhr nach Westen, in einem Zustand, den man wohl als >erotische Hochspannung< bezeichnen musste; ich übernachtete im Auto, pinkelte in die Pissoirs von sieben Bundesstaaten, erfreute mich am Anblick von Hunderten von Penissen ... Meine Mutter ging es schon wieder besser, meine Sorge und Aufmerksamkeit registrierte sie dankbar. Doch waren die fünf Enkelkinder inzwischen zu ihrem Lebensinhalt geworden, und wir begegneten uns doch mit der Distanz von Menschen, deren größte Gemeinsamkeit das wechselseitige Mißverstehen ist. Trotz alledem blieb ich eine ganze Woche; den Rückweg durch die heißen, trockenen Ebenen teilte ich in kleine Etappen ein. Ich
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konnte nun Eric gegenüber unmöglich weiter vorgeben, dass ich die Arbeit nicht selbst tun konnte, nicht nach einer solchen Autofahrt. Außerdem würden in Kürze auch die Vorlesungen wieder beginnen - sobald ich zurück war, musste ich ihn gehen lassen. Und so trödelte ich, träumte mich durch Kansas und Missouri und näherte mich am späten Nachmittag des dreißigsten August Indianapolis, als ich das Radio einschaltete und hören musste, dass an diesem Morgen im Kernkraftwerk Peach Bottom am Susquehanna, flußabwärts von Three Mile Islands, eine Kernschmelze stattgefunden hatte. Zum Glück war nur wenig Verkehr. Ich brachte es fertig, den Wagen auf die Standspur zu lenken, ohne irgend etwas zu rammen, und saß da, während das Radio immer neue Hiobsbotschaften verkündete. Tschernobyl war gegen diese Katastrophe eine Lappalie gewesen. Das Kraftwerk Peach Bottom war fünfzig Jahre alt und hätte längst stillgelegt werden müssen. Es war schon einmal stillgelegt worden, doch hatte man es wieder in Betrieb genommen, als mit neuen Techniken der hohe Strahlungspegel auf erträgliche Werte reduziert werden konnte. Obwohl die Anlage für ihr unfähiges Personal berüchtigt war, schien es diesmal kein menschliches Versagen zu sein. Was die Auswirkungen auf die Menschen in diesem Landstrich betraf, so hätte das Wetter gar nicht ungünstiger sein können. Ein Sturmtief mit einem kräftigen Südwestwind hatte die riesige radioaktive Wolke über das fruchtbare Farmland der Amish im Bezirk Lancaster getrieben, dann tat eine westliche Strömung das ihre, um sie gehörig über dem dichtbesiedelten Konglomerat von Wilmington, Philadelphia und Trenton zu verbreiten. Schwere Regenfälle hatten die strahlenden Substanzen ausgewaschen, und nun war das ganze Gebiet verseucht. Der Gewitterregen hatte auch das Feuer im Kraftwerk gelöscht. Der Schaden war gigantisch, doch immerhin auf eine Region beschränkt. Die Radioaktivität war auf die Erde niedergegangen, bevor sie sich in den höheren Schichten der Atmosphäre ausbreiten konnte ... aber ausgerechnet über einem der dichtest besiedelten Landstriche des ganzen Planeten. Man erwartete eine große Zahl von Todesfällen durch akute Verstrahlung; die Amish waren besonders betroffen, denn die Männer waren natürlich auf den Feldern gewesen. Acht Millionen Menschen mussten evakuiert und anderswo untergebracht werden; das Gebiet um Philadelphia und Wilmington würde mindestens zehn Jahre unbewohnbar bleiben. Immer wieder fiel der Name des Kongreßabgeordneten Terry
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Carpenter. Der gemäßigte Republikaner aus dem Bezirk Delaware wurde von den Reportern über den grünen Klee gelobt. Seine schnell und vor allem richtige Reaktion ließ vermuten, dass er sich auf Notfälle dieser Art vorbereitet hatte. Die Menschen, die noch in ihren Häusern waren, beschwor man, Türen und Fenster geschlossen zu halten und die Klimaanlage abzustellen, um möglichst wenig von der verseuchten Luft einzulassen; sie sollten Badewannen und Waschbecken vollaufen lassen, um einen Wasservorrat zu haben, bevor das Regenwasser nun die Grundwasserschichten erreichte. Jeder sollte einen kleinen Koffer packen ... So ging es immer weiter, während ich am Rand der Autobahn hielt und der Schock mich zu zermalmen drohte. Mein Haus, mein Garten, das College, das Krankenhaus, an dem ich arbeitete, und das andere, an dem ich behandelt wurde, die Gruppe, meine Forschungsarbeit - alles, was mein sorgfältig geplantes und doch entfremdetes Leben ausmachte, war hinweggeschmolzen wie der Reaktor. Was, um Himmels willen, sollte ich jetzt machen? Meine Reise hatte mich vor der radioaktiven Verseuchung bewahrt, vor der Evakuierung und Einweisung in irgendein Rotkreuz-Lager. Mein Auto und ich, wir waren okay. Nur mein Leben war kaputt. Und die ganze Zeit musste ich an Eric denken, den ich dort zurückgelassen hatte, der gewissenhaft meinen Auftrag ausgeführt hatte und nun vielleicht in meinem Haus saß und auf die Evakuierung wartete. Mit einem Ruck erwachte ich aus meinen Grübeleien, fuhr wieder auf die Fahrbahn zurück und nahm dann die nächste Ausfahrt. Ich fand ein Münztelefon, das funktionierte, und kam auch durch. Doch mein Telefon zu Hause klingelte und klingelte, bis ich es schließlich aufgab. Zitternd stand ich da, obwohl der Morgen schon jetzt drückend schwül war - unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Eine Gestrandete. Unmöglich, nach Denver zurückzufahren. Unmöglich, nach Hause zu fahren. Unmöglich, Eric zu finden, solange die Lage nicht einigermaßen unter Kontrolle war. Eric würde wahrscheinlich zu seinen Eltern gehen - aber was, wenn sie in der Zone wohnten, die jetzt geräumt wurde? Eine ganze Reihe unserer Studenten kam aus der näheren Umgebung. Ich stieg wieder ins Auto und fuhr los. Ich fuhr die ganze Nacht, hielt am Morgen auf einem Parkplatz in Westpennsylvania kurz an, um ein Nickerchen zu machen, und fuhr dann weiter. Das Radio hielt mich auf dem laufenden. Während der ganzen Fahrt dachte ich an nichts anderes als Eric. Zwei Bilder wechselten sich vor meinem inneren Auge ab: Eric, sicher und geborgen im Haus seiner Eltern
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oder Großeltern, ob nun in Pittsburgh oder Allentown - und Eric, wie er in meinem Garten hantierte. Warum war ich nicht freundlicher zu ihm gewesen, als ich noch Gelegenheit hatte? Warum wollte ich mir um keinen Preis etwas anmerken lassen? Mein Haus, mein Garten waren verloren, meine Zuchtergebnisse durch den Fallout vernichtet - die Arbeit fast eines Jahrzehnts war umsonst gewesen. Aber noch schlimmer war es, dass ich diese gottgegebene Chance, einem anderen Menschen nahe zu kommen, vertan hatte. Ich weinte stundenlang und musste einmal sogar anhalten. Während dieser Reise wie durch einen Alptraum vergoß ich mehr Tränen als in meinem ganzen Leben. Hätte ich doch nur die Arme um ihn gelegt, ihn einmal festgehalten für eine Minute. Ich fragte mich nicht, ob Eric irgendeine nähere Beziehung zu mir wünschte zu einer kranken, altjüngferlichen Schulmeisterin, die auf Herrentoiletten ihrem perversen Vergnügen nachging. Was zählte, war meine Feigheit, dass ich das Risiko menschlicher Nähe nicht hatte eingehen wollen. Und jetzt war es zu spät. Ich fuhr und weinte, weinte und fuhr. Allmählich wurde der Verkehr auf der Gegenfahrbahn stärker. Schon westlich von Harrisburg hatte die Nationalgarde die Autobahn gesperrt; den Autos, die nach Osten fahren wollten, bedeutete man zu wenden. Hinter der Sperre führten nur zwei Fahrspuren in meiner Richtung weiter, die beiden anderen waren für den Gegenverkehr freigegeben; hier und auf den vier Spuren der Gegenfahrbahn rollte Auto an Auto - man floh aus der verseuchten Zone. Ich hielt an, trocknete mein verweintes Gesicht, so gut es eben mit einem nassen Taschentuch ging, und stieg aus. Am Ende der Schlange, die sich zum Wenden aufgereiht hatte, regelte ein Soldat den Verkehr. Ich ging zu ihm hinüber. »Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wie ich jemanden ausfindig machen kann?« Der Soldat drehte sich um, das Gesicht grau vor Erschöpfung. »Wohl aus Philadelphia?« Ich nickte. »Keine Ahnung, mein Bester«, meinte er - und ich erinnerte mich daran, dass ich noch immer mein >Kostüm< trug. »In ein paar Tagen wird man wissen, wo die Leute abgeblieben sind, aber im Moment geht's dort zu wie in einem Affenstall, sie wollen acht Millionen Menschen evakuieren. Haben Sie kein Radio gehört?« »Ja, schon, aber ...« »Vielleicht kriegt man den Sender hier draußen noch nicht.« Er nahm seine Mütze und fuhr sich übers Gesicht. »Jeder, der ein Auto hat und eine Möglichkeit, unterzukommen, soll sich auf den
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Weg machen. Das ist das, was all diese Leute vorhaben. Die hier kommen aus Lancaster und Umgebung - die aus Philadelphia sollen nach Nordosten fahren oder in Richtung Süden, nach Jersey oder Delaware. Und die, die keinen Unterschlupf haben, hat man in Lager in den Poconos oder rund um Baltimore geschickt. Die Army baut Zelte und Baracken auf.« »Für acht Millionen Menschen?« »Nein, man schätzt für anderthalb Millionen. Immer noch eine Menge Camper. Wen suchen Sie?« »Einen meiner Studenten, er hat sich um mein Haus gekümmert.« »Ist er aus der Gegend?« »Das weiß ich nicht einmal.« Der Soldat musterte mich; rote, verquollene Augen, die Uniform verknittert, als hätte er darin geschlafen. Offensichtlich zog er seine Schlüsse, aber er war so müde, dass ihm alles gleich war. »Ist wahrscheinlich zu seinen Angehörigen gegangen, wenn er nicht aus der Gegend von Philadelphia stammt. Sie sagen immer wieder durch, dass jeder sich melden soll, wo er abgeblieben ist, sobald er angekommen ist. Es gibt eine Telephonnummer für jeden Buchstaben des Alphabets. In ein paar Tagen werden Sie wissen, wo er ist, wenn er sich an die Spielregeln hält.« »Das scheint ja wirklich gut organisiert zu sein«, sagte ich etwas unschlüssig. In ein paar Tagen, wenn alles gutgegangen ist - und keine Möglichkeit herauszufinden, ob es so war. »Es ist ein gottverdammtes Wunder«, sagte der Soldat. »Als hätte dieser Terry Carpenter nur darauf gewartet. Alles war geplant und auf Abruf bereit. Er hat die Vorortbahnen in Philadelphia, die Busse, die regulären Amtrak-Züge und auch noch die Güterzüge, die in der Nähe waren, requirieren lassen, und ein, zwei Stunden nach dem Knall war die Evakuierung schon angelaufen.« Der Mann setzte seine Mütze wieder auf. »Ich muss wieder an die Arbeit. Machen Sie sich keine Sorgen um Ihren kleinen Freund, der ist sicher okay. Sie haben eine Unterkunft? Ich kann Ihnen eine Einweisung in ein Flüchtlingslager geben.« »Nein, vielen Dank, ist nicht nötig.« Es war schrecklich dumm, dem Mann übelzunehmen, was er von mir dachte, aber ich konnte nicht anders. Ich reihte mich in die Autoschlange ein und fuhr zurück. Doch an der nächsten Ausfahrt scherte ich aus der Kolonne aus und bog auf eine kleine Nebenstraße, die in Richtung der Berge führte. Mehrere Kilometer fuhr ich nun in der Hoffnung, bald in einen Ort zu
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kommen, wo ich telefonieren konnte. Doch als ich dann ein Telefon fand, meldete sich noch immer keiner. Das musste das Ende sein. Ich weiß nicht, wie lange ich neben der Telefonzelle stand, während in der Ferne die Schlacht tobte, der Kampf um die Menschenleben. Einmal kamen mehrere Busse mit Amish-Familien vorbei, vermutlich auf dem Weg zu Verwandten in Ohio; sie starrten aus den Fenstern, die Gesichter leer und versteinert. Auch für sie war es das Ende der Welt. Der Wind hatte nur kurze Zeit von Südwesten geweht, aber das genügte schon. Schließlich stieg ich wieder ins Auto, wendete, fuhr zurück zur Autobahn, dann in Richtung Osten, und kam erneut zur Straßensperre, wo mein Soldat noch immer stand. Wortlos ließ er mich herankommen, er war zu müde, um noch überrascht zu sein. »Hören Sie«, sagte ich, »ich würde gern in das Katastrophengebiet gehen und bei der Suche nach Vermißten helfen. Man braucht doch sicher Freiwillige. Ich möchte mich melden.« Sehr langsam nickte er. »Wenn's weiter nichts ist. Gehen Sie nach Harrisburg und reden Sie mit den Leuten dort. Nehmen Sie die Ausfahrt am Capitol, dort in der Nähe gibt es einen Stützpunkt der Nationalgarde, Sie können es nicht übersehen. Vielleicht nehmen sie Sie. Ich werde Sie über Funk ankündigen.« Ich bedankte mich und wollte schon gehen, als er hinter mir herrief: »Überlegen Sie sich's genau, guter Mann. Nachher ist's vielleicht zu spät. Könnte sein, dass wir auch noch York und Harrisburg räumen müssen, wenn der Wind wieder dreht.« »Verstehe!« rief ich zurück. Ich spürte, dass er dastand und mir nachblickte, bevor er endlich zu dem Wagen ging, um die Meldung durchzugeben. In Harrisburg trat ich sehr bestimmt auf, und sie nahmen mich. Sie hielten mich auch zweifellos, auf den ersten Blick, für einen recht jugendlichen Mann in den besten Jahren. Sie gaben mir einen Strahlenanzug und einige dürftige Instruktionen, dann wurde ich mit einer Gruppe anderer Freiwilliger, darunter Quäker und einige Arbeiter von Three Mile Islands, in die verseuchte Zone geflogen. Im Zentrum von Philadelphia setzte man uns ab, das war nicht weiter als fünfundzwanzig Kilometer von dem Ort entfernt, wo ich hinwollte. Der Gedanke, Leute auf die Vorstädte zu verschwenden, gefiel ihnen gar nicht, aber Freiwilligen kann man nicht so gut befehlen, und einige der anderen waren ebenfalls auf der Suche nach Verwandten und Freunden. Also gaben sie schließlich jedem von uns ein Polizeiauto mit Lautsprecher und ermahnten uns, diesen unsinnigen Abstecher nach Hause oder wohin auch immer
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so rasch wie möglich hinter uns zu bringen, dann aber in die Innenstadt zu fahren und einzusammeln, was wir an Nachzüglern auf unserem Weg finden konnten. Ich hatte kaum mehr als die Hälfte des Wegs bis nach Hause zurückgelegt, als der Tank leer war. Die verdammte Kiste lief mit Methanol, wogegen ich gewohnt war, elektrisch und mit Sonnenzellen zu fahren, aber trotzdem ... Also zog ich, in meinem Strahlenschutzanzug, zu Fuß los, um eine Tankstelle zu finden. Ich muss ausgesehen haben wie ein eben gelandetes Weltraummonster in einem schlechten Science-fiction-Film, als ich durch die menschenleeren Straßen lief. Doch leider: Als ich nach einer halben Stunde mit einem Kanister Methanol zurückkam, war das Auto weg. Ich hatte den Zündschlüssel stecken lassen. Ich verstaute den Kanister unter einer Hecke und marschierte los. Es waren noch gut elf Kilometer zu meinem Haus. Kaum war ich ein paar Meter gegangen, kam die Sonne hervor. Ich musste pinkeln und wusste nicht, wie man den Anzug aufkriegte - und ob ich ihn aufmachen sollte. Außerdem war ich entsetzlich durstig. Es war wirklich alles andere als ein Spaziergang, immer wieder musste ich eine Pause einlegen. Ich hatte mich auch dahin entschieden, dass in den Anzug zu urinieren von allen denkbaren Möglichkeiten noch die beste war; es machte meine Wanderung nicht gerade angenehmer. Drei Stunden waren seit jenem Augenblick vergangen, da ich aus dem Auto stieg, als ich endlich zu Hause ankam. Den Schlüssel hatte ich in der Tasche, aber wie sollte ich an ihn herankkommen? Es endete damit, dass ich mein eigenes Haus durch ein eingeschlagenes Kellerfenster betrat. Eric war nicht da. Ich wusste sofort, dass das Haus leer war. Ich stand gegen die kühle Kellerwand gelehnt, die Anstrengung, die Enttäuschung, das war zu viel. Nach einer Weile begann ich an dem Anzug herumzufingern, bis ich endlich herauskriechen konnte. Ich ließ den Anzug im Keller neben den Geräten, den Pflanztrögen für die Melonenkeimlinge und den Insektenkäfigen und schleppte mich auf weichen Knien nach oben. Doch vergaß ich nicht, die Tür hinter mir zu schließen. Das Spülbecken in der Küche war voll Wasser, nicht anders als die Waschbecken im Bad und die Badewanne. Das richtete mich ein wenig auf; wenn er die Anweisungen befolgt hatte, dann war er inzwischen wohl in Sicherheit. Der gute Eric ... Ich trank einige Liter Wasser aus dem Waschbecken, bevor ich meine ekligen Kleider auszog und mich in die Badewanne mit dem kalten Wasser
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fallen ließ. Ich konnte ebensogut sauber sterben. Ich schlief fast sofort ein. Als ich nach einer Stunde erwachte, mit einem steifen Hals, wusch ich mich sorgfältig, zog mir Shorts und eine Bluse an und musste feststellen, dass ich beinahe ausgehungert war. Ich stürzte zum Kühlschrank und nahm von den Sachen, die Eric für sich eingekauft hatte: gekochtes Huhn, Brot aus dem Supermarkt, eine Banane, eine Tomate aus meinem Garten. Es gab keinen Strom, aber weil die Tür ordentlich verschlossen war, hatte nichts verderben können. Ich trank eine Dose Cola von Erics Vorrat, die erste seit nahezu dreißig Jahren. Es schmeckte phantastisch. Im Küchenschrank fand ich eine Tüte Kartoffelchips: Herrlich! Ein halbes Dutzend Dosen mit gebackenen Bohnen stand da noch, und eingelegter Hering, eine Schachtel Käse ... Schwer zu verstehen, aber ich fühlte mich mit einem Mal ganz unglaublich gut, als würde ich für die vertane Chance, was Eric betraf, dadurch entschädigt, dass ich diese Sachen aß, die er mir dagelassen hatte. Schließlich ging ich in mein ungelüftetes Schlafzimmer und ließ mich aufs Bett fallen. Es mag sich seltsam anhören, aber ich dachte nicht einmal daran, das Transistorradio einzuschalten, so sicher glaubte ich mich schon jenseits der Grenze von Leben und Tod. So lange schon war der Tod mir auf den Fersen, dass ich geradezu erleichtert war bei dem Gedanken, dass die Jagd nun ein Ende hatte. Aber was noch merkwürdiger war: Ich warf nicht einen einzigen Blick hinaus auf meinen Garten. Die Luft im Haus war stickig, die Fenster mussten schon vor vielen Stunden geschlossen worden sein. Es war auch schon viele Stunden her, dass man die Leute angewiesen hatte, kein Wasser mehr laufen zu lassen und auch die Toiletten nicht zu spülen. Aber meine waren sauber, gespült. Auch das bestätigte, dass Eric noch rechtzeitig weggekommen war. Ich versank in Schlaf und schlief wie tot. Als ich erwachte, war es dunkel, und das Haus schien zu dröhnen. Es war das Geräusch eines Hubschraubers, der in dem kleinen Park an der nächsten Kreuzung landete. Sie hatten den Mann, der mir das Auto gestohlen hatte, geschnappt, als er über die Commodore-Barry-Brücke nach New Jersey hinüberfahren wollte. Ein Polizeiauto ist nicht unbedingt ein geeignetes Objekt zum Stehlen, aber er hatte keine Wahl gehabt und auch nichts dagegen, gestellt zu werden, wenn er nur aus der Gefahrenzone gebracht wurde. Er hatte gesehen, wie ich anhielt und losmarschierte, und gewartet, bis ich außer Sicht war, dann hatte er Treibstoff nachgefüllt, den er in der Garage seiner
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Vermieterin gefunden hatte, und hatte sich aus dem Staub gemacht. Ich war noch ganz in der Nähe, aber unter meinem Helm hatte ich nicht hören können, wie der Motor angelassen wurde. Es scheint vielleicht verrückt, dass er das Auto gestohlen hatte, statt mich zu bitten, mitgenommen zu werden - aber die Leute reagieren oft sehr merkwürdig, wenn ihr Leben auf dem Spiel steht. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sie die Route des Polizeiautos zurückverfolgt hatten, zumal jedermann genug zu tun hatte, auch ohne Schutzengel für die Leute zu spielen, die man als Schutzengel für andere ausgeschickt hatte. Aber ich hatte den Namen meines Viertels einem der anderen Freiwilligen genannt, so dass sie schließlich einen Helikopter losschicken konnten. Ich brauchte nicht erst den Schutzanzug auszuziehen, dass jedermann sehen konnte, dass der Mann, nach dem man gesucht hatte, sich inzwischen in eine Frau verwandelt hatte. Der Rest ist kaum der Rede wert. Einen Monat verbrachte ich in einem Lager für Evakuierte in der Nähe von Kutztown in Pennsylvania, das man auf dem Grund und Boden des Rodale-Forschungszentrums errichtet hatte. Am Ende dieses Monats war es ziemlich sicher, dass die Gegend um Philadelphia über Jahre hinaus unbewohnbar sein würde. Genau einen Monat nach der Reaktorkatastrophe tauchte das Schiff der Hobbs wieder auf. Ich habe eine ordentliche Strahlendosis abbekommen. Meine Chancen, in fünfzehn oder zwanzig Jahren Leukämie zu bekommen, stehen nicht schlecht. Allerdings glaube ich kaum, dass ich um diese Zeit noch am Leben sein werde, es sei denn, dass ich das Angebot der Hobbs annehme (auf das ich noch zurückkommen werde). Eines Tages wurde ich im Lager ausgerufen, und als ich zum Zelt der Lagerverwaltung kam, stand da in Shorts und T-Shirt, einen Rucksack auf dem Rücken Eric Meredith. Ich hatte ziemlich schnell herausgefunden, dass er tatsächlich zu Verwandten geflüchtet war und hatte ihm geschrieben, wie froh ich wäre, dass er heil davongekommen war. Ich hatte auch erwähnt, dass ich einige Zeit im Rodale-Lager bleiben würde. Eric hatte sich nicht etwa auf die weite Reise gemacht, um seinen Lohn abzuholen, nein, er hatte einen vollständigen Ausdruck der Auswertung meiner Experimente bei sich, eine Diskette mit allen Aufzeichnungen und Daten für die diesjährige Saison und sechs schon bedenklich überreife
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Netzmelonen, eine neue Varietät von Cucumis melo reticularis. >Milky Tango< hieß sie, und es war die Hybride, in die ich meine ganzen Hoffnungen gesetzt hatte und die er vor dem radioaktiven Regen gerettet hatte, »Ich wusste nicht, wie ich die Festplatte aus dem Rechner kriegen sollte«, entschuldigte er sich. Ich starrte auf das Häufchen stark duftender Früchte, das vor mir auf dem Tisch lag; unmöglich, zu beschreiben, was in diesem Moment in mir vorging. War da nicht dieser Tag gewesen, an dem ich alles aufgeben wollte? War es nicht reiner Zufall, dass ich noch lebte? Es war nur ein Schritt bis zu Eric. Ich machte diesen Schritt, legte meine Arme um diesen dünnen, sehnigen Körper und drückte mich eine Weile an ihn. Eric stand ganz steif da, aber es machte mir nichts aus. »Eric, tu mir einen Gefallen«, sagte ich, als ich mich von ihm löste und wieder einen Schritt zurücktrat. »Ich nehme eine Hälfte davon, du behältst die andere. Pflanze sie in den Garten deiner Großeltern, nächsten Sommer - bring du das Experiment für mich zu Ende.« Ein Hustenanfall unterbrach mich, es half Eric, sich so weit aus seiner Erstarrung zu lösen, dass er sagen konnte: »Sind Sie in Ordnung? Das hört sich schlimm an!« »Es geht schon wieder. Ich war erkältet, dann kam eine Bronchitis dazu. Aber hör zu: Der Boden in meinem Garten ist auf Jahre hinaus verseucht. Der Himmel weiß, wann ich je wieder einen Garten haben werde, um mit der Zucht weitermachen zu können. Vielleicht wird das College anderswo wiedereröffnet, aber kein Mensch weiß, wo und ob überhaupt. Du wirst doch wohl nach University Park gehen?« Er nickte. »Nächste Woche. Wir werden ausnahmsweise noch verspätet zugelassen.« »Gut, dann hast du noch Zeit, dir eine ausreichende Menge Gurkenkäfer zu besorgen. Mit dem Virus kannst du sie später noch in Kontakt bringen, wenn sie nicht sowieso schon infiziert sind.« Der arme Kleine starrte mich an, er konnte nicht glauben, was ihm geschah. »Ich meine es ernst. Schau, du hast die Unterlagen und den Samen gerettet. Ich war acht Stunden oder so in meinem Haus, aber ich habe keine Sekunde daran gedacht, etwas in Sicherheit zu bringen.« Das war nur zu wahr; das einzige, an dessen Rettung ich dachte, als der Hubschrauber kam, war meine Penisattrappe. »Du hast es dir verdient, meine Arbeit zu Ende zu bringen. Aber das soll nicht heißen, dass du es unbedingt tun musst - die Leute in Rodale würden sich darum reißen.«
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»O nein, ich will ja! Wirklich!« protestierte er. »Das heißt, wenn Sie es nicht tun - aber ... Sie könnten doch Geld damit verdienen. Es ist einfach nicht richtig.« »Weißt du was: Wir machen sicherheitshalber eine Kopie aller Unterlagen. Und ich behalte die Hälfte des Saatguts. Wenn du keine verwertbaren Resultate erhältst, dann werde ich mich nach jemandem umsehen, dem ich meine Unterlagen und den Samen gebe; wenn du aber Erfolg hast, dann teilen wir uns das Geld. Was hältst du davon?« Es gab mehrere Notare in dem Lager. Wir setzten einen Vertrag auf und gingen zu einem von ihnen, damit er unsere Unterschriften beglaubigte. Ich war nicht einmal sicher, ob es legal war - Eric war erst neunzehn oder zwanzig, aber das war mir gleich. Ich brachte ihn zum Auto. Er war noch immer verwirrt, konnte kaum glauben, was vorgefallen war. Durch das heruntergekurbelte Seitenfenster sagte er ganz ernst: »Noch nie habe ich so ein Geschenk bekommen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Ich habe doch auch ein Geschenk von dir bekommen.« »Von mir? Was war das?« Ich war drauf und dran, es ihm zu sagen, doch überlegte ich es mir anders. »Gekochtes Huhn, Kartoffelchips, gebackene Bohnen, Cola«, sagte ich. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, was ich meinte, aber dann protestierte er. »Oh, das kann man doch nicht vergleichen!« »Der Unterschied ist nicht so groß, wie du meinst. Denk darüber nach, ja?« Und etwas unbedacht setzte ich hinzu: »Und denk auch mal an mich, später.« Letzten Monat war ich bei Erics Abschlussfeier an der Pennsylvania State University: eine Zwei in Biologie und ein Doktorandenstipendium für Cornell. Für jemanden, der an meinem College studiert hatte, war das gar nicht so übel. Vielleicht wird er das aus seinem Leben machen, was ich aus meinem gemacht hätte, wenn es anders gelaufen wäre. Der abschließende Nachweis, dass Milky Tango unter den verschiedensten Wachstumsbedingungen das Mosaikvirus tolerierte, hatte ihm zu seinem guten Abschluss verholfen, obwohl er meine Vorarbeiten keineswegs unterschlug; er hatte ja nur den Schlussstein setzen müssen. Zu der Abschlussfeier trug ich eine Bluse mit langen Ärmeln; ich wollte die KaposiSarkome verdecken, die sich inzwischen über meinen ganzen Körper ausgebreitet hatten. Meine eigenen Forschungen haben eine ganz überraschende Wendung genommen.
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Früh im letzten Sommer habe ich mir einen Strahlenschutzanzug besorgt und bin zu meinem Haus gefahren, um nach dem verlassenen Garten und den Melonenbeeten zu sehen. Es tat weh, sich dieses Tohuwabohu ansehen zu müssen, aber das war nicht der Grund, warum ich gekommen war. Eric hatte die Abdeckfolie über den Milky-Tango-Beeten aufgerissen, um die sechs Früchte zu ernten. Folienreste flatterten um mich her, als ich niederkniete, um es mir genauer anzusehen. Ich konnte mir sehr gut seine Eile, seine Angst vorstellen, als er zwischen den Ranken wühlte, während im Haus der Drucker piepte und ratterte. Aber auch wegen solcher Erinnerungen war ich nicht gekommen. Die übrigen Melonen waren hier an Ort und Stelle verrottet, und der Samen von »Milky Tango< war die ganzen Monate der Witterung und der Strahlung ausgesetzt., Ich hatte zu viel über Alpha-, Beta- und Gammastrahlen gelesen, um nicht zu wissen, dass man damit gezielt Mutationen auslösen konnte, etwa um resistente Sorten zu erhalten. Also hatte ich mich nach einiger Zeit gefragt, welchen Effekt der radioaktive Niederschlag auf meine schon ziemlich resistenten Melonen haben würde. Ich wollte wissen, ob etwas von dem nun zufällig bestrahlten Samen den Winter überstanden hatte und ausgekeimt war - und das wollten auch meine neuen Arbeitgeber beim Verlag von Rodale wissen, die diese Expedition finanziert hatten. Auch unser Hobbs-Beobachter zeigte Interesse - genug jedenfalls, um mitzukommen und mir zu helfen. Kein Zweifel, es gab gut zwei Dutzend Pflänzchen in diesem Beet, die von allein gewachsen waren. Hin und wieder sah man an den Blättern, dass Käfer daran genagt hatten, aber das hatte ihnen nicht schaden können. Mit Godfreys Hilfe pflanzte ich jeden dieser Sämlinge, zusammen mit der verseuchten Erde, in einen der großen, torfgefüllten Töpfe, die wir zu diesem Zweck mitgebracht hatten. Zurück in Rodale pflanzten wir sie in ein besonderes Beet, abseits von den anderen Versuchspflanzen, und warteten, was geschah. Während wir warteten, brach die Krankheit aus. Die Zeit davor, die achtzehn Monate nach dem Reaktorunfall, war die glücklichste meines Lebens. Als die Pennsylvania State University beschloss, das College in Delaware endgültig aufzugeben, bot man den festangestellten Dozenten Stellen in einer der anderen Dependancen an; aber da hatte mir schon Rodale eine Stelle in seinem Verlag angeboten. Ich hatte ja viele Jahre für ihre Zeitschriften gearbeitet und kannte eine
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Reihe Redakteure und Autoren, so dass es nicht verwunderlich war, dass sie an mich dachten, als in jenem September eine Redakteursstelle bei ihrer jüngsten Zeitschrift frei wurde: Der Forscher im eigenen Garten. Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als dieser Teil Pennsylvanias reines Farmland war und Kutztown ein Städtchen mit einem kleinen College, einer Hauptstraße, einem schlechten Hotel und einem einzigen Restaurant. Doch die neue Autobahn hatte Industrie angezogen, und der Charakter dieser Landschaft war nun völlig verändert. Als ich jetzt nach Rodale kam, da war es die letzte Insel aus Grün in einem Meer von Fabrik- und Wohnbauten. Ich zog in eines der alten Farmhäuser, das dem Forschungszentrum gehörte, und fuhr täglich zu meiner Arbeit nach Emmaus, wo der Verlag war. Dass ich auf dem Gelände von Rodale wohnte, machte es einfacher, meine neuen Versuchsbeete im Auge zu behalten. Ich kämpfte jetzt nicht mehr gegen Krankheiten; mein Projekt befasste sich mit der Ertragssteigerung bei verschiedenen Kartoffelsorten. Ich hielt mich bei der Ernährung auch nicht mehr an die strengen Regeln: Die Kartoffelchips und ich, wir waren gute Freunde geworden. Die Gruppe gab es nicht mehr, wir waren in alle Winde zerstreut, doch fand ich neue Freunde, denen ich mich anvertrauen konnte. Auch das Zölibat gab es nicht mehr: Für einige Zeit wurde einer dieser Freunde mein Liebhaber. Als die Hobbs die Macht übernahmen, sahen sie sich um, ob sie nicht hier und da eine Insel intakter Natur finden konnten. Also interessierten sie sich für Rodale und für eine Landwirtschaft mit resistenten Pflanzen im allgemeinen - genug jedenfalls, um einen ständigen Beobachter oder Berater zu uns zu schicken, und das war Godfrey. Er wohnte bei mir in dem alten Haus. Er wusste von meiner Krankheit; als die Symptome des Spätstadiums auftauchten, hatte er keine Ruhe gegeben, bis er alles über AIDS wusste. Es ist ihm zu verdanken, dass die Suche nach einem Medikament wieder aufgenommen wurde, die man fast vergessen hatte, nachdem die Zahl der noch lebenden Opfer nicht einmal mehr die Zehntausend erreichte. Es sieht recht vielversprechend aus. Sie haben eine Möglichkeit gefunden, das Enzym zu blockieren, das die Replikation des Virus in der Zelle ermöglicht. Es ist ausgeschlossen, dass ich noch am Leben bin, wenn sie endlich die Nebenwirkungen des Medikaments im Griff haben - wenn ihnen nicht ein glücklicher Zufall zu Hilfe kommt. Aber Godfrey hat da eine Idee gehabt. Es ist ja bekannt, dass die Hobbs Winterschlaf halten und dass
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ihr Organismus dem unseren sehr verwandt ist. Godfrey meinte, dass es möglich sein müsse, eine Substanz herzustellen, die die neuntausendfünfhundert AIDS-Kranken und HlV-Positiven für einige Jahre in Tiefschlaf versetzen kann, bis das Medikament einsatzbereit ist. Das Problem ist, wie man es testen kann, wenn wir alle im Kälteschlaf liegen, denn natürlich werden die Gafr keine Tierversuche dulden. So werden wir wohl eine Weile schlafen oder schließlich an dem Medikament Schaden nehmen. Aber die Gafr haben dem Projekt zugestimmt, und ich frage mich ernsthaft, ob ich es nicht versuchen soll. Das Kaposi-Sarkom kann man nur durch Bestrahlung aufhalten, und davon habe ich schon genug abbekommen. Ich werde sowieso irgendwann an Krebs sterben, eher früher als später; nächsten Monat werde ich neunundvierzig. Da wäre noch etwas, das ich erzählen muss: eine verrückte Geschichte. Eine der Melonenpflanzen aus meinem verseuchten Garten erwies sich als absolut immun gegen das Mosaikvirus! Es ist eine ganz besondere Varietät, und für den kommerziellen Anbau wird sie sich nicht eignen, aber die Forscher von Rodale glauben, sie noch verbessern zu können. Ich habe schon erwähnt, dass Melonen wie alle Cucurbüaceae getrennte männliche und weibliche Blüten produzieren, die männlichen mit den pollentragenden Staubgefäßen, die weiblichen mit Stempel und Fruchtknoten. Eigentlich ist es nicht schwer, sie auseinanderzuhalten, weil der Fruchtknoten am Boden der weiblichen Blüte eine kräftige, behaarte Struktur ist, die männliche Blüte aber direkt dem zarten Stiel aufsitzt. Nun, die immune Sorte trägt männliche und weibliche Blüten, die genau gleich aussehen! Man kann sie nicht unterscheiden, solange man nicht den Blütenboden untersucht oder die Blütenblätter entfernt, denn der Fruchtknoten ist winzig und völlig in der Blüte verborgen. Auch die reife Frucht ist winzig, nicht größer als eine kleine Orange - viel zu klein, um für die Plantagen interessant zu sein, obwohl ich mir denken könnte, dass Hobbygärtner sie als Neuheit vielleicht schätzen werden. Ich habe dieser neuen Sorte offiziell den Namen Tiny Tango gegeben, ein Name, der sich in den Saatgutkatalogen sicher gut machen wird. Aber insgeheim nenne ich sie >Travestie<. Ihre Schale ist braun und dünn und trägt das übliche Muster der Netzmelonen; das Fleisch ist von einem schönen, intensiven Lachsrosa und schmeckt süßer und delikater als das aller Melonen, die ich je gegessen habe.
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4 2011 Der letzte Tomte Die Rolltreppe trug sie aus dem U-Bahnschacht ins Freie, und blinzelnd traten sie in das klare, nordische Sonnenlicht. Eigentlich blinzelte nur der jüngere von beiden; sein seltsam aussehender Begleiter brauchte nur sein drittes Augenlid etwas undurchlässig zu machen, um sich vor der gleißenden Helligkeit zu schützen. »Von hier aus können wir gut zu Fuß gehen«, sagte Anders Eklund. »Es ist ein schöner Spaziergang, eine schattige Straße entlang, dann über die Wiese. Wenn Sie wollen, können wir auch ein Taxi nehmen.« Er redete seinen Begleiter tatsächlich mit >Sie< an - Nie auf schwedisch, wie es in letzter Zeit wieder in Mode gekommen war, nachdem das Wort gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts fast aus der schwedischen Sprache verschwunden war. Jeder, der ihnen zugehört hätte, hätte sofort gewusst, dass die beiden sich zwar kannten, aber nicht eigentlich Freunde waren. »Oh, ein Spaziergang, das wäre nicht schlecht«, sagte der Hobbs freundlich mit seiner tiefen Stimme. Sein Scheitel reichte gerade bis Anders' Schulter. Er trug Hemd, Hose und Schuhe, doch auf jeder Hautpartie seines Körpers, die nicht von einem Kleidungsstück bedeckt war, sah man graues Haar sprießen, und sein langer grauer Bart hing bis über den Gürtel. Also gingen sie auf dem sandigen Fußweg los, der zu beiden Seiten durch eine Reihe hoher Linden begrenzt wurde. >Valhallavägen< hieß die Straße, eine geschäftige, nicht unschöne Einkaufsstraße. Recht steif spazierte Anders unter den Bäumen dahin, der Hobb schritt energisch aus; es machte ihm kein bißchen Mühe, mit dem langbeinigen Mann mitzuhalten. Er sah sich um, und alles, was ihnen begegnete, erregte seine Neugier, ohne dass er unhöflich gewesen wäre - die Autos, das Postamt, die kleinen Läden, die Fußgänger, die des Wegs kamen. In der Hauptstadt jedes anderen Landes wäre sein Erscheinen eine Sensation gewesen, aber die Stockholmer, die den Hobb sahen und erkannten, warfen höchstens einen dezenten Blick auf ihn. Pomphrey dagegen spähte unter buschigen Brauen hervor nach den Leuten. Er genoß diesen Spaziergang sehr, während Anders mit
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jedem Schritt, den sie zurücklegten, verlegener wurde und verzweifelt wünschte, doch bloß vor allen Blicken geschützt in einem Taxi zu sitzen. Schließlich war die Straße zu Ende, eine riesige Wiese erstreckte sich vor ihnen. Die Gräser standen hoch, sie waren braun geworden in dem langen Sommer. Verstreut lagen hier und da einige gewaltige graue Steinblöcke, die die Eiszeitgletscher herbeigetragen hatten. »Da wären wir, das ist der Gärdet«, sagte Anders aufatmend, obwohl das eine ganz überflüssige Bemerkung war. »Die Pfadfinderinnen haben ihr Lager in dem Wäldchen beim Kaknästornet - Sie wissen doch, der Sendeturm«, und er deutete dorthin, wo in der Ferne über dem flachen Horizont eine Säule senkrecht aus dem Boden ragte wie eine mit Antennen bespickte Rakete. »Dort können wir zu Mittag essen, wenn Sie wollen - der Blick auf Djurgarden und den Kanal ist einfach atemberaubend.« Er stockte, als ihm einfiel, welche Menschenmassen im Sommer zur Mittagszeit in das Turmrestaurant strömten; aber Pomphrey sagte freundlich: »Ich bezweifle, dass wir überhaupt zum Essen kommen werden, und die Aussicht kenne ich schon. Wir werden sehen, machen wir erst mal keine Pläne, ja?« Anders hätte sich ohrfeigen können; was fiel ihm nur ein, sich wie ein Fremdenführer aufzuspielen? Er wusste doch, dass der Hobb schon seit fast zwei Monaten in der Stadt war. Er blickte zur Seite, um sein gerötetes Gesicht zu verbergen, und ging voraus; da war ein Trampelpfad in dem hohen Gras, der ungefähr in die Richtung des Turms führte. Viele Wochen hatte das ungewöhnlich heiße Wetter schon angehalten, und die Stockholmer nutzten die Gelegenheit, mit Kindern und Hunden in der Sonne zu spielen oder einfach dazuliegen, obwohl sie wussten, wie gefährlich die ultraviolette Strahlung sogar in Skandinavien war. Es schien aber, als wäre sich die Allgemeinheit überhaupt darin einig, möglichst vieles nicht zur Kenntnis zu nehmen - tatsächlich hätte man beim Anblick der Leute niemals vermuten können, wie sehr die Ereignisse des vergangenen Jahres ihr Leben verändert hatten, ganz zu schweigen von den Folgen für ihre Zukunft. In einiger Entfernung sah man einige Reiter über dem hohen Gras. Pomphrey betrachtete sie höchst interessiert, und sogar auf Anders wirkte das ungezwungene, familiäre Treiben auf der Wiese ein wenig ansteckend. Hier nahmen die Leute mehr Notiz von Pomphrey als in der Stadt oder während der U-Bahnfahrt; einige riefen »Hey!«, als er vorbeiging, und jedesmal grüßte der Hobb
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freundlich zurück. Doch einige reagierten abweisend; sie wandten den Blick ab und machten irgendeine Bemerkung zum Nebenmann; das aber ignorierte der Hobb. Anders schwitzte tüchtig, als sie endlich im Schatten der Birken auf der Anhöhe angekommen waren. »Sehen Sie sich das an.« Er deutete auf ein Miniaturschlößchen zu ihrer Linken, halbverdeckt zwischen den Bäumen. »Haben Sie gewusst, dass die Könige von Schweden von hier aus die Truppenparade abgenommen haben? Der Gärdet war ein Exerzierplatz, bevor er zum Erholungsgebiet für die Stockholmer wurde.« »Stockholm ist eine sehr schöne Stadt«, gab Pomphrey zu. »Überall anderswo hätte man auf diesem Gelände längst Häuser gebaut, und all diese Leute hier wüßten nicht, wo sie ihre Hunde an einem schönen Sommertag laufen lassen sollten.« Das war einfach eine Feststellung, kein Kompliment, für das man sich bedanken musste, und was hätte er dazu auch sagen sollen? Aber Anders freute sich trotzdem. »Die Pfadfinderinnen können nicht weit von hier sein; normalerweise darf man hier nicht campieren, sie haben eine Sondererlaubnis und stehen unter dem Schutz der amerikanischen Botschaft - ich glaube sogar, dass sie einige Marines herschicken, um nachts das Lager zu bewachen. Fragen Sie mich nicht, warum man so viel Aufhebens mit diesen Mädchen macht!« »Ich hatte es nicht vor.« Anders warf einen raschen Blick auf Pomphrey. Hatte er seine Bemerkung ganz wörtlich genommen? Oder war es ironisch gemeint? Wollte der Hobb ihn auf den Arm nehmen? Bei diesem Gedanken errötete er wieder, aber da sagte Pomphrey schon: »Ich glaube, ich rieche Rauch. Hat man ihnen auch erlaubt, hier draußen Feuer zu machen?« »Ich weiß es nicht, schon möglich. Es gibt eine Menge altes Holz hier zum Sammeln, wenn sie das vorhaben.« Kaum hatte er das gesagt, da standen sie an einem Weg, der zwischen den Birken hindurchführte; sie wandten sich nach rechts, in Richtung Turm. Nach einigen Minuten erreichten sie ihr Ziel: sechs Zelte, zwei Wachen, eine Feuerstelle und vielleicht zwanzig amerikanische Teenager, die damit beschäftigt waren, Holz zu sammeln, Brote zu schmieren oder an dem Topf über dem Feuer hantierten. Doch all das endete, als Anders und Pomphrey auftauchten. Diese Mädchen hatten offenbar noch nie einen Hobb gesehen, außer im Fernsehen natürlich; anders als die Schweden starrten sie
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ihn an, was ihre Augen hergaben. Niemand sagte ein Wort, aber nach einigen Sekunden ging eines der Mädchen in ein Zelt und tauchte, gefolgt von einer jungen Frau, wieder auf. Sie war wohl einige Jahre älter als er, schätzte Anders, und er blieb so aufrecht und selbstbewußt stehen, wie er nur konnte, denn er fand sie attraktiv. Die Frau kam auf die Besucher zu und sprach sie auf Englisch an: »Hello, Sie kommen vom Institut? Ich bin Brenda Hollis, ich habe heute morgen angerufen.« »Anders Eklund«, sagte Anders und reichte ihr die Hand. »Und dies ist Pomphrey. Der Hobb-Delegierte bei der schwedischen Regierung.« Brenda gab ihm mechanisch die Hand, sie hatte nur Augen für den Hobb, der nun auch seine Hand ausstreckte - eine Geste demonstrativer Höflichkeit. Er bemüht sich, den Bräuchen der Barbaren zu folgen, dachte Anders etwas ärgerlich, und es entging ihm nicht, dass Brenda Pomphreys behaarte Hand deutlich länger hielt als seine. »Sie heißen wirklich Pomphrey?» fragte sie. »Oder nennen Sie sich nur so?« »Nein, tatsächlich Pomphrey. Oder wenigstens fast genauso«, sagte der Hobb mit diesem typischen Lächeln. »Kommen Sie, setzen Sie sich«, sagte Brenda. »Leider kann ich Ihnen nur diese Steine als Sitzgelegenheit anbieten, aber wir kommen ganz gut damit zurecht. - Kinder, nun macht doch weiter! Bereitet alles vor und eßt, wenn ihr so weit seid, auch wenn ich noch beschäftigt bin«, wandte sie sich an die Pfadfinderinnen, die flüsterten und die Besucher anstarrten. Als die Mädchen widerwillig wieder an die Arbeit gingen, entschuldigte sich Brenda. »Hoffentlich nehmen Sie ihnen das nicht übel, es ist schon ein Erlebnis für sie, einem leibhaftigen Hobb zu begegnen. Bitte entschuldigen Sie.« Ihre Direktheit ließ Anders zusammenzucken, aber Pomphrey sagte: »Warum sollte ich es übelnehmen? Es gehört sich für die Jugend, sich für das Unbekannte zu interessieren. Wenn sie sich fürchteten, anstatt neugierig zu sein, dann könnte das gefährlich werden, und dann hätte ich vielleicht einen Grund, beleidigt zu sein.« Er sprach weitaus besser Englisch als Anders. Brenda hockte sich auf einen Granitblock und wartete, dass ihre Besucher sich setzten. Sie war genauso schlank wie ihre Mädchen und trug auch Jeans und Turnschuhe und dazu ein grünes Polohemd mit einem goldenen Kleeblatt auf der linken Brust. »Ich werde Ihnen erzählen, was ich schon Mr. Hildeman am Telefon
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gesagt habe; dann können Sie selbst sehen, ob sich der Weg hierher gelohnt hat.« Pomphrey war flink auf einen der Steine geklettert. Er nickte und lächelte leicht. »Wir werden Ihre Geschichte auf Band aufnehmen, wenn Sie nichts dagegen haben.« Anders zog ein winziges, sehr teures Tonbandgerät aus dem Beutel über seiner Schulter, legte es neben sich auf den Stein, drückte ein paar Knöpfe. »Das Mikrophon ist hochempfindlich. Also, fangen Sie an.« »Hier spricht Brenda Hollis. Wir befinden uns in einem Zeltlager auf dem Gärdet, nicht weit vom Kaknästornet, am Stadtrand von Stockholm. Wir haben den vierzehnten August 2011. Bei mir sind Anders Eklund vom Svenska Institutet und der Hobb-Delegierte Pomphrey. Ich bin die Führerin einer Pfadfindergruppe aus Allentown, Pennsylvania. Mein Bruder, Victor Hollis, der Kulturattache an der amerikanischen Botschaft ist, hat es ermöglicht, dass wir hier für eine Woche kampieren dürfen. Über das Schwedische Institut für Folklore hat er auch eine Reihe von Ausflügen und ein Unterhaltungsprogramm für uns organisiert, einschließlich eines Abends mit dem Volkskundler und Märchenerzähler Gunnar Lundquist. Mr. Lundquist war gestern abend hier, zusammen mit Elisabeth Hall vom Institut. Meine Pfadfinderinnen bereiteten das Essen, für sich und die beiden Gäste, danach saßen wir zusammen um das Lagerfeuer, und Mr. Lundquist erzählte seine Geschichten, zwei Stunden lang, vielleicht länger. Ich sollte auch erwähnen, dass Mr. Lundquist eine Flasche snaps mitgebracht hatte, aus der er sich von Zeit zu Zeit stärkte. Er war sicher die ganze Zeit etwas beschwipst, obwohl ich kaum glaube, dass es die Mädchen bemerkt haben - er nahm sich sehr zusammen, er sprach immer deutlich, er ließ nichts fallen oder torkelte gar.« Anders hielt das Tonband an. »Das ist eine ernste Sache, Miss Hollis, wenn Sie behaupten, dass das Svenska Institutet einen betrunkenen Märchenerzähler zu einer amerikanischen Pfadfindergruppe geschickt hätte«, sagte er und sah Brenda streng an. »Ich weiß. Elisabeth war es sehr peinlich, und sie entschuldigte sich nachher, bevor sie ihn wegbrachte - sie sagte, dass er sich schon früher als unzuverlässig erwiesen hätte, aber das wäre lange her. Doch würde sie nun dem Institut empfehlen, auf seine Dienste zu verzichten. Aber ob betrunken oder nicht - er ist ein begabter
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Erzähler, und die Mädchen waren begeistert. Soll ich weitermachen?« Anders schaltete mit säuerlicher Miene das Tonband wieder ein. »Er ist ein begabter Märchenerzähler«, wiederholte Brenda. »Er erzählte von Trollen und Wassergeistern, als hätte er sie selbst gesehen. Er war als junger Mann einige Zeit in Amerika, so dass er gut Englisch sprach; die Mädchen hingen nur so an seinen Lippen. Die letzte Geschichte, die er zählte, als er schon ziemlich betrunken war, handelte von einem tomte. Und diese Geschichte klang wirklich, als hätte er diesen tomte in seiner Kindheit gekannt, als er auf dem Hof seines Vaters in Südschweden lebte. Gestern habe ich mir nichts dabei gedacht; ich war zu gefesselt von seiner Erzählung, und außerdem war ich ständig in Sorge, ob er nicht irgendwann so betrunken sein würde, dass es auffiel, aber heute morgen wurde mir klar, was die Geschichte möglicherweise bedeuten könnte, und deshalb habe ich angerufen.« Die Pfadfinderinnen hatten sich versammelt, und plötzlich hörte man ein Lied aus ihrer Runde: Vor dem Brot, da war das Mehl Und vor dem Mehl gab es die Mühle Und Wind und Regen noch davor Und über allem Gottes Wille. Brenda lächelte. »Das Essen scheint endlich fertig zu sein. Sie brauchen immer noch eine ganze Stunde für drei Dutzend belegte Brote und einen Kessel Suppe. Mr. Lundquist sagte, dass damals, in seiner Kindheit, ein tomte auf dem Hof seines Vaters gelebt hätte. Er wohnte in der Scheune und half bei der Saat, bei der Ernte, beim Unkrautjäten und was auch immer auf so einem Bauernhof zu tun war. Alles das tat er in der Nacht, niemand hatte ihn je bei der Arbeit beobachtet. Mr. Lundquist sagte, dass seine Eltern, seine Onkel und die Helfer auf dem Hof über den tomte Bescheid wussten, doch sprachen sie niemals über ihn, und immer, wenn er als kleines Kind darauf zu sprechen kam, gebot man ihm zu schweigen. Es hieß, dass es gefährlich sei und Unglück bringe. Er erzählte, wie sein Vater und die Onkel immer darüber gestritten hatten, ob man die Scheune umbauen sollte, aber keiner hatte je das eigentliche Problem angesprochen: Es ging nicht um Sauberkeit und Hygiene oder um die Kosten - sie alle wussten, dass ein tomte niemals die Ernte in eine Scheune mit Zementboden einbringen würde; er wollte nackten Lehmboden haben. Und aus
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diesem Grund schoben sie die Modernisierung Jahr für Jahr vor sich her, ohne dass einer von ihnen jemals den wahren Grund genannt hätte! Und deshalb behielten sie ihre Pferde, nachdem schon alle anderen Bauern sich Traktoren angeschafft hatten, und sie behandelten ihre Pferde gut, sehr gut sogar, denn jedermann wusste, dass ein tomte Pferde liebte und besonders eifrig arbeitete, wenn man gewissenhaft für sie sorgte. Und so weiter ... Wie sie jedes Wochenende eine Schüssel mit Haferbrei vor die Tür stellten, dass der Löffel nur aus Holz oder Horn sein durfte, niemals aus Eisen und noch einiges mehr. Beschwipst oder nicht, der alte Knabe war wirklich gut. Es war, als sähe man es mit eigenen Augen. Das ging so, bis Gunnar Lundquist vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war. Er und der tomte waren gute Freunde, soweit das möglich war, denn es ist schwierig, gut Freund mit einem Wesen zu werden, das so >empfindlich< ist - so nannte er es. Aber eines Tages kam der tomte zu ihm, als er gerade seine Schularbeiten machte, und er hatte ihm Wichtiges zu sagen. Aus heiterem Himmel erklärte er dem verdutzten Jungen: >Ich bin der letzte meiner Art. Alle meine Kameraden sind tot. Es ist höchste Zeit, dass auch ich verschwinde, aber ich werde deine Hilfe brauchen, Gunnar.<« Anders sah, dass der Hobb auf dem Stein neben ihm unruhig geworden war und sich erwartungsvoll vorbeugte. Brenda sah Pomphrey kurz an, dann sprach sie weiter. »Also, natürlich war Gunnar Lundquist verwirrt und erschrocken, und er fragte: >Soll das heißen, dass alle anderen tomtes in Schweden tot sind?< Und der tomte sagte: >Das ist nicht genau das, was ich meine, aber das ist jetzt unwichtig. Ich brauche dich, du musst nachdenken. Überleg einmal: Wo ist der kälteste Ort, an den du mich bringen könntest? Und wie können wir dorthin kommen? Wenn du je mein Freund warst, dann hilf mir jetzt. Du musst es tun, denn du bist der einzige, der mir noch helfen kann. < Nun gut, um es kurz zu machen: Lundquist war sehr bekümmert und besorgt um seinen Freund, aber er hatte schließlich eine Idee. Sie konnten doch mit dem Zug nach Norden fahren, wenn man Lexi, den tomte, als Liliputaner ausgab.« Pomphrey hatte angefangen zu zittern, dass es seinen ganzen Körper schüttelte. »Lexi«, murmelte er mit unsicherer Stimme und glitt von dem Stein hinunter. Er ging zu Brenda hinüber und legte seine behaarte Hand auf ihr Knie. »Der Name des tomte war Lexi?« Brenda starrte ihn an. Sie fröstelte. »Ich hätte es gleich sagen
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sollen. >Lexi< oder >Alexi<.« »Lexi, die Abkürzung von Lexifrey«, sagte Pomphrey. »Bitte, fahren Sie fort, Miss Hollis. Was ist dann passiert?« Er nahm seine Hand nicht mehr von ihrem Knie, und Anders lief es kalt über den Rücken; aber es gab kein Entkommen, wenn man erst das Interesse eines Hobb geweckt hat. Wenn sie sich für etwas interessierten, dann gab es nichts anderes mehr auf der Welt. Connie kroch in das Zelt und rüttelte die Gestalt im Schlafsack an der Schulter, wobei sie versuchte, ihr nicht zu nahe zu kommen; der Geruch ließ sie auch so die Nase rümpfen. »Sie sind weg«, sagte sie. »Hör mal, Großvater, du kannst hier nicht bleiben, wir können dich nicht länger verstecken. Brenda kontrolliert immer wieder die Zelte. Du kannst unmöglich hierbleiben.« Es stand ihr ins Gesicht geschrieben, wie unbehaglich sie sich fühlte. Die Gestalt im Schlafsack streckte sich, gähnte und blinzelte das Mädchen schlaftrunken an. »Den alten Mann wegschicken, was? Kein Mitleid mit dem eigenen Großvater, habe ich recht! Wo soll ich denn hingehen, na?« Seine Stimme wurde weinerlich. »Nur noch ein paar Tage, ja? Ich mache doch keine Umstände, ich muss nur für einige Zeit verschwinden.« »Nein«, sagte Connie mit dem Mut der Verzweiflung, »ich habe dir schon gesagt, dass Brenda die Zelte inspiziert, und außerdem wollen die anderen es nicht. Hier, ich habe dir was zu essen mitgebracht.« Sie schob ihm ein in eine Papierserviette gewickeltes Sandwich hin. »Aber dann musst du wirklich gehen.« Der alte Mann beäugte das Sandwich ohne rechtes Interesse. Er rieb sich das stopplige Kinn, dass man in der Stille des Zelts ein Kratzen hören konnte, dann schüttelte er traurig den Kopf. »Ich dachte, du würdest dich freuen, deinen alten Großvater zu sehen. Die Familie ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.« »Hör bloß auf, du bist von zu Hause weggelaufen, als du so alt warst wie ich, und fünfundzwanzig Jahre hat es gedauert, bis du zurückgekommen bist!« fiel es Conny gerade rechtzeitig ein. »Du hast es selber gesagt. Ich habe mich wirklich gefreut, als ich dich zum ersten Mal gesehen hab', aber jetzt ...« Das arme Kind brachte den Satz nicht zu Ende. »Aber jetzt bin ich nur noch ein stinkender alter Säufer mit einem Kater«, brachte er ihren Satz zu Ende, »der gestern abend mehr gesagt hat, als gut war, und jetzt in der Patsche sitzt. Schon gut. Bin schon weg ... Wenn ich nur wüßte, wo ich heute nacht schlafen
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soll. Wirst du deiner Mutter erzählen, wie du mich davongejagt hast, als ich nichts weiter von dir verlangte als ein Plätzchen zum Schlafen?« Connies Gesicht rötete sich. Kerzengerade richtete sie sich auf. »He! Hast nicht du Mutter und Großmutter und Onkel Bill im Stich gelassen, als Mami gerade fünfzehn war? Ein Jahr älter als ich! Ich glaube nicht, dass sie sich sehr aufregen wird!« Aber bei diesen Worten sah er so mitleiderregend aus, dass eine neue Welle des Mitgefühls sie fortzureißen drohte. Sie zögerte. »Hör zu, ich werde dir Geld für ein Hotel geben; du brauchst nicht im Freien zu schlafen, aber jetzt musst du von hier verschwinden!« Das Klappern und Plätschern draußen hatte aufgehört, der Küchendienst war fertig mit dem Spülen; jetzt hörte man Brendas Stimme, die die Mädchen zusammenrief. Connie schrak zusammen, durchwühlte hastig ihren Rucksack, zählte ein paar Scheine ab und legte sie auf das Fußende des Schlafsacks. Dann kroch sie rückwärts aus dem Zelt. »Wir machen einen Ausflug. Wenn wir zurück sind, musst du weg sein!« Im Zelteingang zögerte sie. »Aber die Geschichten gestern, die waren wundervoll. Alle haben das gesagt. Und es tut mir wirklich sehr leid! Mach's gut.« Rückwärts kroch sie hinaus und zog dann mit einem scheußlichen Geräusch, das den alten Mann zusammenzucken ließ, den Reißverschluss herunter. Der Alte saß eine Weile im Dämmerlicht. Von draußen konnte er eine ärgerliche Mädchenstimme hören: »Geht er endlich?« Darauf antwortete seine Enkelin: »Endlich!« Er zuckte mit den Achseln, versuchte den Reißverschluss des Schlafsacks zu öffnen, gab es dann aber rasch auf und zwängte sich mühsam durch die Öffnung, wobei er sich wand wie eine Schlange beim Häuten. Er suchte die Geldscheine zusammen, die auf den Boden gefallen waren, zählte sie und steckte sie in seine Hemdtasche. Da er in den Kleidern geschlafen hatte, gab es nun nichts weiter zu tun. Er lauschte, wie die Stimmen der Mädchen langsam in der Ferne verklangen, kroch dann zum Eingang und spähte nach draußen. Vorsichtig zog er den Reißverschluss auf und glitt hinaus. Ängstlich schielte er nach den Marines, die das Lager bewachten, doch die hatten sich drüben bei der Zufahrt auf die Steine gesetzt; sie rauchten und machten ihre Bemerkungen über die Mädchen, die man über die Wiese verschwinden sah. Sie paßten auf, dass niemand hereinkam, und achteten nicht auf den Eindringling, der schon im Lager war. Ungesehen machte sich der alte Mann zwischen den Bäumen auf der anderen Seite davon.
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»Er hat alles Geld mitgenommen, das seine Eltern im Haus hatten«, sagte Anders, den Blick auf den Bildschirm seines winzigen Computers gerichtet. »Dann kaufte er zwei Karten für den Nachtzug nach Lappland, schmuggelte den tomte an Bord. Die meisten Leute vermeiden es, mißgestaltete Menschen allzu genau anzusehen, so dass das wohl nicht so schwierig ist, wie es sich anhört. Dann brachte er Lexi in die Berge und ließ ihn dort zurück; offenbar wollte er an einem Platz seiner Wahl einfach so erfrieren. Lundquist machte keinerlei Andeutung darüber, warum Lexi auf eine so bizarre Art sterben wollte, er schien sich auch nie dafür interessiert zu haben. Später kaufte er mit dem Rest des Geldes eine Fahrkarte nach Göteborg, brachte den Kapitän eines Frachters dazu, ihn mitzunehmen und schaffte es bis nach Amerika. Er zog umher, fand Arbeit irgendwo im Mittelwesten, heiratete und ließ sich dort nieder. Nach sechsundzwanzig Jahren kehrte er nach Schweden zurück.« Anders unterbrach sich und warf einen Blick auf Pomphrey; auf dessen Gesicht nicht die kleinste Spur dieses scheinbar gutmütigen Lächelns war, dieser Imitation menschlicher Mimik, die Anders so verabscheute. Kalte Augen schienen durch ihn hindurchzusehen. Als wäre ich irgendein lästiges Insekt oder ein Stück Stein, dachte er. Er fröstelte. Pomphrey, dessen Stimme fast schon drohend klang, wandte sich an Elisabeth Hall, die ziemlich eingeschüchtert hinter ihrem Schreibtisch saß. »Dieser >tomte<, von dem Gunnar Lundquist erzählte, war mit Sicherheit ein Hobb namens Lexifrey. Offensichtlich der letzte Überlebende jener Gruppe von dreizehn Kameraden, die unser Schiff vor etwas mehr als dreihundertfünfzig Jahren in Skandinavien ausgesetzt hat, was Sie beide wohl schon aus meinem großen Interesse an dieser Person geschlossen haben. Ein sehr netter Kerl übrigens, dieser Lexifrey, und zufällig auch ein Verwandter von mir. Sie müssen verstehen, Miss Hall, dass wir Gunnar Lundquist um jeden Preis finden müssen.« Elisabeth schluckte. »Um herauszufinden, wo Ihr Verwandter begraben sein könnte.« »Begraben?« Pomphrey warf ihr einen Blick zu, scharf und kalt wie die Klinge eines Messers. »Nur nicht so voreilig! Haben Sie sich nicht gefragt, warum Lexi unbedingt so weit nach Norden wollte? Er suchte nach einer Spalte, einer Höhle im Permafrostboden, kalt genug, um in einen besonders tiefen Winterschlaf zu fallen. An einem so kalten Ort kann ein Hobb
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Jahrzehnte schlafen. Miss Hall, er könnte in seiner Höhle noch am Leben sein!« »Soll das heißen, dass er noch immer auf Rettung hoffte?« »Es soll heißen«, sagte Pomphrey, »dass eine gute Chance besteht, dass unsere Botschaft durch das Zeitfenster angekommen ist, jenes Fenster, das wir bei unserem ersten Besuch installiert haben. Wir hatten Schwierigkeiten mit der Technik. Es ist möglich, dass eine Nachricht hinübergelangt ist, ohne dass wir es bemerkt haben. Ich vermute, dass Lexi wusste, dass das Schiff zurückkehren würde, und versuchte, sich durch den Tiefschlaf bis zu unserer Ankunft am Leben zu erhalten. In diesem Fall würde er versucht haben, einige Spuren auszulegen, die uns zu ihm führen können. Vielleicht hat er Gunnar Lundquist sehr viel mehr gefragt, als er den Pfadfinderinnen erzählt hat. Auf jeden Fall müssen wir den Mann finden und ihn befragen.« »Aber wenn Lundquist etwas wüßte, dann hätte er sich doch im Jahr 2006 gemeldet«, wandte Elisabeth ein. »Vorausgesetzt, er hätte begriffen, dass Lexi ein Hobb war.« »Darauf können wir uns nicht verlassen, Miss Hall. Es ist ja möglich, dass er versucht hat, mit uns Kontakt aufzunehmen, nur hat man ihn nicht an uns herangelassen. Auf jeden Fall müssen wir herausfinden, was er weiß. Wir müssen ihn selber fragen.« »Aber Lundquist war doch noch ein Kind«, rief Anders aufgeregt, »und es ist fast sechzig Jahre her. Ist es nicht recht unwahrscheinlich, dass er sich noch erinnern kann, was Lexi sagte und wo sie zusammen hingingen? Es gibt ein schönes Stück unberührtes Land im Norden von Schweden.« Der Blick, den Pomphrey ihm zuwarf, ließ ihn wünschen, es nicht gesagt zu haben. »Oh, wir können ihm helfen, sich zu erinnern«, sagte Pomphrey so höflich wie kalt. »Das ist nicht unser Problem; wir müssen ihn erst einmal finden. Sie müssen uns helfen, Miss Hall. Sie haben sicher seine Adresse, nehme ich an.« Elisabeth wirkte noch ängstlicher als zuvor. »Wir haben seine Adresse notiert, aber Lundquist sagte mir, als er hier vorbeikam und nach Arbeit fragte, dass er dort ausgezogen sei und jetzt bei einem Freund wohne.« »Aber Sie haben die Adresse dieses Freundes doch?« »Leider nein. Ich habe Lundquist für sein Honorar auch einen Postscheck gegeben. Er sagte, dass er kein Bankkonto mehr hätte.« »Ich verstehe.« Unvermittelt war Pomphrey aufgesprungen und stand auf seinen kurzen, kräftigen Beinen vor ihr. »Miss Hall ... wir
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müssen diesen Mann finden, ob es ihm gefällt oder nicht. Wenn das Svenska Institute uns nicht helfen kann, müssen wir uns an die Polizei wenden.« Anders war ganz aufgeregt. »Aber was kann die Polizei denn tun? Sie können ihn doch nicht verhaften. Es ist kein Verbrechen, dass er Ihrem Kameraden geholfen hat. Die Polizei kann lediglich eine Suchmeldung durchgeben. Aber was ist, wenn Lundquist sich weigert, mit uns Kontakt aufzunehmen? Er ist offenbar ein Mensch, der um jeden Preis seine Ruhe haben möchte.« Pomphrey wartete geduldig, bis Anders gesprochen hatte, dann bedachte er sie beide mit einem Lächeln, eisig und unnahbar. »Es spielt doch keine Rolle, was er möchte. Es spielt keine Rolle, was er dazu meint. Er muss nur gefunden werden, das ist alles.« Sharon stand am Zelteingang und kaute auf ihrer Unterlippe. »Er ist wieder da.« »O nein!« Connie drohten die Knie weich zu werden, aber dann stieß sie entschlossen das Netzgewebe am Eingang zur Seite und schob sich an Sharon vorbei ins Zelt. »Was machst du hier! Ich habe doch gesagt, dass du nicht bleiben kannst, und so habe ich es auch gemeint!« Die wäßrigen Augen des alten Mannes sahen sie flehend an; er war jetzt nüchtern. »Ich weiß, Kleine, aber wo soll ich denn hingehen? Sie suchen nach mir! Diese Hobbs! Überall sind Suchmeldungen, in den Zeitungen, im Fernsehen, im Radio - eure Führerin hat dem Hobb, der gestern hier war, alles erzählt, und jetzt durchsuchen sie sogar Wohnungen, um mich zu finden.« »Weshalb denn? Was hat du getan?« »Nichts! Ich habe nichts getan, aber sie glauben, dass der tomte, von dem ich euch erzählt habe, einer der Hobbs war, die sie hier zurückgelassen haben, und sie möchten mich fragen, wo ich ihn hingebracht hab'.« »Weshalb?« fragte Connie noch einmal. Der alte Mann stöhnte. »Ach ... Sie meinen, dass er vielleicht noch am Leben ist, so eine Art tiefgekühlter Rip van Winkle!« Connie hockte sich nieder. »Tatsächlich? Glaubst du denn, dass dieser Lexi ein Hobb sein könnte?« »Lexi war ein tomte!« Der Alte wurde böse. »Er wohnte auf unserem Hof, er wurde nicht von einem Raumschiff gebracht!« »Gut ... Aber warum sagst du ihnen nicht einfach, wo du ihn hingebracht hast? Dann bist du sie doch los, oder?«
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»Weil ich es vergessen habe!« Es fehlte nicht viel und Gunnar Lundquist hätte angefangen zu weinen. »Es ist bald sechzig Jahre her! Ich weiß nicht einmal mehr den Namen der Stadt, wo wir aus dem Zug gestiegen sind - es war irgendwo in den Bergen, das ist alles, was ich noch weiß!« »Dann sag ihnen das einfach«, meinte Connie ganz sachlich. »Glaubst du, dass sie damit zufrieden sind? Ha! Sie werden es aus mir herausquetschen«, sagte der Großvater, und sogar Connie konnte heraushören, wie groß seine Angst war. »Sie wissen, wie man an die Erinnerungen von Leuten herankommt - darüber haben doch schon die Zeitungen geschrieben. Genauso, wie sie auch Erinnerungen löschen können, das haben sie doch mit diesen armen Schweinen in Afrika gemacht, die den Wald gerodet haben. Ich möchte nichts damit zu tun haben! Ich war schon blöd genug, dass ich gestern mein Maul so weit aufgerissen habe! Ich habe noch nie von Lexi erzählt. Was habe ich mir nur dabei gedacht, als ich jetzt davon anfing? Sie haben überhaupt kein Recht, in meinem Gedächtnis herumzubohren, wenn ich es nicht will!« Connie runzelte nachdenklich die Stirn. Eigentlich hatte er da recht, außerdem spürte sie wohl, wie sehr die Angst ihm in den Knochen steckte. »Okay, du kannst hierbleiben, bis wir abreisen aber das sind nur noch drei Tage, Großvater. Und wir müssen es Brenda sagen, denn es gibt keine Möglichkeit, dich so zu verstecken, dass sie es nicht merkt.« Lundquist schloss mit schmerzlicher Miene die Augen. »Sie wird es ihnen sagen!« jammerte er. »Sie hat mich schon einmal verraten, sie wird es wieder tun.« Connie stand auf. »Das glaube ich nicht, aber wir müssen es riskieren. Ich werde gleich zu ihr gehen.« Sie schlüpfte unter dem Netz am Zelteingang hindurch und schloss den Reißverschluss; er hörte, wie sie zu dem anderen Mädchen, das noch immer draußen herumlungerte, sagte: »Ich werde es Brenda sagen.« Während er nun wartete, dass man über sein Schicksal entschied, begann er zu zittern und nahm einen Schluck aus der Flasche in der Innentasche seiner Jacke. Er verfluchte sich im stillen: Was hatte er nicht für Dummheiten gemacht. Wieder einmal stellte er sich vor, wie er gerade die Hand auf den Messinggriff der Tür zum Systembolaget, der staatlichen Alkoholverkaufsstelle, legen wollte und sein zerfurchtes, graubärtiges Gesicht sich in der Glasscheibe spiegelte, wo auch schon ein Steckbrief klebte; >GESUCHT WIRD: Gunnar Lundquist, 73 Jahre, 1,80 Meter groß, 74 Kilo, graue Haare, Augenfarbe blau, bis vor kurzem wohnhaft in
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Stockholm, Storskärsgaten 47; möglicherweise verwahrloster Zustand. Dieser Mann wird dringendst vom Hobb-Delegierten und von der Polizei gesucht. Um Hinweise wird gebeten, eine Belohnung ist ausgesetzte Sie würden die Steckbriefe an den Schnapsläden der ganzen Stadt aushängen, denn sie wussten sehr wohl, dass er sein Honorar für Schnaps ausgeben würde. Das Spiegelbild stieß ihn ab; ich sehe aus wie hundert, dachte er, aber ich habe immer älter ausgehen, als ich war, sonst hätte mich damals die Hans Christian Andersen nicht an Bord genommen. Was war ich nur für ein großer, stämmiger Kerl mit Vierzehn ... und was für ein großer Fehler war das alles. Dieser jungen Frau konnte man nicht trauen, was sie auch sagen würde. Sie würde die Marines informieren, vor deren Nasen er in das menschenleere Lager zurückgeschlichen war, und die Belohnung kassieren. Und die Wachen würden ihn zu den Hobbs bringen, man würde ihn fesseln und ihm einen silbernen Helm aufsetzen und tausend elektrische Kabel anschließen, um sein Gedächtnis anzuzapfen. Hilflos wäre er ihnen ausgeliefert. Er schüttelte sich und stöhnte vor Angst. Connie kam zurück. Er hörte leise Stimmen vor dem Zelt, und hinter seiner Enkelin kam die Führerin hereingekrochen. »Hallo, Mr. Lundquist, Connie hat mir alles erzählt. Das Problem ist, dass wir nicht darauf vorbereitet sind, hier jemanden zu verstecken, und ich glaube, sie haben uns da in eine dumme Lage gebracht.« »Und wie würden Sie das nennen, was Sie mir eingebrockt haben, junge Frau?« gab Lundquist zurück, ganz und gar nicht mehr der gebrochene alte Mann. »Es war doch unnötig, diesem Hobb von mir zu erzählen. Es ist Ihre Schuld, dass ich nun in der Klemme sitze!« »Nun«, erwiderte Brenda einigermaßen zerknirscht. »Aber wie konnte ich wissen, dass sie eine solche Menschenjagd veranstalten würden, als ob Sie ein Verbrecher wären. Ich dachte wohl, Sie wären bereit, ihnen zu helfen - so, wie Sie auch Lexi geholfen haben. Verstehen Sie?« »Teufel, ich würde ihnen helfen, wenn ich wüßte, wohin wir damals gegangen sind - aber ich möchte nichts mit ihren Maschinen und dieser Gehirnwäsche zu tun haben«, schimpfte der Alte. »Und wenn Sie glauben, dass die sich darum scheren würden, was ich will oder nicht, dann sind Sie noch viel dämlicher als so ein alter Säufer wie ich.« Brenda schien noch ein wenig kleiner zu werden. Da hatte
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Lundquist nicht ganz unrecht: Hatten sie ihn erst, dann würden sie alles aus ihm herausquetschen, was sie wissen wollten. Brenda glaubte nicht, dass ihre Methoden schmerzhaft waren oder dauernde Schäden hinterließen, aber die Vorstellung, dass die Fremden den Willen des alten Mannes nicht respektieren würden, machte sie wütend. Noch nie hatte sie Wut gegenüber den Hobbs empfunden, denn sie war bisher eine überzeugte Parteigängerin der Hobbs, einer jener Erdenbürger, für den das fremde Schiff der Deus ex machina war, die letzte Chance, die Selbstvernichtung der Menschheit abzuwenden. Es war eine scheußliche Situation, und Lundquist hatte gewiss nicht unrecht, wenn er ihr die Schuld gab. »Okay. Wir werden Sie bis Samstag hier verstecken«, sagte sie, »aber dann reisen wir ab, und ich fürchte, dass Sie von da an für sich selbst sorgen müssen.« Connie warf ihr einen merkwürdigen Blick zu, sie konnte nicht sagen, ob es Zustimmung oder Entsetzen war. »Gott sei Dank habe ich Pomphrey nicht gesagt, dass Sie Connies Großvater sind - wenn er das wüßte, wäre er längst hier gewesen, um das Lager durchsuchen zu lassen.« Sie sah Connie an. »Du und deine Kameradin, ihr werdet woanders schlafen. Ich werde alle informieren müssen«, sagte sie wieder zu Lundquist gewandt, »und ich kann nicht garantieren, dass sie bis Samstag den Mund halten werden, obwohl ich mich nach Kräften darum kümmern werde - das ist alles, was ich Ihnen versprechen kann. Und ich wage nicht daran zu denken, was ich von den Eltern zu hören kriegen werde.« »Ich danke Ihnen«, sagte Lundquist ziemlich kleinlaut. Anders Eklund war mit seinem Mittagessen im Restaurant des Kaknästornet fast fertig, als zwei Geschäftsleute sich zu ihm an den Tisch setzten; es waren die einzigen Plätze, die noch frei wagen. Sie aßen das, was auch Anders gegessen hatte: dicke gelbe Erbsensuppe und dünne, zusammengerollte Pfannkuchen mit Himbeermarmelade. Dieses traditionelle Donnerstagsessen konnte man in jedem Restaurant in Schweden bekommen, es war nicht nötig, deshalb den langen Weg über den Gärdet zu machen. Anders war hier, weil er sehr gerne hier oben saß und weil er hoffte, dass die vertraute und wohltuende Aussicht vom Turm ihn aufmunterte. Die beiden Männer stellten ihre Tabletts auf seinen Tisch, nicht ohne ihn um Erlaubnis gefragt zu haben. Anders zündete sich eine Zigarette an und saß trübsinnig vor seinem Teller, mit der Gabel
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rührte er in einem Rest roter Himbeersoße, während die Männer ein Gespräch begannen. Er lächelte finster in sich hinein, als er feststellte, dass sie nicht nur das gleiche aßen, sondern sich auch mit demselben Thema beschäftigten, das ihm gerade durch den Kopf ging. »Sie retten diesen Planeten, mein Lieber. Eine Welt, die wir schon fast hoffnungslos kaputtgemacht haben, ohne dass wir wüßten, wie wir sie wieder hinkriegen könnten. Wie können wir da von ihnen verlangen, dass sie die Menschenrechte genauso ernst nehmen wie wir, wo wir doch für den Schlamassel verantwortlich sind, aus dem sie uns herausholen müssen?« Sein Begleiter meinte: »Ich weiß schon, was jetzt kommen wird, aber vielleicht bin ich einfach altmodisch: Wenn man Wohnungen durchsucht, um einen Menschen zu finden, der nicht das geringste verbrochen hat, dann gibt es dafür einfach keine Rechtfertigung.« »Sind die, die einen Planeten retten, denen Rechenschaft schuldig, die ihn kaputtgemacht haben? Glaubst du das wirklich?« Der andere schüttelte ungeduldig den Kopf. »Keineswegs, SvenErik. Aber fragst du dich manchmal nicht auch, was wir noch alles werden schlucken müssen, bis die Hobbs hier ihre Arbeit erledigt haben?« »Oh, sicherlich sehr unerfreuliche Dinge«, sagte Sven-Erik, während er seine Suppe löffelte. »Aber wenn es eine einfache Möglichkeit gäbe, den Schaden zu reparieren, dann hätten wir nicht die Hobbs gebraucht, um darauf zu kommen, oder?« Mit dem Löffel zeigte er auf seinen Freund. »Du darfst nicht vergessen, Pelle: Wir sind die Übeltäter, und die Hobbs sind unsere Richter. Sie haben es nicht nötig, sich zu rechtfertigen, was immer sie tun.« Pelle ließ klirrend seinen Löffel fallen. »Wenn das dein Ernst ist, dann bist du damit einverstanden, dass wir auf Gedeih und Verderb der Willkür von Tyrannen ausgeliefert sind! Und das ist erst der Anfang - heute ist es dieser alte Säufer, aber morgen werden wir alle zu spüren kriegen, was die Direktive wirklich bedeutet, das weißt auch du.« Er beugte sich über den Tisch zu seinem Freund, und wurde in seinem Ärger recht laut. »Wenn erst eine Million Menschen verhungert oder erfroren sind, weil wir unter den neuen Bestimmungen nicht genug Nahrungsmittel und Brennstoff transportieren können, was wirst du dann sagen?« Die Leute sahen schon zu ihnen herüber, daher fügte er leiser hinzu: »Bestimmt nicht, dass sie sich vor uns nicht rechtfertigen müssten, oder?« Anders drückte seine halbgerauchte Zigarette aus und schob seinen Stuhl zurück: Es reichte! Er ging hinaus und fuhr mit dem
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Lift hinauf zur Plattform, um die Aussicht zu genießen: über die Stadt, den Gärdet, das Nordiska Museum, den Kanal, der zwischen Stadtzentrum und Hafen ins Meer mündete, und Djurgarden, die große Insel nicht weit von der Küste. Es war nicht besonders voll, aber Anders musste ein wenig warten, bis er an einem der Fernrohre an der Reihe war. Er hatte sich ans Geländer gelehnt und grübelte vor sich hin, während er durch die schmutzigen Fenster starrte. Nun war er dran, um als erster den Polizeihubschrauber aufs Korn nehmen zu können, der über den Gärdet herangeflogen kam. Er zog ein Fünfzigörestück aus der Hosentasche, steckte es in den Einwurfschlitz und suchte nach dem Helikopter; richtig, da war er, gleich würde er nicht weit vom Lager der amerikanischen Mädchen landen. Er sah, wie zwei Marines und zwei Polizisten heraussprangen; sie duckten sich unter dem Rotor und verschwanden rasch zwischen den Birken. Anders fluchte. Nach einigen Minuten tauchten sie wieder auf und schleppten eine grauhaarige Gestalt mit sich. Die Leute auf der Aussichtsplattform hinter Anders redeten aufgeregt durcheinander, aber niemand schien zu begreifen, was vorging. Kurz bevor die Münze verbraucht war, konnte er endlich einen Blick auf das Gesicht des alten Mannes erhaschen, bei dem es sich wohl um den überall gesuchten Lundquist handelte: ein vor Angst und Schreck starres Gesicht. Dann hatte man den Mann schon in den Hubschrauber geschafft. Anders fluchte wieder. Nach wenigen Sekunden hob die Maschine ab. Anders, der das Fernrohr jemand anderem überlassen musste, sah durch das Fenster, wie eine Gestalt sich der Stelle näherte, wo eben noch der Hubschrauber gestanden hatte. Es musste Brenda Hollis sein. Er stürzte zum Fahrstuhl; als er aus dem Turm trat, begann er zu laufen. Eines der Mädchen hatte geplaudert, nicht etwa Brenda Hollis - ein Mädchen, das schon die ganze Woche mit den Wachen geflirtet hatte und dem es irgendwann einfiel, zu sagen: Ich weiß etwas, was ihr nicht wißt! Die beiden Marines, die an diesem Tag Dienst hatten, überlegten ziemlich lange, was sie tun sollten. Einer der beiden hatte Verständnis mit dem alten Mann, meinte, dass er doch ein Recht hätte, die Zusammenarbeit mit den Hobbs zu verweigern.
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Aber der andere wollte nur, dass die Fahndung endlich eingestellt wurde. Man hatte seinen Urlaub gestrichen, und er hatte umdisponieren müssen; doch war es noch nicht zu spät, wenn die Sache jetzt zu einem Ende kam. Das Für und Wider war ihm ziemlich gleichgültig. Brenda sagte zu Pomphrey, der gekommen war, um die >Festnahme< selbst zu überwachen: »Ich kann Sie nicht verstehen. Dieser alte Mann hat sein ganzes Leben verpfuscht, um Ihrem Kameraden zu helfen. Ist das der Lohn dafür?« Der Ausdruck in Pomphreys Gesicht hatte nichts Menschliches mehr. Als die Polizisten Gunnar Lundquist aus dem Zelt schleppten, sagte der Hobb nur: »Ihre Werte, Miss Hollis, unterscheiden sich von den unseren. Dies ist nicht gerade eine Belohnung, aber es ist auch keine Strafe, wie Sie beide wohl meinen.« »Aber Lexi war sein Freund«, warf sie den Tränen nahe ein. »Er war nicht mein Freund«, sagte Lundquist bitter. Die beiden Polizisten hielten ihn an den Armen fest, er war gefangen, es gab keinen Ausweg, und er sah mitleiderregend aus mit seinen schmutzigen Kleidern und dem stoppligen Gesicht. Doch die tiefe Bitterkeit gab ihm eine gewisse Würde. »Ich war Lexis Freund, aber er machte sich kaum etwas aus mir; er mochte mich nicht einmal besonders. Er benutzte mich, dagegen hatte er nichts einzuwenden, er jammerte und raufte sich die Haare, bis ich tat, was er wollte - ich habe mich breitschlagen lassen, dachte, er würde es mir danken. Herr im Himmel, ich wünschte, ich hätte niemals eine Hand für ihn gerührt.« »Aber sie haben, und jetzt müssen wir herausfinden, wo er ist. Bringen Sie ihn in den Hubschrauber«, sagte Pomphrey zu den Uniformierten. Hinter ihm standen dichtgedrängt die Pfadfinderinnen wie eine aufgeregte Gänseherde. Nur das Mädchen, das alles ausgeplaudert hatte, stand allein und weinte herzzerreißend in ein Papiertaschentuch. »Es ist einfach nicht richtig«, sagte Brenda böse und ballte die Fäuste. »Es ist notwendig«, sagte Pomphrey. »Wenn etwas notwendig ist, dann spielt es keine Rolle, ob es recht oder unrecht ist. Goodbye, Miss Hollis. Ich hoffe, wir sehen uns einmal wieder.« Sie sahen zu, wie der Hubschrauber aufstieg. Connie kam heran und lehnte sich an Brendas Schulter. »Warum haben sich die Marines nicht einfach geweigert, mitzumachen? Oder die Schweden - ihre Polizei?« Brenda zog ein Taschentuch aus der Jeans. Sie legte den Arm
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um Connie. »Niemand weiß, was passiert, wenn wir uns weigern, Kleines. Das ist das Problem. Jedermann hat Angst, sich den Hobbs zu widersetzen, wenn sie etwas möchten - vor allem, wenn sie es um jeden Preis möchten. Wir wissen nicht einmal, was sie tun oder wem sie etwas tun würden. Wir wissen nur, was sie tun könnten - die ganze Erde in die Luft sprengen oder unser Gedächtnis zerstören.« Sie lächelte etwas unsicher. »Sie haben uns aber nichts getan, dafür, dass wir meinen Großvater versteckt haben.« »Nein, aber sie haben ihn ja bekommen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn sie umsonst hier gewesen wären.« »Ich möchte wissen«, sagte Connie gehässsig, »was Marcia mit der Belohnung machen wird.« »Sich eine kugelsichere Weste kaufen, wenn sie überhaupt noch einen Funken Verstand hat.« Brenda drückte Connie kurz an sich. »Die Hobbs wollen uns zeigen, wie man hier Ordnung schafft, meine Kleine, vergiß das nie.« »Ich weiß, sie wollen uns dazu bringen, dass wir Ordnung machen«, sagte Connie mit wenig Begeisterung. »Was werden sie mit meinem Großvater anstellen?« »Vermutlich bringen sie ihn dazu, sich an den Ort zu erinnern, an den er Lexi gebracht hat, dann werden sie ihn laufen lassen. Ich glaube nicht, dass sie ihm etwas antun werden.« »Er hat so furchtbare Angst gehabt.« Connie schniefte ein wenig. Brenda drückte sie kurz an sich und ließ sie dann gehen. Sie selbst machte sich auf den Weg zu der Stelle jenseits der Bäume, wo der Hubschrauber gelandet war. Dort blieb sie stehen; sie atmete schwer. Die Mädchen ließen sie merkwürdigerweise in Ruhe. Dort fand sie dann zehn Minuten später Anders Eklund. »Miss Hollis, es tut mir leid«, sagte er. »Ich habe gesehen, was passiert ist. Bitte glauben sie mir, ich habe nicht das geringste damit zu tun; es war dieser förbaskade Hobb. Ich wollte, dass Sie das wissen ...« Brenda, die tief in Gedanken versunken war, brauchte eine Weile, bis sie verstand, was man von ihr wollte. »Ich habe nicht angenommen, dass Sie dahinterstecken. Wenn hier jemand Schuld hat, dann ich.« Anders rang nach Luft, er machte keine gute Figur. Und schließlich gab er den Versuch, ein wenig Haltung zu zeigen, ganz auf. »Was soll nur aus uns werden?« brach es aus ihm heraus. »Was werden diese Hobbs aus uns gemacht haben, wenn sie hier fertig sind?«
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Brenda nickte traurig. »Das ist es, worüber ich gerade nachgedacht habe«, sagte sie und starrte zu Boden. Ihre Turnschuhe scharrten nervös im Gras. Die Hobbs befassten sich eingehend, doch sehr schonend mit Gunnar Lundquist, und als sie alles erfahren hatten, ließen sie ihn wieder gehen - unversehrt an Leib und Seele und mehrere tausend Kronen reicher. Noch am selben Tag startete ein schwedisches Militärflugzeug mit drei Hobbs, einem Dutzend junger Schweden, die gerade ihren Militärdienst ableisteten, und einem Zeitterminal an Bord in Richtung Norden, nach Östersund. Am Flughafen von Östersund wurde Mannschaft und Ausrüstung auf zwei Armeelastwagen verfrachtet, und der Konvoi machte sich über kurvige Bergstraßen auf den Weg nach Ragunda. Gleich südöstlich des Städtchens, am Ufer eines Flusses mit Namen Indalsälven, schlugen sie ein Lager auf und installierten das Zeitfenster. Es war am Fuß des Döda fjället, was >toter Berg< bedeutet. Das war der Ort, wo Lexi und der vierzehnjährige Gunnar sich getrennt hatten. Niemand auf der ganzen Welt wusste, was Lexi danach getan hatte; die Hobbs hofften, ihm mit dem Zeitfenster auf die Spur zu kommen und herauszufinden, wo er sich in ein Erdloch zurückgezogen hatte. Im Gedächtnis des alten Mannes hatte sich keinerlei Hinweis finden lassen, den man als Botschaft von Lexi an seine Retter hätte deuten können - nichts, woraus man schließen konnte, dass er die Nachricht, die sie sechs Jahre zuvor in Skane durchs Zeitfenster geschickt hatten, erhalten hatte oder damit rechnete, dass man ihn fand. Allerdings konnte man seinen verzweifelten Versuch, sein Leben auf diese Weise zu verlängern, als Indiz dafür betrachten, dass er von ihrem Kommen wusste. Aber warum hatte er in diesem Fall Lundquist gegenüber nichts gesagt, was ihnen weiterhelfen konnte? Wie konnte er hoffen, gefunden zu werden, wenn niemand wusste, wo man suchen sollte? Es grenzte wirklich an ein Wunder, dass das Zeitterminal, das mehrere Wochen in Betrieb war und auf verschiedene Tage und Stunden gerichtet wurde, schließlich einen Kontakt mit Schwedens letztem tomte herstellen konnte - genau in jenem Augenblick, als er sich von seinem Gefährten getrennt hatte, und noch bevor er einen geeigneten Platz für seinen langen Schlaf gefunden hatte. Die Freude war auf beiden Seiten des Zeitfensters groß. Ja (sagte
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Lexi), die in Schweden ausgesetzten Hobbs hatten genug von der gestörten Sendung des Zeitterminals von 2006 empfangen können, um zu wissen, dass das Schiff zurükkommen werde, aber er sei der einzige, der nun im Tiefschlaf vielleicht jenen Augenblick erleben könne. Er würde eine Menge zu erzählen haben, wenn sie ihn gefunden hätten. Die Hobbs richteten dann das Terminal auf einen Zeitpunkt einige Tage später, damit Lexi Gelegenheit gehabt hatte, sich einen Schlafplatz zu suchen. So konnte er ihnen dieses Mal die genaue Position angeben. Die Angaben stimmten. Sie fanden ihn steifgefroren genau an der Stelle, die er ihnen beschrieben hatte.
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5 1990-2006 Hunde aus Glas, Hunde aus Porzellan Eine Woche nach unserem Abenteuer im Park steckte Terry den Kopf durch die offene Tür meines Büros. »Beschäftigt?« »Es geht. Komm ruhig rein.« Er kam hereingeschlichen, zog seinen Mantel aus und ließ sich auf den Stuhl neben meinem Schreibtisch fallen. Den Mantel legte er zu einem Bündel zusammen und nahm es vor sich auf den Schoß. »Ich habe nachgedacht ... Wir müssen uns darüber klar werden, was nun zu tun ist - vielleicht, dass wir gemeinsam zu einem Entschluss kommen, zumindest aber müssen wir es bereden.« »Ich habe auch nachgedacht.« (Das war stark untertrieben.) »Aber mach dir bloß keine Hoffnungen - ich habe keinen klugen Rat anzubieten.« Terry zuckte mit den Achseln; es schien, als wäre er nicht gekommen, um Rat zu erbitten, sondern um ihn zu geben. »Ich meine, dass es das beste wäre, wenn wir so weiterleben würden wie bisher, anstatt nun zu versuchen, auf die Dinge Einfluß zu nehmen, und ohne irgend jemandem zu erzählen, was wir erlebt haben. Es würde uns sowieso niemand glauben, von einigen Verrückten einmal abgesehen; es ist also sinnlos. Aber in dem einen oder anderen Punkt werden wir nun vielleicht anders entscheiden, da wir wissen, was auf uns zukommt.« Da musste ich ihm recht geben. Beispielsweise hatten Matt und ich schon öfter darüber geredet, ob wir nicht nach seiner Pensionierung nach Kutztown ziehen sollten. Kutztown, das lag in sicherer Entfernung von allen Kernkraftwerken, von Limerick einmal abgesehen, und einige Male in der vergangenen Woche hatte ich mich gefragt, ob man diesen Plan nicht vielleicht schon früher in die Tat umsetzen könnte. Allerdings dachte ich nur mit Grausen daran, was für eine Strecke wir dann ständig hin- und herfahren mussten. Ich war sehr neugierig, welche Pläne Terrys durch das Wissen um die kommende Katastrophe sich nun geändert hatten, darum fragte ich: »Und welchen Punkt hast du da im Auge?«
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»Mein Hauptfach zum Beispiel.« Ein kurzes Grinsen huschte über sein Gesicht. »Was ist überhaupt dein Hauptfach?« Ich musste wirklich nicht viel von ihm. »Recht.« Ich rollte die Augen, das war doch jedermanns Hauptfach. »Aber jetzt überlege ich, ob ich nicht Politikwissenschaft, eines meiner Nebenfächer, als zweites Hauptfach studieren soll. Und der nächste Schritt wäre, später einmal in die Politik zu gehen.« »Du willst etwas bewirken, den Lauf der Weltgeschichte ändern?« »So ähnlich. Zumindest gefällt mir der Gedanke, das eine oder andere ändern oder wenigstens beeinflussen zu können. Ein klein wenig Wissen um die Zukunft macht da möglicherweise einen großen Unterschied. Sehen Sie, ein Mann, der weiß, was passieren wird, der könnte Vorbereitungen treffen. Der könnte einer Panik vorbeugen, die Menschen aus der Gefahrenzone schaffen; einen fertigen Plan könnte er in der Schublade haben! Haben Sie sich klargemacht, dass wir beide die einzigen Menschen auf der ganzen Welt sind, die nicht überrascht sein werden, wenn der Reaktor hochgeht? Ist das nicht Wahnsinn? Niemand außer uns wird darauf vorbereitet sein!« Ich schob meinen Stuhl etwas zurück und musterte erstaunt sein hektisch gerötetes Gesicht. Das war nicht der Terry, den ich kannte. »Und du bist entschlossen, es niemandem zu sagen?« »Nein, niemandem. Sie vielleicht?« »Ich glaube nicht. Wie du schon sagtest - niemand würde es glauben. Ich selbst bin mir immer noch nicht sicher, ob es kein Traum war.« Darüber musste ich nun selber schmunzeln, und Terry lachte lauf auf. »Ich habe es natürlich meinem Mann erzählt; er war besorgt, aber hauptsächlich, weil mir die Geschichte so naheging. Er ist zwar hoffnungslos romantisch veranlagt, aber Leichtgläubigkeit kann man ihm bestimmt nicht vorwerfen. Er wird es sicher nicht weitererzählen.« Terry sah mich etwas zweifelnd an; Professor Franklin galt unter seinen Studenten nicht gerade als Romantiker. Aber dann nickte er bedächtig. »Übrigens, was meinst du - wieviel Zeit bleibt uns denn?« fragte ich ihn. »Es dürfte noch eine Weile dauern, denn einmal gibt es noch keinen Neffen oder ähnliches - der junge Mann, den du durch das Zeitfenster gesehen hast, ist noch nicht einmal geboren!« »Meinen Sie bis zur Ankunft des Raumschiffs oder bis zu dem
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Reaktorunfall?« »O Gott, bis zum Reaktorunfall, denke ich. Fangen wir doch damit mal an: Wie lange noch?« Terry fuhr sich mit den Händen durch das dichte, schwarze Haar und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. »Na ja, die beiden, die ich im Zeitfenster gesehen habe, befanden sich dreißig Jahre in der Zukunft ... es ist nur eine Schätzung, aber uns dürften, sagen wir, noch fünfzehn Jahre bis zu diesem Reaktorunglück bleiben.« »Oh.« Dann konnte ich mir die Mühe sparen, Matt jetzt schon zum Umzug zu überreden. »Weißt du, was mir immerzu durch den Kopf geht: Ich frage mich, ob die zukünftigen Ereignisse unabänderlich festgelegt sind oder ob das Wissen darum uns eine Möglichkeit gibt, einzugreifen und sie zu verhindern.« »Sie wollen sagen: Warum nicht lieber das Unglück verhindern, anstatt sich nachher ans Aufräumen zu machen?« Ich nickte. Terry beugte sich auf seinem Stuhl zu mir herüber. »Da denke ich nicht anders als Sie, aber ich habe den Eindruck, dass jene Zukunft im Zeitfenster die einzig mögliche ist. Das Ganze hatte so etwas Überzeugendes ... vor allem diese beiden, Lee und der Außerirdische ... ich weiß nicht, ich kann mir einfach keine andere Zukunft mehr vorstellen, nachdem ich das gesehen habe - eine Zukunft, in der es diese beiden nicht gibt, meine ich. Es war alles so selbstverständlich, sie wussten, was sie taten.« »Du meinst also, dass es keinen Sinn hat, darauf zu drängen, dass alle Kernkraftwerke dieses Staates besser geführt und überwacht werden, irgend etwas in dieser Richtung?« Terry runzelte nachdenklich die Stirn. »Na ja, das könnte sicher nicht schaden. Aber ich glaube nicht, dass es das Unglück verhindern wird - nicht dieses eine. Auf irgendeine verrückte Weise ist es schon passiert, und alles, was uns bleibt, ist, uns darauf vorzubereiten.« Unglaublich, wie selbstsicher Terry das vorbrachte. Er hatte, was seine Persönlichkeit betraf, in der letzten Zeit geradezu einen Sprung nach vorn gemacht. Diese Reife machte sich äußerst gut an ihm. Doch sollte er mir nicht zu selbstbewußt werden, deshalb sagte ich: »Übrigens, du musst diese Klausur noch einmal schreiben.« »Okay, wann?« »Montag?« »Das paßt gut. Aber, um auf Ihre Frage zurückzukommen - ich denke, dass die Fremden etwa zehn Jahre nach dem Reaktorunfall auftauchen werden.«
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»Das müssen sie auch«, sagte ich trocken, »wenn der Reaktor bis dahin nicht von allein in die Luft geflogen ist und wenn sie wirklich vorhaben, sich nach einem Geschenk zu meinem siebzigsten Geburtstag umzusehen.« So weiterzuleben, als wäre nichts geschehen, fiel mir nicht schwer. Was mich betraf, war auch nicht viel geschehen; in der Hauptsache war es doch Terrys Abenteuer. Und die einzige Folge unseres Nachmittags im Park war zunächst auch, dass wir Freunde geworden sind. Wenn man so viele Jahre unterrichtet, dann ergeben sich immer wieder auch Freundschaften mit Studenten; doch dauern sie selten an, wenn er oder sie erst einmal Examen gemacht hat - zwei, drei Jahre danach bricht der Kontakt in der Regel ab. Aber mit Terry war es anders. Nicht nur, dass seine Leistungen sich so verbesserten, dass er meinen Kurs mit einer Eins abschloss, er kam auch noch regelmäßig zu mir ins Büro, als er längst keine Vorlesungen bei mir hörte, und wir entdeckten, dass wir noch anderes als jenes Erlebnis mit den Hirschen gemeinsam hatten. Ich mochte ihn sehr. Und da auch Matt ihn gut leiden konnte, war er in der kurzen Zeit, die er noch an unserer Hochschule zu absolvieren hatte, oft bei uns zu Gast. Später, als er an den Wochenenden von Georgetown herüberkam, wohnte er manchmal bei uns. Über jenes Ereignis, das unsere Freundschaft begründet hatte, sprachen wir nicht mehr. Aber an einem wundervollen Samstag im Frühling, es war 1993 oder 1994, als Terry zu Besuch gekommen war, fuhren wir auf einen Spaziergang hinaus zum Park und gingen dann, ohne dass wir ein Wort darüber verlieren mussten, den Fluß entlang, um wenig später dem markierten Weg zu folgen, der hügelaufwärts zu dem Felsblock führte - jener Felsen, auf dem wir zusammen wohl eine der seltsamsten Stunden unseres Lebens verbracht hatten. Wir hatten uns die Köpfe heiß geredet, über die juristische Fakultät in Georgetown, über Terrys Idee, sich auf Umweltrecht zu spezialisieren, doch als wir uns dem Felsen näherten, verstummten wir. Der Pfad war schmal, ich ging voraus. Vor dem Steinkoloß blieb ich stehen und sah Terry fragend an. Er lächelte. »Auf die alten Zeiten!« Ungestüm bahnte er sich einen Weg durchs trockene Unterholz und kletterte dann den Felsen hoch, nicht weniger flink und mühelos wie irgendein Achtzehnjähriger, und hockte sich oben dorthin, wo er auch an
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jenem Nachmittag einige Jahre zuvor gesessen hatte. »Paß auf, was du anfasst, es gibt hier jede Menge Giftefeu.« Ich brauchte länger als er; dann saßen wir Seite an Seite. Einige Minuten lang sagte keiner etwas. Ich überlegte, was ich jetzt empfand. Unbehagen? Kamen mir Zweifel? Oder hatte ich es aufgegeben, mich einer Wahrheit zu widersetzen, die seltsamer war als alles, was man erfinden konnte? Plötzlich nahm Terry meine Hand. Ich wandte den Kopf; mit großen, ernsten Augen sah er mich an. »Glaubst du noch daran?« fragte er. »Sei ehrlich: Glaubst du noch, dass es einen Reaktorunfall geben wird und dass die Fremden kommen werden?« Glaubst du noch an mich, hatte er bestimmt sagen wollen, und sein feierlicher Ernst war schwer zu ertragen, für einen Moment musste ich den Blick senken. »Nun, ich sage es nicht unbedingt täglich vor mich hin, und lieber wäre mir, ich würde es nicht glauben - aber die meiste Zeit glaube ich es.« Leise fügte ich hinzu: »Und wie steht es mit dir?« Terry blickte wieder geradeaus, aber er ließ meine Hand nicht los. Seine Stimme zitterte ein wenig, als er sagte: »Ich glaube mehr daran als je zuvor. Nein, ich bin mir sogar sicher.« »Gibt es Neuigkeiten?« fragte ich erschrocken. Wieder einmal wurde mir bewußt, wie sehr ich mir wünschte, dass diese Zukunftsvision nie Wirklichkeit wurde. Er schüttelte den Kopf. »Nein, aber mit jedem Jahr, das vergeht, habe ich mehr Gewissheit, dass es passieren wird. Mir wird immer klarer, wie real das war, was ich hier gesehen habe. Und nichts kann mich mehr davon abbringen, meine eigene Zukunft gemäß jener anderen Zukunft zu planen, von der ich genau weiß, dass sie kommen wird.« Ich wusste nicht, was ich darauf hätte antworten sollen; ein wenig später stiegen wir wieder hinab und gingen zum Auto zurück. Wir redeten nicht mehr viel an diesem Tag. Im selben Jahr, als Terry sein Jurastudium in Georgetown abschloss, heiratete er seine Studienkollegin, und sie zogen nach Philadelphia. Er und seine Anne fanden ohne Schwierigkeiten Arbeit, und es dauerte nicht lange, bis sie sich in Haverford, nicht weit von unserem College, ein kleines Haus kaufen konnten. Ihre Wohnung in der Stadt gaben sie auf. Es war ein glücklicher Zufall, dass mein Lieblingscousin Mark mit seiner Familie nur ein paar Straßen weiter wohnte. So sahen wir Terry und Anne recht häufig,
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auch deshalb, weil sich die beiden Paare trotz eines Altersunterschieds von zehn, fünfzehn Jahren gut verstanden und oft zusammenkamen. Ihre Freundschaft wurde noch enger, als Anne und Marks Frau Phoebe im Abstand von wenigen Monaten schwanger wurden. »Diesmal ist es ein Junge, Phoebe, das spüre ich im rechten Knie«, sagte ich an dem Abend, als sie mir am Telefon die Neuigkeit verkündete. »Dann hoffe ich nur, dass dein rechtes Knie sein Handwerk versteht«, sagte Phoebe. »Einen Sohn hätten wir schon gern, Mark und ich, und auch die Mädchen wünschen sich einen Bruder. Und außerdem ist es der letzte Versuch. Drei sind genug!« Phoebe war eine gute Mutter, aber ich konnte mir den Gedanken nicht verkneifen, dass drei mindestens eines zu viel war. Trotzdem freute ich mich mit ihr. »Wie soll er denn heißen?« fragte ich und hielt den Atem an. »Mark William, darauf haben wir uns schon vor sechs Jahren geeinigt.« Mark William? Nicht Lee? Ich versuchte mich zu erinnern, ob Phoebe oder Mark je diesen Namen erwähnt hatten, damals, bei Margy oder Brett ... Es gelang mir nicht. Sechs Jahre, hatte sie gesagt. Brett war sechs. Die Enttäuschung verschlug mir für einen Augenblick die Sprache. Aber ich nahm mich zusammen und fragte: »Und wie wirst du ihn rufen, Mark Zwo vielleicht?« Phoebe lachte. »Ein Mark in der Familie reicht doch wohl, nicht? Trotzdem vielen Dank. Nein, wenn es ein Junge wird, dann werden wir ihn Liam rufen.« »Liam?« »Mein Großvater in Irland wurde immer Liam gerufen, die letzten vier Buchstaben von >William<. Gefällt es dir nicht?« Ich stammelte etwas wie »aber ja, wirklich nett«. Als ich aufgelegt hatte, starrte ich einige Minuten auf das Telefon, nahm dann den Hörer ab und wählte Terrys Nummer. Er meldete sich schon beim dritten Klingeln. »Ich hätte dich sowieso heute oder morgen angerufen. Ich wollte dir sagen, dass ich mich entschlossen habe, für das Parlament in Harrisburg zu kandidieren.« »Fein!« Aber es kostete mich einige Mühe, überzeugend zu klingen. Zuerst Phoebe, jetzt Terry ... die Dinge kamen in Bewegung und steuerten auf einen Punkt zu, ein Ereignis, das ich nur zu gern aus meinem Denken verdrängt hätte. Ich wusste doch,
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dass Terry sich in der Politik engagiert hatte ... »Aber ist das nicht ein bißchen viel auf einmal, wenn du jetzt eine Wahlkampagne durchfechten musst, wo Anne schwanger ist?« »Na ja, einfach wird es nicht sein, aber ich habe das Gefühl, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist. Abgesehen davon, bis zum Labour Day ist nicht viel zu tun, wenn ich überhaupt aufgestellt werde. Anne ist auch dafür. Natürlich muss ich bei den Republikanern antreten, wenn ich in diesem Distrikt überhaupt eine Chance haben will. Genau die Partei, die man bei euch drüben unmöglich wählen kann!« Ich lachte. »Ein grüner Republikaner!« Auch Terry lachte, doch war eine gewisse Verärgerung herauszuhören. »Wir können uns nicht mehr leisten, dass Umweltfragen Sache einer einzigen Partei bleiben. Außerdem, das gab es schon früher - denk mal an Curt Weldon!« Er hatte recht. Da hatte es auch einen George Bush und andere namhafte Leute in der Grand Old Party gegeben, die sich alle Republikaner nannten, aber ihr Denken nicht der Parteidisziplin unterwarfen. Außerdem war es nicht meine Absicht gewesen, Terrys Begeisterung einen Dämpfer zu versetzen. »Wir können dich beim Wahlkampf unterstützen, sollen wir? Auch wenn wir dich nicht wählen können, weil es nicht unser Wahlkreis ist. Aber irgend etwas wird es schon geben, was wir für dich tun können!« »Eine ganze Menge, dein Angebot wird dir noch leid tun!« Das war wieder ein Terry, der sich freute wie ein Kind. »Also gut, dann melde dich, sobald du uns brauchst. Wir werden beide mitmachen.« »Danke, das finde ich schön von dir. Aber was rede ich immer nur von mir? Du hast doch aus einem bestimmten Grund angerufen?« Ich holte tief Luft. »Ich wollte dir erzählen, dass ich gerade mit Phoebe telefoniert habe. Kennst du die Neuigkeit schon?« »Nicht, dass ich wüßte. Was gibt es?« »Sie ist schwanger. Das Baby wird für August erwartet.« Im Hörer blieb es still. Als Terry wieder sprach, zitterte seine Stimme. »Ich habe mich gefragt ... du weißt schon ... seit ich sie kenne, habe ich mich gefragt, ob sie diejenigen sind, nicht etwa deine Verwandten in Cincinnati und Louisville, obwohl es doch so aussah, als würde es bei ihren zwei Töchtern bleiben. Weil sie eben hier in der Gegend wohnen. Gott im Himmel! Es wird Wirklichkeit, kein Zweifel. Langsam, aber sicher, nicht wahr?« Zögernd sagte ich: »Das war noch nicht alles. Ich habe Phoebe
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gefragt, wie das Baby heißen soll, wenn es ein Junge ist ... Dreimal darfst du raten.« Wieder Stille. Als er dann sprach, leise und unsicher, konnte ich deutlich fühlen, wie er sich innerlich auf den vernichtenden Schlag vorbereitete. »Was hat sie gesagt? Sag es mir!« »Mark William hat sie gesagt.« Eine Pause. »Mark William? Aber ...« »Und er soll Liam gerufen werden.« »Liam?« »Die letzten vier Buchstaben von > William<. Nach Phoebes irischem Großvater.« »Liam?« wiederholte er ungläubig, nicht anders als ich es getan hatte: Dem Schock der Enttäuschung folgte unmittelbar ein neuer Schock, als er seine Erwartung bestätigt sah. »Liam«, staunte er, »das also war es. Nicht Lee, sondern Liam! Ich habe mich verhört. Damals wusste ich ja nicht, dass es diesen Namen überhaupt gibt! Deshalb habe ich irgend etwas assoziiert, das muss es gewesen sein ...« Seine Stimme stockte, und erst jetzt wurde mir klar, was diese Nachricht für ihn bedeuten musste: Sein Erlebnis war nun auf eine Weise bestätigt worden, die es über jeden Zweifel erhaben machte. Meine eigenen Befürchtungen hatten mich unempfänglich gemacht für das, was in ihm vorging; jetzt erkannte ich, wie sehr er all die Jahre insgeheim gezweifelt hatte, wie sehr ihn die Ungewissheit gequält haben musste, Tag für Tag, was immer er an jenem Morgen oben auf dem Felsen im Park gesagt hatte. Jetzt hatte er Gewissheit, jetzt war es keine Frage des Glaubens mehr. Ich hörte, wie er nach Worten rang, und fühlte mich beschämt und traurig. »Nun ja«, sagte er nach einer Weile, »ich sollte wohl besser erst einmal abwarten, ob es wirklich ein Junge wird, bevor ich mich so gehen lasse. Nicht dass ich daran zweifle, aber andere Leute werden es vielleicht tun.« Andere Leute? Da gab es eine Frage, die ich mir schon oft gestellt hatte. »Terry, ich sollte vielleicht lieber nicht fragen, denn es geht mich nichts an - aber hast du es jemals Anne erzählt?« »O ja, das habe ich. Wir reden nicht darüber, aber sie weiß, dass es ein Grund ist, weshalb ich ins Parlament will. Wenn sie hört, dass Phoebe schwanger ist ...« »Tu mir den Gefallen und warte, bis Phoebe es ihr selber sagt, ja? Ich weiß nicht, ob es ihr recht ist, dass ich es herausposaune. Eigentlich hätte ich es auch dir nicht sagen sollen, aber es galt doch abzuwägen, nicht? Mir scheint, dass dein Recht, es zu
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erfahren, ihrem Recht vorgeht, es für sich zu behalten. Aber das gilt eben nur für dich.« Wenn Anne der Sache skeptisch gegenüberstand, dann musste das Terrys Zweifel noch verstärkt haben. Sollte sich herausstellen, dass Phoebe mit einem Mädchen schwanger ging, dann würde man zweifellos auf Terry einige Zeit aufpassen müssen, davon war ich überzeugt. Und was mich betraf, so glaubte ich ihm, da war ich mir sicher - obwohl ein gewisser Zweifel noch manchmal durch meinen Hinterkopf spukte. Die Amniozentese brachte keine Klarheit: Phoebe und Mark lehnte es ab, über das Geschlecht des Kindes informiert zu werden. Bald wusste jeder von der Schwangerschaft. Ich habe nie erfahren, wie Anne reagierte, als die seltsame Geschichte ihres Mannes sich nun zu bestätigen schien; Terry sprach nicht darüber, und Anzeichen irgendwelcher Spannungen zwischen ihnen bemerkte ich nicht, nicht damals. Ihr Sohn Jeff wurde im folgenden März geboren. Und am fünfundzwanzigsten August jenes Jahres kam im selben Krankenhaus Mark William O'Hara zur Welt - fast genau acht Pfund schwer, mit schwarzen Haaren, blauen Augen, achtundvierzig Zentimeter groß. Ich durfte ihn kurz halten. Ich sah tief in die blauen Augen, wenn sie sich kurz öffneten, und was ich fühlte, war unmöglich zu beschreiben. Ich war achtundvierzig, und dieses Bündel auf meinem Arm gab mir die Gewissheit, dass ich mindestens siebzig werden würde. Noch zweiundzwanzig Jahre, sozusagen mit Brief und Siegel. Aber Terry stand erschüttert vor der Glasscheibe des Säuglingssaals, und Tränen liefen ihm über die Wangen. »Jetzt wollen wir mal sehen, wer mich aufhalten wird«, sagte er. »Harrisburg, ich komme.« Bis Labour Day, der Tag, an dem üblicherweise die Kandidaten mit dem Wahlkampf begannen, war es nur noch eine Woche. Niemand hielt ihn auf. Terry sah gut aus, war redegewandt und vertrauenerweckend, und den Wählern gefielen auch seine hübsche Frau und das süße, sechs Monate alte Baby; außerdem stand seine Partei voll hinter ihm. Er hatte leichtes Spiel, trotz seines abweichenden Standpunkts in der Frage der AIDS-Krawalle, die in diesem Winter das Land erschütterten. Eine Menge Leute, die selbst nie Gewalt angewendet hätten, sympathisierten mit jenen, die es taten - und trotz der Empfehlungen seiner Parteiführung setzte sich Terry für Recht und Ordnung ein und vor allem für Mitgefühl. In diesem Punkt übertraf er noch den Kandidaten der
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Demokratischen Partei; er war demokratischer als ein Demokrat, grüner als ein Grüner - und wurde trotzdem gewählt. Sechs Monate nach Jeffs Geburt begann Anne wieder zu arbeiten; sie versuchten es eine Zeitlang mit einem Babysitter für tagsüber, dann mit einem Kindermädchen, das im Haus wohnte, doch schließlich ergab sich die ideale Lösung des Problems von ganz allein: Phoebe war ohnehin zu Hause bei ihrem Kleinen, und sie hatte Jeff schon vom ersten Tag an gemocht. Anne oder Terry brachte auf dem Weg zur Arbeit Jeff vorbei und nahmen ihn auf dem Heimweg wieder mit. Jeff fühlte sich im Haus der Freunde pudelwohl. Meine beiden Nichten, sieben und zehn, fuhren die beiden Babys spazieren, und die Babys selbst spielten von frühester Kindheit so reizend zusammen, dass die Erwachsenen vor Entzücken fast hysterisch wurden. So konnte jedermann nur zufrieden sein. Anne und Terry, die seit einiger Zeit überlegt hatten, ob sie nicht in ein größeres Haus ziehen sollten, gaben diesen Gedanken auf; sie wollten kein weiteres Kind mehr, und dass Jeff hier inmitten einer Geschwisterschar aufwuchs, die ihn als einen der ihren betrachtete, war ein Glücksfall. Terry machte sich gut im Parlament von Pennsylvania, und im Jahr 2002, als die beiden Jungen vier wurden, bemühte er sich um einen Sitz im Kongreß. Eine kleine Junggesellenwohnung in Georgetown fand sich rasch, Terry wurde von seiner Anwaltskanzlei beurlaubt und begann nun ein neues Leben, das in einem ständigen Pendeln zwischen Washington und Philadelphia bestand. Gewöhnlich kam er an den Wochenenden nach Hause, doch brachte er stets eine Menge Arbeit mit. Anne verbrachte immer mehr Abende bei Phoebe und Mark. Wir sahen sie alle recht häufig, solange die beiden Jungen klein waren. Es war erwogen worden, Jeff in den Kindergarten zu schicken, aber alles sprach dafür, ihn in Phoebes Obhut zu lassen. Matt und ich hatten eine Menge zu tun. Zwölf Jahre zuvor hatte man an unserer Englisch-Fakultät den Verstand verloren und verspürte fortan den Drang, alle überholten literarischen Werte über Bord zu werfen. Sie hatten einen ganzen Haufen renommierter Vertreter der >Kritischen Theorie< angeheuert. Immer mehr Studenten drängten sich in immer weniger Vorlesungen und Seminare. Die Seminare waren überfüllt, weil so wenige angeboten wurden, denn die Superstars der >Kritischen Theorie< waren ständig auf Reisen. Wir korrigierten mehr Arbeiten, saßen länger in unseren Büros und langweilten uns noch öfter bei den Sitzungen der verschiedenen Gremien als je zuvor. Wir jammerten auch jede
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Menge und redeten ständig davon, dass wir uns vorzeitig pensionieren lassen würden. Beruflich war es keine schöne Zeit. Es waren die Abende und Wochenenden in Haverford, die uns wieder aufrichteten in diesen trüben Jahren. Eine Knieverletzung hatte mich gezwungen, meine Laufschuhe mit einem Heimtrainer zu tauschen, aber ich schaffte es trotzdem, einen Nachmittag in der Woche zum Park zu fahren. In diesem Sommer, Jeff war vier und Liam fast vier, gab es endlich eine Impfung gegen die von Zecken übertragene Lyme-Krankheit, und ich konnte die beiden gelegentlich mitnehmen. Auf dem Weg hielten wir immer an einer Batterie von Recyclingbehältern, und die Kinder durften das gesammelte Glas nach Farbe sortiert in die riesigen Container werfen. Sie liebten es, Karton um Karton mit Gläsern und Flaschen zu zerschmettern, und kreischten dabei vor Freude, während sie die weniger aufregende Aufgabe, Metall, Papier und Plastikmüll loszuwerden, mir überließen. Wir machten dann noch einmal Halt, um etwas Gebäck zu kaufen, bevor wie die kurvige Straße zum Park hinauffuhren. Schon vor Liams Geburt hatte ich von solchen Ausflügen in den Park geträumt: Ich hatte mich gesehen, wie ich am Bach entlangging, dann den >Weißen Weg< hinauf, mit einem kleinen Jungen an der Hand. Aber nun schien es mir ganz selbstverständlich, dass es zwei waren, ebenso selbstverständlich wie es Anne und Terry erschienen war, Jeff nicht von Liam zu trennen, indem sie umzogen oder ihn in den Kindergarten schickten. Und wenn man die beiden sah, dann wagte man nicht einmal im Traum daran zu denken, sie zu trennen. Sie gehörten einfach zusammen. Ich hatte nicht viele Kinder aufwachsen sehen, wusste wenig über ihre Freundschaften, aber sogar mir fiel auf, dass sich hier etwas Besonderes abspielte. Ganz sicher hatte es in meiner eigenen frühen Kindheit eine Freundschaft dieser Art nicht gegeben. Instinktiv wünschte man, diesen beiden nicht im Weg zu sein, ihre Beziehung zu respektieren und zu unterstützen, weil man fühlte, dass so viel Übereinstimmung sogar in einer Ehe selten war. Liam O'Hara war ein bezauberndes Kind mit einem hübschen Gesicht. Etwa zu der Zeit, als er sprechen gelernt hatte, wurde mir klar, dass ein Teil seiner Anziehungskraft auf mich auf der Eigenart seines Wesens beruhte; seine Aussprüche, seine Bemerkungen waren so erstaunlich, so originell, dass wir immer davon redeten, wir müssten sie aufschreiben. Am Unabhängigkeitstag des Jahres, in dem Liam sechs wurde, hatten Matt und ich alle vier Kinder dick mit Sonnenschutzmittel
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eingeschmiert und sie zum Umzug in die Stadt mitgenommen. Wir waren recht früh da und saßen nun ganz vorne am Bordstein, während die Festwagen und Polizeikapellen an uns vorbeizogen. Liam hatte eine Woche zuvor den Arm gebrochen; er trug einen Gips, an den er sich noch immer nicht recht gewöhnt hatte. Aber es war ein schöner Tag, und jedermann schien sich zu freuen. Nach einer Stunde drehte sich Liam zu mir und sagte ganz ernst: »Mein Gips ist mir immer noch lieber als dieser Umzug.« Jeff war da eher ein sonniges Gemüt, von weniger ausgeprägter Eigenart als Liam. Schon mit sechs fiel seine schöne und kräftige Singstimme auf. Man sprach davon, ihn auf eine Schule zu geben, die zugleich im Chorsingen ausbildete, so gut war er; und als Terry 2002 nach Washington ging, überlegten er und Anne ernstlich, ob nicht die ganze Familie nach drei oder vier Jahren nachkommen sollte, damit Jeff im Chor der Washington Cathedral singen und zur St.-Albans-Schule gehen konnte. Anne würde mit Leichtigkeit eine neue Arbeit finden. Doch als der Augenblick der Entscheidung kam, da gab es Auseinandersetzungen zwischen Anne und Terry, und es dauerte eine Weile, bis die Krise wieder bereinigt war. Anne wünschte, dass Jeff seine Chance als Chorknabe an der Kathedrale erhielt, Terry aber wollte, dass Jeff in Haversford blieb und mit Liam die Quäkerschule in Germanstown besuchte - das war ihm noch wichtiger als die Aussicht, die Familie bei sich in Washington zu haben. Weil ich wusste, dass Terrys Eltern geschieden waren und er seinen Vater früher sehr vermißt hatte, überraschte mich das. Noch überraschter war ich, als mir klar wurde, dass er die beiden Jungen um keinen Preis trennen wollte, auch wenn das bedeutete, dass Jeff im Südosten von Pennsylvania blieb - und obwohl er wusste, dass der Tag des Reaktorunfalls nicht mehr fern sein konnte. Vielleicht glaubte Terry, dass Jeff so lange sicher war, wie er mit Liam zusammen war. Anne hielt ihm entgegen, dass Liam und Jeff sich doch an den Wochenenden besuchen konnten und dass es ihnen guttun würde, mehr Kontakt mit anderen Kindern zu haben, aber Terry ging nicht darauf ein. Der Streit brachte einiges zu Tage, was nie ausgesprochen worden war. So sehr Anne Phoebe auch schätzte, jetzt kam heraus, dass sie eifersüchtig war: Sie mißgönnte Jeffs langjährigem >Kindermädchen< die Zuneigung, die er ihr entgegenbrachte, und hatte auch kein Verständnis für Terrys übertriebene Aufmerksamkeit für den Jungen der Freundin. Sie fühlte sich aus diesem Kreis ausgeschlossen, glaubte sich
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zurückgesetzt, und ihr Gefühl war nicht ganz unbegründet. Niemand wollte sie ausschließen, aber die Wahrheit war, dass Phoebe und Terry sich weit mehr um die beiden Jungen kümmerten als ihre jeweiligen Ehepartner. Das meiste davon erfuhr ich von Terry erst Jahre später. Damals spürte ich nur eine gewisse Kühle und Schroffheit im Umgang der Ehepartner und konnte mir nur ganz grob vorstellen, woher ihre Unstimmigkeiten kamen. Sie gingen einer Entscheidung erst einmal aus dem Weg, indem sie Jeff Gesangsunterricht geben ließen und ihn zum Vorsingen beim Philadelphia-Knabenchor anmeldeten. An einem Samstag im Oktober, an dem Jeff Gesangstunde hatte, holte ich Liam zu Hause ab und fuhr mit ihm zum Park, um spazierenzugehen. Liam war damals sieben Jahre alt und immer noch klein für sein Alter und ein ernstes Kind voller Eigenart. Nun, da er älter war, nahmen wir ihn manchmal auf seinen Wunsch hin zu uns; und obwohl Matt und ich von diesem Kind einfach hingerissen waren, nutzte er das nicht aus. Bei diesen Besuchen offenbarte sich immer wieder Liams ungewöhnliche Ordnungsliebe, eine Neigung zum Ritual, die fast schon krankhaft scheinen mochte, aber ich sah hierüber hinweg, wusste ich doch, wie schwer es eine auf Übersicht und Ordnung achtende Natur in dem chaotischen Haushalts Phoebes haben musste. So nahmen wir auch immer genau denselben Weg, den ich auch an jenem Halloween-Nachmittag vor vielen Jahren mit Terry gegangen war: vom Parkplatz am Bach entlang bis zu der Stelle, wo der >Weiße Weg< begann, dann den Hügel hinauf bis zu der Stelle, die Liam den >Zackenfelsen< getauft hatte. Und Mal um Mal kletterten wir hinauf und setzten uns dort auf den Stein, wo Terry und ich gesessen hatten; wir ließen die Beine baumeln, und Liam packte Tee und Krapfen aus. Nach einer Weile schraubte er dann die Thermosflasche zu, schulterte die Tragetasche, und wir gingen zurück zum Auto, dann stets über den >Blauen< und den >Roten< Weg. Unterwegs machten wir kurz Halt bei immer demselben Baum, der zum Klettern einfach ideal war. Ich selbst konnte noch ganz ordentlich klettern, doch kam ich rasch außer Atem, aber Liam sauste flink wie ein Äffchen den Stamm hinauf und wieder hinunter. Wenn wir zur rechten Zeit losgegangen waren, so dass es gegen Ende unseres Spazierganges dämmerte, dann konnten wir oft Hirsche hören oder gar sehen, wenn sie durch das Dickicht flohen. Ich hatte den beiden Jungen oft jene Geschichte erzählt, als ich auf diesem Felsen gesessen und die Hirsche bei der Paarung
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beobachtet hatte: Wie der Hirsch die Hindin den Hügel hinaufgejagt hatte und sich genau vor meinen Füßen auf sie stürzte, beide zu beschäftigt mit ihrem Tun, um irgend etwas wahrzunehmen oder sich stören zu lassen. Ich erwähnte allerdings nie, dass Jeffs Vater an jenem Tag dabei war. An diesem Nachmittag ließ ich mir von Liam meinen Krapfen und die Tasse Tee geben, und eine Weile aßen wir schweigend, genossen die Stille und das milde Wetter, das uns erlaubte, auf das übelriechende Sonnenschutzmittel zu verzichten, ohne das man im Sommer nicht nach draußen gehen konnte, nachdem die Ozonschicht nun so dünn geworden war. »Werdet ihr euch heute abend verkleiden und von Haus zu Haus gehen, du und Jeff?« fragte ich ihn dann. »Vielleicht«, sagte Liam. »Er hat heute Probe, aber er könnte rechtzeitig zurück sein.« »Als was wirst du gehen?« »Als Raumfahrer. Wir gehen beide als Raumfahrer. Wir haben die Kostüme selber gemacht, na ja, Mutter hat geholfen. Aber das meiste haben wir allein gemacht. Ich habe mir die Helme ausgedacht und Jeff die Sauerstoffbehälter.« Ein Raumfahrer. Ich schaffte es, mit ganz normaler Stimme zu fragen: »Ein Astronaut, also?« »Nein, ein Raumfahrer von einem anderen Planeten, Außerirdische! Beide vom selben Planeten.« »Und was werden das für Außerirdische sein?« »Das wirst du sehen, wenn wir wieder zu Hause sind. Sie kommen von einem Planeten mit sehr großer Schwerkraft, deshalb haben sie auf der Erde das Gefühl, zu fliegen. Und sie haben riesige Füße und recht kleine Köpfe, und keine Haare. Sie sehen einfach schrecklich aus«, erklärte er zufrieden und nahm einen großen Bissen von seinem Krapfen. »Aber sie sind furchtbar nett«, fügte er hinzu. Wie ich ihn so seinen Krapfen halten sah, sagte ich mir, dass ich noch nie im Leben ein so feines Handgelenk gesehen hatte. »Das hört sich aber nach einer Menge Arbeit an, wo ihr noch nicht einmal sicher seid, ob ihr heute losziehen könnt«, sagte ich zärtlich. »Das macht nichts«, sagte Liam gelassen. »Wir haben ein Halloween-Fest in der Schule, und dafür brauchen wir die Kostüme allemal. Ich werde sie dir zeigen, wenn wir nach Hause kommen erinnere mich daran.« »Sag mal, wie gefällt es eigentlich Jeff in dem Chor?« »Ganz gut, er mag die Sachen, die sie da singen.« Er
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verstummte, und eine Minute verging, bis er hinzufügte: »Mir gefällt diese Art Musik nicht besonders, aber ich würde gerne mit Jeff in den Chor gehen. Glaubst du, dass ich lernen könnte, diese Musik zu mögen, wenn ich sie singen könnte?« Er sah zu mir auf, und er wirkte jetzt so traurig, dass einem das Herz brechen wollte. »Mein Kleiner, ich weiß nicht, ob du dich daran noch erinnern kannst ... Du warst gerade fünf, da hast du bei uns zu Hause >Sesamstraße< angeschaut, und als sie anfingen >Rockabye Baby< zu singen, da fingst du an zu weinen. Du hast auf dem Fußboden gespielt, aber in dem Augenblick, als du das Lied hörtest, da bist du in Tränen ausgebrochen, bist zu mir gelaufen und auf meinen Schoß geklettert; und immer wieder hast du gesagt, dass das Lied dich so traurig macht. Kannst du dich erinnern?« »Überhaupt nicht! >Rockabye Baby« Er lachte bei dem Gedanken, dass er sich tatsächlich wie ein Baby benommen hatte. »Ich habe mich seither oft gefragt, ob du nicht ein ungewöhnlich musikalisches Kind bist, wenn dich Musik so stark beeindrucken kann. Vielleicht solltest du einmal ausprobieren, ob es nicht ein Instrument gibt, das dir liegt. Es muss nicht unbedingt Gesang sein.« »O ja, das ist eine gute Idee. Mensch, Carrie! Ich werde heute abend Mutter fragen. Und vielleicht kann mir Jeff sagen, welches Instrument ich nehmen soll - wenn ich Klavier lernen würde, dann könnte ich ihn beim Singen begleiten!« Er lächelte, das waren wirklich erfreuliche Aussichten. Es bedrückte mich, mir einen Liam vorzustellen, wie er sich mühte, Jeffs musikalisches Niveau zu erreichen. »Was hält Jeff eigentlich davon, nach St. Albans zu gehen und im Chor der Washington Cathedral mitzusingen?« fragte ich, und am liebsten hätte ich mir meiner Taktlosigkeit wegen die Zunge abgebissen. Aber Liam runzelte nur leicht die Stirn, während er Pappbecher und Papierservietten in den Tragebeutel schob. »Er würde ganz gern auf so eine Schule gehen, wenn es hier eine gäbe, aber er möchte deshalb nicht nach Washington ziehen müssen. Er sagt, er würde nicht einmal gehen, wenn sie es verlangten. Seine Mutter ist ganz schön sauer, dass sein Vater nicht umziehen will - aber selbst wenn seine Mutter sich durchsetzt, sagt Jeff, wird er nicht gehen. Er wird zu uns kommen und bei uns wohnen. Er sagt, wenn sie ihn zwingen werden, dann wird er überhaupt nicht mehr singen, ganz einfach, dann war der ganze Streit umsonst. Er möchte nur, dass sie endlich damit aufhören.«
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Auf diese Weise erfuhr ich, was es für Ärger zwischen Terry und Anne gegeben hatte. Merkwürdigerweise waren sie nie auf die Idee gekommen, einmal Jeff zu fragen, was er wollte. Der Streit war noch immer nicht ausgefochten, als fünf Monate später das Hobbs-Schiff im Sonnensystem auftauchte. Terry war in Washington, als das geschah und es kein anderes Thema mehr in den Medien gab. Ich hatte mehrmals versucht, ihn anzurufen, aber ich war noch immer nicht durchgekommen, als er, kaum drei Stunden nach der ersten Sondermeldung im Radio, vor unsrer Tür stand. Er war von Washington auf direktem Wege zu mir gekommen. Dass er es geschafft hatte, in einem Stück durchzufahren, war ein Wunder; ich hatte gedacht, dass ich außer mir wäre - aber Terry sah wirklich schlimm aus. Gott sei Dank war ich an diesem Tag nicht am College; ich schenkte ihm etwas zu trinken ein und brachte ihn zum Sofa im Wohnzimmer - und nun saß er in derselben Sofaecke wie damals, als er meine Vorlesung über amerikanische Lyrik hörte und mir die seltsamste Examensarbeit vorlas, die mir in meinem ganzen Leben zu Ohren gekommen ist. Mehr als fünfzehn Jahre waren seither vergangen. »Ich weiß, dass sie nicht kommen sollten, bevor das mit dem Reaktor passiert! Was hältst du davon, Carrie? Bedeutet das, dass wir die Katastrophe jede Minute zu erwarten haben? Wo? Peach Bottom? Limerick? Noch einmal Three Mile Island? Eines dieser drei Kraftwerke muss es sein, meinst du nicht auch? Keines von den neuen!« Er kippte seinen Bourbon hinunter und zog eine Grimasse. »Ich hatte einen vollständig ausgearbeiteten Evakuierungsplan, seit Jahren schon, seit ich mich um den Parlamentssitz beworben habe. Ich hole ihn nachts aus der Schublade und bringe ihn auf den neuesten Stand, mache kleine Verbesserungen. Das war praktisch mein Hobby, den ganzen Südosten von Pennsylvania zu evakuieren! Aber die ganze Zeit habe ich gehofft, dass uns die Hobbs dabei helfen würden.« Ich sah ihn wie durch einen Schleier. Sogar als Liam geboren war, hatte ich mir immer noch einen kleinen, geheimen Vorbehalt gestattet - vielleicht wäre jene Zukunft aus Terrys Vision doch nicht unvermeidlich. Nun schien es keinen Zweifel mehr zu geben, dass sie längst begonnen hatte und unwiderruflich unser Leben bestimmte. Während Terry an den Details herumrätselte, saß ich wie vor den Kopf geschlagen da. »Wir hatten doch immer vor, das Haus zu verkaufen und nach Kutztown zu ziehen«, sagte ich,
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während ich zu begreifen versuchte. »Aber irgendwie schien es nie ... Matt hat es nie ...« »Du hast es nie wirklich geglaubt, habe ich recht?« sagte Terry, und es klang eher besorgt als bitter. Er leerte sein Glas und stellte es auf den Couchtisch. »Ich kam hierher, anstatt nach Hause zu fahren, weil ich dachte, du wärst der einzige Mensch auf der Welt, der noch daran glaubt. Ich wusste, dass Matt es nicht glaubte, und was Anne betrifft ...« Er brach ab. »Aber das ist jetzt alles unwichtig. Wichtig ist, dass ihr alle von hier wegkommt, solange noch Zeit ist, und dass Alarm gegeben wird, so dass die Aktion noch in der Sekunde anlaufen kann, in der der Reaktor hochgeht. Der Gouverneur hat eine Kopie, aber es gibt noch eine Reihe anderer Leute, denen man Bescheid geben muss, damit sie die Sache richtig anpacken.« »Terry, es ist die reine Wahrheit: Ich habe mir immer gewünscht, dir zu glauben«, sagte ich verzweifelt. »Und ich bin überzeugt, dass auch Anne alles dafür gegeben hätte, es glauben zu können aber vielleicht gehört das zu den Dingen, die man erst glaubt, wenn sie wirklich passieren.« Er sah mich scharf an. »Hast du je mit Anne darüber geredet?« »Nein, niemals.« Anne war ein recht unzugänglicher Mensch und mochte mich nicht besonders, und ich hatte mich nie überwinden können, dieses Thema anzuschneiden. »Weißt du, nach jenem Erlebnis im Park glaubte ich, ich wäre restlos überzeugt. Aber mit der Zeit erschien es mir immer unwahrscheinlicher! Sogar, als Liam geboren wurde ... Aber zu einem gewissen Grade habe ich es geglaubt, denn ich habe Liam und Jeff die Geschichte von den Hirschen jedesmal erzählt, wenn wir in den Park gingen.« Und das war nicht zu verachten, denn so hatte ich jener Idee, unser Erlebnis mit den Hirschen zu filmen und als Geburtstagsgeschenk zu verwenden, den Boden bereitet. Terrys Gesicht entspannte sich. »Das ist schon etwas, das muss ich zugeben.« Er beugte sich zu mir und nahm mich in die Arme. »Du musst entschuldigen. Es war ein langes, einsames Warten, und ich bin völlig durcheinander, dass das Schiff vor dem Reaktorunfall aufgetaucht ist.« Er ließ sich wieder in seine Sofaecke fallen. »Weißt du was? Jedesmal, wenn ic h den kleinen Liam sehe, scheint er dem jungen Mann im Strahlenschutzanzug etwas ähnlicher zu sein. Bis mir die ersten Haare ausgingen, habe ich mich immer gefragt, warum er - der zweiundzwanzigjährige Liam - nicht auch mich durch das Zeitfenster erkannt hat. Wo er mich doch zeit seines Lebens kennt! Was ich damals natürlich nicht wissen konnte
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... aber vermutlich sehe ich nicht mehr wie ein Collegejüngling aus.« Das konnte man wirklich nicht behaupten, und es lag nicht nur daran, dass das schöne, schwarze Haar nun verschwunden war. Ohne darauf einzugehen, sagte ich: »Weißt du, was es sonst noch bedeuten könnte? Davon abgesehen, dass er nur so tat, als würde er dich nicht erkennen?« »Dass ich ihm nichts davon sagen werde ... Ja, daran habe ich gedacht. Zu der Zeit, zu der sich die Szene aus seiner Perspektive abspielt, wird er älter sein als ich an jenem Tag und ich werde zum alten Eisen gehören, mit einer Glatze, in der man sich spiegeln kann.« Terry schüttelte den Kopf. »Was für eine Vorstellung!« »Am liebsten würde ich alles zusammentrommeln und dafür sorgen, dass wir hier verschwinden, bevor passiert, was auch immer geschehen wird«, sagte ich, um endlich auf unser eigentliches Thema zurückzukommen, »aber wie soll ich das anstellen? Matt und ich, wie können wir unsere Vorlesungen ausfallen lassen - unter welchem Vorwand? Und Anne wird kaum alles stehen und liegen lassen und Jeff aus der Schule holen, oder? Auch Mark wird nicht erlauben, dass Liam die Schule versäumt ... Ich weiß beim besten Willen nicht, wie wir es anstellen sollen, wir müssten uns schon einen Trick einfallen lassen.« »Ich habe das in Gedanken schon oft genug durchgespielt. Und dies hier hätte ich dir bei der nächsten Gelegenheit sowieso gegeben.« Er nahm einen Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts und legte ihn auf den Couchtisch. »Das ist der Evakuierungsplan für uns privat - für dich und Matt, Anne und Jeff, Mark, Phoebe und Liam. Für jeden ein Exemplar. Lern es auswendig. Und pack einige Kleider zusammen. Wenn es so weit ist, mach dich auf den Weg zu unserem Häuschen in den Poconos. Es sei denn, es ist Limerick - in dem Fall fährst du nach Georgetown, zu meiner Wohnung.« Er zog etwas aus der Hosentasche, während er sprach, und löste dann zwei Schlüssel von einem Ring. »Für das Blockhaus und für meine Wohnung. Es gibt auch welche für Mark und Phoebe. Am besten, ich schau mal nach den beiden, jetzt gleich.« »Wie steht es mit den Lebensmittelvorräten?« »Der Keller des Blockhauses ist bis zur Decke vollgestopft mit Konserven und Wasser in Flaschen.« Plötzlich fiel mir etwas ein. »Und du? Wirst du nicht mitkommen?« Terry schüttelte den Kopf. »Ich werde nach Harrisburg gehen, um
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die Evakuierung zu leiten. Mach dir keine Sorgen, mir wird nichts passieren.« Er stand auf, um zu gehen. Ich stand ebenfalls auf. »Dann werde ich die Autos volltanken und einiges Grünzeug einkaufen, dann brauche ich nur noch auf die Sirene zu warten. Und, Terry ...« Er drehte sich um, als er schon durch die Tür schlüpfte. »Es tut mir leid, wirklich. Glaub es mir.« Aber es gab keinen Alarm. Ich füllte die Tanks beider Autos bis zum Rand mit Methanol, die Kofferräume mit Äpfeln, Kartoffeln und Wurzelgemüsen (alles sehr haltbar), dazu einigen Beuteln mit Mehl und Getreide, und packte die Koffer für Matt und mich. Ich lernte Terrys Plan für den Notfall auswendig und ruhte nicht, bis auch Matt ihn bis ins Detail kannte. Tagelang ließ ich das Radio laufen, pausenlos. Aber die Außerirdischen gingen mit ihrem großen Schiff auf dem Mond nieder, das Zubringerschiff landete auf dem John-FKennedy-Flughafen, und noch immer war die Kraftwerkskatastrophe ausgeblieben.
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April 2006 »Ich habe es im Buckingham-Palast versucht: vergeblich. Ich habe es in Whitehall versucht - es ist nicht viel, was ich in England an Beziehungen habe, aber alles war vergebens. Dann bin ich nach Yorkshire gefahren und habe mit meinem Paß gewedelt, habe den Sicherheitsbeamten der UNO gesagt, dass ich Kongreßabgeordneter bin und eine wichtige Information für die Hobbs hätte - das hat erst recht nicht geholfen. Niemand hat mir ein Wort geglaubt, sie hatten schon eine ganze Woche lang Scharen von Verrückten abwimmeln müssen. In meiner Verzweiflung versuchte ich es noch bei einer Zeitung in York; ich sagte, ich wollte ihnen meine Geschichte erzählen, in der Hoffnung, dass sie sie druckten und auf diese Weise etwas zu den Hobbs durchsickern würde. Aber auch sie waren schon die ganzen Tage damit beschäftigt, sich irgendwelche Spinner vom Leib zu halten; sie waren überhaupt nicht nett zu mir.« Terry kippte den Rest in seinem Glas hinunter und stellte es auf den Boden; dann verschränkte er die Arme im Nacken. Er war vom Flughafen mit dem Taxi direkt zu uns gekommen, und er sah mitgenommen aus, aber sein Gesicht leuchtete vor Begeisterung. Und ganz sicher hatte er sein Publikum in den Bann geschlagen; ich glaube nicht, dass ich die Augen ein einziges Mal von seinem Gesicht abgewendet habe, seit er zur Tür hereingestürzt war. »Also, was hast du gemacht? Du hast versucht, ihnen in Schweden aufzulauern, habe ich recht?« Terry lächelte mich an. Ein glückliches Lächeln. Er bückte sich, um die Schuhe aufzubinden, streckte dann die Beine aus und legte die Füße in den schwarzen Socken auf den Couchtisch. »>Versucht< ist das richtige Wort. Die Flugzeuge waren ausgebucht bis auf den letzten Platz; alle diese Spinner waren schon vor mir auf diese Idee gekommen.« Er lachte; das, worüber er sich insgeheim so freute, versuchte sich für einen Moment Luft zu machen. »Mein Gott, was war ich aufgeregt! Da stand ich, der einzige Mensch auf diesem Planeten, der den Hobbs etwas von Bedeutung zu sagen hatte - und keine Möglichkeit, an sie heranzukommen, so sehr ich auch die Arme schwenkte und schrie! Zumindest dachte ich damals, dass ich der einzige wäre.« »Wo warst du denn, als die Sache mit der Moorleiche bekannt wurde?« Matt hatte sich aufgerafft, um endlich auch einmal etwas zu sagen. Seit der Ankunft des Hobbs-Schiffs war er ungewöhnlich
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schweigsam gewesen. Er hatte nie ein einziges Wort von Terrys Geschichte geglaubt, und jetzt schämte er sich. »Im Zug von York zurück nach London. Sie haben es über Lautsprecher durchgegeben: Ein Bauer aus Yorkshire und eine Amerikanerin hätten die Leiche eines der Außerirdischen in einem Moortümpel entdeckt. Ich kann euch sagen, im Zug war die Hölle los. Die Hälfte der Fahrgäste waren Leute aus Yorkshire.« »Und das ist eine sehr besondere Sorte Mensch«, meinte Matt. »Aber erzähl weiter«, sagte ich. »Laß dich nicht stören.« »Nun, ich habe nicht gedacht, dass wir jemals in London ankommen würden, aber schließlich hatten wir es geschafft, und ich bin vom Bahnhof aus in den nächsten Pub gegangen. Es war gerammelt voll, eine Menge Leute hatte dieselbe Idee gehabt, aber immerhin hatten sie den Ton am Fernseher ganz aufgedreht, und ständig wurden Sondermeldungen ins laufende Programm eingeblendet. Man hatte die Leiche mit einem Polizeihubschrauber weggebracht, nach Leeds zuerst, von dort nach London, und die Hobbs-Delegation war zu dieser Stunde schon auf dem Weg von Stockholm nach Heathrow. Ich raste zu meinem Hotel und kam gerade rechtzeitig, um zu hören, dass sie gelandet waren. Es dauerte nicht lange, dass sie bestätigten, dass es tatsächlich einer der Ausgesetzten war. Nach dreihundertfünfzig Jahren dauerte es keine Stunde, bis sie heraushatten, welcher ihrer Kameraden es war!« Er blickte von mir zu Matt und wieder zurück zu mir und lächelte zufrieden. »Carrie, mein Gott, ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich fühlte, als ich das hörte. Ich verstehe es selber kaum, denn ich war ja der Lösung meines Rätsels kein bißchen näher gekommen - aber ich war überglücklich! Vielleicht habe ich mich für sie gefreut, wer weiß.« »Vielleicht bist du ganz einfach ein lieber Kerl«, sagte ich und tätschelte ihm das Knie. Er legte seine Hand auf meine und drückte sie. »Und weißt du was? Es stellte sich heraus, dass die Amerikanerin, die beim Auffinden der Leiche mitgeholfen hat, aus dieser Gegend ist. Aus meinem Wahlkreis!« Er lachte zufrieden. »Und nun wusste ich: Hier ist meine Chance! Jetzt komme ich an die Hobbs heran, sie wird mir dabei helfen.« Er nahm die Flasche auf dem Couchtisch und füllte sein Glas. Er trank, er hatte keine Eile. Nach einer Minute drängte ich ihn: »Und? Hat es funktioniert? Konntest du mit ihnen sprechen?« Terry musste erst hinunterschlucken, dann schüttelte er den
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Kopf. »Ich habe mit ihr gesprochen, aber sie konnte nichts für mich tun. Ich habe sie nicht zu Gesicht bekommen. Du machst dir keine Vorstellung, wie man diese Hobbs abschirmt! Diese Frau übrigens ist an der Pennsylvania-Universität, sie lehrt dort Geschichte - hast du davon gehört? Sie ist tatsächlich eine Kollegin von dir. Sie würde euch gefallen. Sie hat mich an die Lehrer an Jeffs Quäkerschule erinnert. Ihr jedenfalls habe ich meine Geschichte erzählt.« Er leerte sein Glas, stellte es ab und lehnte sich in die Sofakissen zurück. Matt und ich sprachen gleichzeitig. »Was hat sie dazu gesagt?« fragte er, ich: »Wie heißt sie?« Terry antwortete mir. »Der Name ist Jenny Shepherd. Kennt ihr sie, vielleicht einer von euch?« Ich schüttelte den Kopf. »Nur dem Namen nach. Matt war mal in irgendeinem Gremium mit ihr, stimmt's, Liebling?« »Im Berufungsausschuß, ja. Aber das ist lange her, ich kann mich kaum an sie erinnern. Ihr Gebiet ist, glaube ich, so etwas wie der skandinavische Einfluß auf den Norden Englands.« So aufgekratzt wie ich war, kam mir das unerhört lustig vor. »Wikinger? Tatsächlich? Sie scheint ja auf Invasoren aller Art spezialisiert zu sein, nicht?« Die beiden lächelten, sie wollten nicht unhöflich sein. »Was hat sie gesagt, Terry?« fragte Matt wieder. »Nicht viel, was mir weiterhelfen konnte. Sie war sehr interessiert, sie kennt auch den Park. Sie sagte auch, dass einer der Hobbs, den sie 1994 im Moor getroffen hat, über Zeitfenster sprach. Dabei fällt mir ein: Habt ihr gehört, dass die Hobbs eine Maschine benutzen wollen, um die Vermißten zu finden? Ein >Zeitterminal< nennen sie das Ding!« Ich hatte es diesen Morgen im Inquirer gelesen. »Sie bringen es vom Schiff herunter und installieren es an den damaligen Landeplätzen in Schweden und Yorkshire.« Ich lehnte mich vor, etwas war mir eingefallen. »Und hat nicht Liam dir das gesagt? Dass das Zeitfenster exakt am selben Ort aufgebaut werden muss und dieses Beispiel mit den Spukhäusern?« »Genau!« Terry wollte noch etwas sagen, aber Matt unterbrach ihn. »War dieser Hobb, den diese Shepherd damals traf, derselbe, den man aus dem Moor gefischt hat?« »Offensichtlich nicht. Aber warte ... diese Sache mit dem Zeitfenster.« Terry nahm die Füße vom Tisch und richtete sich auf. Ich hatte ihn die ganze Zeit im Auge behalten und wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er uns den Grund für seine
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geheime Freude verriet - aber ich hatte eine Vorahnung, dass es nichts rundum Erfreuliches sein würde. »Ich habe während des Rückflugs eine Nachrichtensendung gesehen«, sagte er, »und sie interviewten einen berühmten Physiker. Und dieser Typ wies alles zurück, was die Hobbs über die Zeit gesagt haben, über die wahre Natur der Zeit, als sie das mit dem Zeitfenster bekanntgaben.« »Und was haben sie da gesagt? Ich habe nichts davon mitbekommen.« »Also, sie behaupten, dass fast alles falsch ist, was wir über die Zeit zu wissen glaubten - dass es in jedem Augenblick eine unendliche Anzahl von möglichen Zeitlinien gebe und dass man die Zukunft verändere, dadurch, dass man sie beobachtet.« »So etwas habe ich schon mal gehört«, sagte ich. Matt sah mich ziemlich skeptisch an. »Na ja, mir war das ziemlich neu. Aber die Hobbs sagen, dass es ein Irrtum ist: Es gäbe keine unendliche Anzahl von möglichen Zeitlinien, sondern dass alles, was geschehen wird, schon geschehen ist. Dieser Physiker war am Rande eines Herzinfarkts, er meinte, das sei schlicht empörend. Er meinte, dass die Hobbs lügen und dabei eine ganz bestimmte Absicht verfolgen.« »Warte, einen Augenblick«, sagte Matt ungläubig. »Was wollen Sie uns da einreden? Haben wir es mit Calvinisten aus dem Weltraum zu tun?« »Der Moderator fragte das auch, aber der Physiker sagte nein: Dass man Ereignisse schon im voraus kennen kann, bedeute nicht schon zwangsläufig, dass sie auch geschehen müssen. Insoweit könnten die Hobbs durchaus recht haben, dagegen hätte er nichts einzuwenden - und ich auch nicht.« »Aber du hast einen Einwand?« »Ich habe den ganzen Flug darüber nachgedacht«, sagte Terry sehr eindringlich, »und mir scheint, dass unsere Physiker recht haben und die Hobbs sich irren. Und wißt ihr auch, warum?« Voll dunkler Ahnungen sagte ich: »Ich werde mich hüten! Warum?« »Weil es eine Zeitlinie mit einem Reaktorunfall vor dem Erscheinen der Hobbs geben muss, und eine ohne.« Wir schwiegen, und es war uns ziemlich unbehaglich zumute. Schließlich fragte Matt vorsichtig: »Und warum muss es die geben?« »Weil es die einzige Erklärung für den Widerspruch ist zwischen dem, was ich 1990 im Park gesehen habe, und dem, was jetzt geschieht! Anders ist das Rätsel nicht zu lösen.« Wieder blickte
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Terry von mir zu Matt und wieder zurück, dann seufzte er. »Okay ... sagt mir, was daran falsch ist.« Meine Ahnungen hatten mich nicht getrogen. Es war wieder soweit, Terry brauchte mich, brauchte jemanden, der glaubte wie er - und noch immer war ich weit davon entfernt, wirklich überzeugt zu sein. Schweigend saß ich da. Matt sagte sehr behutsam: »Versteh mich bloß nicht falsch, mein Junge, aber was du sagst, klingt wirklich nach einem von Jeffs Science-fiction-Romanen.« »Von wegen Science-fiction, Matt! Physik, verdammt noch mal.« »Hypothesen der Physik, mein Lieber. Das sind Dinge, die die Quantentheoretiker aufgebracht haben, und bis heute gibt es keinen Beweis, dass sie auch in der makroskopischen Welt zutreffen. Wenn das stimmt, was du sagst, dann wäre das der erste Beleg dafür, dass Schrödinger recht hat. Keine Kleinigkeit.« »Aber das ist es ja«, sagte Terry. »Bevor das passiert, hatten wir nie Gelegenheit, die Zukunft vorherzusehen und das Gesehene dann mit den tatsächlichen Ereignissen zu vergleichen. Es ist der erste Beweis! Die Zukunft, die ich gesehen habe, ist nicht die, die wir hier erleben!« Vorsichtig sagte ich: »Terry, die Zukunft, die du durch das Zeitfenster gesehen hast, ist noch Jahre von uns entfernt. Liam war erwachsen, ich sollte gerade siebzig werden! Meinst du nicht, dass noch Zeit und Gelegenheit ist, damit die Zukunft, die wir haben, zu der wird, die du gesehen hast? Schließlich geht es um vierzehn Jahre, die noch vor uns liegen.« Terry hatte sich vorgebeugt, die Unterarme auf die Knie gestützt, und schüttelte eigensinnig den Kopf. »Ich sehe nicht, wie das gehen soll. Die Fakten sind doch klar: Zuerst der Reaktorunfall, dann die Hobbs. In der Zukunft, die ich gesehen habe, war das die Reihenfolge der Ereignisse. Es kann sich nur um eine andere Zeitlinie handeln. Kannst du dir eine bessere Erklärung für den Widerspruch vorstellen?« Er runzelte die Brauen und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. »Wenn ich mich nur erinnern könnte, wie dieser Physiker heißt - er ist auch an eurer Universität.« »Wilson ist unser Nobelpreisträger«, sagte ich müde. Armer Terry. Ich wusste genau, wie Matt im stillen seine Frage beantwortet hatte. >Eine bessere Erklärung? Vielleicht hast du ganz einfach eine Meise, mein Junge. < »Wilson, das war er. Okay, kann sein, dass wir drei mit diesen Dingen überfordert sind - er sicher nicht, er ist nicht gerade ein Ignorant. Und die Hobbs können das Zeitfenster nur zu einem Blick in die Vergangenheit benutzen, und die Vergangenheit ist nicht zu
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ändern - habt ihr daran gedacht? Vielleicht ist das der Grund, dass sie nicht die Zukunft sehen können, dass die Zukunft eben nicht unveränderlich ist! Ich schluckte. »Hast nicht du in die Zukunft geschaut? Redest du nicht die ganze Zeit davon?« »Die Zukunft aus meiner Perspektive ist ihre Vergangenheit, oder? Sie können ihre Maschinen nicht in ihre eigene Zukunft richten. Es funktioniert nur rückwärts.« Er strich mit den Händen über Gesicht und Kopf, unter dem dünnen Haar schimmerte die Kopfhaut hindurch. »Egal ... Dass die Hobbs eine Maschine haben, mit der man in die Vergangenheit sehen kann, heißt noch lange nicht, dass sie schon alles über die Zeit wissen. Wie oft wurden schon Dinge erfunden, ohne dass man zunächst verstanden hat, nach welchem Prinzip sie funktionieren!« Es gab eine kleine Pause. »Nun ja«, meinte Matt schließlich, »es scheint mir, dass sie mehr darüber wissen als Phil Wilson.« Oder als du, hätte er auch sagen können. Terry errötete. Die Begeisterung, das innere Leuchten war aus seinem Gesicht verschwunden; jetzt sah man ihm die Erschöpfung an. Als die Rötung abgeklungen war, war die Haut nur noch grau. Mir war alles andere als wohl bei dieser Szene. Vorsichtig versuchte ich das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Ich erinnerte Terry an unser Gespräch auf dem Felsen: Mit jedem Tag sei er mehr überzeugt, dass das, was er durch das Zeitfenster gesehen hatte, irgendwann Wirklichkeit werden würde - so hatte er gesagt. Er nickte. »Viele Jahre war das so, tatsächlich, aber jetzt ist alles anders.« Wie sich die Zeiten ändern ... Ich sagte es nicht laut, denn es hätte ironisch geklungen oder gar überheblich. Je mehr sich die Dinge ändern, desto mehr bleiben sie sich gleich. Die Hobbs hatten eine Zukunft ins Spiel gebracht, mit der Terry nicht gerechnet hatte, jetzt war alles anders. Aber er brauchte eine Bestätigung, dringender denn je - darin hatte sich nichts geändert. Er würde keine Ruhe haben, solange sie auf sich warten ließ. Und ich musste ihn wieder einmal enttäuschen. Also sagte ich: »Wir wollen dich nicht vom Schlafen abhalten, Terry. Du musst hundemüde sein. Willst du nicht hier übernachten? Du machst uns überhaupt keine Umstände.« Er schüttelte den Kopf, aber meinem Blick wich er aus. »Nein, danke. Ich sollte besser nach Hause gehen. Ich habe Anne und Jeff eine ganze Woche nicht gesehen.«
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»Ruf uns morgen doch an, wenn du alles überschlafen hast, ja?« »Mache ich.« Er erhob sich schwerfällig und ging aus dem Zimmer, um zu telefonieren. Kaum war er draußen, sah mich Matt über den Rand seiner Brille hinweg an und murmelte: »Ob Phil Wilson ein Ignorant ist oder nicht, darüber ließe sich streiten.« »Darüber reden wir später.« Warum nur brauchte Terry immer dann eine Bestätigung, wenn es mir unmöglich war, ihm zuzustimmen? Ich fühlte mich wirklich schrecklich, und mehr um Matt eine Weile abzulenken denn aus einem anderen Grund nahm ich die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Seit fünf Minuten liefen die Abendnachrichten. Als Terry einige Minuten später ins Wohnzimmer zurückkam und den Ausdruck auf unseren Gesichtern bemerkte, blieb er erschrocken stehen. »Was ist los?« fragte er besorgt. »Was ist passiert?« Matt stand auf. »Die Hobbs machen sich davon.« Der Juni dieses Jahres war schlicht verregnet. Doch war es sehr warm, und das Zusammenspiel von Hitze und Regen hatte den Park in einen dampfenden Dschungel verwandelt; dreimal schon hatten wir unsere Expedition geplant und wegen des Wetters wieder verschieben müssen. Aber einmal hatten wir dann doch Glück - ein Nachmittag mit einem unglaublich blauen Himmel, dass auch die gewöhnlichsten Dinge, Blätter und Steine, zu funkeln schienen. Und an diesem Nachmittag saßen Jenny Shepherd und ich Seite an Seite oben auf dem Felsen, dort, wo viele Jahre zuvor Terry und ich gesessen und die Hirsche bei der Paarung beobachtet hatten. Viele Wochen war ich nicht mehr hier gewesen, weder allein noch mit Liam und Jeff. Ich steckte bis über die Ohren in Arbeit, der übliche Trubel zum Semesterende, und dass wir darauf vorbereitet sein mussten, jederzeit unser Haus zu verlassen, machte das Leben nicht einfacher. Es war schön, wieder im Park zu sein, und noch dazu an einem so wundervollen Tag. Als ich Jenny den letzten Krapfen anbot, war ich am Ende meiner Geschichte angekommen. »Genau hier ist es passiert. Dort drüben sah man das Zeitfenster, hier hatte der Hirsch die Erde aufgewühlt, und da unten haben sich der Hirsch und die Hindin gepaart. Und Terry kann einfach nicht verstehen, warum das, was er im Zeitfenster gesehen hat, und die Wirklichkeit nicht zusammenpassen. In der Zukunft, die er sehen konnte, hatten sich die Hobbs auf Dauer auf der Erde eingerichtet, und dieser Park war
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durch eine Reaktorkatastrophe zur Wüste geworden. Doch tatsächlich gibt es keine Katastrophe, und die Hobbs haben die Erde wieder verlassen. Andererseits hat er Liam gesehen, den Sohn meines Cousins, der in diesem August neun wird - aber als Erwachsenen, während er versuchte, durch das Zeitfenster etwas zu filmen - als Geschenk zu meinem siebzigsten Geburtstag. Und ein Hobb half ihm dabei.« »Und das war, bevor Liam überhaupt geboren war?« »Bevor ich überhaupt wusste, dass mein Cousin Mark und seine Frau noch ein Kind haben wollten. Bevor Terry wusste, dass sie existierten.« »Und wir sind die einzigen, die es wissen, obwohl die Hobbs inzwischen da waren? Warum das?« »Er sagt, dass er nicht an die Öffentlichkeit gehen möchte, solange er keine Erklärung für die Widersprüche hat.« Der Gedanke ließ mich aufstöhnen. »Er weiß nicht mehr über die Zeit als ich, aber er hat die fixe Idee, dass die Zukunft in jenem Zeitfenster zu einer anderen Zeitlinie gehört als die, auf der wir leben. Eine andere Zeitlinie, allen Ernstes!« »Glaubt er denn, dass seine Anwesenheit hier, als das Zeitfenster sich öffnete, die Zukunft geändert hat?« fragte Jenny, die Terrys Idee nicht so abwegig fand wie ich. »Ich denke nicht, denn sonst hätte er es erwähnt - und ich bin weit davon entfernt, irgend etwas zu sagen, das Öl in die Flammen gießt! Er hat immer geglaubt, wirklich geglaubt, was die Hobbs gesagt haben, dass alles, was geschieht, im bestimmten Sinne schon geschehen ist. Aber jetzt hat er seine Meinung geändert.« »Und Sie machen sich Sorgen um ihn.« »Große Sorgen mache ich mir! Es war nicht gut für ihn, dieses Geheimnis all die Jahre mit sich herumzutragen - er zweifelte selbst daran, seine Frau glaubte kein Wort davon, ich war die einzige, die ihn unterstützte, und ich war eher ein schwankendes Rohr als ein Halt für ihn. Und dass ein Teil der Geschichte sich nun als wahr entpuppt, ist das Schlimmste, was passieren konnte - fast schon ein Witz, wenn es nicht so traurig wäre.« »Das kann ich schon verstehen«, meinte Jenny nachdenklich. »Was hatten Sie für einen Eindruck von ihm, als Sie ihn in London getroffen haben?« Jenny lachte hell auf. »Außer sich war er, anders kann man es nicht nennen, aber das war den Umständen entsprechend nicht so ungewöhnlich. Ich selbst war ebenfalls außer mir. Aber viel fehlte nicht mehr, glaube ich, und er wäre durchgedreht. Als er meine
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Geschichte hörte, da war er so erleichtert und dankbar, dass man Mitleid bekommen konnte.« »Es muss einen ja erleichtern, wenn man hört, dass auch andere viele Jahre solche Dinge mit sich herumtragen müssen - ein rätselhaftes Erlebnis, für das sich keine Erklärung finden lässt.« »Das trifft es genau; so ging es auch mir, bis ich Frank traf. Es ist nicht das Rätsel allein, was einen so sehr belastet - man befürchtet auch ständig, dass man nicht mehr ganz richtig im Kopf ist.« »Haben Sie ihn getroffen, seit sie wieder zurück sind?« »Nein.« Zwei Rotkehlchen hüpften und flatterten auf dem Pfad unter dem Felsen. Der ewige Regen hatte das Grün nur so sprießen lassen, und durch das dichte Blattwerk spielten Lichtreflexe, tanzten Schattenmuster auf dem Waldboden hin und her. Der Regen hatte auch die Stechmücken sprießen lassen, keine Frage, aber ich hatte uns wohlweislich mit Insektenschutz ausgerüstet. Ich blickte umher, wunderte mich über das, was ich sah. »Jenny, ich kann es kaum glauben - der Park existiert wie eh und je. Die Hobbs waren da, er ist nicht verwüstet; daran muss ich mich erst gewöhnen, verrückt bevor sie kamen, hatte ich nie glauben können, dass ihm etwas geschehen wird.« »Es ist ein Wunder, dass dieses Stück Land nicht längst von den Vorstädten verschluckt wurde«, meinte Jenny; sie war nicht weniger beeindruckt von dem, was sie sah. »Ich wünschte, ich wäre in den letzten Jahren öfter hier gewesen. Früher kam ich regelmäßig, ich erinnere mich noch, wie ich einmal einen Albinohirsch gesehen habe ... das war lange bevor die Zecken so gefährlich wurden, wegen der Lyme-Krankheit. Damals habe ich diese Gewohnheit aufgegeben, schließlich habe ich den Park ganz vergessen. Aber ich habe ja sowieso jeden Sommer in England verbracht, auf der Suche nach Elphi.« Über Elphi hatten wir schon geredet, das Fernsehen hatte auch einen Dokumentarfilm über die Hobbs gebracht, in dem Jenny und Frank auftraten. »Es ist sicher auch zu spät, jetzt wieder damit anzufangen, denke ich.« Jenny hatte mir gesagt, dass sie in einem Monat nach England übersiedeln und diesen Menschen aus Yorkshire heiraten werde. »Es ist wirklich ein Wunder, da haben Sie recht; der Bezirk Delaware war noch recht dünn besiedelt, als ich meine Stelle hier antrat, eine Menge freies Land gab es noch, und der Verkehr auf den kleinen Landstraßen war zu ertragen. Im Westen gab es sogar noch einige Farmen. Inzwischen findet man wohl keinen einzigen
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freien Bauplatz mehr in der ganzen Gegend.« »Und gibt es keine Gesetze, die das regeln? Ich weiß zum Beispiel, dass man in Schweden eine solche Zersiedelung nicht zulassen würde.« »Ein paar einsame Rufer in der Wüste, doch wenn der Preis stimmt, ist fast alles möglich. Die lokalen Behörden konnten nach Gutdünken entscheiden, es gab keinen Entwicklungsplan im größeren Maßstab, bis alles ruiniert war.« Ich zeigte auf den Park. »Das hier war Privatbesitz. Der Wald wäre längst verschwunden, wenn nicht das ganze Grundstück von über 1000 Hektar dem Staat übergeben worden wäre, damit er einen Naturpark darauf macht. Das war irgendwann in den sechziger Jahren. Es ist nicht mehr ganz so schön wie zu Anfang, der saure Regen hat eine Menge Nadelbäume absterben lassen, und viel mehr Leute als früher kommen hierher - aber es ist immer noch ein kleines Paradies.« »Ein verrückter Gedanke: Was wäre aus Terrys Vision geworden, wenn man aus diesem Stück Land keinen Park gemacht hätte?« »Das ist gut! Kein Park, kein Hirsch - kein Hirsch, kein Film zum Geburtstag.« Diese Frau war einfach Balsam für meine Seele, durch ihren Scharfsinn nicht weniger als ihr Mitgefühl. »Wissen Sie«, ließ ich mich hinreißen zu sagen, »ich konnte mich nie entscheiden, was Terrys Geschichte betrifft - weder konnte ich sie vorbehaltlos glauben noch gänzlich ablehnen; das galt, bevor die Hobbs kamen, und es gilt immer noch.« Jenny schwieg eine Weile, lange genug, dass ich überlegte, ob ich einen Fehler gemacht hätte. Dann sah sie mich mit einem prüfenden Blick an. »Ich glaube, ich sollte Ihnen etwas sagen, was Frank und ich der Öffentlichkeit verschwiegen haben. Können Sie noch ein weiteres Geheimnis verkraften?« »Warum nicht?« sagte ich, erleichtert und neugierig. »Nein warten Sie, sagen Sie nichts, was Terry nicht hören darf. Das würde ich im Moment nicht über mich bringen. Besonders, wenn es etwas wäre, das seine Lage erleichtern würde.« »Terry darf es wissen, ich habe mich schon gefragt, ob ich es ihm nicht sagen sollte. Ich denke auch, Sie können es Ihrem Mann sagen - aber sonst niemandem, ja?« »Okay.« »Gut. Also: Die Hobbs sind nicht die einzigen Außerirdischen an Bord des Schiffs. Sie haben nicht einmal das Kommando. Ihre Herren sind eine völlig andere Rasse mit Namen >Gafr<, und sie entscheiden, was gemacht wird; die Arbeit wird dann von den Hobbs erledigt. Elphi und seine Kameraden haben gegen die Gafr
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rebelliert, nicht gegen ihresgleichen.« So erstaunlich das auch war, ich wusste nicht recht, was ich von Jennys Enthüllung halten sollte. War es ein Versuch, das Thema zu wechseln? Es hatte ja mit meinem Problem wenig zu tun. Mehr aus Höflichkeit fragte ich: »Warum haben sie sich nicht gezeigt? Warum hielten sie sich versteckt?« »Das ist nicht klar. Möglicherweise sind sie zu vergeistigt, um mit uns in Kontakt treten zu können, vielleicht sehen sie auch einfach gruselig aus - oder nicht eindrucksvoll genug. Wir haben nicht gefragt. Es kommt ihnen lediglich darauf an, dass sie das Heft in der Hand haben.« Unsicher sagte ich: »Nun ... das ist natürlich ein völlig neuer Gesichtspunkt, aber ...« »Die Hobbs-Gesandten haben uns bei unserem einzigen Treffen gesagt, dass einige der Gafr zu bleiben wünschten, um sich unserer Probleme anzunehmen - aber diejenigen, die das Kommando haben, hatten daran kein Interesse.« »Also sind sie wieder gestartet.« Ich verstand noch immer nicht. »Aber wenn es nach Terry geht, hätten sie bleiben müssen.« Jenny zog die Knie an, sie trug braune, englische Hosen aus Köper, und legte die Arme um die Knie. »Gibt es nicht noch eine andere Möglichkeit? Was ist, wenn sie noch mehr Ärger mit ihrem Schiff haben und wieder umkehren? Wenn sie wiederkommen?«
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2010 Ich saß vor der Quäkerschule von Germantown in meinem Auto und las wieder einmal Jenny Shepherds Brief - Jenny Flintofts Brief, um genau zu sein (kaum zu glauben, aber sie hatte den Namen ihres Mannes angenommen!). Sie schrieb nicht oft, wir hatten uns nicht lange genug gekannt, um enge Freunde zu werden, und die Arbeit auf dem Hof verschlang ihre ganze Zeit und Kraft. Aber keine von uns wollte den Kontakt abbrechen lassen, so dass hin und wieder ein Telefax über den Atlantik geschickt wurde. Der Unterricht an der Quäkerschule endete normalerweise um drei, doch gab es von der fünften bis zur achten Klasse dienstags und donnerstags von drei bis vier eine zusätzliche Meditationsstunde. Zweimal die Woche kam ein Psychoneuroimmunologe von der Pennsylvania-Universität, der den Schülern beibringen sollte, wie man durch Meditationsübungen sein Immunsystem stärkte. Das sollte sie ein wenig vor den zahlreichen chemischen Karzinogenen schützen, die sie mit der Nahrung und der Atemluft täglich aufnahmen. Man hoffte sogar, dass die Kinder so eine gewisse Resistenz gegen den von der Ultraviolettstrahlung ausgelösten Hautkrebs entwickelten. Die staatlichen Schulen verfolgten das alles mit Interesse und beratschlagten, ob sie nicht ein ähnliches Programm einführen sollten, doch nur die Quäkerschulen hatten bisher das Fach >Meditation< in ihren Lehrplan aufgenommen. Es war bei weitem noch zu früh, um sagen zu können, ob regelmäßig meditierende Kinder weniger leicht an Krebs erkrankten. Ich hatte den Verdacht, dass das Experiment nie zu einem klaren Ergebnis kommen würde, denn es war unmöglich, es nach wissenschaftlichen Maßstäben zu organisieren. Aber es konnte sicher nicht schaden. Verständlich, dass die Kinder zum größten Teil alles andere als begeistert waren. Ich hatte Jennys Brief aufgefaltet und über das Lenkrad gelegt. Da stand: Wir haben letzten Monat Terry gesehen, sicher hat er Dir davon erzählt; er war hier mit einer Gruppe Parlamentsabgeordneter und dem Verteidigungsminister, um das Frühwarnsystem im Fylingdales-Moor offiziell stillzulegen. Ein großer Tag für uns. Wir hoffen, dass sie irgendwann auch die Radarkuppeln abbauen, nachdem sie die Geräte nun
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abgeschaltet haben - oder was immer sie gemacht haben. Diese Schandflecke in der Landschaft! Ich habe das Moor nie anders gekannt als mit diesen Dingern - drei riesige Golfbälle, mitten im unberührten Moor! Der Nationalpark von NordYorkshire hat sich bisher allerdings gegen Baulöwen und Spekulanten behaupten können, ich hoffe, das kann man auch vom Ridley-Creek-Park bei Dir zu Hause sagen. Frank und ich meinten, dass Terry ziemlich müde aussah. Ich vermute, dass Politiker hart arbeiten. Doch wenn Du mich fragst: Dieser Politiker brauchte dringend einen Urlaub. Sag ihm ruhig, dass ich das geschrieben habe. Wir haben jetzt das Lammen hinter uns und müssen acht kleine Wichte mit der Flasche füttern - fünf Waisen und drei arme Schlucker, die das Pech hatten, das unerwünschte dritte eines Wurfs zu sein; die Mutterschafe können nur zwei Lämmer säugen. Wir haben es fertiggebracht, mehreren Muttertieren, die eines ihrer Jungen verloren hatten, eine Waise unterzuschieben indem wir das Tote enthäutet und das Fell dem anderen Jungen übergezogen haben. Ein Lamm mit Lammfelljacke! Aber es sind nicht genug Muttertiere, die ein Junges verloren haben. Also müssen wir selber ran, und wir sind rund um die Uhr beschäftigt. Du wirst Dich wundern, wie ich zum Schreiben komme, wenn wir soviel zu tun haben. Der Grund ist, dass ich einige Male an Dich denken musste in letzter Zeit; ich habe Dir etwas zu sagen - aber nicht durch einen Brief, nicht am Telefon. Ich wollte Dir über Terry eine Nachricht schicken, aber er wirkte so kaputt, dass ich mich nicht entschließen konnte, das Thema anzuschneiden. Deshalb ... Ich habe mich gefragt, was Du in diesem Sommer von einem Urlaub auf dem Bauernhof halten würdest? Du und Matt, habt Ihr nicht Lust? Yorkshire, das wäre doch mal was anderes, nicht? Überlegt es Euch; ich bin sicher, dass es Euch hier gefallen wird - und absolut sicher, dass Dich das, was ich zu sagen habe, sehr interessieren wird. Frank war ... Die Türen in dem nicht mehr ganz jugendfrischen Gemäuer gingen plötzlich auf, und ein Strom von Kindern ergoß sich ins Freie. Ich faltete den Brief zusammen, schob ihn ins Handschuhfach und stieg aus. Neben dem Auto blieb ich stehen und wartete.
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Jeff und Liam steckten mitten im dichtesten Gewühl. Sie sahen mich aber sofort und sausten auf das Auto zu; die offenen Jacken flogen, eigentlich war es noch recht kühl in diesem April. Jeff war damals einen halben Kopf größer als Liam, sehr schlank, mit welligem, dunklem Haar; seit einigen Wochen war er nun zwölf. Jeff war mit der Zeit hübscher geworden; Liam, das wunderschöne Kind, hatte mit elf einiges von seinem Zauber eingebüßt, doch hatte seine Art sich zu bewegen noch immer etwas ungewöhnlich Feines an sich. Er gewann das Wettrennen um eine Schrittlänge und warf sich gegen den vorderen Kotflügel meines Autos, wobei er den Schwung mit den Händen auffing. »Was für ein Auto! Schau dir das an, Jeff, Carrie hat ein nagelneues Solarauto! Was ist das? Ein Saab? Wie schnell fährt der?« Jeff war bei weitem nicht so aus dem Häuschen, Autos interessierten ihn nicht besonders - und seine Mutter fuhr ein Solarauto. »Wie weit fährt er, ohne dass man aufladen muss, Carrie? Was hat er für Batterien?« Aber Liam war nicht zu bremsen. »Schau dir bloß diese Sonnenzellen an, über die ganze Motorhaube! Mensch, deine Mutter hat sie nur auf dem Dach!« Ich wartete, dass sie sich beruhigten, und beantwortete ihre Fragen zum Auto. Solarautos waren noch recht ungewöhnlich damals, weniger wegen des Preises, als wegen der Einschränkungen, die man in Kauf nehmen musste: Unser Modell konnte kaum weiter als einhundertdreißig Kilometer fahren, bevor man die Batterien aufladen musste. Doch war man übereinstimmend der Meinung, dass es die Autos der Zukunft waren. Die Methanol verbrennenden Motoren, die nun üblich waren, hatten die Luft über den Städten wieder sauberer werden lassen, sie stießen aber nicht weniger Kohlendioxid aus als Benzinmotoren, und Kohlendioxid verstärkte den Treibhauseffekt. Annes Auto war ein etwas älteres Modell und hatte nur auf dem Dach Sonnenzellen, anstatt auf Dach und Motorhaube. Terry hatte es ihr zum Geburtstag geschenkt und die Gelegenheit zugleich zu einem politischen Bekenntnis genutzt: Er verkaufte den alten Methanolschlucker, stieg auf die Bahn um - und war so vor aller Augen für die öffentlichen Verkehrsmittel eingetreten. Wieder zwei Fliegen mit einer Klappe. »Okay, Kinder«, sagte ich schließlich, »wir machen uns besser auf den Weg, wenn wir noch zum Park wollen.« Liam machte ein betretenes Gesicht. »Hör mal, Carrie ... Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir statt dessen in den Zoo gehen?« Ich starrte ihn über das glitzernde Autodach hinweg an; ich war
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einigermaßen verblüfft. »In den Zoo? Wieso das?« »Na ja, da gibt es ein neues Rhinozerosbaby - aber wenn du lieber in den Park möchtest ...« Na so etwas. Um meine Verlegenheit zu verbergen, schwang ich mich auf den Fahrersitz und machte mich an den Gurten zu schaffen. Es kam nicht unerwartet; die Jungen waren einfach zu groß, um sich noch für diese Fahrten in den Park mit Tante Carrie begeistern zu können. Aber dass ich es erwartet hatte, machte keinen großen Unterschied. Es traf mich, und was wirklich unangenehm war: Liam hatte offensichtlich gewusst, dass es schmerzen würde. Er war ein sehr sensibles Kind. Ich holte tief Luft und sagte leichthin: »Also zum Zoo. Steigt ein, verstaut eure Sachen.« »Der Verlierer nach hinten!« Liam und Jeff warfen ihre Büchertaschen ins Auto und schnallten sich an. Keiner sah mich an. Ich fuhr los und fädelte mich in den Verkehr ein. Niemand sprach. Nach einigen Blocks sagte Liam, mit einem verstohlenen Blick von der Seite, zu mir: »Ist das wirklich okay mit dem Zoo?« Jeff sagte nichts. Ich war Liams Tante, also war es seine Aufgabe, die Dinge mit mir zu regeln. Doch plötzlich hatte ich eine Erleuchtung. »Habe ich euch je erzählt, dass ich in eurem Alter jeden Sommer einige Wochen bei meiner Großmutter in Lancaster verbracht habe? Das ist die Mutter der Mutter deines Vaters, Liam. Deine Urgroßmutter. Sie hieß Lilli Proctor, und sie war eine wirklich ungewöhnliche Frau. Sie war auf einer Farm aufgewachsen, es war eine große Familie, strenggläubige Mennoniten, und sie erzählte mir vor dem Einschlafen immer Geschichten aus ihrer Kindheit - ich schlief mit ihr in einem Doppelbett mit dicken Daunenkissen. Bei jedem meiner Besuche fuhren wir für einen Tag in die Stadt zum Einkaufen, und wir ließen keinen der kleinen Kramläden aus, hauptsächlich wegen der Glas- und Porzellanhunde, die sie sammelte: Sie hatte sie auf einem Etagentischchen mit gedrechselten Beinen aufgereiht - und sie hatte auch für mich so einen Tisch machen lassen und mich angespornt, ebenfalls diese Hunde zu sammeln. Wir aßen dann immer in einem schönen Restaurant. Das war etwas ganz Besonderes für mich. Und eines schönen Tages, als sie uns in Philadelphia besuchte und über den kommenden Sommer redete und wie wir zusammen in die Stadt gehen würden, da wurde mir klar, dass mir das alles nichts mehr bedeutete.« Ich blickte hinüber zu Liam und lächelte. »Ich habe nicht widersprochen, glaube ich, aber sie wusste sofort, dass es mich nicht mehr
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interessierte. Es kränkte sie, sie war enttäuscht. Es war etwas, was uns verband, nur uns beide - und mit einem Mal gab ich es einfach auf. Ich fühlte mich wirklich elend, das kann ich euch sagen, aber was sollte ich machen? Aus Kindern werden Leute, das lässt sich nicht ändern. Niemand hatte daran Schuld.« Im Rückspiegel sah ich Jeff, wie er mir lächelnd zunickte; er hatte verstanden. Bei Liam war es eher ein breites Grinsen: »Wieso kommt es bloß, dass du immer alles verstehst?« Ich gab das Grinsen zurück und beglückwünschte mich zu meinem Einfall. »Nach Rhinozerosbabys war ich jedenfalls schon immer ganz verrückt.« Dann, um das Thema zu wechseln, fragte ich: »Wie läuft das eigentlich mit der Meditationsstunde?« »Na ja, keiner in unserer Klasse hat bisher Krebs bekommen«, sagte Liam mürrisch; er konnte nur schwer die Konzentration aufbringen, die man für das Meditieren brauchte. »Mir macht es langsam Spaß«, sagte Jeff, was mich sehr überraschte. »Heute wurden meine Hände völlig taub. Sie haben sich angefühlt, als würden sie gar nicht zu mir gehören, als ob sie aus Holz wären und sonst irgendwas. Manchmal wird auch mein Gesicht taub, oder es fängt an zu kribbeln. Es ist kein übles Gefühl, wenn auch etwas merkwürdig. Dr. Feinmann hat uns erzählt, dass es ein Team von Leuten wie er an der Universitätsklinik gibt, die Leuten mit AIDS beibringen, wie man meditiert. Und da gibt es eine Gruppe von AIDS-Patienten, die jetzt seit vielleicht fünfundzwanzig Jahren meditieren, und einige von ihnen sind noch immer am Leben!« »Es sind nicht AIDS-Kranke, sondern Infizierte, die noch keine Symptome haben«, korrigierte ihn Liam. »Ja, wahrscheinlich hast du recht. Und sie machen auch noch andere Sachen und essen nur ganz gesundes Zeug, aber Dr. Feinman meint, dass die Meditation eine Menge ausmacht.« »Ich kriege es einfach nicht hin«, jammerte Liam. »Ich muss immer an irgend etwas anderes denken. Die Kinder an den anderen Schulen lachen sich tot, wenn sie hören, was wir da machen, du solltest sie einmal sehen!« »Sie lachen? Tatsächlich?« Ich konnte es mir gut vorstellen. »Ja ... weißt du, wie sie uns nennen? Psychospinner!« sagte Jeff. »Aber wenn es hilft, was soll's? Hör mal, Liam, ich glaube, ich kann dir zeigen, wie du dich besser konzentrieren kannst. Willst du nicht am Samstag nach der Probe zu uns kommen? Wir üben zusammen, und ich zeige dir, was ich gemeint habe. Oder ich komme zu dir, wenn du willst.«
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»Hat deine Mutter nichts dagegen?« fragte Liam. Das überraschte mich; was sollte Anne dagegen haben, wenn Jeff Liam bei den Schularbeiten half? Über den Rückspiegel konnte ich einen Blick auf Jeffs Gesicht werfen, und ich erschrak über den zornigen Ausdruck, der kurz darüberhuschte. »Wir werden sehen«, sagte er. »Dad wird zu Hause sein, aber nicht die ganze Zeit ... wir werden sehen.« »Ich habe Baseballtraining am Morgen, aber das ist schon alles. Wann bist du fertig?« »Um halb fünf. Es geht diesmal von zwei bis vier, und danach muss ich noch eine halbe Stunde bleiben und mein Solo üben.« »Mensch«, sagte Liam strahlend, »sing doch dein Solo mal für Carrie!« »Jetzt gleich?« »Klar!« sagte Liam, und zu mir: »Jeff wird der Star des Frühlingskonzerts werden. Los Jeff, fang an!« Ich lächelte ihm über den Rückspiegel zu. »Aber ja, sing es doch. Bitte, laß mich hören!« »Also gut«, sagte er, »aber dann muss ich schon das Ganze singen, die hohe Stimme und die Alt- und Tenorsoli, denn mein Part hat immer wieder Pausen. Es wird sich ein bißchen komisch anhören.« »Das macht doch nichts, sing es ruhig so. Wir werden an den merkwürdigen Stellen einfach weghören, nicht wahr, Liam?« »Na gut. Also, es ist das >Alma Dei Creatoris<, von Mozart.« Und er setzte sich so aufrecht hin, wie es der Gurt erlaubte, und begann zu singen: Alma Dei Creatoris sedet rei peccatoris mater, mater clementissima ... Das war der zweite Schock an diesem Nachmittag. Natürlich hatte ich Jeff schon früher singen hören. Mit zwölf war er immer noch der beste Sopran des ganzen Chors und hatte in den letzten Jahren regelmäßig Solos gesungen, und wir hatten keines der Konzerte in Philadelphia ausgelassen. Aber mit wenigen Ausnahmen hatte ich ihn im Konzertsaal singen hören, noch nie jedenfalls auf dem Rücksitz eines Autos ... nie war ich diesem Wunder so nahe gewesen, so völlig ausgeliefert. Es schien mir wirklich wie ein Wunder an jenem Nachmittag: Ein junger Mensch, den ich von Geburt an kannte, verwandelte sich mühelos aus einem
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ruppigen zwölfjährigen Schuljungen in ein Musikinstrument von überirdischer Schönheit und Reinheit. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich schielte zu Liam hinüber, der unbeirrt geradeaus blickte, ein Bild des Stolzes und des Glücks. Der arme Liam konnte kaum einen vernünftigen Ton singen, und obwohl er seit Jahren Klavierunterricht hatte und sich tatsächlich als begabt erwies, hatte er nie versucht, Jeff zu begleiten; es war einfach nicht seine Art Musik. Aber, wohl um Jeffs willen hatte er gelernt, zuzuhören und sie zu verstehen. Während ich sein Gesicht betrachtete, zweifelte ich keinen Augenblick daran, dass Jeff ihm auch beibringen würde, wie man meditierte. Wir hatten deutlich sehen können, wie sich die beiden Jungen mit den Jahren in unterschiedliche Richtungen entwickelten. Beide waren sie Pfadfinder und liebten es, auf Zeltlager zu gehen - aber das war schon fast das einzige starke Interesse, das sie teilten. Und sie spielten auch zusammen Dungeons and Dragons. Aber vor allem anderem kam für Jeff das Singen, und sein Lieblingsfach in der Schule war Geschichte. Er hatte auch ein prächtig gedeihendes Aquarium mit Warmwasserfischen und eine riesige Modelleisenbahn. Mit dem Grafikcomputer, den er zu seinem zehnten Geburtstag bekommen hatte, machte er Zeichentrickfilme, die wirklich gekonnt und überaus phantasievoll waren. Und er war auch Mitglied der Quäkerjugend und nahm das sehr ernst, viel ernster als etwa Liam. Liam begeisterte sich für Autos und Jazz, und aus der Schule brachte er erstaunlich gute Noten in Mathematik nach Hause. Beide Jungen lasen sehr viel, doch was sie lasen, unterschied sich sehr: Liam Sportbücher und das Games Magazine, Jeff Fantasygeschichten. Liam besaß eine große Sammlung von Computerspielen, die er mit enormer Geschicklichkeit meisterte. Er liebte Baseball und Fußball und spielte beides recht gut. Jeff war nicht sehr sportlich, noch konnte er sich für eine der hiesigen Baseballmannschaften begeistern. Aber trotz aller Unterschiede hielt das starke Band seit ihrer frühen Kindheit. Die beiden verbrachten nun nicht mehr so viel Zeit zusammen, doch noch immer bedeutete jeder dem anderen mehr als jedes Mitglied der eigenen Familie - ob Eltern, Geschwister oder andere Verwandte. Was diese Bindung betraf, so hatte Matt, Liams Vater, begonnen, sich Sorgen zu machen. Ich glaube nicht, dass er sich dessen bewußt war - aber der Gedanke, vielleicht einen homosexuellen Sohn zu haben, muss bei ihm solche Panik ausgelöst haben, dass
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er sich diese Befürchtung nicht einmal eingestehen konnte. Erkennen konnte man das an seinem Verhalten gegenüber Jeff, das sich langsam änderte. Ich selbst glaubte keinen Augenblick, dass hier etwas Sexuelles im Spiel war, doch war ich mir sicher, dass die beiden, sollte sich eines Tages herausstellen, dass ich mich geirrt hatte, immer noch zu beneiden wären. Man musste sie für Brüder halten, Geschwister, die ungewöhnlich vertraut waren; sie stritten sich nie, waren kaum einmal anderer Meinung. Sie paßten sich mit einer Leichtigkeit, um die sie manches Ehepaar beneidet hätte, an die Eigenart des anderen an. Ich hielt ihre Freundschaft schlicht für ein Wunder, und ich betrachtete es immer als etwas Besonderes, dieses Wunder mit eigenen Augen erleben zu dürfen. Es hätte mich sehr interessiert zu wissen, ob die Jungen selbst das Außergewöhnliche ihrer Freundschaft erkannten. Ich fragte mich immer, ob die anderen Kinder darüber lästerten. Gelegentlich stellte ich mir vor, wie eine Freundin oder später eine Ehefrau sich in diese Konstellation einpassen würde, aber das war etwas voreilig; bis dahin konnte noch eine Menge geschehen. Doch ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken. Natürlich hatte jeder von ihnen auch andere Freunde, aber diese Freundschaften berührten nicht ihre Beziehung zueinander, sie fanden sozusagen auf einer anderen Ebene statt. Und nie war es vorgekommen, dass sich eine Clique zusammenrottete, die aus Liam und Jeff gemeinsam und noch einigen anderen bestand. Darüber dachte ich nach, während ich fuhr. Jeff sang, so ausdauernd und selbstverständlich wie eine Lerche. Liam saß neben mir, völlig reglos, aber hellwach - wie ein Vorstehhund vor dem Wild. Ich weiß noch, wie wir an der Kreuzung Hunting Park Avenue und Dreiunddreißigste Straße an der Ampel hielten; um uns ein Meer von Autos, doch fuhren die meisten zum Glück in die andere Richtung - nach Norden, stadtauswärts. Einige wenige Solarautos mit den glitzernden Sonnenzellen auf dem Dach waren zu sehen, die anderen verbrannten tüchtig Methanol und pumpten CO 2 in die Atmosphäre. Während wir da saßen und auf Grün warteten, wurde die Welt wieder ein bißchen wärmer. Der Blick voraus durch die Frontscheibe fiel auf endlose, häßliche Häuserreihen zu beiden Seiten der Straße, Läden, Büros, was es so gab; das war die bis auf den letzten Winkel verbaute, zubetonierte Welt, in der ich den Rest meines Lebens verbringen würde - nicht so viele Jahre, wie sie diese Jungen noch vor sich hatten. Und hinter mir sang Jeff unbeeindruckt seine Mozartmesse,
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ein Wunder an Schönheit, komponiert zweihundertfünfzig Jahre zuvor und gesungen in einer längst ausgestorbenen Sprache: Tu fac clemens quod rogamus, fortes ad certamina! Ich wusste, dass Mozarts Leben kurz gewesen war und auf seine Weise nicht leichter oder schwieriger als das Leben jedes anderen Genies des einundzwanzigsten Jahrhunderts auch. Aber die Welt, die ihn hervorgebracht hatte, musste ihm trotz aller Not, Krankheit und Ungerechtigkeit als sinnvoller erschienen sein als mir die meine. Ich war weit davon entfernt, das achtzehnte Jahrhundert zu verklären - ich hatte meinen Jonathan Swift gelesen. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass solche Musik heute noch geschrieben werden konnte, weil es in dieser heutigen Welt keinen Platz mehr gab, an dem Schönheit von solcher Unschuld, solcher Selbstverständlichkeit und Reinheit noch gedeihen konnte. Die Ampel sprang auf Grün. Noch immer erklang hinter mir Jeffs Stimme, während die Stadt um uns mit jedem neuen Straßenzug häßlicher wurde. Schließlich erreichten wir den Parkplatz des Zoos, ich hielt an und lehnte mich zurück, die Augen geschlossen, bis Jeff geendet hatte. Nun war er wieder ein ganz gewöhnlicher Junge. Kaum war die Musik verstummt, schnallte ich mich los und reckte einen Arm nach hinten, wo Jeff auf der Mitte des Rücksitzes saß. Ich strich über das dunkle, lockige Haar, das so sehr dem seines Vaters ähnelte, als er noch jünger war. »Du singst einfach wundervoll, Jeff, weißt du das? Und weißt du, was mir eben noch einfiel? Möglicherweise habe ich dir, seit du ein kleiner Junge warst, nie mehr gesagt, wie gern ich dich habe. Jeff lächelte. »Tatsächlich? Soll mir recht sein! Also, was ist mit dem Rhinobaby?« Jeff war phantastisch bei seinem Konzert, obwohl diese öffentliche Aufführung mit dem Pomp der weinroten Blazer und schwarzen Krawatten Liam und mir eher als zweitklassig erschien. (Während das Publikum applaudierte, beugte sich Liam herüber und sagte mir ins Ohr: »Im Auto hat's mir besser gefallen.« Anne strahle den ganzen Abend über, und Terry, der nicht so musikalisch war wie sie und Jeffs Begabung weniger gut beurteilen konnte, war glücklich und entspannt, weil sie glücklich war. In Washington lief alles prächtig, mit einem liberalen Republikaner im Weißen Haus und einem Grünen an der Spitze der Umweltschutzbehörde hatte er die nötige Unterstützung, er war
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inzwischen sogar Vorsitzender eines Ausschusses und hatte so eine gute Ausgangsbasis für seine weitere Karriere. Ich wusste, dass er bei den nächsten Wahlen für den Senat kandidieren wollte. Das bedrückende, noch immer ungelöste Geheimnis schien ihn seit einiger Zeit nicht mehr zu ängstigen. Für den Sommer nahmen Matt und ich die Einladung der Flintofts an, einige Wochen in der Moorlandschaft von Nordyorkshire zu verbringen. Es war ein hartes Jahr an der Universität gewesen, besonders für Matt, und so hatten wir uns einen ausgedehnten Urlaub wirklich verdient. Wir flogen Mitte Juni nach Europa hinüber, bummelten durch Frankreich und Holland, dann durch den Südwesten Englands, und fuhren endlich im August mit der Bahn hinauf nach Yorkshire, um der Hitze zu entfliehen und die Heideblüte zu erleben - und Jennys Geheimnis zu erfahren. Und so befanden wir uns bei Jenny und Frank im Norden Englands und nicht in Südostpennsylvania, als die Nachricht um die Welt ging, dass im Kraftwerk Peach Bottom eine Kernschmelze stattgefunden hatte. Tagelang war es unmöglich, zu erfahren, was aus Verwandten und Freunden geworden war, und in dem allgemeinen Chaos kam auch niemand auf die Idee, uns anzurufen. Es verging eine schreckliche Woche, bis wir erfuhren, wie es ihnen ergangen war. Mark, Phoebe und Liam hatten sich genau an Terrys Plan gehalten; sie waren zu dem Blockhaus in den Poconos gefahren. Brett war bei Freunden in Michigan zu Besuch, als das Unglück geschah, weit entfernt von der Gefahrenzone, und Margy arbeitete sowieso in New York. Als es passierte, war Anne bei Terry in Washington. Zu Hause wurde sie nicht gebraucht, denn Jeff war für eine ganze Woche mit seinem Chor auf Tournee. Am Morgen des dreißigsten August waren sie mit dem gemieteten Bus unterwegs von Baltimore, wo sie am Abend zuvor ein Konzert gegeben hatten, nach Lancaster, wo der nächste Auftritt geplant war. Sie mussten sich nicht beeilen, und so hatte man sich für die interessantere Route entlang des Susquehannas entschieden, auch wenn es ein Umweg war. Als das Kraftwerk explodierte, war der Bus nur einige Kilometer entfernt gewesen. Jeder der Insassen hatte eine tödliche Strahlendosis abbekommen - viel mehr, als man auch durch noch so geschicktes Meditieren ausgleichen konnte. Als uns die Nachricht in England erreichte, war Jeff schon seit zwei Tagen tot.
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6 2012 Elphi Mehrere Monate lang war Frank Flintoft damit beschäftigt, einige kleinere Steinmale aus der Bronzezeit zu vermessen, die bisher unbeachtet am Südrand des Sperrgebiets von Fylingdales, zwischen Nab Farm und Blakey Topping, gelegen hatten. Auf zahlreichen Privatgrundstücken innerhalb des Nationalparks von Nordyorkshire fanden sich solche Relikte, meist Cairns und andere Steinmarkierungen. Viele waren bisher nicht registriert worden, und es gab sogar Grundbesitzer, die nicht einmal erkannt hatten, was da auf ihren Feldern und Wiesen lag. Die Parkverwaltung war über Franks Angebot, sich dieser kleineren Fundstätten anzunehmen, nur allzu froh, denn man wusste, dass er gute Arbeit leistete. Und Frank machte die Arbeit Spaß. Aber man brauchte eine Menge Geduld dazu, was Franks Frau nicht besonders lag. Jenny trieb sich lieber in den benachbarten Sümpfen von Nab Farm und May Moss herum. An einem Morgen im Frühsommer bestiegen die beiden ihren Landrover und machten sich mit einem Korb voll belegter Brote auf den Weg ins Moor. Die Aussicht auf einen Tag in der Einsamkeit der graugrünen, windumtosten Hügel erfüllte Jenny mit nicht geringerer Freude als damals, als sie noch als Tourist hierhergekommen war. Dass sie jetzt als Frau eines Bauern das ganze Jahr über hier lebte, tat der Freude keinen Abbruch. Sie ließ Frank allein, der unter einem grauen, wolkenverhangenen Himmel seine Ausrüstung aufbaute, und machte sich auf den Weg. Dort, jenseits der kleinen Kieferngruppe, lag ein Tümpel, und vielleicht zeigten sich inzwischen schon die kleinen grünen Blüten der Listera. Den ganzen Morgen pirschte Jenny durch die Sümpfe, kroch an Teiche heran, in den Ohren das unaufhörliche Brausen des Windes, das Blöken der Schafe, und konnte sich nicht sattsehen an den seltenen Pflanzen am Rand der schwarzen Tümpel. Sie war glücklich und zufrieden. Gegen Mittag, als sie gerade ein
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blühendes Sumpfrosmarin im Sucher ihrer Kamera hatte und eben auf den Auslöser drücken wollte, kam eines der Herdwick-Schafe, die hier grasten, etwas näher heran und sagte: »Ich hätte einige Worte mit Ihnen zu reden, meine Liebe.« Sie hob den Blick, sie wusste, was sie jetzt sehen würde, und doch machte es sie fassungslos: ein zerzaustes Schaf, mit stumpfen, toten Augen und Beinen, die einfach zu dick waren. Jennys Nackenhaare sträubten sich. Mit einem leisen Stöhnen richtete sie sich auf und ließ die Kamera los, dass sie am Riemen hin und her baumelte. Auch das Schaf hatte sich aufgerichtet und schob, als wäre es eine Kapuze, das Kopfende des Schaffells zurück. »Elphi«, sagte sie, bemüht, sich nicht zu sehr zu freuen. »Hallo!« Die Augen des Hobbs spähten freundlich zwischen den grauen Haarsträhnen auf seinem Gesicht hervor, und er sah kein bißchen anders aus als vor achtzehn Jahren; Jenny war in dieser Zeit weit mehr gealtert. Sie standen eine Weile nur da und sahen sich an. Jenny hatte sich so sehr danach gesehnt, Elphi wiederzusehen, dass sie nun innerlich wie gelähmt war und nicht wusste, was sie tun und sagen sollte. Seit sechs Jahren war ihnen Elphis Gegenwart ständig bewußt gewesen, kein Tag (außer im Winter), an dem er sich nicht auf irgendeine Weise nützlich gemacht hatte. Aber ihn anschauen zu dürfen, mit ihm zu reden ... Elphi sprach als erster: »Sie haben sich natürlich erinnert. In dem Augenblick, als Sie andere Hobbs sahen, da haben Sie sich an mich erinnert, an unseren gemeinsamen Tag hier und an alles andere - so ist es doch, meine Liebe?« Sie brachte immerhin ein Nicken zustande. »Und Frank ging es genauso, nicht wahr?« Sie atmete tief ein, ließ den Moorwind bis in ihre Lunge blasen und platzte dann heraus: »Elphi - das ist wundervoll, einfach wundervoll! Dass ich dich endlich wiedersehe! Wie ... wie geht es dir? Ist bei euch alles in Ordnung?« Es war lächerlich, dass ihr nichts Besseres einfiel, aber sie war so verwirrt, dass sie froh sein musste, überhaupt ein Wort herauszubringen, und Elphi schien es nicht zu stören. »Es geht mir nicht schlecht, meine Liebe, ich danke Ihnen. Aber vor allem freue ich mich, dass ich Ihnen sagen kann, wie leid es mir tut, was ich Ihnen damals, bei unserem ersten Treffen, antun musste. Es war mir sehr unangenehm, Sie entführen zu müssen. Auch Ihr Gedächtnis habe ich nur sehr ungern manipuliert.« »Das ist jetzt doch unwichtig«, sagte Jenny. »Außerdem haben
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Sie es durch Ihre Arbeit auf dem Hof wiedergutgemacht.« »Wir haben uns gefragt, ob es nicht noch andere gab, die sich erinnert haben - außer Ihnen beiden. Wir wussten natürlich über Sie Bescheid.« »Natürlich - das Radio.« »Genau. Ein kleines, schwarzes Kästchen, das ein Wanderer auf einer Felsplatte drüben im Urra-Moor liegengelassen hat. Ein tolles Ding - man kann auch Kassetten damit abspielen; wir hatten hin und wieder auch Tonbänder gefunden, tatsächlich, und das ist wirklich ein Genuß, aber es verschleißt die Batterien ... Aber wahrscheinlich war niemand von denen, die uns gesehen haben, noch am Leben, als das Schiff kam.« »Der Freund, der mit Frank damals den Lyke Wake Walk gehen wollte, war tot, ja«, meinte Jenny. »Aber wissen Sie, möglicherweise gab es noch einige andere, die aber nicht ernst genommen wurden. Auf uns hörte man, weil wir Woof Howe gefunden haben.« »O ja, das war ein sauberes Stück Arbeit.« Elphi blickte hinüber zu den drei drohend die Landschaft überragenden Radarkuppeln, in Richtung des May Moss; sie waren außer Betrieb, warteten aber noch immer darauf, demontiert zu werden. Er schüttelte den Kopf. »Was war das für eine Plackerei, bis ich ihn über den Zaun hatte. Keiner der anderen ist noch rechtzeitig aufgewacht. Ich war ganz schon verzweifelt, das kann ich Ihnen sagen.« Jenny erholte sich langsam von ihrem Schock und erinnerte sich nun, wie es die Hobbs in den alten Zeiten mit den Menschen gehalten hatten: Nicht, dass es völlig ausgeschlossen war, aber sehr ungewöhnlich war es schon, dass sie sich im Moor einem Menschen zeigten und ihn ansprachen. Die Frage war, welchen Grund Elphi hatte, sich zu zeigen, wenn er nicht krank oder in Not war? Bei diesem Gedanken trübte ein leichtes Unbehagen Jennys Freude über das Wiedersehen, aber sie schob es beiseite. Sicher würde er es ihr sagen, wenn die Gelegenheit kam. »Da ist etwas, worüber wir uns immerzu den Kopf zerbrochen haben, Frank und ich, ohne dass wir eine zufriedenstellende Erklärung finden konnten: Warum, in aller Welt, seid ihr in eurem Versteck geblieben, als das Schiff zurückkehrte? Oder habt ihr nichts davon gewusst?« »Nur zu gut wussten wir es«, sagte Elphi ganz ruhig und freundlich. »Wie hätten wir es nicht wissen sollen, wenn wir ein Radio haben, dann die Lautsprecherwagen und was alles noch?
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Aber, sehen Sie, damals waren wir nur noch zwei: Broxa und ich. Alle anderen waren tot, wir harrten aus. Jetzt ist auch Broxa tot ... Aber als wir in jenem April erwachten und entdeckten, dass Hodge Hobb und Tarn Hole und Hasty Bank kalt wie Stein waren, während aus dem Radio die Nachrichten von dem Schiff plärrten, da war es ein kaum erträgliches Hin und Her zwischen Kummer und Freude. So lange zu leben und dann kurz vor der Rettung zu sterben - was für eine Tragödie! Nun gut ... aber trotzdem war unsere Freude größer als unsere Trauer. Wäre einer dieser Lautsprecherwagen an jenem ersten Tag in unsere Gegend gekommen, wir wären vermutlich wie um die Wette aus unserer Höhle gerannt.« Er machte eine so lange Pause, dass Jenny ihre Neugier nicht länger zügeln konnte. »Und warum habt ihr es nicht getan, als sie dann kamen?« »Was meinen Sie? Welche Möglichkeiten hatten Sie beide denn erwogen, Sie und Frank Flintoft?« Jenny blickte lange in das alte Gesicht, bevor sie sagte: »Die Moore waren eure Heimat, und ihr habt gern hier gelebt - davon waren wir überzeugt, und wir fragten uns, ob ihr nicht einfach zu alt seid, um euch davon trennen zu können.« Elphi lächelte hocherfreut, so sah es wenigstens aus. »Gut geraten. Aber es kam noch hinzu, dass wir uns nicht einigen konnten, wie wir uns der Öffentlichkeit zeigen sollten. Gar nicht so einfach, nicht? Nach so langer Zeit im Verborgenen konnten wir nicht einfach zum nächsten Hof gehen und an die Tür klopfen oder einen zu Tode erschrockenen Bauern in seiner Scheune ansprechen. Sollten wir vielleicht auf der Straße ein Auto anhalten? Nach Danby oder Castleton hineinspazieren und sagen >Guten Tag, da sind wir! Es fiel uns wirklich nichts ein ... und außerdem, um ehrlich zu sein, wir hatten auch Angst. Was konnte nicht alles passieren, wenn der Fahrer eines Autos etwa durchdrehte. Ich war dafür, es mit einem Bauernhof zu versuchen, Broxa war mehr für Danby, doch beides war uns nicht geheuer. Aber als wir so weit gediehen waren, kam die Nachricht, dass Sie und Ihr Mann Woof Howe in einem Tümpel im Fylingdales-Moor gefunden hatten. Man vergaß auch nicht zu sagen, dass Frank Flintoft einen Hof in Westerdale habe, nicht weit vom Park. Ich weiß nicht mehr, wer von uns sagte: >Angenommen, wir würden dorthingehen und wieder den Helfer spielen? < Wieder auf einem Hof in den Tälern zu arbeiten, das war doch etwas, von dem wir nicht mehr zu träumen gewagt hatten! Aber was sprach dagegen, wenn es ein Bauer war, der von uns wusste - der es nicht
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weitersagen würde? Wir wussten ja auch, dass er über die Gafr geschwiegen hatte, denn eine solche Nachricht hätte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Und wenn sie beide dieses Geheimnis für sich behalten konnten ...« Jenny sah zu Boden; was er da sagte, beschämte sie ein wenig, denn so ganz für sich behalten hatte sie es keineswegs. Aber Elphi schien es nicht zu bemerken. »Das wollte natürlich genauestens bedacht sein; und je länger wir nachdachten, desto weniger erstrebenswert erschien uns das Leben auf dem Schiff, trotz der Aussicht, nun wieder den Gafr dienen zu können. Sollten wir unseren Lebensabend unter Kameraden verbringen, die kaum gealtert waren, seit wir das Schiff verlassen hatten? Und so kam es, dass, als schließlich die Lautsprecherwagen auftauchten, weder Broxa noch ich willens war, das Moor zu verlassen.« »Die Rettung kam zu spät«, sagte Jenny. »Sie kam zu spät. Wir machten uns so dünn wie möglich, begruben unsere Toten und warteten darauf, dass das Schiff wieder startete. Den ganzen Sommer über diskutierten wir über den Plan, zu Frank Flintofts Hof zu gehen, doch kamen wir zu keinem Entschluss. Konnten wir uns wirklich auf ihn verlassen? Oft besuchten wir seinen Hof, um uns dort umzusehen, doch am Ende verkrochen wir uns zum Winterschlaf, ohne uns entschieden zu haben. Als ich erwachte, war Broxa tot.« Jenny wagte nicht sich vorzustellen, wie Elphi sich gefühlt haben mochte, als er aufgewacht war und feststellen musste, dass er der letzte Überlebende war. »Und daraufhin haben Sie sic h entschieden?« Er schüttelte den zotteligen Kopf. »Nicht sofort, nein. Was letzten Endes den Ausschlag gab, meine Liebe, war die Nachricht, dass Sie und Frank geheiratet hatten und nun auf dem Hof lebten. Als ich das im Radio hörte, fing ich an, abends um das Haus zu schleichen und Ihren Gesprächen zu lauschen; nach einiger Zeit sagte ich mir, dass ich es wohl riskieren konnte. Sie hatten mehr als einmal erwähnt, dass Sie den Hühnerstall ausmisten wollten. Also schlüpfte ich eines Nachts hinein und besorgte das - und am anderen Abend stand ein Krug Milch auf der Treppe ... Den Rest kennen Sie ja.« »Und Sie haben Ihre Meinung auch nicht geändert, als das Schiff wiederkam.« »Nicht im geringsten, meine Liebe. Ganz im Gegenteil.«
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Die ganze Zeit waren sie sich gegenübergestanden und hatten sich anstrengen müssen, mit ihren Stimmen den scharfen Wind zu übertönen. Jenny war kalt geworden. »Haben Sie nicht Lust auf ein Sandwich? Lassen Sie uns doch eine Tasse Tee trinken - zur Erinnerung an unseren gemeinsamen Tag in der Höhle der Hobbs!« Sie nahm ihren Beutel von der Schulter und ging ein paar Schritte durchs Heidekraut, um eine einigermaßen trockene Stelle zu suchen. Sie kramte das alte, abgenutzte Schaumstoffkissen aus dem Beutel und setzte sich; Elphi hockte sich neben sie. Gleichmütig nahm er das Käsebrot, und Jenny goß ihm Tee in die Verschlusskappe der Thermosflasche. »Die Hobbs haben gesagt, dass ihr Zeitfenster im Jahr 2006 nicht richtig funktionierte, deshalb ist auch ihre Nachricht nicht angekommen«, sagte Jenny. »Aber was, wenn sie angekommen wäre? Glauben Sie, dass Sie dann auf das Schiff zurückgekehrt wären?« »Wenn wir die ganzen Jahre Gewissheit gehabt hätten, dass man uns rettet, meinen Sie? Das ist möglich. O ja, das hätte gut sein können.« »Dann ist schwer zu sagen, ob die Geschichte ein gutes Ende hat oder nicht«, überlegte Jenny, »vielleicht von beidem ein bißchen, nicht?« »Mehr als ein bißchen, aber die Geschichte ist noch keineswegs zu Ende. Doch was mich betrifft, so bedauere ich nichts.« Jenny schreckte auf und saß jetzt ganz gerade. »Wieso ist die Geschichte noch nicht zu Ende?« Elphi stöhnte leise und wiegte den Kopf. »Sie werden nicht zulassen, dass es vorbei ist, fürchte ich. Schließlich weiß ich, dass sie Pomphrey zu Ihnen geschickt haben.« »Wir haben uns die ganze Zeit gefragt, ob Sie davon wissen. Aber eigentlich war das keine Frage«, sagte sie. Man brauchte nur an den Lärm des Hubschraubers zu denken oder daran, dass sie eine Woche lang jeden Abend über nichts anderes geredet hatten. Sie rümpfte die Nase, als sie an Pomphrey dachte. »Er gehörte zu jener Delegation, die wir trafen, nachdem wir Woof Howe gefunden hatten - ich meine nicht die öffentliche Anhörung, sondern das private Treffen. Dass er letzte Woche hier auftauchte, hat uns völlig überrascht - haben Sie ihn tatsächlich gesehen, als er hier war?« »Ja. Ich habe den Hubschrauber gehört, zählte zwei und zwei zusammen und schlich dann zum Haus.« Jenny starrte ihn an; was hatte das zu bedeuten? Musste er nicht über die Maßen erfreut sein, nach fast vierhundert Jahren einen seiner Kameraden wiederzusehen? Aber statt ihn zu begrüßen, sich
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ihm zu zeigen, belauschte er ihn aus nächster Nähe! Mehr als alles andere bestätigte das, wie ernst es ihm mit seinem Entschluss war, in Yorkshire zu bleiben. »Nun gut«, sagte sie, »dann wissen Sie also Bescheid. Es dauerte eine Weile, bis sich die Gafr erinnerten, dass Frank und ich von ihnen wussten, aber als sie sich erst erinnert hatten, da kamen ihnen Bedenken. Nicht, dass Pomphrey uns gedroht hätte, das kann man nicht sagen. Aber was er sagte, klang sehr unerfreulich.« Sie schaute Elphi neugierig an. »Haben Sie befürchtet, dass wir von Ihnen reden?« Elphi erwiderte ihren Blick, und ihr wurde warm ums Herz. »Verzeihen Sie mir, meine Liebe. Ich hätte wissen müssen, dass man Ihnen vertrauen kann, schließlich haben Sie es immer wieder bewiesen. Der gute Pomphrey konnte das nicht wissen - aber ich hätte es wissen müssen. Trotzdem hätte er nicht so mit Ihnen umspringen dürfen.« »Nein, das war wirklich unnötig, weil Frank und ich meinten, dass Ihre Leute viel eher in der Lage wären, diesen Planeten zu retten, als wir selber. So beschlossen wir, die allgemeine Hysterie nicht noch weiter anzuheizen, indem wir die Sache mit den Gafr aufdecken - vorerst jedenfalls. Noch etwas Tee?« Elphi hielt den Becher hin, und sie schenkte ein; mit einem Löffel gab sie etwas Milchpulver und Zucker dazu. Er sah zu, wie sie umrührte, und sagte nachdenklich: »Aber wie dem auch sei, ich werde es tun.« »Was tun?« »Es aufdecken. Den Leuten reinen Wein einschenken!« »Es fing an, als wir die Geschichte mit Lexifrey erfuhren«, berichtete Elphi, nachdem er und Jenny durch das Kieferwäldchen zurück zu Frank gegangen waren. Als Frank, der in seine Arbeit vertieft war, kurz aufblickte, sah er seine Frau herankommen und neben sich ein Schaf, das auf zwei Beinen ging. »Sie haben mich vorhin gefragt, ob Broxa und ich vielleicht zurück aufs Schiff gegangen wären, wenn wir früher gewusst hätten, dass es zurückkehrt ... Lexi und die anderen in Schweden, sie wussten es. Als sie ihn über das Zeitfenster erreichten, letztes Jahr, sagte er, dass er noch immer auf Rettung hoffe und alles versuchen werde, um bis dahin auch am Leben zu bleiben - dass er auch nie daran gezweifelt habe, dass das Schiff zurückkehren werde. Er wäre sicherlich sofort aus dem Versteck gekommen, kaum dass er die
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Lautsprecher gehört hätte«, sagte Elphi und wiegte den dichtbehaarten Kopf hin und her. »Ich überlegte, ob ich es nicht an Lexis statt tun sollte, für ihn ... er war ein netter Kerl. Und außerdem war er der letzte schwedische Hobb; so wie ich der letzte in England bin.« Er schwieg eine ganze Weile. Frank hatte inzwischen die Geräte und Kisten zurück zum Auto geschleppt, das er am Rand der Straße geparkt hatte, um die Vegetation zu schonen; jetzt wandte er sich Elphi zu, die Hände in die Seiten gestemmt, das dichte weiße Haar flatterte im Wind. »Aber Sie haben es nicht getan!« »Nein, ich tat es nicht.« Elphi, der sich ins Heidekraut gekauert hatte, dass niemand etwas anderes als ein ruhendes Schaf vermutet hätte, richtete sich auf. »Ich hatte doch solches Glück gehabt! Ich hatte einen Hof gefunden, einen Herrn, dem ich gern diente, und ich wusste, sie würden verschwiegen sein. Danby Dale wäre mir lieber gewesen als Westerdale, aber darauf kommt es nicht an. Es gab nichts auf der Welt, was mir mehr bedeutete. So etwas gibt man nicht einfach auf, hier konnte ich glücklich sein. Es war das Leben, das ich von früher kannte - das ich hatte aufgeben müssen und dem ich lange, lange nachgetrauert habe.« »Und warum es jetzt wieder aufgeben?« fragte Jenny schon ärgerlich. »Und was hat das mit Pomphreys Besuch zu tun?« »Ich werde es Ihnen sagen, meine Liebe, ich muss es Ihnen sogar sagen - aber können wir nicht erst einmal nach Hause fahren? Bitte.« Elphi ließ sich wieder auf alle viere hinab und trottete wie ein Schaf hinüber zum Landrover, zögerte kurz und kletterte dann geschickt über die Lehnen der Vordersitze nach hinten. Frank und Jenny, die ihm gefolgt waren, blickten sich über das eckige Autodach hinweg an. Frank hob die Brauen, und Jenny zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf: Wenn ich das nur wüßte! Sie stiegen ein, Frank ließ den Motor an. Als das Auto anfuhr, kam von hinten Elphis Stimme: »Sagen Sie, meine Liebe, habe ich mich sehr verändert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?« Jenny drehte sich mühsam auf ihrem Sitz um, damit sie den alten Burschen ansehen konnte; sie war viel zu besorgt, um beim Anblick eines Schafes, das sich gewissenhaft angeschnallt hatte, lachen zu können. »Nein«, versicherte sie ihm ernsthaft, »überhaupt nicht.« Frank hatte ein tüchtiges Feuer im Kamin gemacht. Nun saß er mit Jenny auf der Couch im Wohnzimmer, und ihre Gesichter waren
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bekümmert. Nur Elphi, der auf dem Teppich vor dem Kamin lag, schien sich wohl zu fühlen. Er hatte sein Essen bekommen Haferbrei und einen Krug Milch - und nun wollten sie beratschlagen, wie sie es anfangen sollten, einer erstaunten Welt gleich zwei gutbehütete Geheimnisse auf einmal zu offenbaren: dass Elphi noch lebte und dass es außer den Hobbs noch die Gafr gab, die die eigentlichen Herrn waren. Elphi trug nichts als seinen dichten Pelz aus grauem Haar, das Schaffell würde er nie mehr brauchen. Die Augen hatte er jetzt geschlossen. Er hätte sich nicht verändert, hatte Jenny gesagt, doch wozu er sich entschlossen hatte, das würde alles ändern. Schon jetzt hatte er das Gefühl, nicht mehr er selbst zu sein. Nicht einmal damals, vor einigen hundert Jahren, als er der Tatsache ins Auge sehen musste, dass das Schiff vielleicht nie zurückkehren würde, war er sich selbst so fremd vorgekommen. Er musste an Pomphreys Besuch denken; er sah ihn deutlich vor sich, wie er ihn durchs Fenster beobachtet hatte: der immer noch junge Pomphrey, adrett und etwas hochnäsig, wie er auf einem Sessel saß und in seinem amerikanischen Akzent auf Jenny und Frank einredete. »Es war sehr vernünftig, dass Sie Ihr Wissen um die Gafr für sich behalten haben. Lassen Sie mich Ihnen einen Rat geben: Bleiben Sie auch weiterhin vernünftig! Die Menschen sind schon aufgeregt genug, was hätte es für einen Sinn, schlafende Hunde zu wecken.« Frank war empört. Jenny hatte gefragt: »Haben Sie je einen Hund schlafen sehen?« Der Hobb schüttelte den Kopf und legte eine leichte Schärfe in seine Stimme. »Sie wissen, wie es ist, wenn man einige seiner Erinnerungen verliert, Mrs. Flintoft? Wenn man viele Jahre verzweifelt versucht, das Vergessene wiederzufinden, ohne dass es einem gelingt? Ja? Gut, dann hören Sie auf mich: Es ist nicht gut, zu reden. Bleiben Sie vernünftig.« Die beiden Menschen hatten sich von dem Hobb nicht täuschen lassen; sie wussten so gut wie er, wessen Wohl Pomphrey im Auge hatte, was man mit diesem Schweden, Gunnar Lundquist, angestellt hatte. Jetzt wurde Elphi klar, dass er sich noch nie viel aus Pomphrey gemacht hatte - und wenn jemand in den alten Zeiten den Herrn seines Hofs auf diese Weise bedroht hätte, dann wäre das zweifellos ein >Job für den Hobb< gewesen. Sein Beschützerinstinkt erwachte. Aber was konnte er tun? Es war mehr als seltsam, dass er sich nun auf der Seite von Jenny und Frank befand und bereit war, sie gegen seine Kameraden zu verteidigen,
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die doch gekommen waren, um ihn zu retten. Pomphrey war einer von denen gewesen, die nicht gemeutert hatten, und Elphi hatte auf der anderen Seite gestanden; vielleicht lag es daran. Der Hobb hatte sich in seinen Winkel auf dem Heuboden zurückgezogen, um nachzudenken. Nach einigen Tagen war er zu dem Schluss gekommen, dass die Gafr Jenny und Frank unvermeidlich als eine Gefahr betrachten mussten. Das Gefühl der Bedrohung würde wachsen und wachsen, und am Ende würden sie Pomphrey noch einmal herschicken, Und danach wüßte keiner der beiden noch, dass sie jemals einen Hobb getroffen und mit ihm gesprochen hatten. Es war natürlich allgemein bekannt. Man hatte schon im Jahr 2006 einen Dokumentarfilm über Jenny und Frank gedreht, als sie Woof Howe aus dem Moor gefischt hatten. Millionen Menschen kannten ihre Geschichte, und sie würden es von allen Seiten immer wieder hören. Aber ihre persönlichen Erinnerungen daran wären gelöscht - und das hieße, dass sie sich auch nicht erinnerten, was die Hobbs ihnen von den Gafr erzählt hatten, wenn sie es nicht irgendwo notiert hatten. Pomphrey könnte mit der Sorgfalt eines Chirurgen vorgehen, er konnte alles löschen, was auf die Gafr hindeutete, und die übrigen Erinnerungen unangetastet lassen, aber er konnte auch der Meinung sein, dass soviel Sorgfalt nicht nötig war. Dieses Mal würde er auch dafür sorgen, dass kein zufälliges Ereignis die verschütteten Erinnerungen wieder ans Licht bringen konnte. Aber auf welche Weise er es auch tat, ob Pomphrey sorgfältig oder grob arbeitete, ob er nur die Spur der Gafr verwischen wollte oder auch jene, die Elphi hinterlassen hatte: Er würde auch auf dieses andere Geheimnis stoßen - dass Elphi noch lebte. Sein Leben als Hobb war damit zu Ende. Die ganze Nacht lang, die Nacht jenes Tags, an dem er das erkannt hatte, rannte Elphi im strömenden Regen über das Moor und muhte dabei wie eine aufgeschreckte junge Kuh. Er lief durch Bäche, preschte durch Schafherden, dass sie auseinanderstoben. Er kam zu der Höhle, die er vor einigen Monaten erst verlassen hatte, und schob den Stein beiseite; er kletterte die Leiter hinunter, aber geborgen fühlte er sich hier nicht mehr, eher wie in einem Gefängnis; mit einem wilden Aufschrei stürzte er wieder hinaus in den Regen. Gegen Morgen wurde er etwas langsamer, denn auch seine gewaltigen Kräfte hatten ihre Grenzen. Während er sich auf den
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Weg zum Hof machte, war ihm klar, dass es nur zwei Möglichkeiten gab. Wenn der Hubschrauber wiederkehrte, dann konnte er zurück ins Moor gehen, sein altes Leben leben - sich als Schaf tarnen, sich von rohen Moorhühnern ernähren, die Abfälle der Touristen einsammeln. Elphi bezweifelte, dass seine Kameraden ihn finden konnten, ob sie es versuchten oder nicht. Da Frank und Jenny nicht wussten, wo die Höhle lag, konnte man in ihrem Gedächtnis forschen, so viel man wollte, man würde keinen Hinweis finden. Aber der Gedanke, dieses Leben wieder aufzunehmen, war unerträglich. Ein drittes Exil? Nein! Dann würde er sich lieber schon >retten< lassen, um unter seinesgleichen zu sein. Er konnte die Einsamkeit nicht mehr ertragen. Wann würden sie kommen? Die Gafr brauchten lange, bis sie sich entschieden hatten; es war möglich, dass ihm noch ein ganzer Sommer, ein letzter bittersüßer Sommer auf dem Hof blieb. Elphi schlüpfte in die Scheune, ein grauer Schatten im Grau der Morgendämmerung, und schüttelte den Regen aus seinem Pelz. Mehrere Schwalbenpärchen huschten über ihm hin und her; sie trugen trockene Grashalme oder Lehmklümpchen im Schnabel. Die beiden Ayrshire-Kühe waren hereingekommen, weil es bald Zeit zum Melken war. Frank würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. In einer Ecke des Heubodens ruhte sich Elphi ein wenig aus, bevor sein Arbeitstag begann; es war nicht viel, was er tagsüber an Pflichten zu erledigen hatte. Nach einer Weile hörte er Frank, der freundlich mit den Kühen sprach; er redete in dem Dialekt seiner Kindheit mit ihnen. Dann hörte man, wie er das Viehgatter wieder schloss, Heu wurde in die Tröge gefüllt, nun machte er sich ans Melken: Der Blecheimer dröhnte, wenn der scharfe Strahl Milch aus dem Euter gegen die Wandung prasselte. Ein Gedanke drängte sich ihm auf, ein wirklich unschöner, unwillkommener Gedanke. Mochte er sich auch inmitten der vertrauten, geliebten Geräusche geborgen fühlen, wie er da oben lag, er konnte ihn nicht verdrängen. Er begann zu stöhnen, doch so leise, dass Frank es nicht hören konnte. Er konnte warten, bis Pomphrey zurückkehrte, und jeden Tag genießen, als wäre es der letzte. Oder er konnte ein letztes Mal wie ein Hobb handeln und für ein rasches Ende sorgen. Er dachte nach. Langsam legte sich sein Stöhnen. Nach einiger Zeit hörte er, wie sich Jenny und Frank unterhielten, sie wollten diesen Tag oben in den Mooren verbringen; er hatte es am Vortag
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gehört, als Jenny es ihrem Helfer Peter gesagt hatte. Frank wollte ein Steinmal nicht weit von Nab Farm vermessen, Jenny sich derweil auf die Suche nach Wildblumen an den Moortümpeln machen. Das Auto sprang an, fuhr zum Haus hinüber, Elphi hörte die Türen schlagen, und weg waren sie. Es war still auf dem Hof, nur die Schwalben zwitscherten. Da sprang Elphi auf und strich das Heu aus seinem Pelz; er stieg zu einem Dachsparren hoch und zog ein Schaffell hervor, das er dort verstaut hatte. In den Jahren hier hatte er es kaum benutzt. Er warf es hinunter auf den Scheunenboden und sauste auf der Leiter hinterher. Er wusste, was er zu tun hatte. Und nun war es entschieden, die Würfel waren gefallen. Es gab keinen Hobb mehr auf Flintofts Hof, keine kleine Gestalt würde mehr Rüben säen oder beim Lammen helfen. Statt dessen ... Das Feuer wärmte ihm tüchtig den Rücken, im Wohnzimmer roch es etwas muffig wie nach einem nassen Hund. Elphi öffnete wieder die Augen und richtete sich auf. »Lassen Sie uns überlegen. Wie wollen wir es anstellen? Ich muss sagen, die Idee mit dem Radio gefällt mir, denn unsere Transistorgeräte haben uns immer gute Dienste geleistet.« Jenny fragte Frank: »Wo ist das nächste Rundfunkstudio? Whithby?« »Middlesbrough, denke ich.« Er brachte das Telefonbuch und seine Lesebrille zum Couchtisch, blätterte hin und her und verkündete dann: »Middlesbrough.« Über den Rand der Brille sah er Elphi an. »Ich werde dort anrufen, wenn Sie wollen - wenn es wirklich Ihr Ernst ist.« Als Frank telefonierte, stand Jenny auf und hockte sich dann neben Elphi auf den Fußboden. »Warum wollen Sie das tun? Das wüßte ich gerne. Es ist doch nicht abzusehen, wie diese Neuigkeit aufgenommen wird. Und was ist mit Ihnen - werden die Gafr Sie nicht dafür bestrafen, wenn sie Sie erst in ihrer Hand haben?« »Die Gafr haben keine Hände, meine Liebe. Die Hobbs sind ihre Hände und ihre Füße.« Als er sprach, klang es wie immer, als wäre er nicht im geringsten beunruhigt, doch als er sie ansah, da brach ihr die Traurigkeit in seinen Augen fast das Herz. »Sie werden meinen Ungehorsam bestrafen, wie sie ihn schon damals bestraft haben - indem sie den Bösewicht von seinen Meistern trennen. Sie werden alles herausfinden, o ja. Sie werden in meinem Gedächtnis lesen wie in einem offenen Buch.« Er wendete sich ab. »Aber ich muss jetzt handeln, bevor sie über die Sache nachgedacht haben denn wenn ich es nicht tue, dann werden sie den jungen Pomphrey
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herschicken, damit er Sie bestraft, für das, was Sie wissen.« Jenny blinzelte. »Bestrafen? Wie? Unsere Erinnerung löschen meinen Sie?« Elphi nickte. »Aber hat nicht Pomphrey das angedroht für den Fall, dass wir reden? Wir werden doch nicht reden.« »Davon bin ich überzeugt, denn Sie haben oft genug bewiesen, dass man Ihnen vertrauen kann. Aber die Gafr werden nicht überzeugt sein - und je länger sie zweifeln, desto gründlicher zweifeln sie, und eines Tages werden sie der Meinung sein, dass sie das Risiko nicht länger auf sich nehmen können. Ich kenne sie.« Es war hier vor dem Feuer viel zu warm; Elphi stand auf und ging auf allen vieren zum vorderen Fenster, jenes Fenster, an dem er an so vielen schönen Sommerabenden im letzten Tageslicht ihren Gesprächen gelauscht hatte. Jenny konnte es nicht fassen. »Aber ... Sie meinen doch nicht, dass Sie den Hof verlassen, alles hier aufgeben, sich den Gafr ausliefern und dazu vielleicht eine internationale Krise auslösen nur um Frank und mich davor zu bewahren, dass man sich an unserem Gedächtnis vergreift?« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann doch nicht der Grund sein, unmöglich!« »Wirklich nicht, meine Liebe?« Er hatte sich vom Fenster abgewendet und sah sie an; Jenny war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. »Nein, denn Sie selbst haben mir gesagt, dass ein Hobb ohne weiteres einen Hof verlassen könne, auf dem er hundert Jahre lang gelebt hat, ohne sich auch nur noch einmal danach umzudrehen! Sie haben gesagt, dass ein Hobb die Menschen nicht als Freunde betrachtet, dass es ihm um das Dienen an sich geht!« Frank kam aus der Küche und blieb in der Tür stehen. Jenny lief zu ihm hinüber und rief mit ziemlich hysterischer Stimme: »Elphi behauptet, dass er das alles für uns tut! Damit sie nicht unsere Erinnerungen löschen!« Ihre Stimme klang so vorwurfsvoll, dass Frank den Kopf zurückwarf und lachte, auch wenn es sich nicht sehr froh anhörte. »Wenn er das tut, dann solltest du ihm danken, statt ihm Vorwürfe zu machen! Aber was du auch tust - tu es schnell, denn der Hubschrauber mit den Reportern ist schon auf dem Weg.« »O nein!« Jenny drehte sich zu Elphi um, dann wieder zu Frank. »Aber dann ist es zu spät! Er kann seine Meinung nicht mehr ändern, es nützt nichts mehr, es ihm auszureden!« Frank schüttelte den Kopf und legte die Arme um Jenny. Er zog sie an sich. »Jetzt nicht mehr, Liebes. Ich musste ihnen zu viel sagen, damit sie mir überhaupt geglaubt haben. Es ist zu spät.«
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»Sie hätten es mir nicht ausreden können, meine Liebe«, warf Elphi ein. »Aber wir müssen uns beeilen, die Zeit drängt - ein paar Dinge habe ich Ihnen noch zu sagen.« Frank schob Jenny zu einem Sessel; sie ließ sich hineinsinken, die Hände gefaltet. Frank hockte sich mit gekreuzten Beinen neben den Sessel und sah den Hobb traurig an. »Beruhigen Sie sich ... bitte«, sagte Elphi. »Es ist kein so großes Opfer, wie Sie meinen bedenken Sie: Wäre Pomphrey zurückgekommen, dann hätte er durch Sie, durch Ihr Gedächtnis von mir erfahren - und das wäre schon bald gewesen. Anstatt nun die kurze Zeit hier draußen, die mir noch geblieben wäre, zu genießen, stelle ich mich selbst.« Frank sagte: »Aber sicher haben Sie etwas geopfert! Sie haben die Chance nicht genutzt, dass sie uns vielleicht in Ruhe gelassen hätten - auch wenn das nur eine sehr kleine Chance war, aber immerhin. Und Sie haben die Zeit geopfert, die Ihnen noch geblieben wäre. Jenny hat recht, zweifellos: Nach dem, was Sie gesagt haben, ist es ganz unlogisch, dass Sie das alles unseretwegen tun.« »Ja, das ist richtig, ich will es nicht abstreiten!« Elphi blickte von einem zum anderen, schwenkte dann seine Arme - diesmal war es keine Nachahmung dessen, was die Menschen taten, es musste ein Hobb-Geste sein. Aber man verstand sie sehr gut. »Ich weiß, dass die Gafr es herausfinden werden, wie alles andere auch; sie werden wissen, warum ich es getan habe - aber ich selbst kann es Ihnen um alles in der Welt nicht erklären, das ist die Wahrheit.« Er ließ sich wieder auf alle viere hinab, es wirkte, als würde ein Mensch die Schultern hängen lassen. »Ich bin der Letzte, nicht wahr - vielleicht kommt es daher. Wir Hobbs sind nie allein, niemals. Wir leben immer in der Gruppe, und auch , die Gafr sind immer in unserer Nähe.« Frank wollte etwas sagen, aber in diesem Augenblick hörte man den Helikopter herankommen. Jenny warf Elphi einen verzweifelten, flehenden Blick zu. »Es tut mir so leid, dass ich Ihnen nicht glauben wollte, es war dumm von mir. Ich wollte doch, dass es immer so weitergeht wie bisher, für immer!« »Auch ich habe mir das gewünscht, meine Liebe. Aber es hat vielleicht sein Gutes. Es ist besser, wenn ich meine Gafr wiedersehe, bevor ich sterbe, und meine Sprache, meinen richtigen Namen wieder einmal hören kann.« Der Hubschrauber war auf der Weide neben dem Haus gelandet. Frank stand auf und ging zur Tür, auch Jenny erhob sich. »Wie ist denn Ihr richtiger Name? Ich würde es gern wissen!«
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Elphi lächelte wieder, ein Menschenlächeln. »Belfrey, meine Liebe. Ja, Belfrey. Ein unmöglicher Name für England, nicht wahr? Es war mir durchaus recht, dass die Leute in Yorkshire mir einen anderen gegeben haben.« Er ging, unwiderruflich. Obwohl sie die Antwort wusste, konnte Jenny nicht anders, als zu fragen: »Werden wir Sie je Wiedersehen?« Die Stimme drohte ihr zu versagen. Er zögerte und drehte sich noch einmal halb zu ihr um. »Es ist nicht sehr wahrscheinlich, meine Liebe, nicht wahr? Doch kann man nie wissen, nichts ist unmöglich! Aber auf jeden Fall haben Sie mich gesehen, und diese Erinnerung wird bleiben.« Frank hatte die Tür weit geöffnet, so dass ein Schwall kühler Nachtluft hereindrang. Dann sah er Elphi an. »Und werden sie Ihre Erinnerung an uns löschen?« »O nein, keineswegs. Nein, das ist nicht zu befürchten.« Elphi schien die Schultern ein wenig zu straffen, als er nun aufgerichtet durch die Tür trat. Der Hobb sah sich ein letztes Mal nach Jenny um. »Die Erinnerung, wissen Sie, das wird die Strafe sein.«
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7 2010 Zackenreisen Lange Zeit hatte es so ausgesehen, als ob es Liam einfach nicht in den Kopf gehen wollte, dass Jeff tot war. Der Reaktorunfall, der seinem Freund das Leben gekostet hatte, veränderte auch sein Leben von Grund auf. Die Stadt, in der er von Geburt an gelebt hatte, war jetzt unbewohnbar. >Verändert< war nicht ganz das richtige Wort; das Leben, das er geführt und für selbstverständlich genommen hatte, war unwiderruflich dahin. In wenigen Tagen wären die Schulferien zu Ende gewesen, aber seine Schule würde für Jahrzehnte geschlossen bleiben. Er wohnte mit Vater und Mutter in jenem Blockhaus in den Poconos, in dem Jeff und seine Familie gewöhnlich Ferien gemacht hatten. Auch Liam hatte dort einige schöne Sommer verbracht, aber der Gedanke, dass er nun in dem Häuschen am Wallenpaupack-See saß und Jeff tot war, gestorben an der Strahlenkrankheit, erschien ihm einfach unsinnig. Unmöglich, dass er am Leben war und Jeff nicht. Einige Zeit waren Liams Schwestern, die etwas älter waren, bei ihnen; doch Margy fuhr bald zu ihrem Freund in New York zurück, und Brett musste an ihr College, denn das zweite Studienjahr sollte beginnen. Nun war er wieder allein mit seinen Eltern. Sie machten sich große Sorgen um ihn, er wusste das - oder er spürte es auf eine verschwommene Weise, so dass es nicht ihn zu betreffen schien. Aber es gab schließlich genug, um das sie sich sorgen konnten. Ihr Haus, die komplette Einrichtung - Bücher, Kleider, Möbel, Porzellan, Fotoalben, Videokassetten, Bilder, Teppiche, Nippeskram, das Klavier, Liams Baseballhandschuh, sein Computer - einfach alles war radioaktiv verseucht. Sie hatten einiges an Kleidung mitnehmen können, Papiere, das Solarauto seiner Tante Carrie, aber das war schon alles. Sein Vater hatte in Philadelphia gearbeitet, war Systemanalytiker bei einer Firma namens Smith Kline Beecham gewesen - seine Arbeitsstelle gab es nicht mehr, man hatte ihn erst einmal beurlaubt. Seine Eltern wussten nicht, wo sie wohnen sollten, wenn sie das Blockhaus verließen. Man wartete ab, was die Regierung tat, wie sie sich mit der Elektrizitätsgesellschaft einigte, und das konnte eine Weile
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dauern. Immerhin hatte er so seine Ruhe. Das konnte Liam nur recht sein. Er saß auf dem Bootssteg und starrte übers Wasser. Wenn es regnete, saß er auf der Veranda vor dem Haus und starrte in den Regen, wenn er nicht so tat, als würde er lesen. Wenn er nur stillhielt, sich nicht rührte, dann konnte es sein, dass er überhaupt nicht an Jeffs Tod dachte. Nur an jenem Tag, als Terry sie besuchte, da wich er von seinem gewohnten Programm ab. Liam hatte nicht gewusst, dass er kommen würde, und als Terry zum Bootssteg gegangen war und Liam aufblickte und ihn erkannte, da durchfuhr ihn ein Schmerz, als würde ihn ein glühendes Eisen durchbohren. Noch nie hatte er so etwas gefühlt, er schrie auf wie ein Tier. Ohne es recht zu wissen, sprang er auf, stieß Terry beiseite und rannte. Rannte, so schnell er konnte, den See entlang, nur weg von dem Blockhaus. Mehr als einen Kilometer lief er in vollem Tempo, bis der Schmerz in der Lunge ihn langsamer werden ließ. Den ganzen Nachmittag trieb er sich am anderen Ufer des Sees herum, und als er sich schließlich auf den Rückweg machte, weil es dunkel wurde, war Terry längst gegangen. An diesem Abend konnte er spüren, dass die Eltern sich noch größere Sorgen machten als sonst, und wieder einmal weinte seine Mutter. Aber sie machten ihm keine Vorwürfe, versuchten nicht, ihn zum Reden zu bringen, und ganz dumpf spürte er etwas wie Dankbarkeit dafür. Wochen vergingen, es wurde kälter. Er erfuhr zufällig, dass Jeffs Eltern sich scheiden lassen wollten. Liam war nicht überrascht, er wusste, dass sie nicht besonders glücklich gewesen waren. Anne wollte zurück nach Kalifornien gehen, das konnte Liam nur recht sein. Sie mochte ihn nicht mehr, sie war auch nicht einverstanden gewesen, dass er und Jeff sooft zusammen waren. Als er noch klein war, da hatte sie ihn gemocht, doch hatte sich das geändert, als Jeffs Vater sich weigerte, die Familie nach Washington umziehen zu lassen. Dabei wollte auch Jeff nicht dorthin, obwohl er vielleicht im Chor der Washington Cathedral hätte singen können. Danach hatte Anne sich verändert, und auch zu Liam benahm sie sich nun anders. Terry war jetzt in Washington. Seine Bemühungen um einen Platz im Senat würden wohl Erfolg haben, denn allgemein erkannte man seine Verdienste bei der Evakuierung von Philadelphia an und dass er seinen einzigen Sohn durch die Katastrophe verloren hatte, war nicht weniger hilfreich. Eines Morgens beim Frühstück erfuhr Liam, dass seine Eltern ebenfalls nach Washington ziehen
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wollten. Liam stellte fest, dass es ihm nichts ausmachte, Terry in Washington zu sehen. Er hatte auch nichts dagegen, nach Maryland zu ziehen. Er hatte nichts dagegen, was immer sie taten. Warum auch? An dem Tag, als sie den letzten Koffer packten und im Blockhaus saubermachten, kehrte das fremde Raumschiff zurück.
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2013 Das Gespräch lief nicht sehr gut, aber Julie ließ sich so leicht nicht entmutigen. Sie lächelte viel und oft. »Und jetzt wohnst du schon eine ganze Weile in College Park - zweieinhalb Jahre ungefähr?« »Ungefähr. Wir sind bald nach dem Reaktorunglück hierhergezogen.« »Warum wollten deine Eltern hierher?« Liam zuckte mit den Achseln. »Die Firma meines Vaters hat ihm eine Stelle in ihrer Niederlassung in Washington angeboten, außerdem lebt ein guter Freund meiner Eltern hier, der uns geholfen hat, eine Wohnung zu finden.« »Ich verstehe.« Sie machte sich Notizen. »Kennst du diesen Freund deiner Eltern sehr gut?« Er zuckte wieder mit den Achseln, dann fragte er sich, ob er nicht unhöflich war. Er wollte nicht zu weit gehen. »Er heißt Terry Carpenter, vielleicht haben Sie schon von ihm gehört.« »Der Senator?« Liam nickte; Julie machte sich wieder Notizen. Sie sah gut aus, schulterlanges schwarzes Haar, ein offenes, freundliches Gesicht mit einer langen Nase und ohne Make-up. Sie trug einen schwarzen Rock mit einer ärmellosen Jacke, eine weiße Bluse aus einem silbrig glänzenden Gewebe mit langen Ärmeln und ganz schlichte Pumps. Julie sah auf. »Woher kennen deine Eltern Senator Carpenter?« »Die Cousine meines Vaters war seine Englischlehrerin am College, und später zogen die Carpenters in ein Haus, das nur einige Blocks von unserem entfernt war. Das war in Philadelphia, bevor wir ... bevor ich geboren wurde.« Er verkrampfte sich, denn er erwartete, dass sie bei diesem Versprecher einhaken würde, aber sie sagte nur: »Es muss schlimm sein, wenn man so plötzlich heimatlos wird, wenn man ohne Vorwarnung sein bisheriges Leben aufgeben muss.« Liam sah sie an, das Gesicht völlig unbewegt. Dann schaute er auf seine Uhr. Julie sagte in einem freundlichen, doch ganz sachlichen Ton: »Erzähl mir doch von dem Reaktorunglück. Was hast du gerade gemacht, als es passierte?« »Es war mitten in einem Baseballspiel. Meine Mutter hörte es im Radio und kam sofort, um mich abzuholen, dann fuhren wir in die Poconos - die Carpenters haben dort ein Ferienhaus.« »Kannst du dich erinnern, wie du dich fühltest? Woran hast du
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gedacht, als ihr hinauf in die Berge gefahren seid?« Liam richtete sich etwas auf und saß nun ganz gerade auf seinem Stuhl. Dann sagte er: »Wissen Sie, ich weiß, was Sie von mir hören wollen. Ich soll sagen, dass ich an Jeff gedacht habe, aber das stimmt nicht. Ich wusste nicht, wo der Bus um diese Zeit war, und wir alle dachten, dass Jeff in Sicherheit wäre. Wir erfuhren erst am nächsten Tag, dass der ganze Chor ins Krankenhaus eingeliefert worden war.« Julies Gesicht, ihr ganzer Körper war nun völlig unbeweglich, als hätte sie jeden einzelnen Muskel in ihrer Gewalt. »Jeff ist dieser Freund, der ums Leben kam?« »Ich möchte darüber nicht reden«, sagte Liam sehr bestimmt. Zwischen Julies Augenbrauen zeigte sich eine steile Falte. »Und wie ist es mit der Schule - hast du Lust, mir darüber etwas zu sagen?« »Und was?« »Ich wüßte gern, ob dir deine neue Schule gefällt.« »Warum nicht? Quäkerschulen sind doch alle gleich. Sie sind streng, und man wird in Ruhe gelassen.« »Und du magst es, wenn man dich in Ruhe lässt.« »Jaaa ...« Das war mehr ein müder Seufzer als eine Antwort. »Und warum?« »Es ist einfacher so.« Jetzt kam wieder Leben in Julie; sie lächelte, schlug die Beine übereinander, dass man kurz die Bündchen ihrer Kniestrümpfe unter dem schwarzen Rock aufblitzen sah. »Und noch lieber wäre es dir, wenn ich dich in Ruhe lassen würde.« Liam brachte ein leises Lächeln zustande. »Es tut mir leid, nehmen Sie es nicht persönlich. Die Sache ist ... es ist nicht meine Idee. Meine Eltern wollen, dass ich hierherkomme.« »Und du meinst, dass es ... überflüssig ist? Langweilig?« »Es ist lästig. Ich brauche keinen Klapsdoktor, ich möchte wirklich nur in Ruhe gelassen werden.« Julie schrieb auf ihren Notizblock, es mussten mehrere Sätze sein. Während sie schrieb, fragte sie: »Und was tust du, wenn man dich in Ruhe lässt?« »Klavierspielen. Lesen. Mathematikaufgaben lösen.« Da kannst du warten, bis du schwarz wirst, dachte er, wenn du meinst, dass ich dir darüber etwas sage. Julie löste den Notizblock von der Unterlage, so dass einige dicht beschriebene Blätter zum Vorschein kamen. »Wenn ich das richtig sehe, dann bist du so eine Art mathematisches Wunderkind?
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Du hast sogar einen Kurs in Analysis an der Universität belegt stimmt das? Das ist wirklich erstaunlich.« Liam zuckte mit den Achseln. »Mathematik ist mir immer leichtgefallen.« Er sah wieder auf die Uhr. »Die Zeit ist um«, sagte er hörbar aufatmend und sprang auf. Julie ließ ihre Kladde auf den Schoß sinken und sah ihn sehr ruhig und aufmerksam an. »Ja, sie ist um, Liam - aber bitte, setz dich noch einmal, nur für eine Minute. Bevor du gehst, möchte ich noch etwas klarstellen. Hier wird nichts geschehen, was du nicht willst. Ich verspreche dir, dass ich dich nicht drängen werde, Fragen zu beantworten, die du nicht beantworten willst, oder Dinge zu sagen, die du nicht sagen willst. Okay?« Dieses Mal konnte er das Achselzucken noch rechtzeitig vermeiden, er nickte. »Gut. Dann habe ich nur noch eine Frage für heute, die du ganz nach Belieben beantworten kannst - oder auch nicht. Bist du glücklich?« Er zuckte zusammen - nicht, weil sie es war, die das fragte, nein, allein die Frage schon hatte ihn erschreckt. Er zögerte, dann sagte er vorsichtig: »Nun ... nicht direkt.« »Möchtest du nicht glücklich sein?« Ob es ihr nun gelungen war, die Mauer zu durchbrechen, mit der er sich umgeben hatte, oder ob es nur die Empörung über ihre Hartnäckigkeit war: Seine Brust schien zu explodieren, er rang nach Luft, und mit seiner sorgsam kalkulierten Beherrschung war es vorbei. »Das darf doch nicht wahr sein!« fuhr er sie an, »Sie wissen überhaupt nicht, wovon Sie reden - Sie haben keine Ahnung!« Julie stand auf. »Ich verstehe. Nun, vielleicht möchtest du mir beim nächsten Mal erklären, was ich nicht weiß.« Zu Hause angekommen, warf Liam die Schulbücher in eine Ecke, ließ seine Jacke auf den Fußboden fallen und ging geradewegs an sein Klavier. Er stöhnte vor Erleichterung, als er endlich auf der Klavierbank saß. Für eine ganze Stunde vergaß er die Welt um sich, tauchte ein in ein Meer von Tönen. Als er wieder zu sich kam, waren seine Mutter und Matt in der Küche dabei, das Abendessen zu bereiten; sein Vater hatte die Tür des Arbeitszimmers hinter sich geschlossen, während Carrie und Terry im Wohnzimmer zwei freie Stühle gefunden hatten und sich nun leise unterhielten. Sie blickten auf, als Liam hereinkam, und lächelten ihm zu, aber es war der gleiche Ausdruck in ihren Gesichtern, diese Besorgtheit, die ihm so schrecklich auf die Nerven ging. Er hatte es satt, immerzu und für jedermann das Objekt der Sorge zu sein. Er winkte ihnen im Vorbeigehen zu, nahm
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seine Büchertasche und lief die Treppe hinauf in sein Zimmer. Liam war ein sehr ordentlicher Junge, sein Zimmer war niemals unaufgeräumt. Die Bücher auf den Regalen standen gerade, das Bett war gemacht, auf Schreibtisch und Boden lag nichts herum. An den blauen Wänden hing nichts als ein Pinbrett mit einigen Postkarten und Notizzetteln. Das war Liams Welt, eine geordnete und übersichtliche Welt, und hier machte er nicht weniger ordentlich seine Schularbeiten, bis sein Vater ihn zum Essen rief. Man sprach bei Tisch über alles mögliche. Terry, Vorsitzender des Senatsausschusses für Hobbs-Angelegenheiten, überwachte den Aufbau des neugegründeten Instituts für Zeitphysik und arbeitete in dieser Sache mit einem Hobb namens Humphrey zusammen, der von den Gafr zu diesem Projekt abgeordnet worden war. Seit mehr als einem Jahr war er jetzt schon ohne Unterbrechung auf der Erde und würde bald zum Schiff zurückkehren, um eine Schlafpause einzulegen; bisher hatte er mit Medikamenten die Winterschlafneigung unterdrückt, die übliche Reaktion auf kaltes Wetter. Terry würde ihn vermissen: Sie arbeiteten sehr gut zusammen und waren tatsächlich Freunde geworden - etwas, das eigentlich nicht für möglich gehalten wurde. Liams Familie hörte Terry gespannt zu - außer Liam selbst natürlich. Sein Vater und Carrie glaubten, dass die Machtübernahme der Hobbs eher ein Segen als ein Fluch war, seine Mutter und Matt waren weniger begeistert davon. Aber das Neueste über Humphrey und die anderen Hobbs war auch für sie interessant, und Terry war in College Park immer willkommen, wenn er es nur einrichten konnte, sie zu besuchen. Seit der Scheidung, seit Anne in Kalifornien wieder geheiratet hatte, gehörte Terry so gut wie zur Familie. Er hatte ein eigenes kleines Zimmer, so dass er, wann immer es sich ergab, bei ihnen übernachten konnte. An der Wand hing ein Photo von Jeff und Liam, ein Abzug von einem Dia, das Terry bei einer Campingfahrt aufgenommen hatte, als die Jungen neun und zehn waren. Sie hockten vor einem Spirituskocher und grinsten in die Kamera. Liam ging nie in Terrys Zimmer. Wenn Terry nicht da war, hielt er die Tür immer geschlossen. Es war Terry, der dieses Haus entdeckt hatte - ein großes Haus mit einer Veranda rundherum, in einer Sackgasse, an deren Ende sich nur noch die U-Bahnstation befand. Seine Idee war es auch, dass Carrie und Matt den zweiten Stock beziehen könnten. Die beiden hatten in England Ferien gemacht, als das Unglück passierte, und waren einfach dort geblieben: Sie erhielten
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Forschungsstipendien für Cambridge und blieben ein ganzes Jahr; auch ihr Haus würde für immer unbewohnbar sein. Das College, an dem sie unterrichteten, war aufgegeben worden. Terry hatte sich umgesehen, hatte einige Verbindungen spielen lassen, und im Handumdrehen erhielt Carrie eine Stelle an der Universität von Maryland; Matt wurde pensioniert, und so war alles in die Wege geleitet, damit sie nach ihrer Rückkehr aus England oben einziehen konnten. Es lief alles bestens. Matt konnte hervorragend kochen und war somit für Liams Mutter eine große Hilfe, Carrie und sein Vater hatten sich immer gut verstanden, was bei Cousinen und Cousins nicht unbedingt der Fall sein muss. Was Liam betraf, so hätten sie auch in einem Iglu irgendwo in der Antarktis wohnen können, ihm war es gleich. Er konnte sich kaum noch vorstellen, dass Carrie einmal zu den Menschen gehört hatte, die er von allen am meisten liebte. Nun war aus Terry beim besten Willen nichts mehr über Humphrey herauszuholen, Carrie gab einige Stilblüten ihrer Studenten zum Besten, Matt wollte ihr nicht nachstehen, und als man genug gelacht hatte, kam Liams Mutter auf seine Schwester Brett zu sprechen, die erfahren hatte, dass sie womöglich ein Stipendium für Cornell bekommen würde. Sie war überglücklich, denn nach Ithaca zu gehen bedeutete, mit ihrem Freund zusammenzusein, der dort seine Doktorarbeit machte. Er hieß Eri c Meredith und hatte sich schon jetzt einen Namen als Botaniker gemacht. Liams Eltern mochten ihn, wenn auch die Mutter immer nörgelte, dass das der dünnste Mensch sei, den sie je gesehen hätte. Niemand wagte Liam zu fragen, wie es denn bei seiner Therapiesitzung gelaufen war, aber er spürte die Neugier der Erwachsenen, auch wenn sie von anderen Dingen sprachen. Sie konnten einem leid tun. Sie waren so besorgt um ihn, sie wollten ihm helfen, dabei gab es doch nichts, was sie tun konnten. Doch sein Bedauern legte sich wieder und machte Ärger Platz. Warum mussten sie ihn mit ihrer Liebe belästigen? Er hatte sich mit der Therapie einverstanden erklärt, um sich eine Atempause zu verschaffen, um ihrer Sorge ein kleines Ventil zu verschaffen. Nun würden sie ihm wegen dieser Therapie in den Ohren liegen. Er leerte seinen Teller, trank sein Glas aus, ohne überhaupt zu wissen, was er aß und trank. Sobald er nur konnte, stand er vom Tisch auf und zog sich in sein Zimmer zurück. Er war nicht überrascht, nach einiger Zeit Schritte auf der Treppe
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zu hören und schließlich ein scheues Klopfen an seiner Tür. Liam machte ein böses Gesicht, aber er stand gehorsam von seinem Schreibtisch auf und öffnete. Im Flur standen Terry und Carrie. »Dürfen wir reinkommen?« fragte Carrie, und Liam trat zur Seite, um sie einzulassen; er konnte nur hoffen, dass es nicht lange dauern würde. Aber sie schienen nicht im Auftrag seiner Eltern zu kommen, nicht um ihn zu fragen, wie die Sitzung gelaufen war. Carrie setzte sich aufs Bett, Terry nahm den Sessel, und Liam hockte sich auf den Schreibtisch. Terry sagte: »Wir beide haben lange überlegt, und nun kamen wir zu dem Schluss, dass es da eine Sache gibt, über die du unbedingt Bescheid wissen solltest.« Sie warteten auf eine Antwort, sie wirkten beide ungeheuer ernst. Verdammte Wichtigtuer, dachte Liam, aber er sagte nur: »Nun gut, worum geht es?« Terry sah Carrie an, Carrie stützte ihre Ellbogen auf die Knie und sagte dann: »Mein Lieber, erinnerst du dich noch an die Geschichte von den Hirschen im Park?« »Sicher.« »Und was genau weißt du noch darüber?« »Dass vor vielen Jahren, als Terry noch ins College ging, ihr beide oben auf dem Felsen hocktet und ein Hirsch und eine Hirschkuh angerannt kamen und sich gepaart haben, genau unter dem Felsen. Du hast es uns oft genug erzählt - jedes Mal, wenn wir dort waren.« Uns hatte er eigentlich nicht sagen wollen; er konnte sehen, wie sehr Carrie darum kämpfte, sich nichts anmerken zu lassen. Es machte ihn wütend, aber diesmal konnte er sich besser beherrschen. »Gut«, sagte sie, »aber hast du dich je gefragt, was Terry und ich dort an jenem Tag gemacht haben?« Für einen Moment löste sich die starre, höfliche Maske, hinter der Liam sich versteckte. »Nein, jetzt wo du das sagst ... Ich habe wohl angenommen, dass ihr zusammen einen Spaziergang gemacht habt, so, wie Freunde das tun. Schließlich seid ihr ja heute noch Freunde, nicht?« Terry schüttelte den Kopf. »Damals kannten wir uns kaum. Wir waren im Park, weil ich während einer Klausur plötzlich Dinge schrieb, von denen ich nichts wusste - und es schien, als hätte ich in dem Park eine Vision gehabt. Als Carrie meine Arbeit korrigierte, erkannte sie, dass etwas sehr Seltsames vorgefallen war. Wir sind den Weißen Weg entlanggegangen, um zu rekonstruieren, was passiert war. Ich war dort am Tag vor der Klausur gewesen, an
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einem Sonntagmorgen. Kannst du mir folgen?« »Es geht.« »Um es kurz zu machen: Es stellte sich heraus, dass ich, während ich auf dem Felsen saß an jenem Sonntagmorgen und mir überlegte, wie ich meine Hausarbeit zu Ende bringen konnte, durch ein Zeitfenster geblickt hatte, das sich auf dem Hügel, gleich oberhalb des Felsens, geöffnet hatte.« »Du meinst ... ein Zeitfenster der Hobbs? Aus der Zeit nach ihrer Landung hier?« »Aus dem Jahr 2020. Da sind wir ganz sicher. Es war Herbst, und inmitten der Herbstlandschaft sah ich oben am Hügel plötzlich einen Fleck, auf dem es Sommer war, dann tauchten zwei Gestalten in Strahlenschutzanzügen auf und sahen mich an - und einer davon war ein Hobb.« Liam hatte das Gefühl, als würde er sich ein wenig für diese Geschichte interessieren, was ihn selbst verwunderte. »In welchem Jahr war das? Ich meine, in welchem Jahr warst du?« »1990. Es war mein erstes Studienjahr. Sie haben meine Erinnerung gelöscht; wenn ich nicht kurz darauf diese Klausur geschrieben hätte, würde ich mich wohl kaum daran erinnert haben - es wäre mir nicht anders ergangen als Jenny und Frank Flintoft drüben in England. Sie begegneten diesen ausgesetzten Hobbs im Moor, aber sie konnten sich erst wieder daran erinnern, als sie die Hobbs bei der Landung in New York sahen.« Liam nickte; er wusste von den Flintofts. Carrie und Matt waren doch zu Besuch bei ihnen gewesen, als die Sache mit Peach Bottom passierte. »Möglicherweise hätte ich mich nicht einmal dann erinnert«, sagte Terry. »Der Hobb im Zeitfenster trug ja einen Strahlenschutzanzug - ich konnte nicht sehen, wie er wirklich aussah. Es ist nicht sicher, ob das, was ich sah, genügt hätte, die Erinnerung wieder ans Licht zu bringen. Es sei denn, einer von ihnen hätte tatsächlich einen Schutzanzug getragen ...« »Aber wie kam es, dass diese Klausur deine Erinnerung zurückgebracht hat?« fragte Liam, und nachdem Carrie es ihm erklärt hatte, sagte er: »Du meine Güte, wieso habe ich nie ein Wort davon erfahren?« »Niemand hat je davon gehört außer Matt - und Anne, die aber nicht ein Wort davon geglaubt hat, und den Flintofts.« Er machte eine Pause. »Ich habe auch Jeff nie davon erzählt.« Liam blinzelte. »Auch nicht Mom und Dad?« »Nein, auch ihnen nicht. Vielleicht hat Anne Phoebe irgend etwas davon gesagt, das könnte sein, ich jedenfalls nicht.«
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»Weil sie dir nicht geglaubt hätten, und damit es nicht hieß, du wärst nicht ganz bei Trost.« »Genau. Aber am schlimmsten wurde es dann im Jahr 2006, als das Raumschiff landete und wieder abflog, ohne dass etwas passiert war. Durch das Zeitfenster hat man mir gesagt, dass es vor der Ankunft der Hobbs ein Reaktorunglück geben würde; aber nun waren die Fremden gekommen, ohne dass etwas passiert war ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Ich kam nie auf die Idee, dass sie vielleicht umkehren und noch einmal hier landen würden.« »Seltsamerweise ist Jenny auf diese Idee gekommen«, sagte Carrie. »Bevor sie nach England übersiedelte, um Frank zu heiraten, waren wir einen Nachmittag lang draußen im Park. Da kam ihr dieser Gedanke, aber es war nur so eine Idee, eine mögliche Lösung für Terrys Problem. Dass die Hobbs tatsächlich wiederkommen würden, daran hätten wir im Traum nicht gedacht.« Wie zu sich selber sagte Liam: »Zweitausendzwanzig, Strahlenschutzanzüge. Dann war es nach der Katastrophe. Deshalb also hast du diesen tollen Evakuierungsplan in deiner Schublade gehabt.« Terry nickte und wartete gespannt. Langsam wich die Farbe aus Liams Gesicht. Er starrte Terry an. »Du wusstest, dass eine Katastrophe bevorstand.« Terry, der nun selbst ziemlich bleich geworden war, blickte Liam fest in die Augen. Mit tonloser Stimme sagte er: »Du möchtest wissen, warum ich Jeff und Anne nicht zu mir nach Washington genommen habe, wie Anne es immer wollte - warum ich darauf bestand, dass Jeff hier mit dir auf die Quäkerschule ging.« Liam nickte. »Der Himmel weiß, wie sehr ich mir wünsche, dass ich Anne ihren Willen gelassen hätte. Jeff wollte nicht weg aus Philadelphia, aber was wäre ihm schon anderes übriggeblieben, wenn ich darauf bestanden hätte. Die Wahrheit ist ... der wahre Grund, warum er hierbleiben sollte, ist, dass ich ihn in deiner Nähe haben wollte weil ich absolut sicher war, dass ihm so nichts passieren könnte.« Noch immer starrte Liam ihm in die Augen. Dann sagte er: »Warum hast du geglaubt, dass er bei mir in Sicherheit wäre?« Sollte es etwa auf irgendeine verrückte Weise seine Schuld sein, dass Jeff tot war? »Weil die andere Person im Strahlenschutzanzug, die ich mit dem Hobbs im Zeitfenster gesehen habe, du warst«, sagte Terry. Liam hatte kaum jemals von Jeff geträumt. Manchmal schreckte
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er nachts aus dem Schlaf; es war stets, als wäre er aus einer gewissen Höhe auf die Matratze herabgeschleudert worden, aber nie erinnerte er sich, ob da Bilder oder Stimmen in seinem Traum gewesen waren, die ihn so gewalttätig aus seinem Schlaf gerissen hatten. Aber in dieser Nacht, der Nacht, nachdem Terry ihm alles erzählt hatte, da träumte er. Er träumte, dass er und Jeff mit Carrie wieder einmal in den Park gingen. Sie stiegen den Weißen Weg hinauf, bis zu dem großen Felsblock, den sie >Zackenfelsen< nannten, und wollten wieder einmal da oben ihren Tee trinken und die üblichen Krapfen essen. Es waren immer dieselben Sorten: einen Krapfen mit bunten Zuckerperlen und einen mit Schokolade- oder Krokoüberzug für Liam, für Jeff einen mit Geleefüllung. Der Weg, den sie im Traum gingen, war schmal, nicht anders als der echte Weg im Park, so dass sie hintereinander gehen mussten, Carrie mit dem Beutel voran, dann Liam und als Nachhut Jeff. Dieser Liam im Traum war er selbst, nur jünger - neun oder zehn vielleicht. Es war ein strahlender Herbsttag, der Himmel tiefblau und klar, und braune und gelbe Blätter, die sich wie Muschelschalen gewölbt hatten, bedeckten den Weg, so dass Liam immer wieder über verborgene Wurzeln stolperte. Obwohl das Laufen dadurch recht beschwerlich war, erfüllte ihn ein Glücksgefühl, wie er es noch nie gekannt hatte - fast glaubte man es körperlich zu spüren wie Wassertropfen auf der Haut oder die Wärme der Sonnenstrahlen. Während sie gingen, sagte Liam zu sich selbst: Das ist der glücklichste Tag meines ganzen Lebens. Doch dann bemerkte er, dass Carrie viel schneller ging als er. Warte!, wollte er rufen, aber da war sie schon um eine Biegung verschwunden. Angst kam auf, das Glück war getrübt. Er versuchte, schneller zu gehen, aber gleich war er außer Atem, und er stolperte noch mehr als zuvor. Beeil dich, Jeff, es wird gefährlich!, schrie er und wandte den Kopf zu seinem Freund - aber der Pfad hinter ihm war leer. Schluchzend lief er weiter, umrundete die Biegung und sah weit voraus nun wieder Carrie, die er an dem roten Beutel über der Schulter erkannte. Es schien jetzt zu dämmern. Warte!, wollte er wieder rufen, aber er brachte nur ein heiseres Krächzen hervor; schließlich schien sie ihn aber doch zu hören, blieb stehen und drehte sich um, genau am Fuß des Felsens. Aber als Liam näher kam, da erkannte er, dass etwas nicht stimmte. Carries kurzes, von grauen Strähnen durchzogenes braunes Haar war nun sehr lang und sehr grau und fiel ihr über die Schultern; auch ihr Gesicht war
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mit grauem Haar bedeckt, und wie stämmig sie auf einmal war und nicht größer als ein zehnjähriger Junge. Ein eisiges Entsetzen durchfuhr Liam, als er erkannte, dass Carrie sich in einen Hobb verwandelt hatte, und mit einem Schrei erwachte er. Er rührte sich nicht, bis sein jagendes Herz sich beruhigt hatte. Gott im Himmel, was für ein Alptraum! Das war mehr, als man ertragen konnte. Schuld daran musste das endlose Reden über die Hobbs an diesem Abend sein - die Geschichten, die Terry beim Essen erzählt hatte, und schließlich diese verrückte Sache mit dem Zeitfenster. Vielleicht auch die Bemerkung, die er anschließend noch gemacht hatte: Dass dieser Hobb namens Humphrey, der sein Freund und für das Institut für Zeitphysik zuständig war, nach mathematisch begabten Kindern suchte, die man am Institut ausbilden konnte; er sei interessiert, Liam kennenzulernen - und dass er außerdem behauptet hatte, Liam würde im Jahr 2020 für das Institut arbeiten, denn das hätte er damals, 1990, im Zeitfenster gesagt. Terry und Carrie waren übereingekommen, dass man Liam jenes Erlebnis im Park nicht vorenthalten dürfte, denn schließlich wäre es auch seine Zukunft, um die es hier ging. »Als wir uns im Zeitfenster gesehen haben, habe ich dich da erkannt?« hatte Liam gefragt, und Terry hatte geantwortet: »Du hast dir auf jeden Fall nicht anmerken lassen, ob du mich erkannt hast. Aber die Hobbs sagen, dass es nur eine Zeit gibt und meinen damit, dass alles, was sich je ereignen wird, in gewisser Weise schon passiert ist. Und wenn das stimmt, dann musst du mich erkannt haben, weil du von jetzt an diese Geschichte kennst - du hast also nur vorgegeben, mich nicht zu erkennen.« »Dann verstehe ich nicht, warum du mir es nicht schon früher erzählt hast«, hatte Liam etwas mürrisch erwidert, und Terry hatte geantwortet: »Es war jederzeit möglich, es dir zu sagen. Es war unmöglich, es dir nicht zu sagen. Ich wollte sichergehen und habe gestern Humphrey gefragt - er kennt übrigens die ganze Geschichte, und er sagte, weil es nur eine Zeit gibt, sich also nichts ändern würde, wenn ich es dir sage. Es lag also nur an Carrie und mir, und wir haben uns gesagt, dass es gut für dich wäre, zu wissen, wie sich deine Zukunft entwickeln wird. Wir glauben nämlich, dass Humphreys Angebot dir großartige Möglichkeiten bietet - wenn du am Institut für Zeitphysik ausgebildet wirst, dann hast du deine Karriere schon in der Tasche, was immer du später einmal tun wirst. Einen besseren Start kann man gar nicht haben.« »Mit später meinst du die Zeit nach 2020, weil ich ja in jenem
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Jahr am Institut arbeite, nicht?« »Genau.« »Dann war Humphrey der Hobb, den du mit mir zusammen im Zeitfenster gesehen hast?« Terry dachte nach. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Mag sein. Wer immer es war - du sagtest, er sei dein Chef am Institut.« Und Liam hatte erwidert: »Dann sieht es also so aus, als wärt ihr beide und Humphrey euch schon völlig einig, wie meine Zukunft aussehen soll.« Liam stand auf und ging, ohne Licht zu machen, ins Bad. Er stieg wieder ins Bett und lag lange da und starrte in die Dunkelheit. Dieser Alptraum hatte ihn aufgerüttelt; nun spürte er den ungeheuren Kontrast zwischen der emotionalen Leere seines jetzigen Lebens und jenem anderen Leben, als er noch Gefühle kannte. Was gab es denn nun noch für Gefühle? Ärger, Widerwillen, Erleichterung. Nichts, was im geringsten Spaß machte, aber auch nichts, was einen zu sehr aufregte. Diese Seelenklempnerin, diese Dr. Hightower, die er Julie nennen sollte, hatte auch ihren Anteil an diesem Alptraum. Ihr hatte er mehr an unangenehmen Gefühlen zu verdanken, als er sonst in Jahren ertragen musste. Diese so unschuldig scheinende Frage ... Bist du glücklich? Liam schnaubte ärgerlich. Er dachte nicht daran, noch einmal zu einer dieser Sitzungen zu gehen. Gefühle bedeuteten in der Regel Ärger. Gute Gefühle dienten nur der Irreführung, sollten den großen Schlag, der am Ende kam, nur wirksamer machen. Glücklich zu sein, das war doch purer Unsinn, wenn man sich nicht darauf verlassen konnte, dass man auch glücklich blieb - und man blieb nicht glücklich, soviel stand fest. Terry hatte gesagt, dass er eine großartige Zukunft vor sich hätte, wenn er mit dem Hobb am Institut für Zeitphysik arbeiten würde. Bevor er und Carrie davon geredet hatten, hatte Liam nicht eine Sekunde an seine Zukunft gedacht; aber nun war ihm fast augenblicklich klar, dass er, Liam O'Hara, keine Zukunft brauchte. Nein, vielen Dank. Auch keine Zukunft, die ihm früher einmal als höchst wünschenswert erschienen wäre - mit den Fremden zusammenzuarbeiten und sich auf ein interessantes mathematisches Gebiet zu verlegen. Nein danke. »Was willst du einmal werden, wenn du groß bist, Kleiner?« fragte er sich mit einer Stimme, die vielleicht Carrie oder Julie hätte gehören können, und er gab auch gleich die Antwort: Nichts, gar nichts. Und ich werde auch nicht erwachsen werden. Das war
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die Lösung, das war das Ende aller Probleme - keine Zukunft. Lächelnd drehte sich Liam auf die Seite und schloss die Augen. Er lächelte in letzter Zeit sehr selten. Am anderen Tag stieg Liam nach der Schule in die U-Bahn nach Georgetown, um zu Terry zu fahren. Sie hatten sich zum Abendessen verabredet, damit Terry ihm etwas ausführlicher von dem Angebot des Hobb erzählen konnte - er musste doch schließlich wissen, wie diese Ausbildung am Institut für Zeitphysik aussehen sollte. Da Liam inzwischen wusste, dass das für ihn nicht in Frage kam, hätte er anrufen und das Treffen absagen können. Aber die Aussicht, einen Abend außer Haus zu verbringen, ohne die sich ständig sorgende Mutter um sich zu haben, war recht verlockend, und noch immer schwebte er auf der Woge der Erleichterung, die sich in der Nacht eingestellt hatte, als er seine Entscheidung gefällt hatte. Er hatte Zeit, noch ein wenig durchs Smithsonian-Museum zu bummeln, dann nahm er ein Taxi, und Punkt sechs Uhr klingelte er an Terrys Haustür. Terry öffnete. Er trug eine Schürze. Man roch Kochdünste und hörte laute Rockmusik aus dem Hintergrund. »Komm rein!« rief Terry, um den Lärm zu übertönen. »Du bist wieder mal pünktlich, aber ich wurde im Büro aufgehalten; setz dich eine halbe Stunde vor den Fernseher oder mach sonst etwas, was du willst.« »In Ordnung!« rief Liam zurück, fast freundlich, denn er war nun innerlich viel ruhiger geworden. »Ich habe was zu lesen dabei, habe mir unterwegs eine Sportzeitung gekauft.« »Wunderbar. Mach's dir im Wohnzimmer gemütlich, ich werde dir gleich eine Cola bringen.« Liam zog seine Jacke aus und hängte sie an die Garderobe. Er zog die Zeitschrift aus seiner Büchertasche und ging in das unaufgeräumte, von Büchern überquellende Arbeitszimmer, das ursprünglich als Schlafraum gedacht war. Im Flur wandte er automatisch die Augen ab, um die Fotos an der Wand nicht sehen zu müssen, die Terry kunstvoll zu einem Tableau gefügt hatte: meistens Jeff und Liam in jedem Alter. Liam setzte sich in Terrys abgewetzten alten Sessel, kickte seine Schuhe davon, legte die Füße auf das Fußpolster und schlug seine Zeitschrift auf. Friedlich vergingen einige Minuten. Plötzlich hielt Liam die Luft an, richtete sich mit einem Ruck auf und ließ das Heft zu Boden fallen. Die Rockmusik im Wohnzimmer nebenan war zu Ende, was man nun hörte, war eine einzelne, sehr klare und schöne Stimme,
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die sich deutlich wie ein Lerche von dem begleitenden Orchester abhob: Alma Dei Creatoris, sedet rei peccatoris ... Jeffs Solo aus dem Frühjahrskonzert, das letzte Konzert des Philadelphia-Knabenchors vor dem heimischen Publikum, weil kein einziger der Sänger die Fahrt vorbei am Kernkraftwerk von Peach Bottom überlebt hatte. Mater, mater clementissima! Liam wusste, dass man das Konzert mitgeschnitten hatte, doch hatte er nie zuvor das Band gehört. Blind stieß er das Fußpolster zur Seite und rannte zur Tür. Dann fielen ihm seine Schuhe ein, er machte einen Satz zum Sessel . Während er auf dem Boden hockte und die Schuhe überzog, hörte er Terry fluchen, und das Band stoppte mit einem Quietscher, gerade als nach dem Solo der Chor wieder eingesetzt hatte. Liam stolperte zur Tür, ohne die Schnürsenkel gebunden zu haben, dort stieß er mit Terry zusammen, er versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, so, wie er es damals am Wallenpaupack-See gemacht hatte, aber diesmal stellte sich Terry ihm in den Weg, packte ihn um die Brust, während Liam um sich schlug und heulte: »Laß mich los, ich muss gehen!« »Liam, verdammt, laß das! Hör auf! Warum schlägst du mich? Ich werde dich nicht gehen lassen, also hör lieber auf damit!« Terry bekam Liams Arme zu fassen, dass er sich nicht mehr wehren konnte. »Jetzt hör mal zu - hör mir endlich mal zu!« keuchte er. »Das mit dem Tonband tut mir furchtbar leid. Ich kam doch spät nach Hause und dachte nicht daran, was für eine Kassette ich eingelegt hatte. Wirklich, ich hatte nicht vor, auf diese Weise dich mit Jeff s Tod zu konfrontieren. Hätte ich das geplant, dann hätte ich es auf eine ganz andere Art versucht.« Liam hatte nicht geglaubt, dass Terry dieses Band absichtlich abgespielt hatte. Warum, das spielte doch keine Rolle. Es war ganz einfach unerträglich, das anhören zu müssen. Den Kopf gesenkt stand Liam da und atmete hastig durch die zusammengebissenen Zähne, während Terry ihn festhielt. Terry lockerte nun seinen Griff etwas, holte tief Luft und sagte viel ruhiger: »Das ist die Wahrheit. Aber davon abgesehen habe ich mich tatsächlich gefragt, ob nicht jemand dich zwingen müsste, den Dingen ins Auge zu sehen - deine Mutter vielleicht, Carrie oder die Psychologin, zu der du gehst ... Irgend jemand muss es einmal tun! Du machst dich selbst krank dadurch, dass du dich weigerst, um Jeff zu trauern. Niemand, der einen so entsetzlichen Verlust erleidet, kann alle Gefühle, jeden Gedanken daran verdrängen, ohne Schaden zu nehmen. Es ist wie ein eiterndes Geschwür in
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deinem Innern. Es tut weh. Glaubst du etwa, ich wüßte das nicht? Und in einem bestimmten Sinn ist es sogar unmöglich, darüber hinwegzukommen - für dich und mich, für Anne, deine Mutter, alle, die ihn gekannt haben. Aber, Liam: Jeff ist tot. Er ist tot, du lebst. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir, aber solange du nicht akzeptieren kannst, dass Jeff tot ist, könntest du genausogut auch tot sein. Verstehst du, was ich meine?« Während er sprach, lockerte sich sein Griff immer mehr, wurde zu einer losen Umarmung, bis er schließlich Liams Arme losließ. Liam nutzt seine Chance. Er stieß Terry beiseite, dass er taumelte, und schon hatte er mit wenigen Sätzen den Flur durchquert, seinen Mantel von der Garderobe gerissen und war durch die Tür. Einige Straßen weiter, als er sah, dass niemand ihm folgte, hielt er an, um seinen Mantel anzuziehen und die Schuhe zu binden. Er beschloss, zu Fuß zur nächsten U-Bahnhaltestelle zu gehen. Der Schock, den die Stimme seines toten Freundes ausgelöst hatte, ebbte langsam ab. Du konntest genausogut auch tot sein. Wie wahr. Alles, was Terry gesagt, war absolut richtig. Aber da er wusste, dass er sich der Tatsache von Jeffs Tod niemals würde stellen können, sorgte er am besten dafür, dass er eben kein ganzes Leben noch vor sich haben würde. So hatte er es doch schon die Nacht zuvor beschlossen. Seine Zukunft war abgeschlossen, dafür würde er sorgen - nicht irgendwann, nicht in ein paar Monaten, sondern sofort. Er hatte auch sofort gewusst, wie er es anfangen würde, als hätte er es, ohne es zu wissen, schon seit langem geplant - nicht weniger sorgfältig, als Terry die Evakuierung von Philadelphia geplant hatte. Seine Büchertasche lag noch in Terrys Wohnung; das machte nichts, er würde morgen nicht in die Schule gehen, morgen nicht und nie mehr. Aber seine Mutter wusste das nicht, so hätte er eine perfekte Ausrede, warum er am nächsten Morgen so früh aus dem Haus ging. Sicher hatte Terry inzwischen seine Eltern angerufen und ihnen gesagt, was passiert war. Er würde nach Hause gehen und schweigen. Er würde einfach auf sein Zimmer gehen und mit seinen Vorbereitungen beginnen. Er saß in der U-Bahn und überlegte, wie er vorgehen würde. Sein Gesicht hatte sich aufgehellt, einen so lehaften Ausdruck hatte man an ihm seit dem Tod seines Freundes nicht mehr gesehen wie jetzt, als er seinen eigenen Tod plante. Kein Augenblick war ihm bewußt, dass morgen der dritte März war, Jeffs fünfzehnter Geburtstag.
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Liam schreckte aus seinem Halbschlaf auf, als der Zug in Baltimore einfuhr. Schlaftrunken holte er seinen Rucksack von der Ablage und eilte den Gang hinunter zur Tür, dann lief er zurück zum Gepäckwagen, um sein Solarmofa zu holen. Fast die ganze Nacht hatte es gedauert, bis alles vorbereitet war; wie ein Dieb war er durchs Haus geschlichen, um Campingausrüstung und Vorräte zusammenzusuchen. Sein Zimmer lag genau unter Matt und Carries Schlafzimmer. Trotzdem wollte er nicht glauben, dass er eingeschlafen war. Es hatte prächtig funktioniert, wieder musste er an die Evakuierung Philadelphias denken. Er hatte sein ganzes Gepäck in der Nacht in einen großen Müllsack aus Zellulose gestopft und dann gewartet, bis ein schwerer Güterzug auf der Bahnlinie nach Camden vorbeifuhr; das Getöse musste jedes Geräusch übertönen, das er machen würde: Er öffnete das Fenster seines Zimmers und ließ an einem Seil den gefüllten Müllsack hinunter; es war nicht schwer, an dem Kastanienbaum, der bis an sein Fenster reichte, hinabzuklettern. Er schleppte den Sack zur U-Bahnstation, die um diese Zeit geschlossen war, und warf ihn in einen großen Müllcontainer, dass nur das Seil auf einer Seite noch heraushing. Danach ging er zurück nach Hause, um sein Mofa zu holen, das unter dem Vordach verstaut war, und brachte es völlig geräuschlos weg. Es war jetzt nach zehn. Um sieben war er von zu Hause weggegangen; er hatte gesagt, er müsse in die Stadt, um vor Schulbeginn seine Tasche bei Terry abzuholen. Das Solarmofa stand noch immer vor der U-Bahnstation, wo es mit einer Kette gesichert hatte. Einige Leute sahen, wie er den Müllsack aus dem Container herauszog, aber schließlich war man in Washington, und niemand schaute so genau hin, was man tat. Liam hatte seine Ausrüstung mit Gurten auf dem Mofa festgezurrt und das Ganze die Treppe hinunter bis auf den Bahnsteig gebracht; er tat, als wüßte er nicht, dass man für einen solchen Transport eine Genehmigung brauchte; aber er hatte Glück, es gab keine Kontrolle auf dieser Haltestelle; niemand hielt ihn auf. Am Bahnhof stieg er aus, kaufte eine Fahrkarte nach Baltimore und stieg in den nächsten Zug nach Norden. Und jetzt war er da. Weiter als bis Baltimore konnte er mit dem Zug nicht kommen; zwar fuhren die Amtrak-Züge noch weiter, doch hatten sie Druckkabinen wie Flugzeuge und wurden versiegelt, bevor sie die strahlenverseuchte Zorn durchquerten. Vor Newark würden sie
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überhaupt nicht mehr anhalten. Vor der Ankunft in Newark passierten die Züge einen Tunnel, in dem sie von allen Seiten abgesprüht wurden, um den radioaktiven Staub zu entfernen. Aus diesem Grund hatte er sein Solarmofa mitgebracht. An einem Informationsstand erkundigte er sich nach jenem Laden mit Armeebeständen, an den er sich von einem früheren Besuch hier erinnern konnte; es musste irgendwo in der Nähe sein, in dieser sorgfältig herausgeputzten Gegend um den Bahnhof herum. Er hatte insgeheim gewettet, dass es dort etwas zu kaufen gab, was er schon damals gesehen hatte. Und er behielt recht. »Wir haben noch einige übrig, obwohl nach Peach Bottom die Leute in ihrer Angst wie verrückt danach waren«, sagte der Ladenbesitzer, ein älterer Schwarzer. »Eine Zeitlang wollte jeder seinen eigenen Schutzanzug haben, doch das gab sich wieder. Ich kann mich nicht einmal erinnern, wann ich den letzten verkauft habe. Weiß nicht, ob wir einen in deiner Größe haben.« Während er sprach, führte er Liam durch die Gänge zwischen Bergen von khakifarbenen Hosen und Nylonregenmänteln und Armeeschlafsäcken, schließlich eine Treppe hinunter, und da waren sie: drei weiße Strahlenschutzanzüge, die an Haken hinge. »Meinst du, dass es mit einem von diesen Dingern gehen wird?« »Er ist nicht für mich«, sagte Liam, »aber wenn ich ihn anprobiere, kann ich sagen, ob er passen wird.« »Versuch mal den hier«, sagte der Verkäufer freundlich. »Ist wahrscheinlich eine Frauengröße, aber da ist eigentlich kein Unterschied. Sie sind alle gleich.« Der Anzug war Liam viel zu groß, obwohl er seine lange Jacke anbehalten hatte, aber es war der kleinste, den es gab. »Was kostet das?« fragte er und gab dem Mann seine Kreditkarte. Er wartete, während der Kontostand überprüft wurde; dieser Einkauf würde ihn um sein ganzes Vermögen bringen - na und? Er musste sich etwas schützen, sonst würde er nicht einmal in die Nähe des Parks kommen, die Strahlung hätte ihn schon umgebracht, bevor er über den Fluß war. Er wollte an der richtigen Stelle sterben. Die richtige Stelle, das hätte an der Bundesstraße 222 sein können, nicht weit vom Kraftwerk, dort, wo sich die radioaktive Wolke wie ein Leichentuch über den Bus mit dem Chor gelegt hatte. Das war näher - aber dieser Ort bedeutete Liam nichts. Viel besser war die Idee, die ganze Strecke bis zum Park zurückzulegen, wo er auch in diesem Alptraum gewesen war. Es war nicht sicher, ob er es bis zum Zackenfelsen schaffen würde, aber immerhin auf dem Weg dorthin zu sterben, dieser Gedanke gefiel ihm sehr gut.
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Auf dem Ladentisch stand ein Kalender, einer dieser dicken Blöcke mit einem Blatt für jeden Tag, und als der Ladeninhaber ihm seine Karte wieder aushändigte, ihm den Kassenzettel und die große Papiertüte mit der Ware gab, da fiel Liams Auge auf die große rote Drei, und jetzt erst fiel ihm ein, dass heute Jeffs Geburtstag war. Das erschien ihm als eine Bestätigung, dass er sich unwissentlich diesen Tag als Todestag ausgesucht hatte. Er hatte auch eine Straßenkarte dabei, auch wenn sie noch aus der Zeit vor der Katastrophe stammte. Letzte Nacht hatte er sich eine Route durch diesen Teil von Pennsylvania ausgedacht; das beste wäre wohl, der Bundesstraße l zu folgen, die von Baltimore direkt bis zum Ridley-Creek-Park führte und den Susquehanna, über den Conowingo-Staudamm, überquerte. Liam wusste, dass dort, wo die Gefahrenzone begann, die Straße aufgerissen und unpassierbar gemacht worden war. Jetzt bereute er, dass er Terry nicht besser zugehört hatte, als er von diesen Dingen geredet hatte. Aber was machte das schon. Er würde eben vom Rad steigen, sich umschauen, wie er das zerstörte Straßenstück mit dem schwerbepackten Mofa umgehen konnte und sich dann wieder auf den Sattel schwingen. Was ihm im Augenblick Sorgen bereitete, war das Wetter. Der Himmel war von dichten Wolken bedeckt, und die Batterie des Mofas fast leer. Mit dem Motor würde er nicht weit kommen, wenn nicht bald die Sonne hervorkam - er müsste, bevor er aufbrach, noch die Batterie aufladen lassen. Zwar konnte er das Mofa auch mit den Pedalen fortbewegen, doch brauchte man nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was für ein mühsames Geschäft das in dem viel zu großen Schutzanzug sein würde. Er haßte es, so viel Zeit zu verlieren, aber die Klugheit siegte über die Ungeduld, und so fuhr er die Calvert Street entlang, bis er ein Schild sah: LADESTATION - SOLARMOBILE ALLER ART. Das war ein Glücksfall, denn man konnte nicht damit rechnen, dass man an jeder Ladestation auch ein Mofa aufladen konnte. Niemand war vor ihm, auf den er hätte warten müssen. »Ich weiß nicht, wieviel noch auf meinem Konto ist«, sagte er zu der gelangweilt blickenden blonden Frau an der Kasse, »bitte, prüfen Sie es nach; ich möchte, dass nach dem Laden noch fünfzig Dollar übrig sind.« Für die fünfzig Dollar konnte er das Mittagessen bezahlen und noch einige Vorräte für die Reise kaufen. Währen sein Mofa am Ladegerät hing, ging er in ein Hamburger-Restaurant und bestellte sich einen Riesen-Burger mit Pommes frites und ein Schokoladenshake, und dann betrat er den Supermarkt auf der
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anderen Straßenseite und kaufte ein halbes Dutzend belegte Brote, eine große Tüte Äpfel und einen Dreiliterkarton Limonade. Fast vollständig aufgeladen und vollständig pleite bestieg er sein schwerbepacktes Mofa und fuhr leise surrend auf die Straße hinaus. An der Kreuzung zwischen Broadway und Straight Street bog er rechts ab; die Straße war tatsächlich gerade, aber alles andere als eben. Bergauf benutzte Liam den Motor, abwärts schaltete er aus und nutzte den Schwung. Er fuhr an endlosen Zeilen von Reihenhäusern aus Ziegeln vorbei, erreichte die JohnsHopkins-Universität und eine Gruppe von altehrwürdigen Klinikgebäuden; dann kamen kleine, schäbige Läden. Zu beiden Seiten des Mittelstreifens, auf dem riesige Robinien wuchsen, verliefen Schienen. Eine Straßenbahn kam vorbei, in der Gegenrichtung, stadteinwärts. Die Häuser sahen immer schlimmer aus, je länger er fuhr, und auf der Straße sah man nur noch Schwarze. Auf der rechten Seite kam nun die Mauer des Hauptfriedhofs mit ihren Türmchen und Zinnen, und kurz darauf bog von links die Bundesstraße l ein, die von nun an der Straight Street folgte. Die Straße war schlecht und voller Schlaglöcher. Noch immer gab es die Straßenbahnschienen, doch fuhr so weit draußen keine Bahn mehr; sie stammten noch aus jener Zeit, so um die Jahrhundertwende, als Autos in solchen Gegenden immer seltener geworden waren. Nach einigen Kilometern unansehnlicher, schmuddeliger Straßen war die Gegend wie ausgestorben, Liam war allein unterwegs. Nach Peach Bottom waren die Menschen aus den nordwestlichen Vorstädten von Baltimore weggezogen, und hierher verirrte sich selten jemand. Er kreuzte eine andere Bundesstraße und fuhr auch unter einigen Starkstromleitungen hindurch, die wohl nicht mehr in Betrieb waren. Sie mussten von Peach Bottom kommen. Er fuhr an verlassenen Wohnhäusern vorbei, die aussahen, als seien sie geplündert worden, an kleinen Wiesen mit überlangem, abgestorbenem Gras, kahlen Bäumen und Sträuchern - Wiesen, die vor zwei Jahren noch Vorgärten gewesen waren. Es war deprimierend, und der graue Himmel und der durchdringende Wind machten es nicht besser; aber es war in Ordnung, zu seinem Vorhaben paßte es. Eine Gedichtzeile kam ihm in den Sinn, vielleicht hatte er sie von Carrie gehört; es war etwas wie >Die Welt liegt im Sterben - laßt sie nur<. Er hielt an, um sich eine Wollmütze über die schmerzenden Ohren zu ziehen, dann fuhr er weiter durch diese Wüste.
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Im Norden von Perry Hall, einer Geisterstadt, kam Liam in ein Viertel mit sehr gediegenen Häusern, die noch ziemlich neu gewesen waren, als man sie aufgab. Man konnte auch sehen, dass das hier bis vor kurzem noch Farmland gewesen war. Hin und wieder gab es einen Flecken Wald, zum ersten Mal seit dreißig Kilometern verlassene Tankstellen, auch einfachere Einfamilienhäuser, aber alles in allem doch eine piekfeine Gegend, fern von der Stadt. Doch das Glück hatte nicht lange gedauert, Peach Bottom vertrieb die Menschen aus ihrem Paradies. Dann war er da. Nicht einmal zwei Stunden nachdem er die Pappschachtel seines Hamburgers in den Müllbehälter geworfen hatte, war er am Ende der Bundesstraße l angekommen - am befahrbaren Ende. Er hatte sich gefragt, ob am Ende der Straße eine Wache wartete; es konnte ja sein, dass man es nicht für ausreichend hielt, sie unpassierbar zu machen. Aber es gab keine Wachen, auch keine elektronischen Sicherungen, soweit er sehen konnte. Aber ein hoher Maschendrahtzaun spannte sich quer darüber und verlor sich zu beiden Seiten am Horizont, und auf einer riesigen Tafel mit dem Warnsymbol für Radioaktivität war zu lesen: GEFAHR BETRETEN VERBOTEN - GEFÄHRLICHE STRAHLUNG! Die dicken roten Buchstaben waren einen halben Meter groß. Die Metallpfosten des Zauns waren oben nach außen gebogen und mit drei Reihen Stacheldraht bespannt, und auf Liams Seite des Zauns zog sich ein Graben über die Straße, der breit genug war, einen Panzer aufzuhalten. Liam stieg vom Mofa; er hielt es am Lenker und spähte durch den Maschendraht. So weit er sehen konnte, war auf der anderen Seite die Straße aufgebrochen, nichts als riesige Betonklumpen. Dieser Zaun war ein Problem. Wie weit reichte er auf beiden Seiten? Wie sollte es jetzt weitergehen - er musste nicht nur ein Loch im Zaun finden, das groß genug war, er musste auch wissen, wie er sein Mofa mit dem ganzen Gepäck über Land transportieren sollte, wenn die Straßen zerstört und das Gelände unwegsam war. Unmöglich, es zurückzulassen und sich zu Fuß auf den Weg zu machen, es waren noch mehr als hundertfünfzig Kilometer. Das war nicht zu schaffen. Liam sah auf seine Uhr, das schreckte ihn auf. Er hatte keine Zeit, hier zu stehen und zu träumen, nach der Schule würde man ihn vermissen. Er musste schnell einen Weg durch den Zaun finden. Auf dem Wegweiser, der nach links zeigte, stand: UPPER
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CROSSROADS 15, MADONNA 27, SHANE 48. Auf dem Wegweiser nach rechts stand: JOPPA 16. Weil er einmal einen Film mit dem Titel Shane gesehen hatte, lenkte Liam das Mofa nach links, startete den Motor und schwang sich darauf. Die Straße hob und senkte sich durch meist unbewaldetes, recht eintöniges Hügelland. Zu beiden Seiten gab es die gleichen Einfamilienhäuser mit den gleichen überwucherten Wiesen, die einmal Vorgärten gewesen waren. Unbeirrt folgte der Zaun der Straße, paßte sich dem Auf und Ab der Hügel an, eine undurchdringliche Barriere. Kreuzte eine Straße, dann war das nach Norden, zum Zaun führende Stück ebenfalls durch einen Graben unterbrochen, und oft hatte man sie auch jenseits des Zauns aufgerissen. Liam fuhr und fuhr, nervös hielt er nach einem Loch im Zaun Ausschau. Nach ein, zwei Kilometern schaltete er den Motor wieder ab, um die Batterie zu schonen, und begann zu treten. Bald wurde er müde, es folgte Hügel an Hügel. Die meisten Häuser hinter dem Zaun sahen recht alt aus, doch der Zaun war so gut wie neu und tadellos in Ordnung. Liam suchte nach einer Lücke; es gab keine. Gelegentlich kam ein Auto oder ein Motorrad vorbei. Vielleicht würde sich jemand erinnern, einen Jungen auf einem Solarmofa am Zaun des Sperrgebiets entlangfahren gesehen zu haben. Bei dieser Vorstellung wurde er noch nervöser, aber was sollte er machen. Als er die Einmündung einer Seitenstraße mit Namen Pocock Road passierte, sah er auf den Kilometerzähler: Fünfzehn Kilometer war er jetzt gefahren, seit er von der Bundesstraße l abgebogen war, und ein Ende des Zauns war nicht abzusehen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als umzukehren und es in der anderen Richtung zu versuchen. Dort war es nicht anders: die gleichen Häuser, die gleichen sanft geschwungenen Hügel, derselbe Maschendraht neben der Straße. Liam fuhr, bis er nicht mehr umhinkonnte zuzugeben, dass dieser Zaun nicht gewillt war, ihn auf irgendeine Weise durchzulassen. Er wendete, denn er wusste nicht mehr, was er tun sollte. An einer Stelle, wo ein von dichtem Gebüsch gesäumter Graben mit einem kleinen Bach sich zwischen zwei Häusern jenseits des Zauns hinzog, hielt er an. Er lehnte das Mofa gegen den Maschendraht und zog sein Paket mit Broten hervor; er setzte sich auf den harten, schwarzen Straßenbelag, den Rücken gegen den Zaun, und aß ein Roggenbrot mit Geflügelsalat. Hin und wieder nahm er einen Schluck aus dem Karton mit Limonade; um jetzt nachzudenken war er viel zu erschöpft. Der Wind war stärker geworden, er würde bald
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ausgekühlt sein, trotz seiner warmen Jacke. Die Straße fühlte sich kalt an unter dem Stoff seiner Hose. Die Hand, die er nicht zum Essen brauchte, steckte er in die Tasche. Als er fertig war, blieb er sitzen. Er war ausgebrannt und leer; wenn er etwas fühlte, dann höchstens Erschöpfung und Mutlosigkeit. Es verging wohl eine halbe Stunde, bevor er auf das Geräusch des Rinnsals in dem Graben unter ihm aufmerksam wurde; rasch drehte er sich um, kniete nieder und blickte hinunter in den Graben, wo das Wasser über die Steine plätscherte, vielleicht zehn Meter unter ihm. Das hier war keine Brücke, dafür war der Bach einfach zu klein. Inmitten der Müdigkeit, die ihn völlig durchdrungen hatte, regte sich ein Gedanke: Wo kam das Wasser her? Da unten plätscherte es in dem Graben, nichts deutete darauf hin, dass es entlang der Straße geflossen war, bevor es dort eingeleitet wurde. Wo anders also sollte es herkommen als von der anderen Straßenseite? Liam wartete, um ein Auto vorbeizulassen, dann lief er über die Straße und einen kleinen Hang hinunter und landete in dem großen, verwilderten Garten eines der verlassenen Häuser. Der kleine Bach zog sich durch das ungemähte, abgestorbene Gras, und von rechts und links sah man kleine gemauerte Kanäle in den Graben münden - und da, versteckt unter einem Gebüsch, war die Mündung einer großen, betonierten Röhre unter der Straßenböschung, Der Beton war aus groben Kieseln und mehr als eine Handbreit dick, dieses Kanalrohr musste schon Jahrzehnte alt sein, denn heute machte man sie aus wiederverwertetem PVC oder aus Ziegeln. Das Herz klopfte Liam bis zum Hals, als er zu der Mündung herankroch. Noch bevor er sie erreicht hatte, wusste er, dass die Röhre einen Durchmesser von gut einem Meter hatte. Das reichte für ihn, das reichte auch für das Mofa, wenn er das Gepäck abnahm und die Räder abschraubte. Auf dem Hintern rutschte Liam zur Sohle des Grabens hinunter und spähte durch die Röhre; er hielt den Atem an, ob nicht auf der anderen Seite etwa Maschendraht gespannt wäre oder ein anderes Hindernis den Durchgang versperrte. Er sah den runden Lichtfleck der jenseitigen Mündung, aber von hier aus war es unmöglich, zu sagen, ob dort nicht ein Gitter war. Er überlegte kurz, ob er nicht umkehren und die Taschenlampe holen sollte, doch nach einem Blick auf seine Uhr stürzte er sich entschlossen in die Dunkelheit. Vielfache Echos hallten, während er sich voranarbeitete. Zuerst versuchte er, die Füße rechts und links von dem Rinnsal aufzusetzen, damit sie trocken blieben, doch es war einfach zu eng
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hier. Gewittergüsse hatten Äste und Berge von Schlick hier abgelagert. Bald waren seine Hose und sogar die Ärmel seiner Jacke durchweicht. Zum ersten Mal in seinem Leben war Liam froh darüber, dass er klein war - ein größerer Junge hätte die ganze Strecke auf den Knien zurücklegen müssen. Er konnte noch irgendwie gehen, doch schmerzten Rücken und Beine, als er am anderen Ende angekommen war. Tatsächlich, er war jenseits des Zauns. Über sich sah er die Silhouette seines Mofas gegen den Maschendraht. Härter hatte Liam noch nie in seinem Leben gearbeitet. Doch gegen sechs Uhr abends stand er nicht weit von der Stelle, wo er seine Rast gemacht hatte, neben dem Gebüsch am Rand des Grabens; er hatte es geschafft: Das Mofa, sein ganzes Gepäck hatte er durch die Röhre getragen, die Böschung hochgestemmt und das Mofa wieder zusammengeschraubt. Fünfmal hatte er den Kanal durchquert, viermal war er die schlüpfrige Böschung hochgeklettert. Er war durchnäßt, schmutzig und so erschöpft, wie er es noch nie in seinem Leben gewesen war. Alles tat ihm weh. Aber er fühlte noch etwas anderes, ein Gefühl, das er genausowenig kannte wie diese äußerste Erschöpfung: eine unbändige Freude über seine Leistung. Er hatte ein schwieriges Problem gemeistert, so wie er auch gewohnt war, Mathematikaufgaben oder Schachprobleme zu lösen, aber die unbändige Freude rührte daher, dass er heute nicht nur seine geistigen Fähigkeiten, sondern auch seinen Körper einsetzen musste. Seine Leistung hatte ihn dem Tod näher gebracht, aber das spielte keine Rolle. Er fühlte sich phantastisch, so müde er auch war. Aber mehr blieb ihm heute nicht zu tun. Die Luft war kühl geworden, und während Liam stand und mit prüfendem Blick die Gegend erkundete, schwebten einige Schneeflocken aus dem rasch dunkel werdenden Himmel. Liam ließ das Mofa, wo es war, und warf sich den Rucksack über, schulterte die Packtaschen, nahm den Schlafsack unter den Arm und machte sich mühsam auf den Weg, durch den verwilderten Garten zur Hintertür des nächsten Hauses. Es war nicht nötig, die Tür aufzubrechen; sie war unverschlossen - er brauchte nur den Türknopf zu drehen, schon war er im Haus. Er tastete sich bis in ein Zimmer, wo es einen Teppichboden gab, und ließ sein Gepäck zu Boden gleiten. Es war hier drinnen nicht wärmer als draußen, aber Liam war dankbar, Wind und Schnee entronnen zu sein. So schnell er konnte, entrollte er den
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Schlafsack auf dem Teppichboden, suchte tastend seinen Trainingsanzug aus dem Rucksack hervor und riß sich die nassen Kleider vom Leib. Es war nicht leicht, den Trainingsanzug und die trockenen Socken überzuziehen, denn er zitterte entsetzlich. Er kroch in den Schlafsack, bevor seine Finger noch den Reißverschluss gefunden und geschlossen hatten, war er eingeschlafen. Meine Gafr trat mit mir in Verbindung. Sie war neugierig, was ich über die Beziehung zwischen dem Jungen Jeff Carpenter und dem anderen Jungen, Liam O'Hara dachte. War es eine Beziehung, die mit der unseren zu vergleichen war? Oder vielleicht mit der zwischen Hobb und Hobb? Oder zwischen Eltern und Kind bei den Menschen - oder war es eine sexuelle Beziehung? Oder gab es noch eine andere Möglichkeit? Sie wollte wissen, welcher Art diese Beziehung war, dass Jeffs Tod auch in Liam den Wunsch zu sterben hervorrufen konnte - wenn die Befürchtungen von Jeffs Vater zutrafen. Meine Antwort war sicher nicht sehr ergiebig. Ich übermittelte ihr, was ich wusste - auf Grund eigener Beobachtungen und weil Jeffs Vater, Terry Carpenter, mir einiges berichtet hatte: dass sich die beiden Jungen von Geburt an außerordentlich nahegestanden hatten, dass überhaupt die Menschen häufig Beziehungen eingingen, die nicht durch Blutsverwandtschaft oder sexuelle Anziehung begründet waren. Sogar ein solches Phänomen wie eine Fußballmannschaft könnte in gewissen Menschen so starke Gefühle auslösen, dass sie bereit waren, Menschen zu töten, die sich an eine andere Mannschaft gebunden fühlten. Ich sagte ihr, dass ich die Bindung zwischen Jeff und Liam als eine von vielen Möglichkeiten der Beziehungen unter den Menschen betrachte. Das Wort >Liebe<, das man für Bindungen verschiedener Art benutzte, hatte eine so große Bedeutung, dass es sich nicht eignete, die Besonderheit der Beziehung zwischen den beiden Jungen zu beschreiben - während das Wort >Freundschaft< in gewisser Weise zu schwach war. Dass es sich um eine sehr starke Bindung handelte, war offensichtlich, denn sonst hätte Liam nicht den Wunsch zu sterben gehabt, noch dazu auf dieselbe Weise wie Jeff. Es war eine Verzweiflungstat, als hätte ein Hobb seine Gafr durch den Tod verloren. Ich erinnerte meine Herrin daran, was Belfrey berichtet hatte - dass einige der in England ausgesetzten Meuterer aus
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Verzweiflung darüber starben, dass sie vermeintlich auf immer von ihren Gafr getrennt waren, weil sie glaubten, dass das Schiff nicht zurückkehren würde. Meine Gafr sagte, dass sie das keineswegs vergessen hätte, dass sie deshalb ja frage, ob das Band zwischen den Jungen dem zwischen ihr und mir vergleichbar sei. Ich akzeptierte diese Rüge und sagte, dass es wohl Gemeinsamkeiten gäbe. Aber nur in diesem einen Punkt, denn bei den Menschen gebe es normalerweise keine Zuneigung zwischen Diener und Herr. Beispiele dafür fänden sich zwar in Überlieferung und Literatur, das hatte Belfrey herausgefunden, so etwa zwischen dem englischen Adligen Lord Peter Wimsey und seinem Diener Bunter, oder zwischen dem Hobbit Frodo und seinem Diener Sam Gamdschie. Doch scheint in allen diesen Fällen die Zuneigung nichts mit Sexualität oder Fortpflanzung zu tun zu haben. Tatsächlich ist es sogar in jenen Fällen, in denen Herren und Diener eine sexuelle Beziehung eingehen, so, dass die Nachkommen es sehr schwer haben, dass die Beziehung selbst mit großen Problemen belastet ist und nicht selten in Verzweiflung und Tod endet. Ob dieses Phänomen sich auf bestimmte Länder oder Kulturen beschränkt, hat Belfrey nicht herausgefunden. Er hat auch Material über Sklaven gefunden, von denen man sexuelle Gefälligkeiten erwartete. Es scheint aber, dass hier zwischen Herr und Sklave keinerlei Bindung besteht, dass das sogar als psychologisch unmöglich angesehen wird. Doch habe ich selbst beobachtet, dass gerade bei verheirateten Paaren bis zu einem gewissen Grad eine Unterordnung wie zwischen Herr und Diener bestehen kann, wobei der Mann der Herr und die Frau die Dienerin ist - und das auch in jenen Fällen, in denen das emotionale Band zwischen den Partnern sehr stark ist. Worin nun genau der Unterschied zwischen Sklaverei und Ehe liegt, kann ich unmöglich sagen. Auf jeden Fall handelt es sich bei Jeff und Liam um völlig gleichberechtigte Partner, und Liam zumindest ist nicht homosexuell. Meine Herrin sagte recht ungeduldig, dass sie nicht Tatsachen von mir wünsche, sondern mein persönliches Urteil. Meine Meinung beispielsweise darüber, wie es hatte geschehen können, dass Belfrey und die anderen Rebellen ihre Bereitschaft zu dienen, die sie den Gafr schuldeten, mehrere Generationen lang auf primitive Bauern übertragen hatten. Ich sagte, dass Belfrey und die anderen wohl versucht hatten,
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ihre psychische Gesundheit zu bewahren und zu überleben, so gut sie konnten. Aber ich wusste auch, was meine Gafr als nächstes sagen würde: Dass dagegen nichts einzuwenden wäre, aber wie es denn käme, dass Belfrey und Saxifrey sich bei der Rückkehr des Schiffs versteckt gehalten hatten? Und schlimmer noch - ein weiterer Fall von Rebellion - dass Belfrey sich in den Dienst von Frank und Jenny Flintoft gestellt hatte. Und nicht nur das, er hielt sich auch bei der zweiten Landung versteckt und verletzte dann erneut seine Pflichten gegenüber den Gafr, indem er den Menschen ihre Existenz enthüllte. Und er tat dies, um die Flintofts zu schützen, denn er folgerte korrekt, dass wir ihnen ihr Wissen über die Gafr nehmen mussten. Was ich darüber denke? Ich fühlte mich sehr unbehaglich, was sie natürlich wusste. Ich wies daraufhin, dass Belfrey der Anführer der Meuterei gewesen war und man daraus schließen müsse, dass seine Fähigkeit, eine dauerhafte Beziehung einzugehen, gestört sei. Sie fragte, was denn von Godfreys Beziehung zu dieser Frau, Nancy Sandford, zu halten sein, die jetzt im Kälteschlaf liege? Ich konnte völlig aufrichtig antworten, dass ich darüber nichts wüßte, doch erkannte ich nun, worauf ihre Fragen hinausliefen, und aus meinem Unbehagen wurde Furcht. Meine Gafr verstärkte den Kontakt; so nahe waren wir uns jetzt, dass ich mich nur noch schwer konzentrieren konnte. Und wie ist es mit deiner Beziehung zu diesem Terry Capenter, fragte sie, der als junger Mann einen Hobb - bei dem es sich nur um dich handeln kann - zusammen mit diesem Liam in einem Zeitfenster sah, acht Planetenzyklen in der Zukunft - von heute an gerechnet? Meine Gafr weiß genau, dass es eine schwerwiegende Sache ist, in einem Zeitfenster gesehen zu werden. Sie weiß genau, dass man zu dem, der einen sieht, wie auch zu dem, mit dem man gesehen wird, in eine nähere Beziehung tritt - wenn es richtig ist, woran ich nicht zweifle, dass dieser Hobb in dem Schutzanzug ich selbst war. Es war eigentlich keine Frage, doch auf die Gefahr hin, dass ich ihr wiederum etwas sagte, was sie bereits wusste, gab ich ihr eine ehrliche Antwort: dass mich dieser Liam überaus interessierte, nicht nur, weil er mit mir zusammen in dem Zeitfenster erschienen war, sondern auch, weil mich die Art der Beziehung zu dem anderen Jungen aufs höchste neugierig machte. In Wahrheit, sagte meine Gafr, möchtest du eine solche Beziehung selbst erleben, auch wenn dir das noch nicht ganz klar geworden ist. Ich fühlte mich schwach und elend, denn ich verstand nun, dass
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sie recht hatte, und ich wusste nicht, was sie jetzt tun würde. Ganz bestimmt wünschte ich mir nicht, Belfreys Schicksal zu teilen. Sie dachte nach, aber sie ließ mich nicht los, während sie dachte, so dass ich hin- und hergerissen war zwischen Entzücken und Furcht. Schließlich sagte sie: Ich werde dich nicht daran hindern, noch werde ich Godfreys Gafr daran hindern, das Leben von Nancy Sandford zu retten - so lange, wie ihr beide das tut, was wir von euch verlangen, und alles berichtet, was ihr erfahrt. Wir müssen mehr darüber wissen; eure Anfälligkeit für Beziehungen zu den Menschen ist darum sehr nützlich. Aber hör mir zu, Humphrey Gavnl: Halte dir immer vor Augen, was Belfrey geschehen ist - dass er weder seine Gafr wiedersah noch die Flintofts, nachdem er zum Schiff zurückgebracht worden war. Wenn du mich nicht verlieren möchtest, wenn du nicht die Chance, dass wir beide uns fortpflanzen, vergeben möchtest - dann vergiß nie das Beispiel des verräterischen Belfreys. Sonst könnte es gut sein, dass ich dich mit eigenen Händen töte. Damit brach sie den Kontakt ab, und als ich wieder zu mir kam, war ich an Bord des Zubringerschiffs zurück zum Planeten. Liam erwachte, weil nicht weit vom Haus ein Hubschrauber kreiste. Das Geräusch wurde lauter, dann leiser, und ihm wurde bewußt, dass er es schon einige Zeit im Halbschlaf gehört haben musste. Er sah auf die Uhr: acht Minuten vor zehn. Unglaublich, er musste fünfzehn Stunden geschlafen haben. Er setzte sich auf, alles tat ihm weh, und er hatte entsetzlichen Hunger. Es war noch immer sehr kalt in dem Haus, aber wenigstens hell. Es war ein Wohnzimmer, nicht anders als Liam vermutet hatte. Er kroch aus dem Schlafsack und humpelte in Socken zu dem großen Fenster. Die Wolken am Himmel hatten sich verzogen, es lag kein Schnee. Erst jetzt wurde Liam klar, dass die wenigen Schneeflocken gestern abend die Vorboten eines späten Wintereinbruchs hätten sein können, eines späten Schneesturms, wie es sie hier im März öfter gab - dann wäre seine Reise hier zu Ende gewesen. Jetzt musste er sich anziehen, dann das Mofa an ein sonniges Plätzchen bringen und die Sonnenzellen ausklappen. Während die Batterie aufgeladen wurde, könnte er eine Route ausfindig machen, die ihn zurück zur Bundesstraße l führte, dort, wo sie nicht mehr aufgerissen war. Außerdem musste er pinkeln und essen. Sich anzuziehen war gar nicht so einfach. Die Kleider waren
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immer noch naß, auch seine Jacke. Er hatte außer dem Trainingsanzug, in dem er geschlafen hatte, noch eine Hose dabei, auch zwei Pullover - ein größeres Problem waren die Schuhe: Die Turnschuhe, die er zum Mofafahren getragen hatte, hatten die Plackerei in dem Kanalrohr nicht überstanden. Die einzigen Schuhe, die er noch mitgenommen hatte, waren Wanderstiefel, für den Fall, dass das Mofa kaputtging oder die Straßen unpassierbar waren. Doch zum Mofafahren waren sie recht ungeeignet. Er würde heute allerdings vermutlich öfter zu Fuß als auf dem Mofa unterwegs sein. Dass der Parka naß war, das war sehr viel unangenehmer. Er würde frieren. Zu Hause hätte er das Ding in den Wäschetrockner gesteckt, und nach einer Stunde hätte er ihn trocken wieder herausnehmen können. Aber selbst wenn es in diesem Haus einen Trockner gab, dann war es zweifelhaft, ob er nach zweieinhalb Jahren, die er nun nicht gewartet worden war, noch funktionierte. Hier, am Rand der Gefahrenzone, hatten die Menschen Zeit gehabt, ihre Habe in Möbelwagen zu packen und mitzunehmen. In dem Wohnzimmer, in dem er die Nacht verbracht hatte, gab es nichts als einen grünen Teppichboden, leere Bücherregale zu beiden Seiten des Kamins und geöffnete Vorhänge an den Fenstern. Das einzige Anzeichen dafür, dass man in größter Eile ausgezogen war, waren Gerumpel und Abfall, die herumlagen. Von der Küche führte eine Tür in eine Art Bügelzimmer, aber es war leer, und nur Drähte und Kabel ragten aus den Wänden. Er hätte die Jacke ausziehen und wie das übrige Gepäck durch das Kanalrohr tragen müssen - müßige Gedanken. Liam zuckte mit den Achseln, zog die beiden Pullover über das Sweatshirt, schlüpfte in die trockene Cordhose, schnürte die Stiefel und verließ das Haus durch die Hintertür, die aus der Küche in den Garten führte. Es war kalt, kälter als gestern. Der Wind fuhr schneidend durch seine Pullover. Liam blieb nicht länger draußen, als zum Pinkeln nötig war, dann lief er ins Haus und holte aus der Packtasche Handschuhe und Wollmütze. Rasch lief er zu seinem Mofa drüben beim Graben, er musste es noch ein Stück über die Böschung heben, was mit seinen schmerzenden, steifen Gliedern sehr unangenehm war; er horchte, ob nicht etwa ein Auto die Straße entlangkam, dann rannte er damit durch den Garten zum Haus. Er hatte ein sonniges Plätzchen ausgesucht, das man von der Straße nicht einsehen konnte, und eben die Sonnenzellen ausgeklappt, die nun wie kleine Flügel rechts und links vom
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Rahmen ragten, als er wieder den Hubschrauber hörte - und diesmal fiel ihm ein, dass er womöglich nach ihm suchte. Das Herz schlug ihm bis zum Halse, als er die Sonnenzellen einklappte und schnell das Mofa über die wenigen Stufen in die Küche trug. Der Lärm wurde ohrenbetäubend laut. Ob sie mit Suchgeräten ausgerüstet waren? Wussten sie bereits, dass er hier war? Trotz der Eiseskälte in dem Haus brach Liam der Schweiß aus - aber der Hubschrauber landete nicht, er entfernte sich wieder. Langsam verebbte das Geräusch. Als nichts mehr zu hören war und Liams Herz wieder normal schlug, da wurde ihm klar, dass er keine Zeit mehr verlieren durfte. Er musste sich auf den Weg machen, musste rasch entscheiden, wie es weitergehen sollte. Er hatte Angst und außerdem Hunger. Auf dem staubigen Teppichboden, wo die Sonne durch das große Fenster einen hellen Fleck gezeichnet hatte, verschlang er drei Brote und drei Äpfel, ohne ein einziges Mal innezuhalten, und trank mindestens einen halben Liter von seiner Limonade. Er bereute, dass er nur den einen Karton gekauft hatte; aber er hatte ja noch den Wassersack in der Packtasche. Er saß im hellen Sonnenschein vor dem Südfenster, mit Blick zu dem Graben, durch den er gekommen war. Die Vorhänge waren weit zurückgezogen, der Teppich unter ihm ziemlich ausgebleicht. Er starrte darauf, während er ein Käsebrot zum Mund führte, und hatte eine Idee - schon die zweite brillante Idee in zwei Tagen. Er konnte unmöglich das Mofa draußen aufladen, die Sonnenzellen glitzerten im Licht, er hätte genausogut ein Signalfeuer für den Helikopter anzünden können. Aber hier, wo die Sonne durch das Fenster schien, da konnte er die Sonnenzellen ausbreiten. Die Tomaten- und Broccolipflanzen, die seine Mutter jedes Frühjahr auf der Fensterbank züchtete, wuchsen kümmerlich, aber sie wuchsen. Die Batterie würde nicht so leicht aufgeladen werden wie draußen im direkten Sonnenlicht, aber etwas würde es schon bringen. Liam stand auf und brachte das Mofa zum Fenster. Er überlegte, schob es hin und her, um eine Position zu finden, in der es möglichst lange von der Sonne beschienen wurde. Ermutigt von dem Gedanken, dass er wider Erwarten ein weiteres Problem gelöst hatte, machte er sich daran, die Schränke des Hauses zu durchsuchen. Vielleicht hatten sie einige Kleider zurückgelassen, die das Einpacken nicht lohnten. Der Garderobenschrank im Flur war leer, aber in einem Schlafzimmerschrank fand er ein mottenzerfressenes Flanellhemd und einen uralten Trenchcoat. Beides war viel zu groß, aber er konnte nicht wählerisch sein; er
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schnitt das untere Drittel des Trenchcoats ab und zog beides an. Die nassen Kleidungsstücke ließ er im Wohnzimmer liegen. Er nahm den Kompaß aus der Packtasche; jetzt war er so weit. Der Hubschrauber war nicht wieder zurückgekommen. Liam schlüpfte durch die Hintertür. Er entfernte sich im rechten Winkel von der Straße hinter dem Zaun, bis er eine Baumgruppe erreichte, dann ließ er den Graben hinter sich und hielt sich genau nach Westen. Auf seiner Karte konnte er sehen, dass es zwar weiter östlich eine Straße gab, die in weitem Bogen nach Norden zur Bundesstraße l führte, aber er hatte tags zuvor bemerkt, dass sie vom Zaun an aufgerissen war, so weit das Auge reichte. Es hatte keinen Sinn, es dort zu versuchen. Er war erst einige hundert Meter durch das Wäldchen gegangen, als wieder eine Reihe von Gärten und Häusern kam. Über eine Grundstückseinfahrt erreichte er eine Straße, die von Nordosten nach Südwesten, also parallel zur Bundesstraße l, verlief. Zu seiner Freude war die Fahrbahn unversehrt. Das konnte natürlich auch heißen, dass diese Straße nirgendwo hinführte - aber vielleicht hatte man sich nicht die Mühe gemacht, auch die kleinen Landstraßen unpassierbar zu machen. Er würde ihr jedenfalls einige Zeit folgen, um zu sehen, wohin sie führte. Bald befielen ihn schlechte Vorahnungen, als die Straße einen weiten Bogen nach Südosten machte, doch nach einer Weile schlug sie wieder die alte Richtung ein. Anderthalb Kilometer ging er nun. Eine Menge Seitenstraßen zweigten rechts und links ab, doch stand meistens ein Schild da: Sackgasse. Schließlich teilte sich die Straße, und er nahm die nördlichere, die denselben Namen trug wie zuvor: Reckord Road. Er schöpfte wieder Hoffnung, doch als er überlegte, ob er nicht zurückgehen und das Mofa holen sollte, da bemerkte er weit vor sich eine Art Straßensperre. Es war wirklich entmutigend: So unglaublich es schien, aber vor ihm lag ein weiterer Maschendrahtzaun, bewehrt mit drei Reihen Stacheldraht. Und auch dieser Zaun erstreckte sich rechts und links der Straße. Einige Minuten lang fragte sich der verzweifelte Liam, ob er etwa die Richtung verloren hatte und nun wieder vor jenem Zaun stand, den er gestern so mühsam überwinden musste. Ängstlich eilte er voran. Im Zaun war ein Tor mit zwei Flügeln, an dem ein großes Schild hing. Liam begann zu laufen, bis er nahe genug war, um die Schrift lesen zu können: ATKISSON DEPOT -ZUTRITT VERBOTEN. Es war ein chemisches Depot der Army. Das Tor war sorgfältig verschlossen und mit drei riesigen Vorhängeschlössern gesichert.
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Dahinter lief die Straße schnurgerade weiter. Liam stand in seinen abgerissenen Kleidern vor dem Tor und musste sich eingestehen, dass er, selbst wenn er mit viel Glück einen Weg unter diesem Zaun hindurch finden sollte, einfach nicht mehr die Kraft und Ausdauer hatte, eine solche Schinderei auf sich zu nehmen. Er musste umkehren und die erste Seitenstraße der Reckord Road nehmen, die nach Norden führte und nicht das Hinweisschild >Sackgasse< trug. Müde und abgekämpft machte er kehrt und trottete den Weg zurück, den er gekommen war. An der Einmündung der Seitenstraße zögerte er - es hatte keinen Sinn, die letzte Möglichkeit, die noch blieb, erst noch erkunden zu wollen. Wenn ihn diese Straße nicht dahin führte, wohin er wollte, dann würde er nirgendwo hinkommen, zumindest nicht auf Rädern und von einem Motor getrieben. Eisig blies ihm der Wind ins Gesicht. Der Himmel war übersät mit großen Cumuluswolken, die die Sonne verdeckten. Liam verkroch sich tiefer in den abgeschnittenen Trenchcoat und beugte sich etwas nach vorne, gegen den Wind. Und plötzlich hörte er das Geknatter des sich nähernden Hubschraubers. Liam machte ein paar Sätze über den Vorgarten des nächsten Hauses und drückte sich in die schmale Lücke zwischen der Ziegelmauer und einem riesigen Rhododendron. Zweige schlugen ihm ins Gesicht und rissen ihm die Mütze vom Kopf. Die Maschine flog so tief vorüber, dass der Lärm fast nicht zu ertragen war; deutlich konnte man auch zwei Gestalten darin sitzen sehen. Als der Lärm wieder verklungen war, zog Liam seine Mütze aus dem Gebüsch und lief so schnell davon, wie es in seinen Wanderstiefeln möglich war. Er schwitzte bald trotz der Kälte - es war die Anstrengung, aber auch Angst. Als er das Haus, von dem er aufgebrochen war, fast erreicht hatte, durchzuckte ihn ein neuer Schreck: Aus welchem dieser Gärten war er denn in die Reckord Road eingebogen? Er konnte sich absolut nicht erinnern, wie er ausgesehen hatte, und er verlor einige Zeit, bis er nach einigem nervösen Suchen die richtige Einfahrt gefunden hatte. Zurück in >seinem< Haus musste er feststellen, dass das Mofa halb im Schatten stand. Doch war die Batterie einigermaßen aufgeladen, und er begann wieder zu hoffen - das erste Mal, seit er jenen Zaun auf der Reckord Road erblickt hatte. Rasch bereitete er alles vor, um aufzubrechen; die nassen Kleider würde er zurücklassen, mit Ausnahme der Jacke, die er vielleicht auf
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irgendeine Weise trocken bekommen konnte. Im Stehen aß er noch sein letztes Brot und leerte den Limonadenkarton. Es ging ihm sehr gegen die Natur, etwas herumliegen zu lassen, so wie die Astronauten ihren Müll auf dem Mond zurückzulassen pflegten. Also sammelte er Papier und Limonadenkarton auf, zerquetschte ihn und steckte alles in die Sandwichtüte, die er an die Küchentür lehnte. Er opferte auch einige Minuten, um die nasse Hose an einen Haken zu hängen, die Socken über einen Türknauf, und für sein nasses Hemd benutzte er den Bügel, auf dem das Flanellhemd im Schrank gehangen hatte. Er trug seine Sachen nach draußen und schloss sorgfältig die Tür. Zuerst das Mofa. Die Räder waren mit zwei Handgriffen abmontiert; dann schulterte Liam den Rahmen, der nicht schwer, aber recht sperrig war. Mit einem Ohr lauschte er stets, ob nicht etwa der Hubschrauber zurückkehrte, dann trug er seine Last durch Gärten und Wäldchen bis hinüber zur Reckord Road. Er verstaute sie unter dem Vordach eines Hauses und ging zurück, um auch die anderen Sachen zu holen. Nach einer halben Stunde war das Mofa wieder startklar, das Gepäck verstaut, und Liam konnte sich auf den Wegmachen. Wieder hatte er Glück. Nach einigem Hin und Her durch die unbekannten Straßen stand er wieder vor dem Zaun des Armeedepots und wäre fast verzweifelt. Aber dieses Mal konnte er durch die kahlen Bäume hindurch zur Linken Häuser sehen, und eine kurze Erkundungsexpedition zu Fuß ergab, dass der Zaun nur einige hundert Meter nördlich rechtwinklig nach Osten abbog. Er pirschte durch das schmale Wäldchen zwischen dem Zaun und den Häusern und kam schließlich zu einer Straße, die die Fortsetzung der Reckord Road sein musste; sie verließ das Depot durch ein weiteres Tor, und wenn er sich gegen den Zaun drückte und sie zurückverfolgte, dann erkannte er weit entfernt auf der anderen Seite das Tor, das ihn heute morgen aufgehalten hatte. Zu seinem Mofa war es dagegen nur ein Katzensprung; er würde wieder einmal Stück für Stück seine Utensilien durch die Gegend tragen und sich dann wieder auf den Weg machen. Er hörte den Hubschrauber, kaum dass er diese Arbeit erledigt hatte und wieder im Sattel saß; zur Belohnung hatte er sich kurze Zeit gestattet, den Motor einzuschalten. Liam war jetzt sehr müde, es hätte seine ganze Kraft gebraucht, um vom Mofa zu springen und es von der Straße in den Schutz von Bäumen oder zwischen die Häuser zu schieben. Um genau zu sein - alles, was schnell gehen musste, hätte seine ganze Kraft gefordert. Er hatte schon
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seinen ganzen Wochenvorrat an Adrenalin verbraucht, um Mofa und Gepäck um den Zaun des Depots herum zu tragen. Ein Glück, sagte er sich, dass es noch so früh im Jahr war; die jungen Ranken der Beerensträucher hätten ihm Kleider und Haut zerfetzt, die vertrockneten alten Ranken dagegen konnte man niedertrampeln. Von nun an ging alles viel einfacher. Das erste Mal, als eine Abzweigung nach links zur Bundesstraße l führte, musste er die Erfahrung machen, dass sie noch immer unpassierbar war; aber die nächste Straße, die nach links abbog, war die Staatsstraße 24, die direkte Verbindung nach Bel Air, die die Bundesstraße kreuzte und so tief in der Sperrzone hatte man den Versuch aufgegeben, die Leute davon abzuhalten, sich selbst umzubringen. Die Straße war intakt, Liam hatte es geschafft. Es war spät, und er war müde und auch durchfroren bis auf die Knochen. Am besten würde er sich einen Platz zum Übernachten suchen. Von morgen an würde er den Schutzanzug tragen müssen und jedesmal, wenn er aß oder trank oder sich erleichterte, musste er damit rechnen, eine nicht ungefährliche Strahlendosis aufzunehmen, aber er hatte nun wohl die größten Hürden auf seinem Weg überwunden - einmal vorausgesetzt, dass die Brücke über den Conowingo-Damm intakt war. Jetzt ging es eigentlich nur noch darum, nicht zu krank zu werden, bis er sein Ziel erreicht hatte. Wenn er noch auf dieser Seite des Susquehanna feststellen musste, dass er es wohl nicht schaffte, dann gab es immer noch die Möglichkeit, die Bundesstraße 222 hinaufzufahren, dorthin, wo sich Jeffs Bus befunden hatte. Aber im Moment war er zuversichtlich, da er es so weit geschafft hatte, dass er auch den Rest der Strecke noch bewältigen würde. Liam lenkte das Mofa durch einige Nebenstraßen, suchte sich aufs Geratewohl ein Haus aus und rüttelte an der Tür. Sie war verschlossen, aber er ging die Straße entlang, bis einer der Türgriffe mit einem Klicken nachgab. Bel Air war offensichtlich recht hastig geräumt worden. In diesem Haus war es nicht weniger kalt als in seiner gestrigen Bleibe, aber es gab noch Möbel hier, und es roch durchdringend nach Schimmel. Die Eingangstür war ebenerdig, er konnte das Mofa samt Gepäck hereinschieben. Neben der Küche gab es eine fensterlose Kammer mit Feldbett und Matratze, an deren Wänden Kisten und Konservendosen und alle möglichen Dinge gestapelt waren. Ein Raum, der nicht an einer Außenmauer lag, war wohl weniger dem radioaktiven Staub ausgesetzt, dachte Liam und beschloss, hier zu schlafen. Er schob auch das Mofa herein. In fast völliger Dunkelheit saß er auf dem
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Bett, packte seine Sachen aus, öffnete eine Dose Bohnen und aß gleich mehrere Äpfel auf einmal. Dann schraubte er den Wassersack auf und nahm einen langen Schluck von dem abgestandenen Leitungswasser, das er von zu Hause mitgebracht hatte. Der Wasserhahn, an dem er den Sack gefüllt hatte, musste eine Million Kilometer entfernt sein, so kam es Liam vor. Zum ersten Mal seit er aufgebrochen war, dachte er an seine Eltern, an Carrie und Matt und an Terry. Zum ersten Mal kam ihm auch der Zettel in den Sinn, den er zurückgelassen hatte: >Ich muss es tun. Versucht, es nicht so schwerzunehmen.< Das war nicht genug, damit sie ihn aufhalten konnten, doch genug, damit sie verstanden, wenn sie erst wussten, was er getan hatte. Die blanke Matratze roch unangenehm, aber es schienen keine Mäusenester darin zu sein. Vielleicht hatte die Strahlung sie umgebracht. Nachdenklich nahm Liam den Schlafsack vom Mofa und breitete ihn über das Bett aus. Er zog sich aus und schlüpfte wieder in den Trainingsanzug. Seine Jacke, die einen Tag lang über den Packtaschen ausgebreitet gelegen hatte, war kaum trockener als zuvor und begann zu riechen; er warf sie hinüber in die Küche und beschloss mit einem Achselzucken, sie morgen hier zurückzulassen. Bald würden Begriffe wie kalt, hungrig und müde keine Rolle mehr spielen. Liam erwachte am nächsten Morgen, aufgeschreckt durch einen wirren Traum von Jeff, doch hatte er in dem Augenblick, als er die Augen öffnete, schon alles vergessen. Er blieb ruhig liegen, versuchte sich zu erinnern, aber alles, was von dem Traum geblieben war, war ein Gefühl von Verwirrung und Ärger und Jeffs Stimme, die sagte: »Versuch bloß nicht, zu ...« Was versuchen? Er musste es wissen! Aber sein Gedächtnis ließ ihn im Stich, nach einer Weile gab er es auf und kroch aus dem Schlafsack. Heute war der Tag, an dem er den Susquehanna überqueren würde. Gegen elf Uhr fuhr Liam in seinem nagelneuen, viel zu großen Schutzanzug mit Stiefeln, Handschuhen und Helm mit einer Atemschutzmaske, die in einem Mundstück wie ein Schnorchel endete, auf seinem frisch aufgeladenen Solarmofa die Bundesstraße l entlang. Er fuhr langsam, um die Batterie zu schonen, und weil zum ersten Mal, seit er Baltimore verlassen hatte, die Straße durch einen Wald führte und tote Zweige und Äste die Fahrbahn bedeckten. Ein Zweig konnte in die Speichen eines Rads geraten und ihn stürzen lassen, wenn er nicht aufpaßte. Wieder hatte er Glück gehabt; es war ein strahlender Morgen
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gewesen, und die Batterie konnte anderthalb Stunden lang den Sonnenstrom in sich aufnehmen, während er herauszufinden versuchte, wie man den Schutzanzug anlegte. Ohne das dicke Polster der Jacke darunter war das Ding noch klobiger, und die Bleiabschirmungen schienen ihn in die Knie zwingen zu wollen. Das Mofa mit den Pedalen fortzubewegen war einfach unmöglich; er musste sehen, wie weit er bei schonender Fahrweise kam, dann würde er es stehen lassen und sein Glück zu Fuß versuchen - bis er umfiel. Vielleicht wäre die Bundesstraße 222 doch die bessere Wahl, aber das würde man sehen, wenn er erst einmal den Conowingo-Damm erreicht hatte. Da es nun keine Hindernisse mehr zu überwinden gab, da es nur noch darum ging, mit der bleigefütterten Hose auf dem Mofa das Gleichgewicht zu halten, begann Liam nachzudenken. Und seine Gedanken kreisten um ein Thema, das er lange Zeit beharrlich ignoriert hatte: Jeff. Er dachte an Jeff, ohne beim leisesten Versuch einer Annäherung zurückzuzucken oder vor Schreck zu erstarren. Er ließ verschüttete Erinnerungen wieder lebendig werden, rief sich den vergessenen Traum noch einmal ins Gedächtnis, bis das Verdrängte zutage kam und er den Freund vor sich zu sehen glaubte. Jeff hätte diese Tour gefallen. Mit Jeff zusammen wäre ein aufregendes Abenteuer daraus geworden, kein Gedanke an diese mühselige Plackerei, die er nun zum Glück hinter sich hatte. Es war nur recht, wenn er sich jetzt erinnerte, wenn er die Vergangenheit noch einmal aufleben ließ; denn alle Erinnerungen, alle Gefühle für Jeff, die er in sich trug, würden in ein paar Tagen aufgehört haben zu existieren. Bilder tauchten vor ihm auf: Jeff neben ihm während der Meditationsstunde, wie er aufrecht dasaß, die Augen geschlossen, die rechte Hand mit der Handfläche nach oben auf die linke gelegt; Liam dagegen mühte sich, wand sich unruhig und schaute verstohlen nach der Uhr. Jeff in dem weinroten Blazer der Chorknaben, das dichte dunkle Haar sauber gekämmt und gescheitelt, wie er auf der hellerleuchteten Bühne nach vorn trat, um sein Solo zu beginnen. Jeff vor dem Blockhaus in den Poconos, der ihm den Berg hinauf nachjagte, der versuchte, mehr Blaubeeren zu pflücken als er, der ihn immer weiter jagte, als hätte er eine Chance, ihn einzuholen und als erster wieder beim Blockhaus zu sein das war in jenem letzten gemeinsamen Sommer, als Jeff zwölf und er beinahe zwölf war. Jeff wütend, im Garten des Hauses in Haverford, der sagte: »Warum überlässt sie das nicht mir? Was hat sie bloß gegen dich, Mensch!« Und: »Ist mir egal, was sie sagt und
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tut. Ich werde mit dir Zusammensein, sooft es mir gefällt. Dad wird ihr nicht erlauben, sich da einzumischen.« Aber diese Erinnerungen hatte Liam gemieden. Anders als die Schleusen des Conowingo-Damms waren die Schleusen seines Gedächtnisses immer fest geschlossen gewesen; sie jetzt zu öffnen war gefährlich - vielleicht schwemmte die aufgestaute Flut alles hinweg. Es war Liam ein wenig seltsam zumute gewesen, und einen Augenblick später schon traf es ihn wie der Hieb einer Riesenfaust, wie eine Lawine überrollte ihn die Angst - mehr Angst, als es in einem Menschen überhaupt geben konnte. Er schrie auf. Sein Gesicht zuckte, verzerrte sich, und aus seinen Augen, obwohl er die Lider fest zusammenzupressen versuchte, ergoß sich ein Strom von Tränen. Ein wenig Aufmerksamkeit war noch übriggeblieben, dass er sich sagen konnte, er müsse den Motor abschalten und anhalten, aber da spürte er schon, wie das Vorderrad gegen ein Hindernis stieß und wie der Lenker ihm aus der Hand gerissen wurde und er im hohen Bogen auf die Straße flog. Er hätte jedoch nicht sagen können, ob er nun mit dem Mofa gestürzt war oder ob ihn schlicht der Schmerz um Jeff auf die Straße geschleudert hatte. Er weinte und schrie und vergaß, wie man durch die Atemmaske atmen musste. Was hatte er nicht auf sich genommen, um diesen Schmerz niemals fühlen zu müssen! Das war doch der Grund, warum er sich entschlossen hatte, zu sterben - und nun das, wo er auf dem besten Weg war, seinen Entschluss in die Tat umzusetzen. Das war einfach nicht fair. Er fühlte sich, als müsste er auf der Stelle sterben. In den ersten zwölf Jahren hatte sein Leben nicht ihm allein gehört, es war untrennbar mit Jeff verbunden – und Jeff war die wichtigste Person in seinem Leben, nicht etwa Vater oder Mutter, seine Schwestern oder Carrie oder Jeffs Vater. Es war Jeff, den er am meisten brauchte. Der Mensch, der am wenigsten von allen hätte sterben dürfen - und wenn er auch den Grund nicht kannte, so wusste er doch, dass er ohne ihn nicht weiterleben wollte. Als er nach einer langen Weile wieder aufs Mofa stieg, dann nur, weil er den Hubschrauber hörte. Die Sichtscheibe seines Helms war so beschlagen, dass er nicht einmal sehen konnte. Es war aber ausgeschlossen, dass er den Helm öffnete, um sich die Nase zu putzen und die Sichtscheibe abzureiben; so nahe bei Peach Bottom musste die Strahlung recht intensiv sein - und schließlich wollte er es doch bis zum Park schaffen. Aber er konnte nichts sehen; es ging nicht anders, er musste
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einen Handschuh ausziehen, den Helmverschluss öffnen, dass er mit der bloßen Hand hineinfassen und mit dem Ärmel des Sweatshirts, das er aus der Packtasche genommen hatte, Helm und Gesicht trockenreiben konnte. Gleich nachdem er den Helm wieder geschlossen hatte, beschlug die Sichtscheibe von neuem, aber zumindest sah er genug, um das Mofa aufheben und inspizieren zu können. Er zog die Gurte von Packtasche und Schlafsack wieder fest, und die ganze Zeit über war das Hubschraubergeräusch zu hören. Dann aber war es wieder still. Das Mofa schien unbeschädigt zu sein - das war gut so, denn er hätte es unmöglich reparieren können. So schnell es ging, schwang sich Liam in den Sattel und fuhr weiter. Er zitterte, sein Kopf schmerzte und fühlte sich an, als würde er anschwellen. Dass der Kummer um Jeff ihn hatte stürzen lassen, war ihm eine Lehre gewesen und bestärkte ihn in seinem Entschluss: An Jeff zu denken war ein Fehler. Er würde es vermeiden. Aber die Erinnerungen an Jeff ließen sich nicht verscheuchen. Immer wieder tauchten vor seinem inneren Auge Bilder auf - als hätte er vorhin unvorsichtigerweise eine Tür geöffnet. Es war schrecklich. Nicht einmal damals, als aus der Klinik die Nachricht von Jeffs Tod gekommen war, hatte Liam sich so elend gefühlt. Nach einer Weile begann er sich zu fragen, ob dieses Gefühl von Zerschlagenheit vielleicht das erste Symptom der Strahlenkrankheit war, und das Erschrecken, das ihn dabei durchzuckte, überraschte ihn sehr: Wieso fürchtete er das, weswegen er diese lange und mühsame Reise gemacht hatte? Verwirrt und elend fuhr er weiter; es war Nachmittag, und der Wind trieb große Wolken über den Himmel. Schließlich kam ein Wegweiser in Sicht, auf dem zu lesen war: CONOWINGO 6. Wenn es den Damm mit der Brücke noch gab, dann hatte er zumindest sein Ausweichziel so gut wie erreicht - und konnte er nicht über den Fluß, dann würde er eben auf dieser Seite bleiben und zufrieden den Schutzanzug ausziehen, in dem Bewußtsein, dass er seinem Ziel so nahe wie irgend möglich gekommen war. Die letzte offene Frage wäre bald beantwortet, und nichts würde es mehr geben, über das er sich jemals den Kopf zerbrechen müsste. Es gab die Brücke, und baufällig sah sie keinesfalls aus; Liam war um eine weite Biegung gekommen, und nun lag der Damm vor ihm, wie ein langes, dickes Lineal, das man über den breiten Fluß gelegt hatte. Vor dem Reaktorunfall in Peach Bottom, als die Turbinen im Damm noch Strom erzeugten, da staute sich
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flußaufwärts das Wasser, und auf der anderen Seite des Dammes blieb nur ein flaches Rinnsal für das geröllübersäte Flußbett. Nun führte der Fluß zu beiden Seiten der Brücke gleich viel Wasser, und sie war wirklich nur eine Brücke, nichts weiter. Wie lange sie noch eine Brücke sein würde, war eine andere Frage, es hing davon ab, für wie wichtig die Behörden diese Brücke hielten. Weiter südlich, nicht weit von der Mündung des Susquehanna, gab es die Brücke für die Bundesstraße 95, über die Jeffs Bus gefahren war; sie wurde sorgfältig instand gehalten, nicht anders als die Amtrak-Brücke. Aber diese Brücke hier war sicher viel stärker radioaktiv verseucht, auch wenn der Fluß inzwischen schon sauberer geworden war; man hatte so rasch wie möglich auch die Kühlwassereinlässe von Peach Bottom versiegelt. Liam hatte alles das irgendwann von Terry aufgeschnappt, ohne groß darauf zu achten; wie sollte er wissen, dass es für ihn eines Tages von Bedeutung sein sollte. Liam fuhr den Hügel hinab und näherte sich dem Damm. Der breite Fluß schimmerte blaßblau unter dem winterlichen Himmel. Liam schaltete den Motor ein, obwohl die Batterie schon ziemlich leer war, und fuhr auf die Brücke. Drüben würde er kurz anhalten, um sie aufzuladen, denn hin und wieder zeigte sich die Sonne zwischen den Wolken. Zuerst war zu seiner Rechten nichts als eine rostige Metallwand, das Gehäuse, das die Maschinerie des Kraftwerks barg und das die Sicht flußabwärts blockierte. Doch war die Metallwand in der Mitte der Brücke zu Ende, und vor ihm tat sich das Panorama über den Fluß auf. Der Wind blies, als wollte er ihn umwerfen, und der Helm beschränkte die Sicht, aber was er sah, war überwältigend - wenn da nur nicht dieser Gedanke gewesen wäre, ein Gedanke dieser Art, wie sie ihn schon den ganzen Nachmittag quälten: Mensch, wenn Jeff das sehen könnte! Er schluchzte und hielt mit aller Macht die Tränen zurück. Am Ende der Brücke machte die Straße einen Bogen und stieg wieder an; rechts davon verlief die Eisenbahnbrücke, von der aus man die Straße gut überschauen konnte - und auf der Mitte einer Strebe hockte in einem Schutzanzug eine kleine, stämmige Gestalt. Liam war so erstaunt, dass er einfach stehenblieb. Die kleine Gestalt hüpfte von dem Strahlträger und kam auf ihn zu, und es nützte Liam nichts, nun herunterzuschalten und das Mofa herumzureißen, denn der Zwerg war schneller als er. Bevor Liam sich in Bewegung setzen konnte, hatte der Kleine den Lenker ergriffen und das Vorderrad zwischen die Beine genommen, und
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Liam musste die Erfahrung machen, dass dieser Wicht um einiges kräftiger war als er. So sehr er auch zerrte und sich wand, das Mofa rührte sich nicht vom Fleck. Aus der Nähe konnte man auch sehen, dass der Schutzanzug des Zwergs von ganz anderer Qualität war als seiner. Es gab ein eingebautes Mikrophon, und nun meldete sich der Zwerg zu Wort. »Ich bin nicht hier, um dich aufzuhalten. Ich weiß auch, warum du hier bist, und damit wir uns recht verstehen - ich denke, dass du das Recht hast, deinen Plan auszuführen, obwohl deine Eltern nicht sehr erfreut wären, mich so reden zu hören. Auch Terry nicht. Hauptsächlich seinetwegen bin ich dir gefolgt. Er ist ein guter Freund von mir. Ich heiße Humphrey.« Noch immer war Liam wie betäubt, er brauchte Zeit, um das alles aufzunehmen. Humphrey? Terrys Freund vom Institut für Zeitphysik - der, der ihn kennenlernen wollte, weil er junge Mitarbeiter für das Institut suchte? Endlich fragte er heiser: »Sie sind mir gefolgt?« »Die ganze Strecke von Baltimore. Du bist wirklich ein tüchtiger Bursche, Liam O'Hara. Ich wäre froh, dich am Institut zu haben.« »Dann waren Sie das in dem Hubschrauber! Ich wusste es, Sie hatten Infrarotsensoren, habe ich recht? Sie wussten die ganze Zeit, wo ich bin«, sagte Liam bitter. »Warum haben Sie mich erst so weit kommen lassen!« »Ich habe es schon einmal gesagt«, antwortete Humphrey ruhig, »und du kannst es mir glauben: Ich habe nicht vor, dich aufzuhalten, ich werde dir sogar helfen, wenn du das willst, der Hubschrauber steht zu deiner Verfügung, obwohl ich andrerseits auch Verständnis dafür habe, wenn du dein Ziel aus eigener Kraft erreichen möchtest. Doch bin ich etwas skeptisch, ob du es allein schaffen wirst, und es wäre nichts Ehrenrühriges, mein Angebot anzunehmen. Bist du eigentlich auf dem Weg zu Jeffs Elternhaus in Haverford oder zu diesem Park?« Das war zuviel. »Woher wissen Sie das?« schrie Liam voller Wut. »Ich ... habe nur meine Schlüsse gezogen aus den Tatsachen, die ich kannte«, sagte Humphrey gelassen, »genauer gesagt: Terry hat das getan. Überleg doch: Der Tod deines Freunds hat dich über die Maßen erschüttert. Du hast dich gehenlassen, hast dich von anderen abgekapselt. Zwei Jahre vergingen. Schließlich hast du einen Zettel hinterlassen und bist verschwunden. Du hast dein Mofa mitgenommen. Ein Junge, auf den die Beschreibung paßte, hat in Baltimore einen Strahlenschutzanzug gekauft. Ein Junge auf einem Solarmofa wurde von mehreren Leuten auf der Straße entlang des Sperrgebiets gesehen - die Beschreibung des Jungen und des
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Mofas paßte. Für Terry gab es nur ein, zwei Möglichkeiten, was deine Absichten anging, und keine hörte sich erfreulich an.« »Oh.« Liams Wut legte sich. Er hatte eine Spur hinterlassen, nein, eher schon einen Trampelpfad. »Nun gut, aber ich verstehe immer noch nicht, was das mit Ihnen zu tun hat.« »Um meinem Freund Terry einen Gefallen zu tun, habe ich ihm angeboten, mich auf die Suche zu machen. Terry ist übrigens außer sich vor Sorge. Er sagte immer wieder: >Ich kann sie nicht beide verlieren, das halte ich nicht aus.<« Liam zuckte zusammen. »Du weißt doch, dass er dich in dem Zeitfenster gesehen hat, als Erwachsenen und offensichtlich bei bester Gesundheit? Ja? Ich hätte vermutet, dass ihm das etwas Zuversicht geben sollte, aber statt dessen zweifelt er wieder einmal an dem, was er damals gesehen hat.« »Was soll das heißen? Zuversicht in was?« »Dass du gerettet wirst und wohlbehalten zurückkehren wirst.« Wofür hielt ihn dieser Wicht? »Wollen Sie mir sagen, dass ich deshalb, weil Terry mich im Zeitfenster gesehen hat, unmöglich vor dem Jahr 2020 sterben kann?« »Wenn unsere Erkenntnisse über die Zeit zutreffend sind, ja. Wenn er dich in einem Zeitfenster gesehen hat, das heute in sieben zwei Drittel Jahren installiert werden wird, dann heißt das, dass du definitiv zu diesem Zeitpunkt noch am Leben sein wirst. Wie dem auch sei, mein Angebot gilt.« Aufgebracht sagte Liam: »Na schön, und wenn ich genau jetzt meinen Schutzanzug ausziehe?« Humphrey machte erschrocken einen Satz zur Seite und ließ das Mofa los, dass Liam das Gleichgewicht verlor und fast gestürzt wäre. Humphrey ließ sich auf alle viere nieder. »Dann wirst du in sieben zwei Drittel Tagen nicht mehr am Leben sein. Aber du wirst es nicht tun?« Er richtete sich wieder auf und kam näher, bis er wieder eine Hand auf das Mofa legen konnte. »Was wir niemals voraussagen können, musst du wissen, das ist, wie es passiert. Wie es kommt, dass du das Jahr 2020 erleben wirst, damit Terry dich im Zeitfenster sehen kann, das ist offen. Über das Resultat bin ich mir ziemlich sicher, aber es kann durchaus sein, dass ich dir das Überleben dadurch ermögliche, dass ich dich mit dem Hubschrauber nach Philadelphia bringe - oder sogar mich zurückziehe und dich allein weiterziehen lasse. Das lässt sich wirklich nicht sagen. Wir wissen es nicht, bis die vorausbestimmten Ereignisse tatsächlich eingetreten sind. Wir wissen es nie.« Liam starrte ihn an, dann schüttelte er den Kopf. Er war verwirrt.
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»Ich dachte, dass die Polizei nach mir sucht«, murmelte er. »Die Polizei hat Anweisung, sich da rauszuhalten«, sagte Humphrey und schockierte Liam, indem er ihm bewußt machte, dass die Hobbs bestimmten, was gemacht wurde und Regierungen und Behörden gehorchten, wenn sie befahlen. Was sollte er machen, wenn er diese Macht gegen sich hatte? Er war noch ein Kind. War es wirklich so, dass sein schöner Plan von Anfang an zum Fehlschlag verurteilt war? War er froh oder traurig darüber? Er wusste es nicht, er hatte keine Ahnung, was er fühlte - er wusste nur, dass er noch immer nicht wusste, wie er ohne Jeff weiterleben sollte. »Laß mich ganz offen sein«, sagte Humphrey in seiner blechernen Mikrophonstimme. »Ich habe Terry meine Hilfe auch deshalb angeboten, weil ich neugierig war: Warum wünscht ein Junge, der das ganze Leben noch vor sich hat, zu sterben, nachdem sein Freund gestorben war? Andere Kinder verlieren auch Freunde oder Eltern oder andere Menschen, die ihnen etwas bedeuten - und natürlich ist es ein schwerer Schlag für sie, aber nach einiger Zeit ... werden sie damit fertig. Du hast nicht einmal den leisesten Versuch gemacht, dich damit auseinanderzusetzen. Das ist ungewöhnlich. Diese Beziehung war sehr ungewöhnlich; ich interessiere mich für die Menschen und ihre Beziehungen untereinander - und diese Beziehung von dir und Jeff möchte ich besser verstehen.« »Das geht Sie gar nichts an!« sagte Liam, der zu zittern begonnen hatte. »Das geht nur mich etwas an, sonst niemanden!« »Das will ich nicht bestreiten«, sagte Humphrey, »und mein Versprechen gilt: Ich werde ganz nach deinen Anweisungen verfahren - dich hier zurücklassen, wenn du willst, dich mit dem Hubschrauber an dein Ziel bringen, ganz nach Wunsch. Aber ich habe noch einen dritten Vorschlag.« Liam war völlig durcheinander. Es war schwer zu begreifen, was der Hobb sagte: Er wollte ihn nicht gegen seinen Willen retten; seine Wünsche, so selbstzerstörerisch sie auch waren, sollten respektiert werden. Sicher gab es außer dem Außerirdischen niemand auf der Welt, der dazu bereit gewesen wäre. Wenn er sich dafür entschied, weiterzuziehen, was würde Humphrey dann tun? Seinen Eltern und Terry erzählen, dass er ihn nicht gefunden hätte? Würde er warten, bis er tot war, und seine Leiche dann zurückbringen, damit er in einem Bleisarg begraben werden konnte? Doch eines war sicher: Auf keinen Fall würde er ihnen sagen, dass er Liams Wunsch, nicht gerettet zu werden,
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respektiert hatte. Aber der Hobb sagte, er würde nicht sterben. Doch wenn er nein sagte, wenn er weiterging, wie konnte es da sein, dass er nicht starb? Was für eine andere Möglichkeit sollte es denn noch geben? Liam war verwirrt; mit gesenktem Kopf stand er da und wartete auf den dritten Vorschlag des Hobb. Humphrey sagte: »Ich könnte deine Erinnerungen an Jeff löschen.« Mit einem Ruck hob sich Liams Kopf. »Was?« »Deine Erinnerungen löschen. Dein Gedächtnis manipulieren.« Und als der Junge ihn sprachlos anstarrte, fügte er hinzu: »Du kennst doch sicher die Geschichte von Jenny Flintoft, dieser Freundin deiner Tante Carrie?« Liam nickte. Nachdem Jenny damals in Yorkshire einem Hobb begegnet war, hatte er auf Jahre hinaus dafür gesorgt, dass sie sich nicht an den Vorfall erinnern konnte. »Und du weißt auch von Gunnar Lundquist, diesem Schweden, der einen unserer Freunde gekannt hatte, aber sich nicht mehr genau erinnern konnte? Wir haben sein Gedächtnis durchforscht, um die fehlenden Informationen zu finden. Du hast sicher auch von den Farmern in Tansania gehört, die den Regenwald niederbrannten, oder jenen Goldgräbern in Brasilien. Und du weißt auch, was Jeffs Vater erlebte, als er nur wenige Jahre älter war als du ... Wir Hobbs haben Möglichkeiten, das Gedächtnis zu beeinflussen, Liam O'Hara; wir können Dinge ans Licht bringen, die du vollständig vergessen hast, wir können andere so tief begraben, dass du sie nie mehr finden kannst. Wir können es tun, und wir tun es, und wir fragen nicht immer, ob der, dem diese Erinnerungen gehören, es wünscht. Aber ich habe nicht vor, die Erinnerungen an deinen Freund ohne deine Zustimmung zu löschen. Aber vielleicht kannst du nur weiterleben, wenn dich die Gedanken an deinen Freund nicht mehr quälen ... wenn du willst, werde ich dafür sorgen, dass du nicht einmal mehr weißt, dass es einen Jungen namens Jeff Carpenter je gegeben hat, wenn es nicht andere dir sagen.« Liam hörte das alles wie durch einen Nebel, er stützte sich auf das Mofa, um nicht umzufallen. Seine Erinnerungen an Jeff verlieren, als hätte er ihn nie gekannt? Das hieße doch, das Wichtigste in seinem Leben zu verlieren - und ohne dass er darüber nachdenken musste, wusste er sofort, dass das noch schlimmer war als zu sterben. Nie würde er dem zustimmen. Aber wie wäre es, diese Erinnerungen für eine Weile vergessen
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zu können? Bis er etwas älter war, bis er etwas gefunden hatte, was seinem Leben neuen Sinn gab? Vielleicht konnte er andere Freunde finden, wenn nicht Jeffs Schatten immer im Wege war ... Einen größeren Gefallen konnte ihm niemand tun, ein Geschenk des Himmels wäre eine solche Langzeit-Beruhigungspille; so könnte er die nächsten Jahre überstehen. »Wenn du sterben willst - bitte«, sagte Humphrey noch einmal. »Viel eher müsste ich sagen: Du kannst es ja versuchen ...« Jetzt sah Liam den Hobb an. Er blickte in die großen Augen hinter der Sichtscheibe des Helms, Inseln in dem dichten, langen Haar. Er wollte doch überhaupt nicht sterben! Wenn es eine andere Möglichkeit gab, diesen Qualen zu entgehen, die jeder Gedanke an Jeffs Tod auslöste, dann würde er nicht lange zögern. Er hatte doch nicht wissen können, dass es andere Wege gab. »Sie können tatsächlich die Erinnerungen wieder hervorzaubern, wenn ich das möchte?« »Sicher. Wann immer du möchtest!« Vor Liams innerem Auge tauchte ein Bild auf, es war eine Szene aus einem der alten >Star-Trek<-Filme, die er wohl alle ein dutzendmal gesehen hatte - zusammen mit Jeff, der ganz verrückt danach war. In dieser einen Szene hatte sich Captain Kirk wieder einmal in irgendein Weltraumgirl verliebt, das er zurücklassen musste. Es endete damit, dass er sich in seine Kabine zurückzog, um zu schlafen - wenn er es doch nur vergessen könnte, murmelte er vor sich hin. Und Dr. McCoy nutzte die Gelegenheit, um Spock wieder einmal klar zu machen, was menschliche Gefühle waren. Ob er nicht bedauere, ein Wesen ohne Gefühlsleben zu sein, das niemals erfahren konnte, was Liebe sei? »Ach wirklich?« hatte Spock geantwortet, und als McCoy die Kabine verlassen hatte, da hatte er sich über den schlafenden Kirk gebeugt, ihm mit seinen langen Fingern über die Stirn gestrichen und gemurmelt: »Vergiß!« Auch die Vulkanier konnten Erinnerungen löschen. Und was Spock tat, strafte McCoy Lügen. Daran musste Liam jetzt denken, und sein letzter Widerstand schwand. Schwer auf das Mofa gestützt sagte er: »Können Sie es gleich jetzt machen?« »Jetzt - du meinst, gleich hier an Ort und Stelle?« Liam nickte. »Nun, es wäre natürlich einfacher, wenn wir nicht diese verdammten Anzüge tragen würden ...« »Ich möchte, dass Sie es jetzt tun«, sagte Liam, »es sei denn, das ist unmöglich.« »Unmöglich nicht, nur schwieriger. Also gut. Ich mache erst einmal das Grobe, und die Feinarbeit nehmen wir uns vor, wenn wir
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zurück in Washington sind. Dort habe ich auch die Apparatur, die wir für den alten Lundquist benutzt haben.« »Ich möchte nicht vergessen, dass es ihn gegeben hat«, sagte Liam. »Das wirst du nicht, keineswegs. Du wirst dich erinnern, dass du einen Freund hattest, der gestorben ist, und du wirst auch wissen, dass es da Gedächtnislücken gibt, die damit zu tun haben. Aber alles weitere wirst du vergessen haben, bis zu jenem Tag, wo du dich deiner Vergangenheit stellen willst. Ist das gut so?« Liam lachte heiser. »Das ist fast wie eine Lobotomie, nicht?« »In gewisser Weise, ja. Nur lässt es sich rückgängig machen.« »Tut es weh?« »Überhaupt nicht. Jenny Flintoft wird es dir bestätigen.« Liam fiel noch etwas anderes ein. »Sie haben gesagt, dass Sie gerne verstehen möchten, was Jeff und mich verband - hilft es Ihnen da, wenn Sie diese Erinnerungen löschen? Ich meine, können Sie diese Erinnerungen lesen, während Sie sie löschen?« Der Hobb nickte, dass der Helm heftig zu zittern begann. »Ich kann es dir unmöglich erklären, aber wenn ich in Washington die Arbeit abgeschlossen habe, werde ich über alle diese Erinnerungen verfügen können, die ich dir genommen, das heißt, die ich dir unzugänglich gemacht habe. Und ich werde eine Menge über die Beziehungen der Menschen untereinander gelernt haben.« Und mehr über die Seelenqualen der Menschen, als dir lieb ist, dachte Liam. »Okay«, sagte er und biß die Zähne zusammen, »dann wollen wir es hinter uns bringen. Wo ist eigentlich der Hubschrauber? Sie werden mich doch nach Hause bringen, oder?« »Und auf dem Weg schauen wir uns den Zackenfelsen an, schlage ich vor«, sagte Humphrey, »damit wir ihn finden, wenn die Zeit kommt.«
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8 2020 Zweitausendzwanzig Ich war sehr traurig, kaum dass ich am Morgen meines siebzigsten Geburtstags aufgewacht war. Ich blieb liegen, ohne Licht zu machen, und dachte über einen Traum nach, den ich vor vielen Jahren gehabt hatte, kurz nach jenem abenteuerlichen Ausflug in den Park mit Terry. In diesem Traum war ich in ein stockdunkles Zimmer getreten, in das nur ein dünner Lichtstrahl fiel, der schwach das Gesicht einer hinfälligen, traurigen alten Frau in einem Schaukelstuhl erhellte. Sie trug ein schwarzes Kleid und hielt mir ein Blatt Papier entgegen, auf dem etwas geschrieben stand. Die Handschrift war mir nicht bekannt, aber sie war gut zu lesen: >Es ist nicht schwer, älter zu werden, wenn man erst siebzig ist.< Im Traum hatte ich ihre Traurigkeit und Hilflosigkeit sehr stark empfunden, so trat ich näher, beugte mich zu ihr hinab und küßte sie auf beide Wangen. Und heute, kaum zu glauben, war ich die arme Alte. Und die Lebensversicherung, die Terrys Vision für mich bedeutet hatte, lief damit ab. Dieser wenig fröhlich stimmende Traum ging mir nun schon seit Monaten durch den Kopf; doch das war nicht der Grund, warum ich traurig war. Siebzig ist ein ordentliches Alter, mehr kann man nicht verlangen, obwohl ich natürlich noch etwas mehr haben wollte. Nein, traurig war ich hauptsächlich deshalb, weil weder Matt, mein Mann, noch mein Cousin Mark noch lebten, um diesen Tag mit mir feiern zu können. Matt hatte vor einem Jahr einen Schlaganfall gehabt und war mit siebenundsiebzig von einem Tag auf den anderen von der Bühne verschwunden. Ein ordentliches Alter und eine angenehme Art abzutreten, und doch vermißte ich ihn jeden Tag. Mark hatte weniger Glück gehabt, er erkrankte an Krebs und hatte eine lange und qualvolle Zeit zu kämpfen, bis er unterlag. Phoebe und ich, zwei klapprige Witwen, überlegten nun, ob wir das Haus verkaufen sollten. Wir wollten es keineswegs verkaufen, und eigentlich war es auch nicht zu groß - so wurde es nie eng, wenn eines von Phoebes Kindern uns für einige Zeit besuchte; aber wir hatten doch Mühe, es in Ordnung zu halten. Phoebe war zwar
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verglichen mit mir noch ein junges Ding, neunundfünfzig Jahre erst, doch war sie übergewichtig und immer gleich außer Atem. Wir hatten einfach nicht mehr die Kraft und die Nerven für ein solches Haus, und es musste bald eine Entscheidung gefällt werden. Und das war ein weiterer Grund, dass ich traurig war. Aber ich raffte mich auf und verscheuchte die trüben Gedanken. Bis zum frühen Nachmittag musste ich alles für die Gäste vorbereitet haben; ein Fest für mich sollte es werden, doch zunächst musste ich dafür arbeiten, auch wenn der eine oder andere Helfer sich angesagt hatte. Ich stieg aus dem Bett und zog die Jalousie hoch: ein öder, grauer Tag. O nein! Das machte es nicht einfacher. Doch wenigstens regnete es nicht: Es gibt nichts Schrecklicheres als einen kalten Novemberregen. Aber das Wetter paßte. Während ich noch mißmutig in die Wolken starrte, kam Phoebe schnaufend die Treppe empor, sie brachte das Frühstück; und kaum hatte ich eine Tasse Tee getrunken, da klingelte es an der Tür. Immer noch schnaufend lief Phoebe hinunter - ein Blumenstrauß wurde abgegeben, riesige gelbe und bronzefarbene Chrysanthemen, und eine Karte war dabei: noch viele, viele Geburtstage, in Liebe, deine Margy. Es war Phoebes älteste Tochter, die als Lektorin in einem New Yorker Verlag arbeitete. Sie musste heute in Dallas zu einer Konferenz und konnte unmöglich kommen. Schade. Aber immerhin, so würde auch Rika nicht kommen, das war ein Silberstreif am Horizont. Margy war im fünften Monat, als die Hobbs den Geburtenstopp über die Menschheit verhängten, so dass ihre Tochter eines der letzten Babys war, das geboren wurde. Phoebe, die in ihrer Mutterrolle aufgegangen war und es kaum erwarten konnte, sich mit einer Schar Enkelkinder zu umgeben, musste mit Rika vorliebnehmen. Natürlich war es unvermeidlich, dass man diese Generation verwöhnte, die für lange Zeit die letzte sein sollte. Doch die siebenjährige Rika war für mich ein wahres Monster. Es klingelte wieder, als ich mich gerade angekleidet hatte und das Bett machte. Dieses Mal öffnete ich selber. Es waren Frank und Jenny Flintoft, die eigens zu meinem Geburtstag über den Atlantik geflogen waren. Jenny und ich waren während jenes Jahrs nach der Reaktorkatastrophe, als Matt und ich am Darwin College in Cambridge arbeiteten, gute Freunde geworden. Sie heute hier zu haben, das hatte ich mir sehr gewünscht. Sie und ihr Mann waren die ersten Menschen, die sich mit einem Hobb angefreundet hatten, und ein Hobb würde heute auch unter den Gästen sein; es war gut,
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dass sie sich einmal trafen. Jenny sah sehr gut aus. Das Leben auf Franks Hof hatte ihr von Anfang an gutgetan, doch war es an einem solchen trüben Tag ein Lichtblick, diesen leicht geröteten, frischen Teint unter den grauen Locken sehen zu dürfen. Hinter ihr stand lächelnd Frank mit seinem wie immer zerzausten weißen Haar und den strahlend blauen Augen, die so unschuldig blickten, dass ich ihn anfangs unterschätzt hatte. Als sie nun nebeneinander vor mir standen, wurde mir bewußt, dass Jenny mit den Jahren Frank immer ähnlicher geworden war, während Frank mehr denn je er selbst zu sein schien. Dieses Bild ehelicher Gemeinsamkeit vor mir zu sehen schmerzte, denn es musste mich an Matt erinnern. Es konnte nicht anders sein. Doch war es nur ein kleiner Stich, und meine Freude, sie zu sehen, war echt. Nach jenem Jahr in England hatten wir uns viel häufiger geschrieben, und alle drei oder vier Monate telefonierten wir; trotzdem hatte ich sie in diesen neun Jahren nur einmal gesehen - bei Matts Begräbnis im letzten Jahr. Jenny umarmte mich herzlich. Als sie mich wieder losließ, sagte sie: »Ich wünschte, Matt könnte heute dabeisein.« »Ich auch«, sagte Frank, dessen Umarmung ein wenig steif war. »Mir geht es nicht anders«, sagte ich, »und ich bin sicher, dass es Matt auch lieber wäre. Aber wir wollen froh sein, dass wenigstens wir drei diesen Tag feiern können.« »Ganz meiner Meinung.« Frank schlüpfte aus seinem Mantel. »Wir sind so früh gekommen, um dir ein wenig zu helfen. Wir sind schon vor Stunden aufgestanden; ich hoffe, du hast Arbeit für uns.« »Da müssen wir Phoebe fragen«, sagte ich, »sie führt in der Küche das Kommando.« Ich führte sie in die Küche, wo Phoebe in einer großen Schüssel den Teig für den Erdbeerkuchen mit der Hand rührte. Phoebe kannte die Flintofts flüchtig von Matts Begräbnis. »Das ist also die Mutter dieses erstaunlichen Liam, von dem ich Carrie reden hörte, seit er sieben oder acht war!« Phoebe lachte, sie war geschmeichelt. »Carrie hat eine Schwäche für den Jungen. Aber Sie werden heute Gelegenheit haben, ihn selbst zu sehen.« »Wie alt ist er jetzt?« »Zweiundzwanzig. Kaum zu glauben, nicht wahr, Carrie? Wahrscheinlich wissen Sie, dass er am Institut für Zeitphysik arbeitet, hier in Washington.« »Davon haben wir gehört«, sagte Frank. »War er eigentlich auf
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dem College, oder haben diese Hobbs am Institut ihm beigebracht, was er wissen muss?« »Nein, er war nicht auf dem College«, sagte Carrie. »Das ist ein ewiger Streitpunkt. In Mathematik und Physik war er seit langem schon allen Gleichaltrigen voraus, doch hinkt er in den übrigen Fächern hinterher. Aber er liebt die Arbeit am Institut, und sie schätzen ihn sehr, so dass man sich eigentlich nicht beklagen kann.« »Wenn ich recht verstehe, hat er es also geschafft, über den Tod seines Freundes hinwegzukommen, nicht wahr?« sagte Frank. »Carrie hat uns erzählt, was für Probleme er da hatte.« Phoebe mischte sich ein. »O ja, er hat es endlich überwunden. Er war mehrere Jahre bei einer Phsychotherapeutin in Behandlung, und auch einer der Hobbs am Institut hat ihm sehr geholfen.« Die Flintofts hatten ihre eigenen Erfahrungen mit den Hobbs, was Erinnerungen betraf, weshalb ich sie über das, was Humphrey für Liam getan hatte, nicht im unklaren gelassen hatte. Es war eine schwierige Situation, denn sie wussten nicht, wieweit Phoebe darüber informiert war, dass sie es wussten. Aber Phoebe rettete die Situation, indem sie ihre Verlegenheit ignorierte. »Jeff war für mich wie ein eigener Sohn«, sagte sie. »Genaugenommen ist er in unserem Haus auf gewachsen. Er war fast täglich da. Er war ein hübscher Junge, und er sang wie ein Engel. Wir werden seinen Tod nie ganz verwinden können, keiner von uns - weder Carrie, sein Vater, Liam oder seine Mutter, die jetzt in Kalifornien lebt. Aber ich würde sagen, dass Liam jetzt nicht schlechter damit zurechtkommt als wir alle - und das ist immerhin ein erträglicher Zustand.« »Ich habe„ übrigens von Anne gehört, Phoebe«, unterbrach ich sie. »Ich habe ganz vergessen, es dir zu sagen. Sie hat gestern abend angerufen, um mir zu gratulieren - sie wusste nicht mehr das genaue Datum. Aber natürlich wusste sie noch, dass es einige Tage nach Halloween war.« Phoebe nickte. »Weil Terry ihr die Geschichte erzählt hat.« »Die Sache mit dir und Terry im Park!« sagte Jenny. »Genau. Aber um auf Anne zurückzukommen, sie war wirklich sehr nett. Sie hat mich nie besonders leiden können«, erklärte ich Frank und Jenny, »aber mit Phoebe kam sie ganz gut zurecht, wenigstens solange die Jungen klein waren.« »Wir waren befreundet, so gut man mit Anne eben befreundet sein kann«, meinte Phoebe. »Sie ist verschlossen, aber man konnte sich daran gewöhnen.«
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»Am Telefon gestern hat sie sich nicht verschlossen und distanziert angehört«, sagte ich. »Sie sah auch wirklich gut aus. Mag sein, dass sie sich zurechtgemacht hatte für den Anruf, damit ich es nachher Terry erzähle ... Sie sagte, dass es ihr gutgehe, und ich sollte dir Grüße bestellen. Sie hat noch ein Baby in dem Jahr bekommen, in dem sie wieder geheiratet hat, wusstest du das? Sie hat mir ein Bild gezeigt, ein Mädchen, Gillian heißt es. Sie müsste jetzt acht sein. Und wißt ihr was? Die kleine Gillian singt wie eine Lerche.« »Wieder so ein singender Engel, was soll man da sagen!« Jenny staunte. »Mich überrascht das nicht allzusehr«, hielt ich ihr entgegen. »Die musikalischen Gene kommen von Anne, bestimmt nicht von Terry.« Phoebe lachte. »Nein, weiß Gott, von ihm bestimmt nicht.« Gegen zwei Uhr waren wir so weit, nun konnten die Gäste kommen. Auf den Einladungen stand drei Uhr. Jenny und Frank waren noch einmal zurück in ihr Hotel gegangen, und ich hatte beschlossen, mich für eine halbe Stunde hinzulegen, um ein wenig nachzudenken. Zehn Minuten später aber war ich schon wieder unten an der Tür, um die beiden ersten Gäste einzulassen: Terry und seine zweite Frau, Pat, die auf ihren Stock gestützt vor der Tür stand. »Wir sind zu früh«, sagte Terry und nahm mich in die Arme. Er hielt mich lange und mit festem Griff; dann gab er mir einen Kuss. »Aber das hat seinen Grund«, sagte Pat. Wir küßten uns flüchtig. Ich mochte Pat, und das hatte nichts mit Mitleid zu tun, wie sehr das Schicksal sie auch gebeutelt hatte. Pat war eines der ersten Opfer der Lyme-Krankheit gewesen, damals, als sie sich explosionsartig im ganzen Land verbreitete. Sie hatte während des Sommers in einem Zeltlager als Betreuerin gearbeitet; die Frühsymptome waren ausgeblieben, sie gehörte zu jener Minderheit, bei der die Schwellungen in Knöcheln, Knien und Hüftgelenken die ersten Symptome waren. Sie war fünfzehn, und sie hatte die Lyme-Arthritis. Als sie endlich behandelt wurde, da war die Krankheit längst chronisch, und ihre Gelenke waren geschädigt, bevor man Möglichkeiten kannte, dagegen einzuschreiten. Ich bewunderte sie auch wegen des Gleichmuts, mit dem sie ihre Behinderung ertrug. Das Problem war, dass ich wegen Terry eifersüchtig auf sie war.
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Es gab einen Aspekt meiner Beziehung zu Terry, über den ich mir nie klar gewesen war - noch hatte ich mir klar werden wollen. Solange Matt lebte, war diese Frage ohnehin tabu. Aber Terrys Verhalten mir gegenüber hatte etwas Abwartendes, schon bevor Anne ihn verlassen hatte und erst recht danach. Aber kaum war Matt gestorben und ich frei, da tauchte Pat auf. Er hatte sie sogar geheiratet, obwohl das Heiraten nach dem Geburtenstopp völlig aus der Mode gekommen war. Ich verstand nicht, warum - denn nicht einmal die Steuergesetzgebung unterschied noch zwischen Verheirateten und Ledigen, wenn die Ehe nach dem 6. Juni 2013 geschlossen worden war. Terry sagte, er wäre zu alt, um sich an die neuen Sitten zu gewöhnen, und Pat war einfach neugierig: Es war mit zweiundvierzig ihre erste Ehe, und sie wollte einmal wissen, wie man sich als verheiratete Frau fühlte. Wer wollte ihr das verübeln. Ich hatte ja auch nichts gegen sie persönlich - ich hätte jeder Frau gegrollt, mit der Terry zusammen war. Ich hoffte, dass meine Eifersucht sich mit der Zeit legen würde, trotzdem musste ich mich immer zusammennehmen, wenn ich diese Person sah, die tapfer auf ihren Stock gestützt mir einfach im Wege war. Nun, wenn man siebzig wird, sollte man endlich erwachsen werden. Pat war Lehrerin an einer Schule für Gehörlose. Sie war auch eine talentierte Kinderbuch-Illustratorin. Es führte kein Weg daran vorbei, ich musste mit Pat endlich ins reine kommen. Schließlich hatte sich Terry auch viele Jahre mit Matt abgefunden. Dafür musste ich mich revanchieren. Am besten fing ich gleich damit an. »Ihr seid hier jederzeit willkommen, bei Tag oder Nacht. Man sieht euch schon selten genug, seit Terry so ein bekannter Mann ist.« Terry freute sich. »Dass wir zu früh kommen, hat tatsächlich damit zu tun.« »Dass du ein berühmter Mann bist?« »Dass wir uns so selten sehen. Wir müssen mit euch beiden reden, bevor die anderen Gäste kommen.« Bei diesen Worten war Phoebe hereingekommen. »Setzt euch doch«, sagte sie, nachdem sie die beiden begrüßt hatte, »Kaffee?« »Dafür ist keine Zeit. In zwanzig Minuten wird man euch die Tür einrennen, und Pat und ich möchten Carrie vorher noch unser Geschenk überreichen.« Etwas verlegen führte ich die beiden ins Wohnzimmer. »Es ist ein Geschäft, was ich dir vorzuschlagen habe«, sagte Terry, als wir
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uns gesetzt hatten. »Carrie, du und Phoebe, ihr müßt das miteinander besprechen, aber hört euch einmal an, was ich zu sagen habe. Ich weiß, dass ihr euch den Kopf zerbrecht, was mit dem Haus geschehen soll. Nun: Pat und ich möchten es kaufen und darin wohnen, und wir beide möchten, dass ihr mit uns hier wohnt. Man müsste einiges ändern, etwas umbauen, aber es ist nicht einzusehen, dass hier nicht für vier Leute Platz sein sollte.« Er machte eine Pause und sah mich erwartungsvoll an. Ich war wie betäubt. Auf eine solche Idee wäre ich nie gekommen. Unwillkürlich sah ich zu Pat und musste feststellen, dass sie mich ungeniert anblickte. Als unsere Augen sich trafen, errötete sie ein wenig und nickte. »Terry hat für uns beide gesprochen; das ist die Wahrheit, Carrie. Ich würde gern hier leben, und ich möchte auch, dass ihr beide hier wohnt. Wir würden die Wohnung in Georgetown behalten und mein Haus verkaufen, dann wäre Terry sehr viel öfter hier als bisher - und das wäre doch allen recht.« »Aber warum?« brachte ich endlich hervor. »Warum wollte ihr euch die Verantwortung für zwei alte Weiber aufbürden, von denen jedes von heute auf morgen zu einem Pflegefall werden kann?« Terry grinste. »Die Verantwortung brauche ich mir nicht erst aufzubürden, Sorgen um euch mache ich mir schon die ganze Zeit! Und auf diese Weise kann ich sicher sein, dass hier alles seine Ordnung hat. Ich möchte einen Lift einbauen lassen und jemanden engagieren, der sich um den Haushalt kümmert.« »Der auch die Pflege übernehmen könnte?« fragte Phoebe, die nun verstand. »Wenn das nötig sein sollte, ja.« »Der Teufel soll mich holen, wenn ich zulassen werde, dass du für mich verantwortlich bist, Terry Carpenter!« platzte es aus mir heraus, so zornig, dass ich das Zittern in meiner Stimme nicht unterdrücken konnte. »Ich bin siebzig, aber doch nicht senil! Wer hat dir denn aufgetragen, dich für uns verantwortlich zu fühlen?« Terry öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, meldete sich Pat energisch zu Wort. »Sei doch vernünftig, Carrie«, sagte sie bestimmt. »Natürlich ist Terry für dich verantwortlich, denn er mag dich. Du magst ihn, ein halbes Leben habt ihr euch füreinander verantwortlich gefühlt. Darum solltest du nicht deine Kraft darauf verschwenden, allen zu demonstrieren, wie unabhängig du bist. Du machst dir doch selbst etwas vor. Dass man seine Schwäche akzeptieren und Hilfe annehmen muss, wo sie nötig ist, das hat mich meine Behinderung gelehrt.« »Da hat sie recht, Carrie«, meinte Phoebe. »Wie würdest du
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denn reagieren, wenn Terry Hilfe brauchte und dir erzählen würde, dass du nicht für ihn verantwortlich wärst?« Meine Augen füllten sich mit Tränen. »Das ist genau das, was er mir vor dreißig Jahren einreden wollte!« »Und, hast du darauf gehört? Überhaupt nicht!« Wir lachten alle etwas unsicher. Terry beugte sich zu mir und nahm meine Hand. »Du hast damit angefangen, nun müssen wir auch weitermachen. Pat hat ganz recht, und du weißt es auch, auch wenn du murrst und zeterst. Ich habe dieses Haus ausfindig gemacht, ich habe es immer gemocht. Laß es mich kaufen und laß mich für dich und Phoebe sorgen - das ist genau das, was ich möchte. Lift und Haushälterin, das ist beides auch für Pat eine Erleichterung. Und verdammt, wenn man lange genug vorausdenkt, dann werde auch ich darauf angewiesen sein!« In diesem Augenblick flog die Haustür auf. Man hörte Bretts Stimme: »Hallo, ist denn keiner da! Wo ist denn das Geburtstagskind?« Phoebe stand auf, reichte mir den Karton mit den Papiertüchern und lief dann hinaus, um ihre Tochter zu begrüßen. Während ich mir die Augen trocknete und die Nase putzte, stand Terry auf und legte seine Wange auf meinen Scheitel. »Denk darüber nach, ja?« An den Händen zog er mich in die Höhe, küßte mich noch einmal und trat zurück, um mich vorbeizulassen. Was mir als erstes zu seinem Vorschlag einfiel, hätte ich weder ihm noch Pat sagen können. Würde es nicht Spannungen geben, wenn wir alle in denselben vier Wänden lebten? Wenn ich mich zu ihm hingezogen fühlte und seine Frau um seine Liebe beneidete? Und wie würde Pat damit fertig werden? Und wie Terry, der uns beiden verpflichtet war? Musste er nicht ständig lavieren, um keine von uns zu verletzen? Das hörte sich alles ganz schrecklich an und trotzdem hatte es etwas für sich. Es war die Lösung für eine ganze Reihe von Problemen, das musste ich zugeben. »Okay«, sagte ich, »ich werde es mir überlegen, aber auch ihr beide solltet noch einmal alles durchdenken, bevor wir irgend etwas entscheiden.« Als ich bei der Haustür ankam, hielt Phoebe noch immer Brett in ihren Armen, dass sie sich kaum rühren konnte. Hinter ihnen stand ein großer, dünner, merkwürdig aussehender junger Mann. »Sie müssen Eric sein«, sagte ich, und er lächelte erleichtert. »Ich bin das Geburtstagskind. Kommen Sie, geben Sie mir Ihren Mantel. Hallo, Schatz!« rief ich Brett über Phoebes Schulter hinweg zu. »Du siehst großartig aus! Wie machst du das nur? In meinem letzten Studienjahr habe ich ausgesehen wie der wandelnde Tod, und ich
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habe Fotos, mit denen ich das beweisen kann.« Phoebe ließ Brett endlich los, dass sie zu mir kommen und mir einen Kuss geben konnte. »Herzlichen Glückwunsch! Es ist kein Geheimnis, Carrie, es ist Erics Schuld. Ich bin glücklich! Kein Wunder, dass man es sieht.« Sie warf ihm einen liebevollen Blick zu, wieder fühlte ich einen Stich. Ich war allein. »Hier ist dein Geschenk, bevor ich es vergesse. Wir dachten, dass du das bestimmt noch nicht hast!« Ich bedankte mich und legte den Karton auf den Tisch neben der Tür. »Wo habt ihr euer Gepäck? Ihr wollt doch nicht in der Nacht noch nach Ithaca zurückfahren?« »Wir könnten gar nicht, selbst wenn wir wollten«, sagte Eric, »es gibt keine vernünftigen Verbindungen. Wir übernachten am Institut, Liam hat ein Zimmer für Brett besorgt, und meine CollegeProfessorin hat ihre Beziehungen für mich spielen lassen. Nancy Sandford heißt sie, sie hat die Grundlagen geschaffen, auf denen meine Forschungen über virusresistente Melonen aufbauen.« »Eric hat eine neue Sorte Netzmelonen gezüchtet«, unterbrach Brett, während sie sich bei ihm einhängte. »Milky Tango heißt sie.« »Wie bitte?« »Milky Tango, das ist der Name. Hybriden werden wie Rennpferde nach ihren Vorfahren getauft - in diesem Fall Milky Way und Mi ting tang.« »Sie ist ungeheuer resistent gegen das Gurken-Mosaikvirus«, sagte Eric. »Aber wahrscheinlich werden sie bald das Erbgut aller Melonen so verändert haben, dass sie immun sind, wie man es schon bei fast allen Pflanzen von kommerzieller Bedeutung gemacht hat. Dann war meine ganze Arbeit und die von Nancy noch dazu umsonst.« »Abgesehen davon, dass es Ihnen den Doktortitel eingebracht hat«, sagte ich, »und ein Forschungsstipendium für dieses Jahr.« Er nickte. Mit einem Grinsen sagte er: »Na ja, das ist richtig. Ich habe Glück gehabt, dass sie von den Melonen bisher die Finger gelassen haben.« »Und außerdem hatte er dadurch einen Grund, noch ein Jahr in Ithaca zu bleiben, bis ich meinen Abschluss habe. Dann können wir beide gemeinsam auf Stellensuche gehen.« »Also zum Ende dieses Studienjahrs?« Sie nickten. »Na, dann wünsche ich euch viel Erfolg. Als ich mir eine Stelle suchte, laßt mich nachdenken ... 1977 muss das gewesen sein, da gab es keine Hochschulstellen für Englisch, die ein geistig gesunder Mensch ohne Not übernommen hätte. Ich endete an einer Außenstelle der
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Pennsylvania-Universität in Erie. Nehmen Sie es mir nicht übel, Eric - ich weiß, dass Sie aus Erie kommen, aber es war wirklich schlimm, die schlimmsten Bedingungen, unter denen ich je habe unterrichten müssen. Ich bin nur zwei Jahre dageblieben, bis ich mein Doktorandenstipendium zurückgezahlt hatte und mir ein Auto kaufen konnte. Und schon war ich weg.« »Sie hätten wahrscheinlich mein College auch schrecklich gefunden«, sagte Eric, »aber ich war kein so guter Student, außerdem wollte ich zum Hauptstudium sowieso nach University Park gehen. Aber dann hatte ich Glück - Nancy fragte mich, ob ich ihr bei ihrer Pflanzenzucht helfen wollte.« »Unser Problem sieht auch ganz anders aus«, sagte Brett, »aber es wird wohl genauso schwierig zu lösen sein.« »Du meinst, dass ihr beide an derselben Hochschule Arbeit findet?« »Oder wenigstens ungefähr in derselben Gegend. Aber da ist noch ein anderes Problem: Heute in zwanzig Jahren wird niemand mehr da sein, den man unterrichten könnte ... und niemand weiß, wann jemals ...« »Daran habe ich noch nie gedacht! Wenn man pensioniert ist, ist das alles schon ein bißchen weit weg. Aber ich verstehe, worüber du dir Gedanken machst: Soll man Lehrer werden, wenn man nach einem halben Berufsleben plötzlich nicht mehr gebraucht wird? Einmal davon abgesehen, dass in den nächsten zwanzig Jahren noch jede Menge junges Volk zu unterrichten ist - was sollten sie ohne Lehrer machen ...« »Es gibt ja nicht nur die Lehre«, sagte Eric, »man müsste sich eben mit aller Kraft der Forschung widmen, dann wird man immer Arbeit haben, vorausgesetzt, man findet die nötigen Geldquellen.« Brett legte ihren Arm um Erics Taille. »Eric ist ein Genie, wenn es darum geht, Forschungsgelder aufzutreiben«, sagte sie, aber sie lächelte jetzt nicht mehr, und mir wurde klar, dass das Thema noch eine andere, private Seite hatte. Der Doktortitel, die Stelle an der Hochschule, das war noch nicht alles. Brett war zu sehr Phoebes Tochter, um nicht bis zu jenem Tag, als die Hobbs den Geburtenstopp verkündeten, von einer eigenen Familie, einer Schar von Kindern geträumt zu haben. Ich hatte sie noch nie darüber reden hören, aber seit sie Eric kannte, machte sie sich wohl darüber Gedanken. Eric sah sie besorgt an und legte den Arm um sie. »Wenn es an die Finanzierung geht, dann ist es ein enormer Vorteil, wenn man einen guten Draht zu den Hobbs hat. Dass ich Forschungsgelder
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bekommen habe, liegt daran, dass meine frühere Professorin mit einem Hobb befreundet ist. Sie wird übrigens auch kommen. Es war Mrs. O'Haras Idee, ich hoffe, es ist Ihnen recht.« »Ich werde etwas zu trinken holen«, sagte Brett abrupt und riß sich von ihm los. »Wir reden nachher noch darüber, Carrie, okay?« Eric sah ihr nach, kaum merklich hatte er die Augenbrauen gehoben. »Ich glaube, das mit dem Geburtenstopp macht ihr zu schaffen«, sagte ich. »Es tut mir leid.« Eric schüttelte den Kopf. »Das braucht Ihnen nicht leid zu tun, aber es ist ein heikles Thema für sie. Sie hätte gerne Kinder. Aber es ist auch wegen Nancy - sie mag sie gern, aber Nancy ist sehr eng mit einem Hobb befreundet. Ich habe es schon erwähnt, Godfrey heißt er. Und Brett kann die Hobbs nicht ausstehen.« »Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich das nicht wusste. Sie war auf dem College, als das Raumschiff zurückkehrte. Und es war schon immer so, dass sie die Hobbs nicht mochte?« »Eigentlich erst, als sie anfing, sich Kinder zu wünschen, und einsehen musste, dass das unmöglich war. Das ist vielleicht zwei Jahre her. Es wurde schlimmer, als ihr Vater starb.« Wenn man selbst kinderlos ist, dann bleibt das Mitgefühl in solchen Fällen immer etwas abstrakt, einmal davon abgesehen, dass ich in Bretts Alter ebenfalls eine Phase hatte, in der ich alles auf der Welt darum gegeben hätte, ein Baby zu haben. Die Macht der Biologie, kein Zweifel. Es ging vorüber - aber das konnte ich Brett sicher nicht als Trost anbieten. Später hatte ich dann Gelegenheit, meine Mutterinstinkte an Brett und ihrer Schwester und natürlich auch an Liam abzureagieren. Ich durfte sie zu mir holen, wann immer ich wollte. Diese Möglichkeit schied für Brett aus. »Dieser Hobb, der mit Nancy befreundet ist«, sprach Eric weiter, »hat ihr das Leben gerettet. Er ist derjenige, der die AIDSForschung wieder in Gang gebracht hat, auch dieses Projekt mit dem Kälteschlaf. Nancy hatte AIDS, und sie schlief von 2012 an, als ich mein Diplom machte, bis letztes Jahr, als sie endlich das Medikament einsatzbereit hatten. Sieben Jahre.« »Großer Gott, tatsächlich?« »Ja. Und der Hauptgrund, warum Mrs. O'Hara mich beauftragte, sie einzuladen, ist der, dass sie diesen Godfrey mitbringen sollte. Deshalb sind Brett und ich früher gekommen, anstatt mit Nancy zusammen. Brett ist ganz schön wütend auf ihre Mutter.« »Und Godfrey wird kommen?« »Ja, er kommt. Er wird demnächst mit Nancy hier eintrudeln.«
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Diese Geburtstagsparty schien es in sich zu haben; so manches Seelenleben wurde hier ganz unerwartet durchgerüttelt. »Weiß Brett denn, dass Liam auch Humphrey mitbringt?« »Ja, aber in diesem Fall wird sie gern eine Ausnahme machen aber sie ist ganz allgemein allergisch gegen alles, was mit den Hobbs zu tun hat.« Brett stand am Buffet und unterhielt sich lachend mit Terry. »Merkwürdig, ich dachte, dass sie als Biologin sich mit ihren Zielen identifizieren könnte ... Aber da habe ich das Persönliche nicht genügend berücksichtigt. Doch frage ich mich, warum Phoebe dann Godfrey eingeladen hat - wusste sie nicht, wie Brett darüber denkt?« »Vielleicht wusste sie nicht, wie stark Bretts Abneigung ist. Ihre Mutter dachte wahrscheinlich, dass die Leute aus England gerne zwei Hobbs kennenlernen würden, die beide enge Freunde unter den Menschen haben. Sie ist Humphrey unheimlich dankbar - für das, was er für Liam getan hat.« In diesem Moment kamen die >Leute aus England< durch die Tür, und ich nutzte die Gelegenheit, sie mit Eric bekanntzumachen und mich zu verdrücken, nicht ohne sie alle ermahnt zu haben, einmal am Buffet vorbeizuschauen, bevor die anderen Gäste alles aufgegessen hatten. Ich ging selbst hinüber und groß mir ein Glas Bowle ein, mein Lieblingsgetränk auf Partys: aus alkoholfreiem Sekt und Johannisbeersorbet. Trotzdem hatten wir auch einige Flaschen Champagner kaltgestellt. Brett und Pat standen vor dem Buffet, sie kauten und redeten. Pat sagte, als ich vorbeiging: »Diese Petits fours sind köstlich, aber so viel Zucker habe ich vermutlich im ganzen letzten Jahr nicht gegessen. Ich hoffe, mein Stoffwechsel verträgt das.« »An Carries Geburtstag gibt es immer zuerst ein Dessert«, erklärte ihr Brett. »Das ist die Reihenfolge: erstes Dessert, Käsecracker, belegte Brote, zweites Dessert. So hat sie es schon als kleines Mädchen gemacht.« »Und es gehört für mich noch heute zu einer Party«, sagte ich, »auch wenn ihr es schrecklich findet. Soweit ich weiß, sind keine Diabetiker eingeladen, und außerdem kann jeder, der möchte, das erste Dessert übergehen.« »Aber ich doch nicht«, sagte Brett. »Mein Pankreas weiß inzwischen, wie es auf deinen Partys zugeht.« Es klopfte an der Tür; sie schaute hinüber und sagte ganz ruhig (und erst seit heute wusste ich, welche Überwindung sie das kostete): »Da ist er ja,
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mein kleiner Bruder.« Hastig stellte ich mein Glas auf den Tisch und ging hinüber zur Tür. Liam sah mich kommen, und das Lächeln, mit dem er mich begrüßte, war so warm, dass es in der Seele Wohltat. Er hatte eine große, braune Einkaufstüte auf dem Arm und hielt mit der Hand ein schmales, flaches Päckchen, das in Geschenkpapier eingewickelt war. Er gratulierte, legte den freien Arm um mich, dann reichte er mir das Geschenk. »Das schönste Geschenk, das ich jemals jemandem gemacht habe. Es ist von Humphrey und mir, und du musst es unbedingt öffnen, solange die Gäste noch da sind, damit jeder es sehen kann.« Ich habe es wohl eher zögernd angenommen, denn in diesem Augenblick ging mir eine Menge im Kopf herum - und nichts davon durfte ich verlauten lassen. Erstens war das schönste Geschenk, das Liam mir je machen konnte, seine sichere Rückkehr von jener Reise, die er in der Absicht zu sterben unternommen hatte. Zweitens wusste ich schon, was dieses Päckchen enthielt - und bei diesem Gedanken sah mich Humphrey an, denn er wusste, dass ich wusste; nur Liam wusste es nicht. Er wusste es nicht, weil Humphrey nicht nur die Erinnerungen an Jeff aus seinem Gedächtnis verbannt hatte, sondern auch die Erinnerung an jene Geschichte, die Terry und ich ihm vor seinem Selbstmordversuch erzählt hatten, das Abenteuer im Park. »Ich werde alle Geschenke auspacken, bevor es Kaffee und Kuchen gibt«, versicherte ich ihm. »Sehr gut.« Er stellte die Einkaufstüte auf dem Fußboden ab und zog den Mantel aus; er trug darunter einen dunklen Anzug und sogar eine Krawatte, so etwas hatte ich noch nie an ihm gesehen. »Habe ich extra für heute gekauft, Carrie«, sagte er, als er meinen verwunderten Blick bemerkte. »Das ist ein besonderer Tag, wirklich, Carrie«, und er nahm mich noch einmal in die Arme, obwohl er noch immer den Mantel hielt. »Pam kann leider nicht kommen, es tut ihr sehr leid, aber sie steckt mitten in einem Projekt, das jetzt in einem kritischen Stadium ist. Das ist drüben in Kalifornien, sie kann unmöglich weg.« Pam war Liams ... >Kumpel<, hätte man vielleicht sagen können. Sie hatten sich am Institut kennengelernt, auch sie war eines der jungen Genies, die man dort ausbildete. Sie war nicht Liams Freundin im üblichen Sinn des Wortes, aber es war sicher auch mehr als eine gewöhnliche Freundschaft, vielleicht konnte man es mit seiner Beziehung zu mir oder Humphrey vergleichen. Ich schätzte sie sehr, und es war wirklich schade, dass sie nicht hier
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sein konnte. »Sie wird dir schreiben«, sagte Liam. »Wo ist Mutter?« »In der Küche, denke ich. Ist sie doch immer, nicht wahr?« Ein kleiner Lacher. »Wirst du dich um Humphrey kümmern? Ich muss sie etwas fragen.« »Sicher«, sagte ich, obwohl Humhpreys Blick mir zu bedeuten schien, dass er sich auch ohne mich zurechtfand. Liam nahm die Tüte und ging in die Küche. Da standen wir nun. Keiner der Gäste, der nicht längst den Hobb bemerkt hatte. Es waren nicht so viele von ihnen auf der Erde, dass eine Begegnung etwas Alltägliches war. Sie ließen uns nicht aus den Augen, als der Chef des Instituts für Zeitphysik zu meinem Erstaunen und zu meiner Freude einen Schritt auf mich zu machte und mit seinen kurzen Armen mich förmlich umarmte. Dann trat er wieder zurück und sagte: »Es ging mir jetzt auch um die äußerliche Wirkung, nicht nur um das Motiv.« »Die Wirkung ... und was für Motive? Oh, ich verstehe menschliche Gefühlsäußerungen!« »Ja.« Die Hobbs auf der Erde hatten es nach einigen Jahren aufgegeben, sich wie die Menschen zu kleiden, und trugen nun nichts als ihr langhaariges graues Fell. Humphrey spähte zwischen den Strähnen seines Gesichts hervor zu Carrie und sagte: »Ich habe Liam gefragt, was das korrekte Benehmen betrifft. Er sagte mir, dass Ihnen eine Umarmung gefallen würde. Ich hoffe, ich habe nichts falsch gemacht.« »Ganz und gar nicht. War es Ihre Idee oder Liams?« »Meine Idee. Sie sind der erste Mensch, an dem ich es ausprobiert habe, nach Terry und Liam natürlich. Ich mag sie beide sehr, wissen Sie, aber in letzter Zeit habe ich entdeckt, dass ich ähnliche Gefühle auch für Sie empfinde.« »Oh ... danke, Humphrey«, sagte ich, ein wenig belustigt, aber es war doch sehr rührend. »Ich habe Sie auch gern.« »Ja, das ist mir nicht entgangen«, sagte er gelassen. »Ich habe die Beobachtung gemacht, dass eine dritte Beziehung sich aus zwei Beziehungen entwickeln kann, die nichts miteinander zu tun haben. Eine faszinierende Sache. Beispielsweise gibt es eine Beziehung zwischen Ihnen und Terry und zwischen mir und Terry. Beides existiert unabhängig voneinander. Dann ergibt sich, dass Ihr Gefühl für Terry auch zu mir spricht - ich fühle mich an Sie gebunden, weil Sie sich an Terry gebunden fühlen, der mein Freund ist und umgekehrt. Ich hätte auch Liam als Beispiel nehmen können. Dasselbe ist mir mit Pam Pruitt passiert, als sie und Liam sich näherkamen - jetzt bedeutet sie mir ebensoviel wie Liam.«
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Humphrey strahlte. »Das ist meine Entdeckung. Belfrey hat nichts darüber gesagt, und Godfrey scheint es nicht einmal bemerkt zu haben. Ich bin der erste! Es ist wirklich eine wichtige Entdeckung. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich zu dieser Party eingeladen haben.« »Ich kann Ihnen noch ein weiteres Beispiel nennen: Meine starken Gefühle für Jeff haben sich daraus entwickelt, dass er Terrys Sohn war und Liams bester Freund. Später habe ich ihn natürlich um seiner selbst willen gemocht. Aber begonnen hat es mit der Beziehung zu Terry und Liam, die ihrerseits eine Beziehung zu Jeff hatten.« »Ja, ich verstehe«, murmelte Humphrey, und seine Augen funkelten. »Übrigens«, sagte ich, »ich möchte es ihm sagen.« Er wusste im selben Augenblick, was ich meinte. »Ja, ich bin einverstanden. Er hat alle seine Erinnerungen an Jeff wiederbekommen, er hat damit keine Probleme mehr. Er soll auch diese Geschichte wieder zurückhaben, die Enttäuschung, dass aus seiner Überraschung nichts wird, wird geringer sein als das Staunen darüber, wie sich all das zu einem Ganzen zusammenfügt. Ich denke, dass das auch Ihre Meinung ist.« »Ja, genau.« Aber der Hauptgrund war eigentlich, dass ich nicht länger Geheimnisse vor ihm haben wollte. Ich hatte mich ein dutzendmal fast verplappert in den Jahren, seit wir ihm die Geschichte erzählt hatten, und Terry war es nicht anders ergangen. »Sagen Sie bitte«, fragte ich nun, »haben Sie aus dem Studium von Liams und Jeffs Beziehung alles erfahren, was Sie sich erhofft haben?« »O ja, das habe ich«, sagte Humphrey fast andächtig. »Hätten Sie das gedacht, Carrie? Ich glaube, dass Liam mir nun fast ebensoviel bedeutet, wie er Jeff damals bedeutete. Und dasselbe gilt umgekehrt auch für ihn, obwohl man da nie ganz sicher sein kann. Aber ich denke schon, dass es so ist. Das ist etwas völlig anderes als unsere Beziehung zu den Gafr. Ich diene meiner Gafr, wie Sie wissen, aber meine Beziehung zu Liam hat mit Dienen nichts zu tun. Ich möchte Ihnen so viel sagen: Godfrey und ich sind entschlossen, den Gafr zu dienen, indem wir diesen Planeten retten, aber es fällt uns schwer, die Menschen leiden zu sehen. Dieses Mädchen dort zum Beispiel, Liams Schwester ...« »Brett.« »Ja, Brett. Liam hat mir von ihr erzählt. Sie ist jung, sie möchte ihren jungen Freund heiraten und eine Familie haben. Wir können
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nicht zulassen, dass sie Kinder bekommt. Die Gafr sagen, dass auch sie den Preis für die Versäumnisse der ganzen Menschheit bezahlen muss; für ihre persönliche Situation haben sie kein Verständnis. Aber Godfrey und ich, wir können darüber nicht hinwegsehen. Unsere Beziehungen zu den Menschen haben uns verändert. Man kritisiert uns immer häufiger, doch haben die Gafr nur uns beide, um diese speziellen Informationen zu beschaffen, so müssen sie uns mehr Freiheit lassen, als ihnen lieb ist.« »Sie sind doch hoffentlich vorsichtig?« Ich war erschrocken, denn das letzte, was Liam brauchen konnte, war, auch noch Humphrey zu verlieren. »Oh, ich denke schon«, sagte er. »Solange wir Belfreys Fehler vermeiden und die Prioritäten nicht vertauschen, besteht keine Gefahr. Nicht, dass ihm etwas vorzuwerfen wäre - er hat seine Wahl getroffen und die Konsequenzen auf sich genommen.« Belfrey war Jennys Elphi, das wusste ich. »Da fällt mir ein, dass hier jemand ist, der Sie sehr gerne kennenlernen möchte.« Ich führte ihn zum Buffet hinüber, um ihn Jenny Flintoft vorzustellen, die sich mit Liam unterhielt. Belfrey hatte nicht mehr lange gelebt, seit er sich zu erkennen gegeben hatte. Ich ließ Humphrey und die Flintofts allein; ich wusste, dass er ihnen die Wahrheit über Belfreys letzte Monate nicht verschweigen würde, als er mehr oder weniger ein Gefangener an Bord des Schiffes war. Es musste sie schmerzen, das zu hören. Es klingelte an der Tür. »Sie müssen Nancy Sandford sein«, sagte ich zu der Frau, die unter dem Vordach wartete. Dazu musste man kein Hellseher sein, denn neben ihr stand ein weiterer Hobb. »Und Sie sind sicher Godfrey? Kommen Sie doch herein, seien Sie willkommen. Ich bin Bretts Tante, Carrie.« »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte die dünne Frau, »und vielen Dank für die Einladung.« »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, echote Godfrey; seine Stimme war viel tiefer als Humhpreys, »und dass es noch viele Geburtstage sein mögen.« Ich bedankte mich und nahm Nancys Mantel. Sie zog aus einer Tragetüte eine große Schachtel, die in silbernes Geschenkpapier eingepackt war. Verwirrt sagte ich: »O nein, Sie hätten mir kein Geschenk bringen dürfen! Bretts Mutter wollte nur, dass Sie unsere Freunde aus England kennenlernen, die den Hobb Belfrey gekannt haben, als er noch in Yorkshire lebte. Der Geburtstag, das war nur ein Vorwand - warum hat sie das nicht gesagt!«
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»Es ist nur eine Kleinigkeit, nichts, worüber wir viel Worte verlieren sollten«, sagte sie. »Sie sollten es aber gleich auspacken, es verdirbt leicht.« Ich löste das Klebeband ganz vorsichtig von dem Silberpapier und hob den Deckel der Schachtel. Ein phantastisches Aroma stieg mir in die Nase. Drinnen lagen auf Holzwolle gebettet und säuberlich aufgereiht zwölf runde Früchte mit rauher, hellbrauner Schale, nicht größer als Orangen. Ich hatte so etwas in meinem Leben noch nicht gesehen. »Was, um Himmels willen ...« Eric hatte bemerkt, dass seine frühere Lehrerin angekommen war, und kam herbei, um sie zu begrüßen. »Hey. Komm schnell und probier die Bowle - außerdem gibt es Gemüse aus biologischem Anbau. Hi, Godfrey, schön, dich zu sehen.« »Hi«, sagte Godfrey. Das Wort hörte sich aus seinem Mund sehr merkwürdig an. Als Eric den Karton mit Früchten in meiner Hand sah, wurde sein Grinsen noch um einige Grade breiter. »O Nancy, du hast Tiny Tangos mitgebracht! Toll, Carrie, das ist wirklich etwas Besonderes! Warten Sie, bis Sie eines dieser Babys probiert haben.« »Sie riechen auf jeden Fall ganz besonders«, sagte ich, »aber was sind das nur für Dinger?« »Können Sie es nicht am Geruch erkennen? Es sind Netzmelonen«, sagte Nancy. »Zu klein für die Plantagen, aber als Geschenk machen sie sich gut. Diese Sorte ist zufällig durch die Strahlung bei dem Reaktorunfall entstanden.« »Wie kommen Sie denn im November an Melonen?« Stolz sagte Eric: »Sie hat sie selbst gezogen! Sie hat ein ganzes Treibhaus für sich allein, drüben in Maxatawny.« »Sie schmecken nicht so gut wie die Sommermelonen, die im Freien wachsen, aber für Treibhausgewächse sind sie ungewöhnlich aromatisch«, sagte Nancy. Ich bedankte mich; das war wirklich ein schönes Geschenk. »Eric«, sagte ich und gab ihm die Schachtel, »würdest du das Phoebe bringen und sie bitten, einige davon aufzuschneiden, damit wir sie gleich probieren können?« »Das ist eine prima Idee. Ich werde es selber machen, wenn ich nur ein Messer und einen Teller finde.« »Phoebe wird es dir geben. Danke.« Und zu den anderen beiden sagte ich: »Bitte, kommen Sie doch, nehmen Sie sich etwas zu trinken, außerdem möchte ich Sie mit meinem Neffen Liam bekannt machen.«
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Liam war beim Buffet und teilte Getränke aus. Ich stellte ihm Nancy und Godfrey vor, und er füllte zwei Gläser mit Bowle. Zwar hatten sich die drei noch nie gesehen, doch wussten sie eine Menge voneinander. »Meinen Glückwunsch zur Genesung«, sagte Liam, als er Nancy das Glas reichte. »Humphrey hat mir davon erzählt. Peptid T, nicht?« Er hatte das zu Godfrey gesagt, der nun nickte, während er sein Glas in Empfang nahm. »Richtig. Humphrey hat dir gesagt, wie es funktioniert?« »Es blockiert die Rezeptoren, so dass das Virus sich nicht mehr an die Zellen anlagern kann«, sagte Liam, ein wenig zu stolz; er war sich bewußt, Humphreys bester Schüler zu sein. »Genau«, sagte Godfrey mit einem leichten Lächeln. Er senkte die Stimme. »AIDS, das ist die Antwort der Erde auf das, was man ihr angetan hat. Eine Antwort, zumindest. Wir haben sie für den Augenblick überlistet, aber sie würde zweifellos noch anderes versucht haben, um die Überbevölkerung zu verhindern. Wahrscheinlich wird sie es auch weiterhin versuchen - es werden für eine ganze Weile immer noch zu viele Menschen auf diesem Planeten leben.« Die Weltbevölkerung war dramatisch zurückgegangen und lag nun einiges unter der ursprünglichen Zahl von acht Milliarden, aber offensichtlich waren die Gafr immer noch nicht zufrieden. Etwas unbehaglich schaute ich mich um; das war kein Thema, das Brett zu Ohren kommen durfte. Godfrey hatte es bemerkt und lächelte mich an. »Ich sollte hier keine großen Reden halten, schließlich ist es eine Party«, sagte er und wandte sich zu Nancy: »Ich werde mal eben zu Humphrey gehen und ihm guten Tag sagen, meine Liebe.« Als er gegangen war, sagte Liam zu Nancy: »Sie haben doch früher in Philadelphia gewohnt, nicht wahr? Als Eric mir erzählte, wie unglaublich lange Sie den Ausbruch der Krankheit hinauszögern konnten, da habe ich mir gesagt, dass Sie zu dieser Gruppe an der Universitätsklinik gehört haben müssen, von der unser Meditationslehrer, Dr. Feinman, immer gesprochen hat. Erinnerst du dich, Carrie? Diese Meditationsstunde nach dem Unterricht? Ich war bis zur sechsten Klasse auf der Quäkerschule von Germantown.« »Ja, ich habe an diesem Projekt von Dr. Feinman teilgenommen«, sagte Nancy. »Und ich habe auch in Philadelphia gewohnt - aber im Bezirk Delaware. Eine Wohnsiedlung namens High Meadow, nicht weit von Media.« »Du liebe Güte!« sagte ich. »Dort haben wir doch auch gewohnt,
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wir hatten ein Haus in der Meadowvale Lane.« »Meine Adresse war Meadowpark. Na ja, die Welt ist klein. In dem letzten Sommer dort, 2010, hat Eric für mich gearbeitet, aber das war, bevor er nach University Park ging und Brett traf, sonst hätten Sie ihn vielleicht schon damals kennengelernt.« Sie hatte recht, die Welt war klein, und merkwürdige Zufälle gab es zuhauf. Aber Liam wollte mehr über Nancy wissen: »Was machen Sie heute eigentlich?« Nancy nahm ein Blumenkohlröschen, nicht ohne einen kritischen Blick darauf zu werfen, bevor sie es in den Mund steckte. »Ich arbeite für den Rodale-Verlag und beschäftige mich nebenher ein wenig mit Pflanzenzucht«, sagte sie. »Und von der kommenden Saison an werde ich wieder hauptberuflich Pflanzen züchten. Für diese Saison hat man mich zu spät aufgeweckt.« »Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit«, sagte ich, »aber wie fühlt man sich so als Rip van Winkle? Hat sich die Welt sehr verändert in diesen sieben Jahren?« Nancy lächelte. »Das fragt man uns alle. Es ist nicht aufdringlich, aber man möchte sich nicht ständig wiederholen! Es hat sich weniger verändert als jemals in einer Siebenjahresfrist die Gafr haben kräftig auf die Bremse getreten. Die Welt ist trister geworden, die Menschen sind nicht sehr zuversichtlich, was die Zukunft angeht - obwohl Zuversicht früher oft nichts anderes hieß, als Probleme zu verdrängen. Am meisten fällt auf, dass es keine Babys gibt. Was das psychologisch bedeutet, ist den meisten wohl noch nicht klargeworden - man wartet im Grunde darauf, dass der Geburtenstopp demnächst aufgehoben wird, anstatt sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass eine ganze Generation zur Kinderlosigkeit verdammt ist. Ich selbst war dazu auch verdammt, aber da betraf es ja nicht die ganze Menschheit.« Ihre Direktheit machte mich sprachlos, ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Aber warum sollte ich nicht weniger unverblümt die Dinge beim Namen nennen? »Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie Sie sich fühlen müssen, nach allem, was Sie mitgemacht haben - zuerst leben Sie dreißig Jahre lang in der Furcht, ob nicht täglich die Krankheit ausbricht, dann nimmt man Ihnen sieben Jahre Ihres Lebens ... Wird man da nicht verbittert? Beginnt man nicht den Rest der Menschheit zu hassen?« Nancy warf mir einen scharfen Blick zu. »Ich habe innerlich vor Wut gekocht, ohne es zu wissen. Aber das ist lange her, das war noch vor Peach Bottom. Ich fühle keine Wut, keinen Haß, auch verbittert bin ich nicht. Nur allein und ein wenig zynisch. Ich hatte
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Freunde gefunden, kurz bevor die Krankheit ausbrach, die ersten guten Freunde seit meiner Collegezeit. Aber inzwischen haben sie sich in alle Winde zerstreut, oder es sind ganz andere Menschen aus ihnen geworden ... eigentlich nicht verwunderlich, nicht? Sieben Jahre sind eine lange Zeit.« »Das heißt, Sie haben keine Freunde mehr?« »Und das ist hart. Keine Freunde zu haben, sie zu verlieren, wenn man so lange allein und isoliert gelebt hat ...« Ich hatte keine Ahnung, wie Nancy sich fühlen musste, doch bildete ich mir ein, es zu wissen. In dem tröstlichen Bewußtsein, ein ganzes Haus voll Freunde um mich zu haben, sagte ich mit einer Stimme, die selbst in meinen Ohren unaufrichtig klang: »Nun, dann muss man eben von vorn anfangen, dazu ist es nie zu spät, nicht wahr?« Sie zuckte leicht mit den Achseln. »O natürlich. Nur wird man mit der Zeit etwas müde, und man beginnt sich auch zu fragen, ob es die Mühe lohnt.« Liam sagte: »Ja, aber als Sie aufwachten, da gab es doch Godfrey.« Nancys Gesicht hellte sich auf. »Richtig, Godfrey war da.« Sie tauschte einen Blick mit Liam, und in diesem Augenblick war ich diejenige, die sich ausgeschlossen fühlte, trotz Humphreys Bekenntnis, wie gern er mich hätte. »Und Eric dazu«, erinnerte sie Liam. Sie nickte. »Und Eric. Mehr als ein Korn für ein blindes Huhn. Es könnte schlimmer sein.« Wie auf ein Stichwort hin kam Eric aus der Küche; er trug eine Platte, auf der dünn geschnitten die Melonenscheiben lagen, das Fruchtfleisch von einem kräftigen Lachsrosa. Jeder probierte eine kleine Scheibe. Meine schmeckte süß wie Zucker; ich schnappte mir schnell noch zwei weitere Stücke, bevor Eric die anderen Gäste bediente. Als er weg war, wechselte Liam endlich das Thema. »Ich möchte Sie etwas fragen: Meditieren Sie noch?« »Ja«, sagte Nancy. »Jeden Tag zweimal, immer eine halbe Stunde. Als die Krankheit ausbrach, da hatte ich es aufgegeben. AIDS habe ich nun überstanden, aber ich habe bei dem Reaktorunglück eine ziemliche Strahlendosis abbekommen - ich muss mich also etwas anstrengen, wenn ich nicht Leukämie bekommen möchte.« Sie nahm eine Karotte und tippte sie ganz leicht in die Soße. »Und du?« »Ich konnte das nie sehr gut ... ehrlich gesagt, ich war ziemlich
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schlecht«, sagte Liam zerknirscht. »Mein bester Freund konnte es viel besser, er hat versucht, es mir beizubringen. Ein wenig hat es schon geholfen, aber nicht viel. Aber ich habe auch einiges an Strahlung abbekommen, einige Jahre später ... vielleicht sollte ich besser wieder damit anfangen?« »Nun, schaden kann es nicht«, sagte Nancy. »Niemand weiß zwar, ob es das Meditieren war, der Sport, das schauderhaft gesunde Essen, was uns so lange am Leben erhalten hat vielleicht war es nichts weiter als Glück. Ich weiß nur, dass ich diesmal dabei bleiben werde. Nach sieben Jahren im Tiefkühlfach möchte ich so lange leben, wie es nur geht.« »Das möchte ich auch«, sagte Liam und warf mir einen verstohlenen Blick zu. Es tat gut, das zu hören, auch wenn es nun nichts Überraschendes mehr war. Fast kamen mir wieder einmal die Tränen. »Vielleicht kann dir dein Freund dabei helfen, wenn man gut motiviert ist, ist es nicht so schwer«, sagte Nancy. »Habt ihr noch Kontakt?« Liam schüttelte den Kopf. »Er starb bei der Reaktorkatastrophe.« Ich hatte Liam kaum jemals über Jeff reden hören, obwohl ich wusste, dass ihm seine Erinnerungen nun wieder zugänglich waren. Dies war wirklich ein ungewöhnlich bewegender Tag. Ich entschuldigte mich und ging, um mich nach einem anderen Gesprächspartner umzusehen; das hier war mir zu heikel. Ich hörte noch, wie Nancy Liam anbot, ihm selbst das Meditieren beizubringen, wenn er wollte. Phoebe hatte überall in Wohn- und Eßzimmer Platten mit belegten Broten verteilt; ich sah die beiden Hobbs mit Jenny und Frank bei einer solchen Platte stehen und ging hinüber. Jenny lächelte etwas gezwungen. »Wir haben über Elphi gesprochen«, sagte sie, »wie schön, wenn er heute hier sein könnte.« »Elphi, Matt, Mark und Jeff«, zählte ich auf. »Und Margy fehlt noch, sonst wären wir komplett.« Ich blickte in die Runde, es stimmte. Sonst waren alle da, die ich bei meinem Fest dabeihaben wollte. Da klingelte es wieder an der Tür. Ich fragte mich, wer jetzt noch kommen konnte, und als ich öffnete, stand eine kleine Frau von vielleicht vierzig in einem langen, flauschigen Mantel vor mir. »Ich heiße Julie Hightower«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln, »Liams Therapeutin. Er fragte, ob ich nicht vorbeikommen könnte, ich sollte dabei sein, wenn Sie sein Geschenk auspacken. Ich komme hoffentlich nicht zu spät? Ich hatte einen Notfall in
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meiner Praxis, es hat mir den ganzen Tag durcheinandergebracht.« Das also war diese Julie, die Liam geholfen hatte, mit seinem Trauma fertigzuwerden. »Nein, keineswegs, so weit sind wir noch gar nicht. Ich dachte eben gerade, dass alle da sind, die ich heute um mich haben möchte - aber jetzt gilt das umso mehr. Ich bin Carrie, Liams Tante.« Liam hatte Julie sofort bemerkt und kam herüber. »Wunderbar! Julie ist da, jetzt können wir mit dem Auspacken anfangen!« »Es ist Carries Geburtstag«, ermahnte ihn seine Mutter streng. »Sie bestimmt, wann ausgepackt wird. Kannst du nicht warten?« Liam sah mich so flehend an, dass ich nicht anders konnte, als zu sagen: »Gib Julie einen Teller und ein Glas Bowle, dann kann es losgehen.« »Unser Geschenk zuerst«, sagte er, und ich war einverstanden. Alle versammelten sich um mich, um zuzuschauen: Terry und Pat, Eric und Brett, Jenny und Frank, Nancy und Godfrey, Phoebe, Humphrey, Julie und Liam. Ich nahm das flache Päckchen, das oben auf dem Stapel lag, und schlug das Papier auseinander. Es war natürlich eine Videokassette. Liam sagte: »Ich habe mit Mutter den großen Projektionsschirm hervorgekramt, wir können es gleich einmal abspielen.« »Erst wenn auch die anderen Geschenke ausgepackt sind!« protestierte Phoebe. Aber ich kam zu Hilfe. »Nein, wir wollen es uns gleich ansehen. Stell den Projektor auf, Kleiner. Wer kümmert sich um die Jalousien?« Jeder suchte sich einen Sitzplatz, nur Liam lief aufgeregt durchs Zimmer, bis alle Vorhänge zugezogen und die Jalousien heruntergelassen waren. Eigenhändig legte er die Kassette ein, doch dann verschwand er noch einmal in der Küche und tauchte mit zwei großen Tellern wieder auf: Ich brauchte eine Weile, bis ich es erkannte, dass es sorgfältig zerteilte Krapfen waren: Krapfen mit bunten Zuckerperlen, Krapfen mit Schokoladeüberzug, geleegefüllt und glasierte Krapfen. Er reichte die Teller Godfrey und Pat. »Gebt sie bitte weiter, ja?« Dann kam er und setzte sich neben mich auf den Fußboden, die Arme um die Knie gelegt. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich beugte mich zu ihm und gab ihm einen Kuss, sprechen konnte ich nicht. Die Teller wanderten von Hand zu Hand, und auch die, die nicht wissen konnten, was diese Krapfen bedeuteten, verstanden, dass es Teil eines Rituals war. Der Teller kam zu mir. Von dem Stück Krapfen, das ich mir
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nahm, quoll rotes Gelee, und auch Liam nahm sich so ein Stück, ohne zu sehen, was er da in der Hand hatte. Geleegefüllte Krapfen hatte Jeff am liebsten gemocht. Es war still im Zimmer. Liam sagte: »Ich bin sehr froh, dass ich euch heute diesen Film zeigen kann.« Ich konnte endlich wieder sprechen und rief Terry, dass er sich neben mich setzen solle; er kam bereitwillig, und als es dunkel war im Zimmer, nahm er meine vor Aufregung feuchte Hand und hielt sie mit festem Griff. Humphrey kam näher und ließ Liam nicht aus den Augen. Alle anderen blickten gespannt auf die Leinwand. Grauer Himmel war zu sehen, so, als würde man heute aus dem Fenster schauen. Dann Äste, ein Wald, brauner Waldboden. Endlich ein deutliches Bild. »Der Zackenfelsen!« rief ich, und ich hätte nicht aufgeregter sein können, wenn ich nicht gewusst hätte, was es mit Liams Film auf sich hatte. Der Felsen. Terry neben mir atmete schwer, und seine Hand schloss sich fester um meine. Die Kamera fuhr einige Male hin und her und zeigte ein Stück des Weißen Weges. »Wann hast du das aufgenommen?« fragte ich Liam. »Im Sommer«, sagte er fröhlich. »Aber warte, was jetzt kommt, Carrie, warte nur!« Es dauerte nicht lange. Vor der Linse war nicht länger nur Himmel, Wald und Felsen. Am Hang oberhalb des Felsens bewegte sich etwas, und nun erkannte man einen Hirsch; bald füllte das stattliche Tier das ganze Bild aus. Wild rollten seine Augen, von seinem Maul troff Schaum; er war so vertieft in seine Beschäftigung, dass er weder den Menschen, der ihn filmte, noch jenen Jungen bemerkte, der außerhalb des Blickfelds der Kamera auf dem Felsen kauerte. Er stampfte mit den Läufen, wühlte mit dem Geweih die Erde auf, schlug nach den Ästen. Aus den Nüstern strömten Wölkchen von Dampf. Es war wundervoll. Was ich fühlte, war kaum zu beschreiben, selbst jetzt fehlen mir die Worte dafür. Fünf lange Minuten tobte das Tier, stand dann einen Augenblick still, richtete sich stolz zur vollen Größe auf und war mit einem einzigen Satz verschwunden. Die Tränen, die ich den ganzen Tag über hatte unterdrücken können, waren nicht mehr aufzuhalten. Terry neben mir schluchzte. Jemand öffnete Vorhänge und Jalousien. Liam war ein klein wenig bestürzt, als er Terry und mich weinen sah. Er hatte erwartet, dass ich gerührt wäre. Aber dieses haltlose Weinen? Und warum weinte Terry? Nach einer Weile setzte er sich neben Terry und fragte
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behutsam: »Hat es dich an Jeff erinnert? Ist es deswegen?« Terry trocknete sich mit dem Taschentuch das Gesicht, doch konnte er noch immer nicht sprechen. »Das ist nur ein Grund«, gab ich für ihn die Antwort, »und nicht der wichtigste.« Die anderen Gäste, die angesichts dieses Tränenmeers weit weniger befremdet waren, als man vielleicht erwartet hätte, saßen oder standen schweigend um uns herum und verfolgten das Drama. »Würden Sie mir bitte dieses Buch reichen?« fragte ich Julie Hightower, die am nächsten stand, und zeigte auf den Couchtisch. Es war das Jahrbuch der Pennsylvania-Universität von 1992, das ich eigens für diesen Fall aus Bergen von Papier ausgegraben und hier deponiert hatte, damit es griffbereit war. Ich hatte einen Briefumschlag zwischen die Seiten gelegt, wo es aufgeschlagen werden sollte. »Hast du das schon mal gesehen, Kleiner?« fragte ich Liam. Ich reichte ihm das Buch, und ungläubig ging sein Blick zwischen dem Foto von Terry als junger Student und jenem fünfzigjährigen, fast kahlen Mann neben mir hin und her, der immer noch in sein Taschentuch weinte. Dann begann er zu begreifen. »Terry«, sagte er, »du! Du warst es! Die ganzen Jahre wusstest du es! Die ganze Zeit - die ganze Zeit!« Wenn noch ein Zweifel an dem bestanden hatte, was Terry im Zeitfenster gesehen hatte, er war nun ausgeräumt. Terry konnte nur nicken und weinen. »Ja, ich war es.« Ich fühlte Humphreys Blick auf mir und sah ihm in die Augen. Ich nickte: Damit hatte sich auch dieser Punkt erledigt. Phoebe trug den Kuchen herein. Man begann zu singen: »Happy Birthday to You.« Wenn ich an meinen siebzigsten Geburtstag zurückdenke, dann ist es eigentlich immer nur diese Szene, die ich mir vergegenwärtige: dieser Augenblick, auf den ich in gewissem Sinne dreißig Jahre gewartet habe, der die Antwort auf alle Fragen brachte, in dem sich alle Teile des Puzzles endlich zusammengefügt hatten. Wie sagen die Hobbs? Es gibt nur eine Zeit.
ENDE
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Zeittafel 1623-2020 1623 Das Gafr-Schiff landet in Schweden und England und setzt zwei Gruppen von Meuterern ab. 1941 Gunnar Lundquist wird am 12. Januar in Skane (Schweden) geboren. 1942 Matthew Franklin wird am 17. Februar in Louisville, Kentucky, geboren. 1950 Carrie Sharpless wird am 3. November in Philadelphia geboren. 1955 Der Hobb Lexifrey verlässt den Hof der Lundquists und zieht mit Gunnar nach Norden. 1956 Frank Flintoft wird am 11. Main in Whitley, Nordyorkshire, geboren. 1958 Jenny Shepard wird am 29. August in Miami geboren. 1963 Nancy Sandford (Sandy) wird am 19. April in Denver geboren. 1970 Terry Carpenter wird am 3. Juli in New York geboren. 1975 Pat Butler wird am 12. Oktober in Stamford, Connecticut, geboren. 1978 Frank Flintoft wird von Hobbs aus dem Schneesturm gerettet. 1981 Brenda Hollis wird am 5. Februar in Emmaus, Pennsylvania, geboren; Gunnar Lundquist kehrt nach Schweden zurück. 1985 Sandy erfährt das Ergebnis des HIV-Tests: Sie ist infiziert. 1989 Margaret O'Hara wird am 29. Januar in Philadelphia geboren. 1990 Carrie und Terry beobachten im Park die Paarung der Hirsche (31. Oktober); Eric Meredith wird am 20. September in Erie, Pennsylvania, geboren. 1991 Brett O'Hara wird am 11. September in Philadelphia geboren. 1992 Terry schließt das College ab und schreibt sich an der juristischen Fakultät in Georgetown ein.
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1993 Sandy schließt ihre Doktorarbeit ab und tritt ihre Stelle am College in Delaware an. 1994 Jenny wird von Elphi in Yorkshire entführt; der Kongreß beschließt die Einrichtung eines staatlichen Gesundheitsdienstes. 1995 Terry schließt sein Jurastudium ab und heiratet Anne Redfern. 1998 Jeff Carpenter wird am 3. März in Philadelphia geboren; Liam O'Hara am 25. August, ebenfalls in Philadelphia; Terry wird in das Parlament des Staates Pennsylvania gewählt. 1998/99 AIDS-Pogrome in den USA 1999 Sandy wird fest angestellt, kauft ein Haus; Midlife-crisis. 2000 Sandy in den Poconos 2001 Löwenfels-Impfstoff entdeckt. 2002 Terry wird in den Kongreß gewählt. 2006 Das fremde Raumschiff taucht auf (5. März) und verlässt das Sonnensystem wieder (30. April); Jenny lernt Frank kennen, sie finden Woof Howe in einem Moortümpel. 2007 Jenny und Frank heiraten; Elphi macht sich auf dem Hof nützlich. 2010 Reaktorkatastrophe von Peach Bottom (August); Eric arbeitet für Sandy, geht dann nach University Park; das Raumschiff kehrt zurück (Oktober), um zu bleiben; Carrie und Matt verbringen ein Studienjahr (2010-2011) am Darwin College in Cambridge; Liams Familie zieht nach College Park, Maryland; Terry und Anne werden geschieden. 2011 Die Hobbs verkünden die Direktive (der Gafr) und stellen ein Ultimatum; Pomphrey ordnet die Suche nach Gunnar Lundquist an (Spätsommer); Lexis Leiche wird in Nordschweden gefunden; Carrie und Matt ziehen zu Liams Familie in das Haus in College Park. 2012 Sandy erkrankt akut an AIDS (Januar); Eric schließt sein Studium an der Pennsylvania-Universität ab (Mai); Elphi beschließt, sich an die Öffentlichkeit zu wenden und enthüllt die Existenz der Gafr (Juni); Sandy beginnt den Kälteschlaf (August); Elphi stirbt an Bord des Raumschiffs.
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2013 Liam reißt aus (März); das Ultimatum der Gafr wird widerrufen (6. Juni) und der Geburtenstopp (mittels Massensuggestion) verkündet. 2019 Medikament gegen AIDS ist einsatzbereit; Sandy wird aus dem Kälteschlaf geweckt. 2020 Ablauf des Ultimatums; Liam und Humphrey schenken Carrie zum siebzigsten Geburtstag den Film von dem forkelnden Hirsch im Park.
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