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Die Rattenfängerin Helen Amberg
Kriminalroman
eBook-Edition
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Die Rattenfängerin
Helen Amberg
- Kriminalroman...
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Die Rattenfängerin Helen Amberg
Kriminalroman
eBook-Edition
2
Die Rattenfängerin
Helen Amberg
- Kriminalroman-
Verlag
FitForNet Online Internetjournal
eBook Edition – CD-ROM
© 2000 FitForNet Internetjournal, Hamburg;
Hergestellt in Deutschland Graphik: Corel Corp. 1997
All products are trademarks or registered trademarks of their respective companies.
Die Handlung dieses Kriminalromans basiert auf tatsächlichen Begebenheiten. Die handelnden Personen, Namen und Schauplätze wurden so verändert, daß kein Bezug zu den tatsächlichen Vorkommnissen hergestellt werden kann. ISBN: 3 - 00 - 006756 – 6
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Sonntag, 22. März ‘98, 0.50 Uhr - München Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
"Madame Butterfly" war ein echter Genuß gewesen. Ein Jammer nur, daß er in der Pause hatte gehen müssen. Er hatte den Höhepunkt versäumt. Aber dieser geschäftliche Anruf in Tokio ... Beate von Rhoden schloß die Haustür auf. Sicher wartete er schon mit einem Glas Champagner im Wohnzimmer auf sie, um sich den letzten Akt gemeinsam mit ihr von der CD anzuhören ... In der Halle brannte Licht. Während sie die Nerzstola ablegte, fiel ihr auf, daß es merkwürdig still war in der Villa. Dabei mußte er doch längst zu Hause sein! Eine Minute später wußte sie es: Er war nicht da. Und er würde wohl auch nicht mehr kommen; denn in ihrem Schlafzimmer fehlte der Cézanne.
Sonntag, 17. Mai ‘98, 9.20 Uhr - Berlin Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Sonnenstrahlen fielen auf ihre Lider. Irene Sanders blinzelte. Gleichzeitig tastete ihre Rechte zum anderen Kissen hinüber. "Liebling?" Es dauerte einige Sekunden, bis sie begriff, daß sie allein in dem breiten französischen Bett lag. Schlagartig saß sie aufrecht. Sie sah sich um. Der stumme Diener, über den er gestern abend seine Kleider gehängt hatte, war leer. Sie griff automatisch nach ihrem seidenen Morgenmantel und streifte ihn wie üblich über; sie vermied es, außerhalb des Bades nackt herumzulaufen; schließlich war sie keine dreißig mehr, und bei einem so jungen Liebhaber ... Sie zwang sich zur Ruhe, während sie in den Wohnraum hinüberging. Trotzdem klopfte ihr das Herz bis zum Halse. Es genügte, die Tür einen Spalt weit zu öffnen, da wußte sie schon, daß genau das eingetreten war, was sie insgeheim immer befürchtet hatte: In der Wand über dem Schreibtisch gähnte die schwarze Öffnung des Safes - ausgeräumt! Na ja, außer dem Perlen- Collier war nur wenig Bargeld darin gewesen, und der Schmuck war sehr gut versichert. Aber die kleine Elevin zu stehlen ...
Sonntag, 5. Juli ‘98, 8.30 Uhr - Lübeck Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
‘Zehn Jahre jünger in dem neuen Kostüm!’ Hella Windchen warf einen letzten zufriedenen Blick in den großen Spiegel im Flur. Dann steckte sie den aufgeschlagenen Auktionskatalog in ihrer Handtasche. Vielleicht würde sie heute ihr erstes Sammlerstück ersteigern! Wie wunderbar, daß er sie in die Welt des alten Meißner Porzellans eingeführt hatte! Endlich eine Möglichkeit, Geld nicht allein in einer gewinnbringenden, sondern zugleich außergewöhnlichen Form anzulegen. Diese Miniaturen würde sie in einer
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Vitrine in ihrer eigenen Wohnung aufbewahren; so könnte sie, wann immer sie es wünschte, die kleinen Kunstwerke in die Hand nehmen und ausgiebig bewundern.
Freitag, 4. September ‘98 - Hamburg- Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
'Zwei, vier, sechs, acht, zehn - zwei, vier, sechs, acht, zehn - Absatz'. Energisch nahmen die weißen Leinenschuhe die hölzernen Treppenstufen. Vorbei ging es an den altmodischen, aber gepflegten Wohnungstüren in der ersten und zweiten Etage. Der Geruch von Bohnerwachs hing im Treppenhaus. ‘Geschafft!’ Constanze schnappt nach Luft, während sie aufschloß. Als sie den hohen Flur der Altbauwohnung betrat, schlug ihr ein Rauschen entgegen. Es duftete nach Kräutern der Provence. Constanze steckte den Schlüssel um und legte Rucksack und Inlineskates vorsichtig auf dem Boden ab. Die Küchentür war nur angelehnt; Constanze zog sie vorsichtig weiter auf und lugte in die Küche. "Ich bin's. Georg hat mir seinen Schlüssel gegeben. Er hockt mit Flori im Sandkasten. In zehn Minuten kommen die beiden nach.“ Frederike wellte Pizza- Teig aus. Sie hatte ihre flammend roten Locken mit einem grünen Haarband gebändigt, ihre Wangen glühten von der Küchenarbeit. "Wer dich so sieht, glaubt sofort wieder an den Mythos vom Heimchen am Herd!" frotzelte Constanze. "Laß’ dich bloß nicht von deinem Professor erwischen; sonst hält er dich noch für eine seiner Alibi- Studentinnen.“ "Auch Denker müssen essen“, kam die lakonische Antwort, "und zwar möglichst gesund. Du weißt doch, mediterrane Kost ..." Sie griff nach der Suppenkelle, um die duftende Tomatensoße auf dem Teig zu verteilen. "... garantiert ein langes Leben, ich weiß", grinste Constanze. "Du könntest schon die Flasche Rotwein aufmachen. - Du trinkst doch Wein, oder bist du etwa per Auto hier?" "Na, hör' 'mal, die zwei Kilometer sind doch per Skates ein Katzensprung. Ich trinke heute abend sehr gerne euren Rotwein, und danach gehe ich zu Fuß nach Haus.“Sie verschwand im Flur, um gleich darauf mit einer Flasche Champagner zurückzukommen. "Denn heute ..." Constanze sah ihre Freundin spitzbübisch an, "... gibt es etwas zu feiern!“ Frederike stutzte. Dann dämmerte es ihr. "He! Du hattest deinen Vorstellungstermin. Und du hast den Job bekommen!" Sie ließ Topf und Kochlöffel ins Abwaschwasser gleiten, wischte die Hände flüchtig in ihrer Schürze ab und umarmte die Freundin. "Wunderbar, ich freu' mich für dich!" "Ich bin auch froh. Jetzt stehe ich zumindest für die nächsten Monate in Lohn und Brot." "Wie lang ist die Probezeit?" "Drei Monate. Mit einem interessanten Projekt geht’s los. Wir nehmen an einer Ausschreibung teil. Die Frist läuft schon. Es geht um das Außengelände für einen Versicherungsneubau - mitsamt Ruhe- und Erholungszonen im Freien.“ "Hört sich gut an - nach Kreativität und genügend Geld.“ "Natürlich. Eine tolle Chance. Bei meiner alten Firma in Halstenbek habe ich ja hauptsächlich kleine Privatgärten gestaltet. Wir waren ja auch nur zu viert bei
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Bergner. Hier geht’s um ganz andere Dimensionen. Und um die Umsetzung ganz anderer Ideen. Weißt du, der alte Bergner war eben selbst auch eher konservativ." "Aber du warst doch eigentlich zufrieden oder?" "Ja, schon. Aber es war als Sprungbrett gedacht; und von dem mußt du irgendwann abspringen. Außerdem bin ich jetzt dreißig. - Stell' dir vor, ich bin jetzt Leiterin eines Teams von drei Mitarbeitern und verdiene erheblich mehr als früher. Neben mir gibt es nur noch einen weiteren Kollegen, und dann kommt der Chef. Und wenn der sich später ins Privatleben zurückzieht, dann ..." "Dann hast du dich ja enorm verbessert!" "Na ja", sagte Constanze, „finanziell und von den Aufstiegs- Chancen her bestimmt. Der Haken ist, daß ich jetzt jeden Tag 50 Kilometer hin- und zurückfahren muß.“ "Und wo genau ist das?" "Nordwestlich von hier, also schon in Schleswig- Holstein, bestes Baumschul- und Rosenzuchtgebiet. Der Ort heißt Brande- Hörnerkirchen; hat zwar nur 1.300 Seelen, aber dafür eine Firma mit Weltruf." "Hast du deinen neuen Kollegen schon kennengelernt?" "Noch nicht." Constanze öffnete den Rotwein mit einem leisen ‘Plopp’. „Aber vor dem habe ich keine Angst. Ich habe eine solide Ausbildung und bin im Beruf bisher immer gut mit Männern zurechtgekommen; deren sachlicher Ansatz liegt mir." Frederike musterte sie und sagte mit zweifelndem Unterton: "Na, hoffentlich bleibt er sachlich - bei deinem Aussehen!" "Keine Angst, meine Liebe. Ich habe schon ein wenig vorgesorgt." Damit streckte ihr Constanze demonstrativ die linke Hand entgegen. Als einziger Schmuck prangte am linken Ringfinger ein schmaler Goldreif - unübersehbar für jeden Mann, der bei Frauen auf so etwas achtete. "Kleine Abschreckung", lachte sie. Es klingelte. Constanze ging zur Tür, während Frederike die Pizza mit Käse bestreute und in den Ofen schob. Mit der Ruhe war es jetzt vorbei. "Ich bring den Sandmann gleich ins Bad. Badest du ihn?" rief Georg vom Flur her. "Zum Kinderbaden hat er noch immer keine Lust", erklärte Frederike mit einem Seufzer. "Also bin ich jetzt dran." Georg und Constanze deckten den Küchentisch. "Hat Flori schon Abendbrot gegessen?" wollte Constanze wissen. "Er trinkt heute abend nur noch seine Flasche, und die ist schon fertig." Georg nahm die Flasche aus dem Fläschchenwärmer, wischte sie trocken, drückte ein paar Tropfen der Kindernahrung auf seinen linken Unterarm und murmelte: "Gut." "Professioneller Vater", sagte Constanze anerkennend. "Ich übe ja auch schon eine Weile", wiegelte er ab, "und ich habe neuerdings Unterstützung durch Frau Bauer - ein echter Glücksfall." Frederike kam herein. "Flori schläft schon halb, Georg. Hast du die Flasche fertig?“ Georg nickte und verschwand samt Babyfläschchen in Richtung Kinderzimmer. Während Frederike den Rotwein einschenkte, fragte sie ihre Freundin: "Hat Georg dir eigentlich schon von Floris Ersatz- Oma erzählt?" "Er hat vorhin eine Frau Bauer erwähnt."
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"Die ist es. Sie wohnt hier im Haus - im ersten Stock", erklärte Frederike. "Voriges Jahr ist ihr Mann verstorben, die Kinder wohnen weit weg. Sie ist 65, noch topfit und überhaupt nicht ausgelastet. Vor ein paar Wochen hatten wir im Treppenhaus ein längeres Gespräch. Dadurch hat es sich ergeben." "Und Flori?" "Der hat sie richtig gern. Und sie ist ganz vernarrt in ihn. Stell’ dir vor, demnächst belegt sie sogar einen Kochkurs, damit sie ihn kindgerecht bekochen kann!" "Klingt gut. Dann kannst du das neue Semester ja ganz gelassen angehen." "Na ja, gelassen wäre übertrieben. Aber ich kann von vornherein mehr belegen als im Sommersemester, weil ich Frau Bauer jetzt fest für Floris Betreuung einplanen kann. Das war bei Georg ja nicht möglich. Aber das Hin und Her zwischen Zuhause, Hochschule und Büro geht trotzdem weiter." "Aber du mußt nicht mehr so hetzten." Frederike nickte. "Stimmt“, sagte sie, "und Georg kann in Ruhe recherchieren und schreiben." Georg arbeitete als freier Journalist für die Gesundheits- Redaktion eines privaten Fernsehsenders. Frederike war gelernte Bauzeichnerin. Seit zwei Semestern studierte sie Architektur an der Fachhochschule, jobbte aber nebenbei noch in einem Architektenbüro in Blankenese. "Vielleicht entwickelt sich eure Frau Bauer ja zu so einem Schatz wie unsere Hilde", meinte Constanze. "Sie war immer für uns Kinder da, wenn wir sie brauchten." "Solange ich studiere, ist das wirklich eine gute Lösung ", sagte Frederike. "Natürlich nicht für immer. Irgendwann will ich mit meinen Kindern aufs Land." "Mit Kind -ern?" fragte Constanze gedehnt und sah die Freundin forschend an. Frederike winkte ab. "Keine Panik! Erst kommt das Diplom. Und dann will ich versuchen, bei 'Wilde & Co.' fest einzusteigen. Die Chancen stehen gut. Im Moment übernehme ich sogar einiges von der Windchen; die fällt nämlich schon seit Wochen aus - eine unglückliche Liebesaffäre ... außerdem wird etwas von finanziellen Verlusten gemunkelt!" Constanze zog die Brauen hoch. Dann sagte sie langsam: "Ach! Und ich dachte immer, für so 'was sei die Windchen viel zu vernünftig?" Hella Windchen war Architektin und das "Co" von Wilde; sie leitete das Partnerbüro in Lübeck; eine Selfmade- Frau von Mitte fünfzig, in deren Leben ausschließlich der Beruf eine Rolle zu spielen schien. "Dachte ich auch immer. Aber du hättest sie ‘mal im Café bei Kaffee und Marzipantorte erleben sollen ... im Juli ... richtig aufgebrezelt - weil nämlich in Begleitung!" "Ach nee." "Oh doch! Ich hab’ sie selbst gesehen - als ich Mitte Juli meine Eltern in Lübeck besucht habe. Nachmittags war ich mit meiner Mutter in der Stadt, und als es zu regnen anfing, haben wir uns ins Café gesetzt. Da saß auch die Windchen samt Lover. Leider konnte ich ihn nur von hinten sehen. Aber schon das war wirklich
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vielversprechend, sag’ ich dir. Jung und knackig! Übrigens“, Frederike lächelte vielsagend, "von den Wildes war es bestimmt keiner." "Das beruhigt mich sehr", murmelte Constanze. "Constanze, was ist, wollen wir sie fotografieren oder ...?" Georg stand in der Küchentür, hielt die Flasche Champagner hoch und schwenkte in der anderen Hand drei langstielige Gläser. "Viel Glück und zwei grüne Daumen für deine neue Arbeit!" Die Sektkelche klirrten beim Anstoßen. Draußen wurde es langsam dunkel. Die Pizza war längst verspeist, aber sie saßen immer noch zu dritt am Küchentisch. Georg hatte eine von den handgezogenen dänischen Kerzen angezündet. Es war urgemütlich in Frederikes Küche: rustikale Kiefernmöbel auf honigfarbenem Korkfußboden, üppig grüne Küchenkräuter in Töpfen auf der Fensterbank vor dem Sprossenfenster, goldgelbe Töpfe und Schalen für Zwiebeln und Obst. Es war warm und duftete nach Oregano und Knoblauch. Das Kerzenlicht spiegelte sich in den Gläsern mit Rotwein. Constanze dachte daran, daß dieses wohl der vorerst letzte so besinnliche Abend in dieser Runde sein würde. Schon in gut einer Woche würde sie ihre neue Stellung antreten; das bedeutete schlagartig Hochleistung. Hinzu kam, daß die neue Firma fast fünfzig Kilometer von ihrer Wohnung entfernt lag; das bedeutete täglich zwei Stunden Fahrzeit. Aber was sollte es: Sie hatte die Herausforderung bei der Rudolph GmbH offiziell angenommen. Frederike schien ihre Gedanken zu erraten. "Fährst du vor Antritt deiner Stelle eigentlich noch in die Idylle?" fragte sie. Constanze überhörte die Anspielung. Ihre Freundin nannte das Zuhause der Petersens immer so. "Ja, wahrscheinlich nächsten Sonntag", antwortete sie ruhig. "Vater interessiert sich immer sehr dafür, was ich beruflich mache. Außerdem wird es Zeit, daß meine Kübelpflanzen vom Balkon in Mutters Wintergarten umziehen. Ich habe ja keinen geeigneten Platz zum Überwintern. Und außerdem“, sie trank einen Schluck Wein, "hat mir meine Schwester geschrieben." Sie griff nach ihrer kleinen Umhängetasche, die über ihrer Stuhllehne hing und zog eine Postkarte hervor. "Hier, die ist vor ein paar Tagen gekommen." Frederike hielt die Karte so, daß sie die Schrift im Kerzenschein entziffern konnte und konstatierte nüchtern: "Du sollst ihren neuen Schwarm begutachten." "Ja. Sie scheint furchtbar verliebt zu sein und will ihn zu Hause vorführen." Constanze zog die Augenbrauen hoch: "Hoffentlich ist es diesmal der Richtige!" "Der Wievielte ist es denn schon?" wollte Georg wissen. Eigentlich interessierten ihn Beziehungsprobleme nicht sonderlich, aber für Constanze schien die Angelegenheit wichtig zu sein. "Der dritte Ernsthafte. Mit dem ersten ist sie gleich nach dem Abi durchgebrannt, aber nach einem halben Jahr platzte die Beziehung. Damals hat sie auch ihr Studium aufgegeben." Constanze trank einen Schluck Wein. "Stattdessen jobbte sie in einer Galerie, wo sie Nr. 2 kennenlernte: Volker, Top- Autoverkäufer mit gutem Einkommen und viel Charme. Fast fünf Jahre lang haben sie die bürgerliche Familie gespielt: Er machte Karriere, und sie stand am heimischen Herd und hütete die Kinder.Leider hat sie dabei vorlauter Windelwickeln den Moment verpaßt, in dem er anfing, sich für andere Frauen zu interessieren ..." "Von ihm sind also die beiden Kinder?" fragte Frederike.
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"Die drei Kinder", korrigierte Constanze. "Sonja hatte es nach der Scheidung ganz schön schwer. Wenn unsere Eltern nicht gewesen wären, ..." "Die Frauen sind auch heute noch meistens die Dummen, wenn eine Ehe auseinandergeht", stellte Frederike nüchtern fest, "vor allem, wenn sie keine solide Berufsausbildung haben." "Ah, jetzt weiß ich endlich, warum ihr beide so karrieresüchtig seid – Ihr rechnet jeden Tag mit dem Ernstfall oder?" grinste Georg herausfordernd.
Sonntag, 13. September ‘98 - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
"Nimm man noch 'n Stück von dem Zwetschenkuchen, Constanze, is' heute morgen frisch gebacken", sagte Hilde mit Nachdruck in ihrem unverkennbaren Hamburger Platt. "Du bist so dünn, min Deern. Seitdem du in der Stadt wohnst, ißt du bestimmt nicht mehr regelmäßig". Damit legte sie Constanze ein weiteres Stück Kuchen auf den Teller; Constanze hatte gar keine Chance abzuwinken. Die gute Hilde! Solange Constanze denken konnte, war Hilde nicht nur die unumschränkte Herrscherin über Küche und Keller, sondern zugleich die Seele des elterlichen Haushaltes. "Essen hält Leib und Seele zusammen", pflegte sie immer zu sagen, wenn jemanden aus der Familie ein Problem drückte. Wie oft hatte Constanze als Schulmädchen bei ihr in der wohlig warmen Küche gesessen und bei Kartoffelpuffern mit Apfelmus, die Hilde in der alten gußeisernen Pfanne für sie briet, von ihren kleinen und größeren Sorgen erzählt! Damals waren die Eltern häufig auf Reisen gewesen, zu Kongressen, an denen der Chemiker Dr. Kurt Petersen im Rahmen seiner Arbeit bei einem Margarine-Hersteller teilnahm. Hilde hatte sich dann immer liebevoll um die Mädchen und das Haus in Wedel gekümmert. Heute, mit siebzig Jahren, lebte und arbeitete Hilde, die nie geheiratet hatte, immer noch im Petersenschen Haushalt. Allerdings ging ihr inzwischen eine junge, flinke Küchenhilfe zur Hand; darauf hatten ihre Arbeitgeber vor einigen Jahren zu Hildes Bestem bestanden. Constanze genoß es ganz bewußt, ab und zu nach Hause zu kommen. Hier gab es immer noch ein bißchen von der altmodischen Harmonie ihrer Kinderzeit, und das tat ihr gut. Hildes kleine, mausgraue Augen blitzten aufmerksam wie immer, als Constanze Kaffee nachschenkte. Altländer Apfel- und Zwetschenkuchen waren Hildes Spezialitäten, die halbfest geschlagene süße Sahne dazu war ein absolutes Muß. Mit unverhohlener Freude stellte sie fest, daß es auch heute wieder allen schmeckte. Sie strahlte über das ganze rundliche Gesicht. Nach längerer Zeit endlich einmal wieder eine Kaffeetafel nach Hildes Geschmack: alle Erwachsenen der Familie einträchtig versammelt um den runden Tisch im Wintergarten; außerdem ein Gast, den Sonja Petersen an diesem zwar schon kühlen, aber sonnigen Septembernachmittag mitgebracht hatte. Auf dem weißen, frisch gestärkten Damast schimmerten das beste Geschirr und das Familiensilber, in der Tischmitte leuchtete ein kurz gebundener Strauß kleiner, goldgelber Astern.
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Sonjas Gast und Frau Petersen unterhielten sich angeregt über die Eutiner Sommerspiele. Frau Petersen versäumte es in keiner Saison, mindestens zwei Aufführungen zu besuchen. "Diese Atmosphäre, Herr Fahrenholt, ...", schwärmte sie. Sie war eine kleine, zierliche Frau in den Fünfzigern, lebhaft und begeisterungsfähig. Er lächelte charmant. Constanze beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, während sie langsam ihren Kuchen aß. Er sah gut aus: Mitte dreißig, dunkelhaarig, braungebrannt, Dreitagebart. Sein Gesicht war vielleicht etwas zu kantig ...; dafür entblößte er makellos weiße Zähne, wenn er lächelte wie eben gerade. Sonja sah auch richtig gut aus heute nachmittag. Das lag bestimmt nicht nur an dem superteuren weißen Kostüm, das sie trug. So lief sie in letzter Zeit schließlich fast jeden Tag herum. Schönheit war eben ihr Geschäft, seit sie den Kosmetiksalon in Hamburg- Blankenese betrieb. Und seit Jahresbeginn scheffelte sie damit richtig Geld. Beruflich hatte sie es mit ihren 28 Jahren also geschafft. Die Kundinnen rannten ihr heute die Tür ein. Dabei war sie vor vier Jahren nach ihrer Scheidung ziemlich down gewesen. Wenn die Eltern ihr nicht die Kinder abgenommen und die Ausbildung zur Kosmetikerin und Visagistin finanziert hätten, ... Sonjas glattes, kastanienbraunes Haar war akkurat zu einem Bop in Kinnlänge geschnitten. Ihr herzförmiges Gesicht mit dem hellen Teint und den dunklen Augen war sorgfältig geschminkt; ihr Mund lächelte in einem warmen Rostrot. ‘Bestimmt der neue Kußechte aus der Fernsehwerbung’, dachte Constanze, während sie ihre Schwester betrachtete. Sie selber hatte heute gänzlich auf Lippenstift verzichtet, weil er erfahrungsgemäß keine Kaffetafel unbeschadet überstand. Vielleicht sollte sie Sonja 'mal nach ihrer Marke fragen ... "Tja, Scherben bringen eben Glück!" strahlte Sonja. Sie erzählte gerade begeistert, wie sie den Mann an ihrer Seite kennengelernt hatte. Sie wirkte geradezu aufgedreht, gestikulierte lebhaft mit den Händen, was normalerweise nicht ihre Art war. Constanze wunderte sich, wie ähnlich sich Sonja und ihre Mutter für einen Moment sahen. ‘Feuer gefangen’, stellte sie dann nüchtern fest. "Übrigens wird Thomas am Jahresanfang in den Alster- Fitness -Club wechseln“, verkündete Sonja nun. Sie strahlte ihn an: "Dann können wir endlich gemeinsam trainieren." "Geht ihr oft ins Fitness- Studio?" fragte Constanze. "Dreimal pro Woche gleich nach Feierabend", antwortete Sonja, "weniger bringt keinen Trainingseffekt." "Macht ihr richtig Bodybuilding?" "Nein, nein, nur ein leichtes Bodystyling. Ist gut fürs Geschäft. Solltest du auch einmal probieren!" Constanze winkte ab. "Lieb gemeint von dir, aber ich glaube, das ist nichts für mich. Ich bleibe bei meinen Skates. Ich brauche frische Luft - zuviel Schreibtischarbeit im Moment!" "Und nachher im Winter?" "Schlichte Aerobic im Sportverein; für nur zwölf Mark im Monat. Alles andere wär’ Streß." Aus ihrer Freizeit hielt Constanze Zwänge jeder Art möglichst fern. Sie hatte sich an diesem Sonntag auch nicht übermäßig zurechtgemacht; in Jeans und T- Shirt
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fühlte sie sich am wohlsten. An Schmuck trug sie nur eine schlichte Armbanduhr; für die allerdings hatte sie fast ein Monatsgehalt ausgegeben. "Nun - jeder nach seiner Fasson. Hauptsache, man hat überhaupt einen Ausgleich", kommentierte nun Kurt Petersen und leitete zu einem anderen Thema über. "Was sagten Sie noch, Herr Fahrenholt, mit welchen Versicherungen Sie vorwiegend zusammenarbeiten?" Er hatte sein Stück Kuchen gegessen, seine Tasse Kaffee - heute ausnahmsweise Bohnenkaffee statt des koffeinfreien - getrunken und lehnte sich nun in seinem Stuhl zurück. Er war ein großer, hagerer Mann von zweiundsechzig Jahren. Mit seinen hellen, blaugrünen Augen und der auffallend geraden Nase wirkte er hellwach und sehr konzentriert. Constanzes Blick hing an den Astern auf dem Tisch. "Mutter, die Astern sehen gut aus; sind die aus deinem Garten?" "Ja, aus der Rabatte an der Terrasse, die du im Frühling angelegt hast. Diese Sorte ist die beste; die lilafarbenen haben ganz braune Stengel und Blätter." "Hm. Wahrscheinlich Mehltau. Einmal vor der Blüte zurückgeschnitten hast du sie wohl nicht?" "Ach! Hab' ich ganz vergessen. Du hattest es noch gesagt ..." "Ich sehe mir das 'mal kurz an. Entschuldigt mich", sagte Constanze und ging in den Garten hinaus. Die leuchtendlila Bergastern sahen nicht berauschend aus: Zwar tanzten üppige Wolken von sternförmigen Blüten mit gelbem Auge über dem Beet, aber die Stiele und Stengel sahen aus wie verkohlt. Die Sorte mit den honiggelben Blüten war offenbar robuster. Daran gab es nichts auszusetzen. Und auch alles andere gedieh prächtig. Da gab es nur eines: die Bergastern herausreißen und Glockenheide als Ersatz pflanzen. Sonst war die Harmonie der Rabatte hin. "Wie findest du ihn?" fragte Sonja, die Constanze nachgegangen war und sich nun neben sie stellte. Constanze heftete ihren Blick auf die lila Blüten. "Hm, ist nicht so leicht zu sagen nach einem Nachmittag ... gutaussehend, gepflegt, kultiviert, charmant und er scheint sehr an dir interessiert zu sein." "Wir gehen fast jeden Tag aus: Essen, Theater; neulich waren wir in dieser neuen, abgefahrenen Disco auf dem Kiez - bis fünf Uhr morgens! Er ist ein toller Tänzer, sag’ ich dir! Und der erste Kerl, der mir Blumen schenkt!“ "Und im Bett der perfekte Lover!" "Könnte man so sagen", sagte Sonja nach kurzem Zögern. "Er verdient wohl gut?" "Ja, als Versicherungsmakler bei König bestimmt. Allerdings muß er immer etwas Geld für seine kranke Schwester abzweigen." Constanze sah sie stirnrunzelnd an. "Für seine Schwester, genau. Sei doch nicht immer so mißtrauisch, Constanze!“ Als Constanze schwieg, berichtete Sonja, was sie über Thomas' Schwester wußte: Diese litt seit dem tragischen Unfalltod ihres Verlobten vor knapp zwei Jahren an einer abnormen Trauerreaktion und war nicht in der Lage, selber für ihrern Lebensunterhalt zu sorgen. "Sie kommt einfach nicht darüber hinweg, Constanze", erklärte Sonja, "und dabei ist sie erst 32." "Wo wohnt sie denn?"
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"Im Frankfurter Raum. Vielleicht besuchen wir sie demnächst 'mal. Schließlich ist sie seine einzige Angehörige." "Eine schwerwiegende Verpflichtung", meinte Constanze nachdenklich. "Hat er da denn überhaupt Sinn für eine eigene Familie mit mehreren Kindern?" "Ach, das wird schon", meinte Sonja zuversichtlich. Ich hab’ mir das genau überlegt: Am Anfang läuft der Kontakt mit den Kindern auf Sparflamme; schließlich will ich ihn nicht gleich verschrecken, indem ich ihn jeden Abend und jedes Wochenende mit drei kleinen Nervensägen konfrontiere." "Aber du hast ihm doch wohl gesagt ..." "Natürlich", beschwichtigte Sonja, "ich werde sie ihm quasi in kleinen Dosen präsentieren. Aber erst müssen wir beide uns kennenlernen! So, wie ich es zur Zeit organisiert habe, klappt es wunderbar: Ich wohne mit den Kindern im Prinzip weiterhin hier, kann aber bei Bedarf auf die kleine Stadtwohnung über dem Geschäft ausweichen - für Besuche und so. Die Kinder kennen das schon, weil ich ohnehin manchmal dort übernachte - Ab und zu muß ich einfach 'mal für mich sein!" "Und Mutter?" "Ach, die freut sich, die Kinder bei sich zu haben; sie und Hilde kümmern sich rührend um sie. Und Vater genießt das auch; der zeigt es nur nicht so deutlich. Morgens sind die Kinder in der Schule und im Kindergarten, und nachmittags spielen sie die meiste Zeit im Garten.“ Constanze sah sich um. Sie mußte zugeben, daß ihre Schwester in diesem Punkt auf jeden Fall recht hatte. Dieser großzügige Garten bot mit seinen alten Obstbäumen, den rabattengesäumten Rasenflächen und vor allem allem dem Stück Wildwuchs am Ende des Grundstücks herrliche Spielmöglichkeiten für Kinder. "Letztes Wochenende hat Vater ihnen sogar das Baumhaus da hinten gebaut", fuhr Sonja fort. "Tatsächlich!" Constanze hatte das Baumhaus in einem der alten Apfelbäume entdeckt. "Und da steigen deine Kinder ‘rauf?" Sie schüttelte sich. "Für mich wäre das nichts." "Natürlich. Alle drei. Und wenn sie oben sind, dann ziehen sie ihre neue Piratenflagge auf; die hat ihnen Hilde genäht - solltest du ‘mal sehen! - Allerdings will Vater im Moment nicht, daß sie hinten am Graben spielen. Da war wohl neulich eine Bisamratte." "Hm. Vielleicht Wanderratten. Die sind immer auf der Suche nach Futter. Da wär' ich auch vorsichtig. Wer weiß, was die Viecher so anstellen " "Wo wohnt dein Thomas eigentlich?" wollte Constanze dann wissen. "In der Innenstadt. Er hat eine Wohnung beim Dammtor, sehr günstig zur Arbeit." "Ist wohl beruflich viel unterwegs?" "Tagsüber schon, hauptsächlich im Stadtgebiet. Manchmal muß er allerdings auch abends Kunden besuchen. Aber bisher haben unsere vereinbarten Treffen meistens geklappt." Sie seufzte verträumt. "Immer sehr romantisch." 'Rosarote Brille', dachte Constanze lakonisch. "Mutter sagte mir, daß dein Geschäft gut läuft", sagte sie dann. "Könnte nicht besser sein, Schwesterlein. Du glaubst gar nicht, wieviel Geld die Leute freiwillig in ihre Schönheit investieren! Vielleicht kann ich schon im Frühjahr expandieren.“ Als Constanze und Sonja in den Wintergarten zurückkamen, rüstete ihr Vater gerade zum Aufbruch.
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"... Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, Herr Fahrenholt - Almut, ich habe noch zu arbeiten." "Mein Mann ist ein ruheloser Geist", erklärte Frau Petersen mit einem bedauernden Schulterzucken. Ihre Miene verriet, daß sie es schon lange aufgegeben hatte, ihren Mann in solchen Situationen zurückzuhalten. Ihn zog es in sein Labor. Um so mehr Mühe verwendete sie darauf, andere Personen, die ihr sympathisch waren, für ihr eigenes Hobby, die Musik, zu begeistern; ein Hobby, für das sie ihren Mann in über dreißig Jahren Ehe nicht hatte gewinnen können. Auch jetzt griff sie die Gelegenheit beim Schopf: "Ich werde Sonja Bescheid geben, wenn sie hier an der Staatsoper etwas Besonderes spielen, vielleicht zu Weihnachtszeit." Kurz vor achtzehn Uhr hatte sich Thomas Fahrenholt verabschiedet. Sonja blieb im Elternhaus; denn sie erwartete ihre Kinder zurück. Sie hatte alle drei mit einem Kindermädchen auf Tagesausflug zu Hagenbecks Tierpark geschickt. Für Constanze war es ebenfalls Zeit. Sie ließ die übliche Verabschiedungs zeremonie mit Mutter und Hilde duldsam über sich ergehen. Dann setzte sie sich, von Hilde ausgerüstet mit einem dicken Kuchenpaket, als reise sie für drei Wochen in die Steppe, in ihren Wagen und schlug die Richtung zum Werk ein. Constanze parkte vor dem Werksgelände in einer Parkbucht am Straßenrand und ging zum Tor. Gut, daß sie ihre neue Seglerjacke übergezogen hatte; es war jetzt viel kälter als am Nachmittag, ein frischer Wind wehte ihr ins Gesicht. Am Tor mußte sie klingeln. Die Gegensprechanlage knackte, dann hörte sie die Stimme des Pförtners. Er ließ sie ein bis zur Pförtnerloge, wo er ihre Anmeldung aufnahm und ihr einen Besucherausweis aushändigte. Sie clippte das Kärtchen an ihre Jacke und ging die schwach beleuchteten Korridore entlang bis zur Entwicklungsabteilung. Vor einer Tür, unter der ein schmaler helle Lichtspalt zu sehen war, macht sie halt. "Dr. K. Petersen" stand in feinen schwarzen Buchstaben auf einem Plexiglas- Schild rechts neben der Tür an der weißgetünchten Wand: Vaters Labor. Sie klopfte und öffnete vorsichtig die Tür. "Komm' herein, Kind, ich bin gleich fertig für heute." Dr. Petersen stand vornübergebeugt hinter einem Labortisch und überlegte. Dann brachte er einige Bleistiftnotizen zu Papier. Er sah nicht auf, als Constanze eintrat; denn er wußte, daß nur sie es sein konnte und daß sie Geduld hatte abzuwarten, bis er seine Aufzeichnungen abgeschlossen hatte. Als er den Bleistift beiseite gelegt hatte und sie ansah, kam sie mit festem Schritt auf ihn zu, umarmte ihn leicht und küßte seine Wange. "Hallo Papa, kommst du voran?" "Was das Projekt in Brasilien angeht, auf jeden Fall. Carlos hat mir einen beeindruckenden Bericht über seine letzte Expedition geschickt. Ich denke, wir können darauf tatsächlich eine tragfähige Geschäftsidee aufbauen.“ "Du hältst seine privaten Unternehmungen also nicht bloß für einen aufwendigen Versuch, seine kindliche Abenteuerlust zu stillen?" "Ganz und gar nicht. Carlos ist Realist. Aber als Umwelt- Ingenieur dieses Kaffee- Importeurs, bei dem er mittlerweile sechs oder sieben Jahre arbeitet, kennt er eben viele Facetten des Geschäftes mit der Natur. Nutzung und Ausbeutung liegen gerade in seinem Land sehr dicht nebeneinander."
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"Hat er geschrieben, ob er in nächster Zeit hierherkommt?" Constanze konnte nicht verhindern, daß ihre Stimme bebte. "Er hat da drüben alle Hände voll zu tun. Neben seiner Arbeit und den Expeditionen hält er zur Zeit drüben Ausschau nach potentiellen Geldgebern für unser Geschäft." "Verstehe." "Aber er läßt dich wie immer grüßen. Ich glaube nicht, daß er dich vergessen hat - auch wenn es schon über zwei Jahre her ist, daß ihr euch begegnet seid. Komm", setzte er ermunternd hinzu, "laß uns heute über andere Dinge sprechen, vor allem über deine Arbeit." Er legte seinen Arm um ihre Schulter und führte sie in einen Nebenraum, in dem es eine Sitzecke mit zwei bequemen Ledersesseln gab. Auf einem Beistelltisch standen Mineralwasser und Orangensaft in kleinen Glasflaschen, dazu auf einem Tablett mehrere Longdrink- Gläser; daneben lag ein Pappschächtelchen. "Tabletten?", Constanze erschrak ein wenig und sah ihren Vater fragend an. "Keine Angst, nur ein Stärkungsmittel - Weißdorn und sowas. Ist gut für' s Herz, sagt mein Doktor." Constanze sah ihn mißtrauisch an. Dann fragte sie besorgt: "Vater, ist es schlimmer geworden mit deinem Herzen?" "Nein, aber ich möchte ein bißchen vorsorgen. Das Herz ist nun 'mal meine Schwachstelle, das weiß ich, die Veranlagung...", erklärte er. "Aber deswegen brauchst du dich wirklich nicht zu beunruhigen. Ich gehe regelmäßig zu meinem Check up, lebe gesund - fast nur noch Mukkefuck statt Bohnenkaffee und führe ein sehr zufriedenes Leben. Wenn das nichts nützen soll!" Constanze gab sich zufrieden. Erstens war er ein erwachsener Mensch und konnte auf sich selber aufpassen, und zweitens konnte man durch Bevormundung und Überbehütung einen Menschen erst recht krank reden. Und drittens arbeitete er, seit er in Ruhestand gegangen war, ausschließlich in Eigenregie. Folglich durfte sich der Streß in Grenzen halten, sagte sie sich. Sie saßen in den bequemen Sesseln, tranken Orangensaft, und Constanze erzählte von ihren beruflichen Fortschritten. "Ja, auch deine Schwester hat beruflich ihren Platz gefunden", sagte ihr Vater. "Anfangs war ich noch skeptisch, aber jetzt Hoffentlich hat sie jetzt auch privat Erfolg! - Ist das zwischen euch eigentlich ein Thema?“ "Ja, schon", antwortete Constanze zögernd. "Sie fragt mich regelmäßig nach meiner Meinung. Aber wenn ich das Spiel dann mitspiele und ihr Vorschläge mache, was tut sie dann? Sie findet tausend Einwände und tut letztendlich doch nur das, was sie im Stillen schon lange vorher beschlossen hat." "Wir werden sehen", meinte ihr Vater. "Wenn sie die Beziehung zu diesem Fahrenholt vertieft, werden wir ihn bald näher kennenlernen; er wird sich ja auch mit ihren Kindern auseinandersetzen müssen." 'Richtig', dachte Constanze, 'die Kinder sind der unkalkulierbare Faktor in dieser gedanklichen Rechnung.' Es war schon kurz vor neun, als Constanze aufbrach. Ihr Vater geleitete sie hinaus bis zur Pförtnerloge. "Ich sehe noch kurz die restlichen Protokolle von Carlos durch", sagte er, "dann gehe ich auch."
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"Und ich dachte, ich könnte Sie nachher noch zu einer Partie Schach überreden, Petersen", ertönte eine tiefe Stimme aus Richtung der Pförtnerloge. Ernst Wiegand, Senior- Chef der "Hansa Margarinewerke", trat gerade seinen verspäteten Rundgang durch die Firma an. Er hatte sich vor einigen Jahren aus dem aktiven Geschäftsleben zurückgezogen und seinen beiden Söhnen die Geschäftsführung übertragen. Aber seine allabendliche Runde ließ er sich nicht nehmen. Petersen hatte über zwanzig Jahre erfolgreich die Entwicklungsabteilung seines Hauses geleitet. Bevor Petersen kam, war ausschließlich Standardmargarine für die Backwarenindustrie produziert worden, bis zum heutigen Tag das Schwarzbrotgeschäft der Firma. Aber durch Petersen schaffte man den Einstieg in das Geschäft mit Spezialfetten für Diätprodukte - ein boomender Markt. Wiegand wußte, was er Petersen verdankte. Und er stellte seinem ehenmaligen Entwicklungschef nach dessen Ausscheiden aus der Firma weiterhin ein Labor zur Verfügung - für seine privaten Aktivitäten. Mindestens zweimal pro Woche war auch Wiegand dort abends anzutreffen; dann spielten die beiden Schach. "Oh, guten Abend, Frau Petersen. Schön, Sie ‘mal zu sehen! Sie kommen so selten..." Er schüttelte ihr herzlich die Hand. "Aber ich will Ihnen und Ihrem Vater nicht den gemeinsamen Abend zu Hause rauben, dann spielen wir eben nächste Woche." "Ist schon gut, Herr Wiegand, Vater und ich haben für heute alles besprochen." "Keiner spielt so gerissen wie Ihr Vater, müssen Sie wissen", erklärte er Constanze mit gespielter Heimlichkeit, "und ich muß von ihm lernen, damit ich nicht dauernd gegen meine Söhne verliere." "Na denn man los!" sagte sie lachend und ihrem Vater zugewandt: "Aber vielleicht solltest du Mutter anrufen?!" "Mach ich. Tschüß, Kind. Melde dich 'mal, wenn du Lust hast!" "In Ordnung. Auf Wiedersehen." Eine kurze Umarmung, der Besucherausweis flog auf den grauen Tresen - weg war sie.
Montag, 14. September, 23.00 Uhr - Hamburg Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
"Bist du total übergeschnappt, Tom?" Die Stimme am anderen Ende der Telefonleitung klang mehr als verärgert. "Du verlierst die Kontrolle, wenn du das machst." "Reg' dich ab, ich kriege schon noch rechtzeitig den Absprung", versuchte Fahrenholt sein Gegenüber zu beruhigen. "Ich muß sie doch jetzt in Sicherheit wiegen. Die Frau hat schließlich drei Gören; da will man eine feste Bindung." "Zugegeben, bisher hattest du jedesmal ein erstklassiges Timing, Tom, aber das waren immer Frauen ohne Anhang."
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"Das macht es ja um so reizvoller. Und lohnen tut es sich schon jetzt. Übrigens habe ich ihr nebenbei von meiner armen Schwester erzählt!" "Das heißt, demnächst ist wieder eine kleine Vorstellung fällig?" "Genau das. Nächste Woche weiß ich auch, wann. - Ach, sag 'mal, wie weit bist du denn mit den Bildern?" "Ist am Laufen, wie gewohnt über Paris. Du, aber mit dieser Kreideskizze hast du mir ein Problem angeschleppt. Das kann noch dauern! Für das andere habe ich den ersten Interessenten - Schweizer." "Na bitte! Dann mach's ihm nicht zu billig! - Und melde dich, wenn es geklappt hat!" Damit legte Fahrenholt auf. Er grinste zufrieden: Na bitte, es lief ja!
Donnerstag, 1. Oktober ‘98 - Brande- Hörnerkirchen Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg/Brande-Hörnerkirchen, Schauplatz Paris
Es war ein sonniger Herbsttag mit strahlend blauem Himmel. ‘Ein guter Anfang’, sagte sich Constanze, während sie die breite Hofeinfahrt zum Gelände der Firma "Rudolf Garten- und Landschaftsarchitektur GmbH" passierte. Das unangenehme Flattern in ihrer Magengegend machte jetzt einer freudigen Erwartung Platz. Zehn vor acht. Constanze schaltete den Motor ab. Der Wagen konnte fürs erste hier auf dem rotdornbeschatteten Besucherparkplatz stehenbleiben. Sicher konnten sie ihr im Büro sagen, wo die Parkplätze für das Personal waren. Sie würde sich gleich erkundigen. Das war nett! Die Belegschaft begrüßte sie mit einem dicken Blumenstrauß: goldgelbe Mini- Sonnenblumen und üppige Dolden verschiedener Beeren, schwarzblau und orangefarben, eingebettet in dunkelgrünes, glänzendes Blattwerk. ‘Genau meine Farben’, dachte Constanze, ’mit Ausnahmes der einen.’ Die rotorangefarbenen Ebereschenbeeren würde sie in ihrem Büro gleich aus dem Strauß herauszupfen. Herr Rudolf, der Chef, ein Mann in den besten Jahren und korrekt in Anzug und Krawatte, nahm sich die Zeit, sie mit den Kolleginnen und Kollegen bekannt zu machen. 'Drei, sechs, neun, mit ihr elf Leute', zählte Constanze unauffällig; vier Frauen, sieben Männer; sie waren vollzählig bis auf Frau Uhland, die eine technische Zeichnerin, eine Halbtagskraft ihres Arbeits- Teams. Und da war auch Herr Gessler, der andere Teamleiter in der Firma! "Sehr erfreut, Frau Petersen. Auf gute Zusammenarbeit!" Er war mindestens einen Kopf größer als sie, schlank, blond, ungefähr in ihrem Alter und schenkte ihr ein jungenhaftes Lächeln. ‘Sympathisch’, dachte sie, ‘sieht nur etwas abgespannt aus.’ "Und ich verwalte die Kaffeekasse." Das war Sybille, die neue Auszubildende, auch erst seit August in der Firma. "Falls Sie zu den Kaffeetrinkern gehören ..." "Ich gehöre dazu. Also was muß ich tun, um jeden Tag eine Tasse abzukriegen?"
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Sybille erklärte die Prozedur und kassierte gleich den ersten Beitrag für ihre Kaffeekasse. "Aber heute sind Sie noch eingeladen", versicherte sie dann. Gessler schien ganz in Ordnung zu sein. Sie hatten kurz einige persönliche Daten ausgetauscht; er war jung verheiratet und Vater eines sechs Wochen alten Sohnes; ein Foto von glücklicher Mutter und Kind prangte in einem Acrylrahmen auf seinem Schreibtisch. Daher also die Augenringe! Seine Arbeit hier schien ihm Spaß zu machen. Ob er fachlich top war, würde sie innerhalb kurzer Zeit wissen. Constanzes Büro lag im Erdgeschoß, direkt neben dem von Gessler. Zwischen den beiden Räumen gab es eine Verbindungstür, die wohl meistens offenstand. Die Büros waren hell und geräumig, ihre technische Ausstattung ließ nichts zu wünschen übrig. Constanze bog mit den Händen vorsichtig zwei der breiten Streifen der beigefarbenen Vertikaljalousie auseinander, so daß sie hinaussehen konnte: eine Weidefläche. "Zufrieden, Frau Kollegin?" Gessler lehnte in der Verbindungstür. "Seltsam ruhig hier", meinte Constanze. "Schön ruhig. Eingang und Parkplätze sind auf der anderen Seite." "Und vor allem kein Babygeschrei, was?" grinste Constanze. Nun, sie würde sich auf jeden Fall ein Radio mitbringen, das stand fest. Eine leise Geräuschkulisse mußte sein; das gab ihr die Versicherung, daß da draußen das Leben noch pulsierte, während sie hier drinnen arbeitete. Der Vormittag verging rasch. Nachdem Sybille eine Vase für die Blumen gebracht und Constanze sich an ihrem Schreibtisch eingerichtet hatte, wies sie Kollege Gessler in die Organisation der Firma ein, soweit es ihre gemeinsame Arbeit betraf. Anschließend zeigte ihr Frau Weiß, die rechte Hand des Chefs, sachlich und geduldig alles übrige. Zwischendurch beantwortete Frau Weiß mehrere hereinkommende Telefonate, wies Sybille an, den Kopierer- Wartungsdienst anzurufenen und beruhigte einen kleinen, dicken Mann in Parka und Gummistiefeln, der mithochrotem Kopf ins Büro gestürmt war und ungeduldig einen Termin beim Chef verlangte. "Was meinen Sie, was hier manchmal los ist!", sagte sie leise zu Constanze. "Aber Sie wissen ja: Das meiste wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird!" Herr Rudolf hatte den aufgebrachten Besucher inzwischen abgefertigt und geleitete ihn zum Ausgang. Frau Weiß warf ihm einen fragenden Blick zu, den er mit einem freundlichen "Bin gleich zurück" beantwortete. Am Nachmittag bekam Constanze sogar einen Kaffee. Sybille servierte ihn um Punkt drei. Dabei tippte sie an die weiße Porzellantasse und sagte: "Ist eigentlich das Service für unsere Gäste, aber heute ..." Constanze vertiefte sich wieder in die Ausschreibungsunterlagen. Heute war nur eine erste Sichtung möglich. Und ein erstes Gespräch mit ihrem Team. Die Herren Maaß und Holbrook, der eine ein wortkarger Endvierziger, der andere ein dynamischer Mittzwanziger mit Pferdeschwanz, hatten sich das Gelände, um das es ging, schon im Vorfeld angesehen. Es lag nur eine knappe Autostunde von der Firma entfernt.
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Auch Constanze wollte sich so früh wie möglich einen Überblick von der Umgebung verschaffen und eine Begehung vornehmen. Gleich morgen vormittag würden sie gemeinsam hinfahren.
Donnerstag, 1. Oktober ‘98, 19.30 Uhr - Hamburg- Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Eppendorf, Schauplatz Paris
Der erste Tag war geschafft! Constanze saß in ihrem dick gepolsterten Feierabendsessel, die Füße abgestützt auf dem dazugehörigen bulligen Hocker. Sie bildeten eine Art Insel in Russischgrün auf dem runden, wollweißen Berberteppich, ähnlich dem Schwimmblatt einer Seerose auf einem stillen Teich. Im Hintergrund lief eine CD mit alten Titeln von Queen. So in Schlafanzug und Bademantel, ausgerüstet mit zwei großzügig bemessenen Stücken von Hildes Zwetschenkuchen und einem Becher Johanniskrauttee, ließ es sich entspannen. Wie praktisch, daß sie den vielen Kuchen neulich portionsweise eingefroren hatte! Sie nahm sich vor, nach dem - zugegebenermaßen etwas außergewöhnlichen - Abendessen Frederike anzurufen; die wartete sicher schon auf einen kurzen Lagebericht. Doch jemand kam ihr knapp zuvor. Das Handy lag neben ihr auf der breiten Armlehne, als es unverhofft klingelte. Constanze zuckte zusammen. Hastig schluckte sie den letzten Bissen hinunter. "Petersen ..." "Hallo Constanze! Ich bin's, Henner - aus der 13a. Wollte mich 'mal melden. Wir haben so lange nichts voneinander gehört, und es ist jetzt schon Oktober!" "Ach, Henner! Nett, daß du anrufst. Wie sieht's denn bei dir aus?" "Gut, gut, Constanze", war seine Antwort. "Bin schon mitten in den Vorbereitungen." Langsam dämmerte es ihr, daß sie ihm vor Monaten versprochen hatte, bei der Ausrichtung eines Ehemaligentreffens ihrer Schule zu helfen. Und zwar in der Vorweihnachtszeit. 'Komplett vergessen', dachte Constanze mit Schrecken. Henner dagegen hatte schon als Schüler seine Hausaufgaben stets prompt und zuverlässig erledigt. Diese Tugend war ihm bis heute geblieben, und so konnte er nun die Adressen fast aller Ehemaligen des Jahrganges vorweisen. Wahrscheinlich hatte er sie in wochenlanger akribischer Kleinarbeit in Erfahrung gebracht. "Stell' dir vor", sagte er eifrig, "Susanne lebt in Australien, die kommt natürlich nicht extra ..." Sogar den Einladungstext hatte er schon entworfen. "... an meinem PC - du wirst staunen!" Und so blieben für Constanze eigentlich "nur noch" Organisationsaufgaben für den Tag des Treffens übrig. 'Trotzdem eine Menge', dachte sie und stöhnte, wobei sie den unteren Teil der Muschel zuhielt, damit er, hochmotiviert wie er war, das nicht etwa mitbekam. "Wir müssen uns vorher unbedingt noch ein- oder zweimal treffen", drängte er, "damit das Ding auch rund läuft." Um ein Treffen mit ihm kam sie auf keinen Fall herum, das war Constanze klar. Sie überlegte angestrengt, wo sie den eifrigen Schulkameraden noch in ihrem
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randvollen Terminkalender unterbringen konnte. "Können wir uns nicht hier bei mir treffen, Henner? Ich weiß, du fährst über eine Stunde von Kiel, aber ..." "Kein Problem, Constanze. Wann paßt es dir denn?" "Warte. Ich muß überlegen ..." "Vielleicht an einem Wochenende?" "Könntest du am nächsten Freitag ... am 9. ... so gegen acht?. Wir könnten hier eine Kleinigkeit zu Abend essen und dabei alles besprechen." "Prima. Das paßt mir sehr gut. Wohnst du noch in Eppendorf?" "Ja, alles wie gehabt; Geibelallee 14, erster Stock. Bis dann." "Klick" machte es, als Constanze auf die Aus- Taste drückte. Henner Martens eigentlich konnte sie sich für den schönen Freitag abend etwas Spannenderes vorstellen, als ausgerechnet mit Henner dieses Fest zu planen. Aber versprochen war versprochen, und "je eher daran, je eher davon", wie Hilde in solchen Fällen zu sagen pflegte!
Donnerstag, 1. Oktober ‘98, 20.00 Uhr - Hamburg Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Auch Thomas Fahrenholt erhielt an diesem Abend einen Anruf. Sein Handy klingelte, als er sich im Auto auf dem Weg zu einem Kunden der Versicherungsfirma befand. "Ja, was gibt es?" fragte er kurz. "Eine gute Nachricht: Unser schweizer Geschäftsfreund ist auf das Angebot eingestiegen. Nächste Woche bin ich in Paris, und dann wird abgewickelt. Es gucken für uns 200.000 um die Ecke." "200 - konntest du nicht mehr herausholen?" "Mein Lieber, die anderen wollen auch ihren Teil! Vor allem der Galerist, der trägt ein ziemlich hohes Risiko. Und die Kleine muß ich schließlich auch bei Laune halten." "Ja, ja, immer dasselbe! - Dann sieh zu, daß du die Sache perfekt machst. Und danach sollten wir uns treffen."
Woche vom Montag, 5. Oktober ‘98 - Brande- Hörnerkirchen/ Hamburg Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg/Brande-Hörnerkirchen, Schauplatz Paris
Die ersten Tage in der neuen Firma vergingen für Constanze wie im Fluge: Besichtigung des Geländes, Brainstorming auf der Rückfahrt im Auto, erste Skizzen am Schreibtisch. Kennenlerngespräch mit Frau Uhland, ihrer technischen Zeichnerin. Planungsgespräche im Team, zweite Besichtigung, Skizzen, Gespräche Am Donnerstag nachmittag merkte sie, daß sie eine Denkpause brauchte. Sie verabredete sich für den Abend mit Frederike zu einem Saunabesuch. Nach drei Stunden fühlte sie sich wieder aufgetankt.
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Am Freitag war der Wochenendeinkauf fällig. Constanze stand eine Stunde eher auf als gewöhnlich und machte einen Umweg über den Wochenmarkt. Der Stand ihres türkischen Obst- und Gemüsehändlers war noch im Aufbau; fleißige Hände waren dabei, kistenweise Obst und Gemüse zu arrangieren und mit Kreide die aktuellen Preise auf Täfelchen zu schreiben. Der Chef begrüßte Constanze überschwenglich, wunderte sich, wieso sie so früh kam. Sie erklärte freundlich. Dann suchte er persönlich die Ware für seine Stammkundin aus. "Lange Arbeitstage - viele Vitamine", meinte er. Und dann drückte er ihr eine Mango in die Hand. An den übrigen Ständen dasselbe Erstaunen, die ebenso prompte Bedienung, ein kurzes, freundliches Gespräch; sie kaufte hier seit Jahren fast jeden Freitag ein. Schließlich hatte sie alles zusammen. Das Wochenende konnte kommen und Henner Martens auch.
Freitag, 9. Oktober ‘98, abends - Hamburg- Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Eppendorf, Schauplatz Paris
Henner kam um acht, pünktlich wie immer, wenn man mit ihm verabredet war. Er war Leiter des Ordnungsamtes in einer aufstrebenden Gemeinde im Kieler Umland; Dateien und Statistiken waren seine Welt. Aber er hatte auch einen Blick für das Schöne. "Umwerfend siehst du wieder aus, Constanze!" begrüßte er sie an der Wohnungstür und wickelte einen dicken Strauß bordeauxroter Pompomdahlien aus einer doppelten Lage Seidenpapier. "Danke, Henner." Constanze nahm ihm die Blumen mit einem Lächeln ab und ließ ihn ein. Sie trug ein dunkelgrünes, wadenlanges Leinenkleid; ihre schulterlangen, blonden Haare hatte sie im Nacken locker zusammengesteckt. Während sie gerade feststellte, daß die Blumen die gleiche Farbe hatten wie der Shetlandpullover, den Henner über seinem Oberhemd trug, bemerkte der in leicht vorwurfsvollem Ton: "Du trägst ja wieder einen Ring! Hat das einen besonderen Grund?" "Was dir so auffällt!" wunderte sich Constanze. „Geh’ doch schon ins Wohnzimmer, Henner. Den dicken Pulli kannst du an der Garderobe ausziehen; es ist gut geheizt. Ich stelle inzwischen die Blumen ins Wasser.“ Während sie noch mit den Dahlien in der Küche stand, rief er schon aus dem Wohnzimmer: "Bist du etwa wieder mit diesem Architekten zusammen, diesem Surf- Crack?“ Mit einem Knall setzte Constanze die Vase mit den Dahlien auf der Arbeitsplatte ab. Dann ging sie ohne die Blumen ins Wohnzimmer hinüber. "Sag mal, du läßt wohl niemals locker! Ich denke, du bist gekommen, um mit mir das Treffen zu besprechen, und jetzt fängst du an, in meiner Beziehungskiste zu wühlen." "Ich interessiere mich eben immer noch für dich, Constanze", entschuldigte er sich sofort darauf. "Aber ich weiß schon...“ Er lächelte ein wenig verunglückt. "Schon gut. Wollen wir essen? Ich hab’ schon gedeckt." Er nickte. "Eine hübsche Wohnung übrigens; die Bilder besonders“, lobte er, während er ihr an den Eßtisch folgte.
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"Die Aquarelle sind alle von dem 'Surf- Crack'", sagte Constanze spitz. "Hat einen guten Geschmack, nicht?" Es entstand eine Pause, und einen Moment lang glaubte Constanze, Henner würde jetzt gehen. Aber dann murmelte er so etwas wie "noch 'was Besonderes dabei...", nestelte umständlich an einer mitgebrachten Einkaufstüte und förderte drei Flaschen französischen Champagner sowie ein Bündel Grünzeug zutage. "Zur Einstimmung auf unsere Feier", erklärte er. "Schließlich brauchen wir etwas Inspiration." Constanze guckte skeptisch, aber ihr Gast war schon dabei, die erste Flasche zu öffnen. "Hast du Cocktailgläser?" Zögernd holte sie zwei Cocktailschalen. "Was willst du denn mixen?" "Den guten alten Kir Royal natürlich; kennst du doch!" Henner schenkte Champagner ein und gab einen Schuß Crème de Cassis dazu. "Wasch doch schon 'mal die Minze, Constanze", bat er. "Hatten wir nicht Melisse ...?" fragte sie mit gerunzelter Stirn. "Komm' schon, Constanze." Sie seufzte und tat ihm den Gefallen. "Sooo ..., hier an den Glasrand bitte ...", dirigierte Henner Constanze beim Garnieren, bis die dunkelgrünen Minzeblättchen genau da saßen, wo sie seiner Meinung nach hingehörten. "Und nun auf dein Wohl und auf das Gelingen des Ehemaligentreffens!" Henner drückte Constanze ein Glas in die Hand und erhob das zweite, um mit ihr klirrend anzustoßen. "Prost, Henner." Es schmeckte kühl, prickelnd, süffig - fast so wie damals, als sie auf einem Sommerfest ihr frisch bestandenes Abitur mit Cocktails begossen hatten. Ein, zwei Glas davon konnten nicht schaden, zumal morgen Samstag war. Doch der Cocktail hatte Wirkung; Constanze fühlte sich schon nach drei Schluck leicht beflügelt und hielt es für angebracht, sich an den Tisch zu setzen.. "Hm, köstlich, Henner! Aber der geht ganz schön ins Blut!" "Wahrscheinlich hast du den ganzen Tag noch nichts Richtiges gegessen!" Constanze breitete die weiße Leinenserviette mit dem sonnengelben Rand sorgfältig auf ihrem Schoß aus. "Henner, greif zu. Es gibt Salat und Mussaká; ich hoffe, du magst das." Henner, unfreiwilliger Single und eher Hobby- Barmixer denn Hobby- Koch, ließ sich das nicht zweimal sagen; er genoß es sichtlich, sich kulinarisch verwöhnen zu lassen. Er genehmigte sich auch noch einen zweiten und dritten Cocktail, während Constanze lieber darauf verzichtete. Sie brachte schließlich keine 90 Kilo auf die Waage wie er. Sie aßen in Ruhe und sprachen die Organisation für das Ehemaligentreffen durch. Constanze machte sich Notizen. Um halb zehn klingelte es an der Wohnungstür. Es war eine Nachbarin. "Du, Henner, ich muß 'mal eben zu Frau Jacobi nach unten; irgendetwas ist mit den Kindern, und ihr Mann ist nicht zu Haus. Wenn du noch Appetit auf Nachtisch hast - im Gefrierfach ist Eis; bedien' dich einfach!" Aus dem "mal eben" wurde eine gute Stunde. Die einjährige Tine und der dreijährige Malte hatten beide Keuchhusten. Die Mutter wanderte ‘mal mit dem
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einen, ‘mal mit dem anderen Kind im Kinderzimmer auf und ab. Es war schwer zu sagen, wer von den dreien am meisten litt. "Das geht schon seit der Abendbrotzeit so", erklärte Frau Jacobi. "Ich kriege die beiden einfach nicht zur Ruhe. Und ausgerechnet heute hat mein Mann Spätschicht!" Constanze brühte zuerst eine Kanne Kräutertee auf; dann setzte sie sich mit Malte auf das Sofa im Wohnzimmer und las ihm leise eine Gute- Nacht- Geschichte vor. Gegen elf kam endlich Herr Jacobi nach Hause. Die Ablösung. ‘Hoffentlich ist Henner noch nicht eingeschlafen’, dachte Constanze, als sie ihre Wohnungstür aufschloß. Aber weit gefehlt! Henner war hellwach und bester Laune. Er saß im Schneidersitz vor der Stereo- Anlage auf dem Parkett und inspizierte Constanzes CD- Sammlung. Einige CD- Hüllen lagen vor ihm auf dem Boden. Er schien einiges gefunden zu haben, das nach seinem Geschmack war.; im Moment tönte Phil Collins’ Stimme aus den Boxen. Kaum daß Constanze in der Tür zum Wohnzimmer erschien, rief Henner: "Gut, daß du kommst, Constanze, ich habe schöne Musik gefunden, auch Musik zum Tanzen!" "Tanzen?" Constanze glaubte, nicht recht zu hören. Und wieso klang Henner so aufgekratzt? "Du kannst ja auch erst noch einen von diesen königlichen Cocktails trinken, Connylein, und dann tanzen wir", schlug er vor. "Connylein!" Er nannte sie "Connylein"! Wieviel hatte er denn wohl von diesen "königlichen Cocktails" getrunken? Constanze war zunächst auf Henner zugegangen, machte dann aber einen Bogen in Richtung Kühlschrank. Sie brauchte ihn gar nicht aufzumachen; denn der Restbestand von zwei Flaschen Champagner und einer Flasche Likör offenbarte sich ihr schon auf der Spüle: gerade genug Cassis, um die alkoholscheue Hilde einmal zu bewirten! Und der Champagner war restlos alle. "Mensch Henner, du wolltest doch noch fahren!" Sie baute sich vor ihm auf. "Wie willst du denn jetzt nach Hause kommen?" Henner summte die Melodie des Songs mit. "Ach Constanze, ist doch Wochenende ... und ich möchte sooo gerne 'mal wieder mit dir tanzen". Er griff nach ihrer Hand, sie schüttelte ihn ab. "Henner, ich will aber gar nicht tanzen. Ich bin müde", sagte sie, bemüht um einen freundlichen Ton. Er summte wieder mit. Sie überlegte, wie sie den Schaden begrenzen konnte. "Henner, wenn du dich jetzt zusammenreißt, dann kannst du auf dem kleinen Sofa schlafen. Leg' dich am besten gleich hin. Nimm dir eines von den grünen Kissen. Ich räume noch den Tisch ab." Henner sprang auf. "Ich helfe dir natürlich", flötete er und eilte etwas unsicher zum Eßtisch. Constanze fürchtete um ihr schönes weißes Geschirr mit dem Sonnenmotiv. "Danke, danke, laß' nur", wehrte sie ab, "ich mach das schon". Na, da hatte sie aber etwas gesagt! Henner ereiferte sich plötzlich. "Hach, du bist immer noch dieselbe! Immer machst du alles, und immer allein, weil du es ja sowieso besser kannst! Wie damals in der Schule! Sogar beim Tanzen konntest du es nicht leiden, von einem Mann geführt zu werden!"
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"Meine Güte, Henner! Aber wenn dir so viel daran liegt ...", versuchte sie zu beschwichtigen. Aber er ging darauf nicht ein. Eingeschnappt setzte er sich wieder auf den Fußboden und wechselte umständlich die CD. Constanze räumte wortlos den Tisch ab. Dann schaltete sie nacheinander die verschiedenen Leuchten im Wohnzimmer aus. Vor Henner blieb sie stehen. "Ich gehe jetzt schlafen. Machst du jetzt bitte die Anlage aus?!" Henner stand auf und nahm ihre Hände in die seinen. 'Hoffentlich kommt jetzt keine Ansprache', dachte Constanze. Sie fühlte sich müde und abgespannt, Geduld war um Mitternacht nicht mehr ihre Stärke. "Ach Constanze." Ein Seufzer. "Connylein ...", er lehnte seine Wange sanft gegen ihr Haar. "Connylein." Sie stand stocksteif. Ärger stieg in ihr hoch. Wie hatte sie bloß so blöd sein können, diesen Kerl zu sich nach Hause eingeladen? Sie hatte doch gewußt, daß er es nie ganz aufgegeben hatte, sich gewisse Hoffnungen zu machen. So betrunken wie er jetzt war, würde er baggern, bis sie nachgab. Sie schluckte. Henner streichelte jetzt mit beiden Händen ihren Kopf; er löste ihr Haargummi, wühlte in ihren langen Strähnen und begann, ihren Hals mit Küssen zu bedecken. "Henner, hör’ auf damit. Ich will das nicht." Seine warmen Lippen berührten ihr Décolleté. Er begann, die oberen Knöpfe ihres Kleides zu öffnen. Ihr Ton wurde schärfer. "Henner, hör’ sofort auf!" Er ließ sich nicht beirren. Jetzt fühlte sie seine feuchten Hände auf ihren Brüsten. "Laß’ das, sonst ...!" "Komm’, zieh das lange Kleid aus!" flüsterte er gepreßt. Sein Atem roch säuerlich nach abgestandenem Sekt. Im nächsten Moment sackte er mit einem Aufschrei zu Boden. Ihr Knie hatte ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Er schnappte nach Luft. Constanze stand jetzt in der geöffneten Wohnungstür und tippte eine Nummer in ihr Handy. "Ich rufe gerade die Polizei. Willst du nicht lieber freiwillig gehen?" Er wollte. Als die Funkstreife kurz darauf eintraf, war er weg. Allerdings stand sein Wagen noch unten an der Straße. Sie verzichtete auf eine Anzeige. Sie war heilfroh, daß sie ihn los war. Ein schales Gefühl blieb trotzdem zurück: Hoffentlich machte er ihr auf dem Ehemaligenfest kein Theater! Als sie sich im grellen Licht des Badezimmerspiegels ansah, erschrak sie: Sie war kreideweiß im Gesicht. Gerade noch 'mal gutgegangen!
Samstag, 10. Oktober ‘98 - Hamburg- Dammtor Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Thomas Fahrenholt telefonierte an diesem Morgen von einem öffentlichen Fernsprecher am Hamburger Bahnhof Dammtor aus. "Hat alles geklappt?“ "Alles bestens“, antwortete sein Gesprächspartner. "Ich werde mich jetzt ein paar Wochen erholen. Danach sehen wir weiter.“
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"Wohin fährst du?“ wollte Thomas Fahrenholt wissen. Der andere lachte. Dann antwortete er: "Nach Baden- Baden, mein Lieber!“ "Was soll das? Da fahren doch nur alte Leute hin. Außerdem wollten wir uns demnächst treffen.“ "Das mit dem Treffen müssen wir etwas verschieben, Tom. Ich habe nämlich jemanden kennengelernt und jetzt ...“ "Ist das Geld wenigstens in Sicherheit?“ "Natürlich, Tom. Ich melde mich wieder.“ Thomas Fahrenholt hängte den Hörer ein. Was er gehört hatte, gefiel ihm nicht besonders. Aber im Moment war er hier oben nicht gut abkömmlich.
Samstag, 10. Oktober ‘98 - Hamburg- Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Eppendorf, Schauplatz Paris
Samstag mittag. Constanze saß auf ihrer grünen Insel, trank Kaffee und studierte die Seite "Verschiedenes" in ihrer Tageszeitung. Endlich hatte sie wieder ihre Ruhe! Ihre Augen grasten die Seite Spalte für Spalte ab, aber ihre Gedanken wanderten zwischendurch mehrmals zurück zum Vorabend. Gut, daß die Zeitung gekommen war! Und die Post natürlich, mit einem Päckchen, das Vaters Absender trug, einem Modekatalog, einigen Kontoauszügen und einer bunten Karte aus Athen. Die Karte trug Bertram Wildes Schriftzüge. "Gruß und Kuß", las Constanze. Sie zog die Brauen in die Höhe. Auf den Kuß konnte sie verzichten.
Dienstag, 3. November ‘98 - Hamburg- Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Eppendorf, Schauplatz Paris
Es war ein nasser, neblig- grauer Herbstnachmittag, "Schietwetter", wie Hilde immer sagte. Constanze hatte es sich nach Feierabend auf ihrer grünen Insel mit einer flauschigen Wolldecke, einem Glühwein und Zimtkeksen gemütlich gemacht. Auf einem Beistelltisch brannten zwei goldgelbe Schwimmkerzen in einem mit Wasser gefüllten Glashafen. Constanze telefonierte, und sie war ausgesprochen guter Laune. "Hallo Papa! Ich bin's, Constanze! Danke für deine E- mail; ich habe sie vorhin gefunden, als ich von der Arbeit nach Hause kam. Und ich finde Eure Geschäftsidee so großartig, daß ich dich einfach anrufen mußte.“ "Das dachte ich mir beinahe; deshalb habe ich auch gefragt, ob du am 15. kommen wirst. An dem Tag werden wir gegen Abend bestimmt die Zeit für ein ruhiges Gespräch im Arbeitszimmer finden.“ "Ja, das denke ich auch. Laß’ uns dann alles genauer besprechen. - Übrigens wollte ich Sonja ohnehin in den nächsten Tagen anrufen, um zuzusagen. Stell dir vor, sie hat mich doch tatsächlich schriftlich eingeladen!“ "Da siehst du, wie wichtig du deiner Schwester bist, Constanze.“ "Tja, scheint so. Tschüß Papa, bis dann."
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Constanze griff noch einmal nach der Fitness- Club- Postille, die auf der Sessellehne lag: Ihre Schwester und Thomas Fahrenholt strahlten ihr von einem Schwarzweiß- Foto entgegen. Überschrift: "Verliebt ... verlobt ...! Der Club gratuliert". Sonja hatte das Blättchen zusammen mit der Einladung geschickt; es enthielt außer dem Foto auch ein Feature über Sonja als erfolgreiche Geschäftsfrau. Wenn man dem Blatt glauben durfte, so verdankte sie so viel privaten und geschäftlichen Erfolg selbstverständlich ihrer körperlichen Fitness durch Zugehörigkeit in diesem Club. Na ja ...
Sonntag, 15. November ‘98 - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
"Herzlichen Glückwunsch zur Verlobung, Sonny. Viel Glück für eure Zukunft!" Constanze umarmte ihre Schwester und küßte sie auf beide Wangen. "Thomas. Alle guten Wünsche von mir!" Sie lächelte herzlich. "Schwägerin ..." Thomas Fahrenholt umarmte Constanze kurz. "Laßt uns anstoßen!" Kurt Petersen erhob sein Glas: "Viel Glück für die junge Familie!" Sonjas Kinder wollten auch anstoßen. Anna mit ihren vier Jahren war so aufgeregt, daß sie ihren "Kindersekt", wie Hilde die Apfelschorle für die Jüngsten nannte, gleich beim ersten Schluck über ihr Blümchenkleid schüttete. "Kein Malheur, das haben wir gleich." Hilde zog ein Tuch aus ihrer Schürzentasche. Dann setzte sie Anna mit Nachschub an Kindersekt an den Eßtisch. Sie winkten den Jungen. "Kommt ihr man auch schon; gleich gibt’s Essen." Die anderen Erwachsenen lächelten nachsichtig, nur der Bräutigam verzog genervt das Gesicht. "Welche Pläne habt ihr denn für die nächste Zukunft?" wollte Constanze von dem jungen Paar wissen. "Ziehst du um, Thomas?" "Thomas wohnt doch schon seit Oktober bei mir in der Stadtwohnung. Bei den Mieten heutzutage!" "Ach so." Constanze war wohl nicht so recht auf dem Laufenden. "Wir wollen auch noch im Dezember heiraten. Meinst du, Schwesterlein, daß du so ein Ereignis noch in deinen Terminplan hineinbekommst?" "Ihr seid aber schnell!" entfuhr es Constanze. "Wir würden uns freuen, wenn du unsere Trauzeugin wärest", sagte Sonja und sah Constanze erwartungsvoll an. "Danke. Wenn ihr das gerne möchtet ..." "Thomas' Freund Ingo wird der männliche Trauzeuge sein", fuhr Sonja fort. "Die beiden kennen sich aus dem Club. Ingo ist Zahntechniker und hat ein eigenes Labor. Er macht tolle Arbeiten, sagt Thomas. Außerdem ist er Junggeselle – Vielleicht können wir euch vor der Hochzeit noch miteinander bekannt machen ..." "Das wäre schön, aber ich habe zur Zeit leider sehr viel Arbeit. Steht der Hochzeitstermin denn schon fest?" "Das Aufgebot ist seit Wochen bestellt," sagte Sonja glücklich, "und die Trauung soll am 17. Dezember sein." "An dem Tag werde ich mir für euch frei nehmen.“
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"Lieb von Dir. - Ach, soll ich Bertram auch einladen?“ Constanze wehrte energisch ab. "Bloß nicht! Ich will die Beziehung mit Bertram nicht wieder aufwärmen. Außerdem surft er um die Zeit wahrscheinlich auf Hawaii. Aber danke." Gegen Abend ergab sich für Constanze die Möglichkeit für ein Gespräch unter vier Augen mit ihrem Vater. Sie standen in seinem Arbeitszimmer. "Lies", forderte er sie auf. "Das ist die vorerst letzte E- mail, die mir Carlos geschickt hat. Ich habe sie für dich ausgedruckt.“ Constanze überflog den ersten Teil der Nachricht. "Einfach unglaublich! Carlos und seine Schamanen!“ "Ja, er genießt offenbar wirklich ihr Vertrauen. Sonst hätten sie ihn niemals in ihre Heilkunst eingeweiht! Es hat aber auch lange gedauert; immerhin war er in den letzten vier Jahren in fast jedem Urlaub auf Expedition. Und die letzten Male hat er jeweils für einige Zeit bei diesem einen Stamm im Urwald gelebt - und damit echte Feldforschung betrieben!“ Constanze hatte inzwischen weitergelesen. "Na, darauf soll man erst einmal kommen: Es sind also drei verschiedene Pflanzen, deren Wirkstoffe kombiniert werden müssen, um diese bestimmten Effekte zu erzielen!“ "Es geht in Richtung Beeinflussung der Zellteilungsraten und damit der Alterungsprozesse; vielleicht hast du ‘mal etwas von Forschungsarbeiten über Telomerase- Aktivität gelesen.“ Constanze nickte. "Hab’ ich. Ist hochinteressant. Und Carlos weiß jetzt, wo diese Pflanzen wachsen! Diese Indios haben ihn tatsächlich an ihre Sammelplätze im Dschungel geführt!“ Ihr Vater nickte. "Carlos hat für uns eine Datei mit Vegetationsaufnahmen erstellt unter Nutzung eines Geo- Informationssystems. Diese E- mail hatte einen Anhang in verschlüsselter Form - nämlich die Datei mit den kartographischen Daten.“ "Die ist Gold wert, was?“ "Schon möglich. Ich habe sie auf einer ZIP- Diskette gespeichert; die liegt zur Zeit hier im Safe. - Außer dir und mir weiß niemand von dieser Datei, und die Safe- Kombination kennen auch nur wir beide, Mutter und Sonja.“ "Und wie geht’s weiter?“ "Für Anfang der Woche erwarte ich eine Luftfracht- Sendung von Carlos.“ "Untersuchungsmaterial?“ "Ja; und ich kann es kaum erwarten, ein paar Exemplare dieser wunderbaren Pflanzen in die Hände zu bekommen. Die größte Menge wird zwar in getrocknetem Zustand vorliegen, aber Carlos wird auf jeden Fall auch Frischware mitschicken.“ "Du willst selber ein paar Analysen machen?“ "Auf jeden Fall. Ich brauche weitergehende Informationen über die enthaltenen Wirkstoffe.“ "Und dann?“ "Dann treten wir mit unserem Know- How an potentielle Geldgeber heran. Wir brauchen für’s erste 5 Mio. Mark. Ziel ist, die analysierten Pflanzenwirkstoffe im Labor künstlich zu synthetisieren, gegebenenfalls unter Einsatz bio- und gentechnischer Verfahren, um sie für therapeutische Zwecke einsetzen zu können.“ "Ich nehme an, daß du den Business- Plan aufstellen wirst.“ "Richtig. Aber Carlos und ich werden gemeinsam unser Know- How bei diesen
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Venture- Kapitalisten vorstellen. Das Ganze ist und bleibt unser gemeinsames Projekt, und wir werden alles fifty- fifty- teilen; das ist schon lange schriftlich festgelegt.“ Constanze nickte nur. Sie wußte, ihr Vater stand zu seinem Wort. Und sie wußte auch noch, was er und sein brasilianischer Studienfreund Ramón vor vierzig Jahren auf einer Studienreise in Südamerika beschlossen hatten: Irgendwann einmal wollten sie etwas Sinnvolles für den wundervollen brasilianischen Urwald tun. - Ramón war nicht mehr am Leben, aber ihr Vater unterstützte nun Ramóns Sohn Carlos. Und Carlos hatte eine Vision, die vielleicht sogar das Überleben der Artenvielfalt seines Urwaldes sichern konnte - er suchte darin nach Medizin. "Wenn ihr Venture- Kapitalisten hier in Europa fändet, dann würde Carlos also hierher kommen“, überlegte Constanze laut. Ihr Vater lächelte. "Ja. Zur Zeit habe ich hier drei Pharma- Konzerne im Visier. Jeder hat eine eigene Tochtergesellschaft, die sich ausschließlich als VentureKapitalist am Markt bewegt. Sie sitzen alle in der Schweiz und in Österreich." Er machte eine Pause. Dann sah er sie ernst an und fuhr fort: "Constanze, ich weiß, daß dich und Carlos mehr verbindet als dieses Forschungsprojekt. Außerdem ist es schon fast zwei Jahre her, daß Juana ... Aber ich bin nicht sicher, daß er wirklich alle Zelte in seiner Heimat abbrechen will.“ "Aber eure Pläne für das Institut für Phytotherapie hier in Hamburg stehen doch nach wie vor?!“ "Ja. Aber ist ist noch nichts fest. Wir brauchen erst die Kapitalgeber.“ Constanze mußte sich damit begnügen, den letzten Satz der E- mail noch einmal zu lesen: "Sag’ deiner Tochter bitte, daß ich jeden Tag an sie denke, Carlos.“ Sie seufzte. "Darf ich den Ausdruck behalten?“ "Vernichte ihn lieber, Kind, am besten gleich hier. Hier im System habe ich die E- mail samt Datei auch gelöscht.“
Sonntag, 15. November ‘98, 19.30 Uhr - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Sonjas Verlobter hatte sich unter dem Vorwand, ein bißchen frische Luft schnappen zu wollen, für eine halbe Stunde von der Familie Petersen losgeeist. Er schlug den Weg zum Yachthafen hinunter ein. Doch schon nach zweihundert Metern bog er in eine Seitenstraße ein, in der sich eine öffentliche Telefonzelle befand. Kurz darauf hatte er die gewünschte Verbindung. Ohne große Umschweife stellte er seinen Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung zur Rede: "Sag ‘mal, warum meldest du dich wochenlang nicht? Und warum ist dein Handy dauernd abgestellt? Ich versuche seit Wochen, dich zu erreichen. Du, ich brauch’ unbedingt Geld! Du mußt noch in diesem Monat nach Zürich fahren; da holst du für mich zwanzig Mille und bringst dieses Perlencollier mit, du weißt schon! Und in der ersten Dezemberwoche treffen wir uns im Taunus. Da machen wir die Übergabe und vorher dieses Theater auf dem Klinikgelände. Und zwar alles wie gehabt. Den genauen Termin gebe ich dir noch auf. – Ach, übrigens: Du kannst mir gratulieren; ich bin nämlich seit heute offiziell verlobt.“
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"Du bist verrückt!“ Das war der einzige Kommentar vom anderen Ende der Leitung.
Mittwoch, 18. November ‘98 - Hamburg - Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Eppendorf, Schauplatz Paris
Eine E- mail von Vater war bei Constanze eingegangen. Heute mittag hatte er das Untersuchungsmaterial in Empfang nehmen können. Er schien hochzufrieden mit Umfang und Zustand der Sendung. Wie sie ihren Vater kannte, würde er von nun an wahrscheinlich jeden Tag stundenlang in seinem Labor über seinen Analysen brüten.
Donnerstag, 3. Dezember ‘98, vormittags - Brande- Hörnerkirchen Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg/Brande-Hörnerkirchen, Schauplatz Paris
Constanze war im Streß. Die zeichnerischen Entwürfe für die Ausschreibung standen, aber die Kostenrechnung war noch nicht fertig. Die Voranschläge für den Bereich mit frühblühenden Gehölzen und ganzen Heerscharen von Zwiebelgewächsen waren schnell erstellt. Auch die Bepflanzung der "Mixed Borders", raffiniert zusammengestellten Staudenrabatten nach englischem Vorbild, war in kurzer Zeit entworfen und kalkuliert. Andere Teilbereiche, wie die umfangreichen Steinsetzarbeiten, erforderten weit mehr Mühe und Zeit. Auch Constanzes Lieblingskind gehörte zu den aufwendigen Teilen: Sie hatte den Chef für ihre Idee gewinnen können, den großen Innenhof als japanischen Garten zu gestalten - als Wasserlandschaft über mehrere Ebenen, bepflanzt mit Fächerahorn, Amberbaum, verschiedenfarbigen Azaleen und mehreren Bambus- Arten. Steine, vornehmlich flache Findlinge, sollten eine beinahe ebenso wichtige Rolle spielen wie die Pflanzen. Gute Teichbauer und Wassergärtnereien hatten sie an der Hand. Aber auch für diesen Gartenteil galt: Für alle einzukaufenden Leistungen, für alle Materialien und Pflanzen mußten exakte Angebotsanfragen gestellt und dann die Angebote geprüft und verglichen werden. Constanze studierte immer wieder Angebote - von Baumschulen aus dem Hamburger Umland, von Azaleen- und Rhododendrenzüchtern und von Staudengärtnereien. Zwischendurch fuhr sie selbst in einzelne Betriebe und begutachtete die Gehölze vor Ort in ihren Quartieren. Die meisten der Rhododendren- und Azaleenzüchter kannte sie durch ihre Arbeit bei Bergner. Das erleichterte ihr die Einschätzung der angebotenen Leistungen und gab ihr Sicherheit für die Preisverhandlungen. "So, die Flora steht, Herr Kollege!“ verkündete Constanze gut gelaunt, als sie gegen mittag zu Stefan Holbrooks Arbeitsplatz hinüberging. "Einige Lieferanten haben zwar fast geweint - aber alles Krokodilstränen! "Wie sieht’s mit den Pflasterarbeiten für die Ruhezone am Teich aus?“
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Holbrook brütete bereits seit acht Uhr an seinem Schreibtisch über den verschiedenen Angeboten. Der Ascher neben ihm war voller Kippen. "Lassen Sie mich ‘mal sehen.“ Sie warf einen Blick auf das schriftliche Angebot einer kleinen Firma aus dem westlichen Hamburger Umland. Sie überlegte kurz. "Den kenne ich; arbeitet sehr sauber, aber ... Rufen Sie diesen Rathjen noch einmal an, Herr Holbrook. Sagen Sie ihm, es kann doch nicht sein Ernst sein, daß er für die Pflasterung dieses Mosaiks hier zwei Mann- Tage veranschlagen will. Das darf höchstens einen Tag dauern! Sonst ist er ‘raus!““ "Sie sind ja knallhart", stellte Holbrook anerkennend fest. Und während er schon nach dem Telefonhörer griff, setzte er noch hinzu: "Ach übrigens, wissen Sie eigentlich, daß Kollege Maaß den Job, den Sie jetzt machen, auch gerne gehabt hätte?"
Donnerstag, 3. Dezember ‘98, mittags - Brande- Hörnerkirchen Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg/Brande-Hörnerkirchen, Schauplatz Paris
In der Mittagspause rief überraschend Sonja im Büro an. Das war so gar nicht ihre Art. Sonja wollte etwas Wichtiges loswerden. Sie war am Vortag mit Thomas bei dessen Schwester im Taunus gewesen. Die Schwester hielt sich seit einer Woche zu Voruntersuchungen in einer renommierten psychiatrischen Klinik auf. "Macht einen sehr guten Eindruck, Constanze. Und stell' dir vor, der Arzt ist zuversichtlich, daß sie Andrea dort helfen können. Das ist eine echte Chance." "Das ist ja erfreulich, Sonny. Kann sie denn gleich dableiben?" "Na ja, sie könnte schon", antwortete Sonja langsam. "Es wäre sogar das Beste für sie, meint der Arzt. Aber es ist nicht ganz billig - die Behandlung würde nämlich mindestens ein halbes Jahr dauern." "Zahlt die Kasse etwa nicht?" "Sieht so aus. Und Thomas ist damit finanziell völlig überfordert. Ich habe mir schon überlegt, wie ich über das Geschäft ... weißt du, Thomas müßte ja sonst für viel Geld einen Kredit aufnehmen." "Sonja, ..." Constanze kam nicht weiter; denn ihre Schwester fügte hinzu: "Es bleibt schließlich in der Familie, Constanze."
Donnerstag, 3. Dezember ‘98, abends - Hamburg Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
"Du blätterst ja schon wieder in einem Pflanzen- Katalog", wunderte sich Frederike, als sie Constanzes Wohnzimmer betratund ihr Blick auf den Glastisch fiel. "Historische Rosen - daß du dazu in deiner Freizeit noch Lust hast!" Sie wollte Constanze ins Kino abholen. "Könnte ich mir täglich ansehen. Vor allem Rosen. Guck 'mal!" Damit zeigte Constanze auf die Abbildung einer üppig gewachsenen Kletterrose mit halbgefüllten, weißrosa Blüten. "Ist doch einfach zauberhaft! Und ihre Triebe wachsen pro
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Vegetationsperiode fünf Meter! Also wenn ihr euch 'mal ein eigenes Haus mit Garten zulegt, ..." "..., dann machst du uns wahrscheinlich die Gartenplanung", lachte ihre Freundin und schob sie sanft in Richtung Garderobe. "Natürlich, und zwar als Einzugsgeschenk“, sagte Constanze ernst. "Wann heiratet deine Schwester denn nun genau?" wollte Frederike auf dem Weg ins Kino wissen. "Am Donnerstag, den 17.; ich weiß noch gar nicht, was ich anziehe ..." Constanze seufzte. "Eigentlich müßte ich in die Stadt, um mir ein neues Kostüm zulegen. Aber im Moment habe ich weder Zeit noch Lust, mich in das Getümmel zu stürzen. Ich habe auch noch kein einziges Weihnachtsgeschenk gekauft.“ "Bekommst du denn überhaupt frei für die Heirat?" "Ja, das habe ich schon geregelt. Es ist ja auch nur der eine Tag." "Poltert ihr nicht?" "Nein, das will Thomas nicht; er will sowieso nicht viel Aufsehen; alles nur im engsten Kreis." Constanze zuckte mit den Schultern. "Deine Eltern wird es freuen; sie sparen wahrscheinlich eine Menge Geld und riskieren keine bösen Überraschungen. Wenn ich da an unseren Polterabend denke ... Am nächsten Morgen lag eine Fuhre Sand vor unserer Haustür. Wir wissen bis heute nicht, welcher unglückliche Verehrer das angerichtet hat. Die ganze Nachbarschaft mußte stundenlang schippen ..." "Na, Sonjas Fitness- Freunde werden sich bestimmt auch irgendetwas ausdenken; die kennen sich gut - mit allen Stärken und Schwächen. Was meinst du, wieviel Privates an drei gemeinsamen Abenden pro Woche die Runde macht!" "Ist das ein reiner Frauen- Club?" "Nein, ein gemischter; Thomas ist neuerdings auch dort Mitglied. Aber ich glaube, auch manche Männer erzählen eine Menge herum, wenn der Tag lang ist.“ "Georg ist ziemlich immun gegenüber Privatangelegenheiten anderer Leute. Der hat immer genug mit seiner Arbeit und uns zu tun", grinste Frederike. "Sei froh; mit einer männlichen Klatschbase möchte ich nicht leben. So jemand kann einen in Teufels Küche bringen. Ich weiß natürlich nicht, woher Thomas seine Informationen bezieht, aber mich wundert, daß er schon jetzt Gott und Lotte kennt." "Er lebt doch noch gar nicht lange hier oder?" "Erst seit einem Jahr. Wahrscheinlich lernt er durch seine Arbeit viele Leute kennen. Er wickelt nämlich Versicherungsschäden ab. Und außerdem ist er wohl damals sofort auch so einem Club beigetreten - in Schnelsen, glaube ich, wo einer seiner Kollegen trainiert." "Wenn ich einen so großen Bekanntenkreis hätte, würde ich auch in aller Stille heiraten, Constanze." "Aber Sonja nicht, die hätte es gerne etwas imposanter." Im Kino sahen sie sich den neuesten internationalen Thriller an. "Ziemlich übertrieben mit der Action, findest du nicht auch?" fragte Frederike, als der Abspann lief. "Ja, völlig irreal. Hatte ich mir nicht so abgefahren vorgestellt. Aber sieh dich 'mal um: ziemlich viele Leute, die genau das sehen wollten!" "Vielleicht führen die nach außen hin ein eher fades Leben und würden insgeheim gerne 'mal den Helden spielen", mutmaßte Frederike.
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"So wie Henner, was?" fragte Constanze. Henner war ihr spontan als typischer Kinobesucher für dieses Genre eingefallen. Der saß in Kiel bestimmt ein- bis zweimal pro Woche in so einem Film! Wahrscheinlich stammte auch sein Repertoire an männlichen Verführungskünsten von den Helden der Leinwand! Sein Pech, daß diese Jungs meist weitaus attraktiver waren als er! "Nach dem, was du über ihn erzählt hast - vielleicht" meinte Frederike. "Das müßte man 'mal in Psychologiebüchern nachlesen!" "Gute Idee", sagte Constanze. Doch dann fügte sie hinzu: "Weißt du, daß heute alles Mögliche in psychologischen Studien untersucht wird? Das gerät schon zur Manie. Solche Filme z.B. sehen sich doch auch Durchschnittsmenschen wie du und ich an. Und wir sind bestimmt nicht so wie Henner!" "Sag das nicht!" grinste Frederike. "Wer weiß, welche Macken wir beide haben!" Constanze sah sie an. "Na ja", sagte sie langsam, "ein bißchen Abenteuer würde sogar mir gefallen – und nicht nur im Film. "Aha!" meinte ihre Freundin. "Die Psychologen sollten dich also auch gleich mit auf' s Korn nehmen, wenn sie eine neue Studie zu diesem Thema machen. Vielleicht würde gerade dein Fall endlich Licht ins Dunkel aller grauen Theorie bringen!" Nun wurde Constanze das Gespräch wirklich zu albern. Sie sagte: "Ich passe bestimmt nicht in deren Schemata; dazu bin ich viel zu realistisch. Und ich ich gehe ausschließlich kalkulierbare Risiken ein."
Sonntag, 6. Dezember ‘98, abends - Hamburg- Schnelsen Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
"Ach komm, Thomas, du kannst doch jetzt noch nicht gehen; es ist noch vor neun!" quengelte Sabrina. Doch Fahrenholt war fest entschlossen. Er saß bereits auf der Bettkante und zog sein T- Shirt über. "Du weißt, daß es unvernünftig wäre, Schätzchen. Ich will wenigstens zu den 'Tagesthemen' zu Hause sein. Du hast dein Nikolausgeschenk gekriegt, und ich hab' noch zu tun." Sein Ton duldete keinen Widerspruch, aber Sabrina war wütend. Sie fühlte sich abgespeist: Erst kam er mit einem Paar schicker Ohrclips und einer Flasche Kokoslikör, dann seilte er sich nach einem kurzen Schäferständchen schon wieder ab, um mit seiner Frischverlobten den Rest des Abends zu verbringen! "Es ist immer dasselbe: Du denkst nur an dich", zischte sie gerade so laut, daß er es noch verstehen konnte und zog die Bettdecke bis unters Kinn. "A propos denken", entgegnete er gelassen, "sei froh, daß ich denke - und zwar gleich für dich mit! Du mit deinen Träumen von der Dom. Rep.! Allein kämest du doch nie da an!" Sie haßte ihn für diese Worte, aber sie wußte auch, daß er recht hatte. Er war noch nicht fertig. Und was er nun sagte, tat ihr beinahe noch mehr weh: "Wer weiß, vielleicht werde ich sie sogar heiraten. Ich bin da nämlich auf etwas gestoßen, das riecht nach einem ganz dicken Fisch." Damit stand er auf und verließ ihr Appartement. Er sah auf die Uhr: An einer Tankstelle bekam er sicher noch einen Blumenstrauß. Sonja gefielen solchen kleinen Aufmerksamkeiten - Was war schon diese kleine Mühe gegenüber dem Nikolaus
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geschenk, das sie ihm gemacht hatte! Gleich morgen würde er den Scheck bei der Bank einlösen.
Donnerstag, 17. Dezember ‘98 - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Der Standesbeamte im Rathaus war ein würdevoller älterer Herr mit silbergrauer Krawatte. Seinen Bewegungen und allem, was er sagte, hafteten eine außergewöhnliche Ruhe und ein besonderer Nachdruck an. Wen Karsten Wager traute, der wurde sich spätestens während der Zeremonie der Bedeutung und Tragweite dieses Schrittes bewußt. Heute vormittag schmückte ein üppiges Bukett weißer Rosen den Tisch, hinter dem der Standesbeamte stand. Sonja und Thomas, neben ihr die drei Kinder, standen ihm gegenüber. "... wenn jemand gegen die Verbindung dieser beiden Menschen einen Einwand heben sollte, so möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen ..." Constanze war als Trauzeugin hier. Sie trug das neue hellgrüne Kostüm, das sie eine Woche zuvor in der Hamburger City gekauft hatte. Es saß perfekt und stand ihr ausgezeichnet, nicht nur, weil es so gut zur Farbe ihrer Augen paßte. Aber seit sie es heute morgen angezogen hatte, fühlte sie sich nicht wohl. Irgendetwas lag wie ein Stein in ihrer Magengegend und drückte auf ihre Stimmung. ‘Immer diese schwülstigen, schicksalsträchtigen Worte’, dachte sie säuerlich. Wer würde hier schon einen Einspruch wagen? Die Eheleute waren sich einig, die Eltern der Braut erleichtert, die Kinder zählten nicht, und die Schwester der Braut hätte höchstens vage Zweifel an der Aufrichtigkeit des Bräutigams anmelden können! - Und die zählten auch nicht. Außerdem: Vielleicht hatte ihre Schwester recht; vielleicht sollte sie wirklich nicht immer so mißtrauisch sein. Schließlich bezeugte Constanze durch ihre Unterschrift diese Eheschließung ebenso wie Ingo Wolf, und der Standesbeamte besiegelte die Rechtmäßigkeit der Verbindung. Von da an herrschte eine fast ausgelassene Stimmung. Am glücklichsten sah die Braut aus, fand Constanze. Wenn Sonja jemals Zweifel an Thomas' ernsten Absichten gehabt haben sollte, so waren sie jetzt völlig von ihr abgefallen. Auch Vater wirkte froh und entspannt, und Mutter unterhielt sich lebhaft mit Herrn Wager. Wahrscheinlich fachsimpelten sie über die unterschiedliche Haltbarkeitsdauer von Ehen gestern und heute. Nur der Bräutigam wirkte weiterhin etwas angespannt, selbst dann noch, als man auf das Brautpaar anstieß. Ingo Wolf war leidlich unterhaltend. Er prahlte mit mehr oder weniger amüsanten Stories aus seinem Berufsalltag, wobei er sich nicht scheute, über einige seiner Kunden kräftig herzuziehen. "Ob Sie es glauben oder nicht: Die Patientinnen von diesem Promi- Zahnarzt am Neuen Wall - da hatte so manche mit dreißig schon mehr Krönungen als Königin Elisabeth! - Aber die heutige Technik und die neuen Materialien machen ja fast alles möglich", erklärte er wichtigtuerisch.
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Constanze war froh, eher wohlgeratene Zähne zu haben. Anderenfalls hätte er ihr womöglich an Ort und Stelle ein Angebot seines Hauses unterbreitet. "Hoffentlich behalten Sie Ihre ruhige Hand“, meinte sie lakonisch. "Keine Sorge, ich entspann' mich zwei-, dreimal pro Jahr in tropischen Gefilden. Im Februar geht's wieder los: zwei Wochen Barbados!“ "Tja, er glaubt immer noch, daß die braunen Bräute dort auf ihn warten!“ Thomas Fahrenholt hatte sich neben Constanze und Ingo gestellt. Seine Stimme klang unangenehm höhnisch. "Dabei konnte er mit seiner Spar- Potenz bisher noch keine einzige beeindrucken; gib’s zu, mein Freund!“ Der "Freund" schwieg, und Constanzes frischgebackener Schwager stichelte ungeniert weiter: "Er stemmt zwar dreimal die Woche im Club die Gewichte, aber das ist auch alles ... Nach einer Runde auf der Matte hat sich bisher noch jede verabschiedet!“ ‘Komplett betrunken’, konstatierte Constanze im ersten Moment. So etwas konnte er doch nicht mit klarem Kopf sagen! Aber er machte durchaus keinen betrunkenen Eindruck. Er wirkte total nüchtern. Und er schien seine Worte richtig auszukosten. Währenddessen stand Ingo stocksteif da. Er schwieg betreten. Alle übrigen Gespräche waren inzwischen verstummt. Aller Augen waren auf den Bräutigam gerichtet. Und der ließ sich jetzt dazu hinreißen, in jovialem Ton noch eine deftige Zugabe zu liefern. Constanze hatte durch ihre Arbeit oft mit Männern zu tun, und mit zweideutigen Witzen konnte sie gut umgehen. Aber diese derben Zoten offenbarten ganz überdeutlich, wie wenig dieser Mann von Frauen hielt! Constanze wartete ab. Ob Vater jetzt einschritt? Aber die Eltern schienen gar nicht zu hören, was ihr frischgebackener Schwiegersohn sagte. Und Sonja? Keine Reaktion. Constanze stellte ihr Glas ab. Einer mußte jetzt den Mund aufmachen! "Bravo! Das war dann wohl deine Thronrede?!" sagte sie bissig. "Aber paß’ nur auf, so mancher Herrscher wurde schnell gestürzt!" Dann rauschte sie aus dem Zimmer. Als er wenig später im Petersenschen Eßzimmer seine Tischrede hielt, gab sich Thomas Fahrenholt wieder ganz als Mann von Welt. ‘Wie ein Chamäleon’, dachte Constanze. Aber Sonja sah ihn glückselig an. An ihrem Hals schimmerte das Hochzeitsgeschenk: eine dreireihige Perlenkette mit einem Schloß aus russischen Rubinen. Bei ihrem Anblick fiel Constanze wieder ein, was Hilde immer sagte: "Perlen bedeuten Tränen". Aber Hilde sagte so manches ...
Samstag, 19. Dezember ‘98 - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Heute fand in der Aula des Gymnasiums das Ehemaligentreffen statt. Vorsorglich nordete Constanze den guten Henner schon vor Beginn der Veranstaltung auf dem Schulhof mit einem so eisernen Blick ein, daß er sich den ganzen Tag über tadellos benahm.
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Alle amüsierten sich, zumindest oberflächlich, und Constanze hatte keine besonderen Vorkommnisse zu verzeichnen. Danach war endlich ihr Kopf frei für das Weihnachtsfest.
Donnerstag, 24. Dezember ‘98, Heiligabend - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Der Heilige Abend verlief weitgehend harmonisch. Im Petersenschen Wohnzimmer stand ein bombastischer Tannenbaum, den Mutter und Hilde in stundenlanger Arbeit hingebungsvoll geschmückt hatten - ganz in Rot und Gold mit echten Kerzen. Frühmorgens hatte Hilde schon einen großen Topf mit Hühnerfrikassee gekocht und die Zutaten für den traditionellen Weihnachtspunsch bereitgestellt, den Vater nun am Nachmittag höchstpersönlich zubereitete. Constanze stand am Küchentisch und sah ihm zu. "Wie weit seid ihr eigentlich mit der Auswahl eurer potentiellen Partner?“ "Ich werde mir Anfang des Jahres die drei Europäer näher ansehen; der US- Konzern, den Carlos aufgetan hatte, sagt uns nicht zu.“ "Also wird Carlos herkommen?“ "Ja, aber frühestens Mitte März, wenn wir den Venture- Kapitalgeber endgültig ausgewählt haben und gemeinsam den Business- Plan präsentieren. Hat er dir das nicht geschrieben?“ "Nein. Aber Carlos schreibt sowieso nicht gerade viel.“ Es klang etwas mutlos. "Vielleicht sitzt er schon wieder bei seinen Indios. - Dafür hat mir aber Bertram Wilde ein edles Weihnachtsgeschenk geschickt - per Parcel Service!“ Constanze verzog das Gesicht. "Das ist dir wohl gar nicht recht?“ "Natürlich nicht. Ich habe im August mit ihm Schluß gemacht, aber er schenkt mir zu Weihnachten einen Armreifen! Jetzt muß ich das Ding auch noch zurück schicken.“ "Und du bist sicher, daß du auf den richtigen Mann setzt? Ich weiß ja nicht genau, was damals zwischen dir und Carlos gewesen ist, als wir zusammen drüben waren, aber ... Carlos geht völlig in seiner Arbeit auf, so daß ich gewisse Zweifel habe, daß seine Lebensplanung mit der eines anderen Menschen überhaupt vereinbar ist.“ "Und Bertram Wilde ist ein Mann, der überhaupt keine ernsthaften Ziele hat! Er ist nur ein Junior! Er kommt nur zu Stippvisiten in die Firma, zieht sich Geld von Papas Konto und reist mit seinem Surfbrett um die Welt! Mit dem kann ich erst recht kein gemeinsames Leben aufbauen.“ "Ja, die Mischung muß schon stimmen", murmelte ihr Vater. "Ist dein Punsch fertig?“ fragte Constanze. Er nickte. "Dann laß uns ’mal probieren - und auf Mutters Geschenk anstoßen“, schlug Constanze vor. Kurt Petersen würde seiner Frau zu Weihnachten eine Reise zu zweit nach Wien schenken. Stattfinden würde diese Reise allerdings erst im Frühling. Dann, so
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rechnete er, würde er die Venture- Kapitalgeber für sein Geschäftsmodell gefunden haben. Constanze kannte das zweispurige Konzept inzwischen: Langfristig sah es vor, auf Basis von Analysen natürlicher Pflanzenwirkstoffe eigene Therapeutika zu entwickeln. Parallel zu diesen relativ langen Entwicklungszeiten sollten nach drei Jahren Lizenzen an einem Teil dieser Wirkstoffe an weltweit operierende Pharma -Unternehmen vergeben werden. Damit würden sie weiteres Kapital für Forschung, Entwicklung und Markteinführung der eigenen Produkte generieren. Mutter würde bestimmt begeistert sein. Sie wollte es schon immer einmal erleben, wenn im Prater die Bäume blühten. Die Operette ließ grüßen ... "Was sagt Mutter eigentlich dazu, daß du im Moment so viel Zeit im Labor verbringst?" "Ach, sie trägt es mit Fassung. Sie hat ja selbst auch immer viel vor, und neuerdings begeistert sich doch Sonjas Mann ebenfalls für ihre Art Musik. Er hat sie schon mehrmals begleitet. Demnächst wollen sie sogar zu 'La Traviata'." Er schmunzelte. "Es ist alles in bester Ordnung, mein Kind." Constanze hatte gehofft, daß ihr Vater einmal Thomas Fahrenholts Verhalten bei der Trauung anspräche, doch er äußerte sich nicht dazu, und so schnitt auch sie das Thema nicht an. Die Bescherung war um sechs, danach widmete man sich dem Abendessen. Hildes Frikassee war köstlich wie immer und die Stimmung heiter bis ausgelassen. Die Kinder aßen jedoch, wie vorauszusehen gewesen war, nur wie die Spatzen; viel zu sehr lockte das neue Spielzeug, das das Christkind gebracht hatte. Sonja küßte Anna auf die Wange und ließ sie vom Tisch aufstehen, obwohl der Teller noch nicht leer war: "Lauf, mein Herz, und kümmere dich um deine neue Puppe. Vielleicht hat sie ja auch Hunger ..." "Also Sonja, ich verstehe dich nicht!" Sonja erntete einen unwilligen Blick von ihrem Ehemann. "Du hast das Kind völlig verzogen." Die beiden Jungen wagten erst gar nicht zu fragen; sie löffelten mit gesenkten Köpfen still ihr Frikassee. Punkt acht wies Thomas Sonja an, die Kinder ins Bett zu bringen. Sein Ton duldete keine Widerrede. Die Erwachsenen saßen noch bis Mitternacht auf. Das Thema "Kindererziehung" blieb aus der Unterhaltung ausgeklammert.
Donnerstag, 31. Dezember ‘98, Silvester, 9.00 Uhr - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Thomas Fahrenholt stand allein am Elbufer. In der Hand hielt er eine Neujahrs- Grußkarte. Fahrenholt schüttelte verärgert den Kopf: Was für ein Leichtsinn, so etwas an seine Wedeler Adresse zu schicken! Zum Glück war er es gewesen, der an diesem Morgen den Hausbriefkasten geleert und die Karte gleich entdeckt hatte. Nun zerriß er sie in klitzekleine Fetzen und überließ sie Wind und Wasser.
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Dabei war die Botschaft der Karte eine durchaus positive gewesen: Durch die Wahl des festlich illuminierten Triumphbogens als Motiv hatte ihm der Absender signalisiert, daß das „Geschäftsjahr“ äußerst erfolgreich verlaufen war.
Donnerstag, 31. Dezember ‘98, Silvester, mittags - Brande- Hörnerkichen Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg/Brande-Hörnerkirchen, Schauplatz Paris
Gute Nachrichten für Constanze zum Jahresausklang: Ihre Firma hatte die Ausschreibung gewonnen und sie ihre Probezeit Firma erfolgreich bestanden. Jetzt gehörte Constanze fest zur Belegschaft der Rudolf GmbH. Der Chef spendierte am letzten Tag des Jahres zu Mittag Sekt und Würstchen mit Kartoffelsalat. "Schlicht und ergreifend", erklärte Herr Rudolf, während er sich eine doppelte Portion Senf auf den Pappteller füllte. "Kaviar ist für die High Society, und wir gehören eher zum Bau. Stimmt's, Frau Weiß?" "Genau. Ich mag auch gar keinen Kaviar" "Möchten Sie noch Salat; Constanze?" "Sehr gern. Schmeckt prima." Gessler hatte eine neue Flasche Sekt geöffnet und kam nun auf Frau Weiß und Constanze zu. "Darf ich den Damen nachschenken?" 'Er sieht nicht mehr so müde aus wie im Oktober', stellte Constanze fest. Den Sekt lehnte sie mit einer Geste des Bedauerns ab: "Danke, ich muß noch fahren. - Aber mit meinem letzten Schluck ... auf gute Zusammenarbeit im nächsten Jahr, Herr Gessler!" "Ja, natürlich. Auf gute Zusammenarbeit! Ich freue mich sehr, daß Sie bleiben", sagte er, und es klang ehrlich.
Freitag, 15. Januar ‘99 - Hamburg Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Das neue Jahr begann arbeitsreich, doch das machte Constanze nichts aus, im Gegenteil: Sie stürzte sich mit Elan in die neuen Projekte. Ihr Privatleben lief auf Sparflamme; nur einen Termin hatte sie in ihrem Kalender in rot vermerkt: Frederikes Geburtstagsfete. Es wurde ein fröhliches Fest mit vielen netten Leuten. Georg saß am Klavier und haute vehement in die Tasten. Die meisten Gäste, vorwiegend Studienkollegen von Frederike, tanzten ausgelassen. Das Parkett im Wohnzimmer bebte. "Wann, meint ihr, kreuzt die Polizei hier auf?" wollte jemand wissen. Er mußte schreien, um verstanden zu werden. "Gar nicht", schrie Frederike zurück, "die Nachbarn haben Kinokarten, und ab zehn werden wir leise." Ihren Sohn hatte sie ausnahmsweise bei ihren Eltern in Lübeck untergebracht, und so saß auch Frau Bauer aus dem ersten Stock heute im Kino - in einer
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Hollywood- Komödie. Ab zehn wurde es tatsächlich ruhig. Sie saßen in kleinen Gruppen zusammen, die meisten auf dem Fußboden, und klönten. "An kinderfreie Abende könnte ich mich gewöhnen", seufzte Frederike und schloß schwärmerisch die Augen. "So ab und zu ..." "Im Sommer, mein Schatz", sagte Georg und zwinkerte ihr zu. "Wollt ihr verreisen - ohne Florian?" "Ja, wahrscheinlich. Es ist eine Exkursion nach Paris geplant. Architektur- Studenten von der FH und Kunstgeschichtler von der Uni fahren gemeinsam. Eigentlich will ich mit, und wenn Georg es einrichten kann ..." "Ah, Liebesurlaub! La Seine, l'amour ...!" Das war Georgs Freund Karsten. "A votre santé, Frédérique!" Er hob sein Glas mit Rotwein und prostete ihr zu. Alexandra konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen. Der grüne Schmuckstein in ihrem Piercing- Stift in ihrem Nasenflügel funkelte, als sie lästerte: "Oh, unser Pillendreher kennt sich aus! Du leistest du dir wohl häufiger solche kleinen Spritztouren, Karsten? Na ja, bei deinem Einkommen ..." "Komm', komm'", wehrte Karsten ab. "Erstens bin ich noch lange kein Millionär. Bei den Patienten liegt Naturheilkunde im Trend, und davon wird der Apotheker nicht reich. - Übrigens, Leute: nächster Vortragsabend am 2.2. ‘Bachblüten im Alltag', Eintritt fünf Mark pro Nase. - Zweitens: Im Gegensatz zu dir verplempere ich mein Geld nicht für Ringe in der Nase oder wer weiß wo sonst noch. Und drittens: Das Apothekerleben ist ganz schön riskant geworden." Wie er wohl gehofft hatte, horchten alle auf. "Ja, es ist so: Kaum hast du morgens deinen Laden aufgeschlossen, da trabt schon so ein Junky an und hält dir die Knarre unter die Nase." Er machte eine Kunstpause und sah forschend in die Runde. "Wenn du nicht sofort sämtliche Pillen 'rausrückst, die er brauchen kann, bist du geliefert! - Oder sie machen es wie neulich bei Asmussen in Schnelsen: ein sauberer Bruch und Lager und Giftschrank sind so gut wie leergefegt!" Alexandra sah ihn betroffen an. "Hast du das schon erlebt?" "Nein, bisher noch nicht. Aber es ist an der Tagesordnung, und die meisten Fälle werden nie aufgeklärt" "Aber die Kosten trägt doch die Versicherung ..." "Schon. Aber das Theater, bis Polizei und Versicherungsfritzen den ganzen Schaden aufgenommen haben!“
Donnerstag, 21. Januar ‘99, abends - Hamburg- Schnelsen Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
"Sehr verführerisch wirst du aussehen, wenn du erst im Tanga in der Karibik am weißen Palmenstrand liegst ..." Er küßte sanft ihren gepiercten Bauchnabel. Sabrina lag ganz still; sie hatte die Augen geschlossen. "Ich fühl' schon die Sonne", flüsterte sie. "Wir sind ihr schon ein gutes Stück näher gekommen, Schätzchen. Und in zwei Wochen folgt der nächste Schritt." "Ach Tom, das zieht sich so in die Länge!" Sie seufzte.
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"Ingo fliegt aber erst am dritten, also geht's nicht eher."
"Das Warten macht mich nervös; ich muß dauernd daran denken, verstehst du?"
"Überlaß alles mir, Schätzchen; ich sag' dir rechtzeitig Bescheid. Hauptsache, du
hast einen gültigen Paß."
Freitag, 12. Februar ‘99 - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Besuch in der „Idylle“. Constanze hatte in der Firma etwas eher als gewöhnlich Schluß gemacht und war direkt von Brande aus nach Wedel gefahren. Sonjas Kinder waren auch da. Sie buken mit Hilde in der Küche Berliner. Zur Kaffeezeit präsentierten stolz Ergebnis. Hilde strahlte über das ganze Gesicht und lobte: "Alle von den Kindern geformt, nur beim Ausbacken habe ich mitgeholfen." Die drei platzten fast vor Stolz. Ihr Großvater winkte sie an den Kaffeetisch, und sie rückten nah an seine Seite. Dann ließen sie es sich schmecken. "Wir haben sie so gerne bei uns", sagte Frau Petersen zu ihrer Tochter, "Sonja und Thomas sind ja doch sehr beschäftigt ..." Und Hilde, die gerade Kaffee nachschenkte, strich Anna über das Haar: "... wo ihr doch alle drei so lieb seid." Constanze betrachtete die Kleine. Wie ähnlich sie Sonja sah! Auch ihr Gesicht war herzförmig, der Teint zart und hell. Die Brauen über den lebhaften, dunklen Augen wirkten wie mit einem feinen Stift gezeichnet. Ihr halblanges, kastanienbraunes Haar wurde durch einen schmalen Haarreif mit weißer Ripsschleife gehalten. Anna hatte einige Male herzhaft in ihren ersten Berliner gebissen. Schon zierte die rote Erdbeermarmelade ihre Mundwinkel und quoll zwischen ihren Fingern hervor. Während Hilde noch mit einem Küchentuch zur Hilfe eilte, griff die kleine Hand bereits zum nächsten Exemplar. Annas Seitenblicke auf ihre großen Brüder sprachen Bände: Man mußte seine Pfründe sichern, wenn man die Jüngste war! Die Erwachsenen schmunzelten. "Opa, hast du eigentlich neue Briefmarken für uns?" fragte Daniel zwischen zwei Berlinern. "Oh, da müssen wir Männer gleich 'mal auf meinem Schreibtisch nachsehen. Ich glaube, es ist ein Brief aus Amerika gekommen, und da müßte doch auch eine Marke drauf sein - oder zwei ..." Er sah Daniel und Stefan augenzwinkernd an: "Könntet ihr die gebrauchen?" Die beiden strahlten. "Klar, Opa", antwortete Stefan eifrig. "Trink schnell deinen Kaffee aus!" "Wann geht’s denn nun nach Wien?" fragte Constanze ihre Mutter, als sie allein am Tisch saßen. "Wir wollen die erste Mai- Woche dort verbringen. Ganz schön romantisch für ältere Leute, was?"
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"Wird bestimmt romantisch, Mutti. Aber das ist doch auch völlig in Ordnung. Wenn ihr beide es möchtet, ..." "Ja, wir freuen uns beide darauf", sagte Frau Petersen mit einem Lächeln. "Und daß dein Vater mich damit zu Weihnachten überrascht hat ... - Übrigens hat mir Thomas einen sehr informativen Reiseführer geschenkt. Ach, er ist immer so aufmerksam! Und kulturell so interessiert!" Sie schüttelte den Kopf. "Ein Jammer, daß diese Ader bisher so kurz gekommen ist. Der arme Junge hat so viel Arbeit - und dann die Sorge um seine Schwester ... Na, Sonja kümmert sich ja jetzt darum ... genauso wie um seine Garderobe." "Ist mir auch schon aufgefallen", meinte Constanze. "Ist ziemlich teuer, glaube ich." "Nun, Qualität hat eben ihren Preis. Und es war wohl dringend nötig, wie Sonja sagte. Neben ihr kann er ja schlecht ..." "... in Sack und Asche gehen, meinst du?" Constanze zog kritisch die Brauen hoch. Ihre Mutter enthielt sich einer Antwort. Stattdessen sagte sie: "A propos Asche, Constanze: Hilde bereitet mir in letzter Zeit etwas Sorgen: Sie wird langsam vergeßlich. Vorige Woche hat sie den Rotkohl ansetzen lassen, und gestern war abends um zehn noch eine Herdplatte an. Wenn ich nicht noch in die Küche gegangen wäre, um mir einen Tee zu brühen, ..." "Hast du schon mit ihr darüber gesprochen?" "Nein, nur mit Vater. Wir werden erst 'mal abwarten und ein bißchen aufpassen." Gegen Abend saß Constanze bei Hilde in der Küche. Hilde war dabei, das Abendbrot vorzubereiten. Auf Constanze machte sie keineswegs einen unkonzentrierten Eindruck. Sie arbeitete planvoll und zügig wie gewohnt. "Willst du nicht noch eben mit essen? Ist doch immer so harmonisch, wenn du hier bist, min Deern." Eigentlich hatte Hilde recht: Ob Constanze nun um sieben oder um halb neun losfuhr, was machte das schon für einen Unterschied! Außerdem wollte sie gerne etwas von Hilde wissen, und Hilde hatte selber gerade das passende Stichwort gegeben - bewußt oder unbewußt. "Hm. Ist es ohne mich nicht harmonisch?" Hilde schien aufzuhorchen. Aber dann wiegelte sie ab: "Doch, aber ... Ich mein' ja man auch bloß ..." "Was meinst du so, Hilde? Ist irgendetwas nicht in Ordnung?" "Na ja", Hilde wand sich um eine klare Aussage, "ich mein', so wie es mit der lütten Anna und den Jungs läuft ... und mit dem ..." "Meinst du", Constanze wählte ihre Worte sorgsam; schließlich wollte sie hier niemanden aufhetzen, "meinst du, die Kinder mögen ihren Stiefvater nicht?" "Ach, die Kinder ...! Die halten sich an Oma und Opa, und das ist auch nur gut so. Lieber haben wir sie hier, als ..." "Schlägt er sie etwa?" fragte Constanze jetzt direkt. "Das hab’ ich noch nie gesehen“, antwortete Hilde hastig. „Aber er ist oft so hart zu ihnen; ich krieg' ich immer 'ne Gänsehaut. Und das Drohen mit dem Keller neulich - wo die Kinder doch solche Angst im Dunkeln haben!" Hilde nahm das Käsemesser
aus der Küchenschublade und knallte die Lade zu.
Constanze zuckte zusammen. So hatte sie Hilde ja noch nie erlebt!
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"Seine Kinder soll man lieben", brummte Hilde, "auch wenn es nicht die leiblichen sind; eine Sünde ist das!" Constanze verstand schon; zumindest ahnte sie, was da lief. Aber es waren nicht ihre, sondern Sonjas Kinder, und es war wohl Sonjas Aufgabe, sich mit ihrem Mann über Erziehungspraktiken auseinandersetzen. Dann fragte sie aber doch: "Duldet Vater denn diesen Ton? Immerhin leben sie alle in seinem Haus.“ "Ach, mir scheint, der Herr Doktor ist in letzter Zeit nicht so recht auf dem Damm. Und dann hat er ja auch seine wichtige Arbeit..." Constanze blieb zum Essen. Wie sie gehofft hatte, kam Sonja gegen acht. Sie konnten noch ein bißchen reden. Die Kinder waren schon im Bett. "Ach Constanze, er hockt einfach zuviel in seinem Labor, das ist alles", lautete Sonjas schlichte Erklärung, als Constanze nach dem Gesundheitszustand ihres Vaters fragte. "Leichtes Herz- Kreislauf- Training könnte er machen, aber dafür hat er ja angeblich keine Zeit. Ihm ist nicht zu helfen.“ "Wie versteht er sich eigentlich mit Thomas?“ fragte Constanze. "Hm. Ganz gut, denke ich. Aber sie sehen sich nicht besonders oft.“ Mehr hatte Sonja offenbar nicht dazu zu sagen. "Heute arbeitet dein Mann auch wieder lange!" "Kunden, die nur abends Zeit haben", erklärte Sonja. "Dann übernachtet er in der Stadtwohnung; ist schon das zweitemal in dieser Woche." "Dann kommt ihr wohl gar nicht mehr dazu, gemeinsam zu eurem Training zu gehen?" "Im Moment nicht; Thomas hat so viel außer der Reihe zu tun: einige komplizierte Schadensregulierungen, eine Fortbildung am nächsten Wochenende und dann muß er auch noch ab und zu bei Ingo nach dem Rechten sehen, solange der in Urlaub ist." "Na ja, dann geht Madame Sonja eben früh ins Bett und nimmt ihren Schönheitsschlaf", empfahl Constanze. "Schließlich ist jugendliche Frische ihr Geschäft."
Mittwoch, 3. März ‘99 - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Es war ein ungeplanter Besuch in der „Idylle“. Constanze war mittags von ihrem Vater in der Firma angerufen worden; er müsse sie am Nachmittag dringend sprechen. Sie sollte so früh wie möglich Feierabend machen und dann zu ihm nach Hause kommen. Sie kam um drei Uhr; ihr Vater stand mit Hilde im hinteren Teil des Gartens in der Nähe des Grabens. "Herr Doktor, wir müssen ‘was tun“, mahnte Hilde gerade, "bei dem guten Wetter spielen die Kinder jetzt wieder im Garten!“ "Ja, Hilde. Morgen früh besorge ich das Gift, und dann stellen wir die beiden Weinkisten hier am Grabenrand auf. Die Einschlupflöcher habe ich so klein gemacht, daß wirklich nur kleine Tiere hinein können. Und mit den Kindern werde ich auch sprechen."
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"Habt ihr wohl wieder Ratten gesehen?“ wollte Constanze wissen. "Ja, das Kruppzeug war heute morgen wieder am Kompost“, murrte Hilde. “Daß die uns man bloß nicht noch ins Haus kommen!“ "Eklige Vorstellung! Ihr habt mich doch wohl nicht angerufen, damit ich euch die Viecher vom Hals schaffe?!" Constanze schüttelte sich. "Als Rattenfängerin habe ich nicht die mindeste Erfahrung!“ Ihr Vater seufzte hörbar, bevor er ihr antwortete. "Nein, nein, mein Kind. Ich habe drinnen mit dir etwas anderes zu besprechen. Ich gehe schon vor; du kannst ja mit Hilde nachkommen.“ Gemeinsam mit Hilde ging Constanze in Richtung des Hauses. "Weißt du, was Vater so Wichtiges mit mir zu besprechen hat, Hilde?“ Hilde schüttelte den Kopf. "Nee, min Deern. aber laß uns ‘mal da lang gehen.“ Sie dirigierte Constanze zu den alten Apfelbäumen. Dann blieb sie stehen und deutete in die Krone eines alten Baumes: "Da!“ "Das ist ja ein tolles Baumhaus, Hilde - aber ganz schön hoch!“ "Hat deinen Vater ein nur Wochenende gekostet, und jetzt sitzen die Kinder fast jeden Tag drin. Pfeif man ‘mal, Constanze!“ Kaum daß Constanze auf zwei Fingern gepfiffen hatte, wurde es oben in der Baumkrone lebendig: Daniel kletterte aus der Hütte und entrollte eine orangefarbene Flagge mit schwarzem Totenkopf, die er in eine offenbar eigens dafür angebrachte Halterung steckte. Dann kamen auch seine Geschwister aus ihrem Versteck und stimmten ein fürchterliches Geschrei an. Hilde lachte und winkte. "Ihr habt wieder Beute gemacht“, rief sie ihnen zu. Constanze sah wie erstarrt auf das orangefarbene Tuch in luftiger Höhe. Sie bekam kaum noch Luft und rang um Fassung. Nur flüchtig winkte sie den Kindern zu, dann ging sie mit eiligen Schritten zum Haus hinüber, ohne sich auch nur einmal nach Hilde oder den Kindern umzudrehen. In Vaters Arbeitszimmer liefen wie üblich die Computer. Der Bildschirmschoner auf dem Laptop fiel ihr sofort auf; den kannte sie noch nicht. "Es geht um diese E- mail, Constanze. Sie kam heute morgen.“ Zwei Clicks und der Text der E- mail erschien auf dem Bildschirm. Constanze las den Absender im Header. Sie runzelte die Stirn. "Diesen Firmennamen habe ich noch nie gehört. Sind das Geschäftspartner von dir und Carlos?“ Ihr Vater nickte flüchtig. "Die Firma sitzt in Boston, ist eine der beiden potentiellen Venture Kapitalisten, die Carlos in Übersee kontaktet hat.“ "Oh Gott! Das kann doch nicht sein!“ Constanze starrte ungläubig auf den Bildschirm. Stockend las sie den Text der E- mail vor: „Heute erhielten wir die Nachricht vom Tode Ihres Geschäftspartners Carlos da Silva. Der Autounfall soll sich bereits vor zwei Tagen auf einer Küstenstraße bei Victoría ereignet haben. Die Polizei geht von einem Unfall aus. Wir bedauern zutiefst, ... Bitte setzen Sie sich mit uns zwecks Fortführung unserer Gespräche umgehend in Verbindung.“ Constanze fühlte, wie ihre Knie weich wurden. Sagen konnte sie nichts mehr. "Das konnte ich dir doch nicht am Telefon erzählen.“ Sie hörte ihren Vater seufzen. "Es ist ein schwerer Schlag, mein Kind - für uns beide.“
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Donnerstag, 4. März ‘99 - Hamburg- Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Eppendorf, Schauplatz Paris
An diesem Tag fuhr Constanze nicht in die Firma; sie meldete sich krank und verkroch sich in ihren vier Wänden. Mit einer ganzen Kanne Kräutertee saß sie auf ihrer grünen Insel und brütete vor sich hin. Sie dachte an gestern. In der ersten Aufregung hatte sie die erstbeste Maschine nach Rio nehmen wollen; sich davon überzeugen, daß Carlos tatsächlich nicht mehr am Leben war. Doch Vater hielt das nicht für klug; und er hatte es geschafft, sie zurückzuhalten. "Was ist, wenn es kein Unfall war?“ hatte er gefragt. "Dann versuche aber wenigstens, mehr Informationen darüber zu bekommen! Ich will genau wissen, was da passiert ist und warum!“ hatte sie unter Tränen von ihm gefordert.
Donnerstag, 4. März ‘99 - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
"Au revoir, Monsieur. Wir werden die Arbeit für Sie zu Ihrer vollsten Zufriedenheit ausführen." "Bis Sonntag abend." Der Kunde nickte M. Luc kurz zu und verließ die kleine Galerie am Boulevard Saint- Germain. Es war ein strahlender Frühlingstag, und so setzte er sich ins erstbeste Straßencafé. Er wollte überlegen, womit er die nächsten drei Tage in dieser Stadt am sinnvollsten verbringen konnte.
Montag, 8. März ‘99, nachmittags - Hamburg- Schnelsen Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Thomas Fahrenholt griff nach seiner Aktenmappe. "Danke für den Kaffee, Schätzchen“, sagte er. "Rufst du mich Ende der Woche an?“ "Kann ich noch nicht sagen; wahrscheinlich bin ich geschäftlich unterwegs.“ "Ach Tom, du hast fast gar keine Zeit mehr für mich! Entweder mußt du nach Haus zu deiner Frau oder zu irgendwelchen Kunden!“ Sie machte ein enttäuschtes Gesicht. "Sabrina, du weißt doch, daß ich vorsichtig sein muß. Sonst platzt die Sache noch im letzten Moment.“ "Ja, aber man muß sich doch auch ab und zu entspannen. - Die Jungs haben sich übrigens auch schon gewundert, daß du so selten in den alten Club kommst.“ "Nun schieb’ nicht die Jungs vor, Sabrina! Du willst, daß ich da trainiere, damit wir uns treffen können.“ "Und was ist daran so schlimm?“ rief sie. "Du hast doch sonst dauernd Termine, sogar am Wochenende!“
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"Sabrina,“ sein Ton bekam etwas Grundsätzliches, "schlimm daran ist, daß die Jungs etwas merken könnten - so wie du mich da jedesmal anbaggerst.“ "Ich liebe dich eben.“ Er faßte sie bei den Schultern und sah sie beschwörend an: "Dann reiß’ dich gefälligst zusammen!“
Sonntag, 2. Mai ‘99 - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Man traf sich zum Sonntagskaffee im Garten. Die Familie war vollzählig versammelt. Kurt und Almut Petersen wollten am folgenden Tag nach Wien abreisen. Es war schon sommerlich warm, die Sonne schien, und die Bienen summten in den weit geöffneten Kelchen der späten gelben Tulpen und turnten in den Blütenständen des duftenden Flieders. Constanze liebte diese Zeit im Gartenjahr besonders, und sie hatte es bisher immer in vollen Zügen genossen, wie heute mittendrin zu sitzen: an einem von Hilde liebevoll gedeckten Kaffeetisch auf dem Rasen, wo sich der Duft von Kaffee und frischem Butterkuchen kurioserweise mit dem der Natur harmonisch verband. Seit fast zwei Monaten war dieses der erste Tag, an dem Constanze wieder so etwas wie Fröhlichkeit fühlte. Wochenlang hatte sie der Gedanke an Carlos’ Tod so sehr beherrscht, daß sie ihrer Arbeit in der Firma nur noch rein mechanisch nachgegangen war und in ihrer Freizeit zu Hause in Eppendorf düster gebrütet hatte. Vaters Erkundigungen hatten zu ihrem Leidwesen nichts Neues zutage gefördert; die Ermittlungen der Behörden waren längst abgeschlossen: Tod durch Unfall, hieß es. Und hier ging das Leben weiter. Vaters und Carlos’ gemeinsame Geschäftsidee hing nun allein an Vater. In den vergangenen Wochen hatte er sich verstärkt um die potentiellen Venture- Kapitalisten am europäischen Markt bemüht. Letztendlich war seine Wahl auf die Tochtergesellschaft eines österreichischen Pharma- Unternehmens gefallen. Am Kaffeetisch waren alle bester Stimmung, nur Hilde schien brummig und murmelte etwas von einer Ratte am Komposthaufen. "Sogar in die Staatsoper will euer Vater mit mir". Almut Petersen lächelte. "Papa!" rief Constanze anerkennend. "Aber eure Mutter hat mir zum Ausgleich auch einen freien Tag versprochen.“ "Ach, Kurt, deine Tabletten ..." "Danke, Almut, ich vergesse sie nicht.“ Er zog ein Pappschächtelchen aus der Tasche seiner Strickjacke und legte es neben seinen Kuchenteller. Es schien ein anderes Medikament zu sein als das, was Constanze aus dem Labor kannte; diese Schachtel hatte ein anderes Format. Den Namen konnte sie nicht entziffern. Sie würde Vater bei Gelegenheit fragen, nahm sich Constanze vor. Heute sah er jedenfalls ziemlich angestrengt aus, fand sie. Constanze erbot sich, Kaffee nachzuschenken. Als sie eben zwischen Sonja und ihrem Schwager stand, fühlte sie plötzlich Thomas' Hand auf ihrem Oberschenkel.
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"Gibst du mir auch noch eine Tasse, Schwägerin?" fragte er heiter. "Faß' mich nicht so an!" zischte sie. Dann schenkte sie ihm so forsch eine Tasse Bohnenkaffee ein, daß leider ein paar heiße Tropfen auf seinen Fingern landeten. Sonja mußte beides bemerkt haben, sagte aber nichts dazu. Stattdessen griff sie nach dem Kännchen mit der Kaffeesahne, und wohl nur ihre Schwester sah, daß ihre Hand ganz leicht zitterte. "Ach, ich würde auch gern einmal wieder verreisen", sagte Sonja dann und seufzte vernehmbar. "Außerdem steht unsere Hochzeitsreise noch immer aus.“ Sie warf ihrem Mann einen vieldeutigen Blick zu. Dann fuhr sie fort: "Ein paar Tage wenigstens und ich hätte bestimmt nicht mehr so oft Migräne! Immer dieser Streß mit diesen schönheitswütigen Frauen! Eine Kundin von mir vermietet in Dänemark Ferienhäuser. Vielleicht könnte sie uns ein Haus besorgen ... so zum Ende der Ferien hin." "Dänemark? Würde den Kindern sicher auch gefallen", überlegte Thomas laut, "und wenn Oma und Opa mitkämen ..." ‘Ganz schön gerissen!’ dachte Constanze bitter. ‘Er nimmt zwei pflichtbewußte, kostenlose Spielkameraden für die Kinder mit, damit er sich mit Sonja ungestört in den Dünen vergnügen kann!’ Darüberhinaus würde es Vater wahrscheinlich nicht dulden, daß der Schwiegersohn das Ferienhaus alleine zahlte! "Also, jetzt bin ich erst einmal gespannt auf Wien." ‘Punkt für Vater’, dachte Constanze. Der merkte genau, wenn ihn jemand ausnutzen wollte. Laut und zu Sonja gewandt sagte sie: „Stellt euch doch zwei Sonnenliegen in den Garten; die Kinder spielen sowieso allein!“ Sonja musterte sie einigermaßen empört. "Da hätten wir bestimmt keine ruhige Minute. Wahrscheinlich müßten wir den ganzen Tag lang mit ihnen Piraten spielen!“ "Tja, Eltern haben eben manchmal Pflichten“, sagte Constanze lakonisch und biß genüßlich in ein Stück Kuchen. "Und du als Tante nicht?“ fragte Thomas herausfordernd. "Eher nicht“, antwortete Constanze, "ich leiste nur freiwillige Jugendarbeit - so wie morgen nachmittag zum Beispiel; und da gehen wir in den Zoo.“ "Du mußt wissen“, erklärte Sonja ihrem Mann, "daß Constanze prinzipiell keine Spiele in luftiger Höhe spielt, seitdem sie vor ein paar Jahren im Urwald war. Sie ist nämlich nicht schwindelfrei. Und Piraten mit grellbunten Flaggen jagen ihr Angst ein!“ Sonjas süffisanter Tonfall war Constanze keinesfalls entgangen. Doch während sie noch nach einer passenden Retourkutsche suchte, kam auf einmal Hilde mit eiligen Schritten vom Haus her über den Rasen. "Herr Doktor, Telefon für Sie - Wien! Wollen Sie ...?" "Danke, Hilde. Ich komme sofort ins Haus." "Vater, darf ich 'mal?" Constanze zeigte auf die Medikamentenpackung. "Natürlich, Kind." Er reichte ihr die Packung, bevor er Hilde zum Haus folgte. "Jetzt wird sein Kaffee kalt", stellte Sonja fest. "Ja, vor allem, weil eure Hilde ihm wieder stundenlang etwas über Ratten vorjammern wird", setzte Thomas hinzu. "Die Alte sieht doch schon Gespenster!“ "Und er kümmert sich auch noch darum!“ klagte Sonja. "Dabei hat er in den letzten Wochen fast jeden Tag bis in die Nacht in seinem Labor geschuftet! Seitdem dieser Carlos tot ist, ist er noch verbissener als früher. Als ob ihm jemand mit
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Stoppuhr im Genick säße! Würde mich jedenfalls nicht wundern, wenn er in Wien auch einen geschäftlichen Termin hätte.“ Constanze sagte dazu nichts. Offenbar hatte Vater Sonja und Thomas nicht in seine Pläne eingeweiht. Lieber studierte sie inzwischen den Beipackzettel: aha, Maiglöckchen -Dragées! Ein "rein pflanzliches Monopräparat für Patienten mit leichter Herzinsuffizienz"; Naturheilmittel; schien harmlos zu sein. Beruhigt legte sie die Packung zurück auf den Kaffeetisch. "Seit wann nimmt Vater die denn?" erkundigte sie sich dann bei ihrer Mutter. "Ach, schon seit Anfang des Jahres; sie scheinen ihm gut zu bekommen. Ich bin froh, daß er sie nimmt. Er ist viel unternehmungslustiger als letzten Sommer."
Montag, 3. Mai ‘99, nachmittags - Hamburg Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Für Constanzes Eltern war es der Tag ihrer Abreise nach Wien; Constanze hatte sich einen Tag Urlaub genommen. Sie wollte am Nachmittag etwas mit Sonjas Kindern in Hamburg unternehmen. Nun war sie in Blankenese auf dem Weg zum Treffpunkt. Auch heute wärmte die Sonne schon angenehm, und der Himmel hatte das gleiche kühle Hellblau wie gestern der Teppich aus Gedenkemein unter den Forsythien im Petersenschen Garten. Nur einzelne zarte Schönwetter- Wolken glitten wie Schiffchen über das Blau. Constanze ertappte sich dabei, wie sie anfing, in den Wolkenformen nach Figuren zu suchen; so wie sie es als Kinder manchmal getan hatten, wenn sie im Garten unter dem blühenden Kirschbaum spielten. Sie hatten sich dann Geschichten ausgedacht - von Prinzessinnen und Zauberern und wilden Tieren. Sonja hatte meistens die Prinzessin am Himmel gefunden, Constanze eher Räuber und Hexen. Sollte sie bei Gelegenheit 'mal mit den Kindern spielen, dachte sie. Hoppla! Beinahe hätte sie eine Frau mit Hund umgerannt, die ihr auf dem Fußweg entgegenkam. Ihrem Outfit nach zu urteilen, gehörte sie zu der Schickeria, die regelmäßig zwischen den Designer- Boutiquen am Neuen Wall und dem Schönheitsinstitut von Madame Sonja hier in Blankenese hin- und herpendelten immer in Begleitung ihres Schoßhündchens mit rosa Schleife. Constanze erntete einen mißbilligenden Blick und murmelte etwas Unverständliches. Da war es schon: "Institut de Beauté". Constanze sah auf ihre Armbanduhr: gleich drei Uhr. Ob die Kinder im Geschäft auf sie warteten? Eigentlich waren sie hier draußen miteinander verabredet. Constanze wartete fünf Minuten vor dem Schaufenster, dann betrat sie das Geschäft. Die gläserne, in Messing gefaßte Eingangstür schloß lautlos hinter ihr. Constanze stand in einem Empfangsraum, der in ein gedämpftes Licht getaucht war. Unzählige winzige Deckenstrahler ließen den Steinfußboden wie rosenholzfarbenen Marmor schimmern. Stattliche Grünpflanzen in großen Kübeln und bequeme Bambusmöbel mit weißen Polstern verliehen dem Raum Wintergarten- Atmosphäre. Rechter Hand saß eine elegant gekleidete Dame in einem Sessel und blätterte in einer Zeitschrift. Offenbar war sie bereits durch Sonjas Hände gegangen und wartete nur noch auf ihren Chauffeur. Neben der Sitzgruppe, mehr zur Raummitte hin,
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befanden sich zwei schlichte Vitrinen. In der einen schimmerte aparter Modeschmuck, in der anderen waren Tiegel und Töpfe einer Kosmetikserie ausgestellt. Halblinks stand ein heller Empfangstresen. Die dunkelhaarige Schönheit dahinter hatte sich sofort bei Constanzes Eintreten von ihrem Platz erhoben. Sie trug ein perfekt sitzendes roséfarbenes Kostüm und ein ebenso perfektes Make up. "Was darf ich für Sie tun, gnädige Frau?" fragte sie mit einem verbindlichen Lächeln. Constanze stellte sich vor. "Ich freue mich, Sie kennenzulernen; mein Name ist Carla. Ich weiß Bescheid. Wenn Sie bitte einen Moment warten würden." Damit verschwand sie beinahe lautlos durch eine der beiden weißen Türen an der rückwärtigen Seite des Raumes. Eine Minute später erschien Sonja. Sie trug ebenfalls ein roséfarbenes Kostüm. "Hallo Constanze, komm' mit nach hinten", sagte sie leise, "das Mädchen hat die Kinder gerade gebracht." Constanze folgte ihrer Schwester durch die weiße Tür bis in die Teeküche. Sonjas Kinder saßen mit Corinna, einer der Kosmetikerinnen, an einem Tisch und tranken Mineralwasser. "Gehen wir in den Zoo, Constanze?" fragte Anna. "Natürlich, Schätzchen, alles wie geplant - wenn ihr das noch so wollt." Die Kinder nickten. "Fein. Wenn ihr ausgetrunken habt, geht’s los." "Constanze, ich muß zu meiner Kundschaft ... Corinna ...". Sonja hatte keine Ruhe mehr; sie war schon fast aus der Tür. "Tschüß, bis heute abend." Sie warf ihren Kindern eilig eine Kußhand zu. Plötzlich fing Anna an zu schluchzen. Constanze konnte kaum verstehen, was sie sagte. "Aber ich muß Mama doch noch 'was sagen ...". Die ersten Tränen kullerten. "Kannst du es erst ‘mal mir sagen, Anna? Dann erzählen wir es Mama heute abend“, bot Constanze an. Anna schluchzte lauter. Mama mußte her, und zwar möglichst schnell, sollten nicht sämtliche Kundinnen aus ihrem Schönheitsschlaf gerissen werden "Ihr bleibt hier, und ich hole Mama.“ Constanze ging zum Empfangsraum und informierte unauffällig die Dame in Rosé. Als sie auf ihrem Rückweg zur Teeküche war, kam ihr auf dem Flur Anna entgegengelaufen. Constanze legte den Zeigefinger auf den Mund. "Mama kommt gleich; wir sollen in der Küche warten", flüsterte sie und schob das kleine Mädchen sanft vor sich her in Richtung Teeküche. "Was hast du hier zu suchen? Wie oft habe ich euch gesagt, daß ihr die Geschäftsräume nicht betreten sollt!" herrschte plötzlich Thomas Fahrenholt seine kleine Stieftochter mit zorniger Miene an. Dabei stieß er sie unwirsch gegen eine Tür. Constanze hielt die Luft an. Für einen Moment fürchtete sie, das Kind könnte mit dem Gesicht gegen die Türklinke schlagen. Aber es ging gerade noch gut. In diesem Moment kam Sonja den Flur entlang. "Was fällt dir ein, das Kind so zu behandeln?" fauchte sie ihren Mann an und drückte Annas Gesicht in ihren Schoß. "Es ist immer dasselbe", stellte Thomas zornig fest, "die Kinder wissen nicht, was sie zu tun und zu lassen haben. - Aber ich werde andere Saiten aufziehen." Constanze beachtete er gar nicht. Die sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
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"Gut, daß ich das mit eigenen Augen gesehen habe“, sagte sie langsam. "Und jetzt gehen wir in den Zoo." Gut eine Stunde später standen sie vor dem Walroß- Becken in Hagenbecks Tierpark. Antje und ihre Artgenossen dümpelten gemächlich im Wasser. "Wo schlafen Seehunde eigentlich?" wollte Stefan von Constanze wissen. "Hm. Wahrscheinlich am Strand oder auf einer Sandbank. Da habe ich sie jedenfalls schon nebeneinander liegen sehen." "Können die auch im Wasser schlafen?" fragte Stefan weiter. "Ich glaube nicht." "Und Menschen?" "Nein", sagte Constanze. "Wenn ein Mensch im Wasser einschläft, dann geht er wahrscheinlich unter und ertrinkt." "Siehste!" Daniel sah seinen Bruder genervt an. "Hab' ich doch gleich gesagt. Und wenn Constanze das weiß, müssen Mama und Thomas das doch auch wissen!" "Hm" war Stefans Kommentar, dann wollte er, daß sie zu den bunten Vögeln gingen. "Was war denn?" wollte Constanze von Daniel wissen. "Ach, Stefan hat nur Angst, daß er in der Badewanne schlafen muß - mit Wasser drin", antwortete Daniel. Constanze verstand nicht ganz. Vielleicht sollte sie Sonja einmal danach fragen.
Montag, 3. Mai ‘99, 18.30 Uhr - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Gleich am Abend ergab sich die Gelegenheit. Als Constanze die Kinder zu Hause ablieferte, war Sonja selber an der Haustür. "Sag' 'mal, was hat es eigentlich mit Stefan und dem Schlafen in der Badewanne auf sich? Er hat da so etwas Merkwürdiges erzählt." "Ach, das! Das war nur ein kleiner Scherz neulich. Er war bockig, und da hat ihm Thomas die Badewanne als Alternative zum Bett angeboten ...". Sonja wirkte sichtlich verlegen. "Mit Wasser oder ohne ...?" "Na ja ... es war nur ein Scherz." Sonjas entschuldigendes Lächeln verunglückte komplett. Constanze verzichtete auf eine detailliertere Nachfrage; denn soeben betrat ihr reizender Schwager vom Wohnzimmer aus den Flur. Sehr elegant sah er wieder aus heute abend, fand sie. Seit er mit Sonja verheiratet war, trug er italienische Designer- Anzüge. Sonjas Geschäft mit der Schönheit schien wirklich zu florieren. "Guten Abend, Schwägerin", begrüßte er Constanze mit einem angedeuteten artigen Diener. ‘Verlogenes Miststück‘, dachte Constanze und begrüßte ihn mit einem zuckersüßen Lächeln. "Haben sich die Kinder gut benommen?“ "Natürlich. Wahre Engel!“ Wieder lächelte Constanze zuckersüß.
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Nun stellte sich Thomas hinter seine Frau und umfaßte ihre Taille. "Wie spät ist es eigentlich, mein Schatz?" Er küßte sie auf den Hals. "Die gute Hilde soll die Kinder früh ins Bett bringen, damit wir beide ..." Sonja schmiegte ihren Kopf an ihn und schloß für einen Moment die Augen, bevor sie sagte: "Na dann, Constanze, danke nochmal. Bis bald." ‘Wie er Sonja am Band hat!’ schoß es Constanze durch den Kopf. Abe wie konnte sie ihre Schwester bloß seinem Einfluß entziehen? Im Moment hatte er klar Oberwasser. Ihr Schwager schien ihre Gedanken zu erraten. "Tja, die Macht der Liebe ... Ich habe großes Glück mit dieser Frau, die alles andere als eine Nonne ist. Gute Nacht, Schwägerin!" "Temperier’ das Badewasser für die nächste Übernachtung richtig“, steckte sie ihm, sonst komme ich zur Überprüfung.“ Sein Blick auf Sonja sprach Bände. Punkt für Constanze. "Ach übrigens: Haben sich unsere Eltern eigentlich bei euch schon aus Wien gemeldet?“ "Ja. Hilde hatte vorhin einen kurzen Anruf ... alles in Ordnung", beeilte sich Sonja mit einer Antwort. "Na, dann ist ja alles bestens.“
Montag, 3. Mai ‘99, 23.00 Uhr - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
"Alles in Ordnung“, meldete auch der Mann, der noch am späten Abend über Thomas Fahrenholts Handy- Nummer anrief. "Es ist eigentlich zu spät für geschäftliche Anrufe; ich war schon im Bett“, erklärte Thomas Fahrenholt dem Anrufer ohne Umschweife, während er seinen Bademantel überstreifte und das eheliche Schlafzimmer verließ. Auf dem Flur setzte er das Gespräch fort: "Also, was gibt es?“ Die Aktion im Schwarzwald sei erfolgreich abgeschlossen, berichtete der Anrufer; nun stehe ein dreiwöchiger Urlaub an. Danach sei er wieder erreichbar. Wie es denn im Hamburger Raum laufe, wollte er abschließend wissen. "Alles läuft auf Hochtouren“, antwortete Thomas Fahrenholt, und das war nicht übertrieben.
Dienstag, 4. Mai ‘99 - Brande- Hörnerkirchen Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg/Brande-Hörnerkirchen, Schauplatz Paris
Team- Besprechung in Constanzes Büro. Frau Uhland, die Herren Maaß und Holbrook und Constanze saßen um den runden Tisch und diskutierten zwei Entwürfe für die Gartenanlage einer neuen Seniorenresidenz an der Außenalster. "Also ich weiß wirklich nicht, was ihr alle gegen meine Edelkastanien habt“, sagte Klaus Maaß ungehalten.
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Stefan Holbrook seufzte zum wiederholten Male. Dann antwortete Frau Uhland ruhig: "Herr Maaß, mir ist das einfach zu düster. Das erinnert mich an einen Klosterhof.“ "Finde ich auch. Das geht schon in Richtung Friedhof, Klaus. Und das reißt auch dein betulicher Rosengarten nicht ‘raus.“ Stefan Holbrook nahm kein Blatt vor den Mund. Constanze äußerte sich diplomatischer: "Die Idee mit dem Rosengarten gefällt mir im Prinzip. Die würde ich sehr gerne umgesetzt sehen. Auch die streng geometrische Gestaltung finde ich ganz reizvoll“, meinte sie. "Was wir dazu bräuchten, ist meines Erachtens eine unkonventionellere Lösung für die Ruheplätze. Etwas Schatten brauchen wir schon, aber Kastanien und Parkbänke ...“ "Also dann können wir ja gleich Holbrooks Entwurf so übernehmen ...“, maulte Maaß. "Moment.“ Constanze ergriff noch einmal das Wort. "Damit eines klar ist, Herr Maaß: Es geht hier darum, eine Lösung zu finden, die den Wünschen unseres Kunden optimal gerecht wird.“ Holbrook grinste. Constanze sah kurz ihre schriftlichen Unterlagen ein und zählte dann auf, was der Kunde als besonders wichtig angegeben hatte. Dann sah sie in die Runde. "Und hier sagt er ausdrücklich, daß er ‘eine heitere Gesamt- Atmosphäre mit einzelnen stillen Bereichen an Teichen oder Rabatten mit Duftrosen’ möchte. Diese Atmosphäre strahlt meines Erachtens der Entwurf des Kollegen Holbrook aus. Zwei Teiche hat er im Gegensatz zu Ihnen ebenfalls vorgesehen. Außerdem steht hier noch, daß der Kunde keine großwüchsigen Parkbäume will“, fügte sie hinzu. Stefan Holbrook grinste immer noch. Klaus Maaß' Kopf hatte eine puterrote Farbe angenommen. Hanna Uhland sah abwechselnd von einem Kollegen zum anderen, ohne etwas zu sagen. "Ich bin dafür, den Entwurf des Kollegen Holbrook vorzulegen", fällte Constanze schließlich die Entscheidung. "Allerdings", damit wandte sie sich an Stefan Holbrook, "möchte ich, daß Sie den Rosengarten des Kollegen Maaß in den Südwesten der Anlage integrieren, Herr Holbrook.“ "Und ich?“ "Sie, Herr Maaß, kümmern sich als nächstes um das KiTa- Projekt in Elmshorn.“
Dienstag, 4. Mai ‘99, abends - Hamburg- Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Eppendorf, Schauplatz Paris
Punkt acht rief Sonja bei Constanze an. Gerade war sie aus ihrem Geschäft nach Hause gekommen. Sie klang aufgeregt. "Constanze, stell’ dir vor, hier bei uns ist heute eingebrochen worden!“ "Was? Wann denn?“ "Am späten Nachmittag - als wir alle aus dem Haus waren. Die Kinder waren zum Geburtstag eingeladen.“ "Und Hilde? Ist ihr ‘was passiert?“ "Nein, nein, die war zum Bummeln in der Stadt. Aber das ganze gute Silber ist weg, Constanze, jede Kuchengabel, jeder Teelöffel! Und Hilde ist am Jammern, sag’ ich dir!“
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"Na ja, ist schon ärgerlich“, meinte Constanze, "aber wenn das alles ist, geht’s ja noch. - Vaters Safe im Arbeitszimmer haben sie wohl nicht gefunden?“ Ihre Schwester seufzte zuerst nur. Dann antwortete sie: "Schön wär’s. Sie haben den Safe geknackt und meine Perlenkette mitgehen lassen!“ "Nur deine Kette?“ "Was heißt hier ‘nur’?“ "Entschuldige, ich meine, ob sonst noch alles da ist?!“ "Das weiß ich noch nicht. Dazu muß ich erst wissen, was jeder von uns darin aufbewahrt hat.“ Zwei Stunden später rief Sonja noch einmal an. "Also um dein Auto brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Constanze: Dein KFZ- Brief ist noch da.“ "Sehr beruhigend. Danke. Was hat denn deine Nachfrage bei unseren Eltern ergeben?“ "Daß Vater ungefähr 2.ooo Mark Bargeld gestohlen wurden. Außerdem kann ich eine schwarze Diskette nicht finden, von der er glaubt, sie in den Safe gelegt zu haben - Aber vielleicht hat er sich ja auch geirrt.“ Diese schwarze Diskette ging Constanze den ganzen Abend nicht mehr aus dem Kopf. Vater hatte sich bestimmt nicht geirrt. Schwarz waren ZIP- Disketten; und auf einer ZIP- Diskette waren Carlos’ pflanzengeographische Daten abgespeichert.
Freitag, 7. Mai ‘99 - Hamburg- Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Eppendorf, Schauplatz Paris
"Ich kann das nicht begreifen!" Constanze schlug die Hände vor das tränenüberströmte Gesicht. Frederike legte schützend die Arme um ihre Freundin. So kauerten sie zusammen für eine unbestimmte Zeit auf Constanzes wollweißem Sofa. Irgendwann stand Frederike behutsam auf, um Kräutertee aufzubrühen. Die schlimme Nachricht hatte wie eine Bombe in Constanzes Leben eingeschlagen. "Am Sonntag haben wir noch zusammen im Garten gesessen, da hat ihm nichts gefehlt. Und jetzt auf der Reise, da fällt er einfach um!" Sie schluchzte fassungslos. "Wie ist es denn überhaupt passiert?“ "Genau weiß ich das auch nicht. Mutter hat ‘was von diesem Riesenrad erzählt. Er hat die Fahrt damit wohl nicht vertragen; hinterher war ihm übel, er hatte Herzrasen ...“ "Du hast ‘mal erzählt, daß er herzkrank war“, erinnerte sich Frederike. "Herzkrank? Nein!“ Constanze schüttelte energisch den Kopf. "„Eine leichte Herzinsuffizienz hatte er, sonst gar nichts! Und daran stirbt man nicht!“ "Goldrute, wird dir guttun.“ sagte Frederike, als sie den Tee einschenkte.
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"Hättest du bloß gleich heute früh angerufen. Ich wäre doch mit dir hingefahren. Ich mag gar nicht drüber nachdenken, in welcher Verfassung du mit dem Auto unterwegs warst!" "Ach, ich hab' nur an eins gedacht: schnell hin! Ich glaub', ich bin sogar geblitzt worden auf der Flughafenstraße. Aber das ist ja egal ... Ich wollte doch da sein, wenn er ankommt.“ "Verstehe. Du wolltest nur da sein.“ "Aber ich bin doch nicht mehr rechtzeitig gekommen. - Sie hatten ihn schon abgeholt, das mußt du dir ‘mal vorstellen! Und ich durfte ihn nicht mehr sehen!" Constanze schluchzte wieder auf. "Sie hätten doch wenigstens auf mich warten können!“ "Und deine Mutter und Sonja?“ "Ha! Sonja kann ganz schön cool sein, und Thomas hat gleich alles ‘geregelt’ - mit der Todesanzeige in der Zeitung und so. Der liebende Schwiegersohn!“ Frederike konnte nur den Kopf schütteln. "Und weißt du, was dieser Kerl dann zu Hause gemacht hat?" Aus Constanze Blick sprach purer Haß. "Er hat sich in unserem Wohnzimmer ungeniert in Vaters Sessel gepflanzt und mich befragt, was ich jetzt zu tun gedächte!" "Und deine Mutter?" "Sie hat ihn nicht daran gehindert", antwortete Constanze bitter.
Sonntag, 16. Mai ‘99 - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Am Wochenende nach der Beisetzung, deren Organisation und Durchführung Thomas Fahrenholt mit weltmännischer Sicherheit abgewickelt hatte, war Constanze wieder nach Wedel gefahren, um ihre Mutter zu besuchen. Nun saßen sie bei einer Tasse Kaffee im Wintergarten. Sonja lag mit Migräne im Bett; und ihre Kinder waren mit dem Kindermädchen unterwegs. "Ist ganz gut, daß ich den dreien erzählt habe, daß ihr Großvater auf eine lange Reise gehen mußte“, meinte Almut Petersen mit einem Kopfnicken. Sie rührte zum wiederholten Male in der Tasse. „Ich mag eigentlich gar keinen Kaffee mehr, seit dein Vater ... “ "Kann ich gut verstehen, Mama“, sagte Constanze leise. "Wollen wir ‘mal in Vaters Arbeitszimmer gehen? Da ist es doch so, als würde er gleich wiederkommen.“ Ihre Mutter nickte."Dann könntest du ja auch gleich an Vaters Computer nachsehen, ob in den letzten Tagen irgendwelche E- mails eingegangen sind. Du weißt, ich kann mit dem Ding nicht so richtig umgehen.“ "Du meinst Vaters Laptop? Ich kann dir zeigen, wie man das macht. Ist ziemlich einfach.“ Ihre Mutter öffnete die Tür zum Arbeitszimmer, und Constanze war perplex: An Vaters wuchtigem Schreibtisch saß, neben sich eine Flasche Rotwein, ihr Schwager. Er telefonierte gerade ganz locker mit einem seiner Fitness- Freunde. Hastig zog Frau Petersen die Tür wieder zu. "Was soll das denn?“ fragte Constanze scharf.
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"Am Wochenende will er hier ungestört seine Privat- Korrespondenz abwickeln, sagt er. Und für nächsten Freitag hat einen Herrenabend geplant - im Wintergarten. Ich fürchte, sie werden sich ungeniert von Vaters altem Burgunder bedienen.“ Frau Petersen zuckte bei diesen Worten einigermaßen hilflos mit den Schultern. "Der glaubt wohl, er sei der unumstrittene Herr im Hause, was?“ ereiferte sich Constanze. "Na, das wirst du ja wohl nicht zulassen?!“
Sonntag, 23. Mai ‘99, Pfingstsonntag - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Am Sonntag darauf war Constanze wieder in Wedel. Morgens war sie mit Mutter und Hilde in der Kirche gewesen. Am Nachmittag saß sie wieder allein mit ihrer Mutter im Wintergarten. Sonja war an diesem Tag noch gar nicht aufgestanden; ihre Migräne fesselte sie geradezu ans Bett. Ihre Kinder hatte sie mit Hilde und dem Kindermädchen auf den Abenteuer- Spielplatz bei Planten un Blomen geschickt. Ihr Mann war ebenfalls nicht zu Hause; er stählte seine Muskeln schon seit Stunden im Fitness- Club. Im Moment erinnerte lediglich ein Blechdöschen mit Hustenbonbons auf dem Tisch an ihn. Thomas besaß ein ganzes Arsenal davon und ließ sie ständig irgendwo im Hause herumliegen. Es war, als wollte er damit sein Revier markieren. Der Herrenabend am Freitag hatte tatsächlich stattgefunden. Almut Petersens Appell an die Pietät hatte ihren Schwiegersohn nicht im geringsten beeindrucken können. Wie von ihr befürchtet, war der Abend reichlich deftig ausgefallen: Zuerst wurde Hilde von Thomas kräftig hin- und her gescheucht, um seine Gäste zügig mit Steaks und bestem Wein zu bewirten. Dann ließ er per Taxi zwei blutjunge Stripperinnen kommen, die den Herren wohl Appetit auf ein Dessert machen sollten. Gegen ein Uhr nachts waren sie dann alle johlend per Taxi in Richtung St. Pauli verschwunden. Eigentlich hatte Constanze zur Zeit genügend mit sich selber zu tun. Sie fühlte sich wie betäubt. Rein mechanisch ging sie ihren täglichen Verpflichtungen nach; sie hatte keine Kraft, die Probleme anderer zu teilen. Das Loch, in das sie durch Carlos’ Tod gefallen war, war schon tief gewesen. Aber jetzt stak sie in einem noch tieferen. Ihre Mutter zeigte wenig Emotionen; aber eine Verzagtheit, die von Tag zu Tag zuzunehmen schien. Wenn Constanze sie jetzt allein ließ, würde dieser Kerl sie langsam, aber sicher fertigmachen! Deshalb war Constanze auch heute wieder hergekommen. Deshalb würde sie ihrer Mutter heute beibringen, wie man an Vaters Laptop die E- mails öffnete, und deshalb würde sie heute abend auf Mutters Bitte hin Vaters persönliche Sachen aus der Firma abholen - auch wenn Pfingsten war. Heute blieben sie in Vaters Arbeitszimmer ungestört. Constanze fuhr den Laptop hoch. Ihre Mutter stand direkt neben ihr, in der Hand Bleistift und Notizblock. "Ich sage dir jetzt jeden einzelnen Schritt an, du siehst her, und dann schreibst du es auf.“ Ihre Mutter nickte.
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Im Posteingang befand sich eine E- mail; sie war von Wiegand, dem Seniorchef der "Hansa Margarinewerke". "Ach, die kenne ich schon, Constanze. Es ist nur die Zusage ...“ "Macht nichts, Mutter. Daran üben wir jetzt.“ "Na gut. Zeigst du mir auch noch, wie ich so eine E- mail löschen kann?“ "Natürlich, aber vor allem, wie du mir in Zukunft E- mails schicken kannst.“ Beim Verlassen des Arbeitszimmers kam Constanze eine Idee, und sie sagte: "Vielleicht solltest du übermorgen, wenn dein Schwiegersohn zur Arbeit ist, einfach das Türschloß auswechseln lassen ...“
Sonntag, 23. Mai ‘99, Pfingstsonntag, abends - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Herr Wiegand schloß das Labor für Constanze auf. "Ist alles so, wie er es am Sonntag abend vor seiner Abreise verlassen hat. Ich wollte hier noch niemanden aufräumen lassen." "Mutter meint, seine braune Aktenmappe müßte noch hier sein; außerdem sein Füllfederhalter ... “ "Sehen Sie sich in Ruhe um.“ Constanzes Blick fiel auf den Computer am Fenster, auf eine Reihe von Fachbüchern, Vaters Notizblock, die Federschale mit diversen Stiften. Auch der alte, schwere Füller war dabei. Die Aktenmappe fand sich im untersten Schubfach des Labortisches an. Mit Ausnahme einer Packung Papiertaschentücher und etwas Kleingeld war sie leer. "Die Schreibutensilien können in die Mappe, und die Bücher ...“ überlegtete Constanze laut. "Die trage ich Ihnen gern zum Auto“, erbot sich Wiegand. "Danke, das ist nett.“ Auf dem Tisch in der Sitzecke im Nebenraum stand der handgetöpferte türkisfarbene Kaffeebecher, den Constanze ihrem Vater zum Geburtstag geschenkt hatte, daneben lag eine Packung Maiglöckchen- Dragées. Während Constanze den Becher vorsichtig in der Aktenmappe verstaute, entdeckte sie auf dem Fußboden direkt neben einem Tischbein einen kleinen Gegenstand. Sie hob ihn auf. "Ach, nur eines von Vaters Herz- Dragées; ist ihm wohl heruntergefallen.“ "Hier ist noch etwas, glaube ich", sagte Wiegand. Er hatte sich ebenfalls gebückt und eine zweite Medikamentenpackung aufgehoben, die zwischen Papierkorb und Wandschrank auf dem Boden lag. Constanze öffnete die Schachtel. Das Glasfläschchen darin war leer, konnte also eigentlich in den Papierkorb. Aber da Constanze ohnehin am Einpacken war, wanderte beides mit in Vaters Aktenmappe. "Das wär’s dann wohl“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihm. Aber dann fiel ihr auf dem Weg zur Tür doch noch etwas ein."Vater hat doch in letzter Zeit Pflanzenmaterial analysiert - Ist davon noch etwas übrig?“
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"Ach ja, die Pflanzen.“ Wiegand rekapitulierte: "Also frisches Material wohl nicht mehr, sonst wäre es hier im Labor; aber getrocknetes ist auf jeden Fall noch da.“ Er führte sie in die Chefetage. Im Vorzimmer bat er sie, kurz Platz zu nehmen. Dann verschwand er im Büro seines ältesten Sohnes; vermutlich stand dort der Firmentresor. Kurz darauf übergab er Constanze einen Karton, in dem sich drei Gefrierbeutel mit getrocknetem Pflanzenmaterial befanden. Die Beutel waren durch verschiedene Kürzel gekennzeichnet. "Das hat mir Ihr Vater schon vor Wochen gegeben, damit ich es hier aufbewahre. Ich hatte es fast vergessen.“ Constanze überlegte. Dann bat sie Wiegand, die Proben in den Tresor zurückzustellen. "Ich glaube, hier sind sie am sichersten aufgehoben. - A propos Sicherheit, Herr Wiegand, an die Daten auf Vaters Firmen- Computer kommen wir wohl nicht heran oder?“ "Doch, schon, aber nur über unseren Administrator; der ist am Dienstag ab sieben Uhr wieder im Werk. - Suchen Sie etwas Bestimmtes?“ "Eigentlich suche ich nicht direkt danach“, antwortete Constanze. "Aber es könnte sein, daß Vater eine Datei mit geographischen Daten hier in der Firma abgespeichert hat. Bis kurz vor seinem Tod gab es davon bei uns zu Hause auch eine ZIP- Diskette, aber die ist verschwunden.“ "Ich kümmere mich am Dienstag persönlich darum, Frau Petersen, und dann rufe ich Sie an.“ Wiegand begleitete Constanze an der Pförtnerloge vorbei zum Parkplatz. "Glauben Sie mir, das sind jetzt abends einsame Runden für mich. An dem Sonntag haben wir noch zusammen Schach gespielt.“ Er lachte bitter. "Und weil wir die Partie nicht beenden konnten - es war schön fast zwölf, wissen Sie - da hat er mich noch gebeten, das Brett mitsamt den Figuren darauf in meinen Tresor zu stellen. ‘Bis ich wieder hier bin, Herr Wiegand’, hat er gesagt.“ "Und nun?“ "Nun bleibt alles drin, das Brett, die Figuren und die Holzschatulle. Diese Partie kann ich nicht mit einem anderen Menschen zu ende spielen.“ "Ich verstehe. Mir fehlt er auch so sehr. Und Mutter und Sonja. Dazu kommt der Ärger mit dem neuen Mann meiner Schwester. Er führt sich unmöglich auf, will uns alle herumkommandieren.“ "Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann ...“ "Danke, Herr Wiegand, im Moment wüßte ich nicht wie. Außerdem ist mein Schwager in den nächsten Tagen sowieso nicht in Hamburg, sondern wegen einer beruflichen Fortbildung im malerischen Schwarzwald.“ "Welche Branche?“ "Versicherungen. Die haben Geld, sage ich Ihnen! Er wird für eine ganze Woche in einem Vier- Sterne- Hotel einquartiert!“
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Montag, 24. Mai ‘99, Pfingstmontag - Hamburg- Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Eppendorf, Schauplatz Paris
Am frühen Abend saß Constanze wieder allein in ihrer Wohnung auf ihrer grünen Insel. Sie fühlte sich fix und fertig mit den Nerven. Die Konfrontation gestern mit Vaters Arbeitsplätzen zu Hause und in der Firma hatte so viele Erinnerungen aufflackern lassen. Und dazu die Anstrengung, in Mutters Gegenwart die Zähne zusammenzubeißen und nicht einfach loszuheulen! Zu Hause in Wedel hatte sie es freundlich und mit einem Hinweis auf den bevorstehenden Arbeitstag abgelehnt, am gemeinsamen Abendessen der „Restfamilie“, wie sie es neuerdings für sich bitter nannte, teilzunehmen. Die Wahrheit war, daß sie ihrem Schwager nicht auf’s Fell gucken konnte. Sie verabscheute ihn; sie haßte seine unverhohlen gierigen Blicke, mit denen er Sonja schon beim Abendessen regelmäßig auszuziehen pflegte, und sie vermutete hinter beinahe jeder seiner spitzen Bemerkungen heimlich eine wohlgeplante Gemeinheit gegen ihre Mutter, Hilde oder sich selber. Constanze ließ das Abendbrot ausfallen. Stattdessen öffnete sie eine Flasche Moselwein. Es war nicht klug, das wußte sie. Morgen früh würde sie wieder ganz schön auf der Hut sein müssen wegen des Kollegen Maaß. Aber trotzdem: Sie brauchte ein Ventil - und zwar jetzt! Der Rest des Abends war ein einziges Fiasko: Gegen neun Uhr abends saß sie neben ihrer Badewanne auf dem Boden und stellte sich unter Tränen zum hundertsten Male die Frage, warum Carlos ausgerechnet in diesem Jahr verunglücken mußte und warum ihr Vater gerade jetzt gestorben war. Sie hatten sie total verlassen.
Dienstag, 25. Mai ‘99 - Brande- Hörnerkirchen Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg/Brande-Hörnerkirchen, Schauplatz Paris
Der nächste Tag war hart. Angefangen hatte es damit, daß sie ihren Wecker überhört hatte und eine Stunde zu spät zur Arbeit gekommen war. Dadurch hatte sie die "Montagsrunde" im Chefzimmer versäumt, wie sie das wöchentliche Lage- und Planungsgespräch nannten, zu dem sich Rudolf und seine Team- Leiter immer am ersten Arbeitstag der Woche trafen. Zum Glück hatte, wie für solche Fälle vorgesehen, der Kollege Maaß als ihr Stellvertreter an der Besprechung teilgenommen hatte. Nach ihrem Eintreffen ließ sie sich kurz mündlich von ihm über die Ergebnisse informieren. Bei der Rudolf GmbH herrschte Hochbetrieb; auf Constanzes Schreibtisch stapelten sich die Projektordner. Ohne Überstunden, das wurde ihr schon während des Gespräches mit Maaß klar, würde sie ihre Arbeit in dieser kurzen Woche auf keinen Fall schaffen. Ihr Schädel brummte noch immer etwas, sie fühlte sich verwundbar, aber sie machte sich keine Vorwürfe. Irgendwann mußte sie sich schließlich auch einmal gehenlassen, und gestern war es eben so weit gewesen. Heute war ein neuer Tag, und ab Mittag würde es ihr sicher besser gehen. Zum Glück fühlte sie sich mittags tatsächlich besser; und so beschloß sie, gleich an diesem Nachmittag eine Stunde länger als gewöhnlich im Büro bleiben. Damit
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konnte sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen würde der Stapel auf ihrem Schreibtisch niedriger, und zum anderen würde sie heute abend weniger Zeit zum Grübeln zu haben - über Vaters Tod mit allen seinen Folgen. Gleich zu Beginn ihrer Mittagspause ging Constanze zu Fuß ins Dorf, um sich beim Kaufmann mit etwas Obst und einem Stück Kuchen für den verlängerten Arbeitstag einzudecken. Den Laden betrat sie gerade zu dem Zeitpunkt, als eine andere Kundin soeben das Thema Nr.1 des Dorfklatsches einem kleinen Publikum in epischer Breite präsentierte. Eher ungewollt bekam Constanze die ersten Stichworte mit. Dann ertappte sie sich jedoch dabei, daß sie begann, interessiert zuzuhören: Es war davon die Rede, daß die Kundin zu Pfingsten ihre Cousine im Schwarzwald besucht hatte. Wenn Constanze es richtig verstanden hatte, so war diese Cousine Opfer eines Kunstdiebstahls geworden. "Ihr Vertrauen hat er sich erschlichen, dieser Schwindler! - Und sie dachte, er würde sie heiraten!“ "Und wann ist das passiert?“ wollte jemand wissen. "Na, das ist jetzt ungefahr vier Wochen her; sie hat das ja erst gar keinem erzählen mögen - diese Blamage!“
Dienstag, 25. Mai ‘99 - Hamburg Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Am Abend rief Herr Wiegand wie versprochen an. Der Netzwerk- Administrator der "Hansa Margarinewerke" ließ ausrichten, daß die Festplatte des Computers in Vaters Labor komplett gelöscht war. Etwaige Sicherungsdisketten waren nicht auffindbar.
Mittwoch, 26. Mai ‘99 - Paris, Musée d’ Orsay Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Ein Ober im Café des Hauteurs hatte soeben zwei Tassen Café au lait gebracht. Die Dame schob ihrem Begleiter einen Notizzettel zu. "Morgen abend, Monsieur. Der Kunde hat akzeptiert, und wir bekommen wie immer 30 Prozent." Er warf einen Blick auf den Zettel. "Einverstanden. Am Eingang?" Sie nickte. Dann fragte sie ihn:"Waren Sie eigentlich schon in der Sonderausstellung im Parterre? Wunderbare Skizzen von Picasso!" "Wir könnten zusammen ...", schlug er vor. "Tut mir leid, aber ich muß sofort zurück in die Galerie.“ "Und am Wochenende?“ "Am Wochenende habe ich noch einen anderen Job, Monsieur. Da bleibt nur sehr wenig freie Zeit.“ "Schade, aber vielleicht ...“ "Vielleicht.“ Sie lächelte charmant. "Au revoir, Monsieur."
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Donnerstag, 27. Mai ‘99 - Paris, Hotel Bristol Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Am nächsten Abend saß Claudine wie an fast jedem Wochenende in der Halle des Hotel Bristol und malte. Ab und zu blieb ein Hotelgast stehen, um ihre Kollektion an Seidentüchern zu studieren. Claudine sah auf die Uhr: Es war kurz vor acht. Sie mußte los. Rasch räumte sie die Mal- Utensilien ein, dann klemmte sie sich die Mustermappe unter den Arm und fuhr mit dem Lift in die erste Etage. Die Tür zur Suite 103 wurde ihr schon nach einmaligen Klopfen geöffnet: Man erwartete sie bereits. Der alte Herr unterzog nur ein einziges Werk aus ihrer Mappe einer letzten, kurzen Begutachtung. Als er sich seiner Sache sicher war, wechselte das Gemälde den Besitzer. Claudine überprüfte das Geld. Es war in Ordnung. Nun mußte sie nur noch ihren Partner vor dem Hoteleingang auszahlen, und das Geschäft war komplett abgewickelt.
Freitag, 28. Mai ‘99 – Hamburg- Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Eppendorf, Schauplatz Paris
Am späten Nachmittag schloß Constanze die Tür zu ihrer Wohnung auf. Endlich Wochenende! Anstrengend waren die vergangenen dreieinhalb Tage in der Firma gewesen. Nichts war ihr leicht von der Hand gegangen. Angefangen hatte es eigentlich schon mit dem verkaterten Dienstag. Aber so richtig schlimm war es erst danach gekommen: Am Mittwoch morgen hatte sich Holbrook für voraussichtlich vierzehn Tage krank gemeldet - Sportverletzung. Warum mußte er auch immer wie ein Wilder Squash spielen? Gerade jetzt, wo auf seinem Schreibtisch eine superlange To do- Liste lag! Einen guten Teil der Arbeit würde Constanze selber übernehmen müssen, vor allem die Restarbeiten am Projekt "Seniorenresidenz"; an Maaß konnte sie die unmöglich deligieren. Am Donnerstag hatte es die nächste unangenehme Überraschung gegeben: Ein Kunde war wutentbrannt durch ihre Telefonleitung gekommen, um sich über die Nichteinhaltung eines Termins ihrerseits am Vortag zu beschweren. Sie hatte in ihrem Terminkalender nachgesehen, aber keine Eintragung gefunden. Als sie daraufhin den Kollege Maaß befragte, behauptete der allerdings steif und fest, sie am Montag über den bevorstehenden Termin mündlich unterrichtet zu haben. Heute mittag dann die Krönung: Der Chef hatte sie am Morgen gebeten, ihm mittags die fertigen Entwürfe von der Gartenanlage für die neue Seniorenresidenz in Harvestehude zu zeigen. Das gehörte zur Vorbereitung der Präsentation beim Kunden; die war für nächsten Dienstag, 10 Uhr, anberaumt. Holbrooks Projekt! Nachdem sich Constanze mit Holbrook telefonisch kurzgeschlossen hatte, hatte sie sich sofort an sein CAD- System gesetzt und die letzten Änderungen eingegeben. In dem Moment, als sie auf "Projekt speichern" geclickt hatte, war sie richtig begeistert gewesen von dem Ergebnis. Punkt zwölf war dann Herr Rudolf in ihr Büro gekommen. Constanze hatte ihre momentane Arbeit sofort unterbrochen, um an Holbrooks System das Projekt
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"Seniorenresidenz" aufzurufen. Doch erschienen war lediglich die Fehlermeldung: „AutoCAD kann das Projekt nicht öffnen“. Das System konnte die Datei nicht finden! Constanze hatte daraufhin mit den verschiedenen Suchfunktionen des Systems versucht, das vermißte Projekt auf der Festplatte zu finden. Ohne Erfolg - Die Datei war weg! Dummerweise war das Projekt von Holbrook nur lokal geführt worden; damit gab es auch kein BackUp auf dem Server. Constanze hatte einen gehörigen Schreck bekommen. Zum Glück hatte ihr Chef die Nerven behalten und sie lediglich in seiner gewohnt souveränen Art gebeten, das System nochmals gründlich zu durchsuchen. Wieder allein vor dem leeren Bildschirm, war sie den Tränen nahe gewesen. Wenn sie den Auftrag noch retten wollte, blieb ihr wohl nur die Möglichkeit, den zweitklassigen Entwurf von Maaß nun doch als offizielle Projektlösung dem Chef vorzustellen. Also war sie schweren Herzens hinüber zu Maaß gegangen, um von dem Mißgeschick zu berichten. Er hatte seelenruhig bei einer Tasse Kaffee an seinem Schreibtisch gesessen und genüßlich an einem Zigarillo gezogen. Ob er sie bereits erwartet hatte? Jedenfalls hatte er keine zwei Minuten gebraucht, um ihr sein Konzept als Hardcopy in die Hand drücken zu können. "Tja, den Holbrook hätten Sie jeden Tag an die Hand nehmen müssen; nicht jeder kann so selbständig arbeiten wie ich. - Aber Ich mache Ihnen die Präsentation übers Wochenende fix und fertig, dann können Sie am Montag damit zum Chef.“ "Klarer Punkt für ihn“, sagte Constanze halblaut zu sich selber, während sie sich in der Küche ein Glas Multivitaminsaft einschenkte. Sie würde sich warm anziehen müssen, wenn sie ihren Job in dieser Firma behalten wollte.
Juni ‘99 - Brande- Hörnerkirchen Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg/Brande-Hörnerkirchen, Schauplatz Paris
Die Auftragslage für die Rudolf GmbH war weiterhin ausgezeichnet; entsprechend waren Überstunden an der Tagesordnung. Constanzes Team betreute diverse Projekte gleichzeitig, die in verschiedenen Kreisen Schleswig- Holsteins und im Hamburger Stadtgebiet lokalisiert waren. Den Auftrag für die Gartenanlage des vornehmen Seniorenheimes hatten sie, wie von Constanze befürchtet, verloren. Zum Glück war es lediglich eines von mehreren lukrativen Projekten in diesem Zeitraum gewesen, und diese anderen hatten sie erfolgreich abschließen können. Der Kollege Maaß behielt auch weiterhin Constanzes Stellvertreterfunktion, aber sie sah ihm akribisch auf die Finger. Das kostete zwar Zeit und Kraft, aber im Moment schien es ihr die beste Lösung zu sein. Sie durfte sich jetzt keine weitere Blöße geben. Er durfte nicht den Hauch einer Chance sehen, sie beim Chef oder einem Kunden auch nur ansatzweise noch einmal auflaufen zu lassen! Seine bissigen Bemerkungen, die er gelegentlich über Frauen in Führungspositionen fallen ließ, buchte sie unter "saure Trauben“ ab und überhörte sie einfach.
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Juni ‘99 - Hamburg Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
In ihrer Freizeit versuchte Constanze, ihr lädiertes Seelenleben wieder aufzupäppeln, und zwar mit System: Am Wochenende schlief sie regelmäßig aus, frühstückte ausgiebig und ging danach, wenn es das Wetter zuließ, per Inlineskates auf Tour. Bei Regen verbrachte den Tag auf Austellungen oder in Museen. Einmal pro Woche schwitzte sie den ganzen Abend in der Sauna. Immer wenn der Kummer sie dennoch am Feierabend einzuholen drohte, brühte sie sich eine ganze Kanne voll Johanniskrauttee auf, schnappte sich einen der sechs Kriminalromane, die sie vorsorglich gekauft hatte und ging zu Bett. Sollte der Kollege Maaß ruhig noch einmal versuchen, sie zu mobben! Ihrem Elternhaus stattete Constanze in diesem Monat nur einen einzigen Besuch ab - und auch nur, weil Mutter sie darum gebeten hatte. Mutter hatte eine E- mail geschickt. Und Mutter hatte ihr auf diesem Wege mitgeteilt, daß sie inzwischen mit dem Computer umgehen konnte - das Ergebnis eines Kurses an der Volkshochschule, den sie klammheimlich belegt hatte. "Das muß ich dir unbedingt zeigen, Constanze“, hatte sie geschrieben. "Komm doch am Sonntag zu uns zum Kaffee.“ Und Constanze hatte zugesagt.
Sonntag, 27. Juni ‘99 - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Constanze saß mit ihrer Mutter und Schwester im Garten um den Kaffeetisch. "Hübsches Collier, Sonja“, bemerkte Constanze, während sie ihrer Schwester Kaffee nachschenkte. "Die Versicherung hat wohl gezahlt?“ "Ja. Ich hätte das alte zwar lieber wieder gehabt, aber dieses finde ich auch schön.“ "Und neues Tafelsilber habt ihr auch ausgesucht, wie ich sehe.“ "Ja. Hilde und Mutter; sie sind einen ganzen Tag lang durch Hamburg gelaufen, um das Passende zu finden.“ "Ach übrigens: Ist diese schwarze Diskette, die Vater damals vermißt hat, eigentlich wieder aufgetaucht?“ Constanze bemühte sich um einen möglichst unverfänglichen Tonfall. "Nein, die hat sich nicht wieder angefunden“, antwortete ihre Mutter. "Ich habe überall im Arbeitszimmer danach gesucht.“ "Hat dein Mann sie vielleicht eingesteckt, Sonja? - Versehentlich, meine ich natürlich.“ Ihre Schwester reagierte noch empfindlicher, als Constanze vermutet hatte: "Also Constanze, ich weiß nicht, worauf du hinaus willst." Ihr Ton war ungehalten. "Du willst doch wohl Thomas nicht unterstellen, ..." Constanze holte tief Luft. Dann sagte sie ruhig, aber mit einem unvermeidbaren Unterton: "Ich unterstelle ihm gar nichts, Sonja. Aber ich habe ihn immerhin schon einmal in Vaters Arbeitszimmer gesehen: Damals jedenfalls saß er auf Vaters Schreibtisch, benutzte Vaters Telefon und trank Vaters Rotwein.“
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"Vaters Rotwein, Vaters Rotwein!“ Sonja klang genervt. Dann wurde ihr Ton grundsätzlich. "Ich will dir ‘mal ‘was sagen, Constanze. Genau das ist nämlich der Punkt: Du kannst es nicht ertragen, daß ein anderer Mann an die Sachen unseres ach so geliebten Vaters geht! Kein anderer! Wenn’s nach dir ginge, gäbe es nämlich keinen, der dafür gut genug wäre! Und anstatt hier meinen Mann zu verdächtigen, solltest du lieber zum Psychologen gehen - du hast nämlich einen Vaterkomplex!“ Constanzes Kuchengabel fiel klirrend auf den Teller. "Ach Kinder, so etwas bringt doch nichts.“ Almut Petersen schaltete sich ein, um die Streitigkeit ihrer Töchter zu beenden. Constanze hatte inzwischen wieder Worte gefunden. "Doch, doch, Mutter, für mich war das durchaus aufschlußreich.“ Und zu ihrer Schwester gewandt, setzte sie hinzu: "Als Hobby- Analytikerin bist du ziemlich schlecht, Sonja; denn bis heute hast du nicht einmal gemerkt, daß dein Ehemann moralisch auf der untersten Stufe steht. - Du solltest nicht soviel Freud lesen, sondern zur Abwechslung einmal gründlich Kohlberg!“ Ihre Schwester sagte nichts. Sie sah nur scheinbar gelangweilt zum Baumhaus hinauf. Constanze nahm sich noch ein Stück Butterkuchen und wandte sich an ihre Mutter: "Wenn ich das aufgegessen habe, Mutter, dann würde ich mir im Arbeitszimmer gerne ansehen, wie gut du inzwischen mit Vaters Computern umgehen kannst. Du kannst ja schon ‘mal aufschließen und den Laptop hochfahren.“ Constanze war zum Abendbrot geblieben - zum einen, weil ihre Mutter und Hilde es gerne wollten, zum anderen, weil Constanze hoffte, dann mit ihrem Schwager zusammenzutreffen; sie wollte sich persönlich davon überzeugen, wie er sich zur Zeit in ihrem Elternhaus aufführte. Das gemeinsame Abendessen verlief zunächst völlig undramatisch. Thomas Fahrenholt saß mit gewohnt mürrischer Miene am Tisch und wies ab und zu die Kinder in knappen Worten wegen ihrer Tischmanieren zurecht. Mit Constanzes unterhielt er sich nicht. Gegen Ende des Essens, die Kinder saßen noch am Tisch, zitierte er jedoch plötzlich Hilde an die Tafel und hielt ihr unwirsch die Platte mit dem Camembert unter die Nase. "Hier, Hilde: Er läuft! Und warum? Wahrscheinlich deshalb, weil Sie seit Wochen vergessen haben, ihn auf den Tisch zu bringen - so wie Sie in letzter Zeit fast täglich etwas vergessen!" Er sah sie verärgert an. "Wenn sich das nicht ändert, werden wir Sie entlassen müssen. - Sie haben Glück, daß ich nächste Woche wieder auf einer Fortbildung bin, aber danach sehe ich Ihnen genau auf die Finger." "Aber Thomas!" Almut Petersen sah ihren Schwiegersohn erschrocken an. Doch er wischte jedes Gegenargument mit einer einzigen Geste vom Tisch. Und Sonja sprang ihm sogar bei: "Mutter, du mußt doch zugeben, daß Thomas recht hat. Nehmen wir den Einbruch: Wenn Hilde die Terrassentür neulich richtig verriegelt hätte, ...“ Sie seufzte. Dann meinte sie: „Du bist mit Hilde viel zu nachsichtig - genau wie mit den Kindern. Sie sind alle verwöhnt." Constanze wollte das nicht so stehenlassen. "Ich finde, daß allein Mutter und Hilde diese Sache regeln sollten“, sagte sie so ruhig wie möglich, "sie sind schließlich erwachsene Leute und im Vollbesitz ihre geistigen Kräfte.“
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"Eben das möchte ich bezweifeln, verehrte Schwägerin", entgegnete ihr Schwager spitz. "Eure gute Hilde textet eure Mutter den ganzen Tag mit diesem Schwachsinn über Ratten am Kompost zu, aber sie vergißt, Herdplatten abzuschalten und Terrassentüren zu verschließen. - Übrigens: Du hast ja gut reden; denn du wohnst schließlich nur selten unter diesem Dach. Wenn die Bude abbrennt, dann bist du ja nicht betroffen. Wenn noch einmal eingebrochen wird, dann klaut man ja nicht deine Sachen. Ich dagegen denke auch an die Sicherheit eurer Mutter!" Damit stand er auf und verließ das Zimmer. "Bravo, Sonja, dein Mann, der große Retter!", höhnte Constanze. Dann sah sie ihre Mutter an. Die war ganz blaß geworden; unter ihren Augen lagen dunkle Ringe. Constanze fürchtete, daß sie auf Dauer bestimmt nicht die Kraft haben würde, sich ihrem Schwiegersohn entgegenzustellen. Während der Rückfahrt in ihre Wohnung kochte Constanze vor Wut. Wie dieser Parasit sich in ihrem Elternhaus breitmachte! Und sie würde ihn kaum daran hindern können! Oder doch? Sie mußte sich unbedingt etwas einfallen lassen ... Ob sie Vaters Anwalt zu Rate ziehen sollte? Hatte ihre Schwester eigentlich einen Ehevertrag? Und Hilde? Hilde hatte bestimmt seit Jahrzehnten einen Arbeitsvertrag. Die konnte er gar nicht so leicht loswerden ... Hilde mußte unbedingt im Hause bleiben. Die würde er nämlich niemals für sich einnehmen! Hilde war wie ein altes, störrisches Maultier, das nur dorthin lief, wohin es selber wollte.
Sonntag, 27. Juni ‘99, 21.00 Uhr - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Auch Thomas Fahrenholt war wütend. Er mußte unbedingt Dampf ablassen. "Ich geh’ joggen!“, rief er Sonja zu. Dann knallte er die Haustür zu und lief in Richtung Elbe los. Erst an einer Telefonzelle am Yachthafen machte er Halt, um eine Handy- Nummer anzuwählen. Doch er hatte Pech: Sein Gesprächspartner hatte überhaupt kein Verständnis für ihn, als er sich über drei allzu lebhafte Kinder, eine unbequeme Haushälterin und eine widerspenstige Schwägerin beklagte. "Ich hab's dir gleich gesagt: kein Risiko! Jetzt sieh zu, wie du da wieder 'rauskommst!" "Ach - aber von dem Geld nimmst du nachher gern die Hälfte, was?" "Komm, komm ... wir haben klare Abmachungen! - Außerdem habe ich selber reichlich Probleme, und zwar hauptsächlich durch dich: Zuerst habe ich Monate gebraucht, um herauszufinden, ob diese Skizze von der Ballettratte überhaupt echt ist. Dann konnte ich bis heute nirgends einen Liebhaber dafür finden. Und zur Zeit kann ich sowieso kein einziges Stück loswerden." "Wieso das denn nicht?" "Du liest wohl keine Zeitung?! Scharfe Kontrollen auf dem Markt nach dem Diebstahl neulich in Amsterdam. Wir müssen mindestens drei Monate warten." Thomas Fahrenholt fluchte leise. Dann sagte er: "Das ist mir zu spät! Laß' dir 'was einfallen; wir reden Mittwoch abend in Freiburg weiter."
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Montag, 28. Juni ‘99 - Wedel Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Wedel, Schauplatz Paris
Constanze hatte bereits am Vormittag ein ausgiebiges Telefonat mit Dr. Brooks geführt; er war seit Jahren Anwalt ihrer Familie und hatte eine Kanzlei in Wedel. Gleich nach der Arbeit war sie zu ihrem Elternhaus gefahren, um mit Mutter und Hilde zu sprechen. Zu dritt saßen sie in der Küche und tranken Kräutertee. "Dr. Brooks hat mir versichert, daß Sonjas Mann überhaupt keine rechtliche Handhabe hat, um dich, Hilde, hier herauszugraulen. Also laßt euch bloß nicht auseinanderdividieren!“ beschwor Constanze die beiden Frauen. "Bestimmt nicht.“ Die Stimme Ihrer Mutter klang fest. "So, und jetzt versucht euch bitte daran zu erinnern, was Sonja euch in Zusammenhang mit dieser Privatklinik erzählt hat, in der sich Thomas’ Schwester seit Monaten für teures Geld erholt!“ Die beiden konnten wenig berichten, das Constanze nicht schon selber wußte, aber immerhin kannte Mutter Namen und Adresse der Klinik. Bevor Constanze nach Hamburg fuhr, ließ sie sich im Garten die Stelle zeigen, wo ihr Vater vor einigen Monaten die präparierte Weinkiste deponiert hatte. "Habt ihr schon ‘mal nachgesehen?“ "In letzter Zeit nicht“, sagte ihre Mutter. "Aber Ende Mai haben wir nachgesehen“, setzte Hilde hinzu. "Und da waren deutliche Spuren am Köder zu sehen.“ "Das heißt, die Viecher haben vom Köder gefressen. Und was jetzt?“ "Abwarten“, antwortete ihre Mutter. "Dein Vater hat mir gesagt, das Gift wirkt erst nach einiger Zeit; ein Trick, um diese intelligenten Biester zu überlisten.“
Dienstag, 29. Juni ‘99 - Hamburg- Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Eppendorf, Schauplatz Paris
Am Morgen hatte Constanze mit der Klinik im Taunus telefoniert - allerdings ohne jedes Ergebnis. Keinerlei Auskunft per Telefon, hatte es geheißen! Na gut, dann würde Constanze dieser Andrea Fahrenholt eben einen kleinen Besuchabstatten! Ein bißchen Pep konnte dem eintönigen Klinikleben ja nicht schaden!
Samstag, 3. Juli ‘99 - Bad Homburg Nachmittags um drei parkte Constanze ihren Wagen vor dem einladenden Portal der Privatklinik. Nachmittags um halb vier fuhr sie wieder ab in Richtung Hamburg. Nun wußte sie Bescheid. Noch während der Rückfahrt rief sie Frederike an, um sich mit ihr für den nächsten Nachmittag zu verabreden.
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Sonntag, 4. Juli ‘99 - Hamburg- Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Eppendorf, Schauplatz Paris
"Stell dir vor, es gibt und gab dort weder eine Patientin namens Andrea Fahrenholt noch einen freundlichen, kompetenten Seelendoktor, der sich vorigen Herbst mit Thomas Fahrenholt in der Klinik unterhalten haben will!“ "Ist das sicher?“ wollte Frederike wissen. "Ja, der Klinikchef persönlich hat’s mir gesagt. Thomas hat Sonja irgendwie 'reingelegt.“ "Dann hast du jetzt erstmals etwas gegen deinen sauberen Schwager in der Hand.“ "Ja, endlich“, antwortete Constanze langsam. "Und diesen diesen Trumpf werde ich klug ausspielen, damit er sicher sticht.“ "Dich möchte ich aber auch nicht zur Feindin haben“, meinte Frederike. "Die Genugtuung steht dir ja im Gesicht geschrieben!“ "Ich hab’ auch lange genug darauf warten müssen.“ "Willst du es deiner Schwester erzählen?“ "Damit sie ihm eine Szene wegen des Schecks macht, den sie ihm feierlich im Nikolausstiefel kredenzt hat?!" Constanze schüttelte den Kopf. "Die würde sich deswegen doch nicht gleich scheiden lassen! Die würde ihn auch nicht anzeigen ...“ "Aber du oder? Es wäre doch so etwas wie Betrug.“ "Eben, höchstens ein Betrugsdelikt - und dafür bekäme er nicht viel.“ "Aber du kannst ihm doch nicht irgendetwas Schlimmeres anhängen, Constanze!“ "Was heißt hier ‘anhängen’? Vielleicht hat er etwas gestohlen, daß Carlos und Vater gehörte - und vielleicht hat er sogar etwas mit dem plötzlichen Tod der beiden zu tun!“ Constanzes Tonfall ließ keinen Zeifel daran, daß sie Thomas Fahrenholt den Kampf angesagt hatte.
Freitag, 4. Juli ‘99, 17.00 Uhr - Paris, Museé d’ Orsay Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Wieder einmal saßen sie im Café des Hauteurs; diesmal an einem Tisch direkt unter der großen, alten Uhr. "Ich hoffe, Sie haben heute noch Zeit für eine zweite Tasse Kaffee?!“ Claudine ignorierte den erwartungsvollen Blick ihres Gesprächspartners. Betont sachlich antwortete sie: “Ich denke, mein Chef erwartet mich heute nicht mehr im Geschäft. Ich habe also noch etwas Zeit, aber Kaffee möchte ich nicht mehr. Vielen Dank, Monsieur.“ Er nahm sich noch einmal den Notizzettel vor, den sie ihm vorhin gegeben hatte. Während er las, runzelte er die Stirn. "Ist noch etwas unklar, Monsieur?" "Ich frage mich, ob dieser Mann der richtige für uns ist", antwortete er. "Wissen Sie genau, daß er ein Profi ist?“ fragte er. "Er ist der Mann in unserer Branche für derartige Antiquitäten“, versicherte sie. "Aber Sie selber haben noch nie mit ihm zusammengearbeitet?“ Sie schüttelte den Kopf. "Stand bisher nie zur Diskussion; denn ich arbeite beinahe ausschließlich auf dem Gemälde- Sektor.“
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"Womit wir beide immerhin etwas Wesentliches gemeinsam hätten“, stellte er fest. Dann sagte er mit einem gewinnenden Lächeln: "Hätten Sie nicht Lust, heute abend mit mir essen zu gehen? Sie könnten mir Ihre Eindrücke von der Picasso- Ausstellung schildern, die ich im Mai versäumt habe. Ich bin sicher, daß ich noch vieles von Ihnen lernen könnte, Claudine.“ Sie überlegte. Dann lächelte sie. Diesesmal sagte sie nicht "vielleicht“, diesesmal sagte sie "ja“.
Freitag, 9. Juli ‘99 – Hamburg- Blankenese Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Blankenese, Schauplatz Paris
Sonja Fahrenholts Geschäft lief ausgezeichnet. Die Kundinnen gaben sich von neun bis neunzehn Uhr die Klinke in die Hand. Und das bei den Preisen! Aber für ihr Klientel konnte ein Service gar nicht teuer genug sein; schließlich ging es den Damen darum, die irdische Jugend und Schönheit ihres Luxuskörpers möglichst lange zu erhalten. Madame Sonja und ihre versierten Kosmetikerinnen gaben sechs Tage in der Woche ihr Bestes für die verwöhnten Kundinnen und ließen sich dafür fürstlich entlohnen. Was hatte Vater früher manchmal gesagt? "Der Mensch will betrogen werden, und darum sei er betrogen". Das Zitat stammte von einem alten Philosophen, und der hatte bis heute völlig recht. Außerdem schien es international Gültigkeit zu haben; denn Sonjas Publikum kam von überall her. So wie heute, als eine brünette Mittzwanzigerin mit charmantem österreichischen Akzent das Geschäft betrat. "Madame wird gleich zu Ihrer Verfügung stehen; nehmen Sie doch bitte einen Moment dort drüben Platz", flötete die Dame in Rosé hinter dem Empfangstresen. Sonja erschien, um mit der neuen Kundin deren Wünsche zu besprechen; eine Gesichtsbehandlung sowie eine Maniküre sollten es sein. "Unsere Gesichtsbehandlungen beinhalten immer auch eine Massage des Decolletées, gnädige Frau", erklärte ihr Sonja sanft, aber bestimmt, "nicht allein wegen der Optik, sondern weil es wundervoll entspannt". Sie lächelte gewinnend. "Sie werden sehen ...". Dann übergab sie die Kundin der Obhut von Monique in Kabine drei. Die Kundin war zu Besuch in Hamburg; eine Freundin hatte ihr das Schönheitsinstitut empfohlen. Sie war in Plauderlaune und erzählte Monique von ihrer Heimatstadt Wien, und Monique plauderte ein wenig aus dem Nähkästchen ihres Berufsalltags bei Madame Sonja. Während sie dabei war, die wohlgeformten Fingernägel ihrer Kundin mit Lack der Farbe "Soft Indian Red" zu verschönern, schwiegen beide. Monique konzentrierte sich ganz auf ihre Arbeit, und die Wienerin schien es zu genießen, sich verwöhnen zu lassen. Aus Richtung der Teeküche drangen nun gedämpfte Stimmen bis zu ihnen in die Kabine. Als Monique lauschte, erkannte sie, daß es Sonja und ihr Mann waren, die sich miteinander unterhielten oder richtiger, die miteinander stritten. Vielleicht war die
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Tür zur Teeküche nur angelehnt, überlegte sie und verließ unter einem Vorwand kurz die Kabine. Auf dem Flur waren Teile des Streitgespräches deutlich zu verstehen. Offenbar ging es um eine Reise, die Thomas Fahrenholt gerade dann unternehmen wollte, wenn seine Frau auf einer Geschäftsreise war. Die war damit gar nicht einverstanden. Als Monique eben die Tür erreichte, wurde es plötzlich still dahinter. Monique blieb unvermittelt stehen. Im nächsten Moment hörte sie ihre Chefin zischen: "Du sprichst ja nicht einmal französisch ... aber für deine Art von Vergnügungen braucht man das in Paris wohl auch nicht!" Die Tür, die bis dahin im Schloß gewesen war, wurde von innen abrupt aufgerissen, und Sonja stand mit hochrotem, wütendem Gesicht vor ihrer Angestellten. Im hinteren Teil der Teeküche konnte Monique Thomas Fahrenholt erkennen, der, offenbar gelangweilt, in einer Zeitschrift blätterte. "Entschuldigung, in der Kabine haben wir Stimmen gehört ..." "Ist schon gut, Monique. Danke", erwiderte Sonja mit erzwungener Ruhe. "Gehen Sie wieder zu Ihrer Kundin. Das Gespräch hier ist jetzt beendet." "Na, auch Kolleginnen sind einander wohl nicht immer grün, was?" fragte die Österreicherin mitfühlend, als Monique zurück war. "Nicht einmal Chefs, gnädige Frau", antwortete Monique mit einem Seufzer. "Sie sind eben auch nur Menschen, und wenn der eine nach Sylt reisen will, aber der andere nach Paris ..." "Oh, machen Sie dann etwa Betriebsferien? Ich hatte eigentlich vor, ..." "Aber nein, gnädige Frau, das Geschäft bleibt selbstverständlich geöffnet. Die Chefin wird nächste Woche für ein paar Tage nach Kampen fahren, um die Eröffnung ihrer neuen Filiale vorzubereiten. Also, wenn Sie dann später einmal Urlaub auf Sylt machen sollten, können Sie sich auch dort von uns verwöhnen lassen." "Und wann genau ist Madame Sonja nicht im Hause?" "Von Mittwoch bis Samstag, gnädige Frau; aber am Montag, den 18. ist sie wieder für Sie da.“
Freitag, 9. Juli ‘99 - Hamburg- Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Eppendorf, Schauplatz Paris
Sie saßen in Frederikes gemütlicher Küche und tranken Kaffee. Es war Freitag nachmittag, und Constanze war mit einstündiger Verspätung gekommen. Sie sah abgehetzt aus. "Du machst dich kaputt, Constanze", stellte Frederike nüchtern fest. "Du arbeitest zuviel, und du beschäftigst dich zuviel mit dem Gedanken, wie du diesen Kerl klein kriegen könntest!" Constanze sagte nichts. Sie ging zur Spüle hinüber, um ihren Kaffee mit etwas heißem Wasser aus der Leitung zu verdünnen; dann trank sie die Tasse in einem Zuge leer. "Kannst du nicht wenigstens etwas Urlaub nehmen?" Constanze winkte müde ab. Und während sie sich eine zweite Tasse Kaffee
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einschenkte, sagte sie: "Urlaub ist im Moment nicht drin.“ "Sagt das dein Chef, oder sagst du das?“ Ihre Freundin sah sie prüfend an. Als Constanze nicht antwortete, fuhr sie fort: "Ich glaube nämlich, du verdrängst die Trauer um deinen Vater, Constanze. Das ist nicht gut.“ "Kann sein, aber ich habe dafür einfach keine Zeit, Frederike! Wenn ich lange herumtrauere, dann schnappt sich mein Kollege meinen Job, und mein Schwager reißt zu Hause alles an sich!" "Stimmt, dann mußt du wohl auf Raten weinen - immer dann, wenn’s paßt.“ Im nächsten Moment wurde die Küchentür geöffnet, und Georg fragte seine Frau: "Na, was hat sie gesagt?“ "Noch gar nichts, Schatz; ich wollte sie gerade erst fragen.“ "Was wolltest du mich fragen?“ "Ob du mit auf die Exkursion nach Paris gehst; es gibt nämlich noch freie Plätze. Georg fährt auch mit. Mit unserer Professorin hab’ ich schon gesprochen; die wäre froh, wenn sie den Platz los würde. - Überleg es dir, Constanze!“
Mittwoch, 14. Juli ‘99 - Hamburg Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Constanze hatte es sich überlegt. Sie wollte mit nach Paris. Und sie hatte es tatsächlich geschafft, daß sie drei Wochen Urlaub am Stück bekam. Frederike hatte lange im voraus disponieren können: Der kleine Florian war bei den Großeltern untergebracht, und Georg hatte sich für vierzehn Tage aus der Redaktion abgemeldet, um für eine Reportage über Pariser Märkte zu recherchieren. Für den Tag vor der Abreise hatte Frederike Constanze zu einem Stadtbummel in der Hamburger City überredet. Den ganzen Nachmittag verbrachten sie mit ausgiebigem Stöbern in Boutiquen und Parfümerien. "Heute bist du endlich ‘mal wieder richtig gut drauf", stellte Frederike erleichtert fest, während sie sich in einem Bistro mit Eiskaffee erfrischten. Constanze grinste. "Ja; und das, obwohl ich einen Haufen Geld ausgegeben habe. Ich glaub’, ich bin im Konsumrausch.“ Am Abend packte Constanze die beiden neuen Minikleider zu ihren übrigen Kleidungsstücken in den Koffer. Dann streifte sie den schmalen Goldreif vom Ringfinger und verstaute ihn in ihrer Aktenmappe. Morgen früh würde es losgehen; dann würden sie und Georg zusammen mit Frederike und fünfunddreißig weiteren Studenten in einem komfortablen Reisebus in die Metropole an der Seine fahren. Ob sie jemandem Bescheid geben sollte, wohin sie fuhr? Eigentlich war sie niemandem Rechenschaft schuldig. Andererseits konnte der Fall eintreten, daß Mutter sie plötzlich brauchte, weil Thomas 'mal wieder verrückt spielte ... Kurzerhand schickte sie ihrer Mutter eine E- mail, in der sie ihre vorübergehende Pariser Adresse angab. "Ausschließlich für den Fall, daß du mich brauchst", setzte sie hinzu. "Und erzähl bitte den anderen nicht, wo ich bin – Ich brauche Ruhe und Abstand, Mutter."
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Donnerstag, 15. Juli ‘99 - Paris, Unterkunft der Studentengruppe Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Constanze und Alexandra hatten ihr Doppelzimmer bezogen. Alexandra war eine der Studienkolleginnen von Frederike, die Constanze näher kannte; auf Frederikes Geburtstagsfete hatten sich die beiden zuletzt ausgiebig miteinander unterhalten. Sie wohnten wie alle anderen in einem schichten Hotel im zehnten Arrondissement südwestlich des Bahnhofes Gare de l' Est. Das Hotel hatte zwar nur einen einzigen Stern, aber dafür war die Hotelleitung um so persönlicher. Constanze war damit zufrieden; angesichts ihres engen Terminplans würden sie hier ohnehin nur schlafen und frühstücken. Frau Professorin Dr. Schackenburg hatte den Terminplan für die Exkursion ausgearbeitet. "Wir sind hier nicht auf einer Vergnügungsreise, meine Damen und Herren", pflegte sie immer dann zu sagen, wenn die Motivation der Architektur- und Kunstgeschichte- Studenten abzusacken drohte. „Wer von Ihnen gedenkt, sich bei mir prüfen zu lassen?" Dabei hoben sich ihre Augenbrauen, und ihr sorgfältig tomatenrot geschminkter Kußmund wurde spitz. Sie hatte seit vier Jahren an der Uni Hamburg einen Lehrstuhl für Kunstgeschichte. Zweite Begleitperson war Dr. Schimmelmeyer, Leiter des Fachbereiches Architektur an der Fachhochschule. Er war um die fünfzig, klein und schmächtig und der resoluten Schackenburg um Längen unterlegen, was seine Durchsetzungskraft anbelangte. Die Schackenburg hatte etwas Gouvernantenhaftes; sie war mittelgroß und kräftig, hatte eine stattliche Oberweite und trug das dunkel gefärbte Haar zu einem strengen Dutt frisiert. Ihre Vorliebe galt offensichtlich dunkelgrauen Kostümen, die sie durch sündhaft teure Seidenblusen in verwegenen Mustern und gewagten Farbkombinationen aufpeppte. Constanze mußte, wenn sie sie unauffällig musterte, jedesmal an die letzte schöpferische Periode Vincent van Goghs denken, in der er zum Beispiel diese schiefe blaue Kirche gemalt hatte. Was für ein Glück, dachte Constanze, daß sie keinen Abschluß mehr machen mußte! Für sie war dieses eher eine unverbindliche Kulturreise, auf die sie ihre Freundin mitgenommen hatte; trotzdem war sie besten Willens, das geplante Programm mit durchzuziehen. Zeichnen sollten sie zum Beispiel: das Lokalkolorit in den typischen Pariser Stadtteilen, auf den Plätzen, den Märkten oder einige der vielen architektonisch interessanten Bauwerke dieser Stadt. Und sehen sollten sie: Zahlreiche Museen standen auf dem Stundenplan - vom berühmten Louvre mit der Mona Lisa über das Musée d' Orsay bis zum Musée national d' Art moderne im Centre George Pompidou. Constanze war auf vieles gespannt. Sie kannte Paris nur oberflächlich: von einem Wochenend- Trip mit Bertram vor fast zwei Jahren und von dem Zwischen- Stop auf einer Studienfahrt zu den Schlössern der Loire, die noch viel länger zurücklag. Constanze nahm sich vor, ganz bewußt Eindrücke aufzusaugen, zu genießen, was ihr gefiel: einen abendlichen Spaziergang auf den Champs Elysées, einen ausgiebigen Bummel durch das Musée d' Orsay, ein paar Mußestunden in den Tuilerien und in Versailles... Vielleicht blieb auch noch Zeit für ein typisch französisches Abendessen im Quartier Latin mit Frederike, Georg und Alexandra.
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Constanze träumte mit offenen Augen. Neben sich hörte sie Alexandras regelmäßige Atemzüge. Sie selber konnte noch nicht schlafen. Deutschland schien ganz weit weg gerückt;ein sonderbares, aber angenehmes Gefühl. Es nahm ihr etwas von dem Druck, das häusliche Problem lösen zu müssen. Ihr Vater kam ihr in den Sinn; auch er schien weit fort zu sein. Als sie versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen, sah sie ihn vor sich, wie er im Labor mit konzentrierter Miene Notizen machte. Ihr war, als stünde sie dicht neben ihm und könnte an jedem seiner Arbeitsschritte teilhaben. Constanze holte tief Luft: Sie fühlte, daß sie es ihm und sich selber schuldig war, die ganze sonderbare Sache aufzuklären; die notwendige Energie würde sich auf dieser Reise holen!
Freitag, 16. Juli ‘99 - Paris, Musée d' Orsay Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Musée d' Orsay - eigentlich ein Bahnhof, gebaut im Stil des Fin de siècle. Doch seit über einem Jahrzehnt beherbergte dieser Prachtbau als Museum Werke der berühmtesten Impressionisten der Welt. Die Hamburger Studenten hatten sich auf zwei Gruppen verteilt; die eine besuchten heute einen Teil des Louvre, die andere das Musée d' Orsay an der Rue de Bellechasse am gegenüberliegenden Seine- Ufer. Frederike und Constanze hatten das kleine Museum gewählt; erstens, weil es für den Anfang ihrer Museums- Tour einfach überschaubarer war als der riesige Louvre und zweitens, weil es unter anderem Werke der Maler zeigte, die Constanze und Frederike beide liebten: Monet, Renoir, Cézanne, Degas, Gauguin. Gleich im Erdgeschoß blieben sie vor einem großformatigen Monet aus der Zeit vor 1870 hängen: junge Frauen in weißen Kleidern in einem Rosengarten. Nebeneineinder standen die Freundinnen vor dem Bild und betrachteten verzückt das raffinierte Spiel von Licht und Schatten. "Es ist einfach wundervoll", sagte Constanze beeindruckt. "Ja, von einem absoluten Könner. Guck' dir 'mal den Faltenwurf ihres Kleides an!" Sie arbeiteten sich durch die verschiedenen Abteilungen vom Erdgeschoß über das Zwischengeschoß bis hinauf in das obere Stockwerk. Hier hingen auch die meisten Monets, Constanzes Favoriten. "Hier sind sie, die blauen Schwertlilien! Guck dir 'mal genau an, wie er die Pinselstriche gesetzt hat ..." Constanze stand in ungefähr einem Meter Abstand direkt vor dem Gemälde. Fast berührte sie die dicke, rote Kordel, die den Besucher auf Distanz halten sollte. Sie beugte sich vor, um das Bild aus nächster Nähe betrachten zu können. Dann wieder trat sie ein, zwei Schritte zurück, wobei sie den einmal fixierten Punkt fest im Blick behielt. Die Augen schmal, die Stirn leicht gekraust, wirkte sie äußerst konzentriert, wie sie so mehrmals vor- und zurückging. Zu ihrem Glück befanden sich gerade nur wenige Besucher in dieser Abteilung, so daß ihr niemand diesen Platz streitig machte. "Fantastisch! Wie er das gemacht hat ... !" Sie war einfach fasziniert. "Guck 'mal, Frederike“, flüsterte sie, „von nahem siehst du dicke, resolut gesetzte Pinselstriche in
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verschiedenen Farbtönen, und wenn du weggehst ...", sie trat wieder einen Meter zurück, "... dann siehst du auf einmal deutlich die Form der einzelnen Blüten ..." Frederike folgte ihrer Aufforderung. "Siehst du das?" "Ja, tatsächlich. Wahnsinn!“ murmelte Frederike; dabei behielt das Gemälde fest im Blick. "Unten gibt es Karten und Kataloge", sagte Constanze; "wenn die Monets drin sind, werde ich mir nachher einen Katalog kaufen - ich liebe diese Bilder!" Damit riß sie sich von den Lilien los und vertiefte sich in ihren Museums- Wegweiser. Ihre Freundin beugte sich zum x- ten Male über die dicke, rote Kordel der Absperrung. Sie hatte im Moment nur Augen für die hier angewandte Maltechnik . "Wohin jetzt? - Ah, da vorn sind die Bilder von Cézanne ..., und danach müssen wir uns entscheiden zwischen van Gogh und Gauguin." Constanze redete in erster Linie mit sich selber. "Laß mich 'mal sehen, wo wir überhaupt sind ..." Jetzt schaute Frederike doch mit auf den Plan. "Ja. Richtig", bestätigte sie. "Laß uns doch geradeaus weitergehen, bis wir diesen van Gogh mit der blauen Kirche gefunden haben; den möchte ich mir genauer ansehen. Und danach in Ruhe die Bilder von Gauguin ..." Als sie vor dem van Gogh standen, meinte Frederike mit einem prüfenden Seitenblick auf ihre Freundin: "Davon könnten wir Bertram ja eine Karte schicken; paßt doch für einen Architekten oder?" "Du kannst ihm die Karte gerne schicken", erwiderte Constanze., "aber ich schreibe ihm nicht. Und laß die Kuppelversuche!“ Frederike seufzte. "Also, ich frage mich ernsthaft, was du gegen Bertram hast, Constanze", sagte sie dann. "Er sieht gut aus, ist gebildet, vielseitig interessiert, sehr sportlich und dazu ausgesprochen wohlhabend ...“ "Stimmt alles, Frederike. Ich habe auch gar nichts gegen Bertram; ich mag ihn sogar sehr. Aber es stört mich ganz gewaltig, daß er sich immer wieder vor seiner beruflichen Verantwortung drückt. Denk nur an die Zeit, als der alte Wilde mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus lag: Wer hat da die Firma geleitet? Die Windchen, nicht Bertram. Und wo war Bertram? Surfen auf Hawaii!“ Frederike seufzte noch einmal. Dann sagte sie: "Also auf zu den beruflich erfolgreichen Männern! Wie wär’s zum Beispiel mit Paul Gauguin? Dem haben ausgerechnet Inseln den Erfolg gebracht.“ "Ja, aber auch nur, weil er da die richtigen Frauen fand!“ wandte Constanze ein. Dann gingen sie lachend in die Abteilung, wo die Südseeschönheiten Gauguins zu bewundern waren. Danach wollte Frederike unbedingt noch einmal zu den jüngeren Werken von Renoir zurück. Constanze tat ihr den Gefallen. Gedankenversunken betrachteten sie das Szenario in einem Straßencafé: Tische unter lichtdurchfluteten Bäumen, anmutige junge Frauen mit Pfirsichteint, die offenbar ihren Sonntagsstaat angelegt hatten. Ihr filigraner Schmuck an Ohr und Hals funkelte. "Sieht aus wie Gold." Diesesmal war es Frederike, die ihre Nase dicht vor das Bild hielt, um dem Geheimnis der Maltechnik auf die Spur zu kommen. "Wollen wir uns jetzt ins Café setzen und etwas trinken?“ fragte Constanze nach einer Weile.
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"Gute Idee. Suchst du auf deinem Plan den kürzesten Weg heraus? Ich sehe mich noch einen Moment hier um.“ Während Constanze noch in ihren Museums- Wegweiser vertieft war, kam Frederike schon zurück, stellte sich ganz dicht neben sie und raunte ihr ins Ohr: "Du, ich hab’ da drüben eben eine Statuette entdeckt - die muß ich unbedingt fotografieren. Komm ‘mal kurz mit!“ "Fotografieren? Lies ‘mal, was da steht!“ Constanze deutete auf ein Hinweisschild am Durchgang zum angrenzenden Ausstellungsraum. "Ja, ich weiß: Die wollen ihren Katalog verkaufen. Aber ich kann selber eine tolle Aufnahme davon machen, und Georg vergrößert sie dann für uns beide.“ "Und was soll ich dabei?“ fragte Constanze unwillig. "Aufpassen natürlich. Nun komm schon!“ drängelte Frederike im Flüsterton. Constanze gab nach; sie folgte ihrer Freundin bis in den Raum, in dessen Mitte die Statuette ausgestellt war. Der Raum war klein und etwas abgedunkelt, in den Vitrinen ringsherum lagen Zeichnungen von Edgar Degas. Außer Constanze und Frederike hielt sich hier im Moment niemand auf. "Die Tänzerin hier. Paß ‘mal ein bißchen auf!“ Constanze wartete mit gemischten Gefühlen. Es verging keine Minute, da mußte sie Frederike warnen; denn es näherte sich ein anderer Museumsgast dem Raum. Der Mann, der direkt auf die Statuette zuging, war groß, dunkelhaarig und sah, wie Constanze augenblicklich feststellte, geradezu unverschämt gut aus. Er trug Jeans, T- Shirt und Lederjacke und hielt einen Skizzenblock in der Hand. Über seiner linken Schulter hing eine Kamera. "Degas 1881“, sagte er auf deutsch. "Steht ja dran“, antwortete Frederike mit einem Grinsen, während sie seelenruhig ihre Umhängetasche schloß. "Falls Ihre Aufnahme nichts wird“, sagte er mit einem Blick auf ihre Tasche, "mache ich gerne einen Abzug für Sie.“ Er grinste. "Ich habe nämlich eine schriftliche Genehmigung des Museums ...“ "Also ich verstehe gar nichts“, schaltete sich Constanze ein. "Wer sind Sie überhaupt?“ Er stellte sich als Jason T. Philipps, Werbefachmann aus New York, vor. Zur Zeit verbringe er seinen Urlaub in Paris und arbeite nebenbei an einem Artikel für das Time Magazine, Titel: "Menschen im Museum". "Ich fotografiere und zeichne hier“, sagte er, "und Sie beide sind mir schon vor einer Weile aufgefallen.“ Constanze und Frederike wechselten einen vielsagenden Blick. Er lächelte beinahe entschuldigend, als er sagte: "Es hat mir gefallen, wie intensiv Sie die Bilder betrachten. Einmal sah es besonders schön aus: Sie beide nebeneinander im Profil vor diesem Gemälde von Renoir ... Also, ich würde Sie beide gerne einmal zeichnen oder fotografieren - hier im Museum natürlich und gegen Honorar.“ Frederike zog die Brauen hoch; ihre roten Locken bebten fast unmerklich. "Wenn Sie mir nicht trauen, dann fragen Sie bei der Redaktion nach - auf meine Kosten natürlich", sagte er. "Und dann rufen Sie mich an - ich wohne noch für gut eine Woche im Bristol.“ Er notierte etwas auf einer Visitenkarte und reichte sie dann Frederike. "Ich hoffe sehr, Sie werden 'ja' sagen."
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Constanze fühlte, daß sein Lächeln diesmal an sie gerichtet war. Sie sah ihm ins Gesicht. Ihre Blicke trafen sich. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, daß dieser Mann mitten in sie hineinsah; dann hingen ihre Augen an seinem Mund - einem Mund, den sie am liebsten an Ort und Stelle und sofort geküßt hätte! Constanze schluckte trocken. Dann hörte sie ihn fragen: "Haben Sie Lust auf eine Tasse Tee im Dachcafé?" "Tut mir leid, Mr. Philipps, wir haben heute noch Termine“, antwortete Constanze mit einem energischen Kopfschütteln. "Und dieses Prachtexemplar von einem Mann läßt du so einfach laufen?“ Frederike zeigte sich einigermaßen entrüstet über Constanzes Verhalten, als die beiden wieder unter sich waren. Sie steckte die Visitenkarte ein. "Georg kann nachher gleich bei dieser Redaktion auf den Busch klopfen. Und wenn dieser Philipps okay ist, ...“
Freitag, 16. Juli ‘99 - Paris, Musée d' Orsay Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Zur selben Zeit saß Claudine im Café des Hauteurs bei einer Tasse Café au lait und las in einem Journal. Erst als sich der Mann mit einem kurzen "Hallo“ zu ihr an den Tisch setzte, sah sie auf. "Schön, daß du kommen konntest“, sagte sie. "Ich möchte heute unbedingt die Details mit dir abstimmen - obwohl der genaue Termin ja immer noch nicht endgültig feststeht. So etwas macht mich jedesmal wieder nervös.“ "Die Kundin zögert eben noch; aber eine Terminverschiebung ist bei dem heiklen Geschäft doch gar nichts. Glaub’ mir, die will! Spätestens am nächsten Wochenende steigt die Sache.“ Claudine erklärte ihm im Flüsterton, wie sie sich den Ablauf ihres Teils der Unternehmung vorstellte. "Einverstanden. Und morgen mittag werden wir wissen, ob du an diesem Sonntag schon dran bist. Wenn nicht, könnten wir etwas zusammen unternehmen.“ Sie nickte. Dann sagte sie: "Ach übrigens, sag dem Alten lieber nichts davon, daß wir ...“ "Natürlich nicht, Chérie“, lächelte er und gab ihr einen Kuß auf die Wange.
Freitag, 16. Juli ’99, Paris, Unterkunft der Studentengruppe Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Als die Freundinnen an der Hotel- Rezeption ihre Zimmerschlüssel holen wollten, händigte der Empfangschef Constanze außerdem ein Fax aus. "Voilá, Madame! Bonne journée!" "Na bravo!" sagte Constanze und verzog das Gesicht. "Bertram weiß, daß ich hier bin - fragt sich nur, woher.“
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"Das kann ich dir sagen, meine Liebe: von mir", gab Frederike zu. Sie zuckte bedauernd die Schultern: "Schließlich mußte ich doch in der Firma meine Adresse angeben." "Und du hast ihm gleich dazu serviert, daß ich mitfahre?" "So nun auch wieder nicht. Aber Bertram löchert mich doch dauernd mit Fragen nach dir. Ich glaube, er hat wirklich ernste Absichten.“ "Aber ich nicht!“ rief Constanze entschieden. "Er scheint auch seinen Lebenswandel ein bißchen geändert zu haben. Seit die Windchen zur Kur ist, vertritt er sie im Lübecker Büro, und seine Reisen beschränken sich auf Kurz- Trips in die nähere Umgebung.“ "Das interessiert mich wenig“, lautete Constanzes Kommentar. Frederike seufzte. Dann fragte sie vorsichtig: "Was schreibt er denn?" Constanze hielt ihr das Fax unter die Nase. "Hier! Er will herkommen! Aber das sage ich dir: Wenn Bertram hier aufkreuzt, bin ich nicht da. Ich lasse mich nicht von ihm einwickeln." Am Nachmittag ließ Georg seine beruflichen Verbindungen spielen. Heraus kam, daß ein gewisser Jason T. Philipps, Werbefachmann in New York, tatsächlich existierte und mit dem Mann aus dem Musée d' Orsay identisch zu sein schien. Nach Auskunft des Time Magazine war er ab und zu als freier Mitarbeiter für die Zeitschrift tätig. "Scheint seriös zu sein", urteilte Georg. "Aber trotzdem würde ich ihn gerne kennenlernen, bevor er meine Frau fotografiert." "Er will uns beide fotografieren, Georg,“ korrigierte Frederike. "Und deine Eifersucht kannst du dir sparen; er interessiert sich nämlich eher für Constanze.“ Damit nahm sie sich einen Hotelführer vor, um das Bristol herauszusuchen. Georg sah Constanze fragend an, doch die sagte nichts. "Es gehört zu den besten Häusern am Platze", verkündete Frederike kurz darauf; "... liegt in der Nähe der Champs Elysées und hat fünf Sterne." "Da kostet eine Suite pro Nacht wahrscheinlich genauso viel wie ein Einfamilienhaus pro Monat", spekulierte Constanze. "Vielleicht macht er so gute Fotos, daß er es sich davon leisten kann." Frederike sah unternehmungslustig von einem zum anderen: "Wir könnten ja morgen mittag alle zusammen essen gehen, und du, Georg, fragst ihn dabei ein bißchen aus. - Ich rufe ihn jetzt an.“ "Er wird denken, daß ihr es nötig habt“, murrte Georg. "Ist mir egal, was er denkt. Vielleicht werde ich später keine Zeit mehr zum Anrufen haben; die Schackenburg hat uns doch schon total verplant!“
Samstag, 17. Juli ‘99, 8.30 Uhr - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Vom Wetter her versprach es ein strahlend schöner Sommertag zu werden. Für die Studenten stand vormittags der Invalidendom auf dem Programm: barocker Sakralbau; es sollte gezeichnet werden.
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Für den Nachmittag hatte Frau Professorin umdisponiert: statt Museumsbesuch nun Zeichnen oder Fotografieren am Eiffelturm; danach Treffen um 19.30 Uhr im Hotel. Nach dem Frühstück bewaffnete man sich mit Skizzenblock und Stiften und pilgerte in Grüppchen zur nächstgelegenen Métro- Station. Während Georg sich allein auf den Weg machte, um seinen ersten Markt abzuklappern, nahmen Frederike, Constanze und Alexandra am Gare du Nord einen Bus in Richtung Champ de Mars. Das würde zwar länger dauern als mit der Métro, verschaffte ihnen aber eine halbe Stadtrundfahrt extra. Tags zuvor hatten sie sich spezielle Touristen Tickets gekauft, mit denen sie die nächsten fünf Tage das gesamte öffentliche Verkehrsnetz der Stadt nutzen konnten.
Samstag, 17. Juli ‘99, 11.30 Uhr - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
"Schluß mit dem Invalidendom! Ich habe Hunger." Frederike schlug ihren Skizzenblock zu und holte einen Apfel aus ihrem Rucksack. „Und dann sollten wir allmählich losgehen. - Alexandra, willst du nicht doch mit uns essen gehen?“ Alexandra winkte ab. "Danke, ich habe noch ein Croissant in der Tasche - das reicht bis heute abend. Aber geht nur, und seht zu, daß ihr nachher pünktlich am Eiffelturm seid. Ich will da mit euch zusammen ‘rauf!“ Sie trennten sich. Constanze und Frederike machten sich zu Fuß auf in Richtung der Avenue de Breteuil, wo sie in einer Brasserie zum Mittagessen verabredet waren. "Kann es sein, daß Alex eine Hungerkur macht?“ wollte Constanze wissen. "Ich sehe sie so selten essen.“ "Möglich; ich habe noch nicht darauf geachtet, allerdings sieht sie dünner aus als am Anfang des Semesters. Sie treibt ziemlich viel Sport, glaube ich. Übrigens will sie heute nachmittag zu Fuß auf den Eiffelturm - bis auf die Spitze!" Es war erst zehn vor zwölf, als die Freundinnen vor der Brasserie ankamen; von Georg und Jason Philipps weit und breit keine Spur. Sie beschlossen, im Lokal zu warten. Drinnen war es angenehm kühl. Die Tische waren für das Mittagessen eingedeckt, überall rote Tischdecken und rote Servietten in Kontrast zu honiggelben Korbmöbeln. Ein Tisch für vier am Fenster war reserviert. Sie bestellten Mineralwasser. Von ihrem Platz aus konnten sie Straße und Trottoir bequem überblicken. "Ah, pünktlich ist er also auch." Frederike grinste, als sie Jason Philipps auf das Lokal zukommen sah.
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Samstag, 17. Juli ‘99 - Paris, eine Galerie am Boulevard St- Germain Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Zur selben Zeit verabschiedete Monsieur Luc in seiner Galerie soeben den wichtigsten Kunden dieses Tages. "Fragen Sie bitte nächsten Mittwoch um die gleiche Zeit wieder nach, Monsieur. Bis dahin habe ich Gewißheit. Sie können sich darauf verlassen."
Samstag, 17. Juli ‘99, 12.00 Uhr - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Georg erschien, kurz nachdem Jason Philipps in der Brasserie eingetroffen war. Es wurde ein ungezwungenes Mittagessen, in dessen Verlauf sie sich vor allem über Berufliches unterhielten. Jason Philipps sprach ein ausgezeichnetes Deutsch und gab sich, wie Constanze fand, gleich zu Anfang erstaunlich offen. Seine Firma entwickele weltweit Werbestrategien für Kunden, die sich im Sport oder in der Musik profiliert hätten und nun unter ihrem Namen ein branchenfremdes Produkt auf den Consumer- Markt bringen wollten. Er selber betreue in erster Linie die französich- und deutschsprachigen Kunden. "Das heißt, Sie würden zum Beispiel eine erfolgreiche französische Sängerin beraten, wenn sie eine exklusive Kosmetikserie herausbringen möchte?“ wollte Frederike wissen. "Und auch eine erfolgreiche deutsche Tennisspielerin", lächelte er. "Interessant! Bestimmt ein toller Job!“ "Also ich könnte mir vorstellen, daß viele dieser Promis ziemlich zickig sind“, meinte Georg. "Ja, einige schon - und zwar vorwiegend die männlichen“, antwortete Jason Philipps mit einem Lachen. "Na, die weiblichen fressen Ihnen doch wahrscheinlich aus der Hand - oder?“ Constanze sah ihn provozierend an. "Würde ich nicht unbedingt sagen“, gab er zurück. "Die weiblichen wissen meistens ziemlich genau, was sie wollen.“ Und wieder hatte Constanze das Gefühl, als schaue er mitten in sie hinein. Sie fühlte sich unter Druck. Fast automatisch kam daher ihre nächste Frage: "Haben Sie hier in Paris zur Zeit auch eine Kundin, die Sie betreuen, oder machen Sie wirklich nur Urlaub hier? - Ich meine wegen der Fotografiererei.“ Er lächelte. Und er sah sie wieder so an, und zwar ein wenig zu lange, wie Constanze fand. Endlich kam seine Antwort: "Sie haben eine erstaunliche Intuition“, sagte er langsam. "Ich bin tatsächlich mit einem Auftrag hier; im Moment sammle ich erste Eindrücke.“ "Also weniger Eindrücke für einen Artikel im Time Magazin als vielmehr für den Gegenstand einer neuen Werbekampagne“, hielt Constanze fest. "Also, falls meine Freundin und ich uns später auf einem ihrer Werbeplakate wiederfinden, ... “ "... wird Sie das bestimmt eine Stange Geld kosten, Jason!“ beendete Georg ihren Satz. Jason Philipps beeilte sich, ihnen zu versichern, daß er nichts Derartiges im Schilde führte. Er habe ein Faible für die Malerei, liebe es geradezu, sich in Museen
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aufzuhalten und liefere deshalb gelegentlich Foto- Reportagen über die Thematik beim "Time Magazin" ab. Hier in Paris sehe er sich hauptsächlich Impressionisten an - daher auch das Musée d' Orsay. Ob er schon in dem Museum in den Tuilerien gewesen sei, wollte Constanze wissen; die Schackenburg hatte es ins Programm aufgenommen, weil es wohl eine sehenswerte Sammlung mit Bildern von Cézanne und Renoir enthielt. Jason Philipps kannte die Sammlung, und er empfahl ihr, sie zu besuchen. "Das ist die Walter- Guillaume- Collection", sagte er. "Sie umfaßt auch Werke von Picasso. Höhepunkt des Museums sind die berühmten Nymphéas von Monet; er hat sie eigens für die beiden ovalen Räume im Souterrain gemalt. Das wird Ihnen bestimmt gefallen, Constanze." Er sprach ihren Namen amerikanisch aus: mit der Betonung auf der ersten Silbe und einem kurzen "e" in der zweiten. Es klang weicher als im Deutschen. Und er sah sie wieder so an wie vorhin, und diesesmal entschieden zu lange. Constanze schluckte trocken. Sie mußte sich konzentrieren, um ihm halbwegs vernünftig zu antworten. "Ich sehe sie mir bestimmt an", versprach sie schließlich. "Allerdings weiß ich noch nicht, wann." "Welchen Tag hat die Schackenburg denn dafür vorgesehen, Frederike?“ Georgs Frage kam Constanze ausgesprochen gelegen; so hatte sie Gelegenheit, ihre Gedanken wenigstens einigermaßen zu ordnen. "Weiß ich nicht auswendig", kam Frederikes Antwort. "Ich müßte im Hotel auf den Plan gucken. Außerdem stellt sie manchmal Programmpunkte um - so wie heute nachmittag: La Tour Eiffel!" Frederike machte eine theatralische Handbewegung. "Ach, übrigens: Wir müssen spätestens um zwei dort sein, sonst wird Frau Professorin zur Hyäne!" "Dann sollten wir aufessen und bezahlen." Georg winkte dem Ober. "Haben Sie Lust mitzukommen, Jason?" "Wenn die Damen einverstanden sind, sehr gern." Die Damen sahen einander an. "Wenn ihr uns einen Ausflug auf die Turmspitze spendiert ...", grinste Frederike. "Betrachten Sie sich als eingeladen", antwortete Jason Philipps, "ebenso wie zum Mittagessen." Sie legten den Weg zu Fuß zurück. Als sie das Gelände der Ecole Militaire passiert hatten, lag das Mars- Feld vor ihnen: eine weiträumige, langgestreckte Parkanlage mit symmetrisch angeordneten Rasenflächen und Sommerblumenrabatten, mit breiten Spazierwegen und schattigen Plätzen unter Bäumen, die zum Verweilen einluden. Die zentrale Längsachse des Champ- deMars lief schnurgerade auf den Eiffelturm zu, der sich in einiger Entfernung majestätisch vor den Augen seiner Besucher erhob. "Wunderschöner Anblick!“ rief Frederike und rückte ihre Baseballkappe zurecht. "Aber heiß ist das hier - kaum auszuhalten!“ Constanze versuchte, sich durch Fächeln mit dem Skizzenblock Erfrischung zu verschaffen. Zu dumm, daß sie keine Kopfbedeckung dabei hatte. Die Sonne knallte nur so vom strahlend blauen Himmel herab. Shorts und Top klebten am Körper. "Ich sage dir, wenn es am Turm auch so heiß ist", meinte sie zu Frederike, "dann spring’ ich in den nächsten Brunnen - wenn's sein muß, als badende Venus!" Georg und Jason schien die Hitze nichts auszumachen. Sie unterhielten sich lebhaft miteinander. Sie hatten in der Vermarktung von Labels ein gemeinsames
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Thema gefunden, über das sich offenbar stundenlang fachsimpeln ließ - ohne Rücksicht auf Raum und Zeit und Wetterlage. Endlich erreichten sie ihr Ziel. Und zum Glück gab es unter dem Turm reichlich Schatten. Frederike suchte sofort den zentralen Punkt unter dem Stahlkoloß, stellte sich mit leicht gegrätschten Beinen dorthin und sah nach oben. "Einfach wahnsinnig! Das müßt ihr auch 'mal machen", rief sie den anderen zu. Die anderen kamen angeschlendert. "Ich versuche jetzt, Alex zu finden", erklärte Constanze, "vielleicht ist sie ja schon hier. Um zwei treffen wir uns alle am Bein 'A'.“ "Und ich hole uns etwas zu trinken", schlug Jason vor, "Wasser.“ „Gut. Frederike und ich bleiben hier stehen." Georg schaute inzwischen auch fasziniert nach oben in das scheinbare Chaos unzähliger Stahlverstrebungen. Es war nicht leicht, in dem Menschengewimmel unter dem Turm eine bestimmte Person zu finden. Touristen aus aller Herren Länder strömten scharenweise vom Seine- Ufer her zum Wahrzeichen der Stadt. Überall wurde fotografiert. Lange Warteschlangen von Leuten vor den Eingängen zum Fahrstuhl und zur Treppe. Und auf unzähligen, im Rechteck angeordneten Betonpollern saßen erschöpft, aber glücklich wirkende Urlauber - die Kamera um den Hals, den Rucksack vor sich auf dem Boden. Sie tranken Mineralwasser aus kleinen Plastikflaschen, studierten ihre Reiseführer und tankten neue Kraft für die Eroberung der Sehenswürdigkeiten dieser Stadt. "Jean Cocteau nannte dieses Bauwerk 'Stahlvenus', für Guillaume Appollinaire war sie gar die 'Schäferin der Wolken' ..." Frau Professorin Dr. Schackenburg hielt soeben einen kurzen Einführungsvortrag am Fuße des Beines 'A'. Mit Genugtuung stellte sie fest, daß ihre kunst- und architekturinteressierten Schäfchen sie wissensdurstig umringten. Dieser Zuspruch stimmte sie gnädig: Ein, zwei Skizzen von dem eisernen Ungetüm sollten für heute genügen. Wer von der Gruppe dann unbedingt hinauf in luftige Höhen steigen wollte, der hatte ihren Segen! Frederike und Alexandra zeichneten im Eiltempo. Sie hatten sich vorgenommen, sich die Stadt aus 274 Metern Höhe anzusehen. "Keine zehn Pferde bringen mich auf dieses Monster!" Georg war entschlossen, auf dem einmal ergatterten Betonpoller sitzen zu bleiben, egal, wie hoch seine Gattin auch hinaus wollte. Auch Alexandras neuen Freund Nils zog es nicht nach oben. Er wollte lieber hier unten fotografieren. Constanze reizte der Turm durchaus, aber sie war sich nicht sicher, welche Höhe sie verkraftete. "Wir können ja die Treppe nehmen, dann kann jeder so hoch steigen, wie er mag. Die Eintrittskarte reicht sowieso nur bis zur zweiten Plattform. Wer auf die Spitze will, muß oben nachlösen", erklärte Jason, der sich schon an der Kasse erkundigt hatte." "Oder wir fahren alle mit dem Aufzug bis zur ersten Plattform ...", schlug Alexandra vor. "Sieh 'mal da rüber!" Frederike wies auf die Menschenschlange vor der Kasse zum Fahrstuhl, "Willst du dir als 300. das Ticket holen? Dann bist du ungefähr um Mitternacht oben."
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Alexandra sah ein, daß das Treppesteigen die bessere Lösung war. Jason erklärte sich bereit, mit nach oben zu kommen. "Bringen Sie alle Mädchen wieder heil nach unten!" gab ihm Georg mit auf den Weg. Jason grinste. "Danke, daß Sie sie mir anvertrauen." Sie stiegen im Gänsemarsch die Treppe in einem Bein des Turmes hinauf, allen voran Alexandra. Es war wie in einem Drahtkäfig: Die Treppe war beinahe mannshoch von Maschendraht umgeben; hinausfallen konnte man also nicht. Auch die breiten Stufen bestanden aus Metallgeflecht. Es war so dicht, daß Constanze, wenn sie darauf sah, nicht hindurch bis zum Erdboden gucken konnte. In regelmäßigen Abständen gab es breite Podeste zum Ausruhen. Hier legte fast jeder Aufsteigende eine kleine Pause ein. Hier konnte er auch gleich etwas für seine Bildung tun: Bebilderte Tafeln auf der Maschendrahtwand informierten über Wissenswertes zur Geschichte des Eiffelturmes. ‘Nur zur Ablenkung’, dachte Constanze lakonisch, ‘damit man keine Panik kriegt!’ Sie behielt während des Aufstieges beharrlich ihre Turnschuhe im Auge, und auch auf den Podesten wagte sie nur einen flüchtigen Blick nach unten. Dafür widmete sie sich mit scheinbarem Interesse um so ausgiebiger jeder Info-Tafel. Alex und Frederike arbeiteten sich unverdrossen aufwärts. Sie hatten schon beinahe die erste Plattform erreicht, als Constanze und Jason noch mindestens achtzig Stufen vor sich hatten. Er ging noch immer hinter ihr. Auf dem folgenden Podest machten sie wieder Pause. "Sehen Sie 'mal: Das Champ- de- Mars!" Jason stand am Maschendraht und winkte Constanze. Sie löste sich von ihrer Info- Tafel und ging zu ihm hinüber, um zum Park hinunterzuschauen. "Ganz schön hoch schon ..." murmelte sie nur. Endlich waren auch sie auf der ersten Plattform angelangt. Constanze atmete tief durch. Die erste Plattform erinnerte Constanze irgendwie an einen Bahnhof: der viele Stahl, der asphaltierte Boden, die Ladenzeile mit kleinen Andenkengeschäften und einem Postamt. Sogar eine Art Straßen- Café gab es. Allerdings hatte die quadratische Fläche, auf der sich dies alles befand, in der Mitte ein großes, quadratisches Loch. Alex und Frederike standen an der hohen Brüstung und schauten hinunter auf den belebten Platz. "Kommt 'mal her! Wir haben Georg und Nils entdeckt - ganz klein. Man kann sie gerade noch erkennen." Constanze und Jason sahen auch hinunter. Die Menschen dort unten sahen aus wie Daniels Playmobil- Figuren, fand Constanze. Frederike versuchte, durch ein Maschendrahtviereck hindurch Georg und Nils zu fotografieren. "Ich glaube, das wird nichts", wandte Jason ein. "Die sind zu weit entfernt." Frederike probierte noch ein bißchen weiter, kam aber zu keiner zufriedenstellenden Position für eine Aufnahme. "Stimmt. Ich werde lieber euch drei an der Außenbrüstung fotografieren. Kommt mit, wir machen eine Rundgang." Sie spazierten einmal um die Plattform herum, bewunderten das Panorama und machten ihre Fotos. Auch Constanze konnte es genießen. Hier auf der geräumigen Plattform fühlte sie sich sicher.
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Dann wollten Alex und Frederike weiter nach oben. Jason sah Constanze fragend an. Sie nickte. Sie gingen die nächsten paar hundert Stufen mit neuem Schwung an. Jason bildete wieder das Schlußlicht. Als sie schon beinahe oben waren, blieb Constanze für einen Moment auf der Treppe stehen und riskierte einen längeren Blick nach unten: Ganz schön hoch schon! Als sie sich wieder umdrehte, drängte sich eine junge Frau dicht an ihr vorbei nach oben: langes, schwarzes Haar, schokoladenbraune Haut und ein orangefarbenes Minikleid. Constanze erstarrte. Das orangefarbene Kleid! Ihr wurde flau im Magen, sie schnappte nach Luft. In ihrem Kopf begann es zu hämmern, in ihren Ohren war ein Rauschen. Das symmetrische Muster des Maschendrahtes schien sich zu verzerren und von ihr weg zu bewegen. Sie versuchte, das Geländer zu fassen, erreichte es aber nicht. Alle Bewegungen schienen in Zeitlupe abzulaufen. Sie begann zu taumeln und konnte nichts dagegen tun, daß sie rückwärts fiel. Als Constanze wieder zu sich kam, lag sie auf einer Bank. "Du bist umgekippt“, hörte sie Alex sagen. "Geht's wieder?" Alexandra und Frederike kauerten vor ihr auf dem Boden. Constanze setzte sich langsam auf. "Ja, ja - sind wir schon auf der zweiten?" "Allerdings. Und Frederike und ich waren schon hier oben, als es passierte. Jason hat dich gerade noch auffangen können, als du fielst, und dann hat er dich hochgetragen." "Wo ist er denn jetzt?" "Er holt dir einen Kaffee. Hier oben gibt es ein Restaurant." Constanze sah sich um. Diese Plattform war schon bedeutend kleiner als die erste. Alexandra schien ihre Gedanken zu erraten. "Ganz oben ist es bestimmt noch enger; komm lieber nicht weiter mit", sagte sie. "Frederike und ich fahren allein mit dem Lift hinauf, und du bleibst mit Jason hier." Constanze nickte. "Viel Spaß“ Gerade kam Jason mit zwei Bechern Kaffee. "Wir fahren jetzt. Bis nachher - wartet auf uns!" rief Alexandra ihm zu. Frederike umarmte Constanze flüchtig und lief dann hinter Alex her, die schon auf dem Weg zum Fahrstuhl war. "Na, wie geht’s?“ Jason reichte Constanze einen Becher Kaffee. "Alles in Ordnung. Sie können gerne mit den beiden nach oben fahren; ich warte hier.“ "Das muß nicht sein; ich war schon mehrmals da oben. Passiert Ihnen das häufiger?“ "Die Höhenangst? Nein, nein; eigentlich nur, wenn’s wirklich sehr hoch ist - und rundherum so frei wie hier.“ "Die Enge auf der Treppe war also kein Problem? Ich meine den Moment, als jemand so dicht an Ihnen vorbeiging ...“ Constanze schüttelt den Kopf. "Nein, nein - aber ich mag nicht mehr darüber reden. Jedenfalls danke ich Ihnen, daß Sie mir vorhin geholfen haben.“ Sie redeten nicht weiter darüber. Sie tranken Kaffee und redeten über Paris und seine Museen.
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Es verging fast eine Stunde, bis Alex und Frederike von der Aussichtsplattform in 274 Metern Höhe zurückkehrten. Alex schien sehr aufgebracht zu sein; sie konnten ihre Stimme schon von weitem hören. "Was meint ihr, was passiert ist?“ ereiferte sie sich, als sie vor ihnen stand. "Da fährst du nach Paris, und dann mußt du dir von deutschen Machos mieseste Anmache gefallen lassen!" "Ich dachte, du bist nicht so empfindlich!" wunderte sich Constanze . "Bin ich auch nicht, aber die Kerle sind echte Schweine!“ "War schon heftig“, sagte Frederike nur. "Sind sie noch auf dem Turm?" wollte Jason wissen. "Keine Ahnung. Wir haben uns beeilt, aus ihrer Reichweite zu kommen. Und das war gar nicht so leicht bei dem Gedränge dort oben.“ Alexandra war puterrot im Gesicht. "Die sollen mir bloß nicht noch einmal begegnen!" "Werden sie schon nicht", beschwichtigte Constanze. "Die siehst du nie wieder." Beim Abstieg herrschte Gedränge auf der Treppe. Einige Urlauber konnten gar nicht schnell genug wieder hinunterkommen, nachdem sie alles Sehenswerte abgegrast hatten. Jason ging neben Constanze. Eine Horde deutscher Jugendlicher, ihrem Outfit nach Fußball- Fans, bahnte sich rempelnd den Weg nach unten. "Wir lassen sie lieber vorbei.“ Jason trat vorsichtshalber zur Seite und zog Constanze zu sich heran. Frederike und Alex befanden sich zwei Treppen höher. Constanze sah nach oben, um festzustellen, wieviele Personen noch heruntertoben würden. Da fuchtelte Alex aufgeregt mir den Armen. "Da ist einer! Der in dem bunten Hemd!" Offenbar hatte sie inmitten der Jugendlichen einen ihrer Belästiger von vorhin wiedererkannt. Im nächsten Augenblick entdeckte Constanze den Mann. Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen: Thomas Fahrenholt! Er befand sich nur eine Treppe über Constanze; gleich würde er bei ihr angelangt sein. Constanze legte überhaupt keinen Wert darauf, hier von ihm gesehen zu werden, und sie hatte erst recht keinen Nerv dafür, daß Alex hier auf der Treppe eine Debatte anzettelte. Inzwischen war auch Jason auf Alexandras Zurufe aufmerksam geworden. Da half nur eines: Constanze drehte sich kurzentschlossen zu Jason um, stellte sich auf die Zehenspitzen und schlang ihre Arme um seinen Hals. Dann küßte sie so lange seinen Mund, bis sie ziemlich sicher war, daß Thomas die Stelle passiert hatte. "Wir können jetzt weiter“, meinte sie dann und griff nach dem Geländer. "He, warte ‘mal!“ Jason hielt sie sanft, aber bestimmt zurück. "Du hast mich eben ziemlich überrascht.“ "Kann sein, aber jetzt können wir weitergehen. Frederike und Alex sind schon da unten.“ "Ich weiß, aber ich bin noch nicht fertig; denn wenn es dein Ernst ist ..." Er sah sie prüfend an. Sie wich seinem Blick aus und sagte gepreßt: "Ich muß erst einmal von diesem Turm herunter.“ "Du kannst es bestimmt noch etwas aushalten", sagte er. "Ich bin ja bei dir.“ Damit nahm er ihr Gesicht behutsam in beide Hände. Constanze sah nur seinen Mund und seine Augen. Sie sträubte sich nicht, als er sie für eine kleine Ewigkeit küßte.
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Irgendwann hatten sie alle wieder festen Boden unter den Füßen. Georg und Nils saßen noch immer auf ihren Betonpollern. Georg hatte die am Morgen auf einem Marktplatz gesammelten Eindrücke zu einem kompletten Bericht verarbeitet, und Nils hatte die viele Zeit darauf verwendet, mit Dr. Schimmelmeyer ausgiebig über seine Diplomarbeit zu sprechen. Auch den Dozenten hatte niemand überreden können, auf den Turm zu steigen. "Richtig angestaubt seht ihr aus", bedauerte Frederike ihren Mann und den Studienkollegen. "Liegt das an dem Sand hier oder an Schimmelmeyers Gesellschaft?" "Wahrscheinlich an beidem", gab Georg zu, "aber wir haben viel geschafft." Er musterte die vier. "Übrigens seht ihr auch alle aus, als könntet ihr eine Dusche vertragen!“ "Es war für alle anstrengend", sagte Alexandra mit einem vieldeutigen Seitenblick auf Constanze. "Wir brauchen dringend Abkühlung. Also ich würde gerne zu den Wasserspielen hinübergehen." Sie meinte die Trocadéro- Wasserspiele am gegenüberliegenden Seine- Ufer. "Da könnte ich meine geschundenen Füße baden." Constanze kramte in ihrem Rucksack. Als sie sich in ihrem kleinen, runden Kosmetikspiegel sah, mußte sie feststellen, daß sie ziemlich derangiert aussah. Ob da ein Fußbad überhaupt noch helfen konnte? Alexandras Vorschlag stieß bei den anderen sofort auf Gegenliebe. Also machten sie sich auf den kurzen Fußweg zum Pont d' Ièna, vorbei an zahllosen fliegenden Händlern und Andenkenbuden. "Ich brauche noch Postkarten", sagte Frederike, und schon stand sie an einem der Ständer, an denen Dutzende von bunten Karten staken. Während sie noch mit der Entscheidung kämpfte, ob es nun der Eiffelturm bei Tag oder bei Nacht sein sollte, hörte sie hinter sich jemanden deutsch sprechen. Die Stimme kannte sie doch! Sie drehte sich lieber nicht um. Aber es reizte sie ungemein, bei dieser Gelegenheit zuzuhören. Jetzt standen sie alle drei hinter ihr und machten ihre Witzchen über die dargebotenen Waren und die dazugehörige Käuferschaft. Die Postkarten mit sexuellen Anzüglichkeiten schienen am ehesten ihren Geschmack zu treffen. Allerdings brachten sie wohl keine allzu große Geduld zum Einkaufen mit. "Ach, laß doch, Ingo!", hörte Frederike eine männliche Stimme rufen. "Wenn du heute abend erst die Miezen aus dem Crazy Horse kennengelernt hast, schmeißt du diese sowieso weg!" Im nächsten Augenblich wurde der Karteninteressierte offenbar recht unsanft von dem Objekt seiner Begierde weggezerrt. Crazy Horse - das sah ihnen ähnlich! Frederike senkte den Kopf vorsichtshalber noch etwas tiefer und arbeitete sich unauffällig zum übernächsten Kartenständer vor. Auf den geplanten Kauf verzichtete sie; schöne Karten würde sie auch anderswo bekommen - und wahrscheinlich billiger als hier! An dem rechteckigen Zierteich inmitten der wunderschönen Grünanlage mit dem klangvollen Namen Jardins du Trocadéro ließ es sich herrlich entspannen. Die meiste Zeit saßen sie barfuß auf dem Rasen; zwischendurch lief Alexandra einige Male zum Wasserbecken, um sich durch ein kurzes Fußbad zu erfrischen. Das Ärgernis auf der Aussichtsplattform war kein großes Thema mehr. Allerdings erzählte Frederike doch kurz von ihrem Beinahe- Zusammenstoß am Kartenkiosk, worauf ihnen Alex mit Genugtuung ausmalte, wie es wäre, wenn die
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Kavaliere im Crazy Horse Saloon und anderen derartigen Etablissements so richtig abgezockt würden. Constanze beteiligte sich kaum an der Unterhaltung. Sie saß, an Jason gelehnt, im Gras und hatte die Augen geschlossen. Sie fühlte sich erschöpft und nicht weit davon entfernt einzuschlafen. Es war sehr angenehm, so dazusitzen und seinen Körper zu spüren - Aber wollte sie sich überhaupt mit diesem Jason T. Philipps einlassen? Sie verdrängte die Entscheidung. Sie würde es auf sich zukommen lassen. Eine andere Frage beschäftigte sie im Moment weit mehr: Was wollte Thomas Fahrenholt in dieser Stadt? Machte er eine reine Vergnügungsreise, oder hatte er noch etwas anderes vor? Jason befand sich ja auch in erster Linie in Paris, um Geschäfte zu machen. Wenn sie nur wüßte, wo Thomas mit seinen Kumpanen abgestiegen war! Sie seufzte. Schließlich konnte sie nicht einfach ins Crazy Horse spazieren und ihm "oben ohne" so viel Champagner servieren, bis er in Plauderstimmung kam. Constanze kam nicht mehr dazu, weitere abstruse Ideen zu entwickeln; denn nun gemahnte Frederike zum Aufbruch in Richtung Studentenunterkunft. Und Jason wollte wissen, ob Constanze Lust hätte, später mit ihm zu Abend zu essen. Constanze erfand eine Ausrede, um nicht den ganzen Abend mit ihm verbringen zu müssen. Und zu ihrer leichten Verwunderung akzeptierte er sie ohne Wenn und Aber.
Samstag, 17. Juli ‘99, abends - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Pünktlich um acht Uhr holte Jason Constanze ab. "Möchtest du immer noch in ein Bistro?" fragte er, als sie in den Leihwagen stieg. "Ja, natürlich. Laß uns bloß nicht so weit fahren." "In der Rue de Vertbois gibt es ein kleines, erstklassiges Lokal. Es ist nicht weit von hier. Da kannst du sehr französich zu Abend essen." Jason hatte nicht übertrieben. Sie aßen ausgezeichnet, und das Ambiente gefiel Constanze nur zu gut. "Hoffentlich kannst du das von der Steuer absetzen", meinte sie. "Mach' dir keine Gedanken. Es ist alles geregelt." Als er sie sich vor ihrem Hotel verabschiedeten, war es noch nicht halb elf. Constanze war zufrieden. Auf seine Frage, ob sie mittags im Hotel anzutreffen wäre, antwortete sie: "Wahrscheinlich nicht. Wir wollen das Marais- Viertel besichtigen. Mit der Place des Vosges fangen wir an. Dort soll es etliche sehenswerte Gebäude geben. Victor Hugo hat wohl auch für ein paar Jahre dort gewohnt. Und danach geht es noch in das Picasso- Museum. Wenn dich das interessiert ..." "Es interessiert mich durchaus, aber am Nachmittags kann ich nicht kommen - ein geschäftlicher Termin. Doch morgen abend könnten wir in dem Viertel essen
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gehen: Es gibt in der Rue des Rosiers ein ausgezeichnetes Restaurant mit jüdischen
Spezialitäten; dort kümmert sich der Chef persönlich um seine Gäste. Ich werde
einen Tisch für vier bestellen, und wir treffen uns um sechs Uhr dort.“
Er wartete ihre Zustimmung gar nicht ab, sondern sagte: "Das wird dir gefallen,
Constanze.“ Dann küßte er sie beinahe so lange wie am Nachmittag auf dem
Eiffelturm.
Constanze holte ihren Schlüssel von der Rezeption. "Bitte bestellen Sie mir für ein Uhr ein Taxi, Monsieur - für ein Uhr heute nacht." In ihrem Zimmer durchforstete sie ihren dicken Reiseführer nach den einschlägigen Nachtlokalen. Unter "Shows und Kabarett" fand sie auch den Crazy Horse Saloon mitsamt Adresse. Sie stellte ihren Wecker auf halb eins und steckte ihn unter ihr Kopfkissen. Gut, daß Alexandra noch nicht zu Hause war! Constanze legte sich einige Kleidungsstücke zurecht und schlüpfte unter ihre Bettdecke. Hoffentlich war Alexandra ein Nachtschwärmer war, der gerade heute besonders lange ausblieb!
Sonntag, 18. Juli ‘99, nach Mitternacht - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Bisher hatte alles reibungslos geklappt. Zwar wunderte sich der Nachtportier schon ein wenig, daß Constanze mitten in der Nacht mit einem Taxi davonfuhr, aber was gingen ihn die Ausflüge seiner Gäste an! Alexandra war noch nicht zu Hause; sie würde annehmen, daß Constanze noch mit Jason das Pariser Nachtleben genoß. Das Taxi hielt in der Avenue George V.. Constanze, in schwarzen Jeans, dunklem Sweat- Shirt und ihrer schwarzen Regenjacke, stieg aus und entlohnte den Fahrer. Als der Wecker geklingelt hatte, war sie hundemüde gewesen, aber jetzt, nach der Fahrt durch die erleuchtete Stadt, war sie beinahe hellwach. Schnell fand sie das Lokal. Am Eingang herrschte reger Betrieb. Hier konnte sie nicht stehenbleiben. Aber auf die andere Straßenseite wollte sie auch nicht; das war ihr zu weit entfernt. Am Straßenrand standen einige Taxis in Warteschlange, bereit, diejenigen Gäste, die des Nachtlebens überdrüssig oder von ihm überfordert waren, sogleich aufzufangen und sicher nach Hause zu bringen. Thomas und seine Kumpane würden diese Dienstleistung bestimmt auch in Anspruch nehmen, wenn sie hier fertig waren. Also aufgepaßt! Sie drückte sich in der Nähe einer dicken Mülltonne herum. Mit der Kapuze ihrer Regenjacke auf dem Kopf, das blonde Haar gänzlich verborgen, mußte sie hier mitten in der Nacht wie ein Junky wirken. Hoffentlich griff die Polizei sie nicht auf, fiel ihr mit Schrecken ein! Aber sie hatte Glück. Nur einmal sprach sie jemand an: ein alter, gebrechlicher Mann; ob sie denn Zigaretten habe. Sie drückte ihm ein 10- Franc- Stück in die schmutzige Hand, und er humpelte weiter. Ihr war nicht wohl in ihrer Haut. An etwaige dunkle Gestalten, die erst bei Nacht so richtig munter wurden, hatte sie heute nachmittag gar nicht gedacht; aber jetzt unverrichteterdinge zurückfahren? Das kam gar nicht in Frage. Sie hielt sich in der Nähe des Lokals auf dem Bürgersteig auf und war auf der Hut.
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Beinahe hätte Constanze trotzdem den Moment verpaßt, auf den sie gewartet hatte: Thomas Fahrenholt stand an dem ersten Taxi der Warteschlange und verhandelte mit dem Fahrer. Seine zwei männlichen Begleiter stiegen bereits in den Fond des Wagens ein. Constanze erreichte gerade noch rechtzeitig das nächste Auto: "Suivez- le! Vite, vite!" Der Fahrer verstand, und sie fuhren seinem Kollegen nach. Aber wenn Constanze gehofft hatte, nach wenigen Kilometern vor dem Hotel anzukommen, in dem ihr Schwager zur Zeit wohnte, dann wurde sie enttäuscht. Thomas und seine Kumpel hatten sich für diese Nacht auch noch einen Disco- Besuch vorgenommen. Es war fast sechs Uhr morgens, als Thomas und Begleiter am Boulevard de Haussmann vor einem großen Hotel ausstiegen. Hier also residierten sie! Constanze notierte sich mit zitternden Fingern Namen und Adresse und ließ sich schnurstracks in ihre eigene Herberge fahren.
Sonntag, 18. Juli ‘99, vormittags - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Als der Wecker an diesem Sonntag morgen zum zweitenmal klingelte, wachte Constanze nicht auf. Alexandras sämtliche Versuche, sie wachzurütteln, waren vergeblich; und so machte Alex sich schließlich ohne ihre Zimmergenossin auf den Weg zur Place des Vosges. Constanze wachte erst gegen zehn Uhr auf. Der halbe Vormittag war hin! Aber sie hatte die Adresse! Nachdem sie geduscht und sich das Haar gewaschen hatte, fühlte sie sich einigermaßen munter. Jetzt frischer Kaffee und ein Croissant! Aber hier im Hotel würde man ihr um diese Zeit kein Frühstück mehr servieren. Blieb also nur das Bistro auf dem Weg zur Métro- Station, um ihre Frühstückswünsche zu erfüllen. Während sie noch im Bistro ihren heißen Café au lait trank und die Leute ringsumher betrachtete, wurde Constanze langsam wieder unternehmungslustig. Warum sollte sie eigentlich den herrlichen Morgen damit verbringen, sich Victor Hugos Wohnhaus anzuschauen und sich im Stadtmuseum über die Lebensgeschichte einer Marquise de Sévigné zu informieren? Ein zügiger Spaziergang um die Place des Vosges und der Besuch des Picasso- Museums am Nachmittag taten es doch auch! Wäre es nicht viel interessanter, ihrem Schwager in seinem eleganten Hotel ein wenig nachzuspionieren? Warum unternahm ein jung verheirateter Mann wie Thomas Fahrenholt überhaupt mit zwei Freunden eine Lustreise nach Paris? Das hätte er doch schon vor seiner Ehe tun können. Oder hatte er erst jetzt das nötige Kleingeld dafür? Immerhin sponsorte Sonja ihn ja großzügig. Ob die Ehe überhaupt funktionierte? Lauter Fragen, auf die Constanze zu gerne eine Antwort gewußt hätte. Kurz vor Mittag stand Constanze tatsächlich vor dem Hotel am Boulevard de Haussmann. Vorhin in der Métro, als sie sich ihren Schlachtplan zurechtgelegt hatte, war ihr alles ganz leicht erschienen. Doch jetzt, da sie vor der schweren gläsernen Drehtür
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stand, kamen ihr Zweifel. Wenn sie ehrlich zu sich selber war, so standen ihre Chancen, hier ohne Aufsehen etwas herauszufinden, doch wohl miserabel. Und was würde passieren, wenn Thomas Fahrenholt selbst sie dabei ertappte, daß sie ihm hinterherspionierte? Wahrscheinlich würde sie sich bis an ihr Lebensende seinen Spott gefallen lassen müssen. Und Sonja wäre mit Sicherheit tödlich beleidigt. Aber andererseits war da auch dieser Verdacht, den sie schon seit Wochen hegte: Sie wurde den Gedanken einfach nicht los, daß es Thomas war, der Vaters ZIP- Diskette an sich genommen hatte. Er war bestimmt clever genug, um sich aus den bruchstückhaften Informationen, die er in der Familie über die Zeit aufgeschnappt hatte, einen Reim zu machen. Was war, wenn er hier in Frankreich versuchte, die auf der Diskette gespeicherte Datei zu Geld zu machen? Und was im Leben war schon ohne Risiko? Constanze atmete tief durch und trat dann entschlossen durch die Tür in die Hotel- Lobby. Ein kurzer Rundumblick: kein Fahrenholt in Sicht. Sie ging zur Rezeption hinüber, wo zwei Hotelangestellte Dienst taten. Durch Constanzes Kopf schossen sämtliche französische Vokabeln, die sie gleich brauchen würde. Sie wandte sich an eine junge Dame in dunkelblauem Kostüm und weißer Bluse. "Guten Tag, Madame. Ich hoffe, Sie können mir helfen ..." In ihrem besten Schulfranzösisch erzählte sie der junge Dame eine hanebüchene Geschichte, in der es um einen Verlobten, einen Streit und eine zerknirschte Braut ging. Die Dame war fast zu Tränen gerührt, warf schnell einen verstohlenen Blick auf den männlichen Kollegen zu ihrer Rechten, der gerade dabei war, für einen Hotelgast eine Flugverbindung herauszusuchen und verhalf Constanze schließlich zu den notwendigen Informationen. Thomas Fahrenholt und seine Freunde Ingo Wolf und Oliver Matthiesen bewohnten die Zimmer Nr. 418, 419 und 420. Angekommen waren sie alle drei bereits am Freitag. Constanze schenkte der Dame hinter dem Tresen ihr schönstes und zugleich verlogenstes Lächeln. Bevor sie ging, warf sie noch einen kurzen Blick zum Schlüsselbrett: Die Messinghäkchen für 418 bis 420 waren leer. Draußen auf dem Gehweg mußte sie erst einmal überlegen. Sie wußte jetzt die Zimmernummern, und die drei Gigolos waren offenbar im Hotel. Vielleicht aßen sie zu Mittag. Dieses Hotel hatte mit Sicherheit mindestens ein gutes Restaurant. Constanze wagte einen zweiten Vorstoß: Während sie die Lobby durchquerte, lächelte sie der jungen Dame an der Rezeption, wenn auch etwas unsicher, zu. Auf der breiten Treppe, die in die oberen Etagen führte, war es ausgesprochen ruhig - Mittagszeit. Constanze begegnete nur einem jungen Ehepaar mit zwei kleinen Jungen. Im Flur der vierten Etage war es still. Auf Zehenspitzen schlich sie zu den gesuchten Zimmern und lauschte. Nichts. Constanze hatte eigentlich nichts anderes erwartet, und doch fühlte sie Enttäuschung. Sie lehnte sich gegen die Wand mit den plüschig wirkenden Stil- Tapeten und seufzte. Da hörte sie Männerstimmen. Sie kamen von rechts. Der Fahrstuhl! Zurück zur Treppe! Als sie sich hinter einer Ecke in Sicherheit glaubte, wagte sie einen Blick zurück: Thomas, Ingo und ein weiterer Mann steuerten die Zimmer 418 bis 420 an. Da sie sich lebhaft unterhielten, bemerkten sie Constanze nicht.
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‘Ich hätte mir eine Perücke kaufen sollen’, dachte Constanze. Was sie machte, war ja halsbrecherisch! Sie hatte genug für heute. Mit klopfendem Herzen ging sie die Treppe hinunter. Als sie schon beinahe die Eingangstür erreicht hatte, tippte ihr jemand von hinten auf die Schulter. Constanze fuhr zusammen. Aber es war nur die hilfsbereite Dame von der Rezeption, die wissen wollte, ob ... Constanze schüttelte bedauernd den Kopf und sagte zerknirscht: "Pas de courage aujourd' hui." Dann verließ sie schleunigst das Hotel. ‘Gar nicht so unklug’, dachte sie draußen, ‘dann kann ich ja morgen wiederkommen.’ Der Rest des Tages war weniger stressig als der Auftakt. Constanze hatte, nachdem sie das Hotel verlassen hatte, das Bedürfnis, meilenweit zu laufen, wie um die Erinnerung an Thomas Fahrenholt abzuschütteln. Sie lief den Boulevard de Haussmann in östlicher Richtung hinunter. Irgendwann stand sie vor einem Kaufhaus, und ihr fiel die Idee mit der Perücke wieder ein. Zu schade, daß heute geschlossen war. Aber morgen war ja auch noch ein Tag!
Sonntag, 18. Juli, nachmittags - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Die Studenten um Frau Professorin Dr. Schackenburg fand sie im Picasso- Museum wieder. Man hatte zwar bemerkt, daß Constanze morgens nicht rechtzeitig aus den Federn gekommen war, aber ihr Fehlen hatte keinerlei Konsequenzen. Nur Frederike wollte wissen, wo sie so lange gesteckt hatte. Constanze drückte sich um eine detaillierte Erklärung. Im Gegenzug fragte sie die Freundin, ob sie und Georg mit zum Abendessen kämen. Wohlweislich hatte Constanze noch am Vorabend einen Zettel mit dieser Frage unter Frederikes Zimmertür hindurchgeschoben. "Das lasse ich mir doch nicht entgehen“, war Frederikes Antwort.
Sonntag, 18. Juli, abends - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Nach dem Abendessen fuhren sie zu viert zum Arc de Triomphe und bummelten die Champs Elysées hinunter bis zur Place de la Concorde. Von dort aus war es nicht mehr weit bis zum Louvre und dessen gläserner Pyramide. Obwohl Frederike schon den ganzen Tag auf den Beinen war, wollte sie, wie Constanze, den Louvre endlich einmal in beleuchtetem Zustand sehen. Also flanierten sie auch noch durch die Tuilerien. Der Lohn war ein spektakulärer Anblick: Die Fassade des Louvre war durch unzählige Lampen hell erleuchtet, und die gläserne Pyramide im Innenhof erstrahlte in einem unwirklichen bläulichen Licht. Es war eine laue Sommernacht, warm genug, um sich in den Anlagen auf eine Bank zu setzen und die Atmosphäre zu genießen. Frederike und Georg hatten einen
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anderen der verschlungenen Pfade gewählt als Constanze und Jason. Constanze zog es zu dem runden Teich, dessen Wasser im sanften Licht der Laternen schimmerte. Es duftete nach Vanille. "Heliotrop", stellte Constanze sachkundig fest. "Er duftet nur in den südlichen Regionen so intensiv. In Norddeutschland ist er fast immer eine Enttäuschung. Ich liebe seinen Duft." "Und wie sieht er aus?" "Er hat viele kleine Blüten in dunklem Lila." Sie trat einen Schritt zur Seite und ging neben einer Rabatte in die Hocke. "Hier." Sie zeigte auf eine bestimmte Pflanze und sog den Duft intensiv ein. "Schade", seufzte sie dann, "es ist schon zu dunkel, um die Farbe zu erkennen." Sie stand wieder auf. Jason zog sie sanft zu sich heran. Sie sahen sich schweigend an. Constanze stellte zum wiederholten Male fest, was für einen schön geschwungenen Mund dieser Mann hatte. Das war ihr schon im Museum sofort aufgefallen. Das Verhältnis von Ober- zu Unterlippe war sehr ausgewogen, sie waren nicht schmal, aber auch nicht zu voll für einen Mann. Zu den Mundwinkeln hin hatten sie einen fast unmerklichen Schwung nach oben, was ihnen einen leicht verwegenen Zug verlieh. Dieses Stück Verwegenheit entdeckte sie auch in seinen Augen, dazu einen Ausdruck von gespannter Erwartung und Abenteuerlust. Er hatte etwas von einem kleinen Jungen, der als einziger das Loch im Zaun zu einem Apfelhof entdeckt hat und sich nun aussuchen kann, mit wem er dieses Geheimnis teilen möchte. Diese Mischung ergab die pure Sinnlichkeit! Und Constanze fühlte, daß genau das diesen unwiderstehlichen Reiz auf sie ausübte. Sie wollte diesen Mann, das wurde ihr jetzt klar. Dabei kannt sie ihn erst zwei Tage, und alles, was sie über ihn wußte, war ziemlich oberflächlich. Sie wunderte sich über sich selber: Entweder hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt, oder sie war völlig übergeschnappt; doch fest stand, daß ein leidenschaftlicher Kuß das Mindeste war, was sie hier und jetzt von ihm wollte. Constanze schlang die Arme um seinen Hals. Sie schloß die Augen und atmete tief ein. Da war etwas, das ihr seltsam vertraut vorkam. Vielleicht war es sein Duschgel, schoß es ihr durch den Kopf; ein Duschgel mit Chypre- Note. Vielleicht war es ihr schon einmal in einer Parfumerie begegnet. Sie sog den warmen Duft seines Körpers ein. Er roch einfach unheimlich gut! Plötzlich wußte sie es. Eine Erinnerung war aufgetaucht, eine Erinnerung, die sie schlagartig nach Brasilien zurückversetzte: So dufteten immer die frischen, grünen Blätter einer bestimmten Liane, nachdem ein tropischer Platzregen auf sie niedergeprasselt war! Carlos hatte ihr diese Pflanze einmal gezeigt, und er hatte damals auch ihren Namen genannt. Sie gab sich einen Ruck. Erinnerungen an diese Liane war okay, aber die Erinnerung an Carlos ... Als sie sich an Jasons Brust schmiegte, hörte sie deutlich, wie sein Herz schlug: kräftig und regelmäßig und ziemlich schnell - beinahe so schnell wie ihr eigenes. Als sich ihre Lippen endlich fanden, fühlte Constanze ihr Blut bis in die Zehenspitzen pulsieren, und der Jardin des Tuileries um sie herum schien in der Dunkelheit zu versinken. Irgendwann hörte Constanze vertraute Stimmen, die langsam näherkamen: Frederike und Georg hatten ihren Rundgang beendet.
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"Kinder, so leid es mir tut: Ich brauche meinen Schönheitsschlaf", sagte Frederike. "Laßt uns nach Hause fahren." Gemächlich schlenderten sie die Champs Elysées wieder hinauf zum Triumphbogen. Die breite Avenue war jetzt hell erleuchtet, das Licht der Straßenlaternen fiel durch das sattgrüne Laub der Alleebäume auf das breite Trottoir. Vor den Cafés waren die die Stühle unter freiem Himmel noch fast bis auf den letzten Platz besetzt: Die Pariser genossen bei einem Glas Champagner die abendliche Faszination ihrer Stadt.
Montag, 19. Juli ‘99, vormittags - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
An diesem Morgen überhörte Constanze ihren Wecker nicht. Sie hatte ihn auf halb sieben gestellt und beeilte sich mit Morgentoilette und Frühstück. Die Schackenburg hatte gnädig den ganzen Tag zur freien Verfügung gestellt wahrscheinlich, weil die Mädels der Gruppe schon seit ihrer Ankunft danach gierten, endlich die Galeries Lafayette zu stürmen. Constanze wollte heute ebenfalls dorthin; aber nicht etwa, um in Hunderten von Seidentüchern zu wühlen oder in der gigantischen Parfumabteilung unter der Glaskuppel "ihren" Duft aufzuspüren. Sie wollte ausschließlich etwas einkaufen, das sie dringend benötigte. Constanze gehörte an diesem Morgen zu den ersten Kundinnen des eleganten Einkaufstempels. Schnell fand sie, was sie suchte. Eine halbe Stunde später betrat sie, nun mit kupferrotem Pagenkopf, das Hotel, in dem Thomas Fahrenholt logierte. Ein Kontrollblick durch die Halle, ein Blick zur Rezeption. Die Zimmerschlüssel für 418 bis 420 hingen nicht am Brett. Die Männer waren also noch im Haus. Vielleicht frühstückten sie gerade. Constanze erblickte ihr Spiegelbild in einer verspiegelten Säule. Sie betrachtete sich verstohlen. So fremd, wie sie sich selber vorkam, würde auch ihr Schwager sie nicht so leicht erkennen ... Nur die Fahrstühle sollte sie auf keinen Fall benutzen. Sie beschloß, sich in der vierten Etage etwas umzusehen. Auf der Treppe begegnete ihr ein älteres Ehepaar; ihr rotes Haar zog für einen Moment den Blick des Mannes auf sich. Auf den Fluren herrschte reger Betrieb: Die Zimmermädchen waren bei der Arbeit, jeweils zwei von ihnen gleichzeitig auf einer Etage. Sie schoben ihre Wagen mit Putzmitteln, Hygieneartikeln und Wäschebeuteln von Zeit zu Zeit ein Stück weiter den Flur entlang, so daß sie ungefähr vor den Zimmern standen, in denen die Mädchen gerade aufräumten. Die Türen zu den Wäschekammern standen weit offen; hier holten die Mädchen Nachschub an frischen Handtüchern und Bettwäsche. Constanze war also gerade zur richtigen Zeit gekommen. Auch im vierten Stock waren zwei junge Frauen bei der Arbeit. Constanze tat so, als suche sie eine bestimmte Zimmernummer und ging dazu einmal den Flur entlang. Im Vorübergehen sah sie, daß in 416 und 418 gerade die Betten gemacht wurden. In absehbarer Zeit würde demnach 420 an die Reihe kommen.
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Constanze drückte sich für eine Weile am anderen Ende des Flures herum, indem sie mit scheinbarem Interesse ein modernes Gemälde, das in einer Nische hing, studierte. Das Bild bot zwar nur zwei rote Linien auf schwarzem Grund, aber für ein Alibi- Objekt genügte das. Endlich war es so weit: Die Mädchen hatten die Türen zu Nr. 420 und 422 aufgeschlossen. Constanze konzentrierte sich auf den richtigen Moment. Sie wartete noch etwas. Als das Mädchen Fahrenholts Zimmer einmal verließ, um kurz in der Wäschekammer zu verschwinden und sich ihre Kollegin im Nachbarzimmer aufhielt, konnte Constanze unbemerkt in Zimmer Nr. 420 schlüpfen. Der Schrank! Behutsam öffnete sie die Schiebetür auf der rechten Schrankseite. Es war das Fach mit Kleiderstange - groß genug, um hineinzusteigen! Sie zog die Tür von innen zu und kauerte sich auf den Boden. Viel Platz hatte sie nicht gerade. Diverse Oberhemden und mehrere Jacketts hingen auf Bügeln über ihr. Auf dem Schrankboden standen Schuhe auf einer knisternden Unterlage, vermutlich einer Plastiktüte. Dunkel war es auch, und es roch nach Thomas’ Hustenbonbons. Im Zimmer wurde nun gesaugt. Constanze blieb nichts anderes übrig als abzuwarten. Irgendwann hörte sie, wie die Zimmertür ins Schloß fiel. Dann war es still. Constanze kletterte aus ihrem Versteck und machte sich daran, das Zimmer zu durchsuchen. Mit der linken Schrankseite fing sie an. Nur T- Shirts, Unterwäsche und Socken; keine Diskette. Tür zu. Nun die rechte Seite: Hutablage - leer. Kleiderbügel sie klopfte jedes Kleidungsstück einzeln ab - nichts. Schrankboden: zwei Paar Schuhe auf einer bunten Plastiktüte, einer recht dicken Plastiktüte. Sie zog die Tüte unter den Schuhen hervor: ein Sammelsurium an Prospekten von Pariser Sehenswürdigkeiten inclusive Versailles und Euro- Disney befand sich darin, außerdem ein verschlossener weißer Din A4 Umschlag ohne jegliche Beschriftung. Vorsichtig, aber zügig öffnete Constanze die Verschlußlasche und zog den Inhalt heraus: ungefähr ein Dutzend Computerausdrucke - allesamt Auszüge aus der verschwundenen Datei! Sie überlegte kurz. Dann nahm sie drei der Blätter an sich; den Rest steckte sie zurück in den Umschlag; sorgfältig drückte sie die gummierte Lasche fest. Umschlag und Prospekte wieder in die Plastiktüte, Schuhe darauf, fertig. Plötzlich hörte sie auf dem Flur Männerstimmen. Rasch kletterte sie noch einmal in den Schrank. Sie lauschte. Die Zimmertür wurde aufgeschlossen. "... nur meine andere Jacke." Das war Thomas’ Stimme. Offenbar unterhielt er sich mit seinen Freunden, die auf dem Flur auf ihn warteten. Constanze wagte kaum zu atmen. Doch die Schranktüren blieben zu. Vielleicht meinte er die Jacke, die sie vorhin auf seinem Bett hatte liegen sehen, überlegte Constanze. Jedenfalls verließ Fahrenholt sein Zimmer wieder und schloß hinter sich ab. Constanze atmete auf. Jetzt nichts wie heraus aus dem Schrank und aus dem Zimmer! Vorsichtig entriegelte sie die Tür, öffnete sie eine Spalt breit - und erschrak. Vor ihr stand ein Zimmermädchen mit einem Stapel frischer Handtücher auf dem Arm. Constanze probierte es mit Dreistigkeit: Mit einem Lächeln und einem flüchtigen "Bonjour“ versuchte sie, an der Hotelbediensteten vorbei aus der Tür marschieren. Doch die hielt sie energisch zurück. "An Ihrer Stelle würde ich das nicht tun", sagte sie auf deutsch zu Constanze. Constanze starrte sie an. "Was soll das?"
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Die junge Frau drängte Constanze zurück in das Hotelzimmer, schloß die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. "Dieses ist nicht Ihr Zimmer. Könnte es sein, daß Sie hier etwas gestohlen haben?" "Ich habe nichts gestohlen", antwortete Constanze ohne ein Zögern. "Und das soll ich Ihnen glauben?" "Es ist mir egal, ob Sie das glauben oder nicht. Lassen Sie mich jetzt gehen!" Constanze machte einen Schritt nach vorn. Das Zimmermädchen zog ein Handy aus der Kitteltasche. "Ich sollte wohl besser die Hotelleitung benachrichtigen - es sei denn, Sie zahlen mir ein kleines Taschengeld. Dann wäre ich vielleicht bereit zu vergessen, daß ich Sie hier ...“ Sie unterbrach sich. "Da kommt jemand!" Constanze wußte nicht, ob das für sie gut oder schlecht war. Ihr Blick fiel auf den Schrank. "Los, kommen Sie mit mir ins Bad!" Das Zimmermädchen schob sie energisch in den angrenzenden Raum. Thomas Fahrenholt war noch einmal zurückgekommen. Mit langen Schritten durchquerte er das Zimmer, schob eine Tür des Kleiderschrankes zurück und zerrte etwas aus der bunten Plastiktüte. Die Schranktür ließ er halb offen. "Hatte ich völlig vergessen ... muß noch in den Safe." rief er grinsend dem Zimmermädchen zu. Als er verschwunden war, sagte Constanze vorwurfsvoll: "Na bitte, ist doch noch alles da! - Und jetzt sind Sie mir wohl etwas schuldig! Wie heißen Sie überhaupt?“ Das Zimmermädchen stellte sich als Annemarie Bauer, Studentin aus Wien, vor. Constanze überlegte. Vielleicht konnte diese Annemarie ihr zu weiteren Informationen verhelfen. "Dieser Mann wird die Papiere vermutlich bald wieder aus dem Safe holen, um sie jemandem zu verkaufen. Sie können doch bestimmt herausfinden, wann er geschäftliche Verabredungen hat", überlegte sie laut. "Na ja, aber es wird etwas kosten; das Leben in Paris ist teuer. Wenn Sie mir FF 3000 ..." "FF 3000 sind die Höhe!" entrüstete sich Constanze. "Und was Sie hier versuchen, ist Erpressung! Darauf steht in Frankreich Knast, soviel ich weiß.“ "Nun, wenn es nur eine Information sein soll ..." Marianne Bauer beeilte sich abzuwiegeln. Constanze hatte ihr wohl einen Schrecken eingejagt. "Sie rufen mich an, sowie Sie etwas erfahren! Hier wohne ich." Damit nahm Constanze einen Zettel von Fahrenholts Schreibtisch und notierte ihre Pariser Adresse. Den Zettel drückte sie Marianne in die Hand. Dann verließ sie Zimmer und Hotel.
Montag, 19. Juli ‘99, abends - Paris, Unterkunft der Studentengruppe Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Nach dem Abendessen fand Constanze an der Rezeption ihres Hotels eine Nachricht vor. Annemarie hatte sich tatsächlich gemeldet und bat um Rückruf. Constanze war froh, daß sie diesen Roaming- Vertrag abgeschlossen und das Handy mitgenommen hatte. So konnte sie Marianne gleich von ihrem Zimmer aus anrufen.
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Annemarie war sofort am Apparat. "Ich habe etwas für Sie, Constanze: Morgen mittag, 12.00 Uhr, hat unser Freund eine Verabredung in Aladdins Bazar. Haben Sie verstanden?" "Ja, Aladdins Bazar. Ist das ein Lokal?" "Nein. Das ist im Disneyland- dem Vergnügungspark." "Sind Sie sicher?" "Ganz sicher, Constanze. Fahren Sie mit der RER nach Marne- la- Vallée, es ist die Endstation." "Ja, in Ordnung. Danke, Marianne." Constanze legte auf. Disneyland, das war doch wohl ein Witz! Trotzdem sah sie auf ihrem Stadtplan nach, wo das Disneyland à la France lag und wie man dorthin kam. Richtig: mit dem Zug, Endstation Marne- la- Vallée.
Dienstag, 20. Juli ‘99, vormittags - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Für diesen Dienstag stand einiges auf Frau Professorin Dr. Schackenburgs Reiseprogramm, aber das interessierte Constanze im Moment nicht mehr. Sie war entschlossen, gnadenlos einige Programmpunkte zu streichen; denn der Fall Fahrenholt war ihr jetzt wichtiger. Ein Glück nur, daß Jason heute geschäftliche Verpflichtungen hatte. Sie würden sich erst am Abend treffen, und dann hatte sie ihre Aktion wahrscheinlich lange hinter sich. Frederike gegenüber würde sie allerdings wieder irgendeine einigermaßen glaubhafte Geschichte erfinden müssen, was ihr eigentlich nicht behagte. Aber für Offenbarungen war es noch zu früh; sie würde erst dann beichten, wenn es einen Erfolg zu verzeichnen gab. Die Fahrt mit Métro und Vorortbahn würde eine Dreiviertelstunde in Anspruch nehmen. Unterwegs würde Constanze also genügend Zeit haben, auf der Toilette ihre kupferrote Perücke aufzusetzen.
Dienstag, 20. Juli ‘99, mittags - Paris, Euro- Disney Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
In Marne- la- Vallée empfingen sie Sonne und azurblauer Himmel. Wie Hunderte anderer Besucher, die mit Bahn, Bus oder Pkw angereist waren, pilgerte Constanze zunächst erwartungsvoll zu dem breiten Eingangstor mit den bunten Fähnchen. An den Kassenhäuschen im Inneren eines rosaroten Gebäudes herrschte reger Betrieb. Constanze reihte sich in eine der Warteschlangen ein, und eher als vermutet hielt sie ihre Eintrittskarte für einen Tag in der Hand. Es war erst elf Uhr, Zeit genug, um Aladdins Bazar zu finden. Zusammen mit ihrer Eintrittskarte hatte sie auch einen Übersichtsplan des Parks erhalten. Sie suchte sich einen einigermaßen schattigen Platz am Rande einer Blumenrabatte und studierte den bunten Plan. Da war es! Ein Szenario aus einem Disney- Film! Constanze zeichnete mit einem Kuli den kürzesten Weg dorthin in die Karte ein.
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Sie ging die belebte Main Street einer imaginären Westernstadt hinunter. Direkt vor ihr lag auf einer Anhöhe das Dornröschenschloß. Seine zahlreichen spitzen Türmchen trugen goldenen Verzierungen, die im Sonnenschein glänzten. ‘Constanze im Märchenland’, dachte sie. Da waren auch schon die Zwiebeltürme von Aladdins Bazar! Kostbar wirkende Mosaiken in verschiedenen Blautönen schmückten den Torbogen, der gleichzeitig Zugang zum Bazar und zu einem orientalischen Markplatz bot. Der Platz war um diese Tageszeit lichtüberflutet, in den Gewölben des Bazars dagegen herrschte schummerige Beleuchtung. Überall hingen orientalisch anmutende Lampen von der Decke und tauchten die feilgebotenen Waren in ein sanftes Licht. Constanze entdeckte Taschen und Rucksäcke aus hellem Leder, Stapel von Teppichen, allerlei Teller aus getriebenem Messing mit schönen Ornamenten, Teekannen, Lampen, gewebte Tücher und Schmuck; außerdem jede Menge Stofftiere, die den Figuren aus dem Zeichentrickfilm nachempfunden waren. Zwei kleine Mädchen probierten selig Kostüme aus Taft und Tüll an; sie sahen aus wie kleine Haremsdamen. Die Großmutter schaute ihren Enkelinnen versonnen zu, und der Großvater zückte, nach einem kritischen Blick auf die Preisschilder und einem zweiten auf seine Frau, ergeben die Brieftasche. Constanze sah sich nur die Etiketten der Stofftiere an. Ziemlich teuer, fand sie, aber für Frederikes kleinen Sohn hätte sie gerne eines mitgenommen. Sie hielt zwei kleine Affen vergleichend in das schwache Licht einer Ölfunzel. Da stand plötzlich Jason vor ihr. Sie starrte ihn total entgeistert an. "Was machst du denn hier?" "Hallo, Constanze." Er gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange. "Ich warte hier auf jemanden." Er sah auf seine Armbanduhr. "Er müßte gleich kommen. Laß uns 'mal dort hinüber gehen ..." Damit dirigierte er Constanze in eine schummerige Ecke mit Ständern voller Lederwaren. Sie sah auch auf die Uhr; mühsam konnte sie entziffern, daß es fünf vor zwölf war. In ihrem Kopf begann es zu arbeiten: Hatte er nicht gestern gesagt, er habe heute eine geschäftliche Verabredung? Und sie hatte, arglos wie sie war, natürlich nicht nachgefragt, mit wem. Es ging sie ja auch nichts an. Bis gestern jedenfalls nicht ... Da tauchte Thomas Fahrenholt auf. Er ging zielstrebig auf eine kleine, mit Mosaiken ausgestattete Grotte zu und blieb vor einem flachen, mosaikverzierten Wasserbecken stehen. Ein zierlicher, goldfarbener Wasserspeier an der Wand sorgte mit seinem feinen Strahl für den stetigen Zufluß frischen Wassers. "Ist er das?" fragte Constanze leise und wies mit einer Kopfbewegung in Fahrenholts Richtung. Jason nickte nur. "Wann hast du das abgemacht?" "Abgemacht? Ich habe erst heute von dem Termin erfahren." Jason wirkte etwas zerstreut. Er spähte zu der Grotte hinüber. "Annemarie ..." "Was? Du kennst Annemarie?" "Ja. Sie besorgt mir manchmal Informationen ..." "Und wieviel bezahlst du ihr dafür?" Jason spähte immer noch zu der Grotte hinüber. "Gar nichts", antwortete er. "Das kann nicht sein! Von mir wollte sie Geld, und zwar reichlich."
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"Du hast aber nichts bezahlt ... Und jetzt laß mich 'mal ... Ich erkläre dir nachher alles. Mach jetzt bitte keinen Aufstand, Constanze!" sagte er beschwörend. Dann schob er Constanze tiefer in die Taschen und Rucksäcke und trat einen Schritt vor. Constanze wurde wütend. "Ich will sofort wissen, was hier abgeht! Bleib gefälligst hier!“ Damit packte sie ihn am Gürtel seiner Bluejeans. Er blieb stehen, ohne sich umzudrehen. "Constanze!" Diesesmal klang es scharf. "Dann bringe ich euch eben alle in den Knast", sagte sie trotzig. Damit ließ sie Jasons Gürtel los und sah sich nach dem direkten Weg nach draußen um. Thomas Fahrenholt hatte den Platz vor dem Bassin inzwischen verlassen. Also konnte sie ja gehen. Aber diesesmal wurde sie von Jason festgehalten. "Bleib' hier! Er ist noch nicht weg. Er ist nebenan, wo die Teppiche liegen. Sein Kontaktmann ist gerade aufgetaucht." Constanze glaubte, sie höre nicht recht. "Ich gehe vor. Kopf 'runter", wies Jason Constanze an. Sie tat, was er sagte und folgte ihm vorsichtig. Am Durchgang zum Nebenraum blieben sie stehen. Von dort aus konnten sie Fahrenholt und einen anderen Mann beobachten, die offensichtlich miteinander verhandelten. Schließlich wechselte ein großer, dünner Briefumschlag den Besitzer. Wahrscheinlich eine Kostprobe der Unterlagen. Die Männer trennten sich. Fahrenholt verschwand in einem Raum des Bazars, sein Geschäftspartner suchte offenbar den Ausgang. Constanze wandte sich in Fahrenholts Richtung. "Wir müssen hinter dem anderen her; den kennen wir noch nicht." sagte Jason bestimmt. Wohl erstmals jemand, den Jason noch nicht kannte, dachte Constanze lakonisch. Sonst war er ja immer bestens informiert Der fremde Mann trat auf den orientalischen Markplatz hinaus. Die Sonne blendete ihn, und er brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren. Auf dem Platz drängten sich viele Menschen. Väter hoben ihre kleinen Kinder auf die Schultern, um ihnen freie Sicht zu ermöglichen. Ältere Kinder bildeten eine Traube um zwei orientalisch gewandete Personen, um ein Autogramm zu ergattern oder ein Foto zu machen: Aladdin und Jasmin, die Hauptfiguren des Märchenfilms, waren leibhaftig geworden und machten ihre Runde durch ihr Reich. Für weniger Märcheninteressierte waren die vielen Menschen eher ein Hindernis. So hatte Fahrenholts Geschäftspartner einige Mühe, sich einen Weg hinaus zu bahnen. Und auch Jason und Constanze mußten sich anstrengen, den Mann nicht aus den Augen zu verlieren. Immer in gebührendem Abstand, verfolgten sie ihn in Richtung Ausgang. Unterwegs kamen sie an diversen Souvenir- Ständen vorbei, an denen Constanze nur zu gern schnell etwas eingekauft hätte. Aber Jasons Gesichtsausdruck verriet ihr, daß er dafür nicht einen Moment Geduld gehabt hätte. Um so mehr wunderte sich Constanze, als Jason in der Main Street ohne Ankündigung kurz in einem Café verschwand. Sie behielt indessen den Mann im Auge und nutzte die Gelegenheit, um an einem Stand rasch ein kleines Stofftier zu kaufen. Als Jason kurz darauf mit einer Plastiktüte in der Hand wieder bei ihr war, mußten sie ein Stück rennen, um dem Mann einigermaßen einzuholen.
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Hinter dem Ausgang wandte sich der Mann nach links, dem Bahnhof zu. "Hoffentlich fährt er mit dem Zug. Dann können wir leicht bei ihm bleiben", meinte Constanze. Aber er tat ihr den Gefallen nicht. Er durchquerte zwar das Bahnhofsgebäude, aber nur, um den Weg zum Parkhaus abzukürzen. "Das ist mir auch recht", sagte Jason. "Aber einer muß ihn an der Ausfahrt aufhalten, während der andere mein Auto holt; es steht im ersten Stock - an der Seite zum Busparkplatz." "Ich mache das! Gib mir den Parkschein!" Kurz darauf lief Constanze los; zuerst zu dem Parkscheinautomaten, wo sie den Wagen auslöste, dann die Treppe hinauf auf das erste Parkdeck. Es war nahezu belegt, aber Constanze fand den Wagen sofort. Sie beeilte sich, damit zur Ausfahrt zu kommen. Auf der Rampe zum Erdgeschoß mußte Constanze halten; vor der geschlossen Schranke standen vier Wagen im Stau. An der Säule mit dem Einwurfschlitz für die Park- Chips war ein Mann in Uniform offenbar damit beschäftigt herauszufinden, warum die Schrankenautomatik nicht funktionierte. Constanze sah sich um. Wo steckte Jason nur? Da wurde neben ihr die Fahrertür geöffnet. "Rutsch 'rüber. Ich fahre weiter. Es ist der grüne Kombi direkt vor der Schranke." "Wie hast du das mit der Schranke so schnell hingekriegt?“ Jason holte grinsend ein Päckchen Kaugummi aus der bunten Plastiktüte. "Dieses Zeug paßt fast überall hinein. - Und nun sieh bitte im Handschuhfach nach, ob du eine Straßenkarte von dieser Gegend findest." Es ging über Land in Richtung Nordosten. Sie passierten mehrere Ortschaften, die in der Sonne vor sich hin zu dösen schienen. Hölzerne Läden vor den Fenstern hielten die Mittagshitze aus den Häusern fern. Kaum ein Mensch war auf der Straße. Nach einer halben Stunde kamen sie in die erste größere Stadt: Meaux. Der Mann im grünen Kombi fuhr in Richtung Bahnhof, am Bahnhof vorbei und in den Altstadtbereich. In den engen Gassen wurde es schwieriger, dem Wagen unauffällig zu folgen. Jason hielt am Straßenrand und setzte die Sonnenbrille ab. "Traust du dich, ihm ein Stück nachzugehen?" Constanze nickte und stieg aus. Der grüne Kombi holperte gemächlich über das Kopfsteinpflaster; Constanze ging den schmalen Fußweg entlang. Sie brauchte sich nicht einmal sonderlich zu beeilen, um mit dem Wagen Schritt zu halten. Trotzdem war ihr heiß unter ihrer kupferroten Mähne. Aber die Perücke abzusetzen, hätte geheißen, ein Stück Tarnung aufzugeben. Also drückte sie sich nahe an die Fronten der alten, grauen Häuser, um wenigstens einen dürftigen Streifen Schatten zu erwischen. Auf dem Platz vor der Kirche, bei deren Anblick Constanze an eine Notre Dame en miniature denken mußte, hielt der Wagen. Der Mann stieg aus, überquerte mit eiligen Schritten den Platz und betrat dann ein Geschäft. Constanze drückte sich in einen Hauseingang. Sie fühlte das ausgetrocknete, warme Holz der alten Tür in ihrem Rücken. Für einen Moment schloß sie die Augen und atmete tief ein. Es war so schön warm hier in Frankreich; sie liebte diese langen, trockenen Sommer. An fast jedem Morgen, da man aufstand, konnte man sicher sein, daß die Sonne schien und Körper und Seele wärmte.
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Vorsichtig spähte Constanze zu dem Geschäft hinüber, in dem der Mann verschwunden war. Nun kam er wieder heraus. Unter dem Arm trug er ein Baguette und eine Zeitung und in der Hand eine Papiertüte. Er kehrte zu seinem Wagen zurück und setzte sich hinein. Aber er schloß die Fahrzeugtür nicht. Wahrscheinlich saß er hinter dem Steuer, warf einen Blick in die Zeitung und aß einen Happen. Constanze sah auf die Uhr. Es war beinahe zwei. Sie merkte, daß sie selber auch Hunger hatte. Nach zehn Minuten hatte der Mann seine verspätete Mittagspause beendet. Die Fahrertür wurde zugezogen, und der Wagen setzte sich in Bewegung, herunter von dem Kirchplatz und dann holpernd auf das Ende der Gasse zu. Sie fuhren ihm mit einigem Abstand langsam nach. Nun ging es aus dem Stadtkern heraus. Bald fuhren sie eine breite Straße entlang, zu deren beiden Seiten sich Gewerbegrundstücke erstreckten. Der grüne Kombi hatte den Blinker gesetzt. Hinter einem Möbelmarkt bog er nach links ab. Sie folgten ihm. Nach ungefähr 200 Metern fuhr er auf den Parkplatz eines Firmengeländes. Jason fuhr im Schrittempo an der Einfahrt vorbei. "Guy de Lassalle - Kosmetische Produkte", las Constanze laut vor. "Diese Firma verhandelt also mit deinem Schwager, Constanze", sagte Jason. Am Ende der Stichstraße hielten sie kurz an. Dann wendete Jason den Wagen und fuhr langsam zurück bis zu einem Parkplatz am Bahnhof von Meaux. Constanze setzte die Perücke ab und fuhr sich mit beiden Händen durch das blonde Haar. "Mir reicht's jetzt mit der Maskerade!" "Und ich muß telefonieren.“ Damit tippte Jason eine Rufnummer in sein Handy und sagte auf französisch eine geschäftliche Besprechung mit einem gewissen Monsieur Leclerc ab. Danach rief er Marianne Bauer an: Er wies sie an, Informationen über die Firma Guy de Lassalle zu besorgen und bestellte sie für vier Uhr in sein Hotel. Dann ließ er den Motor an. "Und jetzt fahren wir zurück nach Paris", sagte er. "In Ordnung; und auf der Rückfahrt erklärst du mir ausführlich, was hier eigentlich vor sich geht!“ "Bitte erst nach der Rückfahrt, Constanze, im Hotel; es ist nämlich etwas komplizierter, als es scheint.“ "Na schön, aber eines sagst du mir jetzt gleich, und zwar bevor wir losfahren: In welcher Beziehung stehst du zu dieser Marianne Bauer? - Anderenfalls können wir uns gleich hier am Bahnhof voneinander verabschieden; dann nehme ich nämlich den Zug.“ Jason stellte den Motor wieder ab. "Wenn’s unbedingt sein muß ...“ Dann erklärte er ihr, daß Marianne eine Angestellte der Firma VCG, einem Tochterunternehmen der GrieshaberPharma, Wien sei. Dort sei sie die Ansprech partnerin für Constanzes Vater gewesen, als dieser im Frühjahr Venture- Kapital für seine Geschäftsidee im Bereich Pharma gesucht habe. Bereits Anfang Mai habe man die geschäftliche Zusammenarbeit beschlossen. Dann seien jedoch außergewöhnliche Probleme aufgetreten. "Es sind gewisse Daten verschwunden, und VCG hat Marianne beauftragt, in Paris zu recherchieren, wer sie hat und wo sie hingehen.“ "Aha. Und jetzt spioniert sie hinter meinem Schwager her. Und du? Arbeitest du auch für diese Firma?“
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"Nicht direkt; aber ich bin vom Geschäftsführer gebeten worden, Marianne etwas Beistand zu leisten.“ "Beistand?“ Constanzes Miene verdüsterte sich. "Nicht, was du denkst. Marianne und ich arbeiten wirklich nur zusammen.“ Damit lächelte er sein jungenhaftes Lächeln, gab Constanze einen Kuß auf die Wange und startete den Motor. "Na hoffentlich“, murmelte Constanze. Wenn sie etwas ganz und gar nicht leiden konnte, so waren es Dreiecksgeschichten.
Dienstag, 20. Juli ’99, 16.30 Uhr - Paris, Hotel Bristol Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Marianne erwartete sie in der Lobby. Constanze erkannte sie nicht gleich; denn in ihrem weißen Kostüm, dem sorgfältig zur Banane eingeschlagenen Haar und dem ausgefeilten Make up sah sie so ganz anders aus als in ihrer hellblauen Zimmermädchen- Kluft. Ausgesprochen attraktiv, wie Constanze leicht irritiert feststellte. Marianne hatte sich gerade handbemalte Seidentücher angeschaut, die in einer Vitrine ausgestellt waren. "Hi, Jason. Hallo, Constanze." Constanze erwiderte die Begrüßung mit dem unterkühlten Charme eines Eiswürfels. Sie hatte das Gefühl, sich mitten in einem Spiel zu befinden, dessen Regeln sie nicht kannte. Das Mißtrauen stand ihr im Gesicht geschrieben. "Wir fahren gleich nach oben“, sagte Jason und dirigierte die beiden Frauen zum Lift. Zu Jasons Suite gehörte ein großzügiger Wohnraum, dessen Mobiliar und Vorhänge ein angenehmes südfranzösisches Flair verbreiteten. Eine gläserne Tür zum Balkon gab den Blick auf einen üppig blühenden roten Oleander und eine weiß gestrichene, altmodisch verschnörkelte Brüstung frei. "Nehmt bitte Platz“, forderte Jason die beiden Frauen auf; indem er auf eine Sitzgruppe mit Polstermöbeln deutete. Marianne nahm auf einem Sessel Platz, holte mehrere Schriftstücke aus einem ledernen Aktenkoffer und legte sie vor sich auf den Glastisch. Constanze setzte sich in eine Ecke des breiten Sofas und studierte mit scheinbarem Interesse die floralen Fantasiemotive des Bezugsstoffes. Nachdem Jason beim Zimmerservice Tee und Sandwiches für drei Personen bestellt hatte, ließ er sich für ein paar Minuten entschuldigen und verschwand im Raum nebenan. Endlich kam Jason wieder; offensichtlich frisch geduscht und umgezogen und mit diesem jungenhaften Gesichtsausdruck, den Constanze so anziehend fand. Er wartete ab, bis der Imbiß serviert worden war. Dann stellte er sich, die Teetasse in der Hand, neben Marianne und warf einen Blick auf die Papiere. Seine Miene war ernst. "Ist das alles, was Sie über diesen de Lassalle erfahren haben?“ Marianne nickte: "Ja. Seine Firma gehört zur Bernard- Gruppe; das ist ein Mischkonzern, der unter anderem auch pharmazeutische Produkte entwickelt und
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vertreibt - vor allem mit Partnern in Südostasien. Hier ist eine Liste: Seine Aphrodisiaka sind ziemlich bekannt, glaube ich. "Und was stellt unser Franzose her?“ "Unser Franzose entwickelt Produkte, die in der Schönheits- Chirurgie zur Verzögerung der Hautalterung eingesetzt werden.“ "Das paßt ja alles gut zusammen - findest du nicht auch, Constanze?“ Jason schenkte sich eine zweite Tasse Tee ein, dann setzte er sich zu Constanze auf das breite Sofa und sah sie fragend an. Constanze hatte bisher einigermaßen gelangweilt mit der roten Perücke gespielt. "Was fragst du mich das?“ gab sie nun zurück. "Ich kann mir durchaus einen Reim darauf machen, aber ich möchte jetzt zuerst einmal wissen, was ihr beide sonst noch so wißt!" "Also gut“, sagte er ernst, "zuerst zur Sachlage: Anfang Mai wurde, wie ich dir schon sagte, das Geschäft in Wien zwischen deinem Vater und VCG perfekt gemacht. Allerdings gab es dann einen unangenehmen Zwischenfall.“ "Das weiß ich“, sagte Constanze tonlos. "Mein Vater ist gestorben.“ "So würde ich das nicht gerade bezeichnen, Constanze.“ Jason macht eine Pause. Dann sagte er langsam: "Es wurde ein Mordanschlag auf ihn verübt, vielleicht mit dem Ziel, den Vertragsabschluß zu verhindern, aber wohl eher, um an seine Forschungsunterlagen heranzukommen.“ "Wie kommst du denn darauf, daß es ein Anschlag gewesen sein soll?“ Constanze legte die Perücke auf der Sofalehne ab. "Wir haben die Medikamente analysieren lassen, die dein Vater täglich einnahm; es ist daran manipuliert worden.“ "Was?“ Sie sah ihn ungläubig an. "Ja, an diesen Kapseln - sowohl an denen, die dein Vater in Wien bei sich hatte als auch an der einen, die in seinem Labor gefunden wurde. Deine Mutter hat uns seine Aktentasche zukommen lassen - ein und dasselbe Ergebnis!“ Constanze fiel die Situation im Labor wieder ein, als sie und Herr Wiegand Vaters Habseligkeiten zusammengesucht hatten. Sie fing an, laut zu überlegen: "Das heißt, jemand hat die Kapseln, die normalerweise in der Packung sind, gegen andere ausgetauscht? - Aber das hätte mein Vater doch wohl gemerkt oder?“ "Nein, nein, er ist geschickter vorgegangen“, korrigierte Marianne. "Er hat die Kapseln an sich genommen und an einem ruhigen Ort mit einem anderen Stoff gefüllt, und zwar so fachmännisch, daß es äußerlich so gut wie gar nicht auffiel.“ Constanze schüttelte den Kopf. "Ich kann mir nicht vorstellen, wie ...“ "Trink ‘mal eine Tasse Tee, Constanze; es gibt noch ein paar Dinge, die du nicht weißt.“ Constanze wehrte ab. "Nein, nein, ich will erst alles hören!“ "Also es wird vermutet, daß Ihr Schwager hinter den Anschlägen stecken könnte und daß er eine wichtige Datei gestohlen haben könnte, die er jetzt bei Lassalle zu Geld zu machen versucht“, sagte Marianne. Constanze nickte: "Es gab einen Einbruch Anfang Mai ... und die Diskette mit den pflanzenkartographischen Daten ist jetzt in seinem Besitz, das weiß ich sicher.“ "Sie haben sich Auszüge davon in seinem Hotelzimmer angesehen, stimmt’ s?“ "Allerdings. Und nicht nur angesehen. Ich habe mir ein kleines Souvenier mitgenommen!“ Jason sah sie anerkennend an. "Ach, das haben wir gar nicht gemerkt.“
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"Er hoffentlich auch nicht, sonst kriegt Marianne als Zimmermädchen wohl noch Ärger mit ihm.“ Constanze trank nun doch einen Schluck Tee. "Woher wußtet ihr überhaupt, daß sich Thomas Fahrenholt in Paris aufhält?“ "Reiner Zufall“, antwortete Marianne. Dann erzählte sie, wie sie als Kundin in Sonjas Schönheitsinstitut von Fahrenholts Reiseplänen erfahren hatte. "Sie haben Sonja also auch bespitzelt“, stellte Constanze fest. "Mich etwa auch?“ "Nur in Fahrenholts Hotel“, sagte Marianne mit einem entschuldigenden Lächeln, "und auch nur, weil ich nicht wußte, daß Sie es waren; ich hatte bis dahin kein aktuelles Foto von Ihnen gesehen.“ Constanze atmete tief durch. "Das war’s dann wohl für euch; gebt ihr den Fall morgen an die Polizei ab?“ Marianne und Jason wechselten einen Blick. Dann antwortete Jason: "Ich werde heute abend den neuesten Stand der Dinge per Telefon nach Wien durchgeben. Die Entscheidung trifft dann dein Vater.“ Bevor Constanze irgend etwas sagen konnte, fügte er hinzu: "Er hatte Glück im Mai - er hat den Mordanschlag überlebt.“
Dienstag, 20. Juli. ‘99, 18.00 Uhr - Paris, Hotel Bristol Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Marianne war gegangen. Constanze hatte eine Weile gebraucht, um den Schock der Nachricht zu verdauen. Aber dann hatte sie sich kurzerhand von Jason die Telefonnummer in Wien geben lassen und vom Apparat in der Hotel- Suite aus dort angerufen. Das Gespräch mit ihrem Vater hatte über eine halbe Stunde gedauert, und Constanze hatte die ganze Zeit über das Gefühl gehabt, als stünde sie neben ihm in seinem Labor und ließe sich sein Vorgehen bei einer seiner Analysen erklären. Es war ein gutes Gefühl gewesen, ein Gefühl der Sicherheit und grenzenlosen Erleichterung. Er war ihr keine Antwort schuldig geblieben, und sie konnte die Gründe seines Handelns akzeptieren. Wie er ihr gestand, hatte er schon seit Anfang des Jahres den Verdacht gehegt, daß jemand versuchte, an Daten seines Südamerika- Projektes heranzukommen. Sowohl in der Firma als auch privat sei er sich manchmal ausgehorcht vorgekommen. Aber erst Carlos’ plötzlicher Tod habe ihn richtig wachsam werden lassen. "Ich habe zum Beispiel vor jeder Fahrt mit dem Auto heimlich die Bremsen kontrolliert. Außerdem habe ich durch einen Privatdetektiv Erkundigungen über einen ehemaligen Mitarbeiter im Werk einziehen lassen.“ Dieser Mann heiße Sievers, sei sein Laborleiter gewesen und habe fest damit gerechnet, sein Nachfolger in der Firma zu werden, als er damals in Ruhestand gegangen sei. Sievers habe die Position jedoch nicht bekommen, da der jüngste Sohn des Senior- Chefs schon lange dafür vorgesehen gewesen sei. Sievers aber sei irrigerweise davon überzeugt gewesen, daß Petersen ihm damals den Karriereschritt absichtlich verbaut habe. "Sievers haßt mich. Und er hätte Zugriff auf meine Daten im Labor gehabt, obwohl er inzwischen aus der Firma ausgeschieden ist: Sein Schwiegersohn ist nämlich der neue, junge Systemadministrator der 'Hansa- Margarinewerke'.“
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Angesichts dessen habe er darauf verzichtet, entsprechende Daten auf der Festplatte des Labor- Computers abzuspeichern. Und seine Sicherungs- Disketten seien in seinem eigenen Safe zu Hause deponiert gewesen, während er sich mit seinem Business- Plan und einer Demo- Version seiner Arbeiten auf den Weg nach Wien gemacht habe. Dort sei ihm plötzlich, als er von dem Einbruch zu Hause erfahren habe, etwas bewußt geworden: Wer ihm tatsächlich nach dem Leben trachtete, hatte mehr als eine Möglichkeit, ihn aus dem Wege räumen. Manipulation an einem Fahrzeug war nur eine davon; und er gehörte zu den Menschen, die täglich Medikamente einnahmen! Als es ihm während einer Fahrt mit dem Riesenrad im Prater körperlich sehr schlecht gegangen sei, habe er sich unverzüglich in ärztliche Behandlung begeben. Und am Tag danach habe er seine neuen Geschäftspartner immerhin vom Fach - gebeten, sein Medikament zu analysieren. "Das Ergebnis kennst du wahrscheinlich; Frau Bauer wird es dir mitgeteilt haben. Tja, angesichts dieser Umstände haben wir es für klug gehalten, mich pro forma sterben zu lassen, Constanze. Nun kann ich ganz in Ruhe herausfinden, wer es auf mich und auf Carlos’ und mein Wissen abgesehen hat. - Es tut mir aufrichtig leid, daß ich dich nicht einweihen konnte, Kind, aber es war einfach zu riskant. Nur deine Mutter wußte seit Wien Bescheid.“ Constanze hatte lächeln müssen, als er das gesagt hatte. Mutter und ihr Computer- Kurs! Damit war sie also nur angefangen, um sich jede Nacht klammheimlich mit Vater E- mails zuschicken zu können! Constanze konnte ihren Vater sehr gut verstehen; sie trug ihm überhaupt nichts nach. Der Haken war nur, daß ihr Schwager Thomas Fahrenholt irgendwie nicht so ganz in diese, wenn auch plausible, Konstruktion hineinpaßte. Und der hatte immerhin im Moment die Daten aus Carlos’ Datei! Ob sich da zwei gefunden hatten, die ihren Vater gerne losgewesen wären? "Wie soll es jetzt weitergehen?“ hatte sie ihren Vater gefragt. Er hatte ihr gesagt, daß er innerhalb der Woche einen neuen Bericht des Privatdetektivs erwarte, der zur Zeit dabei sei, das aktuelle private Umfeld von Sievers auszuleuchten. Und Constanze hatte ihm von Thomas’ Lüge über die psychisch kranke Schwester erzählt, von dem Scheck, den er Sonja schon im Herbst abgeluchst hatte. "Ich möchte einfach noch ein bißchen mehr über ihn wissen, Vater“ hatte sie gesagt, "ihm traue ich nämlich noch einiges mehr zu.- Zieh du doch weitere Erkundigungen über diesen Sievers und seine Dynastie ein - ich kümmere mich hier um meinen bestimmt nicht ganz sauberen Schwager.“ Und davon hatte sie sich von ihm auch nicht mehr abbringen lassen. Jason hatte nur kurz mit Constanzes Vater gesprochen. "Dein Vater ist nicht davon begeistert, daß du deinem Schwager noch weiter nachspionieren willst, Constanze“, sagte er, als er den Hörer aufgelegt hatte. "Kann ich mir denken", antwortete sie. "Väter wollen ihre Töchter immer in Sicherheit wissen. Aber ich kann schon auf mich aufpassen.“ "Ich weiß. Aber ich habe das Gefühl, daß du bereit bist, ziemlich weit zu gehen. Du hast diesen Kerl schon länger im Visier.“
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Constanze machte es sich auf dem Sofa bequem, dann sah sie Jason ins Gesicht. “Das hast du vollkommen richtig erkannt. Diese Ratte unterminiert seit ungefähr einem Jahr meine Familie. Meine Schwester ist zu blöd, um das zu merken, meine Mutter ist zu schwach, um sich zu wehren. Und unsere Haushälterin, die es sehr wohl gemerkt hat und die sich sehr wohl wehrt, ist nicht berechtigt, ihm das Handwerk zu legen. Glaubst du, da sehe ich untätig zu und lasse ihn triumphieren?“ Jason kräuselte die Stirn. "Und dein Vater?“ fragte er ernst. "Mein Vater“, Constanze machte eine Pause, "ist erstens ein sehr beschäftigter Mann, der seine Zeit mit wissenschaftlich wichtigen Dingen verbringt und zweitens jemand, der seine Köder ohne großes Aufsehen auslegt. Der gibt sich mit so einem nicht in lapidaren Gesprächen ab.“ "Ihr wollt ihn also kriegen.“ "Allerdings. Und wir werden ihn kriegen. Darauf kannst du dich verlassen.“ Jason sah ihr an, daß sie es ernst meinte. Er sagte nichts. Er setzte sich auf einen der Sesseln und vertiefte sich in die Unterlagen, die Marianne dagelassen hatte. Nach einer Weile stand Jason auf, öffnete die Tür zum Balkon und trat hinaus. Es war ein milder Sommerabend; von der Straße drang nur wenig Lärm herauf. Constanze ging Jason bis zur Balkontür nach und streckte den Kopf nach draußen. "Stark! Ich kann von hier aus den Triumphbogen sehen.“ "Wenn du rauskommst, siehst du ihn noch besser.“ Constanze verspürte große Lust, sich für eine Weile auf den Balkon zu setzen und die Abendluft zu genießen. Sie fühlte sich ungewohnt befreit, seitdem sie mit Wien telefoniert hatte. Andererseits waren Balkone jenseits der ersten Etage nicht unbedingt ihr Fall, und hier befanden sie sich immerhin im dritten Stock. "Ach, das muß jetzt nicht sein, Jason. Viel dringender wäre jetzt ein Anruf in meiner Ein- Sterne- Herberge; da weiß nämlich kein Mensch, wo ich heute war und jetzt bin.“ "Also deine Freundin wird sich denken, daß du bei mir bist, Constanze. Und jetzt komm doch bitte ‘mal kurz ‘raus!“ "Wenn’s unbedingt sein muß ...“ Damit tat Constanze einen Schritt auf den Balkon hinaus. Vorsichtig spähte sie über die Balkonbrüstung hinweg. "Was gibt’s denn da so Aufregendes?“ "Die Gesamtaussicht. Sieh dir doch ‘mal alles richtig an!“ Constanze schluckte. Langsam ging sie auf die Balkonbrüstung zu, vermied es aber peinlichst, sich, wie Jason es tat, dort anzulehnen. Sie mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu schreien, als sie nach unten auf die Straße sah: Soeben fuhr unten ein opulent geschmückter Leichenwagen vorbei. Sie zuckte zusammen, trat einen Schritt zurück und sah Jason angeekelt an. "Bist du verrückt? Du weißt doch ganz genau, daß ich diese Höhenangst habe - und dann läßt du mich so ‘was ansehen?!“ Er sah ihr voll ins Gesicht. "Ja, genau deshalb, Constanze. Ich will, daß du siehst, wo du dich überschätzt. Ich will, daß du siehst, wo dein Schwachpunkt ist. Wenn ich mir vorstelle, daß du diesem Thomas Fahrenholt hinterherspionierst, und er lockt dich auf den Triumphbogen, auf den Eiffelturm, auf einen Balkon im dritten Stock ...“ Sie sagte nichts. Sie wußte nur zu gut, daß er recht hatte.
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Jasons Handy meldete eine SMS: Marianne bat um einen Rückruf. Kurz darauf berichtete sie am Telefon darüber, in ihrer Funktion als Zimmermädchen zwei von Ingo Wolf geschriebene Ansichtskarten gefunden zu haben. Die erste war an eine Frau Carola Sperber, Hamburg gerichtet; seine Grüße gingen an sie und an „die anderen Karbolmäuschen“. Die zweite war an einen Fitness- Club in Hamburg adressiert; er grüßte das "Samstags- Team“, schwärmte von einem Nachtclub und bedauerte, daß gewisse drei Damen gefehlt hätten: Caro, Lita und Sabrina. "Der Postleitzahl nach könnte es der Fitness- Club in Schnelsen sein, in dem Thomas früher mit Ingo trainiert hat“, meinte Constanze dazu." Von den genannten Frauen kannte sie keine einzige. "So, und jetzt will ich in mein Hotel.“ Constanze stand schon an der Zimmertür. "Es ist noch nicht einmal acht Uhr, und wir hatten noch kein Abendessen“, wandte Jason ein. "Ich habe sowieso keinen Hunger. Was ich brauche, ist ein heißes Bad.“ "Ich könnte dir da etwas bieten - sofern du überhaupt noch bereit bist, dir die Räumlichkeiten anzusehen ...“ Jason kam langsam auf sie zu und lächelte sein jungenhaftes Lächeln, das sie an ihm so liebte. "Ich habe selber ein Hotel, und dort gibt es auch ein Bad - wenn auch auf dem Flur“, entgegnete sie. Er stand nun ganz dicht vor ihr. Seine Lippen berührten sanft ihren Mund, ihre Wange, ihr Ohr. "Nirgendwo in dieser Stadt wirst du ein Bad finden, in dem dein Körper so gut aufgehoben ist wie hier“, flüsterte er; "lauter Glas und Marmor und ein Pool für zwei.“ "Jason!“ Ihr Ton war ungehalten. Seine Hände fuhren sanft durch ihr Haar. Er küßte zärtlich ihren Hals. "Constanze, ich möchte, daß du heute nacht bei mir bleibst“, flüsterte er. "Und morgen früh läßt du mich allein mit der Ratte auf einem Balkon zurück“, sagte sie zynisch. Er sah sie ernst an. "Du weißt genau, daß ich dir nur helfen wollte.“ Constanze sah ihn auch an. "Du brauchst mir aber nicht zu helfen, Jason. Du kannst es auch gar nicht. Das ist allein meine Sache!“ Er nickte: "Also gut.“ Dann lächelte er wieder, und Constanze fühlte sich wie gefangen. Er hatte den Gesichtsausdruck eines kleinen Jungen, der soeben dabei ist, seiner Spielkameradin den geheimen Weg zu einem Apfelhof zu verraten. Constanze fühlte, daß sie auf dem besten Wege war nachzugeben. Sie begehrte ihn wie keinen Mann zuvor. Es kostete sie Überwindung, ihren kühlen Ton beizubehalten, als sie sagte: "Es ist in Ordnung, Jason.“ "Möchtest du dir das Bad nicht doch wenigstens ansehen? Vielleicht gefällt es dir ja.“ Wieder lächelte er. "Ja, vielleicht“, sagte sie betont ernst. “Aber das heißt noch nicht, daß ich hierbleibe.“ "In Ordnung.“ Damit ging Jason hinüber zu dem antiken Schreibtisch und blätterte in seinem Terminplaner. Constanze öffnete inzwischen die Tür zum Bad und warf einen Blick hinein. Was sie sah, war ein einziger Traum aus Glas und Chrom und rosafarbenem Marmor wie geschaffen für ein ausgiebiges Schaumbad zu zweit! Als sie die Tür schon wieder zuziehen wollte, nahm sie ihn plötzlich wieder wahr, diesen Duft nach den grünen Blättern dieser tropischen Pflanze, deren Namen sie
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vergessen hatte. Sie hielt inne. Carlos fiel ihr wieder ein. Für für einen Moment schloß Constanze die Augen. Doch dann riß sie sich von der Erinnerung los. "Es sieht traumhaft aus", sagte sie mehr zu sich selbst als zu Jason, "aber es duftet nach Dschungel." "Nach Dschungel?!" fragte Jason, als hätte er sich verhört. "Ja, nach einer ganz bestimmten Pflanze." "Na, dann gieß meinetwegen eine ganze Flasche deines Lieblingsparfums ins Badewasser!" Damit griff er zum Telefonhörer. "Der Zimmerservice kann es dir heraufbringen!" "Nein, Jason!" Constanze schüttelte vehement den Kopf. Sie ging auf ihn zu, schlang ihre Arme um seinen Hals und sah ihn ernst an. "Du hast mich falsch verstanden", sagte sie leise. "Ich mag diesen Duft, Jason! Sehr sogar! Aber er erinnert mich auch an meine Zeit in Brasilien." Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust und schloß die Augen. Zu spät fiel ihr ein, daß der Rest ihrer ohnehin schon ziemlich verwischten Wimperntusche wahrscheinlich soeben sein weißes Polohemd ruinierte. Er achtete nicht darauf. Er sagte nach einer Weile: "Ich glaube, ich verstehe, was du meinst." Constanze sagte darauf nichts. Sie war davon überzeugt, daß er sie gar nicht verstehen konnte - dazu wußte er viel zu wenig über sie. Aber das zu ändern, war zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht notwendig. Und wenn sie jetzt mit langen Erklärungen anfinge, dann würde er sehr schnell glauben, daß sie nur das oberflächliche Abenteuer mit ihm suchte, um Carlos endlich zu vergessen! Und das allein war es doch nicht – wenn es das überhaupt noch war! Sie standen einfach da. Er hielt sie in den Armen. Constanze rührte sich nicht. Sie wartete ab, was geschehen würde. Irgendwann zog er sein Polohemd aus, und sie schmiegte sich dicht an seinen warmen, sonnengebräunten Oberkörper. Jason war körperlich mindestens so gut durchtrainiert wie Bertram Wilde zu seinen besten Surf- Zeiten. Und er war mental sehr stark, das spürte Constanze ganz deutlich. Seine Nähe tat ihr unglaublich gut. Irgenwann begannen seine Lippen, zärtlich jede Stelle ihres Halses mit Küssen bedeckten, dann glitten seine Hände behutsam unter ihr T- Shirt und liebkosten ihre Brüste. Constanze genoß jede Sekunde seiner Berührungen, und sie wußte genau, daß sie ihm an diesem Abend gar nicht mehr widerstehen wollte. Irgendwann war sie es, die den Knopf seiner Jeans öffnete und den Reißverschluß ganz langsam herunterzog.
Mittwoch, 21. Juli ‘99, 8.50 Uhr - Paris, Hotel Bristol Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Constanzes blinzelte. Sonnenstrahlen schienen durch das hohe Fenster direkt in ihr Gesicht. Jemand hatte die geblümten Vorhänge zur Seite gezogen. Sie lag allein in dem breiten französischen Bett. Sie lauschte. Aus dem Salon war Jasons gedämpfte Stimme zu hören. Offenbar telefonierte er. Constanze nahm ihre Uhr vom Nachttisch: zehn vor neun schon.
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Abrupt setzte sie sich auf. Was stand überhaupt für heute auf dem Exkursions- Programm? Keine Ahnung! Am besten, sie riefe Frederike an, und zwar noch vor dem Frühstück! Sie schlüpfte aus dem Bett und öffnete die Tür zum Salon einen Spalt breit. Jason stand im Bademantel vor der geöffneten Balkontür; er hatte soeben sein Telefonat beendet. Als er Constanze bemerkte, kam er zurück ins Schlafzimmer. Er machte ein zerknirschtes Gesicht. "Oh, jetzt habe ich dich durch das Telefonieren geweckt - Dabei wollte ich dich eigentlich wachküssen. Kannst du mir verzeihen?“ Sie schlang ihre Arme um seinen Hals. "Wie wäre es mit einer kleinen Wiedergutmachung vor dem Frühstück?“ Ihr Kuß war voller Leidenschaft. "Ein Glück, daß ich meine geschäftliche Besprechung gerade eben auf heute nachmittag verlegt habe“, flüsterte er atemlos. "Du machst mich verrückt, Darling.“ Dann trug er sie zu dem breiten Bett hinüber. Gegen zehn Uhr rief Constanze Frederike über deren Handy- Nummer an. Wie sie erfuhr, hatte sie am Dienstag die ganztägige Mammut- Tour durch den Louvre verpaßt; in den Augen der Frau Professorin sicher ein unverzeihliches Versäumnis, fehlte ihr doch nun ein beachtliches Stück kunstgeschichtlicher Bildung. Für heute stand - sozusagen als Kontrast - das ehemalige Künstlerviertel Montmartre auf dem Programm. Man würde zunächst zu der schneeweißen Basilika von Sacré Coeur aufsteigen und nach deren Besichtigung einen ausgedehnten Spaziergang durch das Viertel machen. Sicher würde es herrlich sein, im Sonnenschein auf dem Vorplatz mit den breiten Treppen zu sitzen und den Blick über die Stadt zu genießen! Constanze konnte es sich lebhaft vorstellen. Am liebsten hätte sie die Tour in Jasons Gesellschaft gemacht, aber der mußte um zwei Uhr seinen geschäftlichen Termin wahrnehmen. Zweimal hatte er ihn schon verschoben, ein drittesmal wäre ein Affront gewesen. Man könnte sich auch malen lassen, fiel Constanze ein. Bestimmt rissen sich unzählige Porträtmaler an der Place du Tertre darum, hübsche Touristinnen auf die Staffelei zu bannen! "Dein Kaffee wird ganz kalt, Darling. Träumst du?" Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf: "Nein, ich habe nur nachgedacht ..." Sie saßen über einem opulenten Frühstück in Jasons Suite. Constanze trug Jasons flauschigen, dunkelgrünen Frottier- Bademantel; er hatte den gleichen Farbton wie ihr Lieblingssessel zu Hause. "Ich glaube, ich werde nicht mit nach Montmartre fahren, sondern Vater noch einmal anrufen. Vielleicht hat sich der Privatdetektiv schon wieder gemeldet.“ Constanze trank einen Schluck Kaffee. "Sag' 'mal, wer ist eigentlich Leclerc?“ "Leclerc?“ Jason schenkte sich ein zweites Glas Orangensaft ein. „Insider nennen ihn ‘Le nez’ - ‘die Nase‘; er ist ein Mann von höchster Kompetenz.“ "Heißt das, er komponiert Düfte?“ "Ja, und zwar für sehr wenige exclusive Kunden. Er ist grandios und fast unbezahlbar. Meine Firma hat ihn jetzt zum erstenmal für ein Projekt gewinnen können - deshalb muß ich ihn hier treffen.“ "Und ich dachte immer, solche Leute gäbe es nur in der Provence, da wo der Lavendel auf ganzen Feldern wächst.“
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"Sein richtiger Arbeitsort liegt in der Nähe von Grasse; nach Paris ist er nur für ein paar Tage gekommen.“ Bei den Stichwort fiel Constanze ein, daß sie gar nicht wußte, wie lange ihr Schwager und seine beiden Freunde überhaupt in Paris bleiben würden. Jason war jedoch informiert. "Marianne hat gesagt, daß ihre Abreise für den kommenden Montag geplant ist - wahrscheinlich wegen der Tour de France. Am Sonntag findet doch das Finale auf den Champs Elysées statt. Das wollen sie sich bestimmt nicht entgehen lassen." "Hm. Ist sicher ein Erlebnis. Außerdem kann Thomas auch gleich in seinem Fitness- Club damit angeben - nach dem Motto: 'Ihr müßt euch das im Fernsehen angucken, aber ich kann es mir live leisten.'“ Vielleicht machte er daraus sogar eine größere Sache, beispielsweise in Form eines Interviews für diese Club- Postille! "Ziemlicher Angeber, was?" "Das kannst du laut sagen. Er brüstet sich ausgesprochen gerne in der Öffentlichkeit - und zwar am liebsten auf Kosten anderer." Ihr fiel die peinliche Szene auf dem Standesamt ein. Automatisch raufte sie sich das Haar. "Auch auf deine Kosten?" Jason sah sie forschend an. "Weniger. Ich habe den Kontakt zu ihm gemieden, wo ich konnte. Aber das, was ich mitbekommen habe, hat mir gereicht." "Warum hat deine Schwester ihn überhaupt geheiratet?" Constanze zuckte mit den Schultern. "Ich glaube, sie ist seinem Charme erlegen. Und als sie dann erst mit ihm zusammen war, wollte sie ihn nicht wieder aufgeben. Für sie als Geschäftsfrau ist es von Vorteil, wenn sie einen gutaussehenden Mann an ihrer Seite präsentieren kann. Außerdem hat sie drei kleine Kinder. Vielleicht hat sie geglaubt, er würde sich in die Vaterrolle hineinfinden ..." "Hat er das?" Constanze schüttelte entschieden den Kopf. "Nein. Ganz und gar nicht. Er ist gemein zu ihren Kindern." Sie rührte langsam in ihrem Schälchen mit Joghurt. "Und stell' dir vor: Trotzdem hält sie zu ihm!" Jason runzelte die Stirn, enthielt sich aber eines Kommentars. Stattdessen fragte er: "Wie haben sich die beiden eigentlich kennengelernt?" "Durch einen Versicherungsschaden in ihrem Geschäft: Eine Vitrine war zu Bruch gegangen, und er hat den Schaden vor Ort aufgenommen." Nach dem Frühstück rief Constanze in Wien an. Es gab tatsächlich neue Informationen. Vaters Detektiv hatte herausgefunden, daß der ehemalige Laborleiter Sievers eine Schwester hatte, die selbständige Apothekerin in Hamburg- Harburg war. Sievers selbst befand sich zusammen mit seiner Ehefrau seit vier Wochen auf einer Reise durch die U.S.A. - Westküste, und zwar per Wohnmobil. Constanze sah Jason einigermaßen rat los an: Irgendwie paßte es, aber irgendwie paßte es doch nicht so recht. Kurz darauf schickte auch noch Marianne eine SMS. Als Constanze sie im Hotel anrief, erfuhr sie auch dort eine Neuigkeit. Für Thomas Fahrenholt war an der Hotel- Rezeption eine schriftliche Nachricht hinterlegt worden: "Treffen am Donnerstag, 12.30 Uhr, Versailles, Balustrade zur Orangerie". Es ging also weiter. "Dann weiß ich ja, was ich morgen nachmittag machen werde", sagte Constanze trocken.
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Jason runzelte die Stirn. "Sag jetzt nichts!“ kam es von Constanze. "Heute fahre ich sowieso nur nach Montmartre.“ Es zog sie unwiderstehlich ins Freie. Das Wetter war ausgezeichnet, sie fühlte sich fantastisch, und ein Stück Paris wollte heute noch von ihr erobert werden. "Ich schaue mir doch noch Sacré Coeur an. Ich brauche Bewegung. Mir fehlen meine Skating- Touren." "Verstehe.“ Jason gab ihr einen langen Kuß. "Um sechs hole ich dich aus deinem Hotel ab - samt Koffer. Ich halte es für sicherer, wenn du hier wohnst." "Wieso sicherer? Thomas weiß doch gar nicht, daß ich in der Stadt bin." Jason überlegte. "Hast du schon irgend jemandem in Hamburg eine Ansichtskarte geschickt?" fragte er dann. "Nein, ich bin noch gar nicht dazu gekommen ..." "Das ist auch gut so. Schreib vorerst lieber nicht; auch nicht deinen Kollegen in der Firma.“
Mittwoch, 21. Juli ‘99, 8.50 Uhr - Paris, eine Galerie am Boulevard St- Germain Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
An diesem Tag konnte Monsieur Luc seinem Kunden endlich die gewünschte Auskunft erteilen. "Freitag, den 23., Monsieur, ab 20.00 Uhr in demselben Hotel wie immer. Es wird alles vorbereitet sein. Sie können sich darauf verlassen."
Mittwoch, 21.Juli ’99 , vormittags - Westerland/ Sylt Während Jason Philipps mit seinem Geschäftspartner in die Welt der Parfums eintauchte und Constanze in der Allée des Brouillards das Flair vergangener Zeiten genoß, besuchte ihre Schwester Sonja eine Vernissage in Westerland. Eine kleine Galerie präsentierte Aquarelle einer jungen Künstlerin, die auf der Insel lebte und arbeitete. Sonja gefielen die Landschaften in zarten Pastelltönen so gut, daß sie überlegte, ob sie einige davon für ihre neuen Geschäftsräume erwerben sollte. "Kennen wir uns nicht, schöne Frau?" Sonja sah zur Seite. Neben ihr stand ein gutaussehender Mittdreißiger in lederner Motorradkluft. Er lächelte sie an. Sie stutzte. Sie kannte ihn tatsächlich irgendwoher... Er stellte sich mit Bertram Wilde, Architekt aus Hamburg, vor. "Sind Sie der Bertram Wilde, mit dem meine Schwester ...? Er war es. Er hatte sich für ein paar Tage zum Brandungssurfen auf der Insel aufgehalten; noch heute abend sollte es zurück nach Hamburg gehen. "Sie mögen Ihr Geschäft wohl auch nicht länger als drei Tage aus den Augen lassen?" fragte Sonja mit dem Verständnis der Geschäftsfrau.
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Nein, das sei es nicht gerade, erwiderte er. Aber er sei für die erste Maschine am Donnerstag früh nach Paris gebucht. "Ein kleiner Wochenend- Trip, verstehen Sie? Am Sonntag endet die Tour de France in Paris, ein Riesenspektakel!" "Verstehe. Mein Mann ist auch mit ein paar Freunden hingefahren." "Na, dann kommen Sie doch einfach mit! Vielleicht wird es ein amüsantes Familientreffen", meinte er aufgekratzt. "Ich lade Sie ein. - Und jetzt hole ich uns ein Glas Sekt." Sonja ging das viel zu schnell. Charmant lächelnd, aber kühl sagte sie, daß sie sich auf der Insel aufhalte, um eine Geschäftseröffnung in Kampen vorzubereiten, also um zu arbeiten. Er schien sich damit abzufinden. "Schade", meinte er, "Sie sind genauso zielstrebig wie Ihre Schwester. Ein Wunder nur, daß Constanze sich überhaupt ihren Urlaub gegönnt hat! - Soll ich sie morgen von Ihnen grüßen?" "Wieso, ich denke, Sie fliegen morgen nach Paris?" stutzte Sonja. Sie hatte gerade überlegt, ab welcher Anzahl von Bildern die Malerin wohl Mengenrabatt gewähren würde. "Ja, meine Liebe", antwortete Bertram Wilde geduldig, "dort werde ich sie ja auch treffen. - Und jetzt hole ich uns doch ein Glas Sekt." Noch ehe Sonja nachfragen konnte, war er zwischen den mittlerweile zahlreichen Gästen verschwunden. Stattdessen kam die Galeristin in Begleitung der Künstlerin auf Sonja zu. Man wolle einander doch sicherlich kennenlernen?!
Mittwoch, 21. Juli '99, abends - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Gegen Abend war Constanze unauffällig aus dem einen Hotel aus- und in das andere eingezogen. Nur für Alexandra hinterließ sie eine Nachricht auf dem Zimmer. Um acht Uhr saß sie mit Jason, Frederike und Georg in einem kleinen, sehr schönen Restaurant ganz in der Nähe der Place de l' Etoile. Sie aßen Meeresfrüchte, die Spezialität des Hauses. Zusammen mit dem Nachtisch präsentierte Constanze den Freunden die Geschichte um die gestohlene ZIP- Diskette und die Rolle, die ihr Schwager möglicherweise in dieser Angelegenheit spielte. Sie bemühte sich, möglichst sachlich zu erzählen. Als Constanze bemerkte, daß Frederike sie wie gebannt ansah und über dem Zuhören völlig ihre Tarte au chocolat vergaß, meldete sich ein Anflug schlechten Gewissens. Ihr war ganz und gar nicht wohl bei dem Gedanken, daß sie Frederike, mit der sie nun schon ihr halbes Leben lang eng befreundet war, auch an diesem Abend noch etwas Wichtiges verheimlichte. Aber da war auch das Gefühl, daß es für Vater sicherer wäre, wenn sie vorerst noch nicht preisgab, daß er den Anschlag überlebt hatte. Frederike und Georg unterbrachen sie mit keinem Wort. Georg knetete mit der rechten Hand fortwährend sein Kinn, wobei sich seine Miene zunehmend verdüsterte. Vermutlich fielen ihm haufenweise Lebensläufe von Gangstern ein, über die seine Berufskollegen tagtäglich in den Medien berichteten.
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Jetzt schüttelte er den Kopf. "Unglaublich! Es passiert gleich nebenan, und du merkst absolut nichts davon." "Und ich stehe neben diesem Kerl auf dem Eiffelturm und ahne nicht, wer er ist!“ Damit spießte Frederike energisch mit der Dessertgabel ein Stückchen ihrer Süßspeise auf. "Hättest du mir bloß vorher ‘mal ein Hochzeitsfoto gezeigt, Constanze!“ Constanze winkte ab. "Die Fotos habe ich mir selber gar nicht angesehen - so unerfreulich, wie die Trauung damals gewesen ist!“ "Aber wir haben hier durchaus die Chance, ihn zu fassen", sagte Jason. "Und da er höchstwahrscheinlich nicht ahnt, daß er beobachtet wird, werden wir ihn selber weiterhin verfolgen. Morgen fahren wir nach Versailles." "Wieso ‘wir’?“ Constanze sah ihn überrascht an. "Du hast doch deine eigenen Geschäfte zu erledigen; Thomas Fahrenholt ist meine Sache.“ "Constanze, das sehe ich etwas anders“, wandte Jason vorsichtig ein. "Eine große Anlage", gab Georg zu bedenken. "Das wird anstrengend, Constanze! Und es wird ihm auffallen, wenn du ihm durch das ganze Schloß oder durch den ganzen Garten folgst.“ "Könnten wir das nicht gemeinsam machen - sozusagen in Arbeitsteilung?“ schlug Frederike vor. "Also ich übernehme morgen auf jeden Fall zeitweise die Beobachtung“, erklärte Georg. "Ich bringe nämlich den Vorteil mit, daß er mich nicht kennt." Ein Argument, das durchaus bestach. "Aber dann will ich auch mit.“ "Kommt gar nicht in Frage, Frau Ravens“, protestierte Georg. "Der Mann kennt dich, und deine rote Lockenpracht hat ihm neulich auf dem Eiffelturm schon gefallen!" "Na und? Warum sollen sich nicht zwei Paris- Touristen zweimal begegnen? Alle klappern doch dieselben Sehenswürdigkeiten ab!" "Ja, schon. Aber ... " Constanze verzog das Gesicht. "... mir ist bei dem Gedanken, daß er dich noch einmal anmacht, auch nicht wohl. Außerdem kannst du doch auch nicht dauernd bei der Schackenburg und Schimmelmeyer fehlen. Bleib lieber hier!“ Frederike kapitulierte nur äußerst widerwillig. "Wie wollte ihr überhaupt dorthin kommen?" fragte sie nach einer Weile. "Ich habe mir gedacht, wir fahren frühzeitig mit dem Auto hin und erwarten diesen Fahrenholt in aller Ruhe. Aber wenn Georg auch mitkommt, dann könnten wir anders vorgehen " sagte Jason. Georg nickte. "Ich habe schon eine Idee.“
Donnerstag, 22. Juli ‘99, vormittags - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Am nächsten Morgen holte Jason Georg in dessen Hotel ab. Zusammen fuhren sie weiter in den Boulevard de Haussmann. Georg stieg in der Nähe von Fahrenholts Hotel aus dem Auto und ging zu Fuß weiter. Auf dem breiten Trottoir vor der Brasserie gegenüber dem Hotel luden frisch eingedeckte Tische und Bambusgestühl bereits zu einem Frühstück im Freien ein.
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Georg nahm an einem kleinen, runden Tisch unter der grüngoldenen Markise Platz und schlug seine Zeitung auf. Bei Café au lait und einem frischen Croissant würde es sich hier ganz angenehm warten lassen. Jason kehrte ins Bristol zurück, wo Constanze über ihrem Reiseführer brütete. "Ich habe einen detaillierten Plan des Schloßparks gefunden. Sieh 'mal: Die Orangerie liegt links unterhalb dieser Terrasse, des Parterre du Midi. Links und rechts führen Treppen hinunter." Sie zeigte auf die entsprechenden Stellen. "Aber den Zugang zum Garten kann ich nirgends entdecken." "Macht nichts; wir finden ihn schon. Denk an dein Handy, Constanze!" Constanze verstaute ihr Handy in ihren Rucksack. "Hier sind die Rufnummern von Georgs und meinem Apparat.“ Er reichte ihr einen Zettel. "Hast du noch eine Tasse Tee für mich?" Sie warteten, bis sich Georg meldete. Er rief von der Bahnstation Charles de Gaulle- Etoile an. Dort liefen eine RER- und mehrere Métro- Linien zusammen. "Sie sind zu dritt, Jason; sieht nach einem ganz normalen Ausflug aus", gab Georg durch. "Sie warten auf eine Métro der Linie 6; wahrscheinlich werden sie bis nach Bir Hakeim fahren, dann ein Stück laufen und per RER weiterfahren. Ich bleibe in ihrer Nähe. Bis nachher.“ Jason und Constanze machten sich mit dem Auto auf den Weg. Es würde sicher eine Stunde dauern, bis sie in Versailles eintrafen. Aber es war auch erst kurz nach zehn. Unterwegs erhielten sie einen weiteren Anruf von Georg. Er mußte beinahe schreien, um die laute Geräuschkulisse um sich herum zu übertönen. Champs de Mars/ Tour Eiffel war eine sehr belebte Station. Wahre Heerscharen von Touristen quollen hier aus den Vorortzügen der RER oder pilgerten von der Nachbarstation Bir Hakeim durch breite, hell erleuchtete unterirdische Gänge über Treppen und Rolltreppen hierher, um nach Versailles hinauszufahren. Bislang lief alles wie gedacht, obgleich sich Jason mit dem Auto durch den dichten Pariser Straßenverkehr quälen mußte. Ihm schien es nichts auszumachen. Gelassen steuerte er durch das dickste Gewühl. Er wußte genau, wohin er wollte. Nach kurzer Zeit gab es Constanze auf, mit dem Zeigefinger auf dem Stadtplan ihre Route durch die Stadt zu verfolgen. Sie lehnte sich zurück und vertraute auf Jasons Ortskenntnis. "Wie Thomas wohl in Versailles seine Freunde loswerden will?" dachte Constanze laut. "Keine Ahnung", meinte Jason. "Aber uns wird er auf keinen Fall los. Wir sind bestens gerüstet."
Donnerstag, 22. Juli ‘99, vormittags - Paris, Unterkunft der Studentengruppe Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Zur selben Zeit hatte Frederike ganz andere Sorgen. Sie war schon etwas ärgerlich gewesen, daß die anderen sie an diesem Tag nicht in Versailles haben wollten. Sie wäre zu gerne dabeigewesen.
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Das Schloß mitsamt Garten würde sie allerdings auf jeden Fall noch zu sehen bekommen; die Dozenten hatten für den morgigen Freitag nämlich eine ausgiebige Besichtigung mit Schloßführung eingeplant. Und vielleicht passierte heute ja auch gar nichts Weltbewegendes in der einstigen Residenz des Sonnenkönigs! Heute würde sie stattdessen am Vormittag noch eine kleine Bildungs- Tour absolvieren; zur Auswahl standen das Quartier Latin in Begleitung von Dr. Schimmelmeyer und das Musée de l' Orangerie mit der Frau Professorin. Frederike entschied sich für Schimmelmeyer; der war pflegeleichter als die Schackenburg. Außerdem veranstaltete er nie körperlich- geistige Gewalt- Touren. Es waren eher kurzweilige Spaziergänge; gespickt zwar mit Theorie, jedoch in leichtverdaulichen Portionen. Die Gruppe um die Schackenburg war sofort nach dem Frühstück aufgebrochen. Herr Dr. Schimmelmeyer hatte es nicht so eilig; er wartete ab zehn Uhr geduldig in der Lobby auf seine Schäfchen. Für zehn Uhr c.t. hatte er den Abmarsch zur Métro- Station anberaumt. Als Frederike kurz nach zehn einigermaßen gut gelaunt die Treppe zur Lobby herunterkam, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen: An der Rezeption stand Ihr Chef, Bertram Wilde! Er unterhielt sich in ungeduldigem Ton mit dem Hotelangestellten. Am liebsten hätte Frederike auf dem Absatz kehrtgemacht, doch dafür war es schon zu spät. Soeben hatte Dr. Schimmelmeyer sie entdeckt, stand nun aus seinem Sessel auf und kam entschlossen auf sie zu. "Ach, Frau Ravens, gut, daß Sie schon kommen. Ich würde gerne kurz mit Ihnen über ..." Er sagte etwas von einer Seminararbeit, die Frederike in Zusammenhang mit der Exkursion bei ihm zu schreiben gedachte. Sie hörte gar nicht richtig hin, sondern sah unruhig zu Bertram Wilde hinüber. So laut, wie Schimmelmeyer sprach, mußte Bertram gleich auf sie aufmerksam werden. Da war es auch schon soweit! "Frau Ravens? Na, da ist sie ja doch noch!" rief Bertram Wilde aus und ließ von dem Mann an der Rezeption ab, um sofort auf Frederike zuzusteuern. "Entschuldigen Sie. Wilde, Bertram Wilde, Architekt aus Hamburg" stellte er sich dem Dozenten vor und sah Frederike an, als wolle er sie an Ort und Stelle festhalten. Aufgrund der abrupten Störung hatte Dr. Schimmelmeyer den Gesprächsfaden verloren. Er sah diesen Herrn Wilde und seine Studentin irritiert an. Frederike lächelte verlegen: "Darf ich bekanntmachen – mein Chef, Herr Wilde Herr Dr. Schimmelmeyer; FH Hamburg." Sie wechselten einige höfliche, nichtssagende Worte, und dann bat Bertram Wilde um ein kurzes Gespräch mit seiner Angestellten. "So leid es mir tut, Herr Wilde", log Frederike, "wir müssen jetzt gleich das Haus verlassen - eine anstehende Besichtigung ... vielleicht heute nachmittag ..." Da mischte sich Dr. Schimmelmeyer ein. "Aber kommen Sie doch mit, Herr Kollege. Ein kleiner Spaziergang durch das Quartier Latin wird vielleicht Erinnerung an Ihre eigene Studienzeit wecken." Dann malte er Bertram Wilde die Tour in den herrlichsten Farben aus. Der nahm die Einladung prompt an. Kurzerhand deponierte er seinen Koffer an der Rezeption, wobei er dezent einen 100- Franc- Schein über den Tresen schob. Dann schritt er mit zufriedenem Gesicht an Dr. Schimmelmeyers Seite aus dem Hotel.
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Frederike schüttelte lächelnd den Kopf. Wie Bertram Wilde sich ins Zeug legte, um in Constanzes Reichweite zu gelangen! Wie würde er wohl reagieren, wenn er erfuhr, daß sich die Frau, auf die er es abgesehen hatte, bereits einen neuen Lover zugelegt hatte?
Donnerstag, 22. Juli ‘99, vormittags – Versailles Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris/Versailles
Wäre Bertram Wilde Constanze an diesem späten Vormittag auf dem Platz vor dem Schloß von Versailles begegnet, so hätte er sie im ersten Moment womöglich gar nicht erkannt. Constanze hatte sich nämlich trotz der sommerlichen Hitze wieder in eine Rothaarige verwandelt. Auf dem Parkplatz am Fuße der Anhöhe hatten sie Georgs vorerst letzten Anruf empfangen. Mit derselben Bahn wie Thomas Fahrenholt und seine Freunde war er kurz vor halb zwölf in Versailles angekommen. Zur Zeit befanden sich die Männer auf dem circa zehnminütigen Fußweg vom Bahnhof zum Schloß. Constanze und Jason hatten das Auto abgestellt und bereits das breite, vergoldete Tor zur Schloßanlage durchschritten. Nun beeilten sie sich, den weiträumigen Vorplatz hinter sich zu lassen. In Zeiten Ludwigs des XIV. mußten hier die Kutschen der Gäste vorgefahren sein, wenn der Sonnenkönig eines seiner rauschenden Feste gab. Die Sonne brannte erbarmungslos. Constanze empfand das Laufen bergan auf dem Kopfsteinpflaster als mühsam, und das, obwohl sie flache Leinenschuhe trug. Unzählige andere Touristen aus aller Herren Länder nahmen dieselben Mühen auf sich. Fast alle bewaffnet mit Fotoausrüstungen, strömten sie aus Richtung des Bahnhofes oder von dem großen Parkplatz her hinauf zum Schloß. Der Bau war von einer geradezu beeindruckenden Breite. Wer ihn in seinen ganzen Ausmaßen auf ein einziges Foto bannen wollte, der brauchte unbedingt einen Weitwinkel. Sie selber hatte auch einen Fotoapparat um den Hals hängen, nicht allein zur Tarnung. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn Fahrenholt sein Date hier in den frühen Morgenstunden gehabt hätte; dann wäre es nicht so heiß und nicht so voll gewesen. Nach einigem Suchen fanden sie den Zugang zur Gartenanlage. Der Eintritt war frei, und Schlange stehen mußten sie zum Glück auch nicht - im Gegensatz zu den Besuchern, die eine Schloßbesichtigung anstrebten. Vom Nordflügel her betraten Constanze und Jason das Gelände. Zunächst war ein Gartenteil zu durchqueren, dessen Gesicht durch geometrisch angeordnete Rabatten in Lila und Weiß geprägt war. Constanze erkannte in der üppigen Bepflanzung mit Sommerblumen bunten Salbei und weißen Ziertabak. Die sattgrünen Beeteinfassungen bestanden aus niedrig gehaltenem, exakt in Form geschnittenem Buchsbaum. Helle Kieswege wurden von über mannshohen, kegelförmigen Koniferen flankiert. In ihrer strengen Form und einheitlichen Größe erinnerten sie Constanze an überdimensionale Zuckerhüte. Ihr dunkles Grün wiederholte sich in den hohen, gerade geschnittenen Hecken im Süden und Westen.
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Über helle Wege mit wassergebundener Decke, vorbei an Marmorstatuen und riesigen weißen Blumenpokalen, gelangte man über eine breite Treppe zum Parterre d' Eau, der weiträumigen Terrasse vor der breiten Westfassade des Schlosses. Oben in der ersten Etage lag der berühmte Spiegelsaal. Constanze und Jason standen mit dem Rücken zum Schloß und blickten die zentrale Längsachse der Gartenanlage hinab. Eine Ebene tiefer thronte eine Götterstatue über vier Marmorbecken, links und rechts lagen hellgrüne Rasenflächen und Blumenrabatten in rosarot. Weiter unten reichte das dunkle Grün hoher Laubbäume von beiden Seiten bis an die beiden breiten Wege heran, welche zu einem großen, ovalen Wasserbecken führten. Gleich dahinter begann der langgestreckte Grand Canal, auf dem Ludwig XIV. einst seine Bootsfeste gefeiert hatte. "Einfach grandios!" sagte Constanze beeindruckt. "Aber die die Bepflanzung jedes Frühjahr und die Pflege den ganzen Sommer hindurch müssen Unsummen verschlingen." Am liebsten hätte sie sich sofort zu einem Spaziergang bis hinunter zum Grand Canal aufgemacht, um alles aus der Nähe zu betrachten. Aber dazu war jetzt keine Zeit. Entschieden löste sie sich von dem verlockenden Anblick und wandte sich nach links. Vorbei an zwei ausladenden Wasserbassins ging es, vorbei auch an kunstvoll geschwungenen Beeten mit Tagetes und Buchsbaum, dann standen sie endlich an der steinernen Balustrade am südlichen Rand des Parterre du Midi. An der Brüstung lehnte eine Urlauberfamilie; man schaute hinunter auf die Orangerie. Dort unten standen auf breiten Promenaden und peinlich genau in Reih und Glied, Hunderte von großen und kleinen Kübelpflanzen: Zitronen- und Orangenbäume, Oleander und andere sonnenverwöhnte Gewächse aus mediterranen Gefilden. Im seichten Wasser des zentral gelegenen ovalen Bassins spiegelten sich die schlanken Stämme und üppigen Schöpfe von Palmen. Selbst die Palmen standen in rechteckigen, grünen Holzkübeln. Zusammen mit dem gelblichen Farbton der Bodenflächen, der an Wüstensand erinnerte, drängte sich dem Betrachter der Eindruck auf, er blicke auf eine Oase hinab. Constanze war begeistert. "Oh, Jason, ist das nicht wundervoll?" Sie strahlte. "Wenn wir unsere Angelegenheit abgewickelt haben, dann möchte ich mir das hier alles noch einmal ansehen, ganz in Ruhe." Sie überlegte. "Am schönsten muß es gleich nach Sonnenaufgang sein: alles taufrisch und unberührt, kaum eine Menschenseele ..." "Ja, alles still und friedlich", stimmte ihr Jason zu. "Aber jetzt wird es schon richtig voll hier." Tatsächlich schlenderten mittlerweile zahlreiche Besucher über die breite Terrasse. Jason sah auf die Uhr. "Zehn nach zwölf. Wir sollten machen, daß wir von der Brüstung wegkommen. Setz du dich am besten auf die große Treppe; ich gehe zu den Blumenbeeten dort drüben." Constanze nickte. Dann gab sie Jason einen flüchtigen Kuß auf die Wange. Ihr Herz klopfte etwas lauter als gewöhnlich, während sie die weiträumige Terrasse überquerte. Unauffällig hielt sie nach bekannten Gesichtern Ausschau. Aber sie erreichte die Treppe, ohne jemanden entdeckt zu haben. Am linken Rand der obersten Stufe nahm sie Platz und holte das Handy aus ihrem Rucksack. Einige Meter von ihr entfernt saßen eine dicke Frau und ein ebenfalls dicker Teenager;
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wahrscheinlich Mutter und Tochter. Während sie auf die untere Gartenebene
hinunterschauten, gönnte sich jede von ihnen einen Schokoriegel.
‘Typisch’, dachte Constanze bei ihrem Anblick. Sie selber verspürte überhaupt
keinen Hunger; höchstens Durst. Sie war angespannt. Vorsichtig sah sie sich um.
Da war Georg! Er kam direkt auf die Treppe zu und setzte sich für einen Augenblick neben Constanze. "Dein Schwager hat seine beiden Freunde abgehängt; sie touren durch das Schloß, und er ist jetzt auf dem Weg zum Treffpunkt. Du kannst ihn dort vor der Fassade laufen sehen - der Mann mit der blauen Tasche! Tschüß, ich gehe jetzt hinterher." Weg war er wieder. Constanze sah nun in einiger Entfernung Thomas Fahrenholt in Richtung Süden gehen. Er trug eine große, blaue Tasche über der Schulter; offenbar schleppte er eine umfangreiche Fotoausrüstung mit sich herum. Fünf vor halb eins. Die Sonne knallte nur so auf Constanzes roten Schopf und auf ihre nackten Schultern; sogar das dünne Fähnchen von Minikleid, das sie trug, wurde ihr zuviel. Hier konnte sie unmöglich sitzen bleiben! Ob es vielleicht eine Terrasse tiefer Schatten gab? Sie nahm einen Schluck aus der Plastikflasche mit Mineralwasser und machte sich auf den Weg nach unten. Die beiden Frauen neben ihr verspeisten gerade genüßlich ihren jeweils zweiten Schokoriegel. Rechts vom Brunnen standen vor einer hohen Ligusterhecke zwei Bänke; eine davon war frei, aber Schatten gab es auch hier nicht. Constanze ging den sandigen Weg weiter hinunter. Wenn es sein mußte, würde sie bis zum Rand des Wäldchens laufen; unter alten Bäumen war es es garantiert schattig. Am Fuße eines Marmorsockels, auf dem eine Statue in Lebensgröße thronte, fand Constanze endlich den ersehnten Schatten. Sie setzte sich einfach auf den Boden und wartete. Das Handy meldete sich. Jason war dran. "Er hat den Mann getroffen: helle Hose, weißes T- Shirt, Rucksack. Sie gehen gemeinsam über die Terrasse zurück. Georg folgt ihnen." Constanze gab ihren Standort durch. Sie würde hier abwarten. Es dauerte einige Zeit, bis Jason wieder anrief. "Sie wollten offenbar zum Waschraum der Herrentoilette, aber dort herrscht großer Besucherandrang. Nun laufen sie in deine Richtung. Vielleicht wollen sie sich im Park ein unbeobachtetes Plätzchen suchen, um die Ware zu begutachten." Constanze sah sich um. Zwar spazierten die meisten Besucher die beiden breiten Sandwege bis zum Grand Canal hinunter, aber seitlich davon konnte man nahezu überall ins Unterholz abtauchen. Als sie die Männer die Treppe herabkommen sah, verbarg sie sich hinter dem wuchtigen Sockel der Statue. Vielleicht hatte sie Glück, und die beiden wählten den Weg auf der linken Seite ... Sie gingen tatsächlich links hinunter; Georg folgte ihnen unauffällig in einigem Abstand. Constanze holte ihren Reiseführer aus dem Rucksack und schlug die Seite mit dem Plan des Parks auf. Als sie wieder aufsah, waren die beiden Männer verschwunden; wahrscheinlich irgendwo abgebogen. Und Georg? Er schwenkte just in diesem Moment nach links, wo ein schmaler Pfad zur Colonnade abzweigte; laut Reiseführer ein runder Säulengang aus Marmor anno 1685.
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Constanze mußte fast eine Viertelstunde warten, ehe die Männer zurückkehrten. An der Abzweigung schlugen sie den Weg zum Schloß ein. Georg dagegen spazierte nun in Richtung des Grand Canal weiter. Dann klingelte Constanzes Handy; Georg rief an. "Ware und Geld wurden begutachtet. Nun wird getauscht - im Waschraum im Schloß. Jason kann sie dort beobachten - Ich sage ihm Bescheid." Georg hatte am Ende des Weges vor einem Bassin kehrtgemacht und schlenderte nun gemächlich auf Constanzes Wegseite zurück. Sie ging ihm ungeduldig entgegen. "Na - wie war's?" "Wie im Kino, Constanze, 007 läßt grüßen", lachte er. "Und was das Beste ist", er tippte auf seine Digi- Cam, „ich habe ein paar sehr gute Fotos gemacht." Dann hakte er Constanze unter, und sie bummelten gemeinsam weiter. Auf dem Platz vor der Schloßanlage trennten sie sich. Georg blieb auf dem Schloßgelände, Constanze machte sich auf den Weg zum Parkplatz. Weil es auch dort unerträglich heiß war, lief sie gleich ein Stückchen weiter bis zu einer Allee. Hier ließ es sich auf angenehmere Art warten. Noch immer herrschte ein ungebrochener Zustrom von Touristen zum Schloß. Der großzügige Busparkplatz war nahezu belegt, und auch vom Bahnhof her pilgerten unzählige Besucher herauf. Constanze war froh, daß sie die Tour hinter sich hatte, obwohl sie natürlich gerne das Schloß von innen besichtigt hätte. Aber das würde ihr ja nicht weglaufen. Und wenn sie an die langen Warteschlangen vor den Eingängen dachte, ... Constanze hatte längst ihre zweite Flasche Mineralwasser geleert und ihre beiden Bananen aufgegessen, als sie Georg gemächlich vom Schloß herunterkommen sah. Vor ihm trotteten Thomas und seine Freunde. Aha, es ging endlich heimwärts! Constanze stand hinter einer uralten Kastanie, als die drei Männer in den Schatten der Allee eintraten. "... Siesta halten", hörte Constanze gerade Ingo Wolf sagen. "Und danach ein Glas Champagner ... Champs Elysées." Das war Thomas' Stimme. Er lachte laut. Schon waren sie vorbeigegangen. Georg kam nun auch. Constanze machte ihm stumme Zeichen. Aber Georg sah sie nicht. ‘Keine Kondition’, dachte Constanze und mußte lachen. Paris hielt die Männer ganz schön in Trab! Kurz darauf sah sie auch Jason vom Schloß herunterkommen. Sie wartete noch, bis er fast beim Auto war, dann ging sie ihm entgegen. "Alles klar?" Er nickte: "Steig ein. Wir fahren zurück zum Hotel."
Donnerstag, 22. Juli ‘99, 16.00 Uhr - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Um 16.00 Uhr erhielten Constanze und Jason im Bristol einen Anruf von Georg. Zurück in der Stadt, wollte er jetzt Posten vor der Brasserie gegenüber von Fahrenholts Hotel beziehen.
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Anschließend versuchte Constanze, Frederike in der Studentenunterkunft telefonisch zu erreichen. Ihre Freundin war unvermutet schnell am Apparat. Aber dann druckste sie sonderbar herum, so als ob sie nicht frei reden könnte. "Laß uns ‘mal kurz hinfahren, Jason", bat Constanze. "Irgendetwas stimmt da nicht.“ Als Constanze zusammen mit Jason die Lobby des Hotels betrat, fiel ihr sofort die kleine, feuchtfröhliche Gesellschaft auf, die sich in der Sitzecke aus Korbgestühl bei einem Gläschen Rotwein versammelt hatte und in eine angeregte Unterhaltung vertieft war. Auch Frederike und Alexandra saßen dort, allerdings ein wenig abseits von den anderen. Offenbar führten die beiden zu Zeit ihr eigenes Gespräch. Ebenfalls mit von der Partie war Herr Dr. Schimmelmeyer, der soeben mit vom Alkohol geröteten Wangen eine Anekdote aus dem Hochschulalltag zum Besten gab. Die jungen Frauen lachten, die Männer grinsten breit. Und mittendrin saß Bertram Wilde! Er schenkte der ganzen Truppe kräftig ein und schien sich köstlich zu amüsieren. Während Jason, der aus der ganzen Runde nur Frederike und den Dozenten kannte, sich in der Nähe des Eingangs gegen die Wand lehnte und der fröhlichen Runde sichtlich belustigt zusah, fragte sich Constanze eher mißtauisch, was hier gespielt wurde. Sekundenlang musterte sie Frederikes Mimik, konnte darin aber keine Antwort finden. Irgenwann bemerkte jemand Constanzes Anwesenheit. "Da ist sie ja!" rief eine Frauenstimme. Sofort waren alle Augen auf Constanze gerichtetet. Allein Dr. Schimmelmeyer brauchte etwas länger, um sich neu zu orientieren. Nachdem er sich etwas umständlich aus seinem Korbsessel erhoben hatte, schritt er nun, mit dem Glas in der Hand, feierlich auf Constanze zu. "Meine liebe Frau Petersen, ich kann Ihnen ja gar nicht sagen, wie sehr ich mich für Sie freue ..." Constanze runzelte die Stirn. Was war hier los? Nun stand der Dozent direkt vor ihr. "Liebe Frau Petersen, meine aufrichtigen Glückwünsche! Herr Wilde", er prostete Betram freundlich lächelnd zu, "Herr Wilde war so überaus freundlich, uns schon heute nachmittag in Ihre gemeinsamen privaten Pläne einzuweihen. Alles Gute zur Verlobung!" Er hob nochmals das Glas, und die ganze angeschickerte Gesellschaft prostete ihnen zu. Das konnte nur ein Alptraum sein! Constanze sagte kein Wort. Sie starrte Bertram Wilde an, der nun ebenfalls mit dem Glas in der Hand auf sie zukam und Anstalten machte, sie zu umarmen. Jason stand noch immer als schweigender Beobachter an der Wand. Constanze spürte, daß sie dringend etwas unternehmen mußte. Sie holte tief Luft, aber ihr fiel nichts ein. Sie schluckte. Dann sah sie hilfesuchend zu Frederike hinüber, aber die saß wie angewurzelt in ihrem Korbstuhl. Krampfhaft hielt sie einen offenbar frisch erstandenen Strohhut in den Händen. Constanze zwang sich zu einem Lächeln. Dann tauchte sie schnell unter Bertrams ausgestrecktem Arm hindurch, ging schnurstracks zu Frederike hinüber und nahm sie bei der Hand. "Komm sofort mit!" Ihr Ton duldete keine Widerrede. Frederike folgte ihr widerspruchslos in Richtung Eingang.
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An der Tür drehte sich Constanze kurz um. "Tut mir leid, Herr Dr. Schimmel meyer, aber es ist alles ein Irrtum." Dazu bekam er von ihr noch ein flüchtiges, bedauerndes Lächeln. Und zu Bertram Wilde gewandt, sagte sie ärgerlich: "Bertram, das ist eine Unverschämtheit! Laß’ mich ein- für allemal in Ruhe!“ Erst draußen am Auto blieb Constanze stehen, und Frederike konnte aufatmen. "Und jetzt?" Sie sah Constanze unsicher an. "Ins Bristol natürlich, Tee trinken. Soll Bertram doch sehen, wie er da wieder 'rauskommt!"
Donnerstag, 22. Juli ‘99, 17.00 Uhr - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Vom Hotel aus riefen sie Georg an. Er war immer noch auf seinem Posten und hatte vorerst keine Neuigkeiten. Also bestellte Jason Tee für drei. Langsam sank Constanzes Blutdruck wieder auf Normalwerte. Bei Tee und Sandwiches bewahrheitete sich wieder einmal Hildes Binsenweisheit, daß Essen eben doch Leib und Seele zusammenhält. Um halb sechs meldete sich Georg: Jason solle ihn auf dem Beobachtungsposten ablösen. Zu dritt fuhren sie in den Boulevard de Haussmann. In der Nähe von Fahrenholts Hotel fand Jason eine freie Parklücke; ein wahrer Glückstreffer, auch wenn die Parkzeit hier auf eine halbe Stunde begrenzt war. Sie waren noch im Aussteigen begriffen, da meldete sich Georg wieder per Handy. "Fahrenholt verläßt das Hotel - allein." Nun sahen sie ihn auch. Er trug wieder seine blaue Kameratasche über der Schulter. Gut, daß er in die entgegengesetzte Richtung ging, sonst wären sie einander in die Arme gelaufen! Aber so konnten sie ihm in gebührendem Abstand folgen. Sie sagten Georg Bescheid; er stieß vor dem Hotel zu ihnen. Fahrenholt lief zunächst ein Stück den Boulevard entlang, dann überquerte er ihn und bog in eine Seitenstraße ein, die zu den Champs Elysées führte. Weiter ging es, vorbei an Geschäften, Bistros und Cafés, in Richtung Triumphbogen. Vor dem Büro einer deutschen Fluggesellschaft blieb er stehen, zögerte noch einen Moment und trat dann ein. Seine Verfolger gingen an dem Gebäude vorbei und blieben vor einem Blumengeschäft stehen. "So. Und was jetzt?" fragte Frederike. Aber gleich darauf fand sie eine Antwort. "Einer müßte hinterher...", sagte sie langsam. Sie hatte ihren unternehmungslustigen Ton wiedergefunden, den Constanze nur zu gut kannte. "Irrtum - zwei müssen hinterher", sagte Georg entschlossen. "Und ich weiß auch schon, wie.“ Er zeigte auf das Schaufenster des Blumenladens. "Constanze, du kaufst jetzt sofort einen großen Strauß - irgendeinen. Hier ist Geld." Damit drückte er ihr einen 500- Franc- Schein in die Hand und schob sie zur Ladentür. Während Constanze das Geschäft betrat, hörte sie noch, wie Georg seine Frau anwies: "Und du, mein Schatz, spielst jetzt die Rolle deines Lebens. Setz den Hut auf!" Eiligst kaufte Constanze einen dicken Strauß gelber Gerbera; Frederike nahm ihn draußen ungeduldig in Empfang. Sie trug ihre Lockenpracht jetzt unter ihrem Hut
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versteckt und hatte eine Sonnenbrille auf. Die Blumen im Arm, betrat sie an Georgs Seite zügig das Büro der Fluggesellschaft. Constanze versuchte, von außen durch das Schaufenster in den Raum hineinzuspähen. Zwischen einem Display und einer Yukka- Palme im Pflanzkübel klaffte tatsächlich eine Lücke, die groß genug war, um das Wesentliche zu beobachten. Drinnen schien alles ruhig. Constanze konnte den vorderen Teil des Raumes einsehen: zwei blonde Damen hinter dem Tresen, davor zwei Kunden; einer davon Fahrenholt. Direkt hinter ihm Georg und Frederike mit den Blumen. Fahrenholt schien mit der Blondine, die ihn bediente, zu schäkern. Endlich steckte er ein Bündel Papiere in seine Tasche und wandte sich zum Gehen. Da leuchtete grell ein Blitzlicht auf - und noch einmal! Georg kam offenbar zum Zuge. Constanze lief nun zu Jason hinüber, der vor der Tür zum Blumenladen auf sie wartete. Zusammen gingen sie hinein. Constanze hatte nicht vor, weitere Blumen zu kaufen. Aber von hier aus konnten sie ungestört das Trottoir beobachten, ohne selbst von außen entdeckt zu werden. Nach ein paar Minuten erschienen Frederike und Georg vor dem Schaufenster: Die Luft war rein. Jason erstand noch schnell zwei langstielige Rosen, dann verließ er mit Constanze das Geschäft. Ohne große Hetze machten sie sich auf den Rückweg zum Auto. Fahrenholt ließen sie unbehelligt ziehen. Er hatte für den späten Sonntag vormittag einen Flug nach Zürich gebucht. Nun war es sechs Uhr abends und ziemlich unwahrscheinlich, daß er auf dem Weg zu seinem Hotel noch etwas unternahm, was sie hätten überwachen müssen. Und im Hotel gab es ja noch Marianne. Constanze drehte behutsam den Stiel der gelben Rose zwischen ihren Fingern hin und her, während sie neben den anderen her in Richtung Auto ging. Ihre Befürchtung hatte sich also bewahrheitet: Thomas Fahrenholt wollte sich mit dem vielen Geld auf Nimmerwiedersehen schnellstens ins Ausland absetzen. Er würde sich dort ein neues Leben aufbauen - ohne Sonja, ohne die Kinder. Er würde alles Unangenehme hinter sich lassen - durch diesen Coup war es ihm möglich geworden. Aber bis Sonntag waren es noch zwei ganze Tage; möglicherweise genug Zeit, um ihn aufzuhalten. Nach einem Blick auf seine Armbanduhr stellte Jason fest: "Die Parkuhr ist abgelaufen; hoffentlich wurde der Wagen noch nicht abgeschleppt.“ "Das wäre schade“, meinte Georg. "Wir könnten ihn heute noch gut für eine kleine Fahrt gebrauchen - vorausgesetzt, ich erwische Arnim jetzt in der Redaktion.“ Dann telefonierte er, während sie weiter die Straße entlanggingen. Sie hatten Glück: Georg erreichte diesen Arnim, und der Wagen stand noch am Straßenrand. Jason zog das Strafmandat unter dem Scheibenwischer hervor und warf einen kurzen Blick darauf. "Immer noch billiger als in Manhattan“ stellte er lakonisch fest und steckte es ein. Dann fuhren sie zusammen in das Pariser Redaktionsbüro einer großen deutschen Tageszeitung Dort herrschte rege Betriebsamkeit. Für Arnim Maiwald nichts Ungewöhnliches; er und mindestens einer seiner französischen Kollegen waren regelmäßig bis in die Nacht hinein im Einsatz, um die Zentrale in Hamburg mit Neuigkeiten aus der
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Seine- Metropole zu versorgen. Georg erklärte Arnim, was er vorhatte. Arnim sah keinerlei Probleme. Er nahm den Speicher- Chip aus Georgs Digi-Cam und steckte ihn in seinen Computer. Er startete Photoshop. Georg sah ihm über die Schulter. "Von welchem Bild brauchst du eine Hardcopy?" Georg wählte einige aus, die per Kurierdienst zunächst nach Wien und von dort aus eventuell an die Staatsanwaltschaft in Hamburg gehen sollten. "Können wir sie hier auch gleich versandfertig machen?" fragte er. "Natürlich; ihr könnt alles nutzen." Der Drucker lieferte Hardcopies wie eine echte Fotografie. Als Georg die Kopien in den Händen hielt, pfiff er anerkennend ob seiner eigenen Leistung. Am Computer gingen sie nochmals alle Fotos aus dem Büro der Fluggesellschaft durch. Das beste ließen sie zunächst ebenfalls ausdrucken. Georg hielt es für geeignet, um es als Pressefoto zu veröffentlichen. Constanze nickte: "Davon möchte ich auch eins. Ausgezeichnet getroffen, Georg.“ "Und jetzt noch ein kurzer, knackiger Artikel dazu - dauert höchstens eine Viertelstunde." Schon verschwand Georg mit dem Ausdruck im Nebenzimmer. Nach zehn Minuten kam er zurück. "Arnim, der Text kann jetzt in den Computer." Georg diktierte, Arnim tippte. Eine geringfügige Korrektur noch und dann wählte Arnim eine Mailbox in Deutschland an. Als die Verbindung stand, überspielte er den fertigen Presseartikel samt Bilddatei direkt auf den Server der Redaktion einer vielgelesenen norddeutschen Tageszeitung. Sichtlich zufrieden registrierte Georg die Vollendung seines Werkes. "Und nun rufe ich den Müller- Raupach privat an", verkündete er. "Der ist mir noch einen Gefallen schuldig. Er soll dafür sorgen, daß der Vogel pünktlich zum Wochenende erscheint." "Mach' das, Georg", sagte Arnim. "Ich versuche inzwischen, die Nachricht auch noch in unserem Käseblatt unterzubringen - wenn auch sehr geschrumpft." Damit griff er zum Handy. "Warum tut er das für uns? Hat Georg ihm etwa einmal das Leben gerettet?“ wollte Constanze von ihrer Freundin wissen. Frederike zuckte mit den Schultern: "Georg kennt ihn schon von der Schule. Vielleicht hat er Arnim früher abschreiben lassen.“ Dann sagte sie zu Jason: "Das mit dem ‘Käseblättchen' ist nämlich reinstes Understatement; in Deutschland erscheint seine Zeitung bundesweit und ist das bekannteste Massenblatt überhaupt!“ Constanze hatte unterdessen die Fotos für Wien mit einigen erklärenden Worten versehen. Nun steckte sie alles in einen adressierten Umschlag. Noch heute abend würde die Sendung per Kurier Paris verlassen; morgen würde sie in Hamburg eintreffen. Blieb nur zu hoffen, daß Vater ebenso fix war wie Constanze und ihre Freunde. "Müller- Raupach hat mir hoch und heilig versprochen, daß der Artikel am Samstag in der Wochenendausgabe erscheinen wird - auf der letzten Seite unter 'Aus aller Welt'. Paßt doch wie die Faust aufs Auge oder?" Georg grinste breit. Arnim Maiwald konnte nicht versprechen, daß der Artikel tatsächlich in der Samstagsausgabe erscheinen würde, getan hatte er aber sein Möglichstes dafür. Auf Constanzes Frage, wieviel Geld sie der Redaktion nun schuldig sei, antwortete er: "Geht auf Kosten des Hauses, Constanze. Aber falls Sie sich entschließen
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sollten, die komplette Geschichte an die Presse zu verkaufen, dann möchte ich als erster gefragt werden. Wir zahlen auch gut!" Sie versprach es, ohne zu zögern. Auf der Fahrt zu Georgs und Frederikes Hotel spekulierten sie, was wohl als Nächstes passieren würde. Ob Fahrenholt wohl seelenruhig bis zum Sonntag morgen den harmlosen Touristen spielte, um dann, für seine beiden Freunde völlig unerwartet, per Flieger zu verschwinden? Ob sie ihn durch ihre Komödie bei der Fluggesellschaft vielleicht doch unruhig gemacht hatten und er deshalb morgen auf eine frühere Maschine umbuchte? Ob er das viele Geld weiterhin in bar mit sich herumschleppte oder auf ein Konto einzahlte? Sie würden ihn auch morgen und übermorgen beobachten müssen, damit sie über jede seiner Aktionen informiert waren. Was das Eingreifen von Polizei oder Staatsanwaltschaft anging, so gaben sie sich keinerlei Illusionen hin. Die ersten Beweisfotos würden zwar morgen in Wien eintreffen, aber morgen war Freitag. Der Behördenapparat in Deutschland würde vermutlich frühestens zu Beginn der kommenden Woche aktiv werden. Constanze fiel Anwalt Dr. Brooks in Wedel ein, mit dessen Hilfe ihr Vater in der Vergangenheit sämtliche notarielle und juristische Angelegenheiten abgewickelt hatte. Sie nahm sich vor, Vater noch an diesem Abend anzurufen. Vielleicht war es sinnvoll, Dr. Brooks einzuschalten, damit er bereits am Wochenende Druck bei der deutschen Staatsanwaltschaft in Hamburg machte. Außerdem las Dr. Brooks bestimmt die Zeitung, in der am Samstag der Artikel mit Thomas Fahrenholts Konterfei in der Rubrik „Aus aller Welt“ erschien. Vater müßte Dr. Brooks nur anrufen und ihm alles erklären. Ihr Unterfangen mit dem Pressebericht war, kritisch betrachtet, ein echter Schrotschuß. Da machte sich Constanze gar nichts vor. Aber es bestand immerhin eine kleine Chance: Vielleicht wurde dadurch irgend eine Person auf Fahrenholts Abreise in die Schweiz aufmerksam, für die seine Abreise von Bedeutung war. Vielleicht hatte er ja schon mehr auf dem Kerbholz. Und vielleicht ließe sich so auch das Eingreifen von Polizei und Staatsanwaltschaft beschleunigen. Ob auch Constanzes Schwester aus der Zeitung von der bevorstehenden Reise ihres Mannes erfahren würde, war fraglich. Wenn sie, wie Marianne berichtet hatte, auch noch das halbe Wochenende auf Sylt verbrachte, dann würde sie wohl kaum die Zeitungen studieren. Constanze kannte sie: Sie würde morgens im Fitness- Center schwitzen, den übrigen Tag in Gesellschaft am Strand verbringen und sich abends ins Nachtleben von Kampen stürzen - alles im Sinnes der Akquise. Zum Zeitunglesen blieb da keine Zeit. Weitaus wahrscheinlicher war es, daß Hilde zu Hause in Wedel davon erfuhr. Aber da war ja Mutter; die wußte bis dahin durch Vater Bescheid und würde Hilde entsprechend beruhigen können. Jason und Georg planten den Verlauf des nächsten Tages, soweit es die Beschattung Thomas Fahrenholts betraf. Georg erklärte sich bereit, den Vormittag zu übernehmen. Für ein Uhr wurde der „Wachwechsel“ gegenüber von Fahrenholts Hotel vereinbart.
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Für die Studiengruppe stand an diesem Tag vormittags Versailles auf dem Programm; Aufbruch Punkt acht Uhr dreißig. Constanze war das entschieden zu spät. "Nicht noch einmal Versailles unter sengender Sonne!“ sagte sie zu Frederike. Sie hatte in ihrem Reiseführer gelesen, daß der Park bereits bei Sonneaufgang seine Tore öffnete, und sie hatte sich in den Kopf gesetzt, ihn diesmal taufrisch zu genießen. Dafür war sie bereit, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen und mit der Bahn dorthin zu fahren. "Constanze, bitte sei mir nicht böse, aber mir ist das zu früh“, sagte Frederike dazu. "Ich fahre erst um halb neun .“ "Na, dann muß ich mich wohl opfern“, bemerkte Jason mit einem gespielten Seufzer. "Du?“ Constanze sah ihn erstaunt an. "Constanze, du willst doch wieder bei halber Nacht alleine durch Paris gondeln! Das eine Mal hat dir wohl nicht genügt.“ Constanze wurde hellhörig. Er konnte doch nur die Nacht meinen, in der sie Fahrenholt und seinen Freunden bei ihrem Streifzug durch die Nachclub- und Discoszene gefolgt war! Aber woher wußte er davon? "Sei ganz beruhigt, Jason; ich kann schon auf mich aufpassen“, sagte sie. "Ich schwärme für historische Gartenanlagen, insbesondere für Barockgärten“, fing Jason wieder an. "Ich würde mich gerne einmal ganz alleine dort umsehen.“ "Ich würde dich bestimmt nicht stören, Constanze; dazu wäre ich viel zu sehr mit meinen Fotos beschäftigt.- du gingest deiner Wege - ich ginge meiner Wege.“ Constanze wurde ungehalten: "Meine Güte, sag doch gleich, daß du unbedingt mitkommen willst!“ Jason und Constanze setzten Frederike und Georg vor deren Hotel ab. Die Männer verabredeten, daß Jason den Wagen am nächsten Morgen in der Tiefgarage von Fahrenholts Hotel abstellen sollte. Schlüssel und Papiere konnte Marianne Georg bringen, sowie dieser im Bistro gegenüber Posten bezogen hatte.
Donnerstag, 22. Juli ‘99, abends - Paris, Hotel Bristol Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Kaum daß Constanze und Jason die Lobby des Bristol betreten hatten, wurde Constanze klar, daß an diesem Tage noch eine Aufgabe auf sie zukommen würde: An der Rezeption stand nämlich ein Mann im weißen Anzug; unverkennbar Bertram Wilde. "Ich komme gleich nach“, sagte sie zu Jason. Bertram lehnte lässig am Tresen, während er mit einer Hotelangestellten sprach. In der linken Hand hielt er einen dicken Strauß lachsfarbener Blumen. Vermutlich wollte er Constanze einen Besuch abstatten, um sich für den Faux pas von vorhin zu entschuldigen. Constanze verspürte nicht die geringste Lust, sich mit ihm zu unterhalten, aber vielleicht war dieses die Gelegenheit, um ihn ein- für allemal loszuwerden.
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Nun hatte auch Bertram sie erspäht; zielstrebig schritt er auf sie zu. "Ah, Constanze!" "Hallo Bertram", erwiderte sie kühl; und dann mit einem Blick auf die lachsfarbenen Teerosen: "Entschuldigungs- Präsent?" Bertram lächelte charmant. "Nun, ich hielt es für angebracht." Er hielt ihr die Rosen entgegen. "Können wir uns nicht irgendwo hinsetzen? Ich möchte gern mit dir reden, Constanze." Ihr Blick glitt an Bertram hinab: blondes, halblanges Haar, sonnengebräunter Teint; Sommeranzug aus weißem Leinen, Knitter- Look - garantiert Designer- Modell - dazu weiße Slipper. Constanze nahm ihm die Blumen nicht ab. Sie wies auf eine Sitzgruppe im hinteren Teil der Lobby. Dort waren sie zur Zeit ungestört; denn keine der beiden Seidenmalerinnen, die mehrmals in der Woche direkt nebenan arbeiteten, saß an ihrem Platz. "Fünf Minuten“, sagte sie. Während Bertram in seidenweichem Ton seine Entschuldigung vorbrachte, schweifte Constanzes Blick hinüber zu den Ausstellungsstücken an der Wand: Tücher mit Blumenmotiven in leuchtenden Farben, Tücher mit Ballerinen in Pastelltönen ... "Aber trotz alledem, Constanze: Immerhin bemühe ich mich, unsere Beziehung wieder ins Lot zu bringen..." Constanze sah ihn an. "Bertram, wie stellst du dir das vor? Bei deiner Anzahl von Bräuten! Wo immer du auch in den letzten zwei, drei Jahren zum Surfen warst, überall hattest du auch..." Constanzes Ton war leise, aber scharf. "So war das nun doch nicht, Constanze!" protestierte er. "Erzähl mir nichts, Bertram! Aus allen Ecken der Welt haben die Mädchen ja wohl bei euch in der Firma angerufen!" Bertram seufzte: "Okay, okay... Ich war eben einsam, Constanze. Du wolltest ja nie mitgekommen..." "Ach, jetzt bin ich auch noch schuld an deiner Vielweiberei!" Constanze sprang unwillkürlich von ihrem Sessel auf. "Falls du es vergessen hast: Ganz am Anfang wolltest du unbedingt mit einer Frau zusammen sein, die im Beruf vorankommen will. Und daß ich viel weniger Urlaub habe als du, das war damals kein Problem für dich. Übrigens hattest du damals ja auch vor, dich beruflich mehr zu engagieren." Bertram legte seine Hand auf ihren Arm. "Constanze", sagte er beschwörend, "im vergangenen halben Jahr bin ich so gut wie nie verreist; denn ich mache die ganze Arbeit von der Windchen in Lübeck. Du weißt doch, daß sie seit Monaten krank ist psychisch völlig fertig und quasi arbeitsunfähig.“ "Ja, ja, ich habe davon gehört; sie soll irgend so einem Blender aufgesessen sein, der sie bequatscht hat, ihr Geld in Antiquitäten anzulegen.“ "Ja, in Porzellan. Bei Nacht und Nebel ist er damit abgehauen und hat sie sitzenlassen!“ Bertram sah Constanze eindringlich an. "Also, Constanze, seit Monaten lebe ich wie ein Mönch - aber du nimmst es überhaupt nicht zur Kenntnis. Genausowenig wie meine Karten, Briefe, Anrufe. Ich muß erst nach Paris fliegen, um dich persönlich zu sprechen!" "Na fein, das hast du ja hiermit, Bertram. Und nun ist dir hoffentlich auch alles klar: Ich will nicht mehr. Wir passen nämlich einfach nicht zusammen!" "Ach! Aber dein neuer Lover, der paßt zu dir, was? Oder hast du darüber noch gar nicht nachgedacht, weil du gerade dabei bist, auf die Romantik- Masche eines cleveren Amerikaners in Paris hereinzufallen?!“
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"Sei unbesorgt, Bertram. Ich bin nicht so blauäugig wie eure Windchen.“ Constanze wandte sich zum Gehen. "Wie deine Schwester, stur wie deine Schwester!" Constanze drehte sich erstaunt um. "Was hast du mit meiner Schwester?" "Ich wollte sie überreden, mit mir hierher zu fliegen, aber sie wollte nicht - ihre Geschäfte gingen vor." "Wann?" "Gestern. Wir sind uns in Westerland begegnet - rein zufällig, wirklich." "So, so. Und du hast sie gleich eingeladen?" Bertram machte eine beschwichtigende Handbewegung: „Alles ganz seriös!" Sie nickte. "Sicher. Mach’s gut, Bertram.“ Dann ging Constanze zu Fuß hinauf in den dritten Stock. Oben öffnete ihr Jason die Tür. "Na, ist alles geklärt?“ fragte er. "Da unten - ja.“ Sie sah ihn ernst an. "Aber von dir möchte ich noch etwas wissen: Warum hast du mich neulich nacht beobachtet?“ "Ich schlafe schlecht, wenn ich neu in einer Stadt bin.“ Er lächelte sein unwiderstehliches Lächeln. "Du hast mir mißtraut, obwohl mein Vater dich geschickt hat.“ "Natürlich. Ich prüfe alles selber nach.“ "Ich verstehe“, sagte sie kühl. "Constanze.“ Er sah sie betroffen an. Es war das Gesicht eines kleinen Jungen, der seinen schönsten Apfel aus der Hosentasche verloren hat. "Jason, du kontrollierst mich, und mir paßt das überhaupt nicht!“ Es entstand eine längere Pause, dann gab er nach: "Na gut; fahr allein nach Versailles.“
Freitag, 23. Juli ‘99, vormittags - Paris/ Versailles Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris/Versailles
Constanze weckte Jason um halb fünf. "Guten Morgen, Darling", sagte sie zwischen zwei flüchtigen Küssen zu ihm. "Wenn du unbedingt mit in den Schloßgarten willst, dann mußt du jetzt aufstehen. Aber ich warne dich: Es wird ein sehr anstrengender Morgen; denn ich habe vor, dort stundenlang zu lustwandeln!" "Oh Constanze, du bist immer noch sauer auf mich", stellte Jason zerknirscht fest. "Was soll ich tun, damit du ...?" Sie ließ ihn nicht ausreden; sie küßte ihn noch einmal, diesmal entschieden länger. Dann antwortete sie: "Mitkommen, Darling. Und die wunderbare Atmosphäre dieses Gartens einfach auf dich wirken lassen!" Die Atmosphäre war wirklich wunderbar im morgendlichen Schloßgarten, auch wenn sie für den Sonnenaufgang viel zu spät kamen. Constanzes Gärtnerherz hüpfte bereits freudig, als sie die Anlage vom Nordflügel her betraten, ob der zu erwartenden gartenarchitektonischen Pracht. Ihre Uhr zeigte
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noch nicht halb acht. Die Luft war klar und von angenehmer Kühle und Frische; über dem T- Shirt konnte sie jetzt noch ihren leichten Baumwollpulli vertragen. Sie schlug Jason vor, zunächst zur Schloßterrasse hinüberzugehen. An diesem Morgen staubte es noch nicht, als sie über die sandigen Wege liefen. Der Boden war noch feucht, ebenso wie die Pflanzen im Garten. Das immergrüne Laub der Buchsbaumhecken glänzte wie lackiert, auf den Blättern von Salbei und Ziertabak lagen glitzernde Perlen aus Tau. Abgesehen von einer Kolonne von Gärtnern, die still und unauffällig in den Rabatten Unkraut zog, waren zu dieser frühen Stunde kaum Menschen im Garten. Eine Handvoll Besucher, ebenso früh aufgestanden wie sie selbst, verlor sich angesichts der Großzügikeit der Anlage. Auf der obersten Stufe der Treppe, die vom Parterre d’ eau hinab zur Ebene mit dem Bassin de Latone führte, setzten sie sich hin. Jason legte den Arm um Constanze. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Für einen Moment schloß sie die Augen und lauschte. Von unten aus den Waldstücken mit dem alten Baumbestand drang lebhaftes Vogelgezwitscher herauf. Direkt vor ihnen lag das große, ovale Bassin. In seiner Mitte thronte über Marmorbecken mit ewig währender Grazie die Göttin Latona. Dahinter erstreckte sich das Plateau mit den auf beiden Seiten symmetrisch angeordneten Rasenflächen und Blumenrabatten: ein Traum in Resedagrün, Rosarot und Weiß, dazu der Kontrast durch das dunkle Grün der alten Bäume im Hintergrund. Über die von Kübelpflanzen gesäumte Promenade in der Mitte wanderte der Blick die beiden Wege hinab bis zum Grand Canal, der wie ein hellblaues Satinband schnurgerade auf den Horizont zulief. Gedankenversunken sog Constanze das Bild in sich auf. "Träumst du davon, solche Gärten anzulegen?“ Sie schüttelte energisch den Kopf. "Nein. Die Zeiten dieser Gärten sind lange vorbei. Aber ich stelle mir vor, wie es war, als hier noch ein König mit seinem ganzen Hofstaat lebte; als die adligen Herren Allonge- Perücken trugen und ihnen die Damen des Hofes mit Schönheitspflästerchen den Kopf verdrehten. - Damals sollen übrigens die Mätressen mehr Aufmerksamkeit genossen haben als die ‘hochedlen’ Damen!“ Sie machte eine Pause und sagte dann langsam: "Ich sehe sie genau vor mir, wie sie in Kleidern aus himmelblauem Atlas am Arm des Geliebten durch den Garten flanieren.“ "Du hast ja eine lebhafte Fantasie!“ "Die brauche ich doch auch - in meinem Beruf! Da geht es mir ähnlich wie dir.“ "Richtig. Aber meine Fantasie ist gewöhnlich auf Gegenwart oder Zukunft gerichtet - übrigens nicht nur beruflich, sondern auch privat. Jetzt zum Beispiel“, er küßte zärtlich ihr Haar, "kann ich mir lebhaft vorstellen, wie schön es mit dir zusammen bei Sonnenaufgang an unserem Strand auf Long Island wäre.“ "Sicher nicht so bunt wie hier oder?“ "Nein, aber der Sand ist fein und weiß und das Meer unglaublich blau. Und wenn die Sonne aufgeht ...“ Er vollendete den Satz nicht, sondern küßte sie stattdessen so lange, daß sie fast die Balance verlor. Dann sagte er: "Weißt du, das Büro in Manhattan ist zwar der Dreh- und Angelpunkt für das Geschäft, aber um überhaupt kreativ zu sein, brauche ich das Haus auf dem Land. Du solltest ‘mal einen unserer Workshops erleben! Ich lade dazu mein ganzes Team übers Wochenende ein, und
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nach drei, vier Stunden am Strand von South Hampton fallen den Leuten die tollsten Ideen nur so zu.“ "Es muß ein ziemlich großes Haus sein.“ Er nickte. "Ein altes Strandhaus; es gehörte einmal einem Schriftsteller, der dort seinen Lebensabend verbracht hat. Meine Familie kannte ihn gut. Als der alte Mann vor zwei Jahren gestorben ist, habe ich das Haus zusammen mit meinem Bruder gekauft. Ich genieße jeden Tag, den ich in diesem Haus verbringe. Denn obwohl es inzwischen innen fast komplett umgebaut wurde, hat es irgendwie seinen alten Charme bewahrt.“ "Verstehe. Es ist für dich mehr als nur ein Haus.“ "Ja. Und der totale Kontrast zu Manhattan - zu meinem Appartement, zu meinem ganzen Leben im Big Apple. Du solltest wirklich ‘mal ein paar Tage dort wohnen!“ Er sah sie ernst an und fügte hinzu: "Das ist eine offizielle Einladung.“ Sie küßte ihn flüchtig. Dann antwortete sie: "Danke, ich weiß es zu schätzen. Was würde mich denn sonst noch so erwarten?“ "Hm. Mein Bruder Steve - aber der stört eigentlich nicht; er schreibt gerade an seiner Dissertation - er ist Psychologe -, und er hat eine feste Freundin. Dann gepflegte kleine Orte im Neuengland- Stil, Kürbisfelder und die besten Lobster der Ostküste.“ Constanze runzelte die Stirn. "Hört sich gut an, aber leider nicht gerade nach einem Eldorado für Gartenarchitekten.“ "Oh, in den Hamptons wohnt viel Prominenz, und zu jeder Villa gehört schließlich auch ein Garten oder Park. Der eine oder andere könnte vielleicht eine Umgestaltung gebrauchen ..." "Und wenn schon, ich bräuchte doch erst einmal eine Arbeitserlaubnis!“ "Als meine Frau bekämst du die sofort.“ Sie löste sich aus seinem Arm und sah ihn prüfend an: "Was hat du gesagt?“ "Als meine Frau bekämst du sofort eine Arbeitserlaubnis“, antwortete er ruhig. Constanze schwieg; ihre Augen suchten jetzt das Ende des hellblauen Satinbandes am Horizont. Jason schwieg auch. Irgendwann sagte er: "Für mich ist es ziemlich einfach: Ich bin frei, und ich habe mich in dich verliebt, Constanze." Er machte eine Pause. "Allerdings weiß ich nicht, wie frei du bist.“ Constanze stand abrupt auf. Es verging eine Weile, ehe sie sagte: "Ja, vielleicht besuch' ich dich tatsächlich bald. Manhattan kenne ich von einem Kurz- Trip vor drei Jahren; für Long Island hat die Zeit damals nicht gereicht.“ "Warst du mit diesem Bertram da?“ Sie schüttelte den Kopf und setzte sich wieder auf die Treppenstufe. „Nein, da kannte ich Bertram noch gar nicht. Ich war allein da und habe die meiste Zeit in euren Museen verbracht - äußerst beeindruckend!“ "Und was ist mit diesem Bertram? Auch beeindruckend?“ "Nein, bestimmt nicht." Sie überlegte, ehe sie weitersprach. "Bertram war einmal eine Art Trostpflaster für mich: verfügbar, angenehm und beruhigend", sagte sie dann. "Aber die Wunde darunter ist nicht geheilt, im Gegenteil: Ich habe zwei Jahre lang darauf gewartet, das Pflaster abzureißen und die Wunde von den richtigen Händen behandeln zu lassen. Ich habe die ganze Zeit nur auf Carlos gewartet, auf Carlos da Silva. Weißt du, im Grunde habe ich Bertram immer etwas vorgemacht - so wie mir selber.“ "Aber dann ist Carlos da Silva ist tödlich verunglückt.“
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"Ja. Woher weißt du das?“ "Von deinem Vater.“ Constanze runzelt die Stirn. "Hat er sonst noch ‘was über Carlos erzählt?“ Jason überlegte kurz. "Dinge, die in Zusammenhang mit seiner Forschungsarbeit standen“, sagte er dann. "Jedenfalls nichts Privates.“ "In dem Jahr, als ich mich mit Vater in Brasilien aufhielt, war Carlos noch verheiratet; wir haben uns damals angefreundet.“ "Wollte er seine Frau für dich verlassen?“ Constanze nickte. "Aber dann hat sie ihn verlassen.“ "Damit war er doch frei für dich.“ "Nicht wirklich. Von da an ging er noch häufiger auf Expedition als vorher.“ "Und du?“ "Ich hatte Bertram. Aber das funktionierte nicht. Bertram braucht mich nicht, und das ist ihm auch bewußt. Ich übe auf ihn nur einen gewissen Reiz aus – vielleicht, weil er spürt, daß er mich nicht wirklich erobert hat. Bertram braucht seinen Lebensunterhalt nicht zu verdienen; es ist genügend Spielkapital vonseiten seiner Familie da, um ihm ein Leben nach Lust und Laune zu finanzieren. Und so lebt er auch: Er tut nur, was ihm Spaß macht.“ "Es ist also erledigt?“ "Erledigt.“ Damit küßte Constanze flüchtig Jasons Wange. "Und jetzt möchte ich mit dir zum Grand Canal hinuntergehen." Doch er hielt sie zurück. "Moment, Darling, das war doch kein Kuß!“ Es war halb elf und damit bald Zeit zum Aufbruch. Mittlerweile befand sich das ganze Gelände schon wieder in fester Hand der Touristen, die wie am Vortag unaufhaltsam zu Tausenden vom Parkplatz zum Schloß heraufströmten. Doch bevor sie gingen, wollte Constanze noch unbedingt den berühmten Spiegelsaal des Schlosses besichtigen. "Wunderschön und zugleich geschichtsträchtig“, sagte Constanze, während sie zu einem der Seiteneingänge hinübergingen. Sie blätterte in ihrem Reiseführer. "Wußtest du, daß hier im Jahre 1919 der Vertrag von Versailles unterzeichnet wurde?“ "Erzähl mir die Einzelheiten gleich im Schloß, Darling. Vorher möchte ich dich hier draußen noch fotografieren ... wo gerade nicht so viele Leute vorbeilaufen ... vielleicht vor dem Blumenpokal dort.“ Constanze sah sich um - und wich gleich darauf einen Schritt zurück: Aus einem überdimensionalen, weißen Pflanzgefäß ergossen sich üppige Kaskaden orangeroter Sommerblumen. "Was hast du denn?“ Constanze hörte Jasons Stimme wie durch Watte. Schwindelgefühl machte sich in Ihrem Kopf breit. "Ist dir nicht gut, Constanze?“ Jason stand jetzt bei ihr und musterte sie besorgt. "Ich halt’ das nicht aus!“ sagte sie gepreßt. "Laß uns hier weggehen!“ Jason zog sie behutsam von dem Blumenpokal weg und dirigierte sie zu einer steinernen Bank hinüber, die vor einer Buchsbaumhecke stand. "Ich weiß ja, daß du dich vor großen Höhen fürchtest“, sagte er, als sie sich wieder gefaßt hatte, „aber hier ... “ "Es war die Farbe!“ Constanze schüttelte sich.
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"Die Farbe dieser Blumen?“ fragte er skeptisch. "Ja. Sie war fürchterlich!“ Jason legte seinen Arm um Constanze und küßte sanft ihr Haar. Dann überlegte er laut: "Du hast gesagt: 'fürchterlich'. Allein die Farbe hat dir Angst gemacht. Du warst panisch vor Angst!" "Na ja, so schlimm war es nun auch wieder nicht", widersprach Constanze. "Ich fand die Farbe eben scheußlich. Würde ich mir nie in den Garten pflanzen!" Er runzelte die Stirn. "Und kleine Macken hat heute fast jeder", fuhr sie fort. "Neurotische Störungen, Phobien - das liest du in jeder Illustrierten ..." "Du hast Panikattacken vergessen", korrigierte er sie. Aber dann lenkte er ein. "Okay! Dann wollen wir uns jetzt diesen Spiegelsaal ansehen, und danach geht’ s zurück in die Stadt. Oder möchtest du noch auf die Studenten warten?“ "Mir genügt der Spiegelsaal“, sagte Constanze. Sie war froh, daß Jason nicht noch mehr über diesen Anfall von Panik wissen wollte.
Freitag, 23. Juli ‘99, mittags - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Gegen ein Uhr saß Georg immer noch in der Brasserie. Er hatte nichts Außergewöhnliches zu vermelden. Fahrenholt und seine Freunde waren zu Fuß unterwegs gewesen, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Georg hatte sie die ganze Zeit über unauffällig beschattet. "So, jetzt kenne ich dieses Kaufhaus Lafayette in- und auswendig. Außerdem weiß ich, wo man ein Vermögen für Seidentücher ausgeben kann. Übrigens hat dein Schwager, Constanze, so ein Ding gekauft - für welche Frau auch immer.“ "Ein Souvenir, damit ihm alle glauben, daß er nach Hause zurückfährt", meinte Constanze. Georg packte seine Kamera ein. Er wollte noch zum Marché St- Pierre am Fuße des Montmartre, um ein paar interessante Eindrücke für seine Reportage aufzulesen. Nachdem sie sich für den Abend auf ein Glas Champagner im Bristol verabredet hatten, trennten sich ihre Wege: Jason setzte sich an einen Tisch und bestellte Tee, Georg machte sich auf den Weg zur nächsten Métro- Station, und Constanze ging zu Fuß in Richtung Opernplatz. Sie hatte Lust auf einen kleinen Stadtbummel.
Freitag, 23. Juli ‘99, nachmittags - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Bertram Wilde nutzte das angenehme Wetter ebenfalls für einen Bummel. Am frühen Nachmittag hatte er bereits das Angebot zweier renommierter Antiquitätengeschäfte in der Rue du Faubourg- St- Honoré gesichtet; allerdings ohne etwas zu erwerben. Nach einer Verschnaufpause in einem Straßencafé setzte er seine Suche nach einem außergewöhnlichen Stück fort, wobei er es nun eher dem Zufall überließ, auf welches Geschäft dieser Art er als nächstes traf.
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Irgendwann verschlug es ihn in eine unscheinbare Seitenstraße und in einen Laden, den er noch bei keinem seiner zahlreichen Paris- Besuche entdeckt hatte. Das Geschäft war eher unscheinbar, allerdings ausgesprochen gut sortiert in Porzellan- Miniaturen; das fiel Bertram sofort auf. Während er ein bißchen stöberte, kam ihm Hella Windchen in den Sinn. Hatte sie nicht solche Tier- Darstellungen gesammelt? Kurzerhand fragte er danach. "Sie meinen sicher die berühmten Meißner Porzellantiere“, lautete die Antwort der Verkäuferin. "Es gibt wunderschöne Modelle aus dem 18. Jahrhundert; aber die sind leider schwer zu bekommen.“ Sie machte eine bedauernde Handbewegung. Dann bot sie ihm jedoch eine Alternative an: "Also, wenn es nicht unbedingt Tiermodelle sein müssen, dann wäre doch vielleicht auch dieses etwas für Sie, Monsieur.“ Damit wollte sie ihn zu einer Sammlung von Miniaturen führen, die in einer Vitrine im hinteren Teil des Ladens ausgestellt waren. Bertram wehrte höflich ab: Nein, nein, so sehr interessierten ihn diese Kostbarkeiten nun doch nicht. Draußen vor dem Geschäft blieb er noch einen Augenblick vor dem Schaufenster stehen und überlegte: Der achtarmige vergoldete Kandelaber würde sich vielleicht ganz gut als Einweihungsgeschenk für Sonja Fahrenholts Geschäft in Kampen machen. "Monsieur, wenn Sie ernsthaft an Meißner Porzellantieren interessiert sind, dann hätte ich vielleicht ein besonderes Stück für Sie.“ Den Mann, der dieses leise zu ihm sagte, hatte Bertram vorhin im Geschäft nicht bemerkt. Jetzt stand er direkt neben ihm. Bertram horchte auf, und er sah ihn sich genau an. Er war klein und dicklich, hatte eine Halbglatze und irgendwie Ähnlichkeit mit einem Igel. "Nun ja, interessiert bin ich schon“, antwortete Bertram. "Aber ich brauche natürlich genauere Daten.“ "Bekommen Sie, Monsieur“, beeilte sich der kleine Dicke zu versichern. "Geben Sie mir freundlicherweise Ihre Telefonnummer, und dann rufe ich Sie noch heute an, um Ihnen die Daten durchzugeben.“ Bertram überlegte. Dann nickte er, schrieb eine Rufnummer auf eine Visitenkarte und reichte diese dem anderen Mann. "Und Sie, Monsieur?“ Der Kleine grinste. "Sagen wir, ich bin Jean, Monsieur.“ Bertram ging noch einmal Kaffee trinken. Vom Handy aus rief er Hella Windchen unter ihrer Privatnummer in Lübeck an. Seit einer Woche war sie zurück von ihrem Kuraufenthalt. Bertram hatte Glück; sie meldete sich sofort. Und sie konnte ihm eine ganze Menge über Meißner Porzellantiere erzählen. Was Bertram außerdem wollte, waren genaue Daten über die Stücke, mit denen ihr ehemaliger Liebhaber verschwunden war. "Ich habe Kopien von den Expertisen“, sagte sie eifrig. "Die kann ich Ihnen sofort per Fax in Ihr Hotel schicken.“ "Machen Sie das, Windchen! Ich will Ihnen nichts versprechen, aber ...“
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Freitag, 23. Juli ‘99, abends - Paris, Hotel Bristol Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Sie saßen zu viert an der Hotelbar und tranken zum Ausklang des Tages Champagner- Cocktail. Frederike und Constanze tauschten ihre Eindrücke von Schloß und Gartenanlage in Versailles aus. Georg berichtete von seinem Streifzug über den Marché St- Pierre und Jason von Fahrenholts Nachmittags- und Abendaktivitäten. "Gegen halb zwei ist er mit seinen Freunden per Métro zum Centre Pompidou gefahren. Da haben sie sich sage und schreibe vier Stunden lang moderne Kunst zu Gemüte geführt.“ "Vielleicht will sich dein Schwager für die viele Knete ein paar Bilder kaufen und hat sich heute schlau gemacht, was ‘in’ ist, Constanze“, mutmaßte Georg grinsend. "Ich wußte gar nicht, daß der sich für Bilder interessiert“, überlegte Constanze laut. "Für Musik schon, aber für Bilder?“ Dann stutzte sie; denn eine männliche Stimme hinter ihr klang wie die des alten Wiegand aus Wedel. Langsam drehte sie sich um. Er war es tatsächlich, und er erkannte sie nun ebenfalls. Einen Augenblick sahen sie einander überrascht an, dann begrüßte er sie freudig mit einem herzlichen Händedruck. Er befinde sich auf einer kurzen Geschäftsreise und wohne hier im Hotel, erklärte er. Zeit für einen Drink an der Bar habe er im Moment leider nicht, da er in einer Viertelstunde mit einer Dame geschäftlich verabredet sei. Aber vielleicht könne man später noch ein Glas zusammen trinken. Dann ließ er sich entschuldigen und ging. "Komischer Zufall“, fand Constanze. "Vielleicht wirklich nur Zufall“, meinte Jason. "Was mir eher Kopfzerbrechen macht, ist etwas anderes: Marianne hat gestern kurz nach ein Uhr mittags im Hotel beobachtet, daß unser Mann auf seinem Zimmer zwei korrekt gekleidete Herren mit Diplomatenkoffer empfangen hat - Identität leider unbekannt.“ Die anderen drei machten betroffene Gesichter. "Ich habe sie weder kommen noch gehen sehen“, sagte Jason weiter, "aber ich hatte die Tiefgarage ja auch nicht im Blick - mein Fehler!“ "Nicht nur du; ich habe das auch übersehen“, sagte Georg. "Gibt es sonst noch etwas?“ "Für sieben Uhr abends hat er über die Rezeption in einem Edel- Lokal an den Champs Elysées einen Tisch für drei Personen bestellt. Aber“, Jason grinste, "am Nebentisch sitzt jetzt Marianne, und zwar in Begleitung eines Kollegen aus dem Hotel. Wahrscheinlich treiben die beiden soeben Mariannes Spesen mit einem Fünf- Gänge- Menue in astronomische Höhen!“ "Marianne ist ziemlich clever“, meinte Constanze. "Bleibt nur zu hoffen, daß mein Schwager beim Essen ein paar interessante Informationen ausplaudert.“ Gut eine halbe Stunde später erschien Wiegand wieder in der Bar. Er wirkte ausgesprochen aufgeräumt, ließ sich in aller Ruhe Constanzes Begleiter vorstellen und lud die vier ein, mit ihm gemeinsam im Hotel- Restaurant zu Abend zu essen. "Erst hatte ich den Termin für Ende der 28. KW eingeplant, aber dann kam es doch noch zu einer Verschiebung“, erklärte Wiegand, als die Hors d’ oeuvres serviert wurden. "Tut mir leid, daß ich vorhin so kurz angebunden war - ich war etwas nervös, ob das Geschäft überhaupt zustande käme.“ "Aber es hat alles geklappt, nicht wahr?“ fragte Constanze mit einem Lächeln.
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Er nickte. "Ich mußte ziemlich bluten, aber“, er machte eine Pause und hob sein Glas, "das war es wert.“ "Ich freue mich für Sie, Herr Wiegand“, sagte Constanze. "Das glaube ich Ihnen, Frau Petersen“, antwortete er. "Und deshalb würde ich Ihnen das gute Stück nachher gerne einmal zeigen - Ihnen und Ihren Freunden; es hat nämlich nichts mit den Margarinewerken zu tun.“ Sie mußten sich gedulden bis nach dem Abendessen. Doch dann standen sie endlich in Wiegands Hotelzimmer im fünften Stockwerk; vor ihnen lag eine Kreideskizze mit dem Bildnis einer jungen Tänzerin. "Irgendwie kommt mir das bekannt vor“, meinte Frederike. "Mir auch“, war Jasons Kommentar, "ein Degas.“ Constanze nickte nur. "Also, die Sache ist so", begann Wiegand, "vor einigen Monaten hat mich die Witwe meines alten Geschäftsfreundes Sanders angerufen. Voriges Jahr ist aus ihrem Hause ein Degas, ziemlich wertvoll, gestohlen worden. Sie hängt sehr an dem Bild, und so bat sie mich, unterderhand Nachforschungen anzustellen. Mithilfe eines Detektivs, der Verbindungen zur illegalen Kunstszene aufgenommen hat, gelang es mir, an die Leute heranzukommen, die inzwischen im Besitz des Bildes waren. Heute abend um acht wurde hier im Bristol das Geschäft abgewickelt.“ "Das ist also ein echter Degas?“ Frederike holte tief Luft. "Über wen wurde das Geschäft abgewickelt?“ wollte Georg wissen. "Über eine Französin, die hierher ins Hotel kam. Es fielen keine Namen.“ "Aber dasselbe Motiv habe ich schon woanders gesehen“, überlegte Constanze laut. "Die Skizzen von Degas im Musée d' Orsay, Constanze“, half Jason. "Nein, nein, irgendwo anders“, beharrte Constanze. "Das kann doch nur bei den Sanders’ gewesen sein“, überlegte Wiegand. "Wissen Sie, mein Freund Sanders war ein Romantiker. Vor vielen Jahren hat er seiner Frau ausgerechnet dieses Bild zur Hochzeit geschenkt, weil die Tänzerin Irene Sanders so sehr ähnlich sah; Ballett war damals Irenes große Leidenschaft." Constanze schüttelte den Kopf. "Die Familie Sanders kenne ich gar nicht. Aber ich glaube, das Motiv habe ich unten in der Halle auf einem Seidentuch gesehen.“ Wiegand hüllte das Bild vorsichtig in eine Decke und schlug vor, in der Lobby nachzusehen. Wenige Minuten später hatten sie Gewißheit; das Motiv der Kreideskizze und der Seidenmalerei stimmten überein. "Leider nicht signiert“, stellte Constanze fest. "Da können wohl nur die beiden Seidenmalerinnen, die hier ausstellen, weiterhelfen.“ "Wenn Sie morgen früh auf die nächste Gendarmerie gehen, Herr Wiegand, dann könnte das in der Kunstszene einen Stein ins Rollen bringen“, meinte Georg.
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Samstag, 24. Juli ‘99, 7.00 Uhr - Paris, Hotel Bristol Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Punkt sieben Uhr klingelte in Jasons Suite das Telefon; Marianne machte Meldung: Nein, das gestrige Abendessen habe keine neuen Informationen erbracht, aber für den heutigen Vormittag hätten sich Fahrenholt und seine Freunde einen Bummel über den Clignancourt vorgenommen, den größten Flohmarkt von Paris. "Ich habe heute meinen freien Tag und würde mir diesen Markt selber gern anschauen. Ich könnte also heute morgen die Beschattung übernehmen. Einverstanden?“ "Das Angebot ist sehr verlockend. Wann soll es denn losgehen?" "Ich vermute, spätestens um halb neun; die Herren sind schon aufgestanden." Jason pfiff leise. "Alle Achtung. - Sind Sie denn überhaupt schon wieder fit, Marianne?" "Natürlich, Jason.“ "Also gut. Folgen Sie den dreien, und wenn sie sich trennen, dann bleiben Sie an diesem Fahrenholt dran.“ "Geht in Ordnung. Wenn es sein muß, spreche ich ihn sogar an: ein Zimmermädchen, das an seinem freien Tag eine nette Begleitung sucht!“ Sie lachte. "Werden Sie nicht leichtsinnig, Marianne. Der Mann ist eiskalt.“ "Ich werde schon mit ihm fertig, Jason. Um die Mittagszeit rufe ich wieder an. Salue." "Wer war denn das, Jason?" fragte Constanze, noch im Halbschlaf. "Marianne. Sie will deinen Schwager heute morgen beschatten." "Wie nett von ihr." Constanze gähnte. "Dann können wir ja ausschlafen." "Ja", sagte Jason, "oder auch nicht." Er klang geistesabwesend. "Ist irgendetwas nicht in Ordnung?" "Doch, doch, Darling. Mir ist nur gerade etwas eingefallen. Ich muß so schnell wie möglich mit Leclerc darüber reden.“ "Heute ist Samstag. Ist der überhaupt noch in Paris?" "Er hat das Wochenende für einen Besuch bei Freunden angehängt; und er hat mir deren private Telefonnummer gegeben.“ Jason ging zum Schreibtisch im Salon und blätterte in seinem Terminkalender. "Für ein gutes Geschäft nimmt er auch am Wochenende Termine wahr - Da ist die Nummer." Constanze war auch aufgestanden. Mit nackten Füßen, nur im Morgenmantel, folgte sie Jason zum Schreibtisch. "Willst du den Mann tatsächlich so früh anrufen? Vielleicht ist er ein Morgenmuffel - so wie ich, wenn ich noch keinen liebevollen Guten- Morgen- Kuß bekommen habe." Jason legte den Terminkalender beiseite und nahm Constanze in die Arme. "Hm, vielleicht hast du recht.Vielleicht sollte ich Leclerc noch eine Stunde Schlaf gönnen.“ Er sah sie mit gespielter Ratlosigkeit an: "Und was machen wir mit dieser ganzen Stunde?“ Jason erreichte Monsieur Leclerc unter der angegebenen Privatnummer bereits um acht Uhr. Sie verabredeten sich für halb zehn in Saint- Germain. "Willst du nicht mitkommen und dir das Viertel anschauen, Constanze? Kleine Straßen, schöne Geschäfte - so etwas gefällt dir doch." "Stimmt, aber ich hatte mir vorgenommen, hier in der Nähe zu bummeln."
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Constanze wollte ganz in Ruhe in einem ganz bestimmten Geschäft in Seidentüchern stöbern. Ihre Urlaubskasse ließ nämlich noch einen klitzekleinen Luxuseinkauf zu.
Samstag, 24. Juli ‘99, 7.50 Uhr - Hamburg- Schnelsen Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Sabrina Vollmer hatte die Zeitung an diesem Morgen noch nicht so richtig gelesen. Sie hatte ihr Exemplar gerade erst auf dem Weg zur Apotheke gekauft. Für mehr als einen Blick auf die Schlagzeile war noch keine Zeit gewesen. Nun war es zehn vor acht. Punkt acht würde der Chef die Tür der "Sonnen- Apotheke" aufschließen. Aber bis dahin blieb ihr noch genügend Zeit, um, schon im weißen Kittel, bei einem Becher Kaffee die neuesten Nachrichten zu überfliegen. Wie gewöhnlich beschränkte sie sich zunächst auf ihre Lieblings- Rubriken: die erste Seite, die letzte Seite und das Fernsehprogramm vom Wochenende. Als sie sich die letzte Seite vornahm, stach ihr sofort das Foto des Mannes mit Blumenstrauß ins Auge. Das war doch ...! Hastig überflog sie den dazugehörigen Artikel. Thomas Fahrenholt in Paris ... als überraschter Gewinner einer Verlosungsaktion eines bekannten französischen Boulevard- Blattes... Morgen mittag würde er nach Zürich fliegen. Eine Reise als Gewinn? Nein! Er hatte den Flug geplant! Sabrina stockte der Atem. Wieso in die Schweiz? Er hatte ihr doch versprochen, nach Hamburg zurückzukommen, nachdem die Angelegenheit in Paris abgewickelt war. Sie wollten doch gemeinsam von hier aus ... Ob etwas schiefgegangen war? Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Nur nicht die Nerven verlieren! Wahrscheinlich gab es für alles eine ganz plausible Erklärung, sagte sie sich - sie kam nur nicht sofort darauf. Sie trank noch einen Schluck Kaffee und überlegte. Aber sie kam nicht drauf. Zugleich wuchs Mißtrauen in ihr. Wer garantierte ihr eigentlich, daß er sich an die Abmachungen hielt? Sie sah auf die Uhr. Gleich acht. Der Chef war bereits vorne im Verkaufsraum und schaltete die Beleuchtung ein. Hier im Hinterzimmer zog Betriebsamkeit ein. Carola, ihre Kollegin, zog ihren weißen Kittel über; Sabrina hatte ihr Kommen nicht einmal bemerkt. Sie faltete die Zeitung schmal zusammen und steckte sie in die Kitteltasche. Den halbvollen Kaffeebecher, von dem eine Comic- Figur als Krankenschwester sie angrinste, ließ sie achtlos auf dem hellgrauen Schrank stehen. Schnurstracks ging sie in den Verkaufsraum. "Herr Asmussen, es tut mir leid, aber ich kann heute nicht arbeiten. Gequält sah sie ihn an. "Ein akuter Migräne- Anfall. Ich habe schon Sehstörungen!" Ihr Chef nickte. Er kannte das von seiner Angestellten. "Was ist denn? Bist du krank?" fragte Carola, die soeben den Verkaufsraum betrat. "Ja, das Übliche. Tschüß", antwortete Sabrina schwach. "Dann sehen wir uns heute abend wohl auch nicht im Club?" "Nein, nein, das wird nichts." Sabrina ging rasch an Carola vorbei, ohne sie anzusehen.
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Im hinteren Raum streifte Sabrina ihren Kittel ab, zog ihren Leinenblazer über und verließ, Kittel und Handtasche unter dem Arm, zügig ihren Arbeitsplatz. Draußen begann sie zu rennen. Gut fünf Minuten, dann würde sie zu Hause sein! Außer Atem schloß sie die Wohnungstür auf. Der Zettel mit der Pariser Adresse lag noch auf dem Telefontischchen unter dem Apparat. Sie überlegte, welchen Schritt sie zuerst tun sollte. Erst einmal eine Zigarette! Nach ein paar tiefen Zügen wurde sie ruhiger. Sie nahm das Telefonbuch aus der Schublade. Dann suchte sie die Nummer des Flughafens heraus. Sie rief zunächst dort an. Ob sie überhaupt einen Flug bekäme? Sie hatte Glück: Die nächste Maschine nach Paris ging um halb elf, und es waren noch Plätze frei. Ob sie buchen wolle, fragte die Dame am anderen Ende der Leitung freundlich. Sabrina zögerte. Auf gut Glück dorthin fliegen? Das war nicht billig. Wenn sie ihn nun gar nicht antraf? Andererseits ... Sabrina buchte kurz entschlossen den Flug. Nun mußte sie sich aber beeilen. Sie bestellte sich ein Taxi und raffte dann hastig ein paar Kleidungsstücke und Toilettenartikel zusammen. Sie stopfte alles in ihre große, weiße Reisetasche und kontrollierte anschließend ihre Papiere auf Vollständigkeit. Geld würde sie auch brauchen. Der Taxifahrer sollte nachher kurz bei ihrer Bank- Filiale halten, da gab es einen Geldautmaten. Hatte sie jetzt alles? So weit ja. Was doch fehlte, würde sie unterwegs kaufen. Sie steckte die Zeitung in ihre Reisetasche und den Zettel mit der Hoteladresse in die vordere Tasche ihrer Jeans. Sie sah auf die Uhr. Der Taxifahrer würde sie erst in zehn Minuten abholen. Mußte sie noch jemanden anrufen? Sabrina zog den Zettel wieder hervor. Dann wählte sie die Nummer des Pariser Hotels.
Samstag, 24. Juli ‘99, 8.50 Uhr - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
So früh am Morgen war Bertram sonst eigentlich nicht unterwegs. Aber die Infos von der Windchen und die Daten, die ihm dieser Jean gestern abend tatsächlich per Telefon hatte zukommen lassen, waren geradezu auffällig deckungsgleich. Das war etwas nach Bertram Geschmack. Mit etwas sportlichem Ehrgeiz und intellektuellem Geschick würde er hier vielleicht einem Hehlerring der Kunstszene auf die Schliche kommen. Wenn er klug taktierte, konnte er die Leute auffliegen lassen und möglicherweise auch noch der Windchen dazu verhelfen, ihre Lieblinge aus weißem Gold wiederzugewinnen. Bei einer Frau wie dieser Sonja Fahrenholt, so überlegte er, würde eine derartige Tat mit Sicherheit gut ankommen. Außerdem tat sie seinem angeschlagenen Ego so richtig gut. Bertram war um neun Uhr mit diesem Jean in einem Straßencafé ganz in der Nähe des Antiquitätengeschäftes verabredet. Zehn Minuten vor der Zeit belegte er einen kleinen Tisch auf dem Trottoir und bestellte sich Kaffee. Während Bertram noch auf Jean wartete, klingelte sein Handy. Hella Windchen war dran, und sie wirkte ziemlich aufgeregt. Bei der Lektüre ihrer Morgenzeitung war sie über den Fotoartikel in der Rubrik „Aus aller Welt“ gestolpert, den Thomas
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Fahrenholts Konterfei zierte. Sie hatte ihn wiedererkannt - als den Mann, der sie ein Jahr zuvor zu ihrer neuen Sammelleidenschaft überredet hatte und dann plötzlich mitsamt ihren kostbaren Porzellanminiaturen verschwunden war. "Das ist René, René Falkenberg, Herr Wilde! Ein Irrtum ist völlig ausgeschlossen“, sagte sie. Dann wollte sie ihm „ganz kurz“ den ganzen Zeitungsartikel vorlesen. Doch Bertram sah, daß sein Geschäftspartner im Anmarsch war. "Faxen Sie mir den Artikel zu, Windchen! Ich kann jetzt nicht mehr sprechen; aber ich rufe nachher zurück.“ Jean setzte sich neben Bertram an den Tisch. Er hatte eine dicke Aktentasche bei sich. Halbwegs unauffällig ließ er Bertram einen Blick auf den Inhalt werfen. Jede der drei Minituren war in eine doppelte Lage Molton gehüllt. Jean lüftete den Stoff ein wenig, so daß Bertram vor allem die Schwertermarke deutlich erkennen konnte. Bei dem Preis, den Jean für das Modell eines exotischen Vogels nannte, gab sich Bertram leicht entrüstet. "Sollen die anderen Stücke etwa auch in dieser Preisklasse liegen, Monsieur?“ erkundigte er sich. "Dieses ist das exklusivste Stück, Monsieur, und das hat eben seinen Preis“, erklärte sein Gegenüber unerschüttert. "Sie können es sich noch bis zwölf Uhr überlegen. Ich rufe Sie dann an!“ "Wie soll die Bezahlung erfolgen?“ "In bar, und zwar in US- Dollar, Monsieur.“ "Und wo würden wir uns treffen?“ "Das sage ich Ihnen heute mittag, Monsieur.“ "Meine Frau will die Stücke aber auch noch begutachten, bevor ich kaufe; sie kennt sich noch besser mit Antiquitäten aus als ich.“ "Ich bin sicher, daß sich das einrichten läßt, Monsieur. Lassen Sie uns darüber heute mittag sprechen.“ "Dann erwarte ich Ihren Anruf also Punkt zwölf Uhr.“
Samstag, 24. Juli ‘99, 9.00 Uhr - Paris, Hotel Bristol Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Bevor Constanze zu ihrem Einkaufsbummel aufbrechen konnte, mußte sie noch Frederike anrufen. Gestern abend beim Champagner hatten sie vereinbart, heute nachmittag die Fotos für Jasons Museumsartikel zu machen. Dafür wollten sich die drei um eins im Musée d' Orsay treffen, während Georg Thomas Fahrenholt beschatten sollte. "Gut, daß du dich meldest, Constanze", Frederike hörte sich nach Aufbruchstimmung an. "Gerade wollte ich dich anrufen. Georg und ich wollen nämlich gleich aus dem Haus gehen. Aber mittags sind wir zurück. Bleibt es bei ein Uhr?" "Was das Museum angeht, leider nicht: Jason kann erst um zwei dorthin kommen. Er ist vorher geschäftlich unterwegs. Auf Fahrenholt paßt übrigens Marianne heute morgen auf. Er und seine Freunde gehen zum Flohmarkt. Nehmt euer Handy mit für den Fall, daß Marianne von unterwegs anruft! Und Georg sollte sich darauf
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einrichten, doch schon um eins beim Hotel zu sein. Ich treffe dich dann um zwei in der Halle des Museums; bis dahin werde ich bummeln. - Wohin wollt ihr eigentlich?" "Auch zum Flohmarkt. Zum Marché aux Puces de St Ouen, kurz 'Clignantcourt' genannt. Auf welchem treibt sich denn dein Schwager herum?" "Ich glaube, auf genau diesem. Vielleicht solltet ihr... " "Ich spreche gleich mit Georg. Uns fällt schon etwas ein, falls wir ihm über den Weg laufen. Tschüß, Constanze. Viel Spaß beim Einkaufen!" Constanze hatte gerade aufgelegt, da klingelte das Telefon. Ein gewisser Yves Dubois meldete sich und stellte sich als Kollege und Freund von Marianne vor. "Madame, ich soll Ihnen ausrichten, daß gegen acht Uhr vierzig eine Frau Fahrenholt hier angerufen und gefragt hat, ob ihr Ehemann noch Gast in unserem Hotel sei." "Das ist meine Schwester", erklärte Constanze. "Hat sie sonst noch etwas gesagt?" "Nein. Aber sie klang sehr aufgeregt." Constanze bedankte sich für seine Auskunft und legte auf. Sonja hatte demnach wohl doch die Zeitung gelesen. Ob sie hierher kommen würde? Constanze rief die Rezeption an und bat darum, daß man ihr die Ankunftzeiten aller Flüge aus Hamburg von heute und morgen heraussuchte. Mittlerweile war es halb zehn. Während Constanze gerade überlegte, ob sie nicht auch gleich in Wien anrufen sollte, klingelte das Telefon schon wieder. "Also du hast mir heute morgen gerade noch gefehlt“, war Constanzes erster Kommentar, als sich Bertram meldete. Aber als von ihr wissen wollte, wie denn ihr Schwager heiße und wie er aussehe, wurde sie hellhörig. Und als er ihr von Hella Windchens Anruf und den Antiquitäten erzählte, hörte sie ihm doch einigermaßen gespannt zu. "Bertram, wenn die Windchen wirklich sicher ist, daß ihr ehemaliger Liebhaber und Sonjas Ehemann ein und dieselbe Person sind, dann muß sie sofort zur Polizei gehen. Und du ja wohl auch - und zwar noch bevor dieser Jean dich wieder anruft!“ Constanze rief ihren Vater in Wien an. Er hatte die Fotos inzwischen erhalten und bemühte sich seit Stunden vergeblich, Anwalt Dr. Brooks zu erreichen. Der befand sich nämlich über das Wochenende mit seinem Motorboot auf Angeltour. Petersen war nun gerade dabei, den Artikel in der Hamburger Zeitung zu überfliegen.
Samstag, 24. Juli ‘99, 10.00 Uhr - Paris, Hotel Bristol Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Constanze studierte die Liste der Flugdaten. Wenn Sonja vorhin noch aus Deutschland angerufen hatte, dann konnte sie frühestens die Maschine nehmen, welche um halb zwölf in Paris landete. Eine Stunde dazu für Aus- Checken und Fahrt in die Stadt machte halb eins als frühesten Ankunftstermin im Hotel ihres Mannes. Um die Zeit würde Constanze ohnehin in der Stadt sein. Vielleicht wäre es ratsam, sie würde ihre Schwester abfangen, bevor diese mit ihrem räuberischen Ehemann zusammentraf? Und wenn Sonja später kam? Constanze konnte eine
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Nachricht für sie an der Rezeption hinterlegen und dann Georg bitten, daß er mit Sonja ins Bristol fuhr. Constanze beschloß, auf jeden Fall gegen halb eins in Fahrenholts Hotel vorbeizuschauen. Aber jetzt würde sie erst einmal ihren Einkaufsbummel machen. Constanze ging zur Rezeption hinüber und gab die Code- Karte zur Suite ab. Dann warf sie einen Blick auf die Vitrine mit den Seidenmalereien: Das Tuch mit der Tänzerin war noch ausgestellt. Aber von den Seidenmalerinnen war noch keine am Platz. Die kämen erst gegen Mittag, hieß es an der Rezeption. Constanze rückte ihre kleine lederne Umhängetasche zurecht und verließ rasch das Hotel. Draußen auf dem Trottoir umfing sie sofort das lebhafte Treiben der Stadt. Constanze atmete tief durch. Wieder so ein sagenhaft schöner Sommermorgen! Es war kaum zu glauben, wie die Sonne diese Stadt verwöhnte. Kein Vergleich zum Hamburger Schmuddelwetter! Wie hieß es doch gleich? "Leben wie Gott in Frankreich"! Constanze fühlte sich beschwingt. Die scheinbare Leichtigkeit, mit der das Leben um sie herum pulsierte, zog sie unwiderstehlich mit. Nur allzu gern ließ sie sich darauf ein und stürzte sich mitten hinein in diese unbeschwerte Geschäftigkeit.
Samstag, 24. Juli ‘99, vormittags - Paris, Clignancourt Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Auch auf dem Clignancourt herrschte reges Großstadt- Getümmel. Vor allem Touristen aller Couleur drängten sich um die bunte Vielfalt von Kitsch und Kunst und Trödel. Thomas Fahrenholt und seine Freunde hatten sich zunächst flüchtig bei den Billigständen mit Trödel und den fliegenden afrikanischen Händlern nahe der Métro- Station aufgehalten. Doch schnell zog es sie zu den eigentlichen Puces in den Gassen, wo die Händler ausgesucht und die Waren edel schienen. Marianne folgte den dreien ohne besondere Mühe. Die Männer schlenderten gemächlich über die Märkte und ließen sich überall viel Zeit. Auf dem Marché Serpette erstand Ingo Wolf nach langem Suchen eine Art Déco- Vase, die er daraufhin, obgleich dick in Packpapier eingewickelt, wie ein rohes Ei durch das Gewimmel bugsierte. Wenig später entschloß sich Oliver Matthiesen auf dem Marché Vernaison zum Kauf eines großen, handgeschnitzten Bilderrahmens. Der Einfachheit halber hängte er sich das Ungetüm über die Schulter. Thomas Fahrenholt kaufte nichts. Aber gegen elf kam er auf die Idee, daß man sich einen Roten genehmigen könnte. Und so kehrten sie erst einmal ein. Nach zwei bis drei Glas Rotwein brauchten sie dann alle drei frische Luft. "Wie wär's mit Crêpes Suzette, Olli?" fragte Ingo draußen. Soeben hatte er eine Crêpes- Bude entdeckt, von der ein köstlicher Duft nach Pfannkuchenteig und Orangenlikör herüberzog. "Ich lade euch ein!" Er schlug sofort die entsprechende Richtung ein. "Meine Güte - meine Brieftasche!" Das war wieder Ingo. Er hatte sich die Vase unter einen Arm geklemmt und durchsuchte hektisch sämtliche Taschen, wobei er einigermaßen hilflos um sich sah. Seine Freunde griffen
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ebenfalls nach ihren Portemonnaies. Es war noch alles da, aber Ingos Brieftasche war und blieb verschwunden. Marianne hatte die Szene aus einiger Entfernung beobachtet. Sie blieb gelassen. Taschendiebstahl war hier an der Tagesordnung. Die Männer kauften trotzdem Crêpes; Matthiesen zahlte. Während sie aßen, beratschlagten sie, was nun zu tun sei. Ingo fuhr sich nervös mit der Hand durch das Haar. Er überlegte laut, wieviel Geld und welche Papiere ihm abhanden gekommen waren. "Zur Polizei", schlug Oliver vor. Thomas schüttelte den Kopf: "Ach, das ist viel zu nervig. Wir können uns denen gar nicht vernünftig verständlich machen! Laßt uns erst einmal ins Hotel fahren. Da kann uns jemand helfen." "Ja, das ist wohl besser", meinte Ingo. "Und zwar jetzt gleich - mir ist die Lust am Markt vergangen." Marianne sah auf die Uhr: Viertel nach zwölf. Die Männer machten nun kehrt und schlugen den kürzesten Weg zur Métro- Station ein. Marianne folgte ihnen mit einigem Abstand.
Samstag, 24. Juli ‘99, 12.00 Uhr - Paris Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Gegen zwölf Uhr hatte Constanze in der Nähe der Rue du Faubourg- St - Honoré vier der exclusivsten Modehäuser von Paris abgeklappert; im letzten hatte sie nach ausgiebigem Suchen ein wunderschönes Seidentuch erstanden. Nun bummelte sie weiter durch die Straßen, wobei sie sich allmählich auf den Boulevard de Haussmann zubewegte, wo Fahrenholts Hotel lag. Sabrina Vollmer saß in einem Vorortzug der RER. Mit dem linken Arm umklammerte sie ihre weiße Reisetasche, die neben ihr auf den Sitz stand. Ihr gegenüber saß eine Frau mit einem kleinen, blonden Mädchen. Sie sprachen englisch miteinander. Sabrina hatte von ihrem Platz aus den bunten Übersichtsplan über das Métro- Netz im Blick. Bei jedem Halt des Zuges sah sie dorthin und stellte eine Schätzung darüber an, wann sie endlich die Station Châtelet/ Les Halles erreichen würde. Von dort aus würde sie sich ein Taxi zum Hotel nehmen. Ungeduldig trommelten ihre Fingerspitzen auf dem weichen, weißen Kunstleder. Ein junger, ärmlich gekleideter Mann betrat das Abteil. Er hielt einen Stapel Zettel in der Hand und begann wortlos damit, neben jeden Fahrgast ein Zettelchen zu legen. Sabrina zog ihre Tasche näher zu sich heran. Als sich der Mann ihrem Platz näherte, winkte sie mit der Rechten ab und schüttelte den Kopf. Der Mann behelligte sie nicht. Aber er legte einen der Zettel neben das kleine Mädchen. Sabrina konnte einen maschinegeschriebenem Text und einen bunten Anstecker erkennen. Die Frau ihr gegenüber warf einen Blick darauf, holte etwas Geld aus ihrer schwarzen Bauchtasche und nickte dem Kind ermunternd zu. Der junge Mann war inzwischen einmal durch das ganze Abteil gegangen und kehrte nun um. Wortlos sammelte er die meisten der Zettelchen samt Ansteckern
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wieder ein. Doch dreimal wechselte die Ware gegen 10 FF ihren Besitzer. Das kleine, blonde Mädchen und zwei weitere Kinder strahlten. Châtelet/ Les Halles. Endlich! Sabrina ergriff die Henkel ihrer Reisetasche und beeilte sich, zum Ausstieg zu kommen. Auf dem Bahnsteig suchte sie nach dem Schild "Sortie" - Ausgang. Sie folgte der Ausschilderung und stand bald darauf bei den Taxis. Sie schaute zur Normaluhr: halb eins. Sabrina zog den Zettel mit der Hoteladresse aus ihrer Hosentasche und ging auf den ersten Wagen in der Reihe zu.
Samstag, 24. Juli ‘99, 12.30 Uhr - Paris, Hotel Plaza Elysées Best Western Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Um halb eins kam Constanze vor Fahrenholts Hotel an. Ohne Zögern betrat sie die Lobby. Es herrschte reger Publikumsverkehr, aber Constanze entdeckte kein bekanntes Gesicht. Sie ging zur Rezeption. Ein Blick zu den Messinghäkchen am Schlüsselbrett: Nr.418 bis 420 waren belegt. Also keine unmittelbare Gefahr. Constanze fragte eine Dame von der Rezeption nach Yves Dubois. Die Dame ging in das angrenzende Büro und kam mit einem jungen Kollegen wieder, den ein Schildchen am Revers als M. Dubois auswies. Nachdem Constanze sich vorgestellt hatte, dirigierte er sie mit einer Kopfbewegung an das Ende des Tresens. Dank der Geschäftigkeit um sie herum konnten sie miteinander reden, ohne daß es besonders auffiel. Nein, eine Frau Fahrenholt aus Hamburg habe sich noch nicht wieder gemeldet. Auch sonst sei keine Nachricht für Herrn Fahrenholt eingetroffen. Und Marianne? Kein Anruf bisher. Ob Herr Fahrenholt eigentlich heute morgen etwas im Hotelsafe deponiert habe? Dubois sah in einer Liste nach. Ja, einen Briefumschlag, lautete die Antwort. ‘Das Geld’, dachte Constanze, ‘oder ein zweiter Satz der Computerausdrucke’. Vielleicht plante Thomas, die Unterlagen an einen zweiten Interessenten zu verkaufen - wo es doch beim erstenmal so ausgezeichnet funktioniert hatte. Sie bedankte sich und überlegte. Eigentlich konnte sie im Moment nichts anderes tun als abwarten. Ob sie sich in der gegenüberliegenden Brasserie ein schattiges Plätzchen suchen sollte, um sich dort mit einem eisgekühlten Drink die Zeit zu vertreiben, bis Sonja oder wenigstens Georg eintraf? Constanze verabscheute es, untätig herumzusitzen. Zum Einkaufen hatte sie aber auch keine rechte Lust mehr. Ob es wohl eine Möglichkeit gab, noch einmal in Fahrenholts Zimmer zu schlüpfen, um sich ein bißchen umzusehen? Sie ging zu den Fahrstühlen hinüber und drückte die Taste mit dem roten Pfeil nach oben. Auf der vierten Etage war alles still. Der dicke Teppichboden verschluckte jegliches Geräusch ihrer Schritte. Sie ging zu Zimmer 420 und versuchte, den Türknauf zu drehen. Nichts rührte sich.
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Plötzlich waren Männerstimmen hinter ihr. Constanze wagte nicht, sich umzudrehen. Sie lauschte - und atmete erleichtert auf: Sie sprachen französisch miteinander. Constanze wandte sich um. Zwei Männer in Monteursanzügen grüßten höflich. Sie gingen an Constanze vorbei bis zu den Fahrstühlen, wo einer von ihnen einen Knopf drückte. "Messieurs! Attendez, Messieurs!" Die gedämpfte Stimme gehörte einem Zimmermädchen, das mit eiligen Schritten hinter ihnen her den Flur entlang lief. Offensichtlich wollte es die Männer aufhalten. Die beiden wurden aufmerksam, einer gab ihr ein Handzeichen. Die junge Frau nickte und verlangsamte ihren Schritt. Gleich würde sie an Constanze vorbeigehen. Da half nur ein Trick. "Oh, ma clé! J'ai oublié ma clé dans ma chambre. Madame, avez- vous ...?" Constanze machte ihr hilflosestes Gesicht. Die junge Frau hielt inne, griff nach ihrem Schlüsselbund und seufzte fast unhörbar. Dann schloß sie Fahrenholts Zimmertür auf. "Pas de quoi, Madame", flötete sie und ging weiter in Richtung der Fahrstühle. Constanze lehnte sich von innen gegen die Zimmertür. Sie war drin! Und es war ganz einfach gewesen: ein bißchen Mut und ein bißchen kriminelle Energie! Aber jetzt pochte ihr Herz laut vor Aufregung. Zu dumm, daß sie überhaupt keine Ahnung hatte, wie lange sie sich hier gefahrlos aufhalten konnte! Ihr Blick wanderte einmal durch das Zimmer: Bett, Schreibtisch, Sitzecke - alles war aufgeräumt; der Kleiderschrank, daneben auf einem Hocker ein grauer Koffer. Der Koffer war nicht abgeschlossen; also warf Constanze einen Blick hinein. Ein lederner Kulturbeutel lag darin. Als Constanze den Reißverschluß aufzog, fielen ihr sofort mehrere leuchtend bunt bedruckte Kunststoffröhrchen auf. Bei näherem Hinsehen entpuppten sie sich jedoch als ganz gewöhnliche handelsübliche Vitamin- und Mineralstofftabletten. Die gleichen Nahrungsergänzungsmittel nahm Constanze selber manchmal. Sie war ein bißchen enttäuscht, aber eigentlich hatte sie gar nichts anderes erwartet. In einer Seitentasche befanden sich noch eine angebrochene Packung Kopfschmerztabletten sowie ein Röhrchen mit einem Pulver, das dem Etikett nach offensichtlich ein Schlafmittel war. Constanze packte alles wieder ein; dann ging sie zur Fensterfront hinüber, die sich auf der gegenüberliegende Seite des Raumes befand. Vorsichtig sah sie hinaus: Straßenseite - aber das Trottoir konnte sie nicht einsehen. Dazu hätte sie das Fenster öffnen und den Kopf hinausstrecken müssen. Das Gestühl vor der Brasserie war von hier aus gut zu erkennen, aber Georg schien noch nicht dort zu sitzen.
Samstag, 24. Juli ‘99, 12.30 Uhr - Paris, Clignancourt Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
"Frederike, reiß dich los. Es gibt auch in Deutschland Borten für deinen Wäscheschrank." Georg legte die Stirn in Falten. Es kostete ihn sichtlich Mühe, Geduld zu bewahren.
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Frederike machte Anstalten, ihm etwas ins Ohr zu flüstern. "Aber nicht so schöne, Liebling. Und nicht so billig." Laut sagte sie dann: "Hab Geduld, Georg. Ich bin ja gleich fertig. Als du deine Fotos gemacht hast, mußte ich auch warten." Frederike wühlte in Bergen von Weißwäsche, und Georg trat von einem Fuß auf den anderen. Um halb eins tippte er auf seine Armbanduhr. "Frederike, wir müssen jetzt los." "Ja, ich weiß. Laß mich ‘mal eben nachrechnen, Georg. Das geht auch ganz schnell.“ Georg atmete auf, als sie endlich bei der Händlerin bezahlt und den Einkauf in ihrem Rucksack verstaut hatte. "Jetzt aber schnell!“ drängte er. Im Eiltempo verließen sie gemeinsam den Marché Biron in Richtung Métro- Station Porte de Clignancourt.
Samstag, 24. Juli ‘99, 12.45 Uhr - Paris, Hotel Plaza Elysées Best Western Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Sabrina Vollmer stieg aus dem Taxi. Sie entlohnte den Fahrer und betrat zügig das Hotel. Die Ungeduld stand ihr im Gesicht geschrieben. An der Rezeption dann die erste Enttäuschung: Nein, Herr Fahrenholt sei schon den ganzen Vormittag unterwegs. Aber wenn sie warten wolle?! Die Dame von der Rezeption verwies sie auf eine Sitzecke im hinteren Teil der Lobby. Sabrina seufzte ergeben. Nach einer flüchtigen und ergebnislosen Inspektion des Kleiderschrankinhaltes sah sich Constanze kurz in Fahrenholts Badezimmer um. Neulich in Mariannes Beisein hatte sie ja keine Gelegenheit gehabt, es genauer unter die Lupe zu nehmen. Es war ein modernes Duschbad; weiß gefliest, mit hellblauen Sanitär- Objekten und einem großen, beleuchteten Spiegel über dem Waschtisch. Kein Fenster. Auf einem niedrigen Regal neben dem Bidet ein Stapel hellblauer Hand- und Duschtücher und einige Toiletten- Artikel, die offenbar einem Mann gehörten. Dazu eine Schachtel mit Pfefferminzbonbons von der Marke, die Thomas dauernd lutschte. Auch hier also nichts Besonderes! Sabrina hatte kaum die erste Zigarette geraucht, als auch schon Thomas und seine beiden Freunde die Lobby betraten. Sabrina drückte sich etwas tiefer in den Sessel: Die drei mußten sie ja nicht sofort sehen! Sie nahmen ihre Anwesenheit aber überhaupt nicht wahr. Alle drei, voran Ingo Wolf, gingen zielstrebig auf die Dame an der Rezeption zu. Offensichtlich hatten sie etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen. Sabrina nahm ihre Tasche, stand auf und ging zu den Fahrstühlen hinüber, wo sie in einer Nische stehenblieb und wartete. Marianne hatte Thomas Fahrenholt und seine Begleiter ins Hotel gehen sehen.
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Sie wartete zwei, drei Minuten, dann betrat sie ebenfalls die Lobby. Die drei Männer standen noch an der Rezeption und sprachen mit einer Hotelangestellten. Ingo Wolf wirkte ziemlich aufgeregt. Marianne winkte Yves Dubois zu. Die beiden gingen in das Büro hinter dem Rezeption; dort waren sie ungestört. Sie sah auf ihre Uhr. "Der Bademeister hat doch noch bis ein Uhr Mittagspause oder?“ fragte sie leise. Er antwortete mit einem Grinsen: "Und meistens überzieht er noch um zehn Minuten.“ "Wunderbar, dann kann ich ja schnell noch ein paar Bahnen schwimmen.“ Sie tippte auf ihren Rucksack. "Meinen Bikini hab’ ich dabei. Kommst du mit?“ Er zuckte bedauernd die Schultern und wies auf den Dienstplan an der Wand. "Geht nicht. Pierre ist ausgefallen; ich muß jetzt gleich seine Schicht übernehmen.“ "Wirklich schade. Dann lege ich mich vielleicht auch nur kurz auf die Sonnenbank. Ach übrigens, gab es heute morgen etwas Besonderes?“ Er berichtete kurz über den Anruf einer Frau Fahrenholt und darüber, daß er Constanze verständigt hatte. "Danke, Yves. Bitte ruf doch noch jemanden für mich an, und zwar jetzt gleich.“ Rasch notierte sie Georgs Handy- Nummer. "Sag ihm folgendes: Fahrenholt befindet sich wieder im Hotel, es gibt keine besonderen Vorkommnisse, und ich werde mich gegen Abend wieder melden.“ Zurück in der Lobby, sah Marianne, daß Fahrenholt und seine Freunde immer noch an der Rezeption standen. Als sie eben den Weg zur Treppe einschlagen wollte, sprach Ingo Wolf sie an. Er hatte sie als das Zimmermädchen aus Wien erkannt; nun hoffte er auf ihre Übersetzungshilfe, wenn er am Nachmittag bei der Polizei den Taschendiebstahl zur Anzeige brachte. Das hatte Marianne gerade noch gefehlt! Sie äußerte ihr Bedauern und schützte dann eine dringende Verabredung vor, damit sie noch zu ihrem heimlichen Vergnügen kam. Sabrina drückte die Kippe in den Ascher neben der Fahrstuhltür. Wie lange würde dieser Mann denn noch da vorne am Empfang herumstehen? Genervt lugte sie um die Ecke. Da kam er endlich, und zum Glück allein! Sie trat einen Schritt vor. "Hallo Tom!" Er starrte sie an, als sähe er ein Gespenst. Dann fragte er in scharfem Ton: "Was willst du hier?" "Wir haben etwas zu besprechen“, antwortete sie kühl. "Welche Zimmernummer hast du?“ Er zögerte. Da klingelte sein Handy. Er sah sich kurz um. Oliver und Ingo standen immer noch an der Rezeption. "Ich muß jetzt erst telefonieren“, sagte er. "Geh' schon vor nach oben; Zimmer 420." Er gab ihr den Schlüssel. Während Sabrina per Lift in die vierte Etage hinauffuhr, ging Thomas Fahrenholt über die Treppe hinunter ins Untergeschoß des Gebäudes. Er hatte das Telefonat angenommen, aber gleich darauf wieder beendet; denn auch hier war er nicht ungestört: Linker Hand befand sich offenbar der Küchentrakt; dort herrschte zur Zeit Hochbetrieb, und dauernd eilte jemand vom Personal über den breiten Flur.
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Er wandte sich nach rechts. Hier war es angenehm ruhig. Mit dem Rücken drückte er die erstbeste Tür auf - und stand in der Schwimmhalle des Hotels. Constanze hatte eben Fahrenholts Zimmertür leise hinter sich zugezogen, da hörte sie das Geräusch einer sich öffnenden Fahrstuhltür. Sie vermied es, einen Blick dorthin zu werfen, sondern ging mit raschen Schritten den Flur in entgegengesetzter Richtung entlang bis zu der Nische mit dem modernen Gemälde. Als sie vorsichtig um die Ecke lugte, sah sie gerade noch, wie eine ihr fremde Frau in Fahrenholts Zimmer verschwand. Und wo war Sonja? In der Schwimmhalle herrschte gedämpftes Licht; die Palmen und Bananenstauden in hölzernen Kübeln warfen dunkle Schatten. Es war mäuschenstill bis auf das leise Gluckern der Umwälzpumpe. Keine Menschenseele schwamm hier um die Mittagszeit. Das Wasser in dem türkis gekachelten Becken lag still wie die Suppe in einem Teller. Keiner der weißen Liegestühle war belegt. Thomas Fahrenholt war ganz allein im Raum. Er lehnte sich neben der Tür gegen die Wand und tippte eine Rufnummer in sein Handy. Er erreichte seinen Gesprächspartner sofort. "Ich bin’s. Ja, jetzt bin ich ungestört.“ Er sprach mit gedämpfter Stimme. "Hat die Übergabe gestern abend geklappt?“ "Natürlich." "Und das Geld?“ "Das ist am vereinbarten Ort." "Und die Sache heute abend kann um acht steigen?“ "Von uns aus, ja. Ich habe heute früh alles mit Jean besprochen. Aber der Kunde ist sich noch nicht sicher.“ "Mit Jean? Ich denke, dieser Luc sollte das für uns einfädeln?!“ "Das hast du verwechselt. Luc macht nur in Bildern. Jean ist der Mann aus dem Antiquitätengeschäft - der kennt sich mit Porzellan aus.“ "Wann entscheidet sich die Sache? Ich will keine Nachtaktionen.“ "Natürlich nicht. Die Entscheidung müßte gerade gefallen sein. Ich rechne eigentlich jeden Moment mit Jeans Anruf. Wenn der Kunde an der Angel geblieben ist, dann ist die Sache um halb neun durch. Sag ‘mal, warum bist du eigentlich so nervös? Es hat doch bisher alles wie am Schnürchen geklappt. Diese letzte Aktion wird genauso sauber abgewickelt, und morgen mittag verlassen wir die Stadt. Claudine hat schon alles gepackt.“ "Sehr gut. Ich bin nicht nervös, aber bei mir ist ein kleines, unvorhergesehenes Problem aufgetaucht: Vorhin ist diese Sabrina hier im Hotel aufgekreuzt.“ "Was? Deine Mieze aus der Apotheke? Hat sie kalte Füße gekriegt?“ Fahrenholt schüttelte den Kopf. Dann sagte er: "Nein, ich glaube nicht. Sie war ziemlich cool. Ich fürchte, sie will mir wegen der Hamburger Sache in die Suppe spucken.“ "Du mußt sie eben bis morgen mittag hinhalten!“ Thomas Fahrenholt seufzte. "Leichter gesagt als getan! Wo bist du jetzt?“ "In der Tiefgarage. Soll ich kommen?“ "Keine schlechte Idee!“ Plötzlich hielt er inne. Da war doch ein Geräusch gewesen! "Moment ‘mal eben - bleib dran!“ sagte er betont langsam, während er seine Turnschuhe auszog; dann schlich er zum Rand des Schwimmbeckens.
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Er lauschte. Da war es wieder: ein Klicken - und es kam aus Richtung der Kabine mit der Sonnenbank. Sekunden später riß er den Vorhang zur Seite: Die Kabine war leer, aber im selben Moment hörte er, wie nackte Füße in Richtung Ausgang liefen. Langsam wurde das Warten in der Flurnische für Constanze langweilig. Es war mittlerweile ein Uhr; die Frau befand sich noch immer allein in Fahrenholts Zimmer. Sie selber würde spätestens um halb zwei hier weggehen müssen, um rechtzeitig zu ihrer Verabredung ins Musée d’ Orsay zu kommen! Endlich tauchte Fahrenholt auf. Auf sein Klopfen ließ die Frau ihn in sein Zimmer. Constanze schlich zu seiner Tür und versuchte zu lauschen. Die beiden unterhielten sich auf deutsch miteinander, das konnte sie gleich hören. Und die Tonlage der Frau ließ darauf schließen, daß sie ziemlich ärgerlich war. Seine Stimme dagegen klang eher beschwichtigend. Immer auf der Hut, daß jemand den Flur entlang kommen könnte, preßte Constanze ein Ohr gegen die Tür. Sie wagte kaum zu atmen. Jetzt wurde die Frauenstimme noch lauter, so daß Constanze tatsächlich einiges verstehen konnte: "Du kanntest dich doch mit den Pillen gar nicht aus! Ohne mich wärst du nie so sauber an die Unterlagen gekommen! Der Alte ..." Die Frauenstimme brach ab. "Schrei gefälligst nicht so!" fuhr er sie an. "Könnte wohl jemand hören, was?" höhnte sie. "Aber keine Angst: Ich will keine Polizei, ich will nur morgen zusammen mit dir verreisen!“ Constanze trat vorsichtig einen Schritt zurück. Besser, sie ging jetzt! Also rückte sie ihre Perücke zurecht, hängte ihr Tasche über die Schulter und entfernte sich leise in Richtung des Treppenhauses. Falls Ingo Wolf und Oliver Matthiesen gerade jetzt von ihrem Flohmarktbummel zurückkehrten, würde sie ihnen hier wohl kaum begegnen; die beiden nahmen sehr wahrscheinlich einen der Fahrstühle am anderen Ende des Flures. Das Treppenhaus war wie ausgestorben. ‘Kein Wunder, daß die Leute immer dicker werden’, dachte Constanze; ‘sie werden ja auch immer bequemer.’ Kaum jemand ging heute noch zu Fuß, wenn er einen Lift benutzen konnte. Constanze befand sich auf Höhe der zweiten oder ersten Etage, als sie erstmals Schritte hörte; sie kamen von weiter unten. Kurz darauf konnte sie die Person, die sich ihr mit kräftigen Schritten näherte, erkennen. Um ein Haar hätte sie aufgeschrien: Thomas Fahrenholt kam ihr entgegen! Sie riß sich zusammen. Immerhin trug sie eine Perücke, immerhin wußte er gar nicht, daß sie sich in Paris aufhielt! Sie sah ihn nicht an, als sie an einander vorbeigingen. Sie sah sich nicht um, als er einen Augenblick später stehen blieb. Sie ging einfach weiter. Doch plötzlich überkam sie die Panik: Er hatte nämlich kehrt gemacht! Sie fing an zu laufen, immer eine Hand am Geländer. Er kam rasch hinterher. Gleich mußte sie das Erdgeschoß erreicht haben. Gleich würde sie bei der Tür angelangt sein, die über einen breiten Flur zur belebten Lobby führte! Das mußte sie sein! Constanze stieß die breite Tür auf und rannte auf den dahinterliegenden Flur. Aber zur Lobby ging es hier nicht. Sie mußte wohl unterwegs die Orientierung über die Stockwerke verloren haben. Offensichtlich befand sie sich schon im Untergeschoß.
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Ohne weiter nachzudenken, lief sie den Flur entlang, bog einmal um die Ecke: "Piscine" - die Tür zum Schwimmbad! Constanze drückte die weiße Tür mit Milchglasscheibe auf und lief in die Halle. Der ganze Raum war in gedämpftes Licht getaucht; Deckenstrahler ließen das Wasser in dem rundlichen Becken wie einen großen, geschliffenen Türkis schimmern. Hier badete im Moment wohl niemand - niemand bis auf eine einzige Person, die zur Zeit im Pool tauchte. Constanze lief zum Beckenrand - und erstarrte: Im Pool trieb leblos der unbekleidete Körper einer Frau! Das einzige Geräusch in der Halle war das leise Gluckern der Umwälzpumpe. Bloß ‘raus hier! Aber wo war der Notausgang? Constanze sah sich suchend um. Die Eingangstür schwang noch immer leicht nach. Rechts vom Eingang ging es zu den Umkleidekabinen und zum Solarium, aber im linken hinteren Teil der Halle leuchtete über einer Tür ein roter Schriftzug: „Sortie“. Plötzlich wurde die Tür zum Schwimmbad aufgestoßen. Thomas Fahrenholt stand im Eingang. Er erfaßte die Situation sofort. Er grinste. „Das schaffst du nicht!“ rief er. Constanze zwang sich zur Ruhe. Es gab bestimmt noch eine andere Fluchtmöglichkeit, und die mußte sie schnellstens finden. Vielleicht ließ er sich inzwischen hinhalten. "Was willst du von mir?“ rief sie zurück. "Ich will mit dir reden.“ "Reden? Worüber denn?“ Ihre Augen suchten die Wände in erreichbarer Nähe ab. "Das sag’ ich dir nachher.“ "Nachher? Wo willst du denn nachher mit mir reden?“ In diesem Moment war ihr Blick auf den Feuermelder rechts neben ihr an der Wand gefallen. Seine Antwort in diesem trivialen Dialog ging im Geheul einer Sirene unter; denn Constanze hatte soeben mit aller Kraft die Glasscheibe des Feuermelders eingeschlagen und den Alarmknopf gedrückt. Nun rannte sie auf den Notausgang zu. Als sie wieder denken konnte, lehnte Constanze atemlos an einem Müllcontainer mit Küchenabfällen. Mit zitternden Fingern tippte sie GeorgsTelefonnummer in ihr Handy; dabei behielt sie ängstlich die Tür im Auge, durch die sie gerade eben ins Freie gestürzt war. „Georg?“ Ihre Stimme klang heiser, "Georg, du mußt sofort kommen! Es ist etwas Schreckliches passiert. Hör zu, ich bin jetzt im Hinterhof des Hotels, da, wo die Müllcontainer stehen. Du kommst durch das Untergeschoß hierher. Beeil dich, und bleib auf jeden Fall am Apparat!“ Sie zog die Perücke vom Kopf. Ihr war furchtbar heiß. Bis jetzt war ihr niemand auf dem Weg nach draußen gefolgt. Gleich würde Georg bei ihr sein. Jetzt konnte sie aufatmen. Das Handy am Ohr, wanderte sie langsam um den Müllcontainer herum. Georg war schon vor dem Hotel; es konnte nicht mehr lange dauern. Der Schlag auf ihren Hinterkopf kam für Constanze völlig unerwartet. Weder sah sie, wer sie niederschlug, noch registrierte sie, was anschließend geschah.
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Als Georg sie Sekunden später auf dem Hinterhof fand, war sie bewußtlos. Neben ihr auf dem Asphalt lag die Perücke, etwas weiter weg ein Lippenstift; von ihrem Handy keine Spur. Es dauerte ein paar Minuten, bis Constanze wieder zu sich kam. Zum Glück schien der Schlag außer einer Beule am Hinterkopf keinen weiteren Schaden verursacht zu haben. Binnen kürzester Zeit fiel ihr wieder ein, was sich zuvor im Hotel ereignet hatte. Während sie berichtete, machte Georg eine ziemlich besorgte Miene. Er bestand darauf, sofort mit Constanze per Taxi ins Bristol zu fahren und von unterwegs Jason und Frederike anzurufen. Constanze hatte ihren Lippenstift gefunden, Sie öffnete die Metallhülse und drehte daran. Dann verzog sie das Gesicht. "Guck ‘mal: abgebrochen; der war nagelneu!“ "Mensch, Constanze! Ich bin froh, daß dein Kopf noch heil ist, und du ...!“ "Ach, Georg“, beschwichtigte sie ihn. "Ist wahrscheinlich eine reine Übersprunghandlung, damit ich nicht dran denken muß, daß der Kerl jetzt außer dem Handy auch meine Tasche hat - und damit einen Haufen Informationen!“ Sie stand vorsichtig auf; dann warf sie den Lippenstift weg. Der neue Kußechte war nur noch ein Fall für den Container.
Samstag, 24. Juli ‘99, 14.00 Uhr - Paris, Hotel Plaza Elysées Best Western Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
"Du Miststück! Ich hab’ geahnt, daß du mich sitzenlassen wolltest." Sabrina kochte vor Wut. "Ruf jetzt sofort die Fluggesellschaft an, und buch’ einen zweiten Flug, Tom!" Nervös zündete sie sich die x- te Zigarette an. "Das ist doch Unsinn, Sabrina. Natürlich wollte ich alleine nach Zürich fliegen, aber doch nur in einer geschäftlichen Angelegenheit. Nächste Woche wäre ich wieder in Hamburg gewesen, und wir hätten uns wie verabredet getroffen." Sie seufzte. "Ich weiß nicht, ob ich dir das glauben soll, Tom! Vorhin hast du mich auch ganz schön verschaukelt.“ "Ach, das war doch harmlos!“ wiegelte er ab. "Habe ich nicht alles aufgeklärt? Daran siehst du doch, daß alles nur ein Scherz sein sollte.“ Er küßte flüchtig ihre Wange. Dann machte er eine ungehaltene Handbewegung. "Vor lauter Nervosität qualmst du hier das ganze Zimmer voll, Sabrina." Er ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt. Dabei warf er einen Blick auf die Straße. Der Rettungswagen von vorhin war inzwischen abgefahren. "Wollen wir nicht lieber etwas trinken?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er eine Flasche Champagner aus dem Kühlschrank und hielt sie in die Höhe. "Hol doch ‘mal ein kleines Handtuch aus dem Bad!“ Während sie das Gewünschte holte, konnte er unbemerkt seinen schwarzen Koffer und den darin verwahrten Kulturbeutel öffnen und das Röhrchen mit dem weißen Pulver an sich nehmen. Kurz darauf stießen sie an. Sabrinas Laune besserte sich zusehends unter Einfluß des Champagners. Sie wurde richtig unternehmungslustig und versuchte Thomas Fahrenholt zu überreden, noch an diesem Nachmittag mit ihr gemeinsam
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den Eiffelturm zu besichtigen. Zu ihrer Enttäuschung zeigte er sich davon gar nicht begeistert. "Ich habe Ingo und Oliver zugesagt, daß ich mich mit ihnen nachher im naturgeschichtlichen Museum treffe.“ Sabrina verzog das Gesicht und wollte wissen, wo das sei. "Am anderen Seine- Ufer, im Botanischen Garten.“ "Dahin könnte ich doch mitkommen“, schlug sie vor. Nun verzog er das Gesicht. "Natürlich! Damit die Jungs endlich genau wissen, daß wir zusammen sind und das brühwarm meiner Frau erzählen! Sag ‘mal, wie blöd bist du eigentlich?“ Sie seufzte. "Aber was soll ich denn die ganze Zeit hier machen?“ Ihre Stimme klang einigermaßen verzweifelt. "Schätzchen“, er strich ihr sanft über das Haar und sah sie mitfühlend an, "du hast etwas überstürzt gehandelt, und nun müssen wir zwei erst einmal in Ruhe umdisponieren. Laß mich ‘mal überlegen: Heute nachmittag habe ich zwar keine Zeit für dich, aber gegen Abend, da könnten wir etwas gemeinsam unternehmen, ohne daß die beiden etwas davon mitkriegen.“ "Und wie soll das gehen?“ fragte sie ziemlich mutlos. "Ganz einfach: Ich trenne mich, sagen wir um sechs, von den beiden und fahre mit der Métro zurück. Wir treffen uns ab halb sieben an der Station Champs de Mars/ Tour Eiffel.“ Sabrina schüttelte den Kopf. "Das finde ich nie, Tom.“ Er überlegte kurz. "Na gut“, sagte er dann, "dann eben um halb sieben im Bistro gegenüber dem Hotel. Bis dahin bummelst du eben ein bißchen in der Stadt. Ich hole dich ab. Und dann fahren wir zusammen nach Versailles ‘raus und genießen dort den Sonnenuntergang. - Das ist doch ‘was für romantische Pärchen - oder?“ Sie fiel ihm um den Hals. "Oh Tom, das ist wunderbar!“ Geduldig ließ er ihre Zärtlichkeiten über sich ergehen; doch dann ermahnte er sie: "Denk dran, Sabrina, daß du das Hotel erst dann zu deinem Bummel verläßt, wenn ich mit den Jungs weg bin!“ Sie versprach es.
Samstag, 24. Juli ‘99, 14.00 Uhr - Paris, Hotel Bristol, Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Constanze und Georg warteten in der Lobby mit Ungeduld auf Jason und Frederike. An der Rezeption hatte man Constanze eine schriftliche Nachricht von Herrn Wiegand ausgehändigt. Sie war auf zehn Uhr morgens datiert. Darin teilte er ihr mit, daß er telefonisch Rücksprache mit der Besitzerin des Kunstwerkes genommen habe. Die Dame wolle jedoch unbedingt jegliches Aufsehen vermeiden; deshalb habe man darauf verzichtet, in besagter Angelegenheit die Pariser Polizei einzuschalten. Constanze reichte Georg den handgeschriebenen Brief. "Hier“, sagte sie mit einem Seufzen, "er hat gleich nach dem Frühstück ausgecheckt. Wahrscheinlich ist er schon nicht mehr in der Stadt.“ Ein Jammer, daß diese Frau nichts weiter unternehmen wollte!
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Während Georg den Brief überflog, ließ Constanze wie zufällig ihren Blick durch den hinteren Teil der Lobby schweifen. Dort war eine junge Frau gerade damit beschäftigt, ein Stück Seide auf einen Holzrahmen zu spannen. Ob sie das besagte Tuch gemalt hatte? Während Constanze noch überlegte, flüsterte ihr Georg zu, was er gerade in diesem Moment bemerkte: Das Tuch mit der Tänzerin befand sich nicht mehr in der Vitrine. "Ich frag’ ‘mal.“ Damit stand Georg auch schon auf und ging zu der Malerin hinüber. Kurz darauf kam er zurück. "Das ist Madeline Legrand. Sie sagt, ihre Kollegin Claudine habe die Vitrine am Freitag mittag dekoriert und dieses Tuch - Künstler unbekannt! - irrtümlich mit ausgestellt. Heute mittag habe Claudine offenbar wieder umdekoriert.“ "Und wann kommt diese Claudine wieder?“ "Frühestens in einer Woche. Morgen verreist sie nämlich für ein paar Tage mit ihrem Freund. Madeline meint, wir könnten Claudine anrufen; sie spricht sogar deutsch.“ Georg reichte Constanze einen Zettel mit Claudines Telefonnummer. "Hm“, meinte Constanze. "Vielleicht nachher.“ Als Jason und Frederike zehn Minuten später immer noch nicht eingetroffen waren, ging Constanze selber zu Madeline Legrand hinüber. Als ihre Kollegin wußte die vielleicht noch mehr über Claudines private Aktivitäten. Madeline gab an, daß Claudine hauptberuflich in einer Kunstgalerie am Boulevard St- Germain arbeitete. Die Seidenmalerei hier im Hotel war nur ein Nebenjob. Claudines Freund kannte Madeline nur vom Telefon; sie wußte über ihn lediglich, daß er ein deutscher Geschäftsmann war, André hieß und ausgezeichnet französisch sprach. Als Jason und Frederike endlich im Bristol ankamen, waren weitere zehn Minuten vergangen, und an der Rezeption war gerade eine Nachricht für Jason von Yves Dubois eingetroffen. Er bat um sofortigen Rückruf ausschließlich durch Jason Philipps. Jason rief ihn von seiner Suite aus an, und kurz darauf wußten die vier, was Dubois Wichtiges mitzuteilen hatte: Marianne war tot; ertrunken oder ertränkt im Swimming- Pool des Hotels, in dem sie gearbeitet hatte. Erst die Obduktion würde ergeben, ob ihr Tod durch Fremdeinwirkung herbeigeführt worden war. Angesichts dieser Nachricht trat abrupt alles andere in den Hintergrund. Constanze verschwendete keinen einzigen Gedanken mehr an eine Claudine Boucher, die offensichtlich mit wertvollen Bildern handelte, die jemand zuvor aus den Villen reicher Witwen gestohlen hatte. Jason, Frederike und Georg saßen betroffen im Salon der Suite. Constanze kniete im Badezimmer vor der Toilette. Obwohl sie nach dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, mußte sie erbrechen. Ihr war übel und hundeelend. Das blanke Entsetzen hatte sie gepackt.
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Samstag, 24. Juli ‘99, 14.30 Uhr - Paris, Hotel Plaza Elysées Best Western Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Ingo Wolf öffnete Thomas Fahrenholt die Zimmertür. "Komm ‘rein. Oliver und ich haben inzwischen festgestellt, was mir alles abhanden gekommen ist. Die Kreditkarte habe ich schon sperren lassen.“ "Na, dann hält sich der Schaden wohl in Grenzen.“ "Kann man so sagen; aber ich habe keinen Paß, keinen Perso und keinen Führerschein mehr. Und 500,-- Mark sind weg!“ Fahrenholt klopfte ihm jovial auf die Schulter. "Ach Alter, solange man seine Dummheit noch mit Geld bezahlen kann ...!“ "Hab’ ich auch schon gesagt“, pflichtete ihm Oliver Matthiesen bei. "Wißt ihr ‘was? Wir sollten gerade deshalb noch heute etwas für unsere Bildung tun! Ich habe da genau das Richtige gefunden, um den Nachmittag zu verbringen. Macht euch fertig, Jungs, es geht ins Museum! Hier ist die Adresse. In zehn Minuten hole ich euch ab!“ Damit drehte sich Thomas Fahrenholt um und ging.
Samstag, 24. Juli ‘99, 14.30 Uhr - Paris, Hotel Bristol, Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
"Ich finde, wir sollten uns der Polizei anvertrauen, Jason", meinte Frederike. "Das Ganze gerät außer Kontrolle. Außerdem sind Georg und ich ab morgen nicht mehr hier, um dir und Constanze zu helfen ... Georg hat Montag um 9.00 Uhr in Hamburg Redaktionssitzung.“ "Ja, ich verstehe“, antwortete Jason. "Wenn Constanze wieder hier ist, sollten wir darüber besprechen, ob und wie es weitergehen kann. In der Zwischenzeit bestelle ich uns Tee.“ "Vielleicht solltest du auch den Hotelarzt kommen lassen, falls es einen gibt“, schlug Frederike vor. "Es geht Constanze nicht besonders.“ Der Hotelarzt kam eher als der Tee. Die Patientin habe zwar keine Gehirnerschütterung, sei jedoch völlig überreizt, diagnostizierte er. Entsprechend verordnete er Bettruhe und ein leichtes Beruhigungsmittel. Constanze paßte das gar nicht. Sie hatte eine eiskalte Dusche genommen und fühlte sich wieder etwas besser. Kaum daß der Arzt gegangen war, saß sie mit den anderen im Wohnraum und schenkte sich eine Tasse Tee ein. "Ich muß euch erst einmal aufklären“, sagte sie zu Frederike und Georg. "Ihr kennt von der Geschichte mit Vater nur die erste Hälfte.“ Dann erzählte sie ihnen den zweiten Teil. Danach erklärte sie: "So, und jetzt lege ich mich für eine Stunde ins Bett; entschuldigt mich bitte. Jason, ruf du bitte Vater an, und bring ihm möglichst schonend bei, was Marianne passiert ist.“ Die Beruhigungstabletten drückte sie Frederike in die Hand. "Hier, für deine Nerven! Damit du den Nachmittag mit Schimmelmeyer durchstehst. Da die Museumsfotos heute ausfallen, macht ihr zwei ja wohl seinen Rundgang durch’s Quartier Latin mit?! Ich rufe euch gegen sieben an.“ "Ist vielleicht das Beste“, meinte Georg. „Bis dann, Constanze.“
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Samstag, 24. Juli ‘99, 15.00 Uhr - Paris, Métro- Station George V Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
"Beeil dich, Tom!“ rief Oliver. "Fahrt schon vor! Ich nehme die nächste. Wir treffen uns im Museum - bei den Saurierskeletten, immer zur halben Stunde.“ Thomas Fahrenholt zuckte bedauernd die Schultern, als die automatische Tür der Bahn direkt vor ihm schloß. Doch dann machte er sich auf die Suche nach einem öffentlichen Fernsprecher. Er hatte noch eine Verabredung für den Abend zu treffen. "Ganz richtig: um halb zehn auf der Terrasse; das ist kurz bevor der Park schließt“, vergewisserte er sich, daß sein Gesprächspartner ihn richtig verstanden hatte. "Sei unbedingt pünktlich!“ "Das wird aber sehr knapp für mich“, wandte sein Gesprächspartner ein. "Kannst du das nicht allein erledigen?“ "Ausgeschlossen! Das ist mir zu unsicher. Kannst du dich nicht bei der anderen Sache etwas eher abseilen?“ "Du bist gut! Ich bin doch das letzte Glied in der Kette! Außerdem muß ich das Geld noch deponieren.“ "Doch nicht für die eine Nacht! Bring es einfach mit!“
Samstag, 24. Juli ‘99, 16.00 Uhr - Paris, Hotel Bristol Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Constanze schreckte auf. Sie hatte tatsächlich geschlafen. Ihre Armbanduhr auf dem Nachttisch zeigt vier Uhr nachmittags. "Jason?“ Keine Antwort. Vielleicht hatte er sie nur nicht gehört. Etwas schlaftrunken stand sie aus dem Bett auf, zog ihren Morgenmantel über und ging in den Salon. Da war niemand. Auf dem antiken Schreibtisch lag ein Zettel: "Bin bei der Polizei - wegen Marianne. Kuß, Jason. 15.00 Uhr.“ Da war es wieder: ein Klopfen an der Tür. "Wer ist denn da?“ fragte sie auf französisch. Wieder ein Klopfen. "Der Zimmerservice, Madame. Ich bringe den Fruchtsaft für Sie“, sagte jemand auf deutsch. Constanze fühlte sich noch immer benommen. "Kommen sie herein, und stellen Sie alles auf den Tisch“, sagte sie und ging ins Bad, um sich frisch zu machen. Danach machte sie es sich auf dem großen Sofa mit dem floralen Fantasie- Design gemütlich. Sie schaltete das Fernsehgerät ein; und während sie die Kanäle nach einem Programm durchsuchte, das ihr gefiel, trank sie ein großes Glas von dem eisgekühlten Maracuja- Cocktail.
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Doch kurz darauf wurde ihr flau im Magen, und das Zimmer begann, sich um sie zu drehen; das Glas glitt aus ihrer Hand. Als sie es aufheben wollte, spürte sie, daß noch jemand im Raum war. Sie wollte sich umdrehen, doch dazu kam sie nicht mehr: Denn plötzlich legten sich kräftige Hände von hinten um ihren Hals. Sie versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien, aber es gelang ihr nicht. Der Druck wurde stärker; sie rang nach Luft. Das bunte Sofa, das Zimmer, alles um sie herum drehte sich mit rasender Geschwindigkeit, in ihren Ohren war ein Dröhnen. Auf einmal ließ er von ihr ab. Das Dröhnen in ihren Ohren ließ nach, sie keuchte und hustete; allmählich bekam sie wieder Luft. Was nun um sie herum geschah, nahm sie nur wie durch einen Wattefilter wahr: hektische Schritte, ein Türknallen, dann jemand, der beruhigend auf sie einredete. Sie verstand kein Wort; sie fühlte nur, daß die Bedrohung vorbei war.
Samstag, 24. Juli ‘99, 18.30 Uhr - Paris, ein Bistro am Boulevard Haussmann Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
"Endlich, Tom!“ Sabrina war von ihrem Korbstuhl aufgestanden und gab ihm einen Kuß auf den Mund. Widerwillig ließ er es geschehen. "Drei Stunden bin ich durch die Stadt gelaufen, Tom. Also, das sag ich dir: Hier gibt das Geschäfte - der helle Wahnsinn! Du, hier müssen wir noch einmal herkommen, am besten gleich für eine ganze Woche! Und dann kaufen wir Klamotten ein ...“ "Ja, klar. Das bereden wir noch, Schätzchen. Aber jetzt wollte ich eigentlich mit dir den romantischen Teil des Tages einläuten“, entgegnete er. Dann zahlte er ihren Café au lait, und sie machten sich zu Fuß auf den Weg zur nächsten Métro- Station.
Samstag, 24. Juli ‘99, 19.30 Uhr - Paris, Hotel Bristol, Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
"Das war knapp!“ war Constanzes lakonischer Kommentar, als sie wieder einigermaßen wach war. "Haben Sie ihn erkannt?“ wollte einer der beiden Polizeibeamten wissen. "Nein. Aber vielleicht der Hotelarzt.“ "Das konnte er nicht. Als er hereinkam, war er völlig überrascht von der Szene, die sich hier gerade abspielte. Der Täter war maskiert und stürzte Hals über Kopf an ihm vorbei aus dem Raum.“ "Na ja, ich habe immerhin einen Verdacht. Außerdem haben Sie doch wahrscheinlich Fingerabdrücke an den Karaffen gefunden.“ "Sogar viele Fingerabdrücke, Madame - aber alle von Ihnen.“ "Oh. Und sonst nichts?“ "Nehmen Sie für gewöhnlich Schlafmittel ein, Madame?“ Constanze verneinte.
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"Und ausnahmsweise, Madame - ich meine, nach besonders aufregenden Ereignissen?“ "Auch nicht ausnahmsweise. Sie haben wohl etwas in dem Maracuja- Saft gefunden?“ "Ich lasse den Saft gerade im Labor analysieren; Ihrem Befinden nach wurde er vermutlich mit einem Medikament versetzt. Sie hatten wirklich großes Glück, Madame, daß Monsieur Philipps den Hotelarzt gebeten hatte, noch einmal nach Ihnen zu sehen. Und nun erzählen Sie mir bitte von ihrem Verdacht!“ Constanze erzählte - von der verschwundenen Diskette, den von ihr in Fahrenholts Hotelzimmer gefundenen Computerausdrucken, dem Deal mit der Firma Guy de Lassalle und dem Flug nach Zürich; dann von ihrer Begegnung mit ihrem Schwager im Schwimmbad seines Hotels, der Leiche im Pool und dem Überfall im Hinterhof. "Das paßt ganz gut zu der Geschichte, die Monsieur Philipps heute nachmittag meinem Kollegen zu Protokoll gegeben hat“, meinte der Beamte. "Aber ich brauche von Ihnen noch ein paar möglichst genaue Zeitangaben.“ Constanze antwortete ihm, so gut sie konnte. "Allerdings“, überlegte sie abschließend, "frage ich mich, wie er heute mittag so schnell von seinem Zimmer aus ins Treppenhaus gelangen konnte, daß wir uns dort noch begegnet sind.“ "Ganz einfach“, meinte Jason. "Er wird dich eben doch vor seiner Tür bemerkt haben, und als du in Richtung Treppenhaus gegangen bist, ist er mit dem Lift nach unten gefahren ...“ "Und er hat sich umgezogen, während er mit dieser Frau stritt? Also, ich weiß nicht recht ...“ Man werde alle Angaben überprüfen, sagte der vernehmende Polizeibeamte abschließend. Außerdem werde man diesen Thomas Fahrenholt befragen, sowie man ihn gefunden habe. In seinem Hotel befinde er sich zur Zeit nicht, aber sein Gepäck sei noch dort - ebenso wie das Gepäck einer Frau. Im übrigen sollten sich Constanze und Jason zur Verfügung halten.
Samstag, 24. Juli ‘99, 19.55 Uhr - Versailles Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris/Versailles
Thomas Fahrenholts Armbanduhr zeigte fünf vor acht. Trotz der späten Stunde waren sie beileibe nicht die einzigen Touristen, die mehr oder weniger erwartungsvoll das breite, vergoldete Tor zur Schloßanlage von Versailles passierten. Es war ein lauer Sommerabend mit seidiger Luft, bestens geeignet, um im weitläufigen Schloßpark ein wenig zu flanieren. Sabrina hatte sich bei Thomas eingehakt. Sie sog begierig jeden neuen Eindruck in sich auf und brachte es beinahe gleichzeitig fertig, ihm fortwährend in Form begeisterter Ausbrüche mitzuteilen, wie überwältigend sie das alles fand. Er sagte kaum etwas. Am linken Arm Sabrina, über seiner rechten Schulter die
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blaue Kameratasche, war er nicht gerade das, was man unbeschwert hätte nennen können. Sabrina schien es nicht aufzufallen, daß er so wortkarg war; sie genoß einfach. Während sie sich noch bergauf über das Kopfsteinpflaster des Vorplatzes auf das Schloß zu bewegten, meldete sich plötzlich sein Handy. "Geh schon vor; dauert nicht lange“, sagte er, während er in der blauen Tasche kramte. Als Sabrina einige Meter entfernt war, nahm er den Anruf entgegen. Was er hörte, ließ ihn zunächst einmal stehenbleiben. Dann ließ er seinem Unmut freien Lauf. "Ich denke, du arbeitest nur mit Profis?! Dieser Idiot! Und wie konnte dir das passieren? Hast du den Kunden vorher überhaupt nicht gecheckt?“ Er gab seinem Gesprächspartner kaum Gelegenheit, mit einer Rechtfertigung dagegenzuhalten. „Dann hoffe ich für dich, daß dieser Idiot wenigstens bis morgen mittag dichthält. Sonst sehe ich schwarz für deine Abfahrt nach Zürich. Wo bist du jetzt überhaupt?“ "Métro- Station Champs de Mars/ Tour Eiffel. Laß uns nachher eventuelle Programmänderungen für morgen besprechen; ich weiß, wo ich dich finde.“ "Und was ist jetzt mit meinem Geld aus dem Bildverkauf?" "Das holt Claudine morgen vormittag im Hotel ab. Eigentlich war halb elf abgemacht. Aber das ist mir jetzt natürlich zu spät. Ich schicke sie eher hin - so gegen acht.“ Thomas Fahrenholt überlegte einen Moment. Dann sagte er: "Ich weiß nicht, ob wir das überhaupt noch so machen sollten. Gib mir für alle Fälle ihre Adresse; vielleicht hole ich mir den Schlüssel in ihrer Wohnung ab, während ihr schon längst unterwegs seid.“ "Tom, Tom! Nun komm doch endlich!“ Das war Sabrina. "Ich komme, Schätzchen“, murmelte er und stapfte ihr nach in Richtung Schloßgarten.
Samstag, 24. Juli ‘99, 21.30 Uhr – Versailles Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris/Versailles
Sabrina war selig: Geduldig war er mit ihr über eine Stunde lang durch den Schloßgarten flaniert, und es war ein ausgesprochen romantischer Spaziergang gewesen. Bis zur Colonnade waren sie gelaufen, und unterwegs hatten sie an mehr als einer lauschigen Parkbank Halt gemacht. Heute abend war er auch nicht mehr so sperrig gewesen wie am Nachmittag, sondern eher aufgekratzt und unternehmungslustig. Und so richtig überrascht hatte er sie, als er auf dem Rückweg zur Schloßterrasse wieder an einer Bank hielt, aus seiner Tasche zwei Gläser und eine Flasche Champagner hervorzauberte und ungeniert den Korken knallen ließ. Nun waren sie wieder auf der Schloßterrasse angelangt. Sie lehnten an der steinernen Balustrade und tranken die zweite Flasche Champagner. Bequem konnten sie von hier aus auf die Orangerie mit ihren breiten Promenaden, dem ovalen Bassin und den zahlreichen exotischen Kübelpflanzen hinunterschauen. Anfangs standen noch andere Besucher neben ihnen an der Balustrade, flanierten über die ausladende Terrasse oder saßen auf den Stufen der breiten
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Treppe, die hinunter zum Bassin de Latone führte. Aber dann leerten sich allmählich Terrasse und Treppe, und auch auf den darunterliegenden Gartenebenen war bald niemand mehr zu sehen. "Ohne die vielen Leute ist es erst richtig herrlich“, sagte Thomas Fahrenholt und schenkte Sabrina großzügig Champagner nach. "Findest du nicht auch?“ "Ein bißchen einsam“, meinte Sabrina. "Wollen wir nicht auch langsam gehen? Ich glaube, wir sind sowieso schon die letzten Besucher.“ "Das genießen garantiert noch andere“, erwiderte er. "Da unten zum Beispiel geht noch einer spazieren!“ Sabrina spähte hinunter in die Orangerie. "Da unten? Wo siehst du den denn?“ In ihrem angetrunkenen Zustand hatte sie inzwischen Mühe, sich zu konzentrieren. Doch dann entdeckte sie den einsamen Spaziergänger auch. "Tatsächlich. Aber der kommt jetzt auch die Treppe hoch, Tom. “ "Und wenn schon; für ein Glas haben wir noch Zeit; die schließen hier erst bei Sonnenuntergang.“ Damit füllte Thomas Fahrenholt noch einmal beide Gläser und prostete Sabrina zu. "Auf den Erfolg dieses außergewöhnlichen Abends, Schätzchen!“ "Also gut. Aber dann gehen wir; ich hab’ jetzt genug von dem Garten! Außerdem muß ich bald etwas essen; mir ist schon ganz schwindlig von dem vielen Champagner.“ Der Spaziergänger aus der Orangerie hatte inzwischen die Terrasse erreicht und bewegte sich nun mit gemächlichen Schritten auf die Balustrade zu. "Tom, ich glaube, der will ‘was von uns.“
Samstag, 24. Juli ‘99, 21.30 Uhr - Paris, Hotel Bristol Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Bertram hatte Constanze seine Erfolgsmeldung telefonisch durchgegeben: Zwei Stunden zuvor war es ihm in Zusammenarbeit mit der Pariser Kriminalpolizei gelungen, einen gewissen Jérôme Rideau, Mitglied eines Hehlerringes für Kunstobjekte, zu stellen. "Eigentlich war’ s ganz einfach“, sagte Bertram. "Als dieser Jean kurz nach Mittag anrief, bin ich auf sein Angebot eingegangen, nur zum Schein natürlich. Außerdem habe ich mir ausgebeten, meine kunstverständige Ehefrau zu dem Treffen mitzubringen. Er hat es geschluckt. Dann hat er uns für 19.00 Uhr zu einem Bahnsteig der Métro- Station Charles de Gaulle- Etoile bestellt.“ "Da wolltet ihr die Ware begutachten?“ "Ja. Wäre unter normalen Umständen in dem Getümmel wohl kaum aufgefallen. Aber heute abend lauerten dort etliche Polizisten in Zivil. Außerdem war meine reizende Gattin eine Kripo- Beamtin mit Karate- Kenntnissen und Dienstwaffe.“ "Ihr habt also diesen Jérôme alias Jean geschnappt. Und seine Komplizen?“ "Bisher nicht. Aber jetzt hat die Kripo den Anfang des Knäuels ... Und Windchens Prachtstücke haben wir auch wieder. Was sagst du nun, Constanze?“ "Ganz schön gut, Bertram“, sagte Constanze anerkennend. So richtig freuen konnte sie sich darüber nicht; dafür war an diesem Tag zu Schlimmes passiert.
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Wenig später rief Georg an. Zuerst gab er einen Bericht aus Arnim Maiwalds Redaktion durch: In der deutschen Ausgabe des Massenblattes war tatsächlich ein zwar knapper, aber mit einem kleinformatigen Foto illustrierter Artikel erschienen. Und es hatten darauf zwei Zeitungsleser mit einem Anruf in der Redaktionszentrale reagiert. Der eine war ein gehörnter Ehemann aus Berlin. Er glaubte den Mann wiederzuerkennen, der seiner Frau während einer Kur in Baden- Baden penetrant den Hof gemacht hatte. Inzwischen waren beide Eheleute schlecht auf den Galan zu sprechen; denn die Frau war nicht nur becirct, sondern auch um ein wertvolles Collier erleichtert worden. Außerdem hatte sich eine Frau aus dem Taunus gemeldet, der ein gewisser Fondenholt vor gut einem Jahr die Ehe versprochen hatte. Aber anstatt sie zu heiraten, war er über Nacht mit Schmuck und Bargeld verschwunden. "Und bei Müller- Raupach hat sich auch jemand gemeldet“, berichtete Georg nicht ohne Stolz. "Die Verwandten einer alleinstehenden Frau aus dem Schwarzwald sind davon überzeugt, daß der Mann auf dem Foto ein Heiratsschwindler ist.“ "Kaum zu glauben“, war Constanzes Kommentar, nachdem sie Jason sämtliche Neuigkeiten mitgeteilt hatte. "So ein Filou - und verstrickt in seine diversen Machenschaften ist meine seriöse Familie!“ "Ja, beinahe grotesk“, meinte Jason, "aber leider auch ziemlich riskant. Wenn ich bedenke, wie knapp dein Vater damals ... und du heute ...“ "Wir haben es zum Glück bisher einigermaßen unbeschadet überstanden, würde ich sagen.“ Damit betastete Constanze vorsichtig ihren Hals. Sie lag in Jasons Arm; sie hatten es sich auf dem großen Sofa bequem gemacht und hörten Musik. Constanze fühlte sich sicher und geborgen; den Schock vom Nachmittag hatte sie zu ihrem eigenen Erstaunen - ganz gut weggesteckt. Es war eher Mariannes Tod, der bei ihr ein dumpfes Gefühl in der Magengrube verursachte. "Meinst du, wir müssen uns Vorwürfe machen - wegen Marianne, meine ich?“ "Ich denke auch schon darüber nach“, antwortete er. "Vielleicht waren wir leichtsinnig; wir haben diesen Mann unterschätzt. Oder dachten wir etwa, wir spielen nur ein Spiel? -Ich werde auf jeden Fall zu Mariannes Eltern nach Wien fahren.“ "Wenn du im Laufe der nächsten Woche fährst, könnte ich mitkommen. Danach muß ich wieder arbeiten.“ "Ich hoffe, daß die Polizei in dem Fall spätestens Dienstag so weit sein wird, daß wir Paris verlassen dürfen.“ "Langsam hast du genug von der Stadt, was?“ "Nein, es sind nur die unschönen Dingen, die hier passiert sind. Ich bin sogar sehr gerne hier, besonders seit wir zusammen sind, Constanze.“ "Ich glaube, das geht mir ähnlich“, sagte sie langsam. "Aber vielleicht verliebt man sich hier einfach leichter als woanders?! Paris gilt nun einmal als die Stadt der Verliebten! Und was wird, wenn jeder von uns erst wieder in seinem normalen Arbeitsalltag steckt?“ Er küßte ihre Wange. Dann flüsterte er: "Wo bleibt denn dein alter Kampfgeist, Constanze?“
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Samstag, 24. Juli ‘99, 21.35 Uhr - Versailles Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris/Versailles
"Hier, der letzte Schluck ist für dich!“ Damit reichte Thomas Fahrenholt seinem Gegenüber die Champagnerflasche. "Ich spüle die Gläser ab; eins muß nach unten.“ Zwei Minuten später zerbarst der Sektkelch auf der wassergebundenen Decke des Spazierweges in der Orangerie, direkt neben Sabrinas rechter Hand. Gesehen hatte es niemand, niemand mit Ausnahme der beiden Männer, die sich oben leicht über die steinerne Balustrade beugten, um sich zu vergewissern, daß Sabrina nicht mehr reagierte.
Samstag, 24. Juli '99, 22.00 Uhr - Paris, Hotel Bristol Support-Links:
Gegen zehn Uhr klingelte an diesem Abend noch einmal das Telefon: Herr Wiegand. Ganz Gentleman, entschuldigte er sich zunächst für die späte Störung. Doch dann berichtete er ohne Umschweife, was er Constanze dringend mitzuteilen hatte: Irene Sanders hielt sich zur Zeit als Gast bei ihm in Hamburg auf. Überglücklich hatte sie den Degas in Empfang genommen, das Bild, das ihr ein Jahr zuvor gestohlen worden war. Gegen Abend hatten sie in aller Ruhe die Hamburger Zeitung gelesen, und dabei war Irene Sanders über einen Artikel in der Rubrik "Aus aller Welt“ gestolpert. "Kein Zweifel“, erklärte Wiegand, "der Mann auf dem Foto ist derjenige, der Frau Sanders bestohlen hat; nur nannte er sich damals anders.“
Sonntag, 25. Juli ‘99, 6.30 Uhr - Versailles Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris/Versailles
Der Tatort war bereits abgesperrt. Die Männer von der Spurensicherung nahmen ihre Arbeit auf. "Vielleicht die Verzweiflungstat zweier Liebender“, mutmaßte der Polizeifotograf. "Der Champagner, die Sommernacht ... “ Der diensthabende Kripo- Beamte sah die Papiere der Toten ein. "Zwei Deutsche. Vermutlich Touristen“, sagte er knapp. "Gibt bestimmt einen Haufen Arbeit und das gerade heute, wo wir das Finale der Tour haben!“
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Sonntag, 25. Juli ‘99, 8.00 Uhr - Paris, Hotel Bristol Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Constanze lag in Jasons Arm. Mit geschlossenen Augen lauschte sie seinen regelmäßigen Atemzügen. Er schlief noch tief und fest. Sie genoß die Wärme seines Körpers und schmiegte sich dicht an ihn. Seit langer Zeit war er der erste Mann, an dessen Seite sie sich wieder richtig geborgen fühlte. Bertram hatte ihr dieses Gefühl nie gegeben. Bei Carlos hatte sie es erlebt. Bei ihm war es vom ersten Tag an dagewesen ebenso wie ihre Bewunderung für seinen Idealismus. Juana mußte es damals sofort gemerkt haben; denn sie hatte Constanze von Anfang an wie eine Rivalin behandelt. Behutsam löste sich Constanze aus Jasons Umarmung und setzte sich auf. Eine Weile betrachtete sie sein Gesicht. Sie mußte lächeln: Sogar im Schlaf war da dieser jungenhafte und unwiderstehliche Zug um seinen Mund. Sie begann, seine Lippen mit zarten Küssen zu bedecken. Da klingelte das Telefon im Salon. "Ich gehe jetzt nicht telefonieren“, flüsterte Constanze. "Ich auch nicht; mach schön weiter, Darling!“ Das Telefon verstummte. Doch ein paar Minuten später klingelte es erneut. Sie versuchten, einfach nicht hinzuhören. Schließlich hörte das Klingeln auf. Für zehn Minuten herrschte Ruhe. Dann meldete sich das Telefon wieder. "Ich gehe kurz ‘ran.“ Jason ging in den Salon hinüber. "Es ist die Polizei, Constanze“, rief er gleich darauf. "Unten in der Lobby warten zwei Beamte, die unbedingt mit dir reden wollen.“ Kurze Zeit später stand Constanze den Beamten gegenüber. Sie fragten zuerst nach ihrem Alibi für den vergangenen Abend; dann berichteten sie von dem Fund im Schloßpark von Versailles. "Den Ausweisen nach zwei Deutsche - Sabrina Vollmer und Thomas Fahrenholt. Ihrer Aussage von gestern nach, Madame, ist Ihnen zumindest der Mann gut bekannt.“ "Stimmt“, bestätigte Constanze. Und dann erklärte sie entschieden: "Aber ich werde ihn auf keinen Fall identifizieren - das tue ich mir nicht an!“ Sollten sie sich doch an seine Freunde Ingo Wolf und Oliver Matthies halten! Die Beamten gaben sich verständnisvoll. Sie beharrten nicht darauf, sie der Prozedur im Leichenschauhaus auszusetzen. Für die Polizei war die Sache ohnehin einigermaßen klar: Freitod aufgrund einer ausweglosen Situation. "Irgendwie ist das unlogisch!" meinte Constanze, als sie wieder mit Jason allein in der Suite war. "Sie hatten doch noch die Chance zu entkommen, oder wenigstens Thomas hatte sie. Der war doch so schlau! Außerdem habe ich nie erlebt, daß er freiwillig klein beigegeben hätte." "Jetzt liegt er aber mausetot im Leichenschauhaus und denkt nicht mehr an Flucht." "Hm", sagte sie nur.
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"Warum willst du ihn eigentlich nicht identifizieren?“ wollte Jason dann wissen. "Ich dachte immer, daß du ganz versessen darauf wärest, ihn zu kriegen - und ihn tot zu sehen. "Ich brauche keine Jagd- Trophäe, wenn du das meinst“, antwortete sie. "Ich meine, daß du es vermeiden willst, ihn anzusehen, weil es dich an etwas Schlimmes erinnern würde.“ "Unsinn! Da gibt’ s nichts zu erinnern.“ "Constanze“, sagte Jason ruhig. "Ich habe gestern nachmittag mit deinem Vater telefoniert. Dabei ging es auch um deine Panikattacken. Er hat mir erzählt, daß du daran nicht erst seit Carlos’ Unfalltod oder gar seit Eintreffen der Nachricht vom angeblichen Tod deines Vaters leidest. Nein, du hast sie seit deinem Aufenthalt in Brasilien vor drei Jahren, und zwar seit einem ganz bestimmten Tag.“ "Das hat er dir gesagt?“ Constanze sah ihn ungläubig an. "Allerdings. Und er hat mir erzählt, was an diesem Tag Schreckliches passiert ist.“ "Das kann gar nicht sein. Er weiß nämlich gar nicht, was passiert ist!“ stritt Constanzes ab, doch ihre Stimme war etwas unsicher geworden. "Aber du weißt es. Und du willst daran nicht mehr erinnert werden. Denn mit der Erinnerung kommen auch Schuldgefühle, und die ... “ "... die kann ich nicht ertragen!“ schrie sie mit einemmal. Dann kauerte sie sich in einer Ecke des großen Sofas zusammen und sagte tonlos: "Und jetzt laß mich in Ruhe!“ Jason ließ sie in Ruhe - für eine halbe Stunde. Seelenruhig bestellte er wie gewohnt das Frühstück und ließ es in der Suite servieren. Danach schenkte er für Constanze eine große Tasse Kaffee ein und reichte sie ihr. "Den möchtest du doch bestimmt.“ Constanze trank ihren Morgenkaffee in kleinen Schlückchen. Danach fragte sie: “Willst du hören, was damals passiert ist?“ "Nur wenn du es mir wirklich erzählen möchtest.“ Sie nickte. Dann begann sie zu berichten: “Carlos und ich hatten uns ineinander verliebt. Aber wir haben die Regeln eingehalten, die man eben einhält, wenn einer der Partner verheiratet ist. Parallel dazu hat Carlos überlegt, wie er sich mit Anstand von Juana trennen könnte. Juana hat sehr schnell mitbekommen, was da lief, und sie ahnte wohl, wie es ausgehen würde. Gleich mehrmals hat sie sich einer Aussprache, um die Carlos sie gebeten hatte, entzogen: Sie fuhr jedesmal einfach unangekündigt weg. Nach ein paar Tagen tauchte sie dann wieder auf. Aber einmal kam sie noch am selben Abend zurück. Da hat sie uns in flagranti erwischt." Constanze holte tief Luft, ehe sie weitersprach. "Es war im Garten, unter einem Baum mit den Lianen, deren Blätter nach Regen so seltsam duften, weißt du." Jason nickte. Dann setzte er sich zu ihr auf das Sofa. "Zwei Tage später, an einem Freitag, lockte sie mich unter einem Vorwand in Carlos’ Büro; Carlos arbeitete doch für diesen Kaffee- Importeur. Ich habe mir, wie man das so macht, einen Besucherausweis geben lassen, bin nach oben in den vierten Stock und in sein Büro - aber er war gar nicht da. Stattdessen saß Juana auf seinem Schreibtisch - in einem orangeroten Kleid, das lange, schwarze Haar offen - und fuchtelte mit einem Messer herum. Während ich noch überlegte, wie ich da heil wieder herauskäme, rannte sie plötzlich wie von der Tarantel gestochen an mir vorbei, dann durch eine Tür zur
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Feuerleiter und ganz nach oben auf’ s Dach. Da wartete sie ab, bis ich ebenfalls oben war, und dann sprang sie 'runter - einfach so!“ "Und du hast sie dann unten liegen sehen.“ Constanze nickte. "Ich sehe das immer wieder, Jason!“ "Und deshalb sollten wir dir bald einen Psychotherapeuten suchen, Constanze!“ Er umarmte sie zärtlich. "Den Anfang können wir machen, indem du mit meinem Bruder redest. Er wird dir weiterhelfen. Das stehst du durch, Darling. Und dann bist du bald wirklich frei.“ Sie nickte. Dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Nach dem Frühstück rief Frederike an. Sie und Georg befanden sich zusammen mit den übrigen Studenten und den beiden Dozenten bereits im Bus und auf der Heimreise nach Hamburg. "Eigentlich hätte ich ja schon mit zurückfahren können“, meinte Constanze anschließend zu Jason. "Was soll ich hier überhaupt noch - jetzt, wo der Kerl tot ist?“ "Constanze!“ sagte er ruhig und umarmte sie zärtlich. Dann sah er ihr prüfend ins Gesicht. "War das wirklich das einzige, was dich hier gehalten hat? Was dich die ganze Zeit in Gang gehalten hat?“ Sie sah ihn nicht an, als sie antwortete. "Ich weiß nicht genau“, sagte sie langsam. "Aber ich glaube, daß es sich zum Wichtigsten entwickelt hat. Und das ist jetzt plötzlich vorbei - einfach so.“ Sie schüttelte den Kopf. "Ich kann das noch gar nicht glauben, weißt du. Da ist jetzt ein Luftloch!“ "Du bist unzufrieden, weil er dir auf seine Art doch entkommen ist. Am liebsten hättest du ihm sowieso eigenhändig den Hals umgedreht, stimmt’ s?! Und nun hat er sich jeglicher Strafverfolgung durch die Justiz einfach entzogen.“ "Ja, so ist es wohl“, gab sie zu. "Moralisch ziemlich verwerflich, könnte man sagen.“ "Sei nicht so streng mit dir; schließlich hast du ihn weder umgebracht noch in den Selbstmord getrieben. Daran waren mit Sicherheit mehrere Faktoren beteiligt. Aber vielleicht solltest du ihn dir doch noch ein letztesmal ansehen, damit du Ruhe hast. Ich würde auch mitkommen.“ "Danke. Ich werde es mir überlegen.“ "Und heute nachmittag möchte ich mir mit dir direkt an den Champs Elysées das Finale der Tour de France anschauen.“
Sonntag, 25. Juli ‘99, 10.30 Uhr - Paris, Hotel Bristol Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg, Schauplatz Paris
Constanze hatte sich nun doch entschlossen, ins Leichenschauhaus zu fahren. Die Kripo war informiert, und Jason wollte Constanze begleiten. Zuvor hatten sie mit Wien telefoniert, sowohl mit dem Geschäftsführer der GrieshaberVenture als auch mit Constanzes Vater. Eine Verbindung zur Hamburger Staatsanwaltschaft über Dr. Brooks war bis zu dem Zeitpunkt nicht zustande gekommen, aber die deutsche Polizei hatte inzwischen in mehreren deutschen Städten die Ermittlungen aufgenommen. Auch Interpol war informiert.
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Während Jason den Wagen aus der Tiefgarage holte, gab Constanze die Code- Karte zur Suite an der Rezeption ab. Zur selben Zeit betrat eine junge Frau die Lobby. Sie trug einen grauen Hosenanzug und um die Schultern ein auffälliges, buntgemustertes Seidentuch. Zielstrebig steuerte sie auf den Bereich zu, wo die Seidenmalerinnen gewöhnlich arbeiteten. Constanze beobachtete sie unauffällig. Die junge Frau ging zu einem Wandschrank hinüber, schloß ihn auf und entnahm ihm eine dicke Mustermappe. Dann verschloß sie den Schrank wieder und wandte sich in Richtung Ausgang. "Ich will nur meine Mappe holen - ein Extra- Termin", rief sie zur Rezeption hinüber. Dann eilte sie zur Tür. "Ist das Claudine Boucher?“ fragte Constanze. Der Mann an der Rezeption nickte. Also nichts wie hinterher! Sie mußte diese Claudine noch erwischen, bevor die im Straßengewühl womöglich auf Nimmerwiedersehen verschwand. Constanze war leider nicht schnell genug. Aber wenigsten sah sie noch, wie Claudine ein Stück vom Hotel entfernt in ein wartendes Taxi einstieg. Constanze rannte zurück. Vor dem Hotel wartete Jason im Wagen auf sie. "Das Taxi da vorn! Fahr hinterher! Ich erkläre dir alles während der Fahrt.“ Es ging quer durch die Stadt; über eine der Seine- Brücken hinüber zum Rive gauche. Sie fuhren ein Stück den Quaie d’ Orsay entlang. Dann bogen sie in die Rue de Bellechasse ein. "Ich glaube, sie will zum Musée d’ Orsay“, sagte Constanze. Tatsächlich hielt der Wagen wenig später am Taxistand vor dem Haupteingang des Museums. Jason stoppte ebenfalls am Taxistand. "Sie steigt hier aus“, sagte Constanze. "Sehe ich“, antwortete Jason. "Fragt sich nur, wo ich in dieser Gegend parken soll!“ Für einen Moment sahen sie einander an. Dann drückten sie beinahe gleichzeitig auf den Schalter für die Warnblinkanlage. Constanze grinste und sagte lakonisch: "Hier gibt es sowieso keine Parklücken. Also los!“ Damit stieg sie auch schon aus. Sie folgten Claudine ins Museum. Zuerst war der Kassenschalter in der Vorhalle zu passieren. Danach durchquerte Claudine mit raschen Schritten den vorderen Teil des Erdgeschosses, um über mehrere Treppen in das Mittel- und schließlich in das Obergeschoß des Gebäudes zu gelangen. Dabei hielt sie ihre Mustermappe die ganze Zeit fest an sich gepreßt, ohne den zahllosen Kunstgegenständen um sich herum auch nur einen Blick zu schenken. Erst an der rechten Eingangstür zum Café des Hauteurs blieb Claudine stehen. Sie rückte ihr Seidentuch zurecht, fuhr sich mit der Hand durch das lange, kastanienbraune Haar und atmete tief durch. Dann ließ sie ihren Blick suchend über die mit zahlreichen Gästen besetzten Tische schweifen. Schließlich ging sie langsam die Stufen hinunter. Constanze und Jason waren zunächst ebenfalls an der rechten Eingangstür stehengeblieben; nun warteten sie ab. Claudine Boucher wartete auch, und zwar mit offensichtlicher Ungeduld. Sie hatte sich mit einer Tasse Kaffee eingedeckt und saß allein nun an einem der Tische unter
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der prächtigen, alten Bahnhofsuhr. Von dort aus konnte sie den Eingangsbereich mühelos überblicken, und sie ließ ihn auch keinen Moment aus den Augen. Die Mustermappe lag auf dem Stuhl neben ihr. Ab und zu nippte Claudine an ihrem Kaffee. Eine Viertelstunde verging. "Langsam glaube ich, wir erreichen hier nichts“, sagte Jason leise zu Constanze. "Kann sein. Aber noch gehe ich nicht weg“, flüsterte sie zurück. "Ich könnte sie ja ‘mal ansprechen“, schlug Jason vor. "Und was soll das bringen?“ Constanzes Ton war zweifelnd. Doch dann sagte sie: "Aber von mir aus ... Frag’ sie doch nach diesem gewissen Seidentuch!“ Jason ging. Und Constanze konnte beobachten, daß es ihm tatsächlich gelang, Claudine in ein Gespräch zu verwickeln - wenn auch nur für kurze Zeit. "Viel habe ich nicht gerade erfahren“, sagte Jason, als er wieder neben Constanze am Eingang stand. "Sie sagt, sie sei hier privat verabredet. Wenn ich Seidentücher kaufen möchte, dann soll ich sie im Hotel an ihrem dortigen Arbeitsplatz ansprechen.“ "Mit anderen Worten, du bist abgeblitzt“, meinte Constanze trocken. "Also warten wir weiter - ich hier und du da drinnen!“ Inzwischen war es zwanzig nach elf, und Claudine nippte an ihrer zweiten Tasse Kaffee. Während sich Jason einen Platz im Café, nicht allzu weit von Claudine entfernt, suchte, blieb Constanze am Eingang stehen. So konnten sie beide Claudine leicht im Visier behalten. Claudine hatte inzwischen ihr buntes Seidentuch abgelegt und zusammengefaltet. Nun zog sie auch noch den grauen Blazer aus. Darunter kam ein Top in einem leuchtenden Rotorange zum Vorschein, das Constanze sogar aus der Entfernung unangenehm ins Auge sprang. Nun schob Claudine ihre Kaffeetasse beiseite und öffnete ihre Mustermappe. Nacheinander betrachtete sie mehrere der darin aufbewahrten Skizzenblätter; zwei oder drei kleinformatige Exemplare zog sie hervor und breitete sie auf dem Tisch aus. Dann klappte sie die Mappe wieder zu. Einen Augenblick später jedoch klemmte sie sich zu Constanzes Erstaunen die Mappe unter den Arm, stand vom Tisch auf und ging, ohne weiter auf ihre übrigen Habseligkeiten zu achten, zum Buffet hinüber. Für einen Moment stutzte Constanze. Aber dann war sie auch schon wieder entwarnt; denn Claudine schien sich lediglich etwas zu essen bestellen zu wollen, und außerdem folgte ihr Jason bereits. An dem Tisch, an dem Claudine gesessen hatte, war unterdessen ein Ober damit beschäftigt, die leere Kaffeetasse abzuräumen. Doch zu Constanzes Erstaunen tat er plötzlich noch etwas anderes: Er raffte unauffällig die Skizzen zusammen. Dann ging er, als wenn nichts gewesen wäre, zum Nachbartisch hinüber und räumte weiteres Geschirr ab. Constanze reagierte schnell. "Claudine!“ schrie sie quer durch das Café. "Ihre Skizzen!“ Beinahe sämtliche Gäste zuckten zusammen und sahen sich irritiert im Raum um. Doch wenn Constanze geglaubt hatte, Claudine würde sofort zu ihrem Tisch hinüberlaufen, so hatte sie sich geirrt. Stattdessen rannte Claudine los in Richtung Ausgang! Mit ihrem orangeroten Top wirkte sie wie ein Blitz, als sie - die
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Mustermappe unter dem Arm - kreuz und quer zwischen den Tischen hindurch in Panik auf die Stufen und den Ausgang zustürzte. Constanze stand wie erstarrt da. Genauso war damals Juana an ihr vorbeigerannt! Sie hatte sie damals nicht aufgehalten. Sie hatte sie damals nicht daran gehindert, die Feuertreppe zum Dach des Firmengebäudes hinaufzulaufen. Für einen Augenblick tauchte das schreckliche Ergebnis wieder vor Constanzes geistigem Auge auf: Juana mit zerschmettertem Körper auf der eleganten, rabattengesäumten Auffahrt der Coffee Dream Corporation! Diese Frau durfte sie nicht vorbeilassen. Sie mußte das auftretende Schwindelgefühl zurückdrängen und sie aufhalten! Claudine kam jetzt direkt auf sie zu. "Halt sie fest!“ Das war Jasons energische Stimme von irgenwoher aus dem Café. Constanze reagierte: Als Claudine die oberste Treppenstufe erreicht hatte, packte Constanze die Mustermappe und riß dadurch Claudine zu Boden. Dann rief sie auf französisch das Beste, was ihr in diesem Moment einfiel: "Man hat ein Gemälde gestohlen!“ Es dauerte nur Sekunden, da waren sie von etlichen Sicherheitsleuten des Museums umzingelt. Man wollte wissen, was geschehen war. Inzwischen war der Ober von Jason und einem beherzten Café- Besucher überwältigt worden. Die beiden hatten ihn auf einen Stuhl gezwungen; direkt unter der großen, alten Uhr, deren Zeiger genau auf halb zwölf standen. "Wir brauchen noch keine Polizei!“ hörte Constanze Jason von unten heraufrufen. Aber rund um sie herum sah sie bereits mehrere Leute zu ihren Handys greifen. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis die Polizei eintraf. Bis dahin allerdings hatte Constanze Claudine noch allein vor sich. Diese Gelegenheit mußte sie unbedingt nutzen! "Madame Boucher, ich weiß, daß Sie in einen illegalen Bilderhandel verwickelt sind“, sagte Constanze auf deutsch. "Sie werden deshalb ein großes Problem mit der Polizei bekommen. Aber vielleicht kann ich etwas für Sie tun - vorausgesetzt, Sie geben mir jetzt einige Informationen.“ Claudine sah Constanze mit zusammengekniffenen Augen an. "Sie wissen gar nichts“, sagte sie - ebenfalls auf deutsch. "Wer sind Sie überhaupt?“ "Eine Freundin eines Ihrer Kunden“, antwortete Constanze kurz. Dann wurde sie konkreter: "Claudine, ich spreche von dem Degas. Er war gestohlen, wie Sie wissen. Und Sie haben ihn im Hotel verkauft.“ "Ich verkaufe im Hotel nur seidene Tücher.“ "Claudine, am Freitag abend haben Sie einen echten Degas verkauft. Und ich kenne den Käufer sehr gut. Er hat mir das Bild gezeigt. Ihre Chance ist, daß er keinen Skandal möchte. Wenn Sie jetzt kooperativ sind und mithelfen, die Diebe zu finden ... “ Claudine schien zu überlegen. Constanze kramte in ihrer Handtasche. Dann hielt sie Claudine ein Foto unter die Nase. "Das ist ein gewisser Thomas Fahrenholt aus Hamburg. Er war es, der das Bild gestohlen hat. Die Polizei interessiert sich sehr für ihn. Aber ich bin sicher, sie interessiert sich ebenso sehr für Sie, Claudine.“
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Zuerst warf Claudine nur einen flüchtigen Blick auf das Foto, aber dann riß sie es Constanze aus der Hand, um es sich genau anzusehen. "Wer soll das sein? Ein Mann aus Hamburg?“ Sie schüttelte energisch den Kopf. "Das ist doch André!“ "Das ist Ihr Freund André?“ fragte Constanze. Offensichtlich hatte sie hier ein weiteres Opfer dieses Frauenhelden Thomas Fahrenholt vor sich. Die Anzahl seiner Liebschaften wurde langsam unübersichtlich. Ob sie Claudine von Fahrenholts Sturz in die Orangerie erzählen sollte? Constanze verzichtete vorerst darauf. Stattdessen fragte sie: "Mit wem waren Sie eigentlich hier verabredet, Claudine?“ "Mit dem Bruder meines Freundes.“ "Und der ist bis jetzt nicht gekommen.“ "Doch, doch!“ widersprach Claudine. Damit deutete sie auf die Gruppe von Männern, die nun von dem Platz unter der großen, alten Uhr her heraufkam. Jason und der andere Café- Besucher hielten den Ober dabei noch immer fest. Constanze runzelte die Stirn. Sie glaubte ihren Augen kaum zu trauen. "Der da?“ "Ich kenne ihn nur vom Telefon, aber er muß es sein; denn er hat wie verabredet ...“, Claudines Stimme stockte plötzlich. "Das ist doch unmöglich!“ rief sie. Auch Constanze verstand in diesem Moment gar nichts mehr; denn vor ihr stand jetzt ein Mann, der haargenau aussah wie ihr Schwager Thomas Fahrenholt. "André!“ schrie Claudine den Mann an. Dann folgte ein Wortschwall auf französisch, von dem Constanze kein einziges Wort verstand. Aber eines war klar: Claudine war unglaublich wütend. Der Mann sagte gar nichts. "Hier!“ Jason reichte Claudine zwei Skizzenblätter. "Ich glaube allerdings, sie sind nicht viel wert. Dieser Umschlag dagegen“, er öffnete einen großformatigen Briefumschlag und zog ein dickes Bündel Tausendmarkscheine heraus, "eine ganze Menge.“ "Vielleicht das Geld von Wiegand“, meinte Constanze. Dann wandte sie sich an Claudine: "Und dieser Mann ist tatsächlich Ihr Freund André?“ Claudine nickte nur. Constanze versuchte, sich zu konzentrieren. Irgendwie mußte diese neue Information doch in ihr Gedankenpuzzle hineinpassen! Aber im Moment konnte sie nur aussprechen, was ihre Intuition ihr eingab: "Also ich könnte schwören, daß dieser Mann Thomas Fahrenholt aus Hamburg ist - mein Schwager.“ "Die Polizei wird seine Identität später feststellen“, sagte Jason. "Ja, aber vielleicht kann ich das auch gleich hier“, überlegte Constanze laut. "Mein reizender Schwager“, sie sah den Mann prüfend an; er trug diese modernen Baggy- Hosen, in denen man eine Menge an unentbehrlichem Kleinkram unterbringen konnte, "der hat eigentlich in jeder Lebenslage Pfefferminzbonbons bei sich. Meistens in der Hosentasche. Sieh doch bitte ‘mal nach, Jason!“ Einen Augenblick später hielt sie gleich zwei flache Blechschächtelchen in der Hand. Während ihr Besitzer etwas Unverständliches vor sich hin murmelte, öffnete Constanze seelenruhig die kleinen Behältnisse. Kurz darauf sagte sie leise: "Ich habe es geahnt: Mit der einen Sorte schickt man Menschen in die weite Welt - mit der anderen in den Tod. Jetzt brauchen wir die Polizei wirklich.“
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Dann wandte sie sich an den Mann. Während sie ihn musterte, beobachtete sie sich selbst; denn dieses war er, der langersehnte Moment der Abrechnung. "Du warst schlau, aber nicht schlau genug, Schwager“, hörte sich Constanze langsam sagen. "Zum Beispiel konntest du einfach nicht gut genug französich Bildungslücke, n’ est - ce pas?! Außerdem warst du schlichtweg zu gierig: Du mußtest ja noch unbedingt das Geld aus dem Verkauf des Degas’ mitnehmen! Das hättest du lieber Claudine lassen sollen! Denn genau das kostet dich jetzt den Kopf, du Ratte!"
Freitag, 10. September ‘99, abends - Hamburg- Eppendorf Support-Links: Hauptpersonen, Schauplatz Hamburg-Eppendorf, Schauplatz Paris
Sie saßen zu dritt bei Pizza und Rotwein in Frederikes Küche. Constanze war dabei, über den neuesten Stand im Kriminalfall Fahrenholt zu berichten. "Und was war in diesen Schachteln?" wollte Frederike wissen. "Die eine enthielt tatsächlich Pfefferminzbonbons. Aber mittendrin funkelten ein paar lupenreine Diamanten. Thomas hat sie von dem Geld aus dem Deal mit Guy de Lassalle erworben; wahrscheinlich von den beiden Männern, die ihn damals im Hotel aufgesucht haben. Ein Vermögen in sehr komprimierter Form! In der zweiten Schachtel waren Dragées einer ganz anderen Sorte: mit einer Überraschungsfüllung aus Digitoxin. Das ist ein herzwirksames Glykosid aus Digitalis purpurea, dem Roten Fingerhut.“ "Kenn' ich", sagte Frederike, "Digitalis ist eine bekannte Arzneipflanze." "Wird bei bestimmten Herzkrankheiten eingesetzt“, fuhr Constanze fort. "Ich hab' in letzter Zeit etliche Bücher über Pharmakologie gewälzt, um Genaueres zu erfahren. Und dies hier", sie reichte Frederike ein Blatt Papier mit einem fotokopierten Textauszug, "stammt aus der Dissertation eines Mediziners, Uni Hamburg '95." Frederike überflog den Text, dann reichte sie ihn an Georg weiter. "Es gibt also mehr als einen Digitalis- Wirkstoff", faßte sie zusammen. "Und es scheint eine regelrechteTüftelarbeit für jeden Arzt zu sein, die richtige Dosierung dieser Digitalis- Wirkstoffe für den einzelnen Patienten herauszufinden." Constanze nickte. "Sie hängt von zahlreichen Faktoren ab. Und da die therapeutische Breite dieser Stoffe sehr gering ist, besteht die Gefahr von Vergiftungen." "Hier steht, daß schon 2 Milligramm dieses Digitoxins lebensgefährlich sein können", setzte Georg hinzu. "Und wieviel war in so einem Fahrenholt- Spezial- Dragée?" wollte Frederike von Constanze wissen. "Circa 2 Milligramm – genauso viel wie in den anderen, die er für meinen Vater bestimmt hatte. Eines davon lag doch im Mai in Vaters Labor - übrigens ein Indiz dafür, daß Vater schon vor der Wien- Reise vergiftet werden sollte. Bei ihm kommt noch hinzu, daß Digitalis überhaupt kontraindiziert ist, weil er langfristig mit einem Maiglöckchen- Präparat behandelt wird. Maiglöckchen enthalten nämlich auch ein herzwirksames Glykosid!"
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"Ja, das steht hier auch", sagte Georg, der inzwischen den ganzen Text genauer gelesen hatte. "Es heißt Convallatoxin. Und dieses Convallatoxin wiederum enthält einen Stoff, der zu den Strophantinen gehört.“ "Strophantine werden von afrikanischen Eingeborenen als Pfeilgifte eingesetzt, wenn euch das etwas sagt“, erklärte Constanze "Nimmt man beides zugleich ein, so ist Arhythmie des Herzens wahrscheinlich vorprogrammiert“, zog Georg den folgerichtigen Schluß. "Und das hat dein Schwager alles gewußt?“ fragte Frederike skeptisch. "Er wußte von Vaters leichter Herzinsuffizienz und von der regelmäßigen Einnahme eines Medikamentes. Die Kenntnisse über Arzneimittel hat ihm wohl seine Freundin Sabrina verschafft.“ "Den Rest kann man sich wahrscheinlich in der Uni- Bibliothek anlesen, wenn man sich ernsthaft bemüht", fügte Georg hinzu. "Weiß die Polizei schon, wann und wo er die Pillen alle präpariert hat?" Constanze nickte. "Die Polizei geht davon aus, daß er es in Ingo Wolfs Zahntechniker- Labor getan hat. Das muß schon im Februar gewesen sein. Damals war Ingo nämlich für mindestens zwei Wochen auf Urlaubsreise. Thomas hatte in dieser Zeit die Wohnungs- und Laborschlüssel, um dort ab und zu für Ingo nach dem Rechten sehen zu können. Ich kann mich noch daran erinnern, wie Sonja mir davon erzählte. Sie sagte damals auch, es sei nicht die erste Nacht in jener Woche, die Thomas allein in der Stadtwohnung verbrachte.“ Constanze trank einen Schluck Rotwein. Dann fuhr sie fort: "Wahrscheinlich hat er sich mindestens eine Nacht im Labor um die Ohren geschlagen: Mit dem zahntechnischen Werkzeug konnte er Präzisionsarbeit leisten, aber er mußte ja jedes einzelne Dragée vorsichtig anbohren, aushöhlen, neu füllen und versiegeln. Die Bohrlöcher hatte er so sorgfältig kaschiert, daß sie einem beim flüchtigen Hinsehen wirklich nicht auffielen, sage ich euch. Als ich das eine im Labor fand, hab’ ich auch nichts bemerkt.“ "Und die Füllung für die Dragées hatte ihm diese Sabrina aus der Apotheke besorgt?“ "Erinnert ihr euch noch an die Geschichte, die Karsten an deinem Geburtstag erzählt hat, Frederike? Die über den Einbruch bei Apotheker Asmussen? Das haben die beiden inszeniert, um sich mit dem Notwendigen einzudecken.“ "Ich frage mich, was diese Sabrina dazu gebracht hat, einem frisch verheirateten Mann bei der Umsetzung eines derart teuflischen Plans zu helfen“, sagte Frederike. "Carola, Sabrinas Kollegin aus der Apotheke, hat ausgesagt, daß sie davon geträumt haben soll, auf eine dieser Karibik- Inseln auszuwandern.“ "Vielleicht hat er sie damit gelockt ... ein sorgenfreies Leben unter südlicher Sonne für ein paar Infos und Medikamente aus der Apotheke“, mutmaßte Georg. "Das denke ich auch", sagte Constanze. "Außerdem hat er ihr bestimmt etwas von Liebe vorgelogen. Schließlich ist die Frau im Champagner- Rausch im romantischen Schloßpark ums Leben gekommen!“ "Vielleicht ein Fall der Kategorie ‘Liebe macht blind’?“ grinste Georg. "Blind für Gefahr auf jeden Fall“, antwortete Constanze, "aber dazu später. Ich denke, es ist besser, wenn ich einigermaßen chronologisch weitererzähle. Also: Bereits im Februar präparierte Thomas Vaters Dragées. Und danach ließ er sich Zeit, um den geeigneten Augenblick für einen Anschlag herauszufinden.“ "Der hatte viel Geduld“, meinte Frederike. "Über diesen Apotheken- Einbruch ließ er erst einmal schön Gras wachsen und deinen Vater fleißig weiterforschen. Parallel
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dazu machte er sich wahrscheinlich auf die Suche nach Leuten, denen er diese Forschungsergebnisse später verkaufen konnte.“ Constanze nickte. "Carlos und Vater haben in der Zeit tatsächlich Unterlagen generiert, die sich gut zum Verkauf eigneten - schon lange vor der Wien- Reise im Mai. Angesichts dessen, daß im Labor ein präpariertes Dragée lag und daß es Vater schon vor der Reise einmal gar nicht gut ging, müssen wir von mindestens einem mißlungenen Versuch ausgehen.“ Constanze schüttelte lächelnd den Kopf. Dann sagte sie: "Wißt ihr, Vater nimmt seine Medikamente nie ganz regelmäßig, auch wenn Mutter das gerne hätte. Er ist in diesem Punkt regelrecht schlampig, weil er seine Herzschwäche gar nicht ernst nimmt.“ "Das war vielleicht sein Glück“, sagte Frederike. "Und Carlos?“ "Damit hat Thomas Fahrenholt tatsächlich nichts zu tun; ein tragischer Unglücksfall“, antwortete Constanze ernst. "Aber als Vater dann im Mai mit seinem Business- Plan unter dem Arm nach Wien fahren wollte, da befanden sich in seinem Gepäck Medikamente, mit denen ihn jemand absichtlich ins Jenseits befördern wollte.“ "Das hast du in Paris erzählt; ebenso daß dein Vater nach seinem Zusammen bruch ziemlich schnell seinen Schwiegersohn verdächtigte", sagte Georg. "Ja. Nur jemand, der im Haus wohnte, hatte Gelegenheit, die harmlosen Dragées gegen die präparierten auszutauschen. Vater hatte dieses Glasfläschchen bis kurz vor der Abreise in seinem Schlafzimmer aufbewahrt. Thomas war eigentlich der einzige, der in Frage kam.“ "Und warum hat er ihn nicht gleich bei der Polizei angezeigt?“ fragte Georg. "Weil er das nicht mit Sicherheit wußte, und weil er befürchten mußte, daß ihm eventuell auch sein ehemaliger Mitarbeiter nach dem Leben trachtete - wegen der Forschungsunterlagen. Carlos war ja bereits tot; vielleicht auch ermordet. Hinzu kam, daß am Tag nach der Abreise meiner Eltern Vaters Safe in Wedel ausgeraubt wurde! Als ‘Toter’ dagegen war Vater erst einmal aus dem Schußfeld und konnte auch ganz in Ruhe Nachforschungen anstellen. Den ehemaligen Mitarbeiter hat ein Privat detektiv ausgekundschaftet, und um Thomas Fahrenholt sollte sich Marianne Bauer, zunächst nur in Hamburg, kümmern. Reiner Zufall, daß sie in Sonjas Geschäft erfuhr, daß Thomas nach Paris reisen würde.“ "Der hatte sich also die ganze Zeit darauf verlassen, daß sein Anschlag erfolreich verlaufen war“, stellte Frederike fest. "Natürlich. Vor Ort konnte er das ja nicht nachprüfen, und Mutter spielte ihre Rolle so glaubwürdig, daß keiner von uns Verdacht schöpfte. Selbst als sie sich später so computerinteressiert zeigte ... Die Falle war perfekt gestellt.“ Frederike nickte: "Er hielt den Rest der Familie in Schach bis zu dem Tag, an dem er endlich nach Paris abreisen konnte: Deine Mutter wurde terrorisiert, Hilde gemobbt, um sie aus dem Haus zu treiben ... Ich weiß noch genau, wie du mir davon erzählt hast.“ "Stimmt.“ Constanze zog die Brauen hoch und sah ihre Freundin an: "Und meine Schwester hat nichts dagegen unternommen: Wochentags schuftete sie für ihr Geschäft, und am Wochenende lag sie mit Migräne im Bett.“ "Und dann im Juli kam die langersehnte letzte Phase seiner 'Europa- Geschäfte': die Paris- Reise!" sage Frederike. "Genau. Was oberflächlich betrachtet wie ein kurzweiliger Städtetrip unter Sportkollegen aussah, war für ihn harte Arbeit - vor allem wegen des genauen Timings der einzelnen Aktionen vor Ort. Das lukrative Geschäft mit Guy de Lassalle
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mußte unbedingt zustandekommen; erst danach wollten er und sein Zwillingsbruder André das Land endgültig verlassen." "Ich denke, die beiden hatten schon Geld auf Schweizer Nummernkonten", wandte Frederike ein. "Ja, schon. Aber das Geld in Zürich reichte wohl noch nicht. Der Erlös aus dem Deal mit Guy de Lassalle war als Sprungbrett in die neue Existenz in Übersee vorgesehen. Was sie allerdings nicht ahnten, war, daß Vater mit dem Wiener Pharma- Konzern inzwischen vertraglich verbunden war und daß sich dieser Konzern sehr dafür interessierte, ob und an wen Thomas Fahrenholt in Paris gestohlene Forschungsunterlagen verkaufte. Marianne wurde nun offiziell nach Paris geschickt. Jason sollte sie begleiten; für ihn war es ein Freundschaftsdienst; er kennt den Geschäftsführer der GrieshaberPharma aus seiner Studienzeit.“ "Und als du in Paris auftauchtest, da sollte Jason Philipps abklären, ob du mit deinem Schwager gemeinsame Sache machtest“, vermutete Georg. "Vater hat das nie geglaubt“, stellte Constanze richtig. "Und er hat Jason und Marianne auch nicht auf mich angesetzt. Aber Jason kam es merkwürdig vor, daß die eine Tochter vom alten Petersen sich zufällig zur selben Zeit in Paris aufhielt wie der Ehemann der anderen Tochter.“ "Das hat sich dann ja zum Glück geklärt“, sagte Georg. "Wenn ich mich daran erinnere, wie wir quasi im Schichtdienst auf Gangsterjagd waren!“ Er grinste breit. "Das war auch notwendig! Der Kerl hatte doch dauernd 'was vor: die Sache mit Guy de Lassalle, das Touristen- Programm mit seinen Freunden, um den Schein zu wahren, die Organisation seiner Abreise - dazu sicher diverse Telefonate mit seinem Bruder, um sich abzustimmen! Ohne euch hätte ich das nie geschafft!“ "Das Ganze war nachher in erster Linie dein persönliches Ding oder?“ Georg sah Constanze prüfend an. "Ja, Georg. Ich mußte ihn einfach kriegen.“ "Du hast ihn gekriegt, Constanze.“ Es entstand eine Pause. Für eine Weile widmeten sie sich alle drei ihrer Pizza. "Wer von beiden Brüdern hat eigentlich den Bildverkauf an Herrn Wiegand organisiert?“ wollte Frederike dann wissen. Das war André. Er schlug sich ebenso wie Thomas als Heiratsschwindler und Witwentröster durch und erbeutete dabei Bargeld, Schmuck und Kunstgegenstände. Seine Spezialität waren Bilder. Dafür hatte er mindestens einen bewährten Absatzweg aufgebaut - den über Monsieur Luc's Galerie am Boulevard Saint- Germain, wo auch Claudine Boucher angestellt war. Aber in letzter Zeit gab es Absatzprobleme bei Bildern: Aufgrund vieler Kunstraube aus Museen wie zum Beispiel im Juni in Amsterdam stellte die Polizei verstärkt Nachforschungen an. Monsieur Luc wurde vorsichtig mit der Vermittlung illegaler Geschäfte. Erst Ende Juli wagten sie es dann doch, den Degas in Paris zu verkaufen. "Und dafür wurde Claudine Boucher wie gewohnt von ihrem Chef ins Bristol geschickt." "Ja, Georg. Claudine arbeitete am Wochenende ohnehin dort als Seidenmalerin. Sie verkaufte häufig Tücher an Hotelgäste und präsentierte ihre Kollektion sicher auch manchmal im Zimmer eines Gastes. Sie erregte also überhaupt kein Aufsehen, wenn sie mit ihrer Mustermappe im Hotel unterwegs war. Um den Verkauf unauffällig abzuwickeln, ging Claudine immer nach demselben Muster vor. Eine wichtige Rolle
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spielten dabei einzelne Seidentücher in einer bestimmten Vitrine: Sie dienten als Signale für die jeweiligen Kunden.“ "Verstehe“, sagte Georg. "Das Seidentuch mit der Ballerina lag an diesem Freitag allein für den Kunden Wiegand in der Vitrine.“ "Ach ja", sagte Constanze, "was mir dazu noch einfällt: Claudine und André hatten sich im Laufe der Zeit so miteinander befreundet, daß sie sich an diesem letzten Sonntag im Juli gemeinsam nach Zürich absetzen wollten, und zwar per Auto. Getarnt hatten sie das Ganze als einen harmlosen Kurzurlaub." "In Zürich hätten sie sich mit Thomas Fahrenholt getroffen, um sämtliche Konten und Schließfächer zu plündern und die Beute auftzuteilen", mutmaßte Frederike. "Danach wäre es wohl per Flugzeug nach Übersee gegangen.“ Constanze nickte. "Wer weiß, vielleicht hätte Claudine sogar noch das teure Perlen- Collier getragen, das ursprünglich Irene Sanders gehörte! Thomas hat es zusammen mit dem Degas gestohlen - übrigens das einzige Bild, das er jemals mitgehen ließ." "Das Collier, das er Sonja zur Hochzeit geschenkt hat?" fragte Frederike nach. "Ja. Und das er Sonja auch wieder gestohlen hat - Anfang Mai aus Vaters Safe! Die Polizei hat es in Zürich in einem Schließfach gefunden.“ "Da waren vielleicht auch Hella Windchens Miniaturen zwischengelagert oder?" "Gut möglich. Thomas hat die Windchen zwar recht einfach um ihre Prachtstücke erleichtern können, aber er fand ein ganzes Jahr lang keinen geeigneten Absatzkanal dafür. Erst Claudine gab seinem Bruder den Tip, einen Pariser Hehler namens Jean mit ins Boot zu nehmen. Ein schlechter Tip, wie sich herausstellte; denn Jean alias Jérôme Rideau stellte sich ziemlich unprofessionell an und wurde geschnappt!" Frederike lachte. "Bertram erzählt die Story jedesmal, wenn ich in der Firma bin. Bei 'Wilde & Co' ist er dadurch glatt zum Helden avanciert!“ "Bei seinen vielen Bräuten wahrscheinlich auch", meinte Constanze. "Wahr scheinlich hat er schon Karten drucken lassen mit der Story! Oder war er damit etwa schon in einer Talkshow?" "He! Er ist dir wohl doch noch nicht ganz egal, meine Liebe?!" Frederike sah Constanze prüfend an. Constanze holte tief Luft. Dann sagte sie: "Also halten wir fest: Das war am Samstag abend. An diesem Tag lief für die beiden Fahrenholt- Brüder so einiges schief: Es fing an mit Sabrina. Sie tauchte mittags in Thomas’ Hotel auf, um ihn zur Rede zu stellen. Von ihrer Kollegin Carola wissen wir, daß Sabrina unmittelbar nach der Lektüre deines Zeitungsartikels, Georg, überstürzt ihren Arbeitsplatz verließ. Von zu Hause aus hat sie als Frau Fahrenholt im Hotel angerufen und ist dann nach Paris geflogen." "Und du dachtest, deine Schwester wäre auf dem Weg nach Paris", vergewisserte sich Frederike. "Ja. Und ich habe natürlich vergeblich auf Sonja gewartet. Stattdessen habe ich Sabrina mittags in Thomas’ Zimmer gehen sehen. Und ich habe ein Streitgespräch mit angehört. Der Mann im Zimmer was allerdings nicht Thomas, sondern André; Thomas hatte ihn dorthin bestellt. Er selber befand sich zu der Zeit im Schwimmbad des Hotels, wo er plötzlich vor der Aufgabe gestanden haben muß, eine unliebsame Zeugin beseitigen zu müssen: Marianne." "Ist das ganz sicher?" wollte Georg wissen. "Ja. Er hat an ihrem Körper eindeutige Spuren hinterlassen.“
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"Und wer war im Schwimmbad hinter dir her?“ fragte Georg. "Auch Thomas. Ich kenne doch seine Stimme und sein ganzes Gehabe! Er hatte mich wohl auf der Treppe erkannt, als er vom Schwimmbad nach oben ging. Und als er nachher im Hof an den Inhalt meiner Handtasche kam, da wußte er, wo er mich finden konnte. Deshalb sein ‘Besuch’ im Bristol zwei Stunden später.“ "Weiß die Polizei inzwischen genau, was im Schloßpark passiert ist?“ "So ziemlich. Obwohl Thomas Fahrenholt zunächst auf einer anderen Version beharrte. Thomas ist an diesem Abend zusammen mit Sabrina im Schloßpark gewesen. Bevor sie von der Balustrade in die Orangerie hinunterstürzte, muß sie eine Menge Champagner getrunken haben - und sie muß außerdem ein starkes Beruhigungsmittel zu sich genommen haben.“ "Doch wohl nicht freiwillig“, meinte Frederike. "Die Polizei nimmt an, daß er sie zuerst betrunken gemacht und dann betäubt hat. So konnte er sie leicht nach unten befördern. In ihrem Körper wurden Spuren eines starken Schlafmittels gefunden. Thomas bewahrte so etwas in seinem Hotelzimmer auf; ich habe es selber gesehen.“ "Und was wollte sein Bruder im Schloßpark?“ "Die beiden hatten sich dort verabredet, nachdem der Deal mit Bertram gegen Abend geplatzt war. André war der Polizei zwar entwischt, aber er mußte befürchten, daß dieser Jean ihn bald verriet. Deshalb wollte er seine Abreise aus Paris vorverlegen. Dazu mußte er sich kurzfristig mit Thomas abstimmen.“ "Hat das Claudine ausgesagt?“ "Ja. Gegen acht erhielt sie einen Anruf von André; da war er auf dem Weg nach Versailles. André ist ungefähr zur selben Zeit gestorben wie Sabrina - so zwischen neun und elf Uhr abends. Thomas hat ihn ebenfalls hinuntergestoßen; durch sein Krafttraining im Fitness- Studio war er - im Gegensatz zu seinem Bruder - sehr gut durchtrainiert. Als er allein war, hat er sich offenbar noch wohlüberlegt mit den Champagnerflaschen und –gläsern beziehungsweise deren Scherben beschäftigt; es durften ja nur Finger-abdrücke von Sabrina und André zurückbleiben. Danach brauchte Thomas nur noch Andrés Papiere gegen seine eigenen auszutauschen. "Damit war er auf einen Schlag gleich mehrere Probleme los“, stellte Georg nüchtern fest. Constanze nickte. "Nun mußte er aber noch Claudine eine glaubhafte Geschichte auftischen, damit sie ihm das Geld aus dem Verkauf des Degas’ aushändigte. Es befand sich noch in ihrer Mustermappe in einem Wandschrank des Hotels. Er rief sie also kurz nach zehn Uhr abends an, erzählte ihr, André sei untergetaucht und verabredete sich mit ihr für Sonntag morgen im Musée d’ Orsay. Er gab ihr genaue Anweisung, wie sie sich zu verhalten hätte. Natürlich verriet er ihr nicht, daß er sich unter das Personal des Cafés mischen würde, um schnell und heimlich abkassieren zu können.“ "Was dann ja nicht ganz geklappt hat“, sagte Frederike. "Nun sitzt er also in U- Haft und wartet auf seinen Prozeß. Und was macht deine Schwester?“ "Sie hat die Scheidung eingereicht", antworte Constanze. "War wohl zu erwarten", meinte Georg und öffnete eine neue Flasche Rotwein. "Im Moment arbeitet Sonja offenbar Tag und Nacht für ihr Geschäft", fuhr Constanze fort; sie treibt die Eröffnung in Kampen mit Macht voran. Dazwischen hat sie höchstens noch Zeit für Bertram. Der berät sie nämlich in puncto Bilder für das Geschäft."
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"Sie redet wohl nicht mehr mit dir", mutmaßte ihre Freundin. "Sie nimmt es mir sehr übel, daß ich ihr quasi nachgewiesen haben, daß sie wieder einem Taugenichts aufgesessen ist.“ Noch einmal entstand eine Gesprächspause. Georg schenkte Rotwein nach. "Ja, Bertram ruft Sonja häufig aus der Firma an“, sagte Frederike dann. "Wer weiß, vielleicht bekommt ihr eines Tages doch noch wieder eure Idylle.“ Constanze winkte ab. "Hör bloß damit auf! Vater brütet zwar wie eh und je die meiste Zeit des Tages im Labor, aber sonst hat sich ziemlich viel verändert: Mutter leitet eine Frauengruppe, die sich für Computer und Internet fit machen will, Hilde denkt endlich einmal an sich und macht mit einer Cousine Urlaub am Gardasee; ich war schon seit fünf Wochen nicht mehr dort!“ "Dafür ist Jason Philipps jetzt um so häufiger in Hamburg“, sagte Frederike. „Hast du die Zeitung von heute gelesen? Da steht’ s; Seite 11 oben.“ Damit reichte sie Constanze den Lokalteil. Constanze überflog den Artikel. "Ja, das ist sie. Sie hat neulich am Rothenbaum gespielt, und deshalb mußte Jason die letzten Absprachen mit ihr hier in Hamburg treffen.“ "Hat er dir das gesagt?“ Frederike zog die Augenbrauen hoch. "Also, ich finde, die beiden sehen auf diesem Foto fast wie ein Paar aus - wie ein ziemlich glückliches Paar sogar.“ "Alles im Dienste der Promotion“, meinte Georg. "Was muß eine attraktive und sportlich sehr erfolgreiche Frau tun, um bei der Damenwelt für ihr Parfum Aufsehen zu erregen? - Sie muß natürlich demonstrieren, daß man damit einen gutaussehenden, erfolgreichen Mann ködern kann!“ "Klingt ja plausibel“, meinte Frederike, "aber ich hoffe, daß sich der Mann nicht zu sehr festbeißt! Da steht, daß die Präsentation des Parfums am nächsten Dienstag in New York stattfinden soll - im World Trade Center. Wirst du dabei sein, Constanze?“ Constanze zuckte mit den Schultern. Dann lachte sie. "Wenn der geköderte Mann innerhalb der nächsten Stunde hier auftaucht, dann werde ich wohl dabei sein. Ich habe mir dafür jedenfalls schon eine Woche Urlaub genommen und ein passendes Kleid gekauft – und am Flughafen sind zwei Tickets hinterlegt.“ Kurz darauf klingelte es an der Wohnungstür. "Geh du zur Tür, Constanze“, sagte Georg. "Du weißt doch: Bei Leuten, die im dritten Stock wohnen, kommt fast jeder Gast mit Herzklopfen an.“ Constanze ging. "Ich wollte dich nur abholen, Darling“, sagte Jason und gab ihr einen Kuß. "Ich weiß. Komm trotzdem herein. Wir trinken gerade ein Glas Wein, und ich habe den beiden schon alles Mögliche erzählt.“ "Alles?“ fragte er mit einem Stirnrunzeln "Nein, natürlich nicht! Du dafst auch noch etwas erzählen“, versicherte sie ihm. "Das beruhigt mich sehr“, sagte er, während er Frederikes Küche betrat. Zur Begrüßung überreichte Jason Frederike ein kleines, in grünem Seidenpapier eingewickeltes Päckchen. "Als Erinnerung an ein kleines Abenteuer“, sagte er. "Du darfst es heute schon aufmachen.“
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Behutsam wickelte sie das Geschenk aus: Zuerst kam eine Kartonage in Grün und Silber zum Vorschein, dann ein konisch geformter gläserner Flakon. "Remember Paris“, las Frederike halblaut vor. "Das ist das neue Parfum!“ rief Constanze. "Das kenn’ ich selber noch nicht!“ "Du kannst nächste Woche meinetwegen darin baden, Darling“, sagte Jason. "Der Hersteller wird mich dann nämlich zukippen mit dem Zeug.“ Dann sagte er zu Frederike: "Aber du bist die erste Frau, die es vor der offiziellen Präsentation besitzt.“ Und zu Georg meinte er: “Und du sei vorsichtig; ich glaube es wirkt tatsächlich!“ "Und ich?“ Constanze sah Jason fragend an. "Du?“ Er nahm sie zärtlich in die Arme. "Du fliegst morgen mit mir wie geplant nach New York; denn du hast dort Termine: mit der Tennisspielerin im World Trade Center, mit meinem Bruder im Strandhaus und jeden Morgen mit mir bei Sonnen aufgang an unserem Strand!“
* * * Ende * * *