Marianne Curley
Die Prophezeiung der
Auserwählten
Aus dem australischen Englisch
von Petra Hrabak und
Christa ...
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Marianne Curley
Die Prophezeiung der
Auserwählten
Aus dem australischen Englisch
von Petra Hrabak und
Christa Prummer-Lehmair,
Kollektiv Druck-Reif,
München
Nagel & Kimche
Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Recht schreibung.
© Marianne Curley 2002
Originalverlag: Bloomsbury Publishing Ltd.
London/Großbritannien
Titel der Originalausgabe: The Key
© 2006 Nagel & Kimche
im Carl Hanser Verlag München Wien
Umschlag: Dieter Wiesmüller
Herstellung: Meike Harms und Hanne Koblischka
Satz: Filmsatz Schröter
Druck und Bindung: Friedrich Pustet
Printed in Germany
Scanned 12/2008 m
Corrected by PMax
www.nagel-kimche.ch
ISBN-10: 3-312-00958-8
ISBN-13: 978-3-312-00958-9
Dieses Buch widme ich meiner Schwester Therese in Liebe und Bewunderung
Personen Die Zeithüter ARKARIAN: Meister, Koordinator aller Zeitreisen, die von der Festung aus starten, Behüter des Hologramms der Zeit und wichtigster Trumpf der Zeithüter (auch: Wachen) im Kampf gegen die Göttin des Chaos und ihren Orden, hat die besondere Gabe, nicht zu altern, Seelengefährte von Isa bel und Sohn von Lorian LORIAN: Unsterblicher, mächtiger Herrscher und Vorsteher des Hohen Rates und Begründer der Festung Veridian, Bru der der bösen Göttin Lathenia, er führt den Kampf gegen seine böse Schwester an und setzt sich für die Rettung der Welt und die Erfüllung der Prophezeiung ein HOHER RAT: Zusammenschluss der mächtigsten Herrscher, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Wachen zum Schutz gegen die Göttin des Chaos aufzustellen, statten die Zeithüter mit besonderen Gaben aus, 9 Mitglieder: Lady Devine (Haus der Divinity), Lord Meridian (Haus von Ka vanah), Königin Brystianne (Haus von Averil), Sir Syford (Haus von Syford), Lady Elenna (Haus von Isle), Lord Ale xandon (Haus von Criers), Lady Arabella (Haus von Him mel und Wasser) und Lord Penbarin (Haus von Samartyne) KÖNIG RICHARD: König von England, wird von Ethan auf einer der Zeitreisen gerettet und in die Jetztzeit gebracht, Mitglied des Hohen Rates, ist ein wichtiger Teil der Prophe zeiung als »König des Hauses von Veridian« DIE AUSERWÄHLTEN: neun herausragende Mitglieder der 7
Zeithüter, der Prophezeiung nach sind es diese neun Aus erwählten, die den entscheidenden Kampf gegen die böse Göttin Lathenia führen ETHAN ROBERTS: gehört seit seinem vierten Lebensjahr zu den Hütern der Zeit, Meister Arkarian hat ihn in seine Ob hut genommen, nachdem Ethans ältere Schwester Sera von Marduke ermordet wurde, Ethan hat die besondere Fähig keit, Gedankengebilde entstehen zu lassen und er erhält schon bald die Kraft der Schwingen durch den Hohen Rat ISABEL BECKET: Schülerin von Ethan, verliebt in ihren Ausbilder, bis sie ihren Seelengefährten Arkarian kennen lernt, ist eine Heilerin und damit ein unersetzliches Mit glied der Zeithüter, zudem hat sie Visionen kommender Ereignisse, der Unsterbliche Lorian verleiht ihr die Kraft der ewigen Jugend, damit sie mit Arkarian zusammen sein kann MATT BECKET: älterer Bruder von Isabel und früher Ethans bester Freund, bis sich die beiden in dasselbe Mädchen ver liebten und Ethan bei Rochelle den kürzeren zog, hat einen fast schon krankhaften Beschützerinstinkt gegenüber Isabel, so dass es zu weiteren Spannungen kommt, als Ethan und Isabel viel Zeit miteinander verbringen, schließlich stellt sich bei der gemeinsamen Befreiungsaktion von Arkarian aus der Unterwelt heraus, dass auch Matt ein Zeithüter und für eine besondere Aufgabe vorgesehen ist ROCHELLE THALLIMAR: Matts Freundin, hat eine furcht bare Familiengeschichte, Mutter starb auf mysteriöse Weise, als sie fünf war, Vater war gewalttätig und wurde schließlich wegen Totschlags an der Stiefmutter verurteilt, Marduke nutzt ihr Trauma und macht sie zu seiner Spionin für den Orden, doch es gelingt Rochelle, sich von der bösen Seite zu lösen und zu den Zeithütern überzutreten 8
DILLON: Freund von Matt und Ethan, verliebt in Neriah, lange ahnungslos, was seine Freunde und Klassenkamera den und ihre besonderen Fähigkeiten angeht, bis sich auch bei ihm ungewöhnliche Kräfte zeigen NERIAH: Tochter von Marduke, die vom Hohen Rat nach Mardukes Übertritt auf die Seite des Bösen zusammen mit ihrer Mutter in Sicherheit gebracht wurde, taucht im ent scheidenen Moment des Kampfes als eine der Auserwählten auf SHAUN ROBERTS: Vater von Ethan, ebenfalls ein Zeithüter, der sich allerdings nach einer missglückten Mission zurück gezogen hat, Marduke und Shaun sind seitdem Todfeinde, Shaun erkennt, dass er die damals nicht zu Ende gebrachte Mission abschließen muss, um die Prophezeiung zu erfüllen und den Zeithütern die Möglichkeit zu geben, den Orden zu besiegen MARCUS CARTER: Geschichtslehrer von Ethan und Isabel, gehört zu den Zeithütern und übernimmt die Koordination der Zeitreisen, während Arkarians Abwesenheit JIMMY: Lebensgefährte von Isabels und Matts Mutter, ist eine Art Ingenieur der Festung und Sicherer der Prophezeiung. Der Orden MARDUKE: einst auf der Seite des Guten, ist er nun der engste Vertraute der bösen Göttin Lathenia, bei einer Mis sion mit Shaun wollte er die vorgesehenen Ereignisse in eine andere Richtung lenken, Shaun konnte es nur verhindern, indem er Marduke schwer verletzte, seitdem ist Mardukes Gesicht vollkommen entstellt und er gibt Shaun die Schuld, dass ihn seine Frau und seine Tochter verlassen haben 9
LATHENIA: mächtige Göttin des Bösen, gründet Orden des Chaos und schart ein Heer des Bösen um sich, will Welt herrschaft an sich reißen, ist eine Unsterbliche wie ihr Bru der Lorian
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Was bisher geschah …
Die Zeithüter wachen über die Zeit, über die Geschichte. Sie sorgen dafür, dass alles so geschieht wie vorgesehen. Die Welt ist von der bösen Göttin Chaos und ihrem Orden bedroht. Die Göttin beabsichtigt, die Gegenwart zu ändern, indem sie versucht, in vergangene Ereignisse einzugreifen. Die Folgen der verursachten Unordnung sind Hungersnöte, Seuchen, Flutkatastrophen und Kriege. Höchstes Ziel der Göttin ist die Herrschaft über die Menschheit und schließlich ihre Zerstö rung. Bislang ist es den Zeithütern unter der Führung Arkarians und mit der Unterstützung des Hohen Rates gelungen, die finsteren Pläne der Göttin zu durchkreuzen. Doch mit jeder Niederlage wird Lathenia entschlossener und gewalttätiger. Sie versammelt ein riesiges Heer schrecklicher Kreaturen, die für sie in den Kampf ziehen. Die Zeithüter haben nur eine Chance: Sie müssen den Aus erwählten finden, den einen Krieger, der sie anführen wird in der entscheidenden Schlacht. Nur mit ihm können sie die Prophezeiung von Veridian erfüllen und das Böse besiegen.
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Ehe die Welt frei sein kann Werden wir der Knospe getöteter Unschuld ansichtig In den Wäldern über der historischen Stadt Veridian Wo neun Identitäten aufgedeckt werden. Ein König wird die Herrschaft übernehmen
Doch erst, wenn ein Führer reinen Herzens erwacht
Und ein altersloser Krieger mit hochbetagter Seele mit Würde
und Voraussicht die Führung übernimmt. Seid achtsam! Neun werden einen Verräter kommen und ge hen sehen Infolgedessen ein langer, schmerzvoller Krieg entbrennen wird Dem sich der Ernannte einmütig anschließt Gleichzeitig wird Argwohn Zwietracht säen. Ein Narr wird Schutz bieten, ein Zweifler einen Schatten wer fen Ein unerschrockener junger Krieger sein Herz dem Tod weihen
Doch niemand wird siegreich sein, solange nicht ein
verloren geglaubter Krieger zurückfindet
Und der Furchtlose – geleitet von Licht und Kraft – von einer
Reise heimkehrt. Seid auf der Hut! Zwei letzte Krieger bringen sowohl Leid als auch Segen Der eine tritt aus der Mitte Verdächtiger hervor
Der andere verkommt zum Bösen
Während der eine den Sieg erlangt, wird der andere siegreich
sein im Tode. 12
Prolog
Sie beschließen, auf dem Berg Athos zusammenzukommen. In einem verlassenen Kloster, das auf einem Felsen hoch über dem Meer thront. Lathenia, auch Göttin des Chaos genannt, seitdem sie das unstillbare Verlangen nach Weltherrschaft hegt, trifft als Erste ein. In ihrer Begleitung befinden sich ihr treuer Gefährte Marduke sowie der alte Zauberer Keziah. Die Regeln sind einfach: Kommt ohne Waffen und mit höchstens zwei Verbün deten. Es war Lorian, der den Anstoß zu dieser Begegnung gab, die Frieden schaffen soll. Die Geschwister sind aufgefordert, eine Übereinkunft zu treffen und den prophezeiten Endkampf abzuwenden, der alles Leben auf Erden vernichten soll. Es herrscht tiefschwarze Nacht. Ein Schneesturm tobt dröhnend durch die Schluchten, als Lorian am Fuß des Mo nolithen auftaucht, gefolgt von zwei Mitgliedern des Hohen Rats – Lord Penbarin und Lady Arabella – sowie einer dritten Gestalt. Eingehüllt in dicke, wärmende Mäntel erklimmen der Un sterbliche und seine Begleiter schweren Schrittes die zweihun dertzweiundsiebzig vereisten, spiegelglatten Felsstufen. Hastig und achtsam zugleich versucht Lord Penbarin zu Lorian aufzuschließen. »Mir scheint, mein Lehnsherr, hinter dieser Zusammenkunft mit Eurer Schwester steckt mehr, als Ihr habt zugeben wollen«, sagt er zu Lorian gewandt, ehe er den Blick auf die dritte Person der Gruppe heftet. 13
Als Lorian stehen bleibt, halten auch seine drei Begleiter inne und blicken auf. »Und Ihr, Lord Penbarin, gebt Euch wie üblich wieder ein mal übertrieben argwöhnisch.« Lord Penbarin schnaubt kaum hörbar, denn er weiß nur allzu gut, dass Lorian mit seiner Bemerkung Recht hat. Als der Sturm den Schnee noch heftiger aufwirbelt, gleitet Lorians Blick über Lord Penbarins Schulter hinweg auf die dritte Person. Er verzieht den Mund zu einem schiefen Lä cheln. »Wird die Zusammenkunft lange dauern, Mylord?«, erkun digt sich Lady Arabella. Lorian sieht die Herrscherin an. Obwohl ihr Gesicht von der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze nahezu vollständig verdeckt wird, gelingt es ihm kaum, die Augen von ihr zu wenden. Als sie den Kopf hebt und ihre Blicke sich treffen, fragt Lorian sich zum unzähligsten Mal, wie es ihm über die Dauer von tausend Jahren gelungen ist, an seiner Entschei dung festzuhalten, geschlechtslos zu bleiben. Diese Anforde rung ermüdet ihn zunehmend. Unzählige Opfer hat er ge bracht, um unvoreingenommen und unparteiisch regieren zu können. Schließlich erreichen sie den Klostereingang – ein Tor aus Zypressenholz, von dem aufgrund mangelnder Pflege nur mehr einzelne verwitterte Bretter erhalten sind. Knarrend öffnet sich die Tür und aufgeregte, eigens zu diesem Anlass eingestellte Bedienstete bitten die hohen Gäste hinein. Kaum stehen sie im Gebäudeinneren, fühlen sie die sie umgebende Wärme. Allein Lorian, dessen Körper weder Kälte noch Wär me empfindet, spürt offenbar keinerlei Veränderung. Eine ausladende, aus feuerfesten Ziegeln gemauerte Treppe 14
zu ihrer Linken führt in das Obergeschoss. Von dort blickt Lathenia auf die Ankömmlinge herab. Lorian nickt ihr zu. Ihre Gedanken prallen aufeinander und münden in einer steifen Begrüßung. Die langen Finger graziös um den Handlauf des Treppengeländers gelegt, steigt die Göttin die Stufen herab. Anmutig zieht sie die Schleppe ihrer weißen Robe hinter sich her, deren purpurfarbene, um die Taille geschlungene Schärpe die schmale Gestalt der Göttin umso eindrucksvoller macht. Marduke und Keziah folgen ihr in gebührendem Abstand. Ihre Herrin ist die Hauptperson. Ihretwegen findet diese Zusammenkunft statt. Die zwei Männer sind lediglich ihre unterwürfigen Diener, und sie wird nicht müde, das zu wie derholen. »Bruder«, wendet sie sich an Lorian, während sie auf ihn zugeht und schließlich vor ihm stehen bleibt. »Oder … gibt es eine Anrede, die dir mehr behagt, da du keinem eindeutigen Geschlecht zuzuordnen bist?« Unbemerkt von den Umste henden streift ihr Blick Lady Arabella. Mit einer herablassenden Handbewegung antwortet Lorian gleichermaßen gereizt wie gelangweilt: »Da es dir offenbar schwer fällt zu begreifen, dass ich nur aufgrund meiner ge schlechtlichen Neutralität unparteiisch sein kann, bediene dich der männlichen Form, wie ich dies der Einfachheit halber auch anderen zugestanden habe.« »Wie bedauerlich!«, entgegnet sie kichernd. »Ich hätte dich zu gerne in der sächlichen Form angeredet. … Es.« Lorian hält die Augen auf sie gerichtet. Doch da Lathenia seinem Blick nicht standhalten kann, fixiert sie zunächst Lord Penbarin, ehe sie Lady Arabella erneut flüchtig mustert. Obwohl die dritte Person an Lorians Seite nicht zu übersehen ist, nimmt Lathenia von der Anwesenheit dieses ungebetenen 15
Gastes zunächst keinerlei Notiz. »Es liegt schon eine Weile zurück, Mylord und Mylady.« »Was für ein unglückseliger Umstand, dass wir überhaupt zusammenkommen müssen«, kommentiert Lord Penbarin spöttisch. Allein Lathenias Schulterzucken deutet darauf hin, dass die se Beleidigung saß. Nach wie vor lässt sich nichts aus ihrer versteinerten Miene lesen. Sie nimmt sich Zeit, die Identität der dritten Person herauszufinden. Die in den Umhang gehüll te Person tritt wie auf Kommando überraschend einen Schritt vor. Ein eindringlicher Blick aus ungewöhnlich blauen Augen fallen Lathenia als Erstes auf. Ein Schauder läuft ihr über den Rücken und verstärkt sich, je deutlicher sie die Autorität dieser Gestalt zu ahnen beginnt. Obwohl es sich bei der Person zweifellos um ein Mitglied des Hohen Rats handelt, ist Lathe nia außer Stande, ihre Identität zu lüften. Verächtlich mustert sie ihren Bruder, während sie gleichzeitig bemüht ist, ihre Überraschung und Neugier zu verbergen – aber vergeblich. »Die Rede war von nur zwei Verbündeten! Wer ist das?« Lorian lässt sich nicht anmerken, welche Genugtuung die Frage seiner Schwester ihm bereitet. Ihre Reaktion erfüllt all seine Erwartungen. Er winkt die Person im Umhang heran. »Ich möchte dich mit König Richard bekannt machen, ehe mals Richard II. von England.« Lorian hält inne, damit seine Schwester diese Nachricht verdauen kann, und fügt nach einer Weile hinzu: »Er ist jetzt König Richard … von Veridian.« Lathenia tritt einen Schritt zurück. »Veridian hat einen Kö nig?«, fragt sie erstaunt und presst ihre schmale Hand auf die Brust. Lorian antwortet nicht. Es bedarf keiner Erklärung. Alle Anwesenden begreifen, dass Veridian jetzt einen König hat. 16
Damit ist der Hohe Rat komplett, und die Wachen werden stärker sein denn je. »Mylady«, sagt König Richard und verneigt sich tief vor der verblüfften Göttin. »Ich bin … entzückt, Eure Bekanntschaft zu machen und freue mich darauf, diese zu vertiefen.« Während sie einander sekundenlang tief in die Augen bli cken, versucht Lathenia ihre Gedanken zu ordnen. König Richard hat Lathenia in mehrfacher Hinsicht verwirrt, wor über Lorian geradezu hämische Freude empfindet. Ganz im Gegensatz zu Marduke, dem das unerwartete Interesse seiner Geliebten an diesem Fremden nicht verborgen bleibt. Schnau bend bläht er die einem Schweinerüssel ähnelnde Nase und grunzt verdrossen. Seine Erlebnisse in der Zwischenwelt haben ihn körperlich derart verunstaltet, dass er nicht mehr in Lathenias Gunst steht. Obwohl sein unüberhörbares Missfallen die Göttin aus ih rer Erstarrung reißt, gelingt es ihr nur mit Mühe, ihre Gefühle zu verbergen. Sie seufzt und entgegnet scheinbar gleichgültig: »Wir werden sehen, Mylord.« Daraufhin stolziert sie hastig auf eine offene Tür zu und lässt die Gesellschaft in einer bleiernen, schier erdrückenden Atmosphäre zurück. Die Bediensteten führen die Mitglieder des Hohen Rats in eine von unzähligen Kerzen erleuchtete Halle mit Wänden aus Stein, in deren Mitte ein Tisch aus purem Kristall und sieben dazu passende Stühle stehen, die eigens zu diesem Zweck aus Lathenias Palast herbeigebracht wurden. Lorian bemerkt die Anzahl der Stühle, enthält sich aber ei ner Bemerkung. Wie konnte sie ahnen, dass König Richard anwesend sein würde? Andererseits sollte er sich allmählich an die Überraschungen gewöhnt haben, mit denen bei seiner Schwester stets zu rechnen ist. 17
Alle sieben nehmen am Tisch Platz. Lathenia und Lorian sitzen einander gegenüber. Nach längerem Schweigen fragt sich König Richard verwundert, ob sie wohl ohne ihn in Gedanken kommunizieren. Denn das ist durchaus möglich, wie er mittlerweile weiß. Warum aber sollten die Begleiter überhaupt anwesend sein, wenn nicht, um etwas zu bezeugen? Kaum trifft ihn Lorians strenger Blick, bereut König Ri chard bereits, seine Gedanken nicht abgeschirmt zu haben. Doch gleich darauf erhellt sich Lorians Miene, und er gesteht ein: »Ich bin ganz Eurer Meinung, Mylord.« Knurrend nimmt König Richard die Bemerkung zur Kenntnis und schwört sich, seine Gedanken ab sofort besser zu verbergen. »Ich habe gerade darüber nachgedacht, was meine Eltern von diesem Treffen halten würden, wenn sie noch lebten«, nimmt Lorian die Unterhaltung mit König Richard wieder auf. Lathenia beginnt heftig zu gestikulieren. »Pah! Und ich ha be mich gefragt, weshalb mein Bruder in letzter Zeit so schwermütig ist. Ich vermute dahinter ein Zeichen von Schwäche, und das amüsiert mich richtiggehend.« »Tatsache ist, Lathenia, dass ein Unsterblicher nur von ei nem anderen Unsterblichen getötet werden kann.« Lathenias silbrige Augen sind jetzt ganz dunkel. Sie trom melt mit ihren langen Fingern auf die Tischplatte. »Willst du mir etwa drohen, Bruder?« Ihre theatralische Geste wirkt auf Lorian ausnehmend er heiternd. Ihre Eltern hatten sowohl ihre Liebe als auch ihren Hass intensiv ausgelebt, bis sie sich in einem Moment glühen der Leidenschaft gegenseitig umbrachten. »Du glaubst wohl, ich fände den Tod unserer Eltern belustigend.« 18
Dass Lathenia nichts darauf erwidert, lässt Lorian stutzen. »Weißt du womöglich mehr als ich?« »Nein. Du warst ja auch anwesend.« »Richtig. Ich habe beobachtet, wie sie sich gegenseitig das Messer an die Kehle hielten. Aber du warst vor mir da. Ich kam erst dazu, als die Tat vollbracht war.« »Ich habe lediglich eine Sekunde vor dir den Raum betreten.« »Bei einem Unsterblichen kann sich innerhalb einer Sekun de eine Menge zutragen«, wendet Lorian anklagend ein. Lathenia wechselt hastig das Thema. »Hör sich einer das an! Eigentlich sollte ich diejenige sein, die hier die Fragen stellt. Fragen bezüglich unseres Bruders. Du bist viel verschlagener, als du deine Gefolgsleute glauben lässt.« Sie mustert die Mit glieder des Hohen Rats. »Ihr kennt sein wahres Wesen nicht. Er ist beileibe nicht der ehrenwerte Lorian, dem ihr Euer Vertrauen schenkt. Er hat unseren leiblichen Bruder umge bracht!«, erklärt sie und richtet den Blick erneut auf Lorian. »Dartemis war in keinster Weise eine Gefahr für dich. Ich war diejenige, die eine Bedrohung darstellte. Weshalb also hast du ein unschuldiges Kind umgebracht?« Lorians Erinnerung nach war Dartemis beileibe kein »un schuldiges Kind«, sondern das jüngste und stärkste der drei Geschwister. Er hatte den Bruder zu dessen Sicherheit in eine andere Welt bringen müssen, wo er heute noch lebt. Dartemis wird weiterhin in jener Welt leben und sich seine Kräfte zu Nutze machen. Als Gebieter und als Zauberer. Plötzlich erinnert sich Lorian an den Tag, an dem Dartemis von seinen magischen Kräften Gebrauch gemacht hat. Furcht einflößende, ungewöhnliche Kräfte. Damals erkannte er, dass Lathenia, falls sie sich die Gaben des Bruders aneignete, zu mächtig werden würde. 19
Doch im Augenblick gibt es Dringlicheres: Die Beilegung des Konfliktes. Und zwar ohne Krieg. Da Lorian seine letzten Gedanken allen zugänglich gemacht hat, sind nun alle wieder aufmerksam. Lathenia tut das Vorha ben ihres Bruders verächtlich ab. »Was ist los mit dir? Deine Schwermut ist ja noch größer, als ich vermutet hatte. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, du seist verliebt.« Ihre Worte schüren seinen Zorn. »Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Ich würde es nicht zulassen, dass mein Ur teilsvermögen durch meine Gefühle getrübt wird!« Totenstille legt sich über den Raum, als Lathenia plötzlich das dringende Bedürfnis verspürt, Lady Arabella anzusehen. Arabella wagt nicht die Augen zu heben und starrt auf die eisblauen Adern, die sich unter der blassen Haut ihrer Hände abzeichnen, während Lord Penbarin sie über den Tisch hinweg anstiert, als sähe er sie zum allerersten Mal in seinem Leben. Es ist Mardukes raue, gutturale Stimme, die die angespann te Stimmung aufbricht. »Diese Zusammenkunft ist Zeitver schwendung. Wir werden zu keinem Ergebnis gelangen. Probleme lassen sich allein durch Krieg lösen. Das ist der Lauf des Universums.« »Sagt Marduke die Wahrheit, Schwester?«, fragt Lorian. »Besteht wirklich keine Hoffnung auf Frieden zwischen uns?« Lathenia heftet den Blick auf ihren Bruder. »Frieden ist erst dann möglich, wenn Gerechtigkeit herrscht. Deine Regentschaft beruht auf falschen Ansprüchen.« »Muss ich dich etwa ein weiteres Mal daran erinnern, dass ich der Erstgeborene von uns dreien bin?« »Das behauptest du«, wendet Lathenia ein. »Doch eigent lich wäre ich die Erstgeborene gewesen.« Sie springt auf. Ihre Augen funkeln, sie bebt vor Zorn. 20
»Marduke hat Recht! Unsere Zusammenkunft ist zwecklos. Wir werden diesen Disput nur mit Gewalt beilegen können. Mir steht die Kontrolle über alle Welten zu. Und ich werde sie bekommen!« »Beruhige dich, Schwester. Keiner von uns beiden wird die se Reiche jemals regieren«, wendet Lorian gleichmütig ein. »Die Menschen regieren sich selbst. Sie verfügen über einen eigenen Willen und entscheiden über ihr Schicksal selber. Solange sie sterblich sind, sind wir nichts als ihre Wächter.« »Das wird sich ändern.« Lorian steht ebenfalls auf. Gebannt verfolgen die Anwesen den den Schlagabtausch der beiden zornigen Götter. »Du kannst nicht verändern, was nicht verändert werden darf«, zischt Lorian. »Marduke spricht vom Lauf des Univer sums. Ich hingegen spreche vom Lauf des Lebens.« »Ich werde alles daransetzen, beide Welten zu vereinen«, entgegnet Lathenia. »Und es wird mir gelingen.« »Aber das hätte verheerende Folgen!«, ruft Lorian entsetzt. »Die Menschen würden … sich verändern. Sie liefen Gefahr, sich der Herrschaft der Seelenlosen beugen zu müssen. Das Unvorstellbare würde Realität werden, und die Grenze zwi schen Sterblichkeit und Tod würde verschwimmen.« Lathenia schweigt. Lorian begreift, dass sie um nichts in der Welt ihren Entschluss widerrufen wird. Gleichzeitig empfindet er zum ersten Mal in seinem langen Leben leibhaftige Angst. Eine Angst, die unvermittelt in Zorn umschlägt. Mit eisigem Unterton in der Stimme, der Lord Penbarin nahezu das Blut in den Adern gefrieren lässt, zischt Lorian ihr leise zu: »Das darfst du nicht tun.« »Spar dir deine Belehrungen, Lorian.« Lathenia hebt die Hand und weist mit einem ihrer langen Finger auf die schmale 21
Öffnung in der Decke. »Gleich wirst du erfahren, was ich von deinen Friedensabsichten halte.« Augenblicklich teilt sich die Zimmerdecke. Riesige Fels und Gesteinsbrocken werden in den Himmel geschleudert. Als Lathenia erneut die Hand hebt, reißt der tobende Orkan die Decke mit sich. »Was führst du im Schilde?«, fragt Lorian, die violetten Au gen beunruhigt auf seine Schwester geheftet. Doch Lathenia antwortet nicht, sondern beobachtet statt dessen den Verlauf, den das Unwetter nimmt. Kaum zuckt ein Blitz, gefolgt von einem überwältigenden Donner, über den Himmel, geraten die dichten Wolken in Bewegung und zer streuen sich. Nur wenige Sekunden, und das Schauspiel ist vorbei. Über den sieben Personen wölbt sich ein klarer, mit Abermillionen Sternen übersäter Himmel. Dass Lathenia es dabei bewenden lässt, ist kaum anzuneh men. Das weiß auch Lorian. Unverwandt starrt er in den prachtvollen Nachthimmel. Dem Feuerwerk berstender Licht punkte folgt ein Zischen, das zu einem durchdringenden Pfeifen anschwillt. Voller Panik kauern sich die Sterblichen auf dem Boden zusammen, als ein Felsbrocken über ihren Köpfen zerspringt. Mit einem gellenden Schrei sucht Lady Arabella an der Seite von König Richard Schutz unter dem Tisch. Lorian verharrt regungslos. Von ihm geht eine Kraft aus, die man in den Überresten des nunmehr den Elementen ausgesetzten Raums auf der Felsspitze förmlich spüren kann. Er hebt den Blick und fixiert einen hellen, blau strahlenden Stern am Firmament. »Achtung!«, sagt Lord Penbarin mit warnendem Unterton in der Stimme. »Geht in Deckung. Das könnte spann …« 22
Noch ehe er den Satz beendet hat, schießt ein lodernder Feuerball, begleitet von einem hohen, schrillen Pfeifton auf die Mitglieder des Hohen Rats zu. Als er in der Atmosphäre verglüht, ergießen sich in einem Inferno aus Licht und Hitze brennende Trümmer in den Raum. Scharenweise fliehen die Bediensteten aus dem Kloster. Un ter markerschütterndem Klagerufen, die Hände schützend über die Ohren gelegt, hasten sie den schroffen Felsen hinab – so schnell und so weit fort wie möglich. Binnen Minuten hat sich eine außergewöhnliche Lichter scheinung aufgebaut. Als ein Meteor in unmittelbarer Nähe zerschellt, beginnt der Monolith zu schwanken. Eine Mauer seite fällt in sich zusammen. Hasserfüllt mustert Lorian seine Schwester. »Liegt dir tatsächlich nur dein eigenes Leben am Herzen?« Sie zuckt die Schultern. Ein zweiter Meteor rast über den Himmel. Gewiss wird er in einem entlegenen Land aufprallen. »Das war Angel Falls!« Lorian sieht seine Schwester feindse lig an. »Ach, wirklich? Befürchtest du etwa ein paar deiner Wachen zu verlieren?« »Bist du denn etwa nicht in Sorge um deine Krieger, die dort leben?« »Na ja, für den Tod deiner besten Kämpfer opfere ich gerne ein paar von meinen!« Lorian ist fassungslos. Voller Abscheu mustert er seine Schwester. »Du gehst zu weit.« »Vergiss nicht, Bruder: Ich wage stets einen Schritt mehr als du!« Er schweigt. Nach und nach strecken alle, die unter dem 23
Tisch Zuflucht gesucht hatten, wieder die Köpfe hervor, um zu sehen, was nun folgt. Regungslos schließt Lorian die Au gen, während Lady Arabella einen verstohlenen Blick hinüber zu Lord Penbarin wirft. Nie zuvor hat sie ihren Lehnsherrn derart konzentriert und gleichzeitig wütend erlebt. Penbarin zuckt beiläufig die Achseln, ehe er bemerkt, dass sein Herr und Meister plötzlich aus seinem Inneren heraus zu glühen und immer heftiger zu zittern beginnt. Hastig blickt Lathenia hinüber zu Keziah, dem greisen Ma gier. Doch selbst der alte weise Mann weiß dieses Schauspiel nicht zu deuten. Er schüttelt den Kopf. »Ich begreife das nicht, Hoheit.« »Bruder, was hast du vor?«, fragt sie Lorian. Nach einiger Zeit schwindet das Licht, das Lorians Körper erleuchtet hatte. Auch zittert er jetzt nicht mehr so stark und seine Kräfte lassen merklich nach. Was immer er getan hat – es ist offensichtlich vorüber. Einige sehen hinauf in den Him mel, nur Lord Penbarin wendet den Blick nicht von seinem Herrn. Nach und nach wird Lorian klar, wo er sich befindet. Als er die Augen öffnet, begegnet er Lord Penbarins Blick und teilt ihm über seine Gedanken mit, was er soeben getan hat. Lord Penbarin schnappt nach Luft. Flüchtig überlegt er, was diese Tat seinen Lehnsherrn gekostet haben mag. Doch was geschehen ist, ist geschehen – und wird Konsequenzen haben. Erwartungsvoll blickt Lady Arabella Lord Penbarin an. Aus Angst, dass die Göttin ihn hören könnte, übermittelt er ihr gedanklich nur zwei Worte … Der Auserwählte.
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Kapitel 1
Rochelle
In der Schule ist nichts mehr wie früher. Am Vordereingang stehen jetzt Sicherheitsposten. Niemand trägt mehr Schuluni form. Der Boden ist mit Abfällen übersät. Anscheinend ist das allen vollkommen egal. Der Abfall liegt über das ganze Gelän de verstreut, sogar in den Klassenräumen. Und die Schüler scheren sich nicht darum. Sie kümmern sich um nichts und niemanden, nicht einmal um sich selbst. Ich weiß es, weil sich mir alles mitteilt, was die anderen denken. Bevor ich gelernt hatte, die Gedanken anderer Menschen auszublenden, habe ich alles wahrgenommen, was sie dachten. Ich hatte Angst, verrückt zu werden. Völlig unvorbereitet hörte ich plötzlich Stimmen. Unablässig. Eines Tages – ich war fürchterlich müde – konnte ich es einfach nicht mehr ertragen. Wir hatten uns in der Aula versammelt. Ich stand inmitten all der Schüler, als mir der Lärm zu viel wurde und ich zur Tür gerannt bin. Ich bin gerannt und gerannt. Immer weiter. Fast bis zum Wald rand. Sie sollten endlich still sein! Noch heute bin ich oft fassungslos. Menschen können wirklich sehr hässliche Sachen denken. Selbst über ihre besten Freunde. Der Bus hält vor dem Schultor. Aber ich habe es nicht eilig. Ich sehe aus dem Fenster, bis die anderen Schüler hinausdrän gen. Wegen der lauten Musik, die ich über meine Kopfhörer höre, nehme ich überhaupt nicht wahr, dass der Bus leer ist. Doch plötzlich merke ich, dass mich der Busfahrer im Rück 25
spiegel anstarrt. Als sich unsere Blicke treffen, runzelt er fragend die Stirn. Er mag nicht länger warten. Sein Dienst ist vermutlich zu Ende, und er will jetzt einfach nur noch ins Pub. Es ist zwar erst halb neun Uhr morgens, aber die Ge wohnheiten ändern sich nun mal. Es gibt nicht mehr so viele Regeln wie früher. »Na, Kleine, willst du nicht aussteigen?« Während ich die Ohrstöpsel und meinen CD-Player ver staue, klinke ich mich in die Gedanken des Busfahrers ein. He, ist das nicht die kleine Thallimar? Ihr Vater sitzt doch zur Zeit wegen Mord. Ich darf mir auf keinen Fall was anmerken lassen … Egal. Jedenfalls hat die recht hübsche … »Sie sollten Ihrem Leben einen Inhalt geben!«, unterbreche ich seinen Gedankenstrom und steige hastig aus. Die anderen – Ethan, Matt und Isabel – sind schon längst in der Schule. Seit ihrer Rückkehr aus der Unterwelt hängen sie aneinander wie die Kletten. Als hätten die Erlebnisse ihre Freundschaft gestärkt und sie geradezu zusammengeschweißt. Und da ich nicht mehr mit Matt zusammen bin und Dillon verschwunden ist, gibt es nun niemanden mehr, mit dem ich rumhängen kann. Sogar Neriah, die neue Schülerin, verbringt ihre Zeit jetzt meistens mit den dreien. Ich gehe die Treppe hinunter und warte auf einen der bei den Sicherheitsmänner, der die Rucksäcke prüft. Als ich meine Hosentaschen umdrehen muss, fange ich einen Blick von Matt auf. Mich erfasst eine Welle unterschiedlichster Gefühle. Ob er noch sauer auf mich, ist? Er hat mich damals, als ich wegen Mardukes Racheplänen so tun musste, als sei ich in ihn ver liebt, sehr gerne gemocht. Wenn ich mich tausend Mal bei ihm entschuldigen würde und mir sicher sein könnte, dass die Sache wieder ins Lot käme – ich würde es auf der Stelle tun. 26
Als Ethan bemerkt, wo Matt hinguckt, und mich sieht, wer de ich nervös und verlegen, obwohl sich unsere Blicke nur einen Augenblick treffen. So geht es mir meistens, wenn Ethan in meiner Nähe ist. Seine Gedanken machen sich in meinem Kopf breit. Er erinnert sich an unsere erste Begegnung, bevor ich mit Matt gegangen bin. Wir fühlten uns damals sehr zueinander hingezogen. Es war eine Zuneigung, auf die ich mich nicht hatte einlassen dürfen. Mittlerweile bin ich Mit glied der Wachen. Es ist schwer, das Vertrauen aller zu gewin nen. Ich weiß, welchen Ruf ich habe. – Wie kann man einer Verräterin noch Glauben schenken? Arkarian ist der Einzige, der meine Loyalität nicht in Zweifel zieht. Einem derart sanf ten, verständnisvollen Menschen wie ihm bin ich noch nie begegnet. Isabel kann sich wirklich glücklich schätzen. Plötzlich schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Wie sol len sie mir jemals vertrauen, wenn sie mich nicht richtig kennen? Eigentlich ist es doch wirklich simpel: Ich muss einfach zu ihnen gehen. Aber irgendwas hält mich davon ab. War es Erleichterung, die ich in ihren Augen gelesen habe? Vielleicht sollte ich mir ihre Gedanken anhören. Nein, bloß nicht! Das ist zu aufdring lich. Das würde ich niemals tun. Zumindest nicht vorsätzlich. Immerhin sind mir die drei nicht fremd. Matt und ich sind früher miteinander gegangen. Weshalb bin ich eigentlich so zögernd? Ich brauche doch nur ein kleines bisschen Mut. Nervös blicke ich mich um. Keiner von ihnen sieht zu mir her, nicht einmal Isabel. Sie sitzt über ein Buch gebeugt und zeigt Ethan etwas. Ich gehe einen Schritt auf sie zu. Na, das war doch gar nicht so schwer. Ich mache einen zweiten Schritt, dann einen dritten. Sei nicht so verkrampft, rede ich mir zu, als sie schließlich in Hörweite sind. 27
»Hallo«, begrüßt mich Isabel. »Hallo«, antworte ich. Matt bemerkt mich zwar, wendet aber den Blick ab. Ich spüre einen Kloß im Hals und bringe kein weiteres Wort heraus. Ethan steht auf, tritt auf mich zu und nimmt mich zur Seite. Mein Herz macht einen ängstlichen kleinen Sprung, als versu che es, in meine Kehle zu flüchten. »Hör mal«, sagt er. »Ist keine so gute Idee von dir, hier auf zukreuzen.« »Was?« »Ich meine, wenn wir hier zusammen rumhängen, könnte das verdächtig wirken.« »Glaubst du? Tja, mmh, ich wollte mich eigentlich gar nicht zu euch setzen. Ich … ich suche Dillon.« Ethan reagiert nicht. Seltsam. Instinktiv versuche ich mich in seine Gedanken einzuklinken. Als er es merkt, kneift er die Augen zusammen und mustert mich kalt und abweisend. Na, super! Ich könnte mich in den Hintern beißen. Wie sollen sie mir denn vertrauen, wenn sie fest davon überzeugt sind, dass ich ihre Gedanken lese, sobald ich Informationen brauche? »Tut mir leid, Ethan, ich wollte nicht …« »… meine Gedanken lesen? Oder besser gesagt, nicht so offenkundig?« »Das ist nicht fair.« »Ach, wirklich?« Er schüttelt den Kopf und macht Anstalten wegzugehen. »Du weißt, wie schwer es manchmal ist, die angeborenen Kräfte zu unterdrücken«, versuche ich ihm mein Verhalten zu erklären. Zögernd wendet er sich mir wieder zu. »Also, ich habe keine 28
Ahnung, wie lange Dillon fort sein wird. Er hat sich zu den Wachen abgesetzt. Wie du. Im Augenblick vernehmen sie ihn. Doch was ich so gehört habe, schlägt er sich ganz wacker. Über kurz oder lang findest du bestimmt ein Opfer.« Wovon redet er? Als ob ich an Dillon interessiert wäre. Er hat ja überhaupt keine Ahnung. Na ja, egal. Diese Neuigkeit ist zumindest nicht uninteressant. Ich hatte schon immer so meine Zweifel, was Dillon und seine Zugehörigkeit zum Orden betrifft. Plötzlich taucht Mr Carter auf und sagt etwas zu uns, doch irgendwie verlieren sich seine Worte. Auch Ethan hat sie nicht wahrgenommen. »Haben Sie etwas gesagt, Sir?« Als Mr Carter süffisant grinst, habe ich den Eindruck, als gelte sein Grinsen mir. Ethan hatte immer geglaubt, Mr Carter würde ihn hassen, aber er hat nicht die leiseste Vorstellung, was für ein Gefühl das ist, wenn sich Mr Carters Hassgedan ken einem geradewegs ins Hirn bohren. Er bemüht sich nicht einmal, einigermaßen freundlich zu mir zu sein, und schert sich auch nicht darum, wer darüber hinaus Bescheid weiß. Ich war auf der Seite des Gegners, und daher darf mir – Mr Carters Ansicht nach – niemand mehr trauen. Bis in alle Ewigkeit. »Was habe ich euch heute Morgen eingetrichtert? Hat denn keiner zugehört?« Als ich ihn verständnislos anstarre, sagt er: »Nein, dich meine ich nicht, Miss Thallimar. Du warst doch gar nicht dabei.« Neriah kommt näher und setzt sich neben Isabel. Kaum hat Mr Carter das Mädchen erblickt, schmilzt er gera dezu dahin. »Weshalb wiederhole ich das soeben Gesagte nicht, um auch jene aufzuklären, die eben erst zu uns gestoßen 29
sind? Aus … Gründen der Diskretion. Wehe euch fünfen, wenn ihr zu erkennen gebt, dass ihr eine feste Gruppe seid. Wenn auch nur einer von euch seine Identität verrät, hätte die gegnerische Seite ein leichtes Spiel und würde …« Er schweigt und sieht mich unverhohlen an. »… einen nach dem anderen kassieren.« Den Blick nach wie vor auf mich geheftet, fragt er: »Habe ich mich klar ausgedrückt?« »Absolut«, antworte ich knapp, nehme den Rucksack auf den Rücken und trolle mich – mehr als zufrieden mit Mr Carters Hinweis, als er es sich überhaupt vorstellen kann. Ethans Andeutung war demnach keine Beleidigung, sondern deckte sich mit der Warnung, die Mr Carter soeben ausge sprochen hatte. Kaum bin ich einige Schritte entfernt, ertönt ein zischendes Geräusch, und alle sehen zum Himmel. Keiner nimmt von der schrillenden Morgenglocke Notiz, als das Zischen in ein ohrenbetäubendes, schauriges Pfeifen übergeht. Ethan packt mich am Arm und drückt mich zu Boden. »Geh in Deckung!« Wie aus dem Nichts rast plötzlich ein glühender, heftig tru delnder Feuerball vorüber. Alle – und ich meine wirklich alle Personen auf dem Schulgelände – beginnen zu schreien und flüchten in sämtliche Richtungen. Plötzlich explodiert der Feuerball oder Meteorit, oder was immer es sein mag. Bren nende, riesigen Felsbrocken ähnelnde Trümmer zerbersten über dem Schulgebäude. Einige treffen auf dem Boden auf und brennen Löcher in den Untergrund, während andere, eine Flammenspur nach sich ziehend, über den Schulhof rollen. Ethan fällt auf mich, als ein brennender Brocken unmittel bar neben uns aufschlägt und mir die Haut ansengt. Ehe mir bewusst wird, was um mich herum geschieht, brennt mein Haar. Ethan versucht es mit bloßen Händen zu löschen. Ich 30
will ihn daran hindern und packe ihn an den Handgelenken, aber er ist stark und lässt erst ab, als der letzte Funke erstickt ist. Als wir uns aufsetzen, nehme ich seine Hände, um sie zu untersuchen, aber er zieht sie fort. Seine Hände sind von Brandwunden übersät. Der Geruch verbrannter Haut mischt sich mit dem Geruch meiner angesengten Haare. »Seid ihr unverletzt?«, fragt Isabel, die in Begleitung von Matt herbeirennt. »Ethan hat sich die Hände verbrannt«, erkläre ich ihr. Sie nimmt seine Hände und dreht sie um. Vor den Augen aller heilt sie die Wunden! Auch diesmal entscheidet Isabels Herz über ihren Verstand. Manche nennen das Mut. Diese Beherztheit wird sie irgendwann einmal in Schwierigkeiten bringen. »Du solltest das nicht in der Öffentlichkeit tun«, wende ich ein. »Wäre es dir lieber, wenn er weiterhin Schmerzen hat?«, entgegnet Isabel gereizt. Sie entdeckt meine versengten Haare. »Das hat er offensichtlich aus Sorge um dich gemacht.« Würde ich doch bloß Ethans Blick nicht so deutlich spüren. Ich wage mir gar nicht auszumalen, was er wohl denken mag. Im Augenblick will ich gar nicht wissen, was in ihm vorgeht. Bestimmt hält er mich für kalt und herzlos und glaubt, ich würde Schadenfreude darüber empfinden, dass er leidet. Nachdem Isabel Ethans Hände berührt hat, verheilt die verbrannte Haut vollständig und ist binnen Sekunden so glatt wie zuvor. Als Ethan die Hände ausschüttelt und sich bei Isabel bedankt, fällt mir ein, dass ich ihm weder dafür gedankt habe, dass er die Flammen in meinem Haar erstickt hat, noch dafür, dass er mich vor den aus dem All herabfallenden, brennenden Trümmern geschützt hat. 31
Plötzlich erfasst mich ein Gefühl, als könne er für die Dauer einer Minute meine Gedanken lesen. Eingehend betrachte ich meine Schuhspitzen, ehe ich den Blick hebe. »Schon in Ord nung«, sagt er. »Du warst nun mal die, die mir am nächsten saß. Wäre es Carter gewesen, hätte ich genauso gehandelt.« Enttäuscht sehe ich mich um. Der Schulhof ist vollkommen verwüstet, überall züngeln kleine Feuer, doch zu meiner Verwunderung scheint nur ein Klassenzimmer beschädigt zu sein, drüben in Gebäude D. Obwohl alles vorbei ist, dringt von überall her gellendes Geschrei. Die zwei Sicherheitsleute sowie ein halbes Dutzend Lehrer laufen von einem zum ande ren, um zu prüfen, ob jemand ernstlich verletzt ist. Aus der Ferne hört man Sirenengeheul, das zunehmend lauter wird. Jemand im Sekretariat hat vermutlich Hilfe angefordert. Plötzlich schreit Isabel laut auf. »Seht euch das an!« Der Horizont erstrahlt in prächtig glühenden Farben. Ein Sternschnuppenregen, der selbst in der hellen Morgensonne seltsam gleißend schillert, ergießt sich über uns. Alle starren wie hypnotisiert zum Himmel. Als plötzlich ein zweiter Feuerschweif auf uns zuschießt, stürmen wir erneut Schutz suchend auseinander. Doch er explodiert bereits in der Atmosphäre und bildet über uns ein grandioses Feuerwerk. Unterdessen kümmern sich die Lehrer darum, dass die Jun gen und Mädchen unversehrt nach Hause gelangen. Einige Schüler stellen sich vor dem Sekretariat an, um ihre Eltern anzurufen. Andere ziehen ein Handy hervor. Als das erste Feuerwehrauto mit Sirenengeheul eintrifft, sehe ich, dass ein Teil des Gebäudes D in Flammen steht. Kurz darauf zuckt der nächste Blitz zischend über den Himmel. Es folgt eine Serie von Gasexplosionen. Mr Carter 32
rennt aufgeregt herbei und packt uns alle am Arm. »Geht zum Berg. Erzählt Arkarian, was sich hier abgespielt hat. Vielleicht hat er eine Erklärung dafür.« »Ich muss hier bleiben«, wendet Isabel ein, »falls jemand ernsthaft verletzt wird.« »Nein!«, brüllt Mr Carter. »Du darfst das Risiko nicht ein gehen, deine Kräfte aufzudecken. Damit verletzt du die Re geln. Das solltest du eigentlich wissen. Außerdem ist bereits medizinische Hilfe unterwegs. Notärzte und Krankenwagen müssten gleich hier sein.« »Mr Carter, ich darf doch einen Verletzten nicht unversorgt lassen, wenn ich weiß, dass ich ihm helfen kann. Der Hohe Rat wird das gewiss verstehen. Ich verspreche, dass ich acht sam bin und meine Identität nicht preisgebe.« Mr Carter sieht erst Matt, dann Ethan an. »Wie ihr auch vorgeht, welche Mittel ihr auch anwendet – seht zu, dass Isabel verschwindet. Und wenn ihr sie hier wegzerren müsst, schrei end, die Hände auf dem Rücken gebunden.« Ethan und Matt grinsen sich an. »Und was ist mit Neriah?«, fragt Matt. »Wie viel weiß sie? Sollen wir sie mitnehmen?« Mr Carter runzelt die Stirn. »Sie muss nach Hause gebracht werden. Ich werde ihre Leibwächter rufen. Sie sollen sie hier abholen …« »Ich kümmere mich um sie«, werfe ich ein. »Und ich sorge dafür, dass sie sicher nach Hause gelangt.« Mr Carter sieht mich einen Moment zu lange an. Ich be mühe mich, seine Gedanken nicht zu lesen. Seine feindselige Haltung ist auch so offenkundig. Schließlich willigt er zögernd ein. Als wir uns endlich auf den Weg machen können, hören wir 33
erneut ein zischendes Geräusch und gucken ängstlich nach oben. »Seht euch das an!«, schreit Matt. Ein Feuerball rast im Zickzackkurs durch die Atmosphäre und zieht einen Flam menpfad nach. »Er bewegt sich auf uns zu.« »Nichts wie weg hier!«, ruft Mr Carter. »Los, lauft.« In Sekundenschnelle sinkt die Feuerkugel aus Tausenden von Metern auf die Erde herab. Uns ist, als würde sie unmit telbar über unseren Köpfen zerbersten. Brennende Felsbro cken treffen wie Kanoneneinschläge auf den Erdboden und machen alles in der Umgebung zunichte. Bäume schwanken, Zäune stürzen ein, Autos auf dem Parkplatz werden zertrüm mert. Ich blicke mich nach einem geschützten Ort um, als ich einen ohrenbetäubenden Schrei höre. Hastig wende ich den Kopf und sehe Mr Carter, der von der Hüfte abwärts unter einem unförmigen, rauchenden Felsbrocken begraben liegt. Ich laufe zu ihm. Der Felsbrocken brennt zwar nicht, doch geht so viel Hitze von ihm aus, dass ich Abstand wahren muss. Auch Matt und Ethan spüren die Hitze, als sie näher heran kommen. Schließlich müssen sie stehen bleiben. Entsetzt wird ihnen Mr Carters unglückliche Lage klar. Beide Jungen ziehen ihre Jacken aus, umwickeln damit ihre Hände und versuchen mit vereinten Kräften, den Felsblock wegzuschieben. Aber er ist zu schwer und außerdem nach wie vor brennend heiß. Wie kann Mr Carter diese glühende Hitze bloß ertragen? »Wir bräuchten einen Kran«, ruft Ethan. Selbst wenn der käme, ist es dann nicht längst zu spät? Isabel und Neriah rennen stumm vor Entsetzen herbei. »Ich rufe die Feuerwehr«, schlägt Neriah vor. Obwohl Mr Carter derart schwer verletzt ist, fordert er Matt 34
und Ethan auf zu verschwinden. Vermutlich weiß er, dass er sterben wird. »Wir bleiben bei Ihnen!« Isabel geht neben ihm in die Ho cke. Sie will versuchen ihn zu heilen, doch wie soll ihr das gelingen, wenn Mr Carters Beine unter dem Felsbrocken eingeklemmt sind? Sie wirft Ethan einen Blick zu. »Wir müs sen den Felsblock wegschieben. Schnell!« Mr Carter packt Isabel am Arm und flüstert keuchend: »Lass gut sein, Isabel.« Er versucht ein Stöhnen zu unterdrü cken. »Macht euch keine Mühe. Bitte lasst mich allein. Bringt euch in Sicherheit!« Mit flehendem Blick wendet er den Kopf zu Ethan und Matt. »Nehmt Isabel mit und verschwindet!« Mit zwei Feuerwehrleuten im Schlepptau kommt Neriah zurück. Schnell haben die beiden Männer die Lage erfasst, und während der eine zum Auto zurückläuft und die erforderli chen Geräte herbeibringt, fordert der andere über das am Kragen seines Overalls befestigte Mikro dringend Unterstüt zung sowie schweres Gerät an. Er weist uns und die verstört wirkende Lehrerin Ms Burgess an, uns nicht so dicht an der Unfallstelle aufzuhalten. »Es wird alles gut, Marcus«, ruft Ms Burgess Mr Carter trös tend zu. Isabel bewegt sich nicht vom Fleck. Als der Feuerwehrmann auf seiner Anordnung besteht und sie schließlich einige Schritte zurücktritt, ziehen Ethan und Matt sie beiseite. Schweigend und mit hoffnungsloser Miene nehmen sich zwei Sanitäter Mr Carters an. Endlich treffen die Fahrzeuge mit der erforderlichen Aus rüstung ein, und das Team bereitet rasch und geübt alles Erforderliche zur Rettung vor. Bereits wenig später haben die Männer den Fels vermessen, damit sie ihn mit den entspre 35
chenden Geräten heben können. Der Kran zieht an – doch der Felsbrocken bewegt sich keinen Millimeter. Er ist zu schwer. Als Isabel erneut versucht, zu Carter zu gelangen, sieht er sie nur warnend an, geschwächt vom Blutverlust, dem Schock und den schweren Verbrennungen. Ethan zieht Isabel zurück und Matt rät ihr zu warten. »Aber, Matt, sieh doch, er lebt! Sobald sie den Felsen wegge räumt haben, kann ich ihn heilen«, zischt sie Matt zu. »Aber dazu muss ich an seiner Seite sein und ihn berühren können.« Als ob uns dieser Tag nicht ohnehin bereits genügend Überraschungen beschert hätte, erstrahlt plötzlich ein golde nes Licht am Himmel, das heller und heller wird und auf uns herabgleitet. Wir verharren wie angewurzelt. Als das wärmen de Licht binnen Sekunden kribbelnd jede Zelle meines Kör pers durchdringt, beginne ich zu zittern. Ich bin vollkommen verwirrt und keines Wortes fähig. Was hat all das zu bedeu ten? »Was ist das?«, ruft Ms Burgess, als sie das Licht bemerkt. Ich bleibe noch eine Weile zitternd stehen, ehe das Licht plötzlich erlischt und ich zu Boden sinke. Nach Atem ringend versuche ich das Gleichgewicht zurückzugewinnen. Ich muss einen Moment über dem Erdboden geschwebt sein. Als ich aufstehe, fühle ich das Gras zwischen den Fingern deutlicher als je zuvor. Meine Hände verfügen über eine ganz besondere Gabe. Mit Hilfe meines Tastsinns ist es mir mög lich, die Struktur von Stoffen wie chemischen Substanzen, Gesteinen, Metallen oder auch Erde in ihren unterschied lichsten Zusammensetzungen analytisch zu erkennen. Doch jetzt können meine Hände sogar noch mehr ertasten. Als hätte sich mein Bewusstsein erweitert und mich in die Lage versetzt, die Struktur der Erde selbst etliche Kilometer unter der Erd 36
oberfläche zu »sehen«. Es ist, als befände sich mein Denken in automatischer Scharfeinstellung und als würde ich meinen Kopf mit einem Zoom-Objektiv durch die Erdschichten bewegen. Plötzlich höre ich die Stimmen. Es sind gewiss Hunderte. Doch als mein Blick über den Schulhof gleitet, sehe ich in meiner unmittelbaren Umgebung nicht mehr als höchstens zwanzig Menschen. Ich versuche ihre Stimmen auszublenden, aber umsonst. Ich höre ein Mädchen schreien. Ihr Bein wurde von dem Feuer erfasst. Obwohl ich meine Ohren mit beiden Händen zuhalte, dringen die Stimmen unvermindert zu mir. Ich höre sogar die Gedanken der Feuerwehrleute, die immer noch darum bemüht sind, das Feuer in dem Klassenzimmer am anderen Ende des Schulgebäudes zu löschen. Ich knie mich hin. Was geschieht mit mir? Mir scheint, meine Kräfte hätten sich multipliziert. Ich versuche mich zu konzentrieren. Vielleicht gelingt es mir ja, meine eigenen Gedanken zu bremsen, um die anderen Stimmen einigerma ßen im Zaum zu halten. Plötzlich sehe ich Isabel. Auch sie erlebt gerade etwas sehr Eigenartiges. Ganz allmählich verblasst die glühende Aura, die ihren Körper wie eine Haut umhüllt. Unbeeindruckt von dem gleißenden Licht starren die Feuerwehrmänner und Ms Bur gess uns an, als wären uns drei Köpfe gewachsen. »Alles in Ordnung? Ihr habt in der Luft geschwebt«, ruft einer der Männer fassungslos herüber. »Was zum Teufel ist hier los?« Ethan nickt den Männern beruhigend zu, obwohl er immer noch wie benebelt wirkt. Doch sein Anblick ist nichts gegen Isabels merkwürdig leeren Gesichtsausdruck. Ich versuche ihre Gedanken zwischen den zahllosen Gedankenfetzen, die in 37
meinem Kopf toben, herauszuhören. Es gelingt mir nur kurz, denn auch sie muss mit unzähligen, heftigen Eindrücken fertig werden. Dann spüre ich einen seltsamen Energieschub wie eine Art Stromschlag und blende sämtliche Gedanken aus. Vollkommen unerwartet lässt sich plötzlich der Felsbrocken von Mr Carters Beinen heben. Erst als die Sanitäter Mr Carter auf eine Bahre legen, begreife ich, wie das möglich geworden ist. Offenbar hat die Erde, die durch den Einschlag mit ein gebrochen war, die Wirkung eines Kissens gehabt. Ein Arzt hält die Rettung für ein wahres Wunder. Eigentlich müsste Mr Carter tot oder zumindest gelähmt sein. Aber er lebt. Er hat nicht einmal Brandwunden davongetragen, obwohl seine Hosenbeine nur noch verkohlte Fetzen sind. Aber er wirkt ziemlich mitgenommen. Ich schätze, er würde am liebsten einfach aufstehen und davonspazieren, wenn er dadurch nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich zöge. Doch er ist klug genug, es nicht zu tun. Isabel hat ihn geheilt. Nicht nur auf mich hat dieses strahlende Licht eine Wirkung ausgeübt, sondern ebenso auf Isabel und auf Ethan. Und auch Neriah macht den Eindruck, als sei sie weggetreten. Ms Burgess eilt an Mr Carters Seite. Noch ehe sie bei ihm ist, nickt er Isabel erstaunt und zugleich dankbar zu. Isabel lächelt mit glasigen Augen zurück. »Bestimmt sind Sie bald wieder auf den Beinen«, gibt sie ihm allein durch Mundbewegungen zu verstehen. Isabel hat Mr Carter geheilt, ohne ihn auch nur zu berüh ren, aus der Ferne. Ethan tritt auf mich zu, nimmt meine Hände und dreht die Innenflächen nach außen. Ich werfe einen Blick darauf und bin erschrocken. »Tun sie weh?«, fragt er. 38
Ich bringe kein Wort über die Lippen. Gebannt blicke ich auf meine Hände, auf denen sich Streifen abzeichnen, die in allen erdenklichen Farben schimmern und elektrischen Strö men ähneln. »Meine Hände kribbeln. Was ist mit ihnen? Ob das so bleibt?« Er zuckt die Schultern. »Eines ist jedenfalls sicher: Damit wirst du die Aufmerksamkeit anderer auf dich lenken.« Damit hat er vermutlich Recht. Ich ziehe meine Hände zu rück und schiebe sie in die Manteltasche. »Was hat das alles zu bedeuten?« »Keine Ahnung.« »Was hat sich bei dir verändert?« »Die Feuerwehrmänner hatten befürchtet, den Felsbrocken trotz ihrer Geräte nicht heben zu können. Aus welchem Mate rial der Stein auch besteht, er ist jedenfalls schwerer als sämtli ches auf dieser Erde existierende Gestein.« »Du hast ihn angehoben?« Er nickt. »Als sich dieses Licht über uns ergoss, überkam mich ein … Gefühl …, ich kann es nicht benennen …, als würde ein Energiestoß durch meinen Körper hindurchschie ßen, und ich fühlte mich auf einmal stärker denn je. Also habe ich mich auf meine Gabe besonnen, Gegenstände zu bewegen. Und es hat geklappt.« »Da hat Mr Carter aber Schwein gehabt.« Mit offenem Mund hört Matt unserem Gespräch zu. »Hast du auch etwas gespürt?«, fragt Ethan ihn hoffnungs voll. Jeder weiß, wie sehnlich Matt sich wünscht, dass sich endlich seine Kräfte zeigen. Gemäß der Prophezeiung soll er die Auserwählten in den Endkampf gegen Lathenia und den Orden des Chaos führen. Ein König wird die Herrschaft über nehmen. Doch erst, wenn ein Führer reinen Herzens erwacht. 39
Doch bisher kann Matt nicht einmal sich selbst führen. Und seine Zweifel haben auf sein Selbstvertrauen eine verheerende Wirkung. Matt blickt kurz zum Himmel. Der Meteoritenschauer ist jetzt nur noch ein zarter Regen vereinzelter Sternschnuppen. Er zuckt mit den Schultern. »Nein, natürlich nicht.«
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Kapitel 2
Matt
Die Prophezeiung ist falsch. Ich bin nicht derjenige, der die Auserwählten führen soll. Ich bezweifle sogar, dass ich über haupt auserwählt wurde. Der Hohe Rat oder wer immer es sein mag, der über diese Dinge entscheidet, hat sich geirrt. Wir sind auf dem Weg zu Arkarians Kammern. Er kann hoffentlich einiges klären, zumindest die Frage, was dort in der Schule geschehen ist. Ethan behauptet immer, dass Arka rian alles weiß. Aber Arkarian glaubt auch, ich sei einer von ihnen. Also kann Ethans Behauptung nicht stimmen. Mr Carter wird ins Krankenhaus gebracht, aber man wird nicht die kleinste Schramme bei ihm finden. Es gelingt ihm sicher irgendwie, keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. In all der Aufregung über die bizarren Meteo ritenschauer wird er bald Nebensache sein. Rochelle kümmert sich um Neriah. Wenn ich nicht das dringende Bedürfnis hätte, Arkarian zu treffen, hätte ich mich dafür angeboten. Es ist eigenartig, irgendetwas an der Neuen weckt in mir einen starken Beschützerinstinkt, aber es ist anders als bei meiner Schwester Isabel. Diese Verantwortung wurde mir auferlegt. Neriah dagegen scheint durch und durch sanft und schön und … eigentümlich »real« zu sein. Warum ich so empfinde, weiß ich nicht. Ich bin nicht auf eine Bezie hung aus und, na ja, immerhin ist Neriah Mardukes Tochter. Und er verkörpert schließlich das Böse schlechthin. 41
Ethan und Isabel gehen schweigend neben mir, deshalb wandern meine Gedanken wieder zu Neriah. Ich male mir aus, wie es sein würde, wenn wir richtig zusammen wären. Es wird niemals passieren. Nie wieder wird ein Mädchen mein Herz erobern, wenn ich es nicht möchte. Wir erreichen den geheimen Eingang zu Arkarians Kammern auf halber Höhe des Berges. Er weiß, dass wir hier sind, denn vor unseren Augen bildet sich eine Öffnung in der Größe einer kleinen Tür. Ethan und Isabel schlüpfen rasch hindurch, aber nun, da ich angekommen bin, habe ich es plötzlich nicht mehr so eilig. Vielleicht schreckt es mich ab, dass ich gleich die Ant worten auf meine Fragen bekomme. Denn falls es sich um einen Irrtum handelt und ich doch nicht auserwählt wurde, möchte ich es lieber nicht erfahren. Ich gehöre nun seit über einem Jahr zu den Wachen und habe Dinge gesehen, die alles übertrafen, was ich je erlebt hatte, vor allem in der Unterwelt. Und selbst wenn ich noch auf keiner richtigen Mission dabei war, macht mir die Vorstellung, dass es vielleicht nie passiert, Angst. Ich hole noch einmal tief Luft und trete durch die Öffnung. Sofort schließt sich hinter mir die Felswand und mich erfüllt ein unbehagliches Gefühl, wie stets in Arkarians Kammern. Keine Ahnung, warum. Schließlich leide ich nicht an Klaust rophobie oder so. Vielleicht liegt es daran, dass ich die Dinge aus der anderen Welt plötzlich real vor mir sehe und mich damit auseinander setzen muss. Das Gerät, mit dem Arkarian die Vergangenheit überwacht, ist nur ein Beispiel. Isabel kommt mir durch die von Kerzen erleuchtete Halle entgegen. »Alles in Ordnung mit dir? Als ich mich umgedreht habe, warst du plötzlich nicht mehr da. Das, was heute Mor gen passiert ist, hat dich hoffentlich nicht zu sehr aus der Fassung gebracht.« 42
»Doch«, erwidere ich aufrichtig, aber mit dem Anflug eines Lächelns. »Jetzt komm«, fordert sie mich auf und zupft mich am Är mel. Sie hat es eilig – eilig, Arkarian zu sehen, natürlich. Er war tet in seiner achteckigen Kammer auf uns, umgeben von seinen Hightechgeräten. Das kugelförmige Hologramm in der Mitte beleuchtet den Raum und summt im Rhythmus eines ruhigen Herzschlags. Arkarian unterhält sich mit Ethan, aber er wirkt besorgt, immer wieder blickt er nervös zur Halle. Als er Isabel ent deckt, strahlt er über das ganze Gesicht. Seine violetten Augen bekommen einen weichen Glanz. Isabel läuft auf ihn zu und wirft sich in seine Arme. Die Wucht ihrer Umarmung ist so stark, dass sie aus dem Gleich gewicht geraten. Stolpernd verschwinden sie hinter einer Leinwand, um ungestört zu sein. Doch Arkarians leuchtend blaues Haar lässt sich von einer dünnen Leinwand nicht verbergen. Sie küssen sich leidenschaftlich. Ethan wirft mir einen Blick zu, grinst und schüttelt den Kopf. Ich seufze nur und sehe weg. Die Beziehung meiner Schwester zu Arkarian behagt mir nicht. Für meinen Geschmack ist sie in der kurzen Zeit ein bisschen zu intensiv geworden. Alle wissen, dass sie Seelengefährten sind. Sie haben noch das ganze Leben vor sich. Also, was soll die Eile? Schließlich lassen sie voneinander ab. Immerhin scheint es ihnen peinlich zu sein. Die ernsten Vorfälle dieses Tages bringen uns schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Arkarian drückt zur Begrüßung meinen Unterarm. Als er die Spannung spürt, die meine Gefühle für ihn bestimmt, lässt er ihn langsam wieder los. Er sieht mich durchdringend an, 43
dann fordert er uns auf, uns auf die bereitgestellten Schemel zu setzen. »Was war da draußen los?«, fragt Ethan als Erster. »Es gab eine Zusammenkunft der Unsterblichen«, erklärt Arkarian, »und es lief nicht besonders gut. Auch wenn ich im Augenblick nicht über alles informiert bin, scheint es, als hätten beide Seiten die Beherrschung verloren.« Ethan schnaubt verächtlich. »Und was haben sie dann ge macht? Mit dem Universum Pingpong gespielt?« Arkarian kommentiert seine Bemerkung mit einem müden Lächeln. »So was in der Art.« »Was ist mit Angel Falls?«, erkundigt sich Isabel. »Die Schu le hat heute auch etwas abbekommen. Hast du das gesehen? Mr Carter musste ins Krankenhaus gebracht werden.« »Ja, aber dank euch beiden wird Marcus wieder ganz ge sund werden. Wie berichtet wurde, erstrecken sich die Schä den von der Ostküste bis zur Grenze zu Südaustralien im Westen. Aber du hast Recht, Isabel – Angel Falls war am schwersten betroffen.« Man muss kein Genie sein, um zu begreifen, was dahin tersteckt. »Lathenia hat versucht, uns umzubringen! Bei Mr Carter ist es ihr beinahe gelungen!« Isabel runzelt die Stirn. »Was ist mit ihren eigenen Leuten, die schließlich auch hier leben?« Ethan kennt die Antwort. »Sie war bereit, das Leben ihrer Anhänger zu opfern, wenn sie damit einige von uns hätte ausschalten können.« »Bestimmt würde Lathenia euch alle am liebsten tot se hen«, erklärt Arkarian. »Doch sie ist eine gerissene Gegnerin. Ihr Wutausbruch war typisch für einen Streit unter Geschwis tern …« 44
Ich horche auf. Das kenne ich. Auch Isabel und ich geraten hin und wieder aneinander, meistens geht es um meinen übermäßigen Beschützerinstinkt, mit dem ich sie »ersticke«, wie sie es immer nennt. Aber in letzter Zeit war sie ziemlich gelassen. Sie lässt sich von mir nicht mehr provozieren. Ihr liegt etwas auf der Seele, worüber sie nicht reden will oder kann, weil sie Angst hat. Obwohl es schwer vorstellbar ist, dass sich Isabel jemals fürchtet. Ich weiß nur, dass dort in der Unterwelt irgendetwas mit ihr passiert ist und sie sich mir gegenüber seitdem anders verhält. Arkarian mustert mich eingehend. Er hat meine Gedanken gelesen und ist besorgt. Als er merkt, dass Isabel uns beide beobachtet, reißt er sich zusammen und wendet sich wieder Ethan zu. »Lathenia hat lange und beharrlich an der Verfol gung ihrer Ziele gearbeitet. Sie ist nicht so dumm, sich von ihrem Temperament einen Strich durch die Rechnung ma chen zu lassen. Was in Athos passiert ist, war ein einmaliger Ausrutscher.« »Während dieses kosmischen Schauers ist noch etwas ande res geschehen«, sagt Isabel leise. Arkarian nimmt ihre Hand. »Ja, ich weiß.« »Bei dir auch?«, fragt sie. »Bei uns allen. Bei allen neun Auserwählten haben sich die Kräfte verstärkt.« »Ich wusste es!«, ruft Ethan aufgeregt. Da kann ich nur müde grinsen. Bei mir hat sich überhaupt nichts verändert, und das bestätigt meine Zweifel ein weiteres Mal. Wenn »nichts« stärker wird, ist es nach wie vor nichts. »Ich habe Neuigkeiten für dich«, sagt Arkarian zu mir ge wandt. Innerlich bereite ich mich auf meine bevorstehende Entlas 45
sung vor oder auf die Bestätigung, dass ich die ganze Zeit Recht hatte und dem Hohen Rat ein Irrtum unterlaufen ist. Er schüttelt lächelnd den Kopf. »Wie gering dein Vertrauen ist! Hör mir zu: Ab sofort bist du nicht mehr Ethans Schüler.« Ich blicke die anderen an, die genauso verwirrt aussehen wie ich. »Aber … wie komme ich ohne Ausbilder zu meinen Kräften?« »Oh, du wirst durchaus einen Ausbilder haben.« »Wirst du das sein, Arkarian?«, fragt Isabel. »Nein. Ich kann euch auch nicht mehr über Matts neuen Lehrer verraten. Zuvor muss er noch etwas anderes wissen.« Ethan unterbricht ihn. »Ich habe versagt«, bekennt er. »Ich habe Matt nicht richtig ausgebildet, und jetzt ist der Hohe Rat enttäuscht von mir. Ich werde nie wieder einen Schüler be kommen.« »Aber nein!«, erwidert Arkarian. »Du bist ein guter Lehrer, Ethan. Überleg mal, was du Isabel in den wenigen Wochen alles beigebracht hast.« »Schon, aber sie hatte bereits Kenntnisse.« »Kampftechniken allein genügen nicht.« »Aber mehr hat Matt von mir nicht gelernt. Und jetzt lässt mich der Hohe Rat fallen und nimmt einen anderen.« »Matts neuer Ausbilder wird ihm Dinge beibringen, die du ihn niemals lehren könntest«, widerspricht Arkarian und hebt die Hand. »Dinge, die niemand beherrscht. Zumindest nie mand aus dieser Welt.« Arkarians Erklärung trägt nicht gerade dazu bei, meine Verwirrung zu verkleinern, auch wenn Isabel und Ethan anscheinend damit zufrieden sind. An mich gewandt fährt Arkarian fort: »Neben der Beherr schung deiner Kräfte gibt es noch etwas anderes, das du lernen 46
musst. Es ist dein Schicksal, Matt. Und dein neuer Lehrer ist ein Meister, ein Meister, dem kein anderer das Wasser reichen kann. Er hat sein ganzes Leben nur auf diese Gelegenheit gewartet.« »Er hat sein ganzes Leben darauf gewartet, mich zu unter richten?« »So wurde es mir gesagt. Wir werden weiter darüber spre chen, wenn die Zeit deiner Ausbildung näher rückt und ich mehr Informationen habe.« »Aber Arkarian …« Er schneidet mir das Wort ab. »Genug jetzt. Hier in diesen Kammern können wir zwar davon ausgehen, sicher zu sein, aber wir dürfen nicht vergessen, dass es unter uns einen Ver räter gibt. Ich habe euch alles erzählt, was ich im Moment sagen kann. Und was dich betrifft, Ethan, du bekommst einen neuen Schüler.« Isabel nickt wissend. »Es ist Neriah, stimmt’s?« »Wirklich?« Ethan verzieht das Gesicht unwillkürlich zu einem breiten Grinsen. »Ja, aber Neriah wird als hoch gefährdet eingestuft. Ihr Le ben ist von Marduke bedroht. Sie steht unter dem Schutz der Wachen. Deshalb dürft ihr beiden nie allein trainieren. Du bekommst einen Assistenten. Jemand, der die ganze Zeit dabei ist und zusieht.« »Möchtest du, dass ich das übernehme?«, bietet sich Isabel an. »Ich werde Rochelle damit beauftragen.« »Rochelle!« Ethans Begeisterung sinkt beträchtlich. »Arkari an, hältst du das für klug?« Arkarian mustert uns. Keiner kann seinem Blick länger als eine Sekunde standhalten. »Habt ihr immer noch nicht ge lernt, Rochelle zu vertrauen? Sie gehört zu den Auserwählten, 47
genau wie ihr. Das bedeutet, dass sie das Vertrauen jener genießt, die über euch stehen. Wo ist euer Glaube?« So gesehen sollten wir unsere Vorbehalte gegenüber Ro chelle ausräumen. Aber mein Misstrauen rührt ja nicht allein daher, dass sie einmal Mardukes Spionin war, sondern weil sie all die schrecklichen Dinge für ihn getan hat. »Rochelle wird deine Assistentin, Ethan«, wiederholt Arka rian entschieden. »Ihre Fähigkeit, Gedanken zu lesen, hat sich nun noch stärker ausgeprägt. Sie kann jetzt sogar die Gedan ken jener wahrnehmen, die sich hinter einer Steinmauer oder einer dicken Glasscheibe befinden.« Ethan nickt schweigend, aber man sieht ihm an, dass ihn die Vorstellung, mit Rochelle zu arbeiten, nicht gerade begeis tert. Es ist besser, wenn er sich nicht in die Gefahr einer emo tionalen Verwirrung begibt. »Eines muss ich euch noch sagen.« Mit dieser Bemerkung fesselt Arkarian sofort wieder unsere Aufmerksamkeit. »Es ist eine ungewöhnliche Mission geplant.« »Klasse!«, ruft Ethan. »Wohin reisen wir?«, erkundigt sich Isabel und fügt dann hoffnungsvoll hinzu: »Kommst du auch mit?« Arkarian lässt sich mit der Antwort Zeit. »Ich werde dabei sein, Isabel, aber diese Mission ist anders, als du denkst.« Isabel hat Arkarians ernsten Ton sofort bemerkt und macht sich Sorgen. Ich kenne meine Schwester – sie kann ihre Ge fühle vor mir nicht verbergen. In ängstlicher Erwartung starrt sie Arkarian mit gerunzelter Stirn an. »Wir müssen wieder in die Unterwelt reisen«, erklärt er. »Auf keinen Fall«, schreit Isabel auf. »Warum sollten sie uns noch einmal dorthin schicken?« Arkarian tätschelt ihren Arm. »Das tun sie nicht. Zumindest 48
schickt man dich nicht dorthin, Isabel.« Seine Augen wandern zu Ethan. »Und ebenso wenig dich, Ethan.« Dann blickt er in meine Richtung. »Aber du wirst dabei sein, Matt. Du, ich und Rochelle.« »Wie bitte!«, schreit Ethan empört auf. Isabel springt auf, stemmt die Hände in die Hüften und starrt Arkarian wutentbrannt an. »Wenn ihr beiden, du und Matt, geht, komme ich auch mit.« Arkarian greift nach ihrem Arm und versucht sie zu beruhi gen. Als er von Rochelles Tastsinn spricht, der sich mittlerwei le dahingehend entwickelt hat, dass Rochelle sich die Zusam mensetzung des Erdbodens durch einfaches Handauflegen bildlich vorstellen kann, und hinzufügt, dass man ihn braucht, um den Spalt zwischen den Welten zu öffnen, habe ich bereits abgeschaltet. Mir wirbelt nur ein Gedanke durch den Kopf: Der Hohe Rat hat mich erwählt. Mich! »Aber ich habe keine Kräfte.« Alle lauschen, als Arkarian fortfährt: »Ohne dich wäre die Mission sinnlos, Matt. Selbst ohne Kräfte bist du der Einzige, der den Schlüssel zur Waffentruhe mit den Händen berühren kann, ohne zu sterben. Du hast es schon einmal getan, als wir aus dem Tempel entkamen. Damals dachtest du, es wäre eine Art Kompassnadel, die den geheimen Durchgang zwischen den Welten öffnet. In gewisser Weise war er das auch, aber er hat noch einen wertvolleren Nutzen. Deshalb sollten wir jetzt sofort zurück und den Schlüssel zwischen all den Trümmern des Tempels suchen, die nach Lathenias und Mardukes Zer störungswerk noch übrig sind. Es ist Eile geboten. Wir müssen Lathenia zuvorkommen und den Schlüssel in unseren Besitz bringen. Am Spalt wurden Bewegungen festgestellt. Deshalb dürfen wir keine Sekunde mehr verlieren.« 49
Isabel steht noch immer da, die Hände in die Hüften ge stemmt, das Gesicht vor Wut verzerrt. Ich habe sie schon oft zornig gesehen, aber jetzt wirkt sie, als würde sie gleich in die Luft gehen. »Moment mal!« Arkarian blickt zu ihr, und einen Augenblick tut er mir richtig leid. Ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen und tue so, als müsste ich husten und mir deshalb die Hand vor den Mund halten. Wenn meine Schwester sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann Gnade allen, die sie davon abbringen wollen. Arkarian steht auf, streckt den Arm aus und legt seine flache Hand auf ihr Gesicht. Dort lässt er sie ruhen, als würden so Gelassenheit und Vertrauen auf Isabel übergehen. »Wir kom men ohne dich klar. Vertrau mir so wie ich dir vertraue.« Sie seufzt tief und lässt den Kopf auf seine Brust sinken. Er nimmt sie in die Arme, und eng umschlungen bleiben sie stehen. Über Isabels Kopf hinweg blickt Arkarian zu Ethan. »Wenn ich weg bin, möchte ich, dass ihr beide, du und Isabel, das Hologramm überwacht.« Ethan rutscht auf dem Schemel nach vorn und sieht Arkari an fragend an. »Wonach sollen wir Ausschau halten und in welchen Zeitabschnitten?« »Zwei Zeiträume kommen infrage. Aber bis jetzt hat sich kein Portal geöffnet. Wenn es so weit ist, müssen wir schnell handeln. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich das Portal schließt, ehe eine Gruppe von uns hindurchgegangen ist.« Isabel legt den Kopf in den Nacken, um Arkarian in die Au gen zu sehen. »Was hat die Göttin diesmal vor?« »Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, hat Lathenia diesmal die Eroberer im Visier.« Ethan fällt fast vom Schemel. »Wen?« 50
Arkarian schweigt einen Augenblick, bevor er antwortet. »Cook. Oder Kolumbus.«
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Kapitel 3
Rochelle
Ich
kann es kaum fassen, dass ich in die Unterwelt reisen werde. Arkarian hat mich natürlich nur wegen meiner Fähig keit ausgewählt, aber das ist mir egal. Ich bin einfach nur froh, dass er es getan hat! Es ist eine weitere Gelegenheit, meine Loyalität gegenüber den Wachen unter Beweis zu stellen. Matt und Arkarian kommen auch mit. Dies ist keine ge wöhnliche Mission: Wir reisen nicht in die Vergangenheit, sondern in eine andere Welt. Das heißt, wir werden in unseren eigenen Körpern und ohne Verkleidung unterwegs sein. Wir treffen uns in einem der vorderen Räume von Arkari ans Kammern. Matt erwartet uns bereits, die Hände tief in den Hosentaschen. Als er mich sieht, verweilt sein Blick einen schier endlosen Moment auf mir, bevor er schließlich, ohne ein Wort, die Augen abwendet. Sofort stürmen seine Gedan ken auf mich ein. Meine Versuche, sie abzuwehren, sind zwecklos. Er ist mir immer noch böse! Ich wünschte, ich besäße diese Fähigkeit nicht. Seit meine Kräfte stärker gewor den sind, habe ich keine Kontrolle mehr darüber, welche Gedanken ich zulassen möchte und welche nicht. Ich schüttle den Kopf, um seine Gedanken loszuwerden. »Genug jetzt!« Matt sieht mich stirnrunzelnd an. »Was ist mit dir?« Aus einer Gewohnheit heraus streiche ich mir das Haar hin ters Ohr, aber es ist zu kurz und hält nicht. Da ein großer Teil versengt wurde, musste ich es abschneiden lassen. Jetzt trage 52
ich einen gestuften Kurzhaarschnitt. »Gar nichts!«, fauche ich ihn frustriert an. Toll. Wenn ich weiterhin so rumschreie, mache ich mich nicht gerade beliebt! »Mir fehlt nichts. Klar?« Um mich abzulenken, sehe ich mich ein bisschen um. Aber dieser Raum bietet nicht viel Sehenswertes, es gibt nur ein paar Schemel und einen alten hölzernen Schreibtisch. »Wo bleibt Arkarian bloß?« Matt zuckt die Schultern und wippt auf den Füßen vor und zurück, die Hände immer noch in den Hosentaschen. »Wahr scheinlich erteilt er Ethan und Isabel die letzten Anweisun gen.« Obwohl ihm sein Unbehagen darüber, sich mit mir allein in diesem Raum aufhalten zu müssen, anzusehen ist, lese ich in seinen Gedanken, dass er das Ganze auch irgendwie aufregend findet. Wie ein kleiner Junge in einem Spielwarenladen mit einem Haufen Geld in der Tasche. Plötzlich steht Arkarian vor uns. Matt macht vor Schreck einen Satz nach hinten. Er hat sich noch immer nicht an Arkarians Fähigkeit, urplötzlich an einem Ort aufzutauchen, gewöhnt. Auch Ethan besitzt diese Fähigkeit. Zu meinem großen Bedauern muss ich mir meine Schwingen erst noch verdienen, wie die beiden auch. Als ich noch bei Marduke war, wollte er nicht, dass ich diese Macht bekam, denn das hätte seinen Einfluss über mich verringert. Arkarian bringt uns unverzüglich in einen Raum der Fes tung, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Ein riesiger Saal, der leicht tausend Personen fassen würde. Ich blicke nach oben, und die Decke fesselt meinen Blick. Sie besteht aus acht vielfarbigen Paneelen, vermutlich aus Glas oder Kristall, in die komplizierte Muster eingeschliffen sind. Unbewusst strecke ich die Hände zur Decke, ich möchte sie anfassen, die Beschaf 53
fenheit fühlen, das Relief untersuchen. Doch sie ist zu hoch oben, ihr höchster Punkt in der Mitte verliert sich im Nichts. Arkarian grinst mich an. »Seltsam, nicht wahr?« Ich nicke, und Arkarian fügt hinzu: »Diese Decke gleicht der des Tempels, den wir in der Unterwelt besuchen werden. Jetzt sind davon allerdings nur noch Staub und Trümmer übrig. Gut, dass du mitkommst, Rochelle, deine Hände wer den dort Gold wert sein.« Wie nett von ihm, das zu sagen. Zum ersten Mal seit Mona ten hebt sich meine Stimmung. Sein Blick fällt auf meine Hände, sie sind immer noch elektrisch geladen. Er nimmt eine Hand und dreht die Innenseite nach oben. »Spürst du die Energie?« »Sie brennen. Wann hört das wieder auf?« »Das Brennen?« »Ja, und diese elektrischen Ströme oder was auch immer das ist.« Er erwidert nichts, sondern sieht mich nur mit seinen all wissenden Augen unverwandt an. Fast als würde er überlegen, wie gut ich mit einer schlechten Nachricht fertig werde. Auch wenn meine Kräfte zugenommen haben, seine Gedanken kann ich immer noch nicht lesen. Obwohl ich nicht im Traum daran denken würde, es auszuprobieren. Er ist ein Meister darin, seine Gedanken abzuschirmen. Er hat nie etwas preis gegeben, außer ich sollte es wissen. Doch er muss gar nichts sagen oder denken, seine Augen sprechen Bände. »Es geht nicht mehr weg, stimmt’s? Meine Hände bleiben für immer so.« »Du solltest Handschuhe tragen. Ich lasse welche anferti gen, die wie Haut aussehen. Keiner wird etwas merken.« 54
Ungläubig schüttle ich den Kopf. Als ich noch bei Marduke war, musste ich eine Maske tragen, damit man meine Augen nicht sah, das einzige Merkmal, an dem man mich leicht hätte erkennen können. Und nun meine Hände. »Eins solltest du noch wissen.« Arkarians Worte lassen mich frösteln. »Was?« Matt kommt näher, um es auch zu hören, sagt aber nichts. »Deine Hände besitzen größere Kräfte, als du es dir über haupt vorstellen kannst.« »Mehr als das Berühren und Visualisieren, das ich bereits beherrsche?« »Du musst vorsichtig sein, Rochelle, bis du herausgefunden hast, wie deine Fähigkeiten beschaffen sind und wie du sie unter Kontrolle hältst. Vermutlich könntest du mit deinen Händen jetzt ein Tier verletzen.« Ich entziehe ihm mit einem Ruck die Hand. »Ein Tier ver letzen?« »Oder ein Kind.« »Wovon sprichst du, Arkarian? Ich möchte weder Tiere noch Kinder verletzen.« Ein leises Zischen hinter mir lässt mich herumfahren. Mei ne Nerven liegen blank. »Meine Liebe, ich versichere dir, dass du niemanden verlet zen wirst.« Es ist Lady Arabella. Eingehüllt in ihren goldenen Umhang wirkt sie sehr königlich, trotz ihrer durchscheinen den Haut und der vereisten Wimpern. Ich habe diese Frau zum ersten Mal in einem Raum hier in der Festung getroffen. Zusammen mit Arkarian hat sie mich vernommen und mir beim Wechsel zu den Wachen gehol fen. Sie lächelt, und ihre eisverkrusteten Augen bekommen ei 55
nen weicheren Ausdruck. »Mach dir keine Sorgen, Rochelle. Ich zeige dir, wie du deine neuen Kräfte kontrollieren kannst, dann sind deine Hände vollkommen ungefährlich.« Ihre Worte beruhigen mich. Als ich ihr danke, gleitet ihr Blick von mir zu Arkarian. Sie hebt die Augenbrauen. »Unglücklicher weise müssen wir nach dieser verhängnisvollen Zusammen kunft noch immer die Scherben zusammenkehren.« »Wie geht es meinem Vater?«, erkundigt sich Arkarian. »Er ist müde. Und er hat nach dir gefragt. Er bittet dich, vorsichtig zu sein und dich im Hintergrund zu halten. Ich soll dir mitteilen, dass in letzter Zeit an den Grenzen der Reiche verdächtige Bewegungen beobachtet wurden. Und er lässt dir dies überbringen.« Unter ihrem Umhang holt sie drei kleine Kristalle hervor. »Sie werden dir Licht spenden.« Arkarian nimmt die Kristalle und verstaut sie in seiner Ho sentasche, während Lady Arabellas Augen zu Matt wandern. Zur Begrüßung lächelt sie und neigt den Kopf. Eine Vernei gung! Was ist hier eigentlich los? Sie benimmt sich wie ein verliebtes Schulmädchen. Schließlich erklärt sie uns, dass wir uns innerhalb des inne ren Achtecks aufstellen müssen. Ich sehe mich um und kann nichts entdecken, bis Arkarian auf den Boden deutet, auf dem einige Fliesen das Muster eines Achtecks bilden. »Ihr werdet diese Welt sanft verlassen, aber niemand weiß, in welchem Zustand ihr auf den Trümmern des Tempels ankommt.« Wie aus dem Nichts zaubert Lady Arabella drei dicke, lange Umhänge hervor. »Zieht jetzt diese Umhänge an und wickelt sie eng um euch. Sie werden den Aufprall dämp fen und euch vor Verletzungen schützen. Vergesst nicht, dass Isabel nicht dabei ist, um euch zu behandeln, und selbst wenn sie jetzt auch ohne direkte Berührung heilen kann, sind ihren 56
Kräften durch Entfernungen und Hindernisse Grenzen ge setzt. Und zudem müsste sie die Art der Verletzung kennen.« Darauf folgen noch einige Anweisungen an Arkarian, wie er uns wieder in diese Welt zurückbringen kann. Dann führt uns Lady Arabella zu dem inneren Achteck. Als wir zu ihrer Zu friedenheit aufgestellt sind, tritt sie zurück. Augenblicklich lenkt ein Summen unsere Aufmerksamkeit zu dem hoch über uns liegenden höchsten Punkt der Decke. Die Paneele bewe gen sich, zunächst nur langsam, aber schon das ist angesichts ihrer Größe ein faszinierender Anblick. Als die Bewegungen schneller werden, beginnen sich die Farben und Muster zu vermischen und schließlich in einem vielfarbigen Strudel zu verwandeln. Ich hebe den Arm, um meine Augen zu schützen. Plötzlich bildet sich in der Decke eine Öffnung, aus der so grelles Licht strahlt, als würde man direkt in die Sonne sehen. Umgeben von diesem Licht wird mein Körper in die Luft gehoben. Er dreht sich um die eigene Achse und ich verliere völlig die Orientierung. Dann breitet sich Dunkelheit aus. Arkarian ruft mir etwas zu, damit ich weiß, dass er in meiner Nähe ist. Doch ich kann weder ihn noch Matt sehen. Ein kräfti ger Wind kommt auf, der meine Gliedmaßen in verschiedene Richtungen zerrt. Er wird immer stärker, bis ich es kaum noch aushalte. Ob ich diese Erfahrung überleben werde? Doch von einem Moment auf den anderen flaut der Wind ab und ich beginne zu fallen. Mir kommt Lady Arabellas Warnung in den Sinn und ich wickle den Umhang so fest um mich wie möglich. Zum Glück, denn wenig später schlage ich auf dem Boden auf. Der Aufprall raubt mir den Atem. Eine Sekunde lang bilde ich mir ein, ich hätte die Besinnung verloren, bis ich bemerke, dass es nur an der Dunkelheit liegt – es herrscht eine völlige, alles verschlingende Finsternis. Ich strecke die Hand 57
aus, aber ich erkenne nicht mal die Umrisse meiner Finger. War es bei Matt und Ethan und Isabel auch so, als sie hierher kamen? Wie sind sie damit fertig geworden? »Alles in Ordnung mit dir?« Es ist Arkarian. Auf seinen Arm gestützt, rapple ich mich auf. »Mir fehlt nichts.« »Gut«, sagt er und drückt mir etwas Kleines, Kaltes in die Hand. Einen von Lady Arabellas Kristallen. »Wie funktioniert das?« »So.« Plötzlich sendet der Kristall in seiner Hand ein sanftes Licht aus, das sein Gesicht erhellt. Er verstärkt es so lange, bis der Lichtkreis groß genug ist. »Wie hast du das gemacht?« Er lächelt. »Ich habe es einfach verlangt.« »Ach?« Ich betrachte den Kristall in meiner Hand und hebe ihn unbewusst näher an den Mund. »Leuchte!« Tatsächlich beginnt er sofort zu leuchten. Aber das Licht ist so grell, dass es uns fast blendet. Außerdem strahlt es hell in die Atmosphäre hinauf. Wir sind im Innern des Tempels gelandet, doch die Wände sind eingestürzt und es gibt keine Decke mehr. »Dämpf das Licht, schnell«, flüstert Arkarian und schirmt mit einer Hand seine Augen ab. »Wir sollten niemanden auf uns aufmerksam machen.« Ich hebe den Kristall noch einmal hoch und befehle ihm schwächer zu werden. Das Licht reduziert sich zu einem sanften Glimmen. »So was hätten wir auch gut gebrauchen können, als wir hier nach dir gesucht haben, Arkarian«, sagt Matt, der zu uns herüberkommt. Arkarian reicht ihm den letzten Kristall. Sobald er Matts 58
Hand berührt, beginnt er schwach zu leuchten. »Ausgezeich net.« »Nicht wahr?« Die Erleichterung ist mir anzuhören, denn ich weiß noch sehr gut, wie ich mich vor wenigen Augenbli cken der völligen Finsternis gefühlt habe. »Ich hasse die Dun kelheit«, murmle ich nervös. Ich muss immer daran denken, wie mein Vater meine Mutter geschlagen hat und ich mich in dem kleinen Wandschrank neben der Haustür versteckt habe, unter Mutters Mantel. Dort habe ich gewartet, bis die Schreie aufhörten, und habe mir gewünscht, unsichtbar zu sein. Arkarian wirft mir einen mitfühlenden Blick zu. Er hat meine Gedanken gelesen, geht aber glücklicherweise nicht darauf ein. »Wir sollten uns beeilen«, meint er stattdessen. »Lady Arabella hat nicht gesagt, wie lange die Kristalle ihre Leuchtkraft behalten.« Wir machen uns daran, den Boden abzusuchen, indem wir die Überreste des Tempels in Sektoren einteilen. Arkarian weist mir den mittleren Abschnitt zu, mit der Warnung, den Schlüssel auf keinen Fall mit bloßen Händen anzufassen. Ich soll offenbar meine Fähigkeit der Berührung einsetzen und »sehen«, was sich unter meinen Fingern befindet. Er selbst holt einen kleinen Rechen hervor und durchkämmt damit die Trümmer. Ich muss aufpassen, dass ich immer schön an der Oberfläche bleibe. Aber für mich genügt das ja auch, denn ich kann mir den Untergrund ohnehin vorstellen. Auf allen vieren beginne ich meine Suche. Sogleich formt sich in meinem Kopf das Bild von zersplittertem Holz, Glas, Fels und anderen Stoffen, Schicht für Schicht. Nach einer Weile werden meine Hände taub vor Kälte. Ich stecke sie von Zeit zu Zeit unter meinen Umhang, um wieder ein wenig Gefühl zu bekommen. 59
Nach einer weiteren Stunde fruchtloser Suche lege ich eine kurze Pause ein und setze mich auf die Fersen. Ein schreckli cher Gedanke jagt mir durch den Kopf: Was, wenn der »Schlüssel« zusammen mit dem Tempel zerstört worden ist? Ich nehme eine Hand voll krümeliger Steinreste und lasse sie durch die Finger rieseln. »Der Schlüssel besteht aus dem härtesten Material, das es im Universum gibt«, erklärt Arkarian. »Er ist unzerstörbar. Es ist vollkommen unmöglich, ihn zu zertrümmern.« Wir machen uns wieder an die Arbeit, und nach unseren eigenen Sektoren nehmen wir uns noch die Abschnitte der anderen vor, so lange, bis schließlich jeder Quadratzentimeter dreimal durchsucht wurde. Als ich fertig bin, stehe ich auf und verlasse den Tempel. Arkarian sieht mir nach, sagt aber nichts, sondern schickt mir in Gedanken die Botschaft, dass in der Nähe ein See liegt, dessen Wasser ich auf keinen Fall berühren darf, weil es nicht das ist, was es zu sein scheint. Ich bedeute ihm mit einem Nicken, dass ich ihn verstanden habe, und er macht sich wieder daran, die Steine zu durchwühlen. Am Ufer des Sees setze ich mich auf einen Felsbrocken und denke darüber nach, was diese Mission bringt. Wir werden den Schlüssel nicht finden. Jedenfalls nicht in diesem zerstör ten Tempel. Das steht fest. Lathenia muss vor uns hier gewe sen sein. Vermutlich hat Keziah, der alte Zauberer, ihn mit einem seiner Tricks aufgespürt und musste sich dafür nur einmal kurz bücken. Plötzlich höre ich in meinem Kopf eine Stimme. Ich bleibe ganz ruhig, bis ich feststelle, dass es Matt ist. Obwohl ich mich suchend umsehe, kann ich ihn nirgends entdecken. Sein Kristall leuchtet nicht mehr, doch da meiner noch schwach glimmt, müsste er mich sehen können. Offenbar 60
stört es ihn nicht, ganz allein im Dunkeln zu sitzen. Bei manchen Menschen ist das so, sie werden nicht von Alb träumen gequält, können gut allein sein, fürchten sich nicht im Finstern. Seine Gedanken dringen in mich ein, und ich merke zu meiner Verblüffung, dass er an mich denkt. Er findet, dass mir meine neue Frisur steht und dass sie mein Gesicht weicher macht. Ihm fallen die Lichtreflexe auf den schwarzen Strähnen auf und dass meine gefalteten Hände zarten Blütenblättern ähneln. Ich ziehe scharf die Luft ein, atme schwer, während seine Gedanken zu gemeinsamen Erinnerungen wandern. Er denkt an die Berührung meiner Hand auf seinem Gesicht, wie wir stundenlang schweigend nebeneinander gelegen haben. Und dass er in diesen Stunden das Gefühl hatte, dass unsere Seelen eins miteinander waren. Ich versuche, den Rest seiner Gedanken abzuwehren, aber sie sind so voller Leidenschaft, dass es mir unmöglich ist. Schließlich steht er neben mir. »Rochelle …« Meine Hände fangen zu zittern an. Ich verschränke die Fin ger und drehe mich langsam zu ihm um. Als er mein Gesicht sieht, tritt er einen Schritt zurück. Seine Gedanken sind plötz lich in Aufruhr. »Warum weinst du?«, fragt er. Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden, aber ich weiß, dass ich es versuchen muss. »Ich weine, weil ich dich verletzt habe und es weiterhin tue, indem ich in deiner Nähe bin.« Er schnaubt verächtlich. »Denk bloß nicht, dass ich dich zurückhaben möchte!« »Das ist mir klar. Du sollst nur wissen, dass es mir leid tut. Ich habe dich nie so geliebt, wie du es verdient hast.« 61
Er blickt über mich hinweg in die Ferne, dann atmet er tief aus. »Es war sehr grausam von dir, mir deine Liebe vorzugau keln.« Ich umklammere den Kristall so fest, dass mir die Hand wehtut. »Du brauchst Zeit, um darüber hinwegzukommen.« Er macht eine abwehrende Handbewegung. »Zeit? Hast du gerade Zeit gesagt? Ja, genau das brauche ich. Die Zeit heilt alle Wunden. Heißt es nicht so?« Sein zynischer Ton ist schwer zu ertragen. »Matt, bitte, tu das nicht …« »Was denn, Rochelle? Dir mein Herz ausschütten? Keine Bange, diese Peinlichkeit erspare ich dir.« »So was darfst du nicht sagen!« »Ich war ein Idiot. Du hast mich reingelegt.« »Wir wurden beide reingelegt.« »Aber du hast die ganze Zeit gewusst, dass unsere Bezie hung eine Lüge war. Du hast mir zugehört, als ich dir meine Liebe …« Er stößt ein schreckliches sarkastisches Lachen aus und schüttelt den Kopf. »Du meinst, ich brauche Zeit. Nun, dann sage ich dir, was ich wirklich brauche. Ich muss in die Vergangenheit zurückkehren.« »Wie bitte?« »Das tun wir doch die ganze Zeit, oder etwa nicht?« »Ich verstehe dich nicht.« »Ich möchte, dass Arkarian mich in die Vergangenheit zu rückschickt, damit ich verhindern kann, dir je zu begegnen.« Er wendet sich ab. Bevor ich ihm nachgehen kann, taucht plötzlich Arkarian auf. Seine Augen sind voller Mitgefühl, und da weiß ich, dass er alles mitbekommen hat. Er legt seine Hand auf Matts Arm und versucht ihn aufzuhalten. »Sachte, Matt. Beruhige dich erst mal.« 62
Matt fasst sich wieder, und ich bin dankbar für Arkarians besänftigende Berührung. Nachdem er sich noch einmal versichert hat, dass es Matt wirklich gut geht, wendet sich Arkarian an uns beide. »Der Schlüssel ist weg. Es hat keinen Sinn, weiter zu suchen. Mach dein Licht aus, Rochelle. Wir müssen von hier verschwinden. Auf der anderen Seite des Sees bewegt sich etwas.« Bei seinen Worten läuft es mir eiskalt über den Rücken. Ohne Zeit zu verlieren, machen wir uns zu den Trümmern des Tempels auf. Während wir die Anhöhe hinaufklettern, erken nen wir in der Ferne ein rotes Schimmern. Geduckt führt uns Arkarian zu einem Felshaufen, damit wir einen genaueren Blick darauf werfen können. »Was ist? Seht ihr was?«, frage ich. Arkarian legt einen Finger auf die Lippen, und jetzt dringen die Gedanken einer anderen Person in mich ein. Sie lassen mich erstarren. Die Erinnerung an Mardukes Gewalt über mich ist noch zu lebendig. Matt steht auf, um über den Felsen zu spähen. Er sagt nichts, doch seine Augen weiten sich vor Entsetzen. »Was machen die da unten?« Auch ich richte mich auf, um nachzusehen, was Matt so er schreckt hat. Aber auf diesen Anblick hat mich nicht einmal Matts Reaktion genügend vorbereitet. Auf der anderen Seite des Sees brennen Hunderte von Fackeln auf einer Fläche, die sich kilometerlang hinziehen muss. Zwischen den Lichtern stehen Tausende eigenartiger Geschöpfe mit menschlichen Gliedma ßen, Schweineschnauzen und unbeholfen wirkenden Flügeln. Aber das Schlimmste ist nicht das Aussehen dieser Kreaturen, sondern die Art, wie sie in Hab-Acht-Stellung dastehen, eine Reihe hinter der anderen, in strenger Formation. 63
Schließlich finde ich meine Stimme wieder. Sie ist nur noch ein Flüstern. »Wer sind sie?« »Man nennt sie Zaunkönige«, sagt Matt. »Sie hören auf deinen alten Meister.« Ich versuche, seinen Sarkasmus zu ignorieren. »Was tun sie, Arkarian?« Arkarian braucht einen Moment, bevor er seinen Blick los reißen kann. Schließlich sieht er mich an. »Sie rüsten sich zum Krieg.«
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Kapitel 4
Matt
Nachdem wir in die Festung zurückgekehrt sind, weist uns Arkarian an, niemandem zu erzählen, was wir gesehen haben. »Zunächst muss ich den Hohen Rat informieren. Es müssen Entscheidungen gefällt und neue Pläne erörtert werden.« »Meinst du mit ›niemandem‹ auch Isabel?« Arkarian zögert. Unwillkürlich frage ich mich, ob es seine Gewohnheit ist, meiner Schwester Dinge vorzuenthalten. Wie viel Macht hat er über sie, nun, da sich die beiden so nahe stehen? Und beeinträchtigt ihre Beziehung angesichts der wachsenden Bedrohung durch Lathenia womöglich sein Urteilsvermögen? Sollte Isabel etwas zustoßen, weil er seine Pflichten gegenüber den Wachen an erste Stelle setzt, würde ich ihn umbringen! Er sieht mir direkt in die Augen, und sein Blick geht mir durch und durch, dringt bis in meine Gedanken. »Lass dir eins gesagt sein, Matt: Eher würde ich mir selbst ein Messer ins Herz stoßen, als Isabel ein Leid zuzufügen.« Ich nicke. Zu mehr bin ich nicht fähig. Meine Zunge klebt am Gaumen. »Aber«, fährt er fort, »erwarte nicht von mir, dass ich ihre Aktivitäten auf ungefährliche Aufgaben beschränke.« Bei diesen Worten löst sich die Spannung zwischen uns und ich muss lachen. »Solltest du das versuchen, möchte ich nicht in deiner Haut stecken.« 65
»Ich würde sie niemals auf diese Weise beleidigen. Die Wa chen sind ihr Leben. Sie ist mit Leib und Seele dabei, und ihre Kräfte sind für unsere Sache von entscheidender Bedeutung. Aber du wirst mir vertrauen müssen, denn manchmal sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen. Wir führen ein seltsames Dop pelleben. Doch wenn es dich beruhigt, alle Auserwählten wer den noch vor morgen Mittag von unseren Erlebnissen erfahren. Alle müssen vorbereitet werden, vor allem jene von uns, die diese Kreaturen leibhaftig gesehen haben und sie daher wieder erkennen können, sobald sie in unserer Welt auftauchen.« »Wie gefährlich sind sie eigentlich, Arkarian?«, fragt Ro chelle. »Allein ihre Anwesenheit wäre eine große Bedrohung.« »Was meinst du damit?« »Das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse würde zer stört.« »Was könnte dadurch passieren?« »Dasselbe, was in der Unterwelt geschehen ist. Düsternis wird sich über das Land breiten, und die Welt wird in Dun kelheit versinken. Erst erlischt der Mond, später verblasst auch die Sonne. Auf den Feldern wird nichts mehr wachsen. Die Meere und Flüsse werden keine Gezeiten mehr haben, und überall wird Verwirrung herrschen. Letztendlich wird alles Natürliche sterben und das Böse siegen.« Man kann schwerlich begreifen, dass das überhaupt jeman des Wunsch ist. »Wie kann Lathenia so etwas wollen?« »Sie ist die Göttin des Chaos. Kälte und Dunkelheit, Angst und Gier und alles, was böse ist, sind Dinge, die sie stärken und ihr Befriedigung verschaffen.« Einen Augenblick herrscht betroffene Stille. Dann fragt Ro chelle: »Wie viel Zeit bleibt uns noch, bis sie angreifen?« 66
Arkarian holt tief Luft. »Angesichts dieser Heere würde ich sagen, sehr wenig.« Schweigend bringt uns Arkarian in den Berg zurück, direkt in seine große Kammer. Als wir dort ankommen, können Ethan und Isabel ihre Erleichterung nicht verbergen. »Was ist geschehen?«, fragt Arkarian sofort. Ethan deutet auf das Hologramm. »Ein Portal hat sich ge öffnet.« Arkarian starrt angestrengt auf das dreidimensionale Abbild und studiert die Vergangenheit genau. Mehrere Male stellt er die Vergrößerung neu ein. »Hier sehen wir Plymouth am 24. August 1768.« Er blickt auf. »Es ist die Nacht, bevor Kapitän Cook mit der Endeavour ausläuft, um den großen Südkonti nent zu entdecken.« »Der Mann zwischen dem ganzen Pöbel, ist das Cook?« Die Frage kann ich mir nicht verkneifen. »Ja«, bestätigt Arkarian. »Eine Besatzung von vierundneun zig Mann bereitet sich auf das Abenteuer ihres Lebens vor. Auf eine Reise, die knapp drei Jahre dauern wird.« »Von wo wird die Gefahr ausgehen, Arkarian?«, fragt Isabel. Er sieht sie an, und wie immer, wenn sich ihre Blicke tref fen, werden seine Züge weich. »Ich brauche mehr Zeit, um das Ganze genau zu untersuchen, aber so schmal, wie dieses Portal ist, wird es nicht lange geöffnet bleiben. Das bedeutet, dass der Orden eine rasche und entscheidende Mission plant. Ich vermute, es werden zwei Aktionen sein: eine, um uns abzulen ken, die andere, um Cook umzubringen.« »Worauf warten wir dann noch?«, fragt Isabel. Arkarian richtet sich wieder auf und sieht uns der Reihe nach an. »Ich würde Jimmy schicken, aber seine Fähigkeiten werden heute Nacht bei einer anderen Mission benötigt.« 67
»Arkarian«, sagt Isabel eindringlich, »ich werde gehen.« Ohne ihr zu antworten, sieht Arkarian erst Ethan, dann mich an. »Ethan und Matt werden gehen.« Freudige Erregung, aber auch Erleichterung durchströmen mich. Ich bin erleichtert, dass Isabel nicht an dieser Mission teilnimmt. Anders als Arkarian kümmert es mich nicht, ob sie beleidigt ist. Und die Aussicht auf meine erste Mission in die Vergangenheit macht mich ganz kribbelig. Dabei haben sich meine Kräfte noch gar nicht gezeigt! Plötzlich beginnen meine Nerven zu flattern und die Aufregung fährt mir in den Magen. Neben mir wird Isabel zusehends unruhiger und zieht Ar karian schließlich beiseite. »Was soll das?« »Ich mache nur meine Arbeit, Isabel. Das, wofür man mich ausgebildet hat. Ich schätze die Situation ein und treffe auf grund dieser Einschätzungen meine Entscheidung.« »Aber warum schickst du Matt?« »He!« Sie funkelt mich an. »Halt den Mund, Matt. Ich will nur wissen, warum.« Offensichtlich haben die beiden immer noch nicht heraus gefunden, wie sie miteinander umgehen sollen. Zusammenzu arbeiten und miteinander liiert zu sein ist für jede Beziehung eine Belastungsprobe. Ich streife Rochelle mit einem Blick. Na ja, wenigstens darüber brauche ich mir keine Gedanken zu machen. »Isabel«, sagt Arkarian geduldig, während er auf das Holo gramm deutet. »Da unten befinden sich vierundneunzig Männer.« Jetzt dämmert es ihr. »Oh.« »Falls ich dich oder irgendeine andere Frau dorthin schi cken würde, würdet ihr zu sehr auffallen. Schau dir doch die 68
Männer an.« Sein Blick ist auf das Hologramm gerichtet. »Ich brauche dir nicht zu erzählen, wie riskant das für die gesamte Mission werden könnte.« Ethan kann nicht an sich halten und prustet los. Isabel versetzt ihm einen Schlag. Er reibt sich den Arm. »Mir war nicht klar, dass es nur Männer sind«, murmelt sie. »Ich will nur nicht, dass du mich zu sehr in Watte packst, das ist alles.« Ärgerlich sieht sie mich an. »Das kenne ich schon zur Genüge von meinem Bruder, vielen herzlichen Dank auch.« Arkarian nimmt Isabel in die Arme, während er Rochelle aufträgt, Mr Carter, Jimmy und Ethans Vater Shaun zu in formieren, dass am Morgen, wenn alle von ihren Missionen zurückgekehrt sind, als Erstes ein Treffen stattfinden wird. »Aber benutze nicht das Telefon. Die Funkwellen können zu leicht abgefangen werden.« Nachdem Rochelle gegangen ist, wendet sich Arkarian Ethan und mir zu. »Ihr beide geht besser nach Hause und ruht euch aus. Bevor ihr aufbrecht, treffen wir uns in der Festung, wo ich euch letzte Anweisungen geben werde. Und denk daran, Matt, der Übergang findet statt, während du schläfst. Also sei nicht nervös und geh wie üblich zu Bett. Bei der Ankunft in der Festung werden eure Seelen und eure Augen in Körpern wohnen, die euren eigenen ähneln, bis ihr mit ge heimen Identitäten ausgestattet werdet. Verstehst du?« Ich nicke. »Ethan hat mir die Einzelheiten des Übergangs bereits während unseres Trainings erklärt. Allerdings hat der Raum, in dem wir heute waren, anders ausgesehen als die Räume der Festung, die Ethan mir beschrieben hat.« »Ja, weil wir uns heute in einem anderen Teil der Festung befanden. Die Festung ist in zwei völlig unterschiedliche 69
Bereiche aufgeteilt. Die Zeitreisen starten im Labyrinth, wo sich die Räume und Treppen immer wieder von Neuem verändern, um sich den Bedürfnissen der Reisenden anzupas sen und ihre Identität zu schützen. Der Ort, an dem wir heute waren, dient unzähligen anderen Zwecken, beherbergt aber vor allem die Wohn- und Arbeitsräume. Das Labyrinth würde ohne die technischen Geräte und die Koordination des ande ren Teils nicht funktionieren. Sonst noch Fragen?« Im Moment fällt mir nichts weiter ein. »Gut, dann geht. Draußen ist es schon fast dunkel. Eure Mutter wird sich fragen, wo ihr so lange bleibt.« Ethan zieht mich am Arm. Ich wende mich zum Gehen, da bemerke ich, dass Isabel immer noch an Arkarian klebt. »Kommst du?«, frage ich sie. Sie hebt den Kopf zu Arkarian. Ihre Blicke treffen sich. »Gleich«, antwortet Arkarian. »Geht ihr zwei nur schon vor aus.« Ethan gibt mir einen Schubs. Zögernd folge ich ihm, werfe meiner Schwester aber im Hinausgehen noch einen langen Blick zu. Wenn ich mich doch nur endlich daran gewöhnen könnte, die beiden so zusammen zu sehen. Die Abendluft ist kühl und ich ziehe meine Jacke enger um mich. »Du schaffst es einfach nicht, dir keine Sorgen zu machen, stimmt’s?«, fragt Ethan. »Wie?« »Sorgen um Isabel.« »Ich habe unserem Vater versprochen, mich um sie zu kümmern. Und genau das versuche ich.« »Isabel ist meine beste Freundin. Vertrau mir, ich würde sie niemals allein lassen, wenn ich das Gefühl hätte, jemand 70
könnte ihr wehtun.« Er schlägt mir auf die Schulter. »Na komm schon. Du musst dich auf die Mission heute Nacht konzentrieren. Schließlich willst du die Sache doch nicht vermasseln, oder?« »Natürlich nicht!« Ethan erzählt mir von der Festung. Zwar weiß ich das meis te schon, aber aufgrund meiner Frage vorhin an Arkarian denkt er wahrscheinlich, ich bräuchte eine kleine Gedächtnis auffrischung. »Dort lernen wir die Sprache, den Dialekt und andere Dinge, die wir brauchen, um nicht aufzufallen …« Aufmerksam höre ich ihm zu, während wir den Berg hi nuntergehen. Nach ein paar Schritten ruft jemand hinter uns: »He, wartet!« Es ist Isabel. Bei ihrem Anblick muss ich unwillkürlich grin sen. Die grenzenlose Erleichterung in meinen Augen bleibt ihr natürlich nicht verborgen. »Du Blödmann! Wann kapierst du endlich, dass du nicht mehr dauernd auf mich aufpassen musst? Wir wollten nur ein paar Minuten allein sein. Ist doch wohl noch erlaubt, oder?« Aus Angst, meine Stimme könnte meine Zweifel verraten, gebe ich statt einer Antwort nur ein undeutliches »Hmmm« von mir. Nach ein paar letzten Anweisungen verabschiedet sich Ethan. Eigentlich will ich nur noch rasch duschen und dann sofort ins Bett gehen. Aber im Flur wartet Mum. »Wo seid ihr zwei gewesen?« Ihre Stimme klingt angespannt und ängstlich. Kein Wun der, nach dem, was heute Vormittag in der Schule passiert ist. Ich hatte sie danach angerufen, um herauszufinden, ob bei ihr alles in Ordnung ist, und um ihr mitzuteilen, dass Isabel und ich unverletzt geblieben sind. Und da für den Rest des Tages 71
der Unterricht ausfiel, hatte ich ihr erzählt, dass wir eine Wanderung im Nationalpark machen würden. »Ist auch wirklich alles in Ordnung? Warum müsst ihr denn immer irgendwo herumstreunen? Nur gut, dass Jimmy euch zu fällig getroffen hat und ich auf diese Weise erfahren habe, dass ihr in Sicherheit seid. Ihr wisst, dass ihr euch nicht mehr im Na tionalpark aufhalten sollt. Es ist gefährlich. Es reicht doch, dass ihr euch schon einmal dort verlaufen habt, oder etwa nicht?« Ich kann ja verstehen, dass sie sich sorgt. »Tut mir leid, Mum. Ich wollte dich nicht beunruhigen. Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass … dass wir uns schon mal verlaufen haben. Wir sind nicht weit gegangen. Ehrlich.« Jimmy ist in der Küche. Ich höre ihn singen. Auch er ist Mitglied der Wachen und außerdem einer der Auserwählten. Und er ist Mums Freund. Oft frage ich mich, ob seine Gefühle für Mum echt sind oder ob er sie nur vortäuscht, damit er sich ohne Verdacht zu erregen in unserem Haus aufhalten und auf Isabel und mich aufpassen kann. Ist vielleicht nicht nett von mir, so zu denken, aber ich bin nicht ohne Grund misstrau isch. Schließlich hat auch Rochelle nur so getan, als würde sie mich lieben, weil es Teil ihres Auftrags war. Jimmy tritt aus der Küche und wischt sich die Hände an der Schürze ab. »Ich habe dir doch gesagt, Liebes, dass es ihnen gut geht.« Er lächelt Isabel und mich an. »Ihr habt noch Zeit zu duschen, wenn ihr wollt. Aber beeilt euch, es gibt bald Abendessen.« »Ich möchte aber gar kein …« Ich kann den Satz nicht beenden, weil mir Isabel einen Tritt gegen das Schienbein verpasst. »Danke, Jimmy. Ich bin echt am Verhungern. Und Matt wollte gerade sagen, was für einen Mordsappetit er nach der Wanderung heute hat.« 72
Sie umarmt Mum tröstend und saust die Treppe hinauf. Bot schaft angekommen. Ethan hat diesen Punkt mehrmals betont. Ich muss mich ganz normal verhalten, damit Mum nicht etwa vermutet, ich würde etwas ausbrüten, und dann in der Nacht nach mir sieht. Mein Körper wird im Bett liegen und schlafen, und wenn sie versucht, mich aufzuwecken, wird es den An schein haben, ich sei im Koma, und das wird ihr eine Höllen angst einjagen. Für den Zeitreisenden selbst ist es noch schlim mer. Ihm wird furchtbar übel und er kann sogar sterben. Also gehe ich duschen und anschließend nach unten zum Abendessen. Es gibt gebackenes Hähnchen mit Ofenkartoffeln und Sauerrahm. Eins meiner Lieblingsessen. Aber heute Abend schmeckt alles wie Pappe. Jeden Bissen quäle ich mir mit einem Lächeln herunter, damit sich Mum bloß keine Sorgen macht. Jimmy wirkt belustigt, aber er ist ohnehin der Typ Mensch, der sich prächtig über die verdrießliche Lage eines anderen amüsieren kann. Isabel findet das überhaupt nicht, aber im Grunde sind wir ja ohnehin immer unter schiedlicher Meinung. Als hätte Jimmy tatsächlich vor, mich zu quälen, schlägt er vor, dass wir beide den Abwasch machen. »Wir schenken den Frauen mal einen freien Abend, was meinst du?« Seine spezielle Art von Humor ärgert mich heute mehr als sonst. Aber Streiten hat keinen Zweck. Ich möchte den Abend nicht weiter in die Länge ziehen, sondern einfach nur ins Bett fallen, schlafen und auf meine Mission gehen. In der Küche reicht mir Jimmy ein Geschirrtuch. »Ich spüle ab«, sagt er. Doch kaum ist Mum mit Isabel verschwunden, nimmt er mir das Tuch wieder aus der Hand. »Ich wollte nur Gelegenheit haben, dir für heute Nacht viel Glück zu wün schen, ohne dass deine Mutter zuhört.« 73
Der scherzhafte Ton ist wie weggeblasen. Sogar seine Augen wirken ernster. »Okay.« »Und bitte, sei vorsichtig. Alles, was wir augenblicklich tun, geschieht unter Zeitdruck. Und das zwingt uns dazu, manch mal einer Eingebung folgend oder mit dem Rücken zur Wand Entscheidungen zu treffen.« Offenbar spricht er aus Erfah rung. Obwohl er mich normalerweise so nervt, dass ich ab sichtlich nicht auf ihn höre, hat er diesmal meine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Es ist schwer, im Bruchteil einer Sekunde zu entscheiden, was das Beste ist.« Ich nicke. »Ich weiß, dass sich deine Kräfte noch nicht gezeigt haben, aber du bist gut ausgebildet. Ethan hat seine Aufgabe hervor ragend erfüllt. Und, tja, der beste Rat, den ich dir geben kann, ist, auf deinen Instinkt zu vertrauen. Wenn du in einer Situa tion ein komisches Gefühl hast, geh dem nach. Und wenn dir dein Bauch sagt, nichts wie weg von hier, dann lauf so schnell du kannst. Verstanden?« »Verstanden.« »Und jetzt gehst du am besten ins Bett.« Er blickt zum Ge schirrstapel im Spülbecken hinüber und zieht eine Grimasse. »Darum kümmere ich mich schon. Oft ist es beim ersten Mal schwer einzuschlafen.« Oben lasse ich mich aufs Bett fallen und atme tief durch. Unablässig gehen mir all die Warnungen durch den Kopf. Zwar versuche ich, sie zu verdrängen, doch sie hüpfen hin und her und wetteifern um meine Aufmerksamkeit. Wie mag so eine Zeitreise wohl aussehen? Werde ich irgendein Zeichen bekommen? Oder werde ich spüren, dass es losgeht? Was, wenn ich während des Übergangs aufwache? 74
Am Ende zwinge ich mich dazu, die Augen zu schließen. Ich werde es schon merken, wenn das Abenteuer beginnt. Bestimmt.
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Kapitel 5
Rochelle
Von Arkarians Kammern aus gehe ich zur Schule zurück. Ich muss Mr Carter finden und ihm Arkarians Botschaft von dem Treffen morgen Vormittag überbringen. Höchstwahrschein lich ist er noch im Krankenhaus, aber ich schaue trotzdem lieber zuerst in der Schule vorbei. Eventuell kann ich mir die Fahrt in die Stadt sparen. In der Schule herrscht immer noch ein ziemliches Durch einander. Wegen der Schäden in Gebäude D werden gerade provisorische Klassenzimmer auf dem Sportplatz errichtet. Sie dienen offensichtlich als Übergangslösung, bis das Gebäude wieder aufgebaut ist. Das schnappe ich auf, als Mrs Walters, eine der Sekretärinnen, es jemandem am Telefon erzählt. Das Büro ist der einzige Raum in der Schule, der nicht ge sperrt wurde. »Sie sind einfach überall«, schwatzt Mrs Walters weiter. »Schon den ganzen Tag werden von der Regierung beauftragte Wissenschaftler in unsere kleine Stadt eingeflogen! Und die Presse …« Ich trommle mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, um sie auf mich aufmerksam zu machen. Sie wirft mir einen leicht verärgerten Blick zu und hält dann die Hand über den Hörer. »Für den Rest der Woche ist schulfrei. So lange wird es dau ern, bis man überprüft hat, ob die Gebäude auch sicher sind.« »Aber ich will doch gar nicht …« »Man wird es in den Lokalnachrichten bringen, meine Lie 76
be.« Mit einer Handbewegung versucht sie mich fortzuscheu chen und widmet sich dann wieder ihrem Telefongespräch. Laut sage ich: »Ich möchte doch nur wissen, ob Mr Carter schon aus dem Krankenhaus entlassen worden ist!« Endlich kapiert sie, dass ich nicht hier bin, um herauszufin den, wann der Unterricht wieder beginnt. Als ob mir das so wichtig wäre! »Ach so«, murmelt sie. »Warum hast du das nicht gleich ge sagt? Ich glaube, sie haben ihn zur Beobachtung dort behalten.« Na toll. »Wie lange?« »Verzeihung, hast du was gesagt?« Sie starrt mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal, und betrachtet dann stirnrun zelnd den Telefonhörer in ihrer Hand. Plötzlich legt sie auf, ohne sich zu verabschieden. »Weißt du, sie wollten, dass wir den Bürotrakt verlassen. Die Ingenieure. Aber die Schüler mussten doch ihre Eltern anrufen! Die Telefone hören gar nicht mehr auf zu klingeln. Und aus dem ganzen Land eilen die Reporter in Scharen herbei. Sie halten es für ein außerge wöhnliches Phänomen.« Ich spreche ganz langsam, artikuliere jedes Wort einzeln, um die Frau bloß nicht zu überfordern. »Wie lange wird Mr Carter im Krankenhaus bleiben?« »Ach Gott. Wohl ein paar Tage, denke ich. Sie wollen einige Tests mit ihm machen. Er beteuert zwar, dass alles in Ord nung ist mit ihm, aber du weißt ja, wie die sind.« Ich schüttle den Kopf. »Wer, die?« »Die Ärzte. Krankenschwestern. Wissenschaftler. Sie sagen, es sei ein Wunder, dass er noch lebt. Er hat nicht einmal einen Kratzer abbekommen. Dieser Mann muss mehr als einen Schutzengel gehabt haben.« Das trifft es fast. Er hatte Glück, dass Isabel und Ethan in 77
der Nähe waren. Ein Reporter kommt herein und richtet sein Mikrofon auf mich. Ich weiche ihm aus und sause hinaus. Aber die Medienleute wimmeln überall herum und der kurze Weg zum vorderen Schultor wird zum Spießrutenlauf. Bis ich einen Bus zum Krankenhaus erwische, beginnt es bereits zu dämmern. Und ich muss auch noch Shaun und Jimmy von dem Treffen erzählen. Wenn das so weitergeht, werde ich noch die ganze Nacht dazu brauchen. Ungefähr zwanzig Minuten später steige ich im Stadtzent rum aus dem Bus und gehe das kurze Stück zum Krankenhaus zu Fuß. An der Anmeldung erfahre ich, dass Mr Carter im dritten Stock liegt. Dort angelangt höre ich ihn mit einem Arzt schimpfen, weil er so lange hier festgehalten wird. Mein Klopfen unterbricht den erhitzten Wortwechsel. Der Arzt ringt sich ein schiefes Lächeln ab. Mr Carter er weist sich als überaus schwieriger Patient, der die Geduld des Arztes auf eine harte Probe stellt. Aber sein Überleben ist ein Wunder und somit wert, genauer untersucht zu werden. Der Doktor winkt mich herein. »Wir unterhalten uns später weiter, wenn Ihr Besuch wieder fort ist.« Beim Hinausgehen raunt er mir zu: »Viel Glück.« Mr Carter bedeutet mir, hinter dem Arzt die Tür zu schlie ßen. Ich vermeide, ihn direkt anzusehen. Wir sind nicht gerade das, was man als gute Freunde bezeichnen würde. Eher das Gegenteil. Erst beim Nähertreten fallen mir die vielen Kabel und Schläuche auf, die an Mr Carters Körper befestigt sind. »Was hat man denn mit Ihnen gemacht?« Ein EKG-Gerät im Hin tergrund piept gleichmäßig, während auf den Monitoren anderer Apparate Wellen- oder Zickzacklinien über einen grünen Hintergrund flimmern. »Ist das wirklich nötig?« 78
»Natürlich nicht! Aber versuch mal, denen das klar zu ma chen.« Er schüttelt den Kopf, und nach einem Blick zur Tür beginnt er, sich Pflaster und Kabel von Kopf, Brust, Armen und Beinen zu reißen. »Was tun Sie da?« »Abhauen.« »Aber Mr Carter, das fällt bestimmt auf! Wir werden doch ständig ermahnt, jedes Aufsehen zu vermeiden!« »Allein durch meine Anwesenheit hier ziehe ich schon ge nug Aufmerksamkeit auf mich. Die ganze Zeit löchern sie mich mit Fragen über meine Wunderheilung. Wenn ich nicht mehr da bin, können sie wenigstens keine weiteren Untersu chungen mehr durchführen. Du kommst wie gerufen, Rochel le. Ich brauche dringend eine Mitfahrgelegenheit.« »Ich bin mit dem Bus gekommen.« Er hält einen Moment inne und zieht dann mit einem kräf tigen Ruck das letzte Kabel ab. »Bist du denn noch nicht alt genug für den Führerschein?« Ich schneide eine Grimasse. »Falls Sie es noch nicht be merkt haben sollten, ich war in letzter Zeit nicht oft in der Stadt, und wer hat überhaupt Zeit für so was wie Fahrstun den? Übrigens, raten Sie mal, wo ich heute gewesen bin.« Fragend zieht er eine Augenbraue hoch, aber gleich darauf hat er verstanden. Er holt seine Klamotten aus dem Schrank neben dem Bett und macht mir ein Zeichen, ich solle mich umdrehen. Nichts lieber als das. Nachdem Mr Carter sich angezogen hat, tippt er mir auf die Schulter. »Sehen wir zu, dass wir hier rauskommen.« »Wie wollen Sie das denn anstellen? Das Pflegepersonal wird jeden Augenblick merken, dass die Apparate nicht mehr arbeiten.« 79
In diesem Moment wird mir klar, dass eine von Mr Carters Kräften ein außergewöhnlich feines Gehör ist. Daher wusste er im Geschichtskurs immer, was sich die Schüler selbst in der hintersten Ecke zuflüsterten. Kein Wunder, dass Ethan es in seinem Unterricht nicht leicht hatte. »Zwei Türen weiter liegt das Treppenhaus. Schon den gan zen Tag höre ich Leute rauf- und runtergehen – es sind sie benundvierzig Stufen bis zum Erdgeschoss.« Wir spähen in den Flur, um sicherzugehen, dass niemand in unsere Richtung blickt, verlassen das Zimmer und halten uns rechts. Doch der Zugang zum Treppenhaus liegt fast direkt gegenüber dem Schwesternzimmer und plötzlich ertönt ein Alarm. Wahrscheinlich wegen Mr Carters abgeschalteter Apparate. Unter den Schwestern bricht Hektik aus. Eine entdeckt uns und erkennt Mr Carter. »He! Wo wollen Sie denn hin? Kommen Sie sofort zurück!« Wir beschleunigen unseren Schritt und verschwinden im Treppenhaus. »Schnell!« Hinter Mr Carter renne ich die drei Stockwerke zum Erdge schoss und die Treppe zur Tiefgarage hinunter. »Am Hauptein gang wartet bestimmt schon das Sicherheitspersonal«, erklärt er. Wenige Minuten später sind wir draußen an der frischen Luft, aber wir hören erst nach dem nächsten Häuserblock auf zu rennen. Endlich bleiben wir stehen. Ich stütze den Arm in die Seite. »Vielen Dank für den Abendsport. Eigentlich wollte ich Ihnen nur ausrichten, dass für morgen Vormittag ein Treffen in Arkarians Kammern vereinbart ist.« Ich sehe mich suchend nach der nächsten Bushaltestelle um und drehe ihm den Rücken zu. »Was ist geschehen?« 80
Immer noch nach einem Bus Ausschau haltend, zucke ich die Achseln. »Ich bin sicher, morgen werden Sie alles genau estens erfahren.« Als sich ein Bus nähert, winke ich, aber da ich nicht direkt an der Bushaltestelle stehe, fährt er vorbei. »Mist.« Mr Carter hebt die Hand. Ein Taxi, das aus der anderen Richtung kommt, wendet und verursacht dabei beinahe einen Unfall. Einladend hält mir Mr Carter die hintere Tür auf. »Der nächste Bus kommt erst in einer halben Stunde«, sagt er. »Ich muss auch noch Shaun und Jimmy Bescheid geben«, erkläre ich, während ich ins Taxi klettere. »Jimmy treffe ich heute Nacht«, erwidert Mr Carter. »Wir werden gemeinsam auf eine Mission gehen. Ich sage es ihm.« Mr Carter nennt dem Fahrer Ethans Adresse, bittet ihn je doch, zuerst bei der Schule vorbeizufahren. Dort steigt er aus. »Mein Auto steht noch hier.« Dann beugt er sich noch einmal zu mir herein. »Nimm.« Er drückt mir ein paar Geldscheine in die Hand. Unsere Finger berühren sich und irgendetwas daran ist mir vertraut. Ich habe jedoch keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, da Mr Carter mit einem Aufschrei zurückzuckt. Meine Berührung hat ihm Schmerzen zugefügt, als hätte er sich gestochen oder verbrannt. Erst jetzt bemerkt er die pulsieren den elektrischen Ströme. Rasch stecke ich die Hand wieder in die Tasche, wo ich sie fast den ganzen Nachmittag verborgen gehalten habe. Er sagt nichts, fixiert mich aber mit einem langen, schwer zu deutenden Blick. Schließlich sagt er zu dem Taxifahrer: »Fahren Sie die junge Dame, wohin sie möchte.« Ich lasse mich zum Nationalpark bringen. Das Taxi wartet, während ich zum Haus laufe und Shaun von dem Treffen berichte. Gott sei Dank ist er zu Hause. Ich begrüße auch kurz Mrs Roberts, die so gut aussieht wie schon lange nicht mehr. 81
Als Nächstes gebe ich meine Adresse an. Doch auf der Hälf te des Weges bitte ich den Fahrer umzudrehen und wieder zum Nationalpark zu fahren. »Dort gibt es eine Schotterstra ße, eine ehemalige Feuerschneise«, erläutere ich ihm. Er späht im Rückspiegel zu mir nach hinten. »Und da willst du hin?« »Ja«, murmle ich. Ich weiß selbst nicht genau, was in mich gefahren ist. Arkarian hat nichts davon gesagt, dass ich auch Neriah aufsuchen soll, aber meine innere Stimme drängt mich, genau das zu tun. Zwar gehört sie zu den Auserwählten – sie ist die Letzte, deren Identität aufgedeckt wird –, doch sie weiß es noch nicht. Ethan als ihrem Ausbilder wird die Aufga be zufallen, sie einzuweihen. Über uns. Ich kann nicht genau erklären, warum es mich dorthin zieht, aber es scheint mir das Richtige zu sein. Inzwischen ist es völlig dunkel geworden, und als das Taxi in den schmalen Schotterweg einbiegt, läuft mir ein Schauer den Rücken hinunter. Ab und zu wirft der Fahrer einen Blick nach hinten. Er fragt sich wohl, wann er endlich anhalten soll. »Fahren Sie nur weiter.« Schließlich ist der Weg zu Ende und das Taxi bremst vor einem hohen schmiedeeisernen Tor. »Warten Sie hier auf mich, ich bin gleich wieder da.« »Zuerst will ich mein Geld«, beharrt er. Er hat vor, sich aus dem Staub machen, das lese ich in sei nen Gedanken. Ich versuche ihn zu überzeugen, dass es wirk lich nicht lange dauern wird. »Wenn du bezahlt hast, warte ich.« Er lügt, aber ich habe keine andere Wahl. Also zahle ich, bitte ihn aber nochmals inständig, zu blei ben. 82
Kaum bin ich ausgestiegen rast das Taxi davon und hinter lässt eine Staubwolke auf dem Kies. Prima. Wie soll ich jetzt heimkommen? Langsam verschwinden die Rücklichter in der Dunkelheit. Mein Blick hält sich so lange wie möglich daran fest. Die Nacht ist nicht gerade meine liebste Tageszeit. Schließlich bemerke ich auf der anderen Seite des Tors ei nen schwachen Lichtschein. Als ich näher herantrete und durch die Eisenstäbe in den Park spähe, habe ich das Gefühl, durch eine Glas- oder Plexiglasscheibe zu blicken. Da ist eine Art Barriere. Plötzlich zerreißt eine Stimme die nächtliche Stille. Sie fragt, wer ich sei. Vor Schreck bin ich zunächst wie gelähmt. Dann richte ich den Blick auf den kleinen weißen Kasten, aus dem die Stimme gekommen ist. »Mein Name ist Rochelle Thallimar und ich möchte zu Neriah. Ich war heute schon mal hier, als ich Neriah heimbegleitet habe.« Nach ungefähr einer Minute schwingen die Flügel des Ei sentors mit einem leisen Klicken gerade so weit auf, dass ich mich hindurchzwängen kann. Aber das Tor dient nur als Tarnung für die dahinter liegende Wand. Darin bildet sich vor meinen Augen ein Loch, das sich zu einer Öffnung in unge fähr meiner Größe weitet. Wie es wohl funktioniert, dass das Glas – oder aus was auch immer diese Barriere besteht – sich verformt? Gerade will ich den Rand der Öffnung berühren, als die Stimme erneut schnarrt: »Geh jetzt hindurch!« Wieder zucke ich zusammen. Kaum bin ich durch die Öff nung getreten, schließt sich die Wand hinter mir wieder. Mit einem schmatzenden Geräusch verschwindet das Loch. Als ich nach oben sehe, stelle ich trotz der Dunkelheit fest, dass sich die Glaswand bis hoch über die Bäume erhebt. Dahinter ist der Nachthimmel nur verschwommen wahrzunehmen. Der 83
gesamte Park ist von dieser schützenden Kuppel überspannt. Ich muss daran denken, dass Neriah in einem schwarzen Mercedes zur Schule und wieder zurück chauffiert wird, immer in Begleitung ihrer beiden weißen Hunde. Vermutlich braucht sie diese Sicherheitsvorkehrungen als Schutz vor Marduke. Ich folge einer gepflasterten, gewundenen Auffahrt, bis Ne riahs erleuchtetes Haus vor mir liegt. Einen Augenblick bleibe ich stehen und lasse den Anblick auf mich wirken. »Wow!«, flüstere ich. Das Haus gleicht einem Palast, mit kleinen Erkern im Obergeschoss und vorgesetzten Balkonen mit hübschen Blumenkästen und eigenen Dächern. »Na, du hast’s ja wohl geschafft.« Für einen flüchtigen Moment dringen die Gedanken einer Person im Park in mich ein. Oder habe ich mir das nur einge bildet? Erschreckt blicke ich mich um, aber mit Ausnahme der beleuchteten Auffahrt liegt der Park in vollkommener Dun kelheit. Meine Beine gehorchen mir nicht mehr, ich muss mich mit aller Kraft zum Weitergehen zwingen. Dieser Gedanke, den ich wahrgenommen habe, kann überall hergekommen sein. Schließlich bin ich ja mittlerweile in der Lage, auch auf weite Entfernung Gedanken zu lesen. Vielleicht zeltet jemand illegal im Wald, das ist hier nichts Ungewöhnliches. Da – schon wieder! Im selben Augenblick bricht von einem Ast über meinem Kopf ein Zweig ab. Ich blicke nach oben. Da jedoch der Mond noch nicht aufgegangen ist und die schüt zende Kuppel den Nachthimmel verschwimmen lässt, ist es zu dunkel, um außer den schemenhaften Umrissen der Bäume etwas zu erkennen. Ganz ruhig, rede ich mir zu, geh einfach weiter. Wahr 84
scheinlich war es gar nichts. Vielleicht höre ich schon das Gras wachsen. Ich schaue nach vorne, aber das Haus ist immer noch ganz schön weit entfernt. Zu weit, um mir wirklich ein Trost zu sein. Warum musste ich auch unbedingt Neriah besuchen? Und warum ausgerechnet in stockdunkler Nacht? Ein Geräusch zu meiner Rechten lässt mich erstarren. Lang sam drehe ich den Kopf. Dieses Mal erkenne ich etwas – zwei glühende Lichtpunkte, die in Form und Größe an ein Paar Augen erinnern. Und jetzt höre ich ganz eindeutig ein Knur ren. Hier im Park lauert irgendein Tier! Dann bewegt es sich und ich sehe einen Schatten über den Rasen hinter den Bäumen davonhuschen. Mein Mund ist ganz trocken. Weiter!, schreit es in meinem Innern. Na los, geh weiter! Endlich am Haus angekommen, öffnet mir Neriah die Tür. Die beiden weißen Hunde wirken unruhig und springen aufgeregt winselnd umher. »Hallo, Rochelle«, sagt sie und befiehlt die Tiere bei Fuß. »Komm doch rein.« Sie betrachtet die Hunde, die sich nicht beruhigen wollen, mit prüfendem Blick. »Ich weiß nicht, was in die beiden gefahren ist.« »Da ist was in eurem Park.« Sie horcht auf. »Bist du sicher? Was genau hast du gese hen?« »Irgendein Tier.« Es widerstrebt mir, ihr zu erzählen, dass dieses »Tier« die Gedanken eines Menschen hatte. So muss es wohl sein, denn ich besitze nicht die Gabe, die Gedanken von Tieren zu lesen. Hinter Neriah taucht eine Frau auf, vermutlich ihre Mutter. Sie haben die gleichen großen mandelförmigen Augen, die gleiche perfekte weiße Haut und das seidige schwarze Haar. »Lass die Hunde raus«, sagt sie. 85
Als Neriah den Arm hebt und auf den Park weist, bellen die Hunde einmal kurz und setzen zum Sprung an. Während sie einen hohen, weiten Satz machen, verändern sie zu meinem Erstaunen ihre Gestalt. Sie verwandeln sich in Leoparden! In Schneeleoparden mit einem dichten, weißen Fell und herrli cher schwarzer Musterung. Mit offenem Mund starre ich ihnen nach. Neriahs Mutter schließt die Tür. »Ich bin Aneliese. Will kommen bei uns, Rochelle.« »Nett, dass du da bist«, bemerkt Neriah. »Ich bekomme nicht oft Besuch.« »Na ja …« Ich spreche nicht aus, was ich denke. Das Mäd chen lebt mitten im Wald, am Ende einer alten Feuerschneise, in einem Haus, das einem Märchen entstammen könnte und von einer zwei Meter hohen Steinmauer sowie einer Schutz hülle umgeben ist, mit zwei Hunden, die sich in Leoparden verwandeln können, und einem seltsamen Tier, das im Park umherstreift. Kein Wunder also. »Du wohnst etwas abgele gen.« Sanft wirft Aneliese ein: »Es stimmt, hier herrschen ziemlich strenge Sicherheitsvorkehrungen, aber sie sind auch bitter nötig.« Nachdem ich diesem Wesen draußen begegnet bin und zwei Hunde vor meinen Augen die Gestalt von Schneeleopar den angenommen haben, bin ich immer noch ziemlich durch einander. Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden. Neriah bemerkt, dass ich zittere. »Du hast dich erschreckt. Komm ins Wohnzimmer und setz dich ans Feuer.« Ich folge ihr in einen großen Raum mit herrlichen antiken Anrichten, Tischen und Kommoden. Die Wände zieren alte Gemälde. Sie sehen aus wie Originale. Aneliese lässt uns allein, 86
kehrt jedoch gleich darauf mit zwei Tassen heißer Schokolade zurück. Wir plaudern ein wenig darüber, wie sich Neriah in der Schule eingewöhnt hat, und dabei bemerke ich, wie sorgfältig Aneliese ihre Worte wählt. Und dann fällt mir mit einem Mal noch etwas Seltsames auf. Diese absolute Stille. Die Stille in meinem Kopf. Genau wie Arkarian haben Neriah und ihre Mutter gelernt, ihre Gedanken abzuschirmen. Sie haben Übung darin. Und das jagt mir Angst ein. »Leben Sie beide allein hier?« Der bloße Gedanke lässt mich schaudern. »Wir haben fünf Hausangestellte«, erwidert Aneliese. Hm, aber wieso kann ich auch deren Gedanken nicht hö ren? »Ach ja, die Stimme aus der Sprechanlage.« »Ja, das ist William. Manchmal klingt er ein bisschen barsch, fürchte ich. Hoffentlich hat er dich nicht zu sehr erschreckt.« Hat sie etwa meine Reaktion mitgekriegt? »Nein, nein – ab solut nicht. Ich war nur nicht darauf gefasst.« Aneliese steht auf. »Ich habe mich gefreut, dich kennen zu lernen, Rochelle. Wenn du möchtest, kann dich unser Chauf feur später nach Hause fahren.« Gut zu wissen. Ich möchte nicht noch einmal durch diesen Park spazieren. »Danke, das wäre prima.« »Bleib ruhig noch ein bisschen«, sagt sie und wendet sich Neriah zu: »Ich berichte William von Rochelles Erlebnis. Er soll nach den Hunden sehen. Auf den Monitoren ist nichts zu entdecken.« Neriah schließt die Tür hinter ihr. Währenddessen lasse ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Die Möbel sind nicht einfach irgendwelche Antiquitäten, sie sind sehr alt und 87
kostbar. Jedes einzelne Stück stammt gewiss aus der Zeit vor der Kolonialisierung! Eine goldene Uhr auf dem Kaminsims erweckt meine Aufmerksamkeit. Ich gehe hinüber und lasse meine Hand darübergleiten – späte Renaissancezeit, um 1600, Augsburg. Aber die Berührung offenbart mir noch etwas anderes – mir schnürt es die Luft ab, als würde jemand mei nen Brustkorb eindrücken. Neriah greift nach der Uhr und streift dabei meine Hand. Und da ist es wieder, jenes seltsam vertraute Gefühl. Sie zieht die Hand zurück und starrt mich stirnrunzelnd an. Habe ich ihr etwa auch wehgetan? »Alles in Ordnung?« »Mir fehlt nichts. Deine Berührung hat gekribbelt, deswe gen bin ich erschrocken. Was ist mit deinen Händen passiert?« Ich bin mir nicht sicher, wie viel sie weiß. »Nur ein kleiner Unfall«, entgegne ich leichthin und richte meine Aufmerk samkeit wieder auf die Uhr. »Sie hat meinem Vater gehört«, bemerkt Neriah. Ihre Worte erstaunen mich. Soweit ich weiß, lebt sie isoliert und versteckt vor ihrem Vater, seit sie ein kleines Mädchen war. »Dann kennst du ihn also? Deinen Vater?« »Natürlich«, antwortet sie und sieht mir direkt in die Au gen. »In allen Welten gibt es keinen böseren Mann als ihn.« Sie weiß mehr, als uns allen bewusst ist. »Kannst du Gedan ken lesen?« »Nein. Aber du. Das verrät mir deine Behutsamkeit. Ich glaube, Gedankenleser wissen zu viel. Zuweilen müssen die Gefühle und Gedanken der Menschen eine sehr schwere Bürde sein.« Da hat sie gar nicht so Unrecht. Vor allem seit ich Schwie rigkeiten habe, mich dagegen zu verschließen. »Ich wurde von klein auf darin trainiert, meine Gedanken 88
abzuschirmen«, fährt sie fort. »Das war notwendig, weil mein Vater Gedanken lesen kann, und wir wussten nie, wann er uns vielleicht aufspüren oder sich so nahe bei uns aufhalten wür de, dass er unsere Gedanken wahrnehmen und uns erkennen könnte.« Da sie so offen mit mir spricht, beschließe auch ich, ehrlich zu sein. »Bisher hatte ich den Eindruck, du wüsstest gar nichts über uns.« »Du meinst die Wachen?« Ich nicke. »Wenn es die Wachen nicht gäbe und den Schutz, den sie uns zuteil werden lassen, wäre ich schon längst in der Hand meines Vaters und meine Mutter tot. Ich habe im Verborge nen gelebt, aber nun muss ich meinen Platz im Kreis der Auserwählten einnehmen und die Prophezeiung erfüllen. Ich bin die Letzte«, fügt sie hinzu und hält dann inne. »Mit mei ner Einführung werden die Auserwählten vollzählig sein.« Ein Schauder durchfährt ihren Körper. »Hast du Angst?« »Nein. Ich freue mich darauf, zu den Wachen zu gehören, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Da ich so isoliert aufgewach sen bin, war ich oft einsam. Nur – ich glaube, dadurch, dass ich bei den Wachen aufgenommen werde und den Kreis der Auserwählten vollende, wird etwas in Gang gesetzt. Es wird die entscheidende Schlacht auslösen.« Was für eine schreckliche Vorstellung! Aber sie hat wohl Recht. Um sie von diesen schwermütigen Gedanken abzulen ken, wechsle ich das Thema. »Weißt du schon, dass Ethan deine Ausbildung übernehmen wird?« Tatsächlich lächelt sie plötzlich. Und wirkt auf einmal sehr jung. »Das ist ja prima! Er scheint nett zu sein.« 89
Ich kann nur bestätigend nicken. »Nett« ist untertrieben. Er ist alles, was ich mir jemals ersehnt habe. »Aber ich wünschte …« Ihr verträumter Blick weckt meine Neugier. »Was denn? Oder sollte ich lieber sagen, wen?«, bohre ich weiter. Statt einer Antwort blickt sie zu Boden. Als sie den Kopf hebt, treffen sich unsere Blicke. Sie strahlt ein überwältigendes Gefühl von Treue, Mut und Gelassenheit aus. In Neriah steckt mehr, als es den Anschein hat. Viel mehr. »Wer immer er auch sein mag, er kann sich glücklich schät zen«, bemerke ich. Sie kichert, und nun unterhalten wir uns eine Weile über die Jungs, die sie kennen gelernt hat, seitdem sie hier an der Schule ist, und ich sage ihr, was ich von ihnen halte. Wir wechseln von einem Thema zum nächsten, bis sie mir schließ lich ihre Sorge anvertraut, ihr Vater könnte sie finden und an ihrer Mutter Rache üben, wie er es geschworen hat. »Er will sie dafür bestrafen, dass sie mich ihm weggenommen hat.« »Das wird Arkarian nicht zulassen«, versuche ich sie zu be ruhigen. Da öffnet sich die Tür und Neriahs Hunde springen mit einem Satz ins Zimmer, gefolgt von Aneliese. Neriah stellt mir die Hunde vor. »Der hier mit dem Hängeohr ist Aysher.« Spielerisch zieht sie ihn am Ohr und reibt ihre Nase in seinem weichen Fell. Der andere Hund klettert bei dem Versuch, die Aufmerksamkeit seines Frauchens zu bekommen, beinahe auf sie drauf. Sie lacht über seine albernen Mätzchen. »Und das ist Silos, der nicht gerade für seine Geduld berühmt ist.« »Sie sind wunderschön. Sind das ganz normale Hunde? Schließlich haben sie sich vorhin in Leoparden verwandelt.« 90
Nachdem sie beide ausgiebig gestreichelt hat, ruft sie »Sitz!«, was die Hunde augenblicklich befolgen. Ihre intelli genten Augen verfolgen jede ihrer Bewegungen. »Sie verwan deln sich, wenn sie Gefahr wittern.« Fragend sieht Neriah ihre Mutter an. »Haben sie irgendetwas entdeckt, was im Park gelauert haben könnte?« »Nein, nichts«, entgegnet Aneliese. »Hast du dich vielleicht geirrt, Rochelle? Nachts kann der Park recht Furcht einflö ßend sein.« Damit hat sie nicht ganz Unrecht. »Außer Aysher und Silos gibt es keine anderen Tiere hier«, fährt sie fort. »Eine Schutzhülle überspannt das gesamte Anwesen wie eine Kuppel. Nichts kann ohne unsere Erlaubnis hereingelangen, nicht einmal ein Vogel.« »Gibt es außer dem Tor am Haupteingang noch eine andere Möglichkeit, hier reinzukommen?« Auf meine Frage hin wechseln Aneliese und Neriah einen alarmierten Blick. »Da sind die Fluchttunnel«, überlegt Ane liese. »Aber die Türen sind gesichert und werden regelmäßig überprüft. Und die Schlüssel trage ich die ganze Zeit bei mir.« Zitternd hebt sie die Hand an den Hals. Ihre Stimme klingt leicht schrill und offenbart ihre Besorgnis. »Sie können nicht aufgebrochen worden sein, das würde ich sofort erfahren.« »Ich will Sie nicht beunruhigen, aber ich weiß, was ich ge sehen habe. Etwas hat Ihr Sicherheitssystem durchbrochen. Etwas Eigenartiges.«
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Kapitel 6
Matt
Ich
lande unsanft auf meinen vier Buchstaben, in einem Raum der Festung, der bis auf die Regenbögen, die sich über die Decke erstrecken, an einen Blumenladen erinnert. Er staunt sehe ich mich um. Ich muss niesen, weil der Duft der Blumen meine Nase kitzelt. Eine Hand streckt sich mir entgegen, und ich ergreife sie. Ethan macht ein schuldbewusstes Gesicht, als er mir aufhilft. »Ich dachte, ich hätte dir beigebracht, wie man landet.« »Also, ich kann mich nicht an irgendwelche Anweisungen erinnern.« »Oh, dann habe ich es wohl vergessen.« »Halb so wild. Mein Hintern ist gut gepolstert.« »Wie gnädig von dir! Isabel hat mich immer angeschrien und geboxt, wenn sie nicht richtig gelandet ist.« »Typisch Isabel. Sie ist förmlich davon besessen, allen zu beweisen, dass sie auf eigenen Beinen stehen kann«, erwidere ich kopfschüttelnd. Arkarian nimmt vor uns Gestalt an. Auch er bemerkt den Duft und die flirrenden Regenbögen an der Decke. »Seit ich aus der Unterwelt zurückgekehrt bin, habe ich die Festung nicht mehr so fröhlich erlebt.« »Das hört sich an, als hätte die Festung Gefühle. Ist dieser Ort denn mehr als nur ein Gebäude?« »Weit mehr, Matt. Sie wurde von einer Unsterblichen ent 92
worfen und von einem zweiten Unsterblichen umgebaut und perfektioniert. Und wenn ich im Zusammenhang mit der Festung von Gefühlen spreche, meine ich damit die Geschöp fe, die dort leben und genauso ein Teil der Festung sind wie die Ziegel und der Mörtel der Wände. Aber jetzt sollten wir uns wieder auf eure Aufgabe konzentrieren.« Er streicht mit der Hand über einen von drei weißen Leder sesseln mit hoher Lehne. Schließlich setzt er sich und bedeutet Ethan und mir, ebenfalls Platz zu nehmen. »Ihr werdet als Forscher reisen«, erklärt er uns. »Ethan als der Botaniker Henry Robins und du, Matt, als der Astronom Edward Co wers. Diese Männer existieren zwar in Wirklichkeit nicht, aber es ist uns gelungen, ihnen eine Biografie zu geben und ihren Ruf zu verbreiten. Charles Green, der offizielle Astronom der Endeavour, freut sich schon sehr darauf, dich kennen zu lernen, Matt. Er zeichnet sich besonders dadurch aus, dass er den Längengrad auf See allein durch die Stellung des Monds und der Sterne bestimmen kann – eine Fähigkeit, die nicht viele Forscher seiner Zeit beherrschen. Er ist ganz versessen darauf, sich mit dir über Navigationsinstrumente zu unterhal ten.« »Aber wie soll ich bei so einem Gespräch glaubwürdig klin gen? Ich verstehe doch gar nichts von Navigation.« Als Arkarians Blick kurz zu Ethan schwenkt, geht mir plötz lich ein Licht auf. Ich gebe ihm zu verstehen, dass mir der Trick mit dem Staub wieder eingefallen ist, aber vermutlich liest er ohnehin meine Gedanken. Obwohl ich es schon so lange übe, gelingt es mir immer noch nicht, sie abzuschirmen. Arkarian fährt mit seinen Anweisungen fort. »Ihr beide nehmt an einer Führung teil und werdet dabei mehreren wichtigen Mitgliedern der Mannschaft vorgestellt. Mitsegeln 93
werdet ihr allerdings nicht. Versucht, so viel wie möglich über die jüngsten Ereignisse in Erfahrung zu bringen. In der kurzen Zeit, die die Endeavour am Dock in Plymouth vor Anker liegt, sind bereits achtzehn Männer desertiert. Um die Besatzung wieder vollständig zu machen, hat der Kapitän MarineSoldaten und Freiwillige angeheuert. Der Forscher und Aben teurer Joseph Banks wird kurz vor euch eintreffen, zusammen mit seinem Freund, dem schwedischen Arzt Daniel Solander. Abgesehen von diesen beiden Herren dürfte es in den letzten vierundzwanzig Stunden keine Änderungen bei der Besatzung mehr geben. Habt ihr so weit alles verstanden?« Als wir beide nicken, fährt er fort. »Ihr müsst das Schiff auf alle Fälle verlassen haben, bevor es ausläuft. Ich kann euch zwar von jedem beliebigen Ort zurückholen, sogar von hoher See, aber wenn euch ein Besatzungsmitglied nach dem Able gen sieht, müsst ihr an Bord bleiben, bis die Endeavour wieder irgendwo anlegt. Und das könnt ihr nicht riskieren, denn das Schiff wird monatelang unterwegs sein, bevor es Land er reicht.« »In Ordnung«, sagt Ethan. »Wir haben verstanden. Auftrag ausführen und nichts wie weg.« Daraufhin verlässt uns Arkarian, und Ethan führt mich mehrere Treppen hinauf, die hinter jedem meiner Schritte wieder verschwinden. »Warum lösen sich die Stufen auf?« Ich kann mir die Frage nicht verkneifen. »Zu deinem Schutz«, erklärt Ethan. »Du hinterlässt keine Spur und man kann nicht nachvollziehen, wo du hergekom men bist oder wohin du reist.« Schließlich kommen wir zu einem Raum, an dessen Wän den Unmengen von Kostümen hängen. Während wir daran vorbeigehen, verändert sich unsere Kleidung, und als ich in 94
einen der vielen Spiegel sehe, bin ich über meinen Anblick fassungslos. Ich trage weiße Kniestrümpfe! Dazu schwarze Schuhe mit großen Silberschnallen als Verschluss. Kopfschüt telnd betrachte ich mich von der Seite. Meine Schuhe haben zu allem Überfluss auch noch hohe Absätze! Als ich aufsehe, fällt mir mein weißes Hemd auf, das über und über mit Rü schen besetzt ist und bauschige Ärmel hat. Es ist sorgfältig in die enge schwarze Kniehose gestopft, die an den Außenseiten über die ganze Länge der Oberschenkel mit Knöpfen besetzt ist. Komplettiert wird das Ensemble von einer braunen Weste und einem rostfarbenen Rock. Ich sehe einfach lächerlich aus. »Müssen wir wirklich so rumlaufen?«, frage ich Ethan, der ähnlich angezogen ist. Im Gegensatz zu mir scheint er sich ziemlich wohl zu fühlen. »Wird man uns in diesem Aufzug nicht sofort als Schwindler entlarven?« »Die Kostüme sind absolut authentisch«, erklärt Ethan und zupft seine Weste zurecht. »Diese Röcke waren 1768 der letzte Schrei. Hast du diese Zeit nicht bei Mr Carter durchgenom men?« »Ich habe Geschichte nicht belegt.« »In den unteren Klassen war es ein Pflichtfach.« »Schon möglich, aber ich erinnere mich nicht.« »Macht nichts«, meint Ethan und zieht mich in die Mitte des Raums. »Aber vielleicht brauchst du eine Extraportion Staub.« Feiner Staub rieselt von der Decke auf uns herab; sogleich fühle ich mich in der Verkleidung vollkommen wohl, und, was beinahe noch eigenartiger ist, ich merke plötzlich, dass ich ein umfassendes Wissen über das Universum und die Position und die Konstellation der Sterne besitze. Vor meinem inneren 95
Auge formt sich das Bild eines Sextanten, und ich weiß, dass dieses Instrument erst vor kurzer Zeit den Quadranten ersetzt hat, da es Höhen und Winkel präziser messen kann. Ethan klopft mir den überschüssigen Staub von Kopf und Schultern und führt mich zu einem anderen Raum in einer tieferen Etage. Wieder sehe ich die Farben des Regenbogens, diesmal in Pastelltönen, und auch der Duft ist nicht mehr so durchdringend. Ich habe plötzlich das Gefühl, dass die Fes tung nicht nur fröhlich, sondern mir wohlgesinnt ist. In der Wand gegenüber bildet sich eine Tür. Ethan erklärt mir, wie ich fallen soll und wie ich es anstelle, auf den Füßen zu landen. Als ich durch die Öffnung hindurchspähe, sehe ich den Pier, an dem die Endeavour vertäut liegt. Bestimmt ist dort unten eine Menge los. Obwohl es Tag ist, ist der Himmel bedeckt und düster. »Was siehst du?«, will Ethan wissen. Ich zucke mit den Schultern. »Alles. Das Schiff, die Besat zung, Säcke, Instrumente, Fässer und Tonnen in sämtlichen Größen und Formen, die auf das Schiff geladen werden. Es ist ziemlich laut, aus einer der Kneipen dröhnt Musik.« Stirnrunzelnd blickt er mich an. »Stimmt was nicht?« »Nein. Alles in Ordnung. Nur sehen die meisten Neulinge die Dinge nicht so deutlich.« Er fixiert mich immer noch, als er mir das Zeichen zum Absprung gibt. Ich hole noch mal tief Luft und versuche nicht daran zu denken, was mich nach dem Sprung wohl erwarten mag. In einer ruhigen Nebengasse lande ich auf beiden Füßen. Ein dumpfer Schlag lässt mich herumfahren. Es ist Ethan, der mir anerkennend auf die Schulter klopft. »Das hast du gut gemacht. Gehen wir.« 96
Als wir in eine kopfsteingepflasterte Straße einbiegen, müs sen wir einem Matrosen ausweichen, der eine Hängematte auf dem Rücken trägt. »Entschuldigung, Gentlemen«, sagt er. »Seid Ihr auf dem Weg zur Endeavour?« Ethan nickt, und der Matrose fährt hastig fort. »Wir warten schon seit einer Weile auf günstigen Wind, um in See stechen zu können.« Er hält die Hängematte hoch. »Ich habe mir ein Bett besorgt. Der Kapitän hat es gern, wenn auf dem Schiff Ordnung herrscht.« Ethan tippt sich an den Hut. »Wir sehen uns an Bord.« Plötzlich wird mir klar, wo ich mich eigentlich befinde. Ich werde in Kürze Kapitän James Cook kennen lernen, den Entdecker, der als Erster zur Ostküste Australiens segelte. Das ist mir bekannt. Außerdem weiß ich etwas über seinen derzei tigen Posten – er ist ein junger Kapitän der königlichen Mari ne. »Was war an Cooks Entdeckungsfahrten so wichtig?« Ethan klärt mich nur allzu bereitwillig auf. »Seine For schungsreisen zur Entdeckung der Terra australis haben den Weg für Australiens Kolonisierung geebnet.« »Ja, das weiß ich.« »Sie trugen dazu bei, das Weltwissen über die Seefahrt, die Navigation und auch die Geografie zu erweitern. Cook fertigte so präzise Berichte und Karten an, dass man sie noch über hundert Jahre lang benutzte. Seine Männer starben nicht an Skorbut, weil Cook darauf bestand, dass sie Obst und Gemüse aßen. Zudem war er der erste Kapitän, der die Längsposition mit mathematischer Genauigkeit errechnete. Er zeichnete eine vollständige Karte sowohl von der nördlichen und südlichen Insel Neuseelands als auch von der Küste Australiens.« Kaum sehe ich die Endeavour vor mir, bleibe ich staunend stehen. Sie ist viel größer, als ich sie mir vorgestellt hatte. Knarrend und ächzend schaukelt sie auf den Wellen und stößt 97
immer wieder an die Kaimauer. Irgendwie wirkt sie so … echt. Ethan tippt mir auf die Schulter und deutet nach vorne. Ein Mann, der ähnlich wie wir, jedoch in leuchtendes Rot, geklei det ist, kommt auf uns zu. »Ihr seid sicher Robins und Cowers. Willkommen auf der Endeavour.« Ethan stellt uns vor, und der Mann schüttelt uns die Hand. »Zachariah Hicks, Oberleutnant. Folgt mir bitte, der Kapitän erwartet Euch bereits.« Hicks begleitet uns an Bord und führt uns herum. Überall, wo wir hinkommen, machen uns die Matrosen bereitwillig Platz. Auf dem Hauptdeck rattert der Oberleutnant Zahlen herunter. »Die Endeavour misst vom Bugspriet bis zum Heck hundertsechs Fuß und ist neunundzwanzig Fuß und drei Zoll breit.« Dann erklärt er die Funktion einiger Seile und der Takelage. »Ihr habt Glück, uns noch hier anzutreffen. Wenn der Wind weiter auffrischt, werden wir bald ablegen.« Hicks zeigt uns sämtliche Kanonen des Schiffs, insgesamt zweiundzwanzig, bevor er uns hinunter in den gut gefüllten Laderaum bringt. Sie würden mit acht Tonnen Ballast segeln, erklärt er, einigen Tonnen Kohle, Reserveholz, Fässern mit Pech und Teer, Werkzeugen, Segeltuch für Reparaturen, Hanf für die Seile und die Takelage und mit einer Reihe anderer Vorräte wie Lebensmittel. »Zwölfhundert Gallonen Bier, sechzehnhundert Gallonen Branntwein, viertausend Stück gepökeltes Schweinefleisch …« Während er den Rest der beeindruckenden Liste an Vorräten aufzählt, führt er uns auf das Achterdeck, wo erst kürzlich sechs kleine Kabinen für den Kapitän, für Charles Green, Joseph Banks und einige Mitglieder von Mr Banks Gesellschaft eingebaut wurden. 98
Anschließend geht es ins Unterdeck, wo die meisten Män ner während ihrer dreijährigen Fahrt leben, essen und schlafen werden. Es herrscht ein Gewimmel von Menschen, die sich einen Platz für ihre Hängematten suchen und ihre Habselig keiten verstauen. Ich frage mich, wie wir in all dem Gedränge die beiden Männer herauspicken sollen, nach denen wir Ausschau halten müssen. Ethan scheint der gleiche Gedanke durch den Kopf zu gehen. Er mustert mehr die Gesichter der Männer, als sich das Deck anzusehen. »Segelt Ihr mit vollzäh liger Besatzung?«, erkundigt er sich bei Mr Hicks. »Erst heute Morgen haben wir zwei Männer verloren«, ant wortet er und fährt mit einem Blick auf uns fort: »Es wäre Platz für Euch, falls Ihr mitfahren möchtet. Ich bin sicher, der Kapitän wäre erfreut, zwei Forscher Ihres Kalibers an Bord zu haben.« Ethan macht sich bestimmt über die zwei Matrosen Gedan ken, die erst diesen Morgen über Bord gegangen sind. Hat Arkarian nicht gesagt, dass es bei der Besatzung in den letzten vierundzwanzig Stunden keine Veränderungen geben sollte? Dem Oberleutnant ist es mit seinem Angebot offenbar ernst. In stummer Verzweiflung verständige ich mich durch Zeichen mit Ethan. »Bedauerlicherweise sind wir eingefleischte Land ratten«, antwortet Ethan Hicks und verzieht das Gesicht zu einem breiten Grinsen. Hicks fährt mit seiner Führung fort, bis wir schließlich ei nen Raum erreichen, der im Heck des Schiffes verborgen liegt. Obwohl es noch heller Tag ist und der Himmel allmählich aufklart, spenden Lampen an der Decke zusätzliches Licht. Hier treffen wir Kapitän Cook und Joseph Banks. Der Kapi tän drückt uns zur Begrüßung die Hand, bevor er uns die anderen Forscher vorstellt. Joseph Banks verwickelt Ethan 99
sofort in ein Gespräch, während der Astronom, Charles Green, sehr erpicht scheint, sein Wissen an mich weiter zugeben. Eine leichte Mahlzeit wird aufgetragen, und es liegt ein Hauch von Abenteuer in der Luft, als der Wind zunehmend auffrischt. Ethan kämpft sich zu mir durch. »Ich sehe mich mal um, vielleicht kann ich ja etwas herausfinden. Behalte du den Kapitän im Auge.« Aber der Kapitän hat beschlossen, Segel zu setzen. Wie er erklärt, habe er nun an Deck zu tun, daher bittet er seinen Kollegen Mr Green, mir freundlicherweise seine mathemati schen Geräte zu zeigen, bevor ich von Bord gehe. Anstatt mich dem Kapitän an die Fersen zu heften, folge ich gezwungener maßen Mr Green in die sogenannte »große Kajüte«, einem kleinen Raum mit Schreibtischen und Stühlen aus Holz, den sowohl der Kapitän als auch die anderen Forscher und Gelehr ten nutzen. Welche Stimmung mag hier drin in nahezu drei Jahren herrschen? Würde Kapitän Cook auch dann noch voller Enthusiasmus sein, wenn er wüsste, wie lang seine Reise tatsächlich dauern wird? Ich bezweifle es. Er scheint die Ruhe selbst zu sein und sich keine Gedanken darüber zu machen. Nachdem mir Charles Green seine Instrumente gezeigt hat, kann ich mich endlich auf die Suche nach Kapitän Cook machen. Ich finde ihn an Deck, wo er einigen Matrosen Be fehle erteilt, die die Webeleinen hinaufklettern und sich zur Rah vorarbeiten, um das Großsegel loszumachen. Hicks wird auf mich aufmerksam. »Ihr seid immer noch hier, Sir?« »Ach, ich werfe nur noch einmal einen letzten Blick auf das Schiff, bevor ich von Bord gehe.« »Passt bloß auf, sonst segelt Ihr am Ende noch mit.« Er winkt und tippt sich zum Abschied an die Kappe. 100
Während sich Hicks entfernt, kommt Ethan auf mich zuge rannt. »Etwas ist faul.« »Was denn? Ich habe nichts Ungewöhnliches bemerkt.« »Ich meine die zwei Deserteure.« »Stimmt. Was hat das zu bedeuten?« »Das bedeutet, dass der Orden sein Werk bereits vollendet hat.« »Aber …« Meine Augen wandern zu Kapitän Cook, der am Steuerrad steht und den Kopf in den Nacken legt, um die zwei Matrosen zu beobachten, die oben auf der Dwarssaling dabei sind, die Bramsegel zu setzen. »Er scheint nicht in Gefahr zu sein.« »Eben.« »Ich kann dir nicht ganz folgen.« »Sie wollen es in die Luft jagen, Matt.« Entgeistert starre ich Ethan an. »Das Schiff?« »Ja. Mit Mann und Maus. Den größtmöglichen Schaden an richten. Begreifst du nicht? Lathenia begnügt sich nicht damit, Kapitän Cook auszulöschen, denn wenn sie die Endeavour gleich mit zerstört, muss die Reise auf jeden Fall abgesagt werden.« Du liebe Zeit, er hat Recht! »Die Endeavour setzt bereits Se gel!« Ethan blickt hinauf zu den Matrosen, die an den Trossen und Tauen arbeiten. »Das ist mir nicht entgangen.« »Wo sollen wir anfangen? Eine Bombe könnte überall ver steckt sein.« »Jetzt wären Rochelles Hände wirklich hilfreich. Sie müsste nur die Planken berühren, um sie zu finden.« »Aber sie ist nun mal nicht da. Sonst noch irgendwelche Vorschläge?« So barsch wollte ich eigentlich nicht klingen. »Entschuldige.« 101
»Vergiss es. Konzentrieren wir uns lieber darauf, das Prob lem zu lösen.« Wo würden die »Matrosen« eine Bombe legen? »Sie würden sich, sobald sie an Bord wären, sofort …« »Zu ihrer Schlafstelle im Unterdeck begeben!« Er schlägt mir mit dem Handrücken auf die Brust. »Du bist ein Genie!« Unauffällig machen wir uns auf den Weg nach unten. Im Unterdeck herrscht immer noch rege Betriebsamkeit, aber erstaunlicherweise haben die meisten Männer ihre Habselig keiten mittlerweile ordentlich verstaut. Ethan entdeckt einen Matrosen, mit dem er sich vorhin unterhalten hat. »Du weißt nicht zufällig, wo die Männer, die heute Morgen von Bord gegangen sind, ihre Sachen aufbewahrt haben?« Der Matrose zeigt kichernd zum Heck. »Dort hinten in der Ecke. Nettes Plätzchen …« Er grinst. Als wir darauf zusteuern, ruft er uns nach: »He, das Schiff legt gleich ab!« Wir nehmen keine Notiz von ihm und durchstöbern den angegebenen Bereich, suchen nach Hohlräumen, wühlen in Kisten und persönlichen Habseligkeiten. Ein Rumpeln über Deck deutet darauf hin, dass sich die Segel straffen. Gleich darauf ist das Knarren der Spanten zu hören und es geht ein Ruck durch das Schiff. Ethan sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Wir müssen uns beeilen!« Panisch setzen wir unsere Suche fort, werfen in der Eile Sa chen umher und richten eine heillose Unordnung an. »Hier ist sie nicht!« »Sie muss da sein!« Doch unsere Anstrengungen sind erfolglos. »Vielleicht irrst du dich mit der Bombe. Möglicherweise hat sich auch Arkari an geirrt und es wird gar nichts passieren.« 102
Als das Schiff ablegt und man die schrillen Rufe der aufflie genden Möwen hört, spüre ich ein mulmiges Gefühl im Ma gen. »Es gibt da eine Kajüte.« »Was?«, fragt Ethan. Ich setze mich in Bewegung, während mein Verstand fie berhaft arbeitet. »Wenn sie den größtmöglichen Schaden anrichten und sichergehen wollen, Kapitän Cook und seine wertvollsten Besitztümer zu vernichten, wäre es sinnvoll, die Bombe direkt unter der großen Kajüte zu legen. Der Ort, an dem all die technischen Geräte untergebracht sind.« »An so einen Raum kann ich mich nicht erinnern.« Aber ich. Irgendwo in der Mitte des Schiffs. Ethan führt mich zu der betreffenden Kajüte, und binnen weniger Augen blicke entdeckt er eine verdächtig aussehende lockere Planke. Nachdem er das Brett entfernt hat, wird eine Sprengladung sichtbar – sechs dicke, mit einer Schnur zusammengebundene Stangen. »Dynamit«, murmelt er. »Wenigstens kann man sich darauf verlassen, dass der Orden nach seinen eigenen Regeln spielt.« »Was meinst du?« Er blickt kurz auf. »Dynamit war 1768 noch gar nicht er funden.« Inmitten der Sprengladung ist ein altmodischer Chronometer angebracht. »Schau dir das an. Sie geht in drei Minuten hoch.« »Wir müssen sie loswerden.« »Ja.« Er zerrt daran, aber nichts rührt sich. »Eins nach dem anderen.« »Richtig.« Behutsam hält Ethan die Bombe, während ich versuche, die Schnur zu durchtrennen, mit der sie festgemacht ist. Das laut vernehmliche Ticken des Chronometers im Ohr, kommt es 103
mir wie eine Ewigkeit vor. Als es mir endlich gelingt, die Sprengladung zu lockern, ist schon zu viel Zeit verstrichen. Wir haben nur noch fünfzehn Sekunden! »Genug, um dieses Baby zu versenken«, sagt Ethan mit be merkenswerter Ruhe, wenn man bedenkt, dass er eine Bombe in der Hand hält. Aber es scheint nicht unser Tag zu sein. Hicks taucht auf, dicht gefolgt von zwei Matrosen. »He! Was macht Ihr da? Ihr führt etwas im Schilde. Guter Gott, was haltet Ihr denn da in der Hand?« Ethan sieht mich an und schüttelt den Kopf. »Jetzt ist keine Zeit für Erklärungen, Sir«, ruft er. »Lasst uns durch!« Sie rühren sich nicht vom Fleck. »Nein, Ihr werdet nir gendwohin gehen. Nicht mit diesem Ding da. Ich habe mir gleich gedacht, dass mit Euch etwas nicht stimmt.« Über die Schulter ruft Hicks den Männern zu: »Nehmt sie in Gewahr sam!« Das Herz rutscht mir in die Hose, als ich auf das Zifferblatt des Chronometers blicke. Fünf Sekunden. »Was sollen wir denn nur tun?« »Wir müssen sie mit zurücknehmen.« Vier … »Was? Die Bombe? Aber sie explodiert gleich! Und die Männer da drüben werden sehen, wie wir verschwinden.« Drei … »Darüber können wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Dieses Risiko müssen wir eingehen«, erklärt Ethan. Zwei … Schnell fügt er hinzu: »Wenn wir es nicht tun, wird diese Bombe die gesamte Besatzung der Endeavour töten und wir werden in der Vergangenheit sterben. Die Gefahr ist zu groß.« 104
Eins … Ohne mir dessen bewusst zu werden, reiße ich ihm die Bombe aus der Hand und schreie: »Arkarian!«
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Kapitel 7
Matt
Arkarian holt uns in die Festung zurück. Nur den Bruchteil einer Sekunde später, noch während des Übergangs, explo diert die Bombe. Aus einem Inferno von Hitze, Licht und Feuer werden wir in tiefes Dunkel geschleudert und verlieren das Bewusstsein. Als ich die Augen öffne, liege ich auf dem harten Fußboden in einem Raum mit rußgeschwärzten, geborstenen Wänden, bedeckt von Trümmern, die auf mich herniedergefallen sind. Arkarian packt mich an den Schultern. »Alles in Ordnung mit dir?« »Häh?« Rasch blicke ich auf meine Brust und klopfe sie kurz ab. »Ja, scheint so.« »Sicher?« Kaum habe ich genickt, wirbelt er bereits herum und blickt suchend durch den Raum. Plötzlich murmelt er: »Oh nein!«, und hastet in die gegenüberliegende Ecke. Ethan liegt dort in einer großen Blutlache. Ich krieche zu ihm hinüber. Mit jeder Bewegung wächst meine Angst. Als Arkarian Ethan aufhebt und ihn zur Tür trägt, rapple ich mich schnell hoch und folge ihnen. »Wohin bringst du ihn?« Wir laufen von einem Flur zum nächsten. »In einen Hei lungsraum.« Lady Arabella, die uns bereits erwartet, hält uns die Tür auf. »Schnell, hier hinein.« 106
Arkarian bettet Ethans Körper auf einen schmalen Kristall tisch. Lord Penbarin nimmt Gestalt an und zupft seine leuch tend rote Robe zurecht. »Ich möchte mir den Jungen anse hen.« Nachdem alle drei Ethan untersucht haben, flüstert Lady Arabella Arkarian zu: »Wir brauchen Isabel.« Arkarian schnellt herum und sieht mir in die Augen. »Wir müssen folgendermaßen vorgehen …« Aber ich kann nur an Ethan denken. »Wie steht es um ihn? Ist er …?« Arkarian packt mich mit beiden Händen an den Schultern. »Matt, hör mir zu.« »Aber …« »Hör mir zu!« Schließlich begreife ich an seinem eindringlichen Ton, dass die Zeit drängt, und halte den Mund. Mein Blick versinkt in seinen tiefvioletten Augen. »Ich höre.« »Gut. Zuerst bringe ich dich in deinen eigenen Körper und in dein Bett zurück. Dort wirst du aufwachen. Verstanden?« Ich nicke. »Zusammen mit Isabel kommst du zu meinen Kammern und rufst laut meinen Namen. So laut, wie du es auf der Endeavour getan hast, als du Ethan die Bombe aus der Hand gerissen hast, ja?« »Gut.« »Ich bringe euch dann hierher und Isabel kann mit Ethans Heilung beginnen. Das ist unsere einzige Chance. Beeil dich.« Arkarian legt mir die Hand auf die Stirn. »Geh jetzt.« Eine Sekunde später wache ich in meinem Bett auf, mein Herz pocht wie wild. Einen Moment der Verwirrung lang erscheint es mir wie ein schrecklicher Traum. Isabel stürzt in 107
mein Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Noch immer beherrscht von dem Gedanken, mich in einem grauenvollen Albtraum zu befinden, bilde ich mir ein, Isabel wäre ein Engel oder Geist, denn sie trägt das Haar offen und hat ein langes weißes Nachthemd an. Doch ihre Worte bringen mich rasch in die Realität zurück. »Was ist passiert? Ich habe etwas gespürt. Geht es dir gut? Was ist mit Ethan?« »Ethan geht es schlecht.« Im Nu bin ich aus dem Bett und laufe zur Tür. »Er braucht deine Hilfe. Komm, wir müssen sofort los!« Kaum sind wir auf dem Flur, öffnet sich die Tür von Mums Schlafzimmer. Jimmy tritt heraus und wirft mir etwas zu – einen Schlüsselbund. »Nimm meinen Jeep, dann seid ihr schneller.« Einige Minuten später, die mir wie eine Ewigkeit vorkom men, sind wir auf halber Höhe des Berges angekommen und klettern aus dem Wagen. Da fällt mir ein, dass sich Arkarian nicht in seinen Kammern aufhält. »Wie wird sich die geheime Tür öffnen, wenn Arkarian in der Festung ist?« »Arkarian kann sie vom abgelegensten Ort aus öffnen. Los jetzt!« Noch während Isabel spricht, formt sich die Öffnung. So bald wir hindurchgeschlüpft sind, ruft sie seinen Namen, und schon werden wir weggetragen, bis wir schließlich vor der Tür des Heilungsraums stehen, wo uns Arkarian bereits erwartet. Isabel prescht vorwärts, als wären Arkarian und die geschlos sene Tür aus Luft. Doch Arkarian hält sie zurück und zwingt sie, stehen zu bleiben. »Isabel, beruhige dich erst mal.« »Lass mich zu ihm, Arkarian. Wertvolle Sekunden …« »… solltest du dazu nutzen, deine Gedanken zu sammeln. 108
Da drin erwartet dich eine Menge Arbeit, und um sie zu tun, musst du dich konzentrieren können. Versuche an nichts zu denken, Isabel. Du musst dich auf seinen Anblick vorberei ten.« »Wie schwer sind seine Verletzungen, Arkarian?« »Du wirst deine Kräfte brauchen wie nie zuvor. Diesmal reicht es nicht, ihn zu heilen. Damit Ethan überlebt, musst du seine lebenswichtigen Organe … neu bilden.«
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Kapitel 8
Rochelle
Ich treffe als Erste zu der angesetzten Besprechung ein. Nicht einmal Arkarian ist da, trotzdem gelange ich ohne Schwierig keiten in seine Kammern. Auf der Suche nach dem richtigen Raum schlendere ich umher und probiere mehrere Türen. Die meisten Zimmer sind unmöbliert, manche sind mit Turngerä ten und Matten ausgestattet. Die große Kammer mit ihrem achteckigen Grundriss liegt in völliger Dunkelheit. Das Holo gramm ist schwarz und unbewegt. Irgendetwas ist passiert. Etwas Schreckliches. Angst steigt in mir auf. Ich versuche, mir alles ins Gedächtnis zu rufen, was ich über die Ereignisse der letzten Nacht weiß. Es gab ver schiedene Aktivitäten. Jimmy und Mr Carter sind zu einer Mission aufgebrochen, während Ethan und Matt Kapitän Cook retten sollten. Was Isabel und Shaun vorhatten, weiß ich nicht. Ich war mit Neriah zusammen, und bei ihr schien trotz des Eindringlings alles in Ordnung zu sein. Ein Geräusch im Flur lässt mich herumwirbeln. Es ist Jim my. Ohne ein Wort der Begrüßung öffnet er eine Tür zu seiner Linken. »Die Besprechung findet hier statt.« Ich folge ihm in einen Raum mit einem runden Holztisch und hölzernen Stühlen. Als ich die Tischplatte berühre, weiß ich sofort, dass es sich um ein antikes Möbel handelt. Das Holz ist mehr als tausend Jahre alt. Englische Eiche. »Was ist letzte Nacht passiert?« 110
»Es gab einen … Vorfall.« Ich spüre einen Kloß im Hals. »Wurde jemand verletzt?« In diesem Moment treten Shaun und Mr Carter durch die Tür. Sofort spüre ich Shauns Anspannung. Obwohl seine Gedanken wie ein wirres Knäuel sind, nehme ich seine Ver zweiflung deutlich wahr. Und der Anlass dafür ist Ethan! »Shaun, was ist denn bloß passiert?« Er sieht mich quer durch den Raum an. Ich klammere mich an einer Stuhllehne fest. »Es gab eine Explosion.« Er schluckt schwer, sein Blick flackert nervös umher. Mir ist so beklommen zu Mute, als wäre ich in eine zehn Nummern zu kleine Zwangsjacke geschnürt. »Wie geht es ihm, Shaun? Ist Isabel bei ihm?« Die flachen Hände schwer auf den Tisch gestützt, stöhnt er auf. Seine Augen wirken besorgt und müde. »Isabel ist seit Stunden bei ihm. Mir wurde gesagt, dass wir über seinen Zustand bald Näheres erfahren.« Matt trifft ein, er ist übel zugerichtet. Die Kleider hängen ihm in Fetzen vom Leib, die Haare sind zerzaust. Doch es sind vor allem seine Augen, die von seinem tiefen Kummer zeugen. Shaun stürzt sich sofort auf ihn. »Sag uns, was du weißt.« Aber Matt hat keine neuen Informationen für uns. Er lässt sich auf den nächsten Stuhl fallen. »Arkarian hat mich schon vor Stunden fortgeschickt. Er wollte, dass ich mich ausruhe, und hat mich in einen Ruheraum gesteckt. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.« Als ich von einem zum anderen blicke, kocht Wut in mir hoch. »Irgendwer muss doch was wissen! Wo ist Arkarian? Er wird es uns sagen!« Plötzlich greift jemand nach meinen Händen, es ist Jimmy. 111
Kurz nach der Berührung zuckt er zurück. »Wahnsinn, Mäd chen. Schau, was du angestellt hast!« Ich senke den Blick. Das Holz der Stuhllehne ist unter mei nen Fingern verkohlt. Brandgeruch erfüllt den Raum. Unter den verblüfften Blicken der anderen komme ich mir vor wie ein Monster. Rasch verstecke ich die Hände hinter meinem Rücken, wo sie unbemerkt in einen niedrigeren Energiezustand übergehen. Stille senkt sich über den Raum, und niemand hat das Ver langen, das Schweigen zu brechen. Als ich spüre, dass meine Hände nicht mehr so stark geladen sind, ziehe ich vorsichtig einen unbeschädigten Stuhl heran, setze mich und warte. Endlich nimmt Arkarian vor uns Gestalt an. Noch bevor wir ihn mit Fragen bestürmen können, stellen wir fest, dass sich eine weitere Person zu uns gesellt, Isabel. Ihr Körper taucht mit einer kleinen Verzögerung neben Arkarian auf, als wäre sie unglaublich erschöpft. Sobald sie ganz angekommen ist, stützt Arkarian sie mit dem Arm. Isabels schlechte körperliche Verfassung ist alles andere als ein gutes Zeichen. Shaun und Matt springen auf. Zur Begrüßung streicht Isa bel ihrem Bruder sanft über den Arm. Er bietet ihr einen Stuhl an, auf den sie entkräftet sinkt. Arkarian hebt die Hand, um für Ruhe zu sorgen. Aber mir ist es unmöglich zu schweigen. Ich muss einfach wissen, ob Ethan gesund ist, und zwar sofort! Arkarian, dem nicht entgeht, wie aufgewühlt ich bin, wirft mir einen kurzen Blick zu. Dann bemerkt er den beschädigten Stuhl und runzelt die Stirn. In Gedanken schreie ich ihm zu, dass der Stuhl unwichtig ist. Sag uns endlich, was mit Ethan ist! Guter Gott, ich mach mich zum Narren. Aber ich kann nicht anders. 112
Schließlich verkündet Arkarian: »Ethan geht es gut.« Alle seufzen erleichtert auf und beginnen zu tuscheln. »Er braucht noch eine Weile, um sich zu sammeln, dann kommt er auch.« Die Welle der Erlösung, die mich durchströmt, ist so gewal tig, dass ich die Tränen nicht zurückhalten kann. Gleich darauf nimmt Ethan vor uns Gestalt an. Rasch wende ich mich ab, damit er und die anderen nicht sehen, dass ich weine. Hinter mir höre ich, wie sie ihn begrüßen, und wünschte mir, es ihnen gleichzutun. Ich möchte Ethan so gern zeigen, wie froh ich darüber bin, dass er wieder gesund ist. Aber was würde er denken, wenn ich ihn wie die anderen umarmen würde, mit Tränen in den Augen? Schließlich legt sich die Aufregung und auch ich gewinne meine Fassung zurück. Ich drehe mich um und setze mich schnell, weil ich ein wenig wacklig auf den Beinen bin. Als Ethan den Blick auf mich richtet, begrüße ich ihn. »Willkom men zurück.« Als Antwort nickt er nur, dann bemerkt er den Stuhl neben mir. »Was ist passiert? Der Stuhl sieht schlimmer aus als ich vor ein paar Stunden.« »Ach, das«, entgegne ich, bevor mir jemand zuvorkommen kann. Kurz hebe ich meine stromgeladenen Hände hoch. »Ein unerwarteter Energieschub. Ich muss mich erst noch daran gewöhnen.« Ethan akzeptiert meine Erklärung, dann schließt er kurz die Augen. Als er sie wieder öffnet, ist der Stuhl repariert, er ist so gut wie neu. Alle, die um den Tisch versammelt sind, applaudieren und rufen Beifall. Bevor unsere Kräfte stärker wurden, konnte 113
Ethan Objekte nur in Bewegung versetzen. So hat er damals Isabels Aufmerksamkeit auf sich gezogen, indem er den Füller kreiseln ließ. Und erst gestern hat er den Felsbrocken von Mr Carters Beinen gehoben, als die Maschinen versagten. An scheinend kann er jetzt sogar Gegenstände wiederherstellen. Zwischen all den Beifallsrufen ist Mr Carters Stimme zu vernehmen. »Warum zum Teufel hast du denn bloß ein Bündel Dynamit in der Hand gehalten?« Ethan erwidert seinen Blick. »Aber das habe ich gar nicht.« »Häh?« Arkarian ergreift das Wort. »Wenn Ethan die Bombe gehal ten hätte, als sie explodierte, wäre er jetzt nicht mehr hier.« Mr Carter möchte mehr wissen. »Was genau ist passiert, Ethan?« »Das ist doch unwichtig«, fällt ihm Matt barsch ins Wort, um jede weitere Diskussion darüber zu verhindern. Doch Mr Carter versteht den Wink nicht. »Und ob das wichtig ist. Erzähl es uns, Arkarian, das klingt interessant.« »Nein!« Mr Carter erstarrt. Matt mäßigt seinen Ton. »Hören Sie, dank Isabel geht es Ethan jetzt wieder gut. Mehr müssen wir doch nicht wissen.« Um von diesem peinlichen Moment abzulenken, eröffnet Arkarian die Zusammenkunft. »Zunächst möchte ich euch dafür danken, dass ihr angesichts der schwierigen Umstände der letzten Nacht gekommen seid.« Da fällt mir wieder ein, was ich Neriah versprochen habe, als ich gestern ins Auto einstieg. »Ach, ich muss euch etwas sagen.« Alle heften den Blick auf mich. »Ich habe Neriah eingeladen.« »Zu dieser Besprechung?«, fragt Arkarian ungläubig, wäh rend die anderen zu murmeln beginnen. 114
»Ich habe sie gestern Abend zu Hause besucht.« »Aber Rochelle«, beginnt Mr Carter mit einem selbstgefälli gen Lächeln. »Was denkst du dir dabei, ganz allein so eine wichtige Entscheidung in unser aller Namen zu treffen?« Als Arkarian ihm einen Blick zuwirft, zucken seine Augen. »Was Marcus damit meint, ist Folgendes: Wie kommst du zu der Annahme, dass Neriah dazu bereit ist?« »Sie ist stärker, als ihr glaubt.« »Das wüsste ich, Rochelle, schließlich sehe ich sie täglich in der Schule. Ich verfolge ihre Fortschritte«, entgegnet Mr Carter verächtlich. »Und Sie packen sie dauernd in Watte. Das ist ein Fehler. Sicher, sie wirkt ein bisschen zerbrechlich. Aber wenn man bedenkt, wie sie aufgewachsen ist – mit Privatlehrern und Leibwächtern, die ihr auf Schritt und Tritt gefolgt sind –, ist das kein Wunder. Natürlich benimmt sie sich in einer norma len Schule erst mal etwas schüchtern. Schließlich ist sie die Gesellschaft so vieler Menschen nicht gewöhnt. Still mag sie sein, aber nicht schwach.« »Nur – wie viel weiß sie?«, erkundigt sich Matt. »Sie weiß, dass uns ihre Einführung … vollzählig machen wird.« Meinen Worten folgt Schweigen, und jeder sucht den Blick der anderen. »Die Vereinigung der Auserwählten«, flüstert Arkarian. Alle nicken. »Es gibt da noch etwas.« »Erzähl es uns«, ermuntert mich Arkarian. »Sie macht sich Sorgen.« Seine Stirn legt sich in tiefe Falten. »Dann werden wir sie anhören. Wann kommt sie?« 115
»Jetzt.« Arkarian benutzt seine Schwingen und verschwindet vor unseren Augen. Er wird sie draußen treffen. Das macht er nicht oft; es ist zu riskant, wenn man ihn in unserer Welt sieht. Doch schon nach wenigen Minuten öffnet sich die Tür und er ist zurück. In Begleitung von Neriah. Shaun steht als Erster auf und begrüßt sie. Er haucht ihr einen Kuss auf jede Wange. »Was für eine attraktive junge Frau aus dir geworden ist. Du bist das Ebenbild deiner Mutter. Wie geht es ihr denn?« »Gut, danke.« »Ich bin froh, dass wir endlich Gelegenheit haben, dich kennen zu lernen. Es gibt so vieles, über das ich mit dir reden möchte.« Neriah horcht auf. Ihre dunkelbraunen Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, als sie ihn nachdenklich mustert. »Ich weiß, dass Sie es waren, der das Gesicht meines Vaters entstellt hat. Aber grübeln Sie bitte nicht mehr über die Ver gangenheit nach. Sie waren nur der Auslöser für das, was geschehen musste.« »Du bist genauso liebenswürdig wie deine Mutter.« Shaun setzt sich, als Jimmy an seine Stelle tritt und Neriah zur Begrüßung umarmt. Wir Übrigen kennen sie bereits, schließlich ist sie schon seit einigen Wochen bei uns an der Schule. Als Arkarian für Neriah einen Stuhl holt, nimmt sie mir gegenüber an Shauns Seite Platz. Sie lächelt mir dankbar zu und gibt mir damit zu verstehen, wie froh sie ist, hier zu sein. Arkarian wirft einen Blick in die Runde und setzt die Be sprechung fort. »So, nun sind wir neun. Und …«, fügt er hinzu, »es gibt Nachricht aus Athen, dass König Richard 116
vollständig geheilt ist und seinen Platz im Hohen Rat einneh men kann. Nun hat Veridian endlich seinen König.« Über Ethans Gesicht geht ein Strahlen. »Ja!« Er reckt die geballte Faust in die Luft. Seine Begeisterung ist verständlich. Schließlich hat er König Richards Leben in der Vergangenheit gerettet und seinen Körper durch die Zeit transportiert. Auch Matt freut sich, aber aus anderen Gründen. Er seufzt seltsam erleichtert auf. »Endlich! Jetzt braucht ihr mich nicht mehr.« Alle wissen, worauf Matt hinauswill, aber er täuscht sich, und auch das ist jedem klar. Arkarian erklärt es ihm: »Matt, König Richard lebt und herrscht weit weg von uns. Er ist Veridians Vertreter im Hohen Rat. Gemäß der Prophezeiung wirst du die Auserwählten, uns neun hier, führen – in die Schlacht.« Matt schlägt mit der Faust auf den Tisch und dreht das Ge sicht zur Wand. Ungerührt fährt Arkarian mit der Besprechung fort und erklärt uns, warum wir zusammengerufen wurden. »Gestern sind Rochelle, Matt und ich in die Unterwelt gereist, um den Schlüssel zur Waffentruhe zu suchen.« Aus dem einsetzenden Gemurmel ist Mr Carter deutlich herauszuhören. »Ausgezeichnet! Habt ihr ihn gefunden?« »Unglücklicherweise sind wir zu spät gekommen«, erwidert Arkarian mit gepresster Stimme. »Willst du damit sagen, dass Lathenia ihn jetzt hat?«, bohrt Shaun nach. »Wir nehmen an, dass er in einem Gewölbe ihres Palastes sicher verwahrt liegt.« »Und gibt es schon einen neuen Plan?«, erkundigt sich 117
Jimmy. »Du weißt, dass ich ziemlich gut Schlösser knacken kann.« Arkarian lächelt ihm zu. »Ja, das weiß ich, Jimmy. Und es gibt tatsächlich einen Plan. Einige von uns werden zu Latheni as Palast auf dem Olymp reisen, aber diese Mission hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn …« Er hält inne, und die Atmo sphäre im Raum ist zum Zerreißen gespannt. Mit einem Blick auf Matt fährt er fort: »… wenn Matt seine Kräfte bekommt.« »Na toll!«, schreit Matt auf. »Wir wissen doch alle, dass das noch ewig dauern kann!« »Matt«, versucht Arkarian ihn zu besänftigen. »Was denkst du? Wie war es möglich, dass du die explodierende Sprengla dung an deine Brust halten konntest, als wäre sie nichts weiter als eine Plastilinkugel, ohne mehr als ein paar Kratzer abzu kriegen?« Matt blickt Arkarian mit großen Augen an. »Du verfügst bereits über deine Kraft, Matt. Und dein neuer Ausbilder wird dir zeigen, wie du sie in Gang setzt und unter Kontrolle hältst. Schon morgen.« Alle tuscheln aufgeregt. Isabel, die immer noch einen erschöpften Eindruck macht, fragt als Erste: »Kann ich ihn begleiten?« Arkarian legt ihr die Hand auf die Schulter und sieht sie mit einem Blick von solcher Zärtlichkeit und Bewunderung an, dass keiner der Anwesenden je an seiner tiefen Liebe zu ihr zweifeln könnte. »Deine einzige Aufgabe morgen besteht darin, dich gründlich auszuruhen.« Dann fährt er an uns gewandt fort: »Zu dieser Reise muss Matt sich allein aufma chen. Und wenn er zurück ist, werden wir den Schlüssel aus Lathenias Palast holen. Dann wird der Zeiger an der Waage der Macht endlich wieder zu unseren Gunsten ausschlagen.« 118
Daraufhin fordert Arkarian Neriah auf, nun ihr Anliegen vorzubringen. Nervös lächelnd blickt sie in die Runde und erhebt sich. »Letzte Nacht hat bei mir zu Hause jemand das Sicherheitssystem durchbrochen.« »Was ist passiert?«, will Arkarian wissen und setzt sich. »Es geschah, als Rochelle mich besucht hat.« »Na, das erklärt doch alles«, unterbricht sie Mr Carter. »Marcus!«, fährt ihn Arkarian vorwurfsvoll an. Ich ergreife das Wort. »Als ich durch den Garten gegangen bin, habe ich die Gedanken von jemandem wahrgenommen, der sich in unmittelbarer Nähe aufhalten musste. Ich habe nach der Quelle gesucht und ein Geschöpf entdeckt, das einem Tier ähnelte. Das hat mich erstaunt, denn ich hatte einen Menschen erwartet.« »Was glaubst du, was es war?«, erkundigt sich Arkarian. »Vielleicht ein Hund. Seine Augen haben silbrig geschim mert.« »Ist dir an diesem Geschöpf noch etwas aufgefallen? Irgend etwas Ungewöhnliches?«, bohrt Arkarian weiter. »Als es bemerkte, dass ich es entdeckt hatte, ist es davonge rannt.« »Und hat es da immer noch einem Hund geähnelt? Oder hat es zum Sprung angesetzt? Oder ist es gehoppelt wie ein Kaninchen?«, fragt Jimmy. Als ich darüber nachdenke, kommen mir die unheimlich schimmernden Augen des Geschöpfs in den Sinn und dass es zuerst den Kopf und danach den Rest des Körpers zu mir gewandt hat. »Ich weiß nur noch, dass es schlank, anmutig und schnell war.« »Ich werde eine gründliche Untersuchung des Geländes organisieren und die Sicherheitsvorkehrungen verstärken«, 119
sagt Arkarian zu Neriah. »Außerdem werde ich die Wachen deiner Mutter verdoppeln. Aber auch du musst aufpassen, Neriah. Nicht nur das Leben deiner Mutter ist in Gefahr.« »Mein Vater hat es nicht auf mich abgesehen, Arkarian. Er möchte meine Mutter töten, weil er auf Rache sinnt. Sie steht ganz oben auf seiner Liste.« In meinen Augen ist Neriahs Glaube an die eigene Sicher heit naiv. »Aber Neriah, Marduke hat auch versucht, Isabel zu töten, obwohl sie ihm nichts getan hat.« »Sie war Teil seines Plans, an Shaun Vergeltung zu üben. Er benutzt die Menschen wie Werkzeuge.« Ihre präzise Einschätzung von Mardukes Charakter reizt mich zu einer Bemerkung. »Du scheinst eine Menge über jemanden zu wissen, den du nicht mehr gesehen hast, seit du ein Kleinkind warst.« Mit hochrotem Gesicht starrt sie auf ihre Hände. Mr Carter kommt ihr zu Hille. »Was soll denn das jetzt hei ßen?« »Gar nichts«, entgegne ich schnell. »Es ist nur so, dass ich Marduke kenne. Er manipuliert gern und kann einen dazu … überreden, fast alles zu tun.« Für meine Worte ernte ich skeptische Blicke, nur Arkarian versteht, worauf ich abziele. »Wann hast du deinen Vater zum letzten Mal gesehen, Neriah?« Nach kurzem Zögern entgegnet sie entschieden: »An dem Morgen, an dem er die Hälfte seines Gesichts verloren hat.« Damit ist alles zu diesem Thema gesagt, und nach einer Weile unbehaglichen Schweigens kommt Arkarian auf den eigentlichen Zweck der Sitzung zu sprechen. Er steht auf, und alle folgen ihm mit den Augen. »Als Matt, Rochelle und ich in die Unterwelt gereist sind, haben wir etwas gesehen …« Er 120
hält kurz inne, um sich zu sammeln. »Wir haben Marduke gesehen, der ein Heer der lebenden Toten befehligt hat.« »Was!«, ruft Mr Carter. »Das ist ja grauenhaft!« »Erzähl uns, was genau du beobachtet hast«, fordert Shaun. Arkarian hebt die Hand, um Ruhe zu schaffen. »Ihr habt bereits von den Zaunkönigen gehört – Wesen, die zum Teil Mensch, zum Teil Schwein und zum Teil Vogel sind. Für diejenigen von euch, die noch keinen gesehen haben: Man kann sie leicht an ihren roten Augen und den unbeholfen wirkenden Flügeln erkennen.« Das einsetzende Gemurmel verebbt rasch wieder, als Arka rian fortfährt. »Doch es gibt auch noch andere Geschöpfe, Tausende, und sie sind nach menschlichem Ermessen alle tot. Höchstwahrscheinlich wird Marduke zunächst eine Einheit von Spähern aussenden. Vielleicht Zaunkönige, vielleicht auch nicht. Ich möchte, dass jeder von euch wachsam ist. Sobald ihr irgendetwas Verdächtiges seht, müsst ihr euch gegenseitig und auch mich schnell verständigen.« »Was hat das alles zu bedeuten, Arkarian?«, fragt Jimmy. »Es bedeutet, dass Marduke vorhat, die Erde mit Geschöp fen zu erobern, gegen die wir mit normalen Waffen nichts ausrichten können.« »Wie sollen wir sie dann bekämpfen?« »Nicht mit Schusswaffen oder normalen Schwertern.« »Irgendeine Waffe muss es doch geben!«, ruft Mr Carter aufgeregt. »Die Zaunkönige fürchten das Wasser.« »Woher weißt du das?« »Während der Vernehmung hat sich Dillon als hervorra gender Informant erwiesen. Unter Lathenias Kriegern nahm er einen hohen Rang ein und verfügte über ein außergewöhn 121
liches Wissen. Er hat nicht gezögert, es mit uns zu teilen. Seine Befragung ist nun beinahe beendet. Er wird sich euch bald als Mitglied der Wachen anschließen.« Das ist eine unglaubliche Neuigkeit. Dillon war nur kurze Zeit weg. Die anderen am Tisch tuscheln und flüstern. »Ist das denn klug?« Mr Carter meldet als Erster Bedenken an. Arkarian wartet, bis wieder Ruhe herrscht. »Uns steht dieses Urteil nicht zu. Soweit ich weiß, machen ihn sein Wissen und seine Erfahrung zu einem wertvollen Mitglied. Er hat eng mit den Zaunkönigen der Unterwelt zusammengearbeitet und uns anvertraut, wie man sie vernichten kann.« »Mit Wasser?«, fragt Shaun. »Ihre Flügel sind lästig und ziemlich nutzlos. Unter Wasser werden sie klumpig und schwer. Die Zaunkönige geraten in Panik, gehen unter und kommen um.« »Nun, das ist immerhin ein Anfang. Kann man diesen Zaunkönigen noch auf irgendeine andere Art den Garaus machen?« Arkarian lenkt den Blick zu Matt. Als Matt es bemerkt, wendet er das Gesicht ab. »Wir brauchen die Waffen aus der Waffentruhe.« »Verdammt noch mal!«, ruft Mr Carter aus. »Wir haben aber den verfluchten Schlüssel nicht. Und wir müssen warten, bis Matt von seiner Reise nach was weiß ich wohin zurück kommt, bevor wir uns überhaupt auf die Suche machen können! Bleibt uns denn dazu noch genug Zeit, Arkarian?« »Vermutlich nicht, Marcus. Aber wie viel Zeit uns auch zur Verfügung stehen mag, sie wird uns reichen müssen.«
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Kapitel 9
Matt
Isabel schläft schon seit achtzehn Stunden wie ein Murmel tier. Am liebsten würde ich sie nicht aufwecken, aber ich muss mich verabschieden. Arkarian wartet in seinen Kammern auf mich. Sanft rüttle ich sie wach. »Isabel.« Schlagartig fährt sie aus dem Schlaf und krallt die Hände in ihre Bettdecke. »Ist was mit Ethan?« »Es geht ihm gut.« Während sie langsam zu sich kommt, wird ihr klar, warum ich hier in ihrem Zimmer bin. Sie setzt sich auf und streicht sich mit der Hand durch das zerzauste Haar. »Musst du schon los?« Ich nicke und setze mich neben sie aufs Bett. »Weißt du, wie lange du fortbleiben wirst?« »Nein, aber Arkarian sagt, da, wo ich hingehe, wird die Zeit nach anderen Maßstäben gemessen als bei uns. Die Menschen dort beachten sie gar nicht. Also bin ich womöglich einige Monate lang weg oder auch nur ein paar Tage. Ich habe Mum erzählt, dass ich für die restlichen schulfreien Tage in den Norden fahre, um ein paar Freunde zu besuchen und der Kälte hier zu entfliehen.« Isabel nickt, kann jedoch ihre Besorgnis nicht verbergen. Sie beißt sich auf die Unterlippe, und als sie mich anblickt, lese ich Fragen in ihren Augen. 123
Ich wünschte, sie würde mir erzählen, was sie so quält. Es muss mit etwas zu tun haben, das in der Unterwelt passiert ist. So will ich sie nicht zurücklassen. »Seit wir aus der Unterwelt zurückgekehrt sind, steht etwas zwischen uns. Als würden wir etwas voreinander verbergen. Aber ich habe keine Geheimnisse, Isabel. Nicht vor dir.« Sie holt tief Luft. »Dann weißt du es wirklich nicht?« Wovon redet sie eigentlich? »Was meinst du?« »Du bist der Ältere. Du solltest dich an Dinge aus unserer Kindheit besser erinnern können als ich.« »Meinst du, dass Dad uns verlassen hat? Dieser Tag ist mir genau im Gedächtnis geblieben.« »Es geht nicht nur um diesen Tag, Matt. Über was habt ihr euch immer unterhalten? Wie weit reichen deine Erinnerun gen zurück?« »Ich kann mich an einige seltsame Dinge aus meiner Kind heit erinnern, die nicht viel Sinn ergeben.« »Erzähl mir, was du noch weißt. Erzähl mir alles.« Nachdenklich schweift mein Blick zu dem Filmposter an der Wand. Wie viel soll ich ihr anvertrauen? Einige meiner frühesten Erinnerungen sind zu bizarr, um sie laut auszuspre chen. Doch ich beschließe, ehrlich zu sein; ich habe diese Verwirrtheit satt. Und vielleicht versteht Isabel ja, wovon ich rede. »Meine früheste Erinnerung ist der Zeitpunkt meiner Zeugung.« Na ja, wohl doch nicht. Sie sieht mich an, als wolle ich sie veräppeln. »Wenn ich lieber aufhören soll …« Doch sie beugt sich zu mir und legt mir die Hand auf den Arm. »Nein. Sprich weiter.« »Okay. Es kommt mir so vor, als hätte ich schon bei meiner 124
Zeugung alles sehende Augen und voll entwickelte Gefühle besessen. Ich kann mich sogar an das erste Schlagen meines Herzens erinnern.« »Ich weiß nicht, warum, aber ich glaube dir, Matt. Es ist nur schwer, sich so etwas vorzustellen. Sag mir, was dir … zu unserem Vater einfällt.« Ich stütze die Ellbogen auf die Knie und starre auf den Bo den. Wie soll ich die Schuldgefühle erklären, die ich tief im Innern verspüre? Und dass ich den starken Verdacht habe, der Grund, warum unser Vater uns verlassen hat, liege bei mir. »Ich entsinne mich, dass er dich geliebt, ja, geradezu angebetet hat. Und dass er mich ablehnte.« Der Griff ihrer Hand um meinen Arm wird fester. »Weißt du noch, wie wir in der Unterwelt waren und durch den Berg aus Eis gehen mussten?« »Ja, das war unglaublich! Eine irre Erfahrung!« »Für mich nicht. Ich fand es furchtbar.« Davon hatte ich nicht die leiseste Ahnung. »Erzähl mir da von.« »Ich bin ihm begegnet. Er hat mir ein paar Dinge anver traut.« Tief in meinem Innern breitet sich ein stilles Grauen aus. »Was hat er gesagt?« »Er hat mir erzählt, dass … dass du nicht sein Sohn bist.« Ihre Worte sind für mich ein Schock, doch ich spüre, dass es wahr sein muss. »Das hab ich mir fast gedacht.« »Warum sagst du das?« »Hast du dich denn nie gewundert, warum er mich so oft mit dem Gürtel verprügelt, dir dagegen niemals auch nur ein Härchen gekrümmt hat?« Hilflos sieht sie mich an. Klar, was hätte sie damals auch tun 125
sollen? Wäre er jedoch auf sie losgegangen, hätte ich es nicht zugelassen! Zumindest hätte ich versucht, es zu verhindern. Mit dem Gürtel in der Hand war er mir überlegen. »Er hat mich auf Distanz gehalten, und das habe ich gespürt.« »Ich war noch zu jung, um das zu verstehen. Er war einfach mein Dad und ich hatte ihn lieb.« Für einen Augenblick hängen wir beide unseren Gedanken nach. »Wer also ist mein Vater?«, frage ich, erwarte jedoch nicht wirklich eine Antwort darauf. Sie setzt sich kerzengerade hin und plötzlich füllen sich ihre Augen mit Tränen. »Ich glaube, du wirst es sehr bald heraus finden.« Erregt springe ich auf und laufe wie ein Tiger im Käfig im Zimmer hin und her. »Ist das dein Ernst? Hat Arkarian ir gendwas in der Richtung zu dir gesagt?« »Nein. Nicht direkt.« Die Tränen, die sie so lange zurückzuhalten versucht hat, kullern ihr über die Wangen. Genau das kann ich kaum ertragen. Ich hasse es, sie so aufgelöst und besorgt zu sehen. »Was ist los, Isabel? Warum weinst du? Mir wird bestimmt nichts passieren. Ich habe die feste Absicht zurückzukom men.« Sie zwingt sich zu einem Lächeln. »Ich habe Angst, dass dich diese Reise verändern wird. Du wirst Dinge über dich selbst und dein Erbe herausfinden, die dich von mir und deiner Familie entfernen werden.« »Niemals!« »Vielleicht kannst du dich ja gar nicht dagegen wehren.« Ein leises Klopfen an der Tür unterbricht unsere Unterhal tung. »Du musst dich beeilen, Matt. Es ist Zeit«, mahnt Jim my. 126
Ich drehe mich noch einmal zu meiner Schwester um. Plötzlich verschwimmt auch mein Blick und ich nehme sie fest in die Arme. »Was ich auch über mich herausfinden mag, ich werde immer dein Bruder sein. Uns eint dasselbe Blut, das Blut unserer Mutter. Nichts und niemand kann uns je tren nen. Ist das klar?« Sie nickt, bleibt mir jedoch eine Antwort schuldig.
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Kapitel 10
Rochelle
Ethan
beginnt mit Neriahs Ausbildung, und Arkarian hat bestimmt, dass ich bei jedem Training dabei bin. Eine gute Idee, denn von uns allen kann vermutlich ich Marduke am besten einschätzen. Der Nachteil daran ist, dass ich Ethan und Neriah ständig zusammen erlebe. Sie sehen gut zusammen aus. Sogar sehr gut. Bisher ist er mit ihr den üblichen Ablauf durchgegangen, um herauszufinden, wo ihre Begabungen liegen. Ein Teil des Trainings befasst sich mit der Stärkung ihrer übernatürlichen Fähigkeiten. Und da sie noch an keiner Mission teilgenommen hat, muss er sie auch darauf vorberei ten. Ethan erkennt schnell, dass eine von Neriahs Kräften ihre künstlerische Begabung ist. In ihren Zeichnungen steckt mehr, als es den Anschein hat. Ich habe einige von ihnen schon in der Schule bewundert. Sie sind wirklich etwas Besonderes. Ob es sich um eine Kohlezeichnung handelt, ein Ölgemälde oder eine andere Maltechnik, ihre Bilder wirken alle sehr lebendig. Gerade gibt sie Ethan ein Beispiel ihres Könnens. Ich trete näher, um zu verstehen, was sie sagt. »Es spielt keine Rolle, womit ich zeichne – mit einem Pinsel, einem Holzstäbchen oder einfach einem Ast. Schau …« Sie hebt einen ovalen Kieselstein vom Boden auf und ritzt damit etwas in einen Fels. Ethan beugt sich interessiert zu ihr hinab. Als sich beide wieder aufrichten, wirkt er verblüfft. Neugierig geworden, 128
überspringe ich den schmalen, mit einer dünnen Eisschicht bedeckten Bach, der uns trennt. Ethan sieht mich kommen. »Das musst du dir anschauen!«, ruft er mir zu. Neriah kichert, greift nach dem Kieselstein und ritzt den Umriss eines kleinen Tieres, das einer Maus ähnelt. Kaum ist sie damit fertig, erwacht die Zeichnung buchstäblich zum Leben – in Form einer echten, quicklebendigen Maus, die geradewegs auf mich zuflitzt. »Wow! Ist das eine Illusion?« Ich will zur Seite springen, aber schon beginnt die Maus sich aufzulösen und ist ver schwunden. »Das weiß ich nicht«, erwidert Neriah achselzuckend. »Bis her hält die Animation nur einige Sekunden lang an.« »Ihre Kräfte sind noch in Entwicklung«, erklärt Ethan. »Ar karian glaubt, dass Neriah eines Tages die Fähigkeit besitzen wird, mit wenigen Pinselstrichen ein Zeitportal zu öffnen.« »Wirklich beeindruckend.« Ich meine es ernst. Wenn sie das erst einmal schafft, wird sie von großem Wert für die Zeithüter sein. Momentan kontrolliert Lathenia das Öffnen der Portale. »Wir sollten wieder umziehen«, sagt Ethan plötzlich. Heute Morgen haben wir beschlossen, nicht zu lange an ein und derselben Stelle zu verweilen. Bisher haben wir schon dreimal den Standort gewechselt. Ich deute auf ein Feld auf der anderen Seite des Sees, aber Ethan schüttelt den Kopf. »Dort habe ich früher mit Isabel trainiert.« Eigentlich will er erklären, dass dort eines Abends Marduke erschienen ist, um ihnen eine Botschaft zu überbringen. Doch er spricht es nicht aus, weil er Neriah nicht beunruhigen will. Als er mich an sieht, wird ihm klar, dass ich wieder einmal seine Gedanken 129
gelesen habe. Seine Augen werden schmal vor Zorn und Abscheu. »Schau …« Ich fühle mich bemüßigt, mich zu verteidigen. »Ich mache es doch nicht mit Absicht. Du solltest lernen, deine Gedanken besser abzuschirmen. Schließlich bin ich nicht die Einzige, die Gedanken lesen kann. Zumindest sind deine Gedanken bei mir in sicherer Obhut.« »Ach, wirklich?« Alle misstrauen mir, aber mit Ethans Misstrauen kann ich am wenigsten umgehen. »Natürlich, verdammt noch mal!« Neriah blickt von einem zum anderen, aber sie hat ihre Ge danken sicher abgeschirmt – daran sollte sich Ethan ein Bei spiel nehmen. Ich wende den Blick ab, bevor er merkt, wie sehr mich sein Argwohn trifft. Die Sache ist die: Wenn diese Menschen mir schon nicht vertrauen, wie kann ich dann jemals hoffen, mir selbst wieder zu vertrauen? Vielleicht hatte Marduke Recht. Vielleicht kann man das Böse in sich nicht wirklich besiegen. Wenn du es einmal im Blut hast, bleibt es für immer da, schlummert tief in deinem Innern, bis es durch irgendein Ereignis wieder zum Leben erweckt wird. Ist das bei meinem Vater der Fall? Für das, was er meiner Stiefmutter angetan hat, sitzt er immer noch im Gefängnis. Marduke hat das Böse in mir gesehen. Er hat es gespürt. Wenn ich bedenke, was ich getan, wen ich alles verletzt habe. Ob sich ein Mensch wirklich ändern kann? Ich wende mich ab, springe wieder über den Bach und laufe den Hügel hinunter. Erst als ich unten angekommen bin, bemerke ich, dass Ethan mir gefolgt ist. »Warte, Rochelle.« »Was willst du?« 130
»Ich vertraue dir.« Wortlos starre ich ihn an. »Ich habe dir immer vertraut«, fährt er fort, »auch als der Hohe Rat den Verdacht hatte, dass du Mardukes Spionin bist, aber die Beweise fehlten. Ich habe mich damals für dich eingesetzt.« »Das hast du getan?« »Ja, und damals wusste ich nicht einmal, warum. Es war reine Intuition. Und die hat mich schließlich noch nie getro gen.« Er tritt zurück, beinahe ein wenig verlegen und vielleicht sogar verärgert über sich selbst, weil er mir dieses Geständnis gemacht hat. Rasch wirft er einen Blick zu Neriah, die oben auf uns wartet. Wir dürften sie im Grunde nie aus den Augen lassen, also ist Ethan ein ziemlich großes Risiko eingegangen, bloß um mit mir zu sprechen. »Ich wollte nur, dass du das weißt.« Abrupt wendet er sich ab und geht zurück. Ich folge ihm in kurzem Abstand und halte in der Umge bung nach verdächtigen Dingen Ausschau. Alles ist ruhig. Beinahe zu ruhig. Irgendetwas stimmt nicht. Jetzt könnte ich Mr Carters außergewöhnlich feines Gehör gut gebrauchen. Bei diesem Gedanken habe ich eine Eingebung, und ich beschlie ße, etwas auszuprobieren. Ich ziehe die Handschuhe aus, die Arkarian mir heute Morgen gegeben hat, und lege die Hände auf den Boden. Sofort formt sich in meinem Kopf ein Bild von der Erdkruste – Kalkstein, reich an Fossilien, über einer Lehm schicht. Ich versuche, diese Bilder beiseite zu schieben und andere Dinge zu »erspüren«. Plötzlich beginnt der Boden unter meinen Händen zu erzittern. Das Bild von Pferden stürmt auf mich ein. Von vielen Pferden. Ungezähmt und frei galoppieren sie rasend schnell die Talsohle entlang. Als ich 131
aufblicke, haben Ethan und Neriah beinahe schon die Hügelkuppe erreicht. Wenn sie in dieser Richtung weitergehen, werden die Wildpferde sie überrennen! »Halt, Ethan, bleibt stehen!« Er hat mich gehört und dreht sich fragend um. Wild gesti kulierend deute ich auf das bewaldete Gebiet zu unserer Rechten. Die Pferde werden kaum in den Wald laufen, wenn eine weite, offene Fläche vor ihnen liegt. »In den Wald! Beei lung!« Aber die Pferde sind zu schnell. Das Donnern der Hufe ist nun ganz deutlich zu vernehmen. Neriah schreit auf, als die riesige Herde mächtiger Tiere auf dem Hügelkamm auftaucht, nur wenige Meter von den beiden entfernt. Instinktiv streckt sie die Arme nach oben. Alles läuft rasend schnell ab. Gerade noch galoppieren die Pferde mit unglaublicher Geschwindigkeit dahin, da bäumen sie sich plötzlich auf und wirbeln mit den Vorderhufen durch die Luft. Ein atemberaubender Anblick. Ich renne so schnell ich kann. Bei dem Gedanken, was für eine Tragödie sich nun bestimmt oberhalb von mir abspielt, beginnt mein Puls zu rasen. Aber als ich den Hügelkamm erreiche, erwartet mich keine grausige Szene. Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Ich traue meinen Augen kaum. Die Herde ist plötzlich ruhig und friedlich. Spielerisch wetteifern die Tiere um Neriahs Auf merksamkeit. Leise vor sich hin summend reibt sie ihre Nase zärtlich am Kopf der Pferde. Eins nach dem anderen kommt zu ihr, wobei sich die Tiere in ihrem Eifer, jeweils das Erste zu sein, sanft anstupsen. Ethan ist ebenfalls sprachlos. Schließlich handelt es sich hier um Wildpferde, die bisher keinen Kontakt zu Menschen 132
hatten. Niemand würde versuchen, eines zu fangen, geschwei ge denn es zu zähmen. »Du hast eindeutig ein Gespür für Tiere«, bemerkt er anerkennend. »Wow!«, rutscht es mir zum zweiten Mal an diesem Tag heraus. »Was kannst du denn sonst noch alles?« Sie zuckt die schmalen Schultern. »Ich weiß nicht. Aber seit dem Tag, an dem sich unsere Kräfte verstärkt haben, passieren mir die seltsamsten Sachen.« Nachdem sie die Pferde noch eine Weile liebkost und ge streichelt hat, begeben wir uns auf den Weg ins Tal. Das aufregende Erlebnis hat uns hungrig gemacht, und Ethan zieht ein paar Sandwiches hervor. Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, etwas zu essen mitzunehmen, und habe nun richtig Hunger. Aber ich werde ihm nicht sein Mittagessen wegnehmen. »Ach nein, ist schon in Ordnung. Ich esse später was.« »Jetzt zier dich nicht so. Ich wusste, dass wir den ganzen Tag wegbleiben würden, daher habe ich auch ein Brot für dich eingepackt.« Tatsächlich sind noch zwei Sandwiches in der Dose. Als ich eines nehme, spüre ich, wie mir die Röte ins Gesicht schießt. Ob man sich noch dämlicher anstellen kann als ich heute? Wohl kaum. Nach der Mittagspause geht Ethan mit Neriah ein paar Selbstverteidigungstechniken durch, um zu sehen, wie ge schickt sie in den Kampfsportarten ist. Ich bleibe in der Nähe und beobachte sie, konzentriere mich jedoch sowohl auf die nähere Umgebung als auch auf die etwas weiter entfernt liegenden Felder. Neriah hat noch Schwierigkeiten mit einigen grundlegenden Verteidigungstechniken. Gerade steht Ethan hinter ihr, einen Arm um ihre Taille geschlungen, den ande 133
ren an ihrer Kehle. Ich kenne diesen Griff. Sie müsste sich fallen lassen, dabei Ethans Ellbogen nach unten ziehen und gleichzeitig mit dem Kinn den Würgegriff aushebeln. Ich habe die Übung schon unzählige Male durchexerziert, aber bevor es einem das erste Mal gelungen ist, erscheint es schier unmög lich. Sie bemüht sich zwar redlich, aber am Ende landen beide auf der Erde. Lachend helfen sie sich gegenseitig wieder auf. Ihr Anblick – was für einen Spaß sie miteinander haben – zerrt an meinen Nerven, und zwar einzig und allein aus dem Grund, dass ich gern an Neriahs Stelle wäre. Ich beschließe, einen kurzen Spaziergang zu machen. Die Bewegung wird mich bestimmt wieder zur Vernunft bringen. Außerdem ist es vielleicht gar keine schlechte Idee, die Gegend auszukund schaften. Als Neriah mein Fortgehen bemerkt, ruft sie meinen Na men und winkt mich zu sich. Ich zögere, denn ich möchte mich diesem strahlenden Glück nicht unbedingt von Nahem aussetzen. »Rochelle!«, ruft sie laut. »Komm her und zeig mir, wie es geht!« Ich kann nicht glauben, was sie da von mir verlangt. »Es wäre mir eine große Hilfe, wenn ihr es mir einmal vormacht«, sagt sie zu Ethan gewandt. »Was meinst du?« Er betrachtet mich wortlos und zuckt mit den Achseln. »Klar.« Zögernd gehe ich zu ihm hinüber und wünsche mir dabei, ganz weit weg zu sein, begraben in einer Höhle am anderen Ende der Welt. Mit schleppenden Schritten tritt Ethan dicht hinter mich und legt mir den Arm um die Taille. Er presst sich gegen 134
meinen Rücken, und ich kann spüren, wie sich seine Brust beim Einatmen hebt, bevor sich sein anderer Arm um meinen Hals schließt. Einen Augenblick ist alles still, und mir wird bewusst, dass ich meinen Kopf nur ein wenig nach rechts drehen muss, um ihm direkt in die Augen zu sehen. Der Drang, es tatsächlich zu tun, wird zu stark, ich kann nicht widerstehen. Langsam drehe ich den Kopf. Doch Ethan blickt lächelnd hinüber zu Neriah. Wenn es möglich wäre, vor Scham zu sterben, läge ich jetzt flach auf dem Rücken und würde mein Leben aushauchen. Aber anstatt zu sterben beschließe ich, das Nächstliegendere zu tun. Ich manövriere mein Kinn in die richtige Position, um den Würgegriff auszuhebeln, lasse mich fallen und ziehe dabei Ethans Ellbogen mit nach unten. Durch eine Drehung der Hüfte ziehe ich den Ellbogen weiter zu mir her. Er verliert das Gleichgewicht und stürzt zu Boden. Neriah prustet los. Sie kann gar nicht mehr aufhören zu lachen. Ethan schaut zu mir hoch und schüttelt den Kopf. Aber er grinst, also ist er mir nicht böse. Gerade als ich davongehen will, höre ich ein Geräusch. Blitzschnell greife ich nach dem Messer in meinem linken Stiefel. Sofort ist Ethan an meiner Seite. »Was ist?« »Schritte.« Da sind sie wieder und diesmal hört Ethan sie auch. Mit einem Satz ist er bei Neriah und schiebt sie hinter uns. Ihr Gesichtsausdruck hat rasch von Ausgelassenheit zu Furcht gewechselt. Ihre großen braunen Augen werden noch runder. »Rühr dich nicht«, sagt er sanft und holt ebenfalls ein Mes ser aus seinem Stiefel. 135
Bei dem Geräusch von knackenden Zweigen fährt mir ein Schauer über den Rücken. Die Schritte nähern sich, und der Schatten eines Mannes kommt auf uns zu. Zu meinem Erstaunen steckt Ethan sein Messer wieder weg. »Was machst du denn?« Er geht dem Mann entgegen. Schließlich erkenne ich wa rum. Es ist unser Freund Dillon. Arkarian hatte angekündigt, dass er sich uns bald anschließen würde. Ethan und Dillon umarmen sich. »Hey, tut gut, dich zu se hen«, sagt Ethan. »Du warst ja nicht lange weg.« Genau. Dillon und ich sind beide vom Orden übergelaufen, doch während meine Vernehmung fast ein Jahr gedauert hat, war Dillon nur ein paar Wochen fort. Ich muss an die Monate des Zweifelns denken, die ich hinter mir habe, und frage mich, wie Dillon nach so kurzer Zeit alles im Griff haben kann. Alte Loyalitäten sind schwer zu zerstören. Aber wie könnte ausge rechnet ich mir ein Urteil anmaßen? Dillon hat das Böse nicht im Blut. Seine Eltern waren Alkoholiker, es gab jede Menge handfester Auseinandersetzungen, doch sie waren keine Mörder wie mein Vater. Arkarian und. Lady Arabella müssen überzeugt sein, dass Dillon erfolgreich zu den Wachen gewechselt ist, da seine Unterweisung relativ rasch abgeschlossen war. Arkarian und Lady Arabella sind die beiden Menschen, denen ich in dieser Welt am meisten vertraue.
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Kapitel 11
Matt
Arkarian transportiert uns beide zur Festung, in den Raum mit der hohen, aus acht vielfarbigen Paneelen bestehenden Decke. Er deutet auf die Mitte des Achtecks, das im Boden eingelassen ist. »Ich werde dich jetzt in eine andere Welt schicken.« Ich habe ein Déjà-vu. Hier bin ich schon einmal gewesen. »Sei vorsichtig, Arkarian. Ich möchte nicht plötzlich ganz allein an diesem dunklen Ort landen.« Beruhigend blickt er mich an. »Keine Sorge, Matt. Sollte ich dich aus Versehen in die Unterwelt schicken, würde ich dir sofort folgen.« Er lacht. »Mein Leben wäre nicht mehr lebens wert, sollte ich dich verlieren.« »Also, wenn du dabei an Isabel denkst, würde ich mir an deiner Stelle keine allzu großen Sorgen machen. Sie würde es dir sicher verzeihen, falls du ihren Bruder verlierst!« Arkarian senkt den Blick. »Ich habe dabei nicht unbedingt an Isabel gedacht«, murmelt er. Dann sieht er mich wieder an. »Du bist dir immer noch nicht darüber im Klaren, welche Bedeutung du hast.« Seine Worte verwirren mich, und so beschließe ich, das Thema zu wechseln. »Wirst du in dieser Welt meine Schritte verfolgen können?« Er schüttelt den Kopf. »Nein. Die äußeren Welten sind un serem Blick verschlossen. Aber jemand wird mich von deiner Ankunft unterrichten.« 137
»Der Mann, der mein Lehrer werden soll?« »Ja.« »Isabel glaubt, dass er mein Vater ist.« Nachdenklich lässt Arkarian den Blick auf mir ruhen. »Da fragst du den Falschen. Hab noch ein wenig Geduld, Matt, und ich bin sicher, zumindest einige deiner brennendsten Fragen werden beantwortet werden.« Er tritt zurück. »Warte!«, rufe ich. Es liegt mir noch etwas auf der Seele. Er liest meine Gedanken, und sofort werden seine Augen sanft, aber es ist mir wichtig, dass er seine Beteue rung laut ausspricht. »Wirst du auch wirklich alles tun, um Isabel zu beschützen?« »Alles, was in meiner Macht steht.« »Ich möchte nicht, dass ihr wehgetan wird.« »Niemals würde ich etwas tun, was Isabel verletzen könn te.« Einen Augenblick herrscht Schweigen. Arkarian weiß, dass ich noch etwas sagen will. Ich sehe an ihm vorbei und versu che, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. »Schau, ich bin mir bewusst, wie nahe ihr euch steht. Doch ihr habt beide die Gabe des Nichtalterns. Ihr könnt euch noch so viel Zeit lassen, bis ihr eure Beziehung vertieft.« Sorgfältig wägt Arkarian seine Antwort ab. »Findest du nicht, diese Entscheidung solltest du besser Isabel überlassen?« »Natürlich, aber … sie liebt dich mit jeder Faser ihres Her zens, und das gibt dir Macht über sie.« »Weil du ihr Bruder bist, werde ich dir diese Beleidigung durchgehen lassen, Matt.« Die Vertäfelungen an der Decke beginnen sich zu drehen, und so bleibt mir gar nichts anderes übrig, als Arkarian zu vertrauen. Gleißendes Licht senkt sich von oben auf mich 138
herab und ein Wirbel von Farben hüllt mich ein. Plötzlich werde ich in einen Wind katapultiert, der schwindlig macht. Es dauert für meinen Geschmack einen Augenblick zu lange, um noch angenehm zu sein. Dann falle ich. Hart schlage ich auf festem Boden auf und beginne einen Abhang hinabzurol len, immer weiter bergab, wobei ich mich immer schneller drehe und Purzelbäume schlage. Endlich bleibe ich liegen. Alles dreht sich. Ich öffne die Au gen und versuche, etwas zu erkennen. Dichtes Laub hängt mir ins Gesicht. Als ich den Kopf hebe, wandern meine Augen unwillkürlich zum Himmel. »Oh – wow!« Ich mache große Augen. Was für ein seltsamer Anblick! Es gibt hier zwei Sonnen! Eine orangefarbene und eine blaue. Wie kann das sein? Und obwohl es offensichtlich Tag ist, schillert der Himmel in den unterschiedlichsten Rot- und Blautönen, in Gelb und Indigo. Wie mag er erst nachts ausse hen? Ich muss mich losreißen, um meine Umgebung eingehen der in Augenschein zu nehmen. Keine Menschenseele, so weit das Auge reicht. In der Ferne erhebt sich eine Bergkette, und ganz in meiner Nähe befindet sich ein tief eingeschnittenes grünes Tal mit einem munter dahinplätschernden Bach. Unterhalb von mir erstrecken sich kilometerweit Wiesen mit bunten Wildblumen. Als ich meine Hand hebe, entdecke ich darunter eine geknickte Blume mit zwölf verschiedenfarbigen Blütenblättern. Während ich dieses erstaunliche Phänomen fasziniert betrachte, richtet sich die Pflanze von alleine wieder auf. »Unglaublich«, flüstere ich ergriffen. Eine Stimme hinter mir lässt mich vor Schreck zusammen 139
zucken. »Da bist du ja! Ich dachte schon, ich hätte dich aus den Augen verloren!« Mühsam rapple ich mich auf und drehe mich hastig um. Ein merkwürdig gekleideter Mann kommt den Hügel herun tergerannt. Sein langes, braunes Haar fällt ihm offen über den Rücken. »Matt«, sagt er und streckt dabei die Hand aus. »Mein Na me ist Janah. Man hat mich gesandt, um dich zu begrüßen und dich zu führen.« Er breitet die Arme aus und schaut sich dabei um. »Und, wie findest du unser Reich bisher?« »Es ist wunderschön hier. Ihr habt ja zwei Sonnen!« »Wir haben sogar sieben, die anderen sind nur noch nicht aufgegangen. Es gibt eine für jede Ebene, aber hier oben sehen wir alle.« Janah bemerkt mein Stirnrunzeln und legt den Kopfschief. »Ist schon gut, Matt. Niemand erwartet von dir, dass du alles sofort verstehst. Dieses Reich hat viele Facetten, die schwer zu begreifen sind. Wie beispielsweise dies.« Er greift wieder nach meiner Hand, aber diesmal gleitet seine Hand teilweise durch meine hindurch. Ich bin verblüfft. »He!« »Alles hier ist real und klar umrissen, wenn wir es wün schen, aber unser Körper und vor allem unser Geist haben eine gewisse Freiheit. Sobald wir unsere Reise antreten, wirst du verstehen, was ich meine.« »Gut. Ich wüsste nicht, wie ich mich hier ohne dich zu rechtfinden sollte.« Dabei deute ich auf die herrliche Land schaft um uns herum. »Dieser Ort scheint nirgendwo zu enden. Bist du der Einzige, der hier lebt?« Er lacht, aber in seinen Augen liegt keine Herablassung, sie spiegeln nur seine offensichtliche innere Zufriedenheit wider. 140
»Hier leben viele Menschen. Erst kürzlich sind sogar ein paar Freunde von dir angekommen. Du kanntest sie unter den Namen John Wren und Sera.« »Wirklich? Werde ich sie treffen?« »Nicht dieses Mal. Aber du kannst beruhigt sein. Sera ist sehr glücklich.« »Und John Wren? Ist er auch glücklich?« »John befindet sich auf einer anderen Ebene.« »Was bedeutet das? Ist das gut oder schlecht?« »Wir kennen diese Unterscheidung nicht. Erinnerst du dich, dass ich von den sieben Ebenen dieses Reiches gespro chen habe?« Erst als ich bestätigend nicke, fährt er fort: »Mmh, John befindet sich auf der ersten. Wenn er so weit ist, wird er zur nächsten Ebene aufsteigen, und so weiter. Das wird wahrscheinlich in ein paar tausend Jahren der Fall sein.« Unwillkürlich runzle ich schon wieder die Stirn. Janah schüttelt den Kopf. »Versuch es gar nicht erst zu verstehen, Matt. Dazu bist du schließlich nicht hier. Dartemis wartet in seinem Palast auf dich.« »Wer ist dieser Dartemis?« »Alles zur rechten Zeit«, erwidert Janah. »Liegt dieser Palast weit entfernt?«, frage ich weiter. Er tippt sich nachdenklich an den Kopf. »Was ist noch ein mal das irdische Maß für Entfernungen?« »Meter und Kilometer.« »Ach, genau. Dann bist du gerade neunzig Milliarden Ki lometer von deinem Ziel entfernt.« Für einen Moment verschlägt es mir die Sprache. »Im Ernst?« »Absolut.« Jetzt bin ich völlig durcheinander. Ich blicke den Hügel 141
hinauf, den ich soeben heruntergerollt bin. Wenn ich jetzt so schnell wie möglich wieder hinauflaufe, besteht dann vielleicht die Chance, dass mich Arkarian zurückholen kann? Ich wende mich zum Gehen. »Ich fürchte, ich kann nicht bleiben, Janah. Für neunzig Milliarden Kilometer brauchte ich länger, als ich lebe – länger als tausend Leben!« Doch als er meinen Arm berührt, breitet sich tiefer Friede in meinem Innern aus. »Aber nicht in dieser Welt, Matt. Vertrau mir.« Vermutlich habe ich gar keine andere Wahl. Sein Griff um meinen Arm wird fester. »Komm mit.« »Wo bringst du mich …?« Das letzte Wort bleibt mir im Hals stecken, denn ich entdecke plötzlich, dass Janahs Füße den Boden nicht mehr berühren. Er schwebt im wahrsten Sinne des Wortes über den Dingen. Sein Körper neigt sich weiter in die Richtung, in die er mei nen Arm zieht – eine mühelose Bewegung, als würden seine Gliedmaßen nun kein Knochengerüst mehr besitzen, sondern aus einer geschmeidigen Masse bestehen. »Wir sollten jetzt gehen. Du wirst zum Abendessen erwar tet.« »Moment noch, Janah.« Seine Füße setzen wieder auf dem weichen Gras auf. »Ich bin nicht … wie du. Ich lebe hier nicht. Die Gesetze dieser Welt gelten nicht für mich.« Er lächelt nur. »Hat dir dein Lehrer nicht beigebracht, wie du deinen Geist leeren und deine Mitte finden kannst?« »Na ja, er hat es versucht.« »Dann los, Matt.« Ich schließe die Augen und versuche so auszusehen, als 142
würde ich seiner Anordnung Folge leisten. Die Wahrheit ist: Jedes Mal, wenn ich es unter Ethans Anleitung versucht habe, ist es mir nie ganz gelungen. Da ich merkte, dass es ihn unsäg lich frustrierte, habe ich manchmal einfach vorgegeben, ich hätte diesen Augenblick des inneren Friedens und der Gedan kenleere erreicht. Jetzt konzentriere ich mich auf die Ruhe, die Janahs Berührung in mir bewirkt. Zu meiner Überraschung fühle ich, wie ich mich vom Bo den löse. Ich öffne die Augen, um mich selbst davon zu über zeugen. Ich schwebe knapp über dem Boden! Janah betrachtet mich amüsiert. »Na ja, besonders viel ist das zwar nicht, aber es reicht für den Anfang.« Er fasst mich am Ellbogen und mit einem sanften Ruck neigt sich mein Körper zur Seite. Und dann geht es los. Unter uns gleiten die grünen Felder vorüber. Wir bleiben eng beieinander, unsere Körper bewegen sich fast horizontal zum Boden, und eine Zeit lang kann ich die Landschaft unter mir genau erkennen. Wir steigen höher auf und fliegen über so viele Berge und Täler, dass ich irgend wann zu zählen aufhöre. Am Horizont kommt eine Stadt in Sicht, in der es von Menschen nur so wimmelt. Die Gebäude besitzen viele Stockwerke und wirken wie ein Teil der Land schaft, weil sie in die Bäume hineingewoben zu sein scheinen. Schwebende goldene Brücken führen von einem Häuser grüppchen zum nächsten. Dazwischen Bäche und Wasserfälle in Hülle und Fülle. Und eine dritte Sonne steht am Horizont – diesmal eine purpurfarbene. Die schimmernden Farben des Himmels verändern sich, nun gesellen sich Lila- und Rosatöne zu den ineinander fließenden Farben dazu. Bald bewegen wir uns mit solcher Geschwindigkeit, dass oben und unten zu einem farbigen Nebel verschwimmen. Ich 143
empfinde eine Leichtigkeit in meinem Körper, die mit irdi schen Begriffen schwer zu beschreiben ist. Obwohl sich äußer lich nichts verändert hat, ist mir, als würde ich inwendig nur aus Luft bestehen. Schließlich werden wir langsamer. Jetzt nähert sich der Zeitpunkt, zu dem ich die Person treffen werde, die das Ge heimnis um meine Geburt lüften kann. Während wir langsam nach unten driften, spüre ich ein nervöses Ziehen in der Magengegend. Wenn nun diese Antworten mein Leben ver ändern werden? Hatte Isabel mit ihren Befürchtungen in Bezug auf diese Reise Recht? Hat sie einfach Angst, weil sie mich liebt, oder hat sie etwas in einer ihrer Visionen gesehen? Als wir anhalten, sind all diese Gedanken wie weggeblasen. Zunächst muss ich den Anblick verarbeiten, der sich mir bietet. Vor mir erstreckt sich ein Gebäude, ein riesiger Palast, der bestimmt an die tausend Gemächer beherbergt. Er ist ganz in Weiß gehalten, aber überall gibt es Verzierungen in Form von goldenen und silbernen Türmchen, Bogen und Säulen, Fenstern aus schimmerndem Kristall und einer stattlichen Anzahl goldgerahmter Türen. Doch nicht diese Pracht über wältigt mich und lässt mich ehrfürchtig staunen. Sondern der Standort des Palasts. Obwohl ›stehen‹ nicht das richtige Wort ist. Man kann es nur als schweben bezeichnen. Ja, er schwebt, ganz am äußersten Ende (oder ist es der Anfang?) des Univer sums. Ich atme tief durch und versuche, meine sich überschlagen den Gedanken zu beruhigen. Aber es hilft nichts. Ich scharre mit den Füßen über den Boden, um zu prüfen, ob der Grund, auf dem ich stehe, auch fest ist. Der Palast hat keinen Unter grund. Da ist nichts. Als sei dieses schier unglaubliche Bau werk über den Rand des Universums hinweggeschwebt. Dar 144
um herum gibt es keinen Himmel, keine Sonnen, keine Ster ne. Vielleicht nicht einmal Luft. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« »Sagenhaft, nicht wahr?« »Wer da wohl wohnt? Erzählst du mir vielleicht jetzt mehr über diesen Mann?« »Seinen Namen kennst du bereits. Dartemis. Er ist ein Un sterblicher. Einer von den Drillingen, die den unglücklichen Göttern Athenia und Artemis geboren wurden.« »Dann ist er Lorians Bruder.« »Und Lathenia ist ihre Schwester. Aber sie glaubt, Dartemis sei tot, vor vielen Jahrmillionen von Lorian erschlagen. Und da mit sie die Wahrheit nicht herausfindet, lebt er dort draußen.« »Außerhalb des Universums.« »Ja. Doch nun komm. Schau.« Janah deutet zu dem Palast eingang, in dem ein weißgekleideter Mann steht. »Er wartet auf dich. Soweit ich das beurteilen kann, ist er sehr aufgeregt.« »Etwa wegen mir?« »Ja. Weißt du es denn nicht, Matt?« »Was soll ich wissen?« »Du bist die Krönung seines Lebenswerks.« Arkarian hatte so etwas schon angedeutet. Dass dieser Un sterbliche sein ganzes Leben lang auf mein Kommen gewartet hat. Aber warum? Warum auf mich? Mir wird schon wieder schwindlig. Das ist alles zu viel für mich. Die Luft scheint immer dünner zu werden. Ich atme tief durch. Alles dreht sich, treibt davon und wieder zurück. Janah muss meine Unruhe bemerkt haben, denn ich höre ihn etwas rufen. Wahr scheinlich meinen Namen. Und plötzlich schlingt jemand seine starken Arme um mich, und ich spüre, dass ich mich vorwärts bewege. 145
Beim Aufwachen finde ich mich im Palast wieder. Ich liege auf einem Sofa, mit einem feuchten Tuch auf der Stirn. »Er kommt zu sich, Mylord«, dringt Janahs Stimme durch den mich umgebenden Nebel. »Er braucht noch etwas Ruhe, Janah. Lass uns allein.« »Ja, Mylord.« Janah nimmt das Tuch von meiner Stirn und verlässt das Zimmer. Ich blicke direkt in die Augen des Unsterblichen. Ich habe Lorian nur ein einziges Mal gesehen, und zwar vor kurzem bei der Verhandlung meiner Schwester, aber die Ähnlichkeit zwischen den beiden Brüdern ist verblüffend. Beide sind größer als jedes menschliche Wesen, besitzen ungewöhnlich lange Finger, die gleiche durchscheinende Haut und Augen wie Edelsteine. Aber während Lorians Augen violett sind und Lathenias, wie mir gesagt wurde, silbern, ist das Augenpaar, das mich ansieht, gelb. Goldgelb. »Seid Ihr mein Vater?« Er lacht, ein dröhnendes, herzliches Lachen. »Du kommst immer gern gleich zur Sache, nicht wahr, Matthew?« Eigentlich ist mir das nur so herausgerutscht. Aber wenn ich jetzt schon gefragt habe, möchte ich auch tatsächlich eine Antwort. Wieder lacht er, diesmal ein wenig verhaltener. Er muss meine Gedanken erraten haben. Ob er sie tatsächlich lesen kann? »Ja«, sagt er. »Ja?« Ich bin verwirrt. Hat er damit meine Gedanken be antwortet oder die Frage, die ich laut gestellt habe? »Beides«, entgegnet er. »Und wo wir nun die Formalitäten hinter uns haben, können wir mit der Ausbildung beginnen. Darum bist du schließlich hier. Wir dürfen nicht noch mehr 146
Zeit verlieren, Matthew. Meine Schwester hat es eilig, so viel wie möglich von dem, was ihr noch nicht gehört, zu erobern. Sie versucht, das Gleichgewicht des Lebens zu zerstören. Sollte ihr das gelingen, würde es für alle Wesen auf der Erde eine Katastrophe bedeuten, und es liegt an dir, das zu verhindern.« »Das klingt alles so … entsetzlich.« »Es ist auch entsetzlich. Was ihr auf der Erde habt, ist kost bar. In keinem anderen Reich gibt es etwas Vergleichbares. Und glaub mir, Matthew, es gibt sehr viele Reiche. Manche sind hell, manche dunkel, manche grau. Dort wandeln die Verlorenen und Verzweifelten. Und dann gibt es jene Reiche, von denen man sich lieber fern halten sollte. Du kennst die Unterwelt. Einst war sie ein herrliches Reich. Nun ist sie ein Reich der Dunkelheit, in dessen Tiefen die schrecklichsten Wesen des Universums leben. Aber die Erde …« Er beugt sich vor, und seine goldgelben Augen scheinen mich zu durchboh ren. Ich habe das Gefühl, mit Haut und Haaren verschlungen zu werden. »Die Erde ist das letzte Reich für die Lebenden.« Ich sehe mich einen Moment in dem Zimmer um und ver suche das, was er sagt, in mich aufzunehmen, als zwei Löwen in der offenen Tür auftauchen, ein Löwe mit einer herrlichen goldenen Mähne, und eine Löwin. Instinktiv kauere ich mich auf dem Sofa zusammen. Die Tiere kommen ganz selbstver ständlich hereinspaziert, als seien sie daran gewöhnt, sich an diesem Ort frei zu bewegen. Bei Dartemis angekommen, gibt der Löwe ein tiefes, beinahe trauriges Brüllen von sich. Dar temis lockt ihn noch näher heran und krault ihn hinter dem Ohr, wobei er tröstende Worte summt. »Wie könnte ich dich je vergessen«, flüstert er, den Kopf zu dem mächtigen Löwengesicht hinabgebeugt. Eifersüchtig drängt die Löwin ihren Gefährten beiseite und bettet ihre 147
Schnauze in Dartemis’ Hand. Dartemis packt ihren Kopf mit beiden Händen und schüttelt ihn leicht. »Ich habe dich auch vermisst«, sagt er. »Aber ich bin beschäftigt, und ihr werdet noch eine Weile warten müssen, bis ich für euch Zeit habe. Nun geht und sucht Janah. Er wird euch zu fressen geben.« Die großen Katzen verschwinden, und ich versuche, den Mund wieder zuzuklappen und mich erneut auf unser Gespräch zu konzentrieren. Dartemis nimmt den Faden wieder auf. »In diesem Reich haben wir die höchste Stufe der Zufrie denheit erreicht. Aber man kann hier nur wohnen, wenn man vorher das Leben eines Sterblichen geführt hat, was inzwi schen nur noch auf der Erde möglich ist. Falls Lathenia Erfolg hat, wird das letzte übrig gebliebene Reich zerstört, das dem Universum zu seinem Gleichgewicht verhilft. Die Toten werden unter den Lebenden wandeln und wir werden nie den Zustand des wahren Friedens erreichen.« Er breitet die Arme in Richtung des schillernden Himmels und der atemberau bend schönen Landschaft aus. »Und am Ende wird auch all dies hier bedroht sein.« Seine Erklärung macht mich sprachlos. Wie kann so etwas passieren? Und wie kann das mir passieren? Vor kurzem noch war meine größte Sorge, wann ich meine nächste Hausarbeit für die Schule abgeben musste! »Das war sehr viel auf einmal. Und du hast viele Zweifel, Matthew. Unglücklicherweise kann ich dich davon nicht befreien, doch ich werde die Kräfte, die bereits in dir schlum mern, zum Vorschein bringen. Das sollte dir helfen, an dich zu glauben. Allerdings liegt es wie bei allen menschlichen Wesen an dir selbst, die Kräfte nach deinem Gutdünken zu gebrauchen. Ich werde dich anleiten, Matthew, aber das ist das Äußerste, was ich tun kann.« 148
Meine Stimme scheint tief aus meinem Inneren zu kom men. »Sir …« »Warte. Da du dich mit der Bezeichnung Vater unwohl zu fühlen scheinst, nenn mich bei meinem Namen. Dartemis.« »In Ordnung – Dartemis. Ich muss Euch etwas sagen.« »Sprich es aus.« »Ich glaube, Ihr habt einen Fehler gemacht.« Auf seinem Gesicht zeichnet sich ein Lächeln ab, und ich habe das Gefühl, er spielt mit mir. »Sag mir, was ich falsch gemacht habe.« »Ich bin nicht der Richtige für diese Aufgabe. Eigentlich glaube ich nicht einmal, dass ich Euer Sohn bin. Seht«, fahre ich hastig fort, bevor er mich unterbrechen kann, »ich stamme aus einer kleinen australischen Stadt namens Angel Falls. Ich habe eine ganz normale Mutter und alles. Und dort gibt es eine Menge Leute, die genau diese ›besonderen‹ Fähigkeiten besitzen, von denen Ihr annehmt, dass ich sie habe. Arkarian zum Beispiel. Womöglich meint Ihr ihn in Wirklichkeit.« Ich hole tief Luft. »Ich will damit sagen, dass ich keine Führungs persönlichkeit bin. Kein Held. Ich verfüge nicht über die Fähigkeiten, die Ihr bei mir vermutet. Glaubt mir, ich habe diese innere Quelle der Kraft, oder was immer es auch ist, gesucht, aber nichts hat sich getan. Sie ist einfach nicht vor handen. Also.« Ich stehe auf und schaue mich nach einem Ausgang um, vorzugsweise einem, der nicht in Richtung der Löwen rührt. »Wenn Ihr nichts dagegen habt, werde ich jetzt gehen. Ich vermute, es gibt keine Abkürzung hier raus?« Dartemis verschwindet plötzlich und nimmt direkt vor mir Gestalt an, seine Brust baut sich wie eine Mauer vor meinem Gesicht auf. Ich muss den Kopfweit in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu sehen. Stirnrunzelnd und mit leicht 149
geöffnetem Mund starrt er mich an. Das Stirnrunzeln vertieft sich. Auf einmal schüttelt er langsam den Kopf, immer wieder, als könne er nicht fassen, was er da eben gehört hat. Schließ lich sagt er etwas, aber die Worte sind nicht direkt an mich gerichtet, sondern eher eine allgemeine ärgerliche Feststellung. »Hier gibt es noch mehr zu tun, als ich zunächst dachte. Viel mehr.«
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Kapitel 12
Rochelle
Ab
Freitag ist wieder Schule. Freitag! Du meine Güte, ein freier Tag hätte doch echt niemandem wehgetan, oder? Die Wissenschaftler haben offenbar alle erforderlichen Daten zusammengetragen. Sie waren schnell zur Stelle. Die aus dem All herabgefallenen Brocken wurden eingesammelt und in staatliche Labors abtransportiert. Alle Schulgebäude außer einem wurden nach einigen kleineren Reparaturen für be nutzbar erklärt. Neriahs Training wird also heute nach dem Unterricht stattfinden. Mr Carter übernimmt in unserer Klasse den Geschichtsun terricht und wird sofort mit Fragen zu seiner unerwarteten »wundersamen« Rettung bombardiert. Er zieht sich recht geschickt aus der Affäre, indem er die meisten Fragen mit einem Scherz abtut, aber gleichzeitig genügend Antworten parat hat, um die Neugier aller zu befriedigen. Währenddessen lässt Dillon mich wissen, dass er bei Neri ahs Training am Nachmittag gerne dabei sein möchte. Dillon sitzt in der Bank hinter mir und drängt mir seine Gedanken unnachgiebig auf. Es fühlt sich an, als würde er mir einen heißen Schürhaken in den Schädel treiben. Dillon ist kein Gedankenleser, weiß aber offenbar, dass ich über diese Gabe verfüge, und seine Hartnäckigkeit nervt mich allmählich. Lady Arabella hat mir in den vergangenen Tagen gezeigt, wie ich die Energie in meinen Händen so steuern kann, dass 151
ich nicht länger für alle eine Gefahr darstelle. Anscheinend hängt diese Kraft mit meinen Gefühlen zusammen, also mit dem Ausstoß von Stresshormonen und derlei Dingen. Lady Arabella hat das undurchlässige Material entwickelt, aus dem Arkarian die Handschuhe für mich angefertigt hat. Sie sind schon allein deshalb genial, weil der Stoff haargenau aussieht wie Haut. Arkarian bringt mir gerade bei, wie ich den An sturm der Gedanken bewältigen kann, der mich sehr quält, seitdem sich bei jedem von uns die Kräfte verstärkt haben. Und dennoch gelingt es Dillon, sämtliche Barrieren zu durch brechen. Ich werde wahnsinnig. Als die Schulstunde zu Ende ist und wir das Klassenzimmer im Gänsemarsch verlassen, knöpfe ich ihn mir vor. »Ver dammt noch mal, was soll das eigentlich?« Er zuckt die Schultern und grinst spitzbübisch. Das finden andere Mädchen vielleicht süß, ich ganz bestimmt nicht. Mein Kopf tut weh. »Du musst mir helfen, Roh. Ich brauche deine Unterstüt zung, um bei Neriah zu landen. Auf dich hört sie. Erzähl ihr, was für ein toller Typ ich bin.« Am liebsten würde ich losschreien, aber ich will keine unge wollte Aufmerksamkeit erregen. Eigentlich sollte ich ihm ja ein fach auf den Kopf zu sagen, dass Neriah eher nicht auf ihn steht, wenn ein Dritter nötig ist, um ihr Interesse auf ihn zu lenken. Als ich mich zum Physiklabor aufmache, folgt mir Dillon. Na toll! Er hat den Physik-Kurs also auch belegt. An der Tür drehe ich mich zu ihm um. »Erstens erledige ich nicht die Dreckarbeit für andere Leute. Wenn du Neriah willst, sieh selber zu, dass du das gebacken kriegst. Zweitens heiße ich Rochelle, und man spricht den Namen so aus, wie ich es soeben getan habe, und nicht anders. Kapiert?« 152
Als der Gong ertönt und das Unterrichtsende des heutigen Tages signalisiert, bin ich mit den Nerven total am Ende. Dillon kommt schon wieder auf mich zugerannt. »Roh, ich brauche deine Hilfe.« Ich mustere ihn so verächtlich, wie ich nur kann. Er hat nicht einmal genug Respekt, sich zu merken, wie sehr ich es hasse, wenn man meinen Namen abkürzt. Außerdem war ich der Meinung, ich hätte ihm eindeutig zu verstehen gegeben, dass ich nicht vorhabe, mich bei Neriah für ihn einzusetzen. Aber auch das scheint ihn überhaupt nicht zu jucken. Ver mutlich übersteigt es seinen Horizont, die Wünsche anderer zu berücksichtigen. Ich verlasse Gebäude B und sehe mich suchend nach Neriah und Ethan um. Schließlich entdecke ich die zwei. Sie schlen dern zusammen über den Pausenhof. Die beiden wirken wie ein Paar. Ihr Anblick schnürt mir den Hals zu. Als Neriah mich sieht, winkt sie mir zu. Dillon seufzt und stöhnt wie ein liebeskranker Hund. »Ich flehe dich an, Roh. Sag mir doch, wo ihr heute trai niert.« Er soll endlich abziehen. – Doch plötzlich kommt mir eine Idee, die funktionieren könnte. »Okay, weil du’s bist: Wir trainieren in Arkarians Kammern.« »Das gibt’s doch nicht!«, antwortet er. – Na also, alles palet ti! »Ist aber so. In einem seiner Trainingsräume.« »Aber ich habe keinen Zutritt zu Arkarians Kammern.« »Wirklich nicht?« Ich versuche mir meine Erleichterung nicht anmerken zu lassen und überrascht zu wirken, obwohl ich es ja bereits wusste. Arkarian hatte es mir am Morgen gesagt. 153
»Tja, zu dieser Ebene habe ich noch keinen Zugang. Noch nicht, aber …« Er mustert mich. »Du darfst dort hinein, stimmt’s?« »Warum fragst du?« »Du könntest mich hineinschmuggeln.« Als ich unweigerlich lachen muss, reagiert er sauer. »Was ist daran so lustig?« Ich versuche ruhig zu bleiben. »Du kannst dich nicht an Arkarian vorbeischmuggeln. Er hat seine Augen überall und merkt einfach alles. Außerdem überwacht er den Eingang. Niemand darf ohne vorherige Erlaubnis seine Kammern betreten. Deine Idee ist absurd. Im Übrigen wäre es besser, wenn du solche Überlegungen überhaupt nicht erst anstellen würdest. Vor allem dann nicht, wenn dir daran liegt, das Vertrauen aller zu gewinnen.« »He – man kann mir doch vertrauen! Willst du etwa Streit anfangen?« »Überhaupt nicht. Ich wollte dir nur einen Rat geben.« »Ich pfeif auf deinen Rat. Du sollst mir doch nur helfen, Neriah zu erobern. Jetzt sei doch nicht so, Roh. Mir zuliebe. In Erinnerung an alte Zeiten, wie wär’s?« Diese Bemerkung bringt mich regelrecht zum Kochen. Was denkt er sich eigentlich? Dass wir einander etwas schulden, nur weil wir beide Mitglieder des Ordens waren? Meine Loya lität gilt nicht mehr der Göttin, und erst recht nicht Dillon! Zu meiner Erleichterung kommen Neriah und Ethan auf uns zu, so dass ich mich um die Antwort drücken kann. »Machst du wieder beim Training mit, Dillon?«, fragt Neri ah beiläufig. Vielleicht fährt sie tatsächlich auf ihn ab. Ich mustere ihn verstohlen und überlege, was einem Mädchen an Dillon 154
überhaupt gefallen könnte. Vermutlich seine leuchtend grü nen Augen. Das ist sein größter Vorzug. Dann lächelt er. Na ja, vielleicht auch sein Lächeln. Ethan mustert mich skeptisch. Über seine Gedanken teilt er mir mit, dass er glaubt, ich hätte Dillon aufgefordert, uns zu begleiten. Kaum will ich das richtig stellen, sagt Neriah: »Wir trainieren westlich der Wasserfälle.« Na, fabelhaft! Danke, Neriah. Dillon mustert mich von der Seite. »Aber ich dachte …« Er beendet den Satz nicht, sondern starrt mich plötzlich an, als hätte ich ihm soeben ein Messer zwischen die Rippen gesto ßen. »Ach, wirklich? Das ist ja interessant.« Er wendet sich Neriah zu. »In Ordnung. Ich bin dabei.« »Nein …«, meldet Ethan sich überraschend zu Wort, »wir haben uns anders entschieden.« »Aber …«, wendet Neriah ein. »Ach ja, natürlich. Stimmt.« »Wir trainieren heute in Arkarians Kammern.« Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich gebe mir alle Mühe, mir nichts anmerken zu lassen. Jetzt stehe ich wenigstens nicht wie eine hinterhältige Lügnerin da. Dillon wirkt verletzt. Beinahe niedlich. Seine schelmische Art bringt Neriah zum Lachen. Als ihm schließlich einfällt, dass sein Bus gleich abfährt, trollt er sich. Zum ersten Mal an diesem Tag atme ich entspannt durch. »Der Wagen ist da«, sagt Ethan, und wir begleiten Neriah zum Parkplatz. »Wir treffen uns in einer halben Stunde«, sagt sie, während sie in den Fond des schwarzen Mercedes einsteigt und ihre Hunde begrüßt. Als das Auto losfährt, murmle ich leise vor mich hin: »Vie len Dank .« 155
Ethan sieht der Limousine nach, als sie das Schulgelände verlässt. »Wofür?« Eine Sekunde lang vergesse ich, dass Ethan und Dillon seit Kindertagen miteinander befreundet sind. Ich zucke die Achseln. »Dillon würde beim Training nur stören. Ich möchte nicht, dass er zusieht.« Er mustert mich stirnrunzelnd. »Ich dachte, es freut dich, wenn er dabei ist. Hast du ihn nicht auch deshalb immer aufgefordert, sich uns anzuschließen?« Was redet er denn da? »Ich habe ihn kein einziges Mal dazu aufgefordert. Kapiert?« »Kapiert! Aber …« »Was, aber?«, hake ich nach. »Ihr steckt doch in der Schule ständig zusammen, sogar beim Mittagessen. Es scheint …«, bricht er den Satz ab und senkt den Blick, »… als wärst du gerne mit ihm zusammen.« Ich bin platt. Er liegt mit seiner Einschätzung wirklich total daneben. »Er hat zufälligerweise dieselben Kurse belegt wie ich, mehr nicht.« Ich würde mich jetzt verdammt gerne in Ethans Gedanken einklinken, wage es jedoch nicht. Aber er hat sie ohnehin abgeschirmt, und zwar vollständig. Plötzlich fährt er sich mit der Hand nervös durchs Haar. »Komm, wir gehen. Neriah ist so gespannt auf das Training, dass sie garantiert auf die Minute pünktlich ist. Wir dürfen sie nicht alleine warten lassen.« Ich bezweifle, dass das geschehen könnte. William, ihr Chauffeur, ist ein ausgebildeter Leibwächter. Es ist kaum anzunehmen, dass er sie auf einem abgelegenen Berghang mitten im Nationalpark sich selbst überlässt. Trotzdem schlie ße ich mich Ethan an und bemühe mich, nicht länger über sein eigenartiges Verhalten nachzugrübeln. 156
Wir verlassen den Schulhof durch das hintere Schultor und hasten den Berg hinauf zu Arkarians verborgenen Kammern. Schweigend kämpfen wir uns durch Eukalyptusgewächse, die in diesem Teil des Waldes hauptsächlich wachsen. Wäh rend wir immer tiefer in das Dickicht vordringen, wird es um uns herum zunehmend dunkler. Als ich rechts von mir eine unerwartete Bewegung bemerke, bleibe ich kurz stehen und lausche. »Was ist?«, fragt Ethan und tritt neben mich. »Ich weiß nicht«, antworte ich und deute auf ein Bächlein, das eine Böschung hinabfließt. »Ich habe ein Geräusch gehört. Dort drüben.« Als wir in Richtung des Rinnsals blicken, vernehmen wir plötzlich hinter uns einen Laut. »Dort, guck mal!« Ich deute auf eine Kreatur auf vier Beinen, die zwischen den Bäumen vor uns davonschleicht. »Ich glaube, das ist das Tier, das ich in Neriahs Garten gesehen habe.« »Los, nichts wie hinterher«, ruft Ethan, und schon jagen wir dem Tier nach, kämpfen uns durch Ranken und strauchiges Buschwerk, steigen über Baumstämme und achten gleichzeitig darauf, nicht auf feuchten Blättern und Moos auszurutschen. »Dort oben!« Ethan springt über einen Baumstamm. »Es ist ein Hund – eine dänische Dogge.« Tiefer und tiefer dringen wir in den Wald, ohne jedoch das Tier einzuholen. Als wir keuchend vor Erschöpfung auf einer Anhöhe stehen bleiben, wendet die Dogge mit dem goldfarbe nen Fell den Kopf und sieht uns an. Ihre Augen jagen mir nackte Angst ein. Als wolle sie über ihren Blick mit uns kom munizieren. Oder … uns auslachen. Schließlich durchschaue ich die Taktik. Das Tier möchte uns immer tiefer in den Wald locken. 157
»Oh Mann!«, stöhnt Ethan. »Ich kenne diesen Hund von früher. Es ist eine von Lathenias Doggen.« »Sie hat uns in die Irre geführt.« Wir sehen einander an und haben denselben Gedanken. »Neriah!« Wir rennen den Weg so schnell zurück, als würden uns die Sohlen unter den Füßen brennen. Neriah ist in Gefahr. Ich spüre es mit jeder Faser meines Körpers. Endlich haben wir den Waldrand erreicht. Wir hasten den Berg hinauf, bis wir schließlich vor Arkarians geheimem Eingang stehen. Er nimmt vor uns Gestalt an und betrachtet uns tief besorgt. »Gut, dass ihr da seid.« »Wo ist Neriah?«, fragt Ethan. »Noch zu Hause. Es gibt Probleme. Sie brauchen unsere Hilfe. Ethan, wir beide nehmen die Schwingen. Und du, Rochelle, läufst so schnell du kannst zu Neriahs Haus. Jimmy, Dillon und Isabel sind bereits auf dem Weg. Habt ihr verstan den?« »Warte«, sagt Ethan. »Ich werde meine Schwingen nicht nehmen.« »Aber Ethan, mit den Schwingen kannst du dich doch am schnellsten fortbewegen. Kommst du etwa immer noch nicht mit ihnen zurecht?« »Darum geht es nicht. Wir haben im Wald einen von Lathenias Hunden gesehen. Ich werde Rochelle nicht alleine lassen, wenn ich weiß, dass dieses Monster in der Nähe lau ert.« »Du musst mich nicht beschützen!«, erkläre ich. »Ich kenne eine Abkürzung, die Zeit spart.« »Welche Abkürzung?« 158
»Die Feuerschneise, die um die Hügelkette verläuft. Sie en det westlich von Neriahs Haus.« »Ja«, entgegnet Ethan ironisch, »den Weg kenne ich. Er führt geradewegs durch den besonders dicht bewaldeten Teil des Forstes.« Arkarian sieht erst mich, dann Ethan an, ohne jedoch ein Wort zu verlieren. »Während wir hier stehen und miteinander streiten, vertun wir kostbare Zeit. Ihr könntet beide schon längst dort sein«, wende ich ein, um dieser lächerlichen Diskussion ein Ende zu bereiten. »Ich lasse dich nicht allein«, erwidert Ethan stur. Mir huscht ein Gedanke durch den Kopf. Er tut es, weil … na ja … viel leicht ist er tatsächlich … »Der Hund wollte, dass wir ihm in den Wald folgen«, fügt Ethan hinzu. »Entweder, um uns daran zu hindern hierher zu kommen, oder weil Lathenia irgendetwas plant. Keine Ah nung. Doch eines weiß ich sicher: Die Göttin würde dich am liebsten tot sehen, seitdem du die Seiten gewechselt hast. Und Marduke ebenso. Und bevor du stirbst, würden sie dich foltern!« Jäh zieht er die Schultern hoch. »Wenn du dich allein auf den Weg machst, bist du leichte Beute. Die Zeithüter können sich derzeit keinerlei Verlust leisten. Die Situation ist wirklich heikel.« »Du hast Recht, Ethan«, pflichtet Arkarian ihm bei. »Jetzt macht euch so schnell ihr könnt auf den Weg. Aber seid vorsichtig.« Kaum hat Arkarian die Anweisung gegeben, hebt er mit seinen Schwingen ab. Ethan und ich sind allein. Ich schenke meinen konfusen Gefühlen keine weitere Beachtung und gehe auf den Wald zu. Als Ethan an meiner Seite ist, beschleunigen 159
wir unseren Schritt. Wir sind beide ziemlich sportlich – das ist eine Grundvoraussetzung für unseren Job. Bisher deutet nichts auf die große Dänische Dogge hin, die Ethan für einen von Lathenias Hunden hält. Als ich noch Kriegerin im Dienst der Göttin war, habe ich nur für Marduke gearbeitet und Lathenia so gut wie nie zu Gesicht bekommen. Natürlich habe ich von ihren sieben Hunden gehört. Ich war der Meinung, sie lägen in ewigem Schlaf. Unter Lathenias Kriegern kursierte das Gerücht, es hätte einst einen Wurf von neun Welpen gegeben, die Lathenias jüngerem Bruder Dartemis gehörten. Sie waren ihm treu ergeben. Als Dartemis eines Tages ermordet wurde, hat man die zwei ältesten Hunde nie wieder auf der Erde gesehen – oder wo immer die Unsterblichen sich in jener Zeit aufhalten mochten. Lathenia hat daraufhin die restlichen sieben Hunde aufgezogen. Während ich so nachsinne, verpasse ich das erste Anzeichen einer nahenden Gefahr. Doch Ethan, der nur wenige Schritte vor mir geht, hat etwas bemerkt. Er bleibt stehen und streckt einen Arm in die Höhe. Ich stelle mich dicht hinter ihn. »Was ist?« Er hat keine Gelegenheit mehr zu antworten. Blitzartig stür zen aus den Baumwipfeln ein Dutzend großer, aufgebracht kreischender Vögel auf uns herab. Geisterhafte, unirdische Kreaturen, deren Aussehen mir einen Schauer über den Rü cken jagt. Besonders ihre Augen flößen mir Angst ein. Es sind keine gewöhnlichen Vogelaugen, sondern eher menschliche Augen mit Augenbrauen. Ethan packt mich am Arm. »Ich kenne diese Vögel. Geh in Deckung!« Wir suchen unter einem umgestürzten Baumstamm Zu flucht. Doch der Schlupfwinkel ist eher dürftig. Ethan schließt 160
die Augen. Vermutlich will er eine Illusion erzeugen. Doch da stürzen sich die Vögel bereits auf uns. Ihre Schnäbel sind derart spitz und scharf, dass sie meinen schwarzen Wollman tel mühelos durchlöchern. »Nein, nein!«, schreie ich den Angreifern entgegen, die mir die Augen auspicken wollen. Den Kopf vornübergeneigt, streife ich hastig meine Handschuhe ab und packe einen der Vögel am Hals. Meine Hände zischen geradezu vor Energie. Das Tier kreischt und fällt zu Boden. Ist es tot? Nickend wirft Ethan mir einen hastigen Blick zu. »Gute Ar beit. Versuche sie ein paar Sekunden von mir fern zu halten. Mehr Zeit brauche ich nicht.« Während Ethan sich auf den Boden kauert, mache ich den Vögeln, die sich auf mich stürzen und auf mich einhacken wollen, nacheinander den Garaus. Es erfordert meine ganze Kraft, da mein Schlag sie nur wenige Sekunden betäubt, ehe sie erneut angreifen. Nur das Tier, dem ich die Kehle zuge drückt habe, liegt reglos da. »Sind sie unbesiegbar?«, wende ich mich fragend Ethan zu. »Denk an Arkarians Worte – sie sind bereits tot und kön nen nicht durch Menschenhand getötet werden.« Ich blicke auf den leblosen Körper mit den Brandmalen am Hals. Aber falls Ethan mit seiner Behauptung Recht hat – wie sollen wir dann jemals wieder von hier wegkommen? Einer der Vögel gräbt seine Krallen in meinen Mantelkragen und hackt mir seinen spitzen Schnabel ins Genick. Es schmerzt furchtbar. Der Stoß geht tief. Ich spüre etwas Warmes meinen Rücken hinunterrinnen. »Beeil dich, Ethan. Ich habe keine Kraft mehr, länger gegen sie anzukämpfen!« Die Luft vibriert von dem zunehmend lauter werdenden, 161
aufgeregten Kreischen. Ein weiteres Dutzend Vögel stürzt sich von den Bäumen auf uns. Mittlerweile sind es so viele, dass es für uns kein Entrinnen mehr gibt. Ethan steht ganz langsam auf. »Bleib sitzen«, rate ich ihm. »Dort kommen immer mehr.« Dann wird mir klar, dass er eine Illusion geschaffen hat. Die Vögel fallen jetzt gegenseitig übereinander her. Zufrieden über das gelungene Trugbild, zieht Ethan mich am Arm. »Schnell! Nichts wie weg.« Wir rennen los. Wenig später verliert sich das grelle Krei schen der Vögel in der Ferne. »Wie lange lässt sich die Illusion aufrecht halten?« »Wenn wir uns beeilen, sehr lange.« Doch ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Tempo durch halten kann. Ich fürchte, der Vogel hat mir eine tiefe Wunde im Nacken zugefügt. Mein Rücken scheint voller Blut zu sein, und meine Kräfte lassen mit jeder Minute stärker nach. Wenn ich den Blutstrom doch stillen könnte. Aber solange mein Herz so heftig klopft, wird er wohl kaum versiegen. Wir rennen weiter. Als wir endlich die hohen Ziegelmauern von Neriahs Festung erreicht haben, lehne ich mich erschöpft an das Gestein und versuche wieder zu Atem zu kommen. Ethan bemerkt es: »Alles in Ordnung mit dir? Dein Gesicht ist kalkweiß.« »Ja, ja, alles in Ordnung. Geh schon mal vor. Sie brauchen da drinnen deine Hilfe.« »Deine brauchen sie genauso. Ich muss mir also keine Sor gen machen?« »Nein. Jetzt geh. Ich komme nach. Ich muss erst mal Atem holen.« Als er mich zweifelnd ansieht, signalisiere ich ihm mit den 162
Händen, er solle endlich verschwinden. Aber er bewegt sich keinen Millimeter. Plötzlich tritt jemand auf mich zu. Vor meinen Augen verschwimmt alles. Die Person steht jetzt unmittelbar vor mir, legt die Arme um mich und zieht mich zu Boden. »Wo ist sie verletzt?«, ruft Isabel so laut sie kann. »Wo, Ethan? Sag schon!« »Keine Ahnung. Ich wusste gar nicht, dass sie verletzt ist.« »Mein Nacken«, flüstere ich. Isabel schlägt den Kragen um. »Du liebe Güte … sieh dir das an!« »Was ist?« Ethan kommt näher. »Wie ernst ist die Verwun dung?« »Psst, Ethan. Ich muss mich konzentrieren.« Minutenlang ist es vollkommen still. Ich spüre ein seltsames Gefühl, als dringe etwas in meinen Körper, was ich jedoch als sanft und angenehm empfinde. Bereits kurz danach fühle ich mich gekräftigt und kann wieder klar sehen. Ethan scheint unter Schock zu stehen. Aber er konnte nun mal nicht erken nen, dass ich in Gefahr war. Ich gehöre nicht zu jenen Men schen, die vor Schmerz schreien. Das habe ich noch nie getan. Isabel hilft mir auf. »Na, wie fühlst du dich?« Unglaublich. Mir ist, als wäre nichts gewesen. »Danke.« Sie lächelt. »Wir müssen uns beeilen. Arkarian, Dillon und Jimmy versuchen das Haus zu sichern. Da drinnen ist die Hölle los.«
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Kapitel 13
Matt
Jetzt bin ich schon sieben Tage und sieben Nächte hier und ver bringe meine Zeit mit nichts anderem als Meditationsübungen. »Du musst einen Ort im Innern deiner Seele finden«, erklärt Dartemis zum wiederholten Mal. Er sitzt auf dem Sofa gegen über. »Und das glückt dir nur, wenn du vollkommen ruhig, vollkommen leer bist, und dies auch mühelos gelungen ist.« Unweigerlich schüttle ich den Kopf. »Ich habe es wirklich probiert. Es gelingt mir nicht.« »Ich könnte dich auf diese Ebene führen, Matthew, und mit dem Training beginnen, doch da du den Punkt nicht durch eigene Kraft erreicht hast, hast du daraus auch nichts gelernt. Schließ die Augen.« Ich befolge seine Anweisung, aber kann mir nicht vorstel len, wie all das funktionieren soll. Ich meine, wie ich es jemals erlernen soll. Wenn es mir nicht gelingt, mich zu entspannen und sämtliche Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, auszublenden – was hat das für einen Sinn? »Schließ die Augen, Matthew.« Weshalb nennt er mich Matthew? Ich kann mich nicht dar an erinnern, dass mich irgendwer jemals mit meinem Vorna men – Matthew – angeredet hat. »Weil ich dir diesen Namen gegeben habe.« Als ich das höre, reiße ich die Augen auf. »Warst du bei meiner Geburt dabei?« 164
Er bleibt einen Augenblick stumm. »Die Einzelheiten hin sichtlich deiner Empfängnis und deiner Geburt sind kompli ziert. Und in deiner augenblicklichen Gemütsverfassung, bei all den Selbstzweifeln, würdest du die Details weder glauben noch begreifen, und ich würde wertvolle Zeit vergeuden, in der ich dir stattdessen etwas beibringen könnte.« »Aber ich habe ein Recht, es zu erfahren!« Die Ellbogen auf die Knie gestützt, die großen, oval ge schnittenen Augen nachdenklich verengt, beugt er sich vor. »Es musste ein Unsterblicher erschaffen werden. Der Versuch meines Bruders war gescheitert, und es wurde entschieden, dass ich diese Aufgabe übernehme. Ich nahm männliche Gestalt an und erkundete die Erde als Mann. Bereits wenig später lernte ich deine Mutter kennen. Wir fühlten uns sehr stark zueinander hingezogen. Als sie schwanger war, musste ich zurück. Das war keine leichte Entscheidung, doch das Risiko, weiterhin auf der Erde zu leben, war zu groß. Lathenia spürte, dass sich irgendwo ein zweiter Unsterblicher aufhält. Aus Angst, dass sie meine Existenz entdecken könnte, musste ich sämtliche Hinweise auf unsere Beziehung aus dem Ge dächtnis deiner Mutter tilgen. Aber eines wollte ich sicherstel len: sie sollte sich an deinen Namen erinnern.« Ich bin sprachlos. »Du hast sie benutzt!« »Ich habe sie gewählt. Ich habe sie geliebt. Und sie hat mich geliebt. Das darfst du niemals anzweifeln, Matthew.« Ich starre ihn an und er fügt hinzu: »Eines Tages wird sie hier mit mir leben.« »Aber das kann sie nicht.« Dazu müsste sie tot sein, füge ich in Gedanken hinzu. »Meine Mutter … liebt den Mann, der bei uns lebt.« Als Dartemis lächelt, verändert sich sein Gesicht. Es leuchtet 165
von innen heraus. Sein Lächeln ist verhalten und gibt mir eindeutig zu verstehen, dass dies das einzige Geheimnis ist, das er mir jemals anvertrauen wird. Natürlich liest er meine Gedanken, während ich überlege. Mit einem tiefen Seufzer, als würde er etwas gegen seinen Willen preisgeben, fügt er hinzu: »Der Beschützer.« »Was hast du gesagt?« »Jimmy ist auf der Erde der Beschützer meiner Familie.« »Echt? Und wer war der Mann, der vor Jimmy bei uns gelebt hat? Isabels Vater. War er auch einer deiner Beschüt zer?« »Nein. Jetzt schließ die Augen, Matthew.« »Eine Sekunde! Ich habe noch mehr Fragen.« Dartemis senkt die Lider, als bemühe er sich um Geduld. »Frag nur.« »Wenn du mein Vater bist, weshalb sehe ich dir dann nicht ähnlich? Deine Haut ist nahezu durchscheinend, und deine Augen sind … na ja, irgendwie anders. Und du bist ziemlich groß. Viel größer als ein gewöhnlicher Mensch.« Unwillkürlich verzieht sich sein Gesicht zu einem Grinsen. »Du bist Gott sei Dank nach deiner Mutter geraten«, sagt er und fügt kurz darauf hinzu: »Außerdem, wer weiß, ob du nicht doch noch wächst?« Allein der Gedanke weckt ein seltsames Gefühl in mir. »Nimm’s mir nicht übel, Dartemis, aber ich möchte niemals so groß werden wie du.« »Niemals ist eine lange Zeit«, entgegnet er kryptisch. »War ten wir’s ab.« »Das klingt so, als hätte ich ein langes Leben vor mir.« Er runzelt die Stirn. »Du bist unsterblich. Erklärt das nicht alles?« 166
»Nein. Ich begreife es nicht. Wenn ich mir in die Hand schneide, blute ich.« »Richtig, aber dein Körper heilt sich selbst. Je ernster deine Verletzung, desto rascher erfolgt die Heilung.« Ich nicke und erinnere mich an das Erlebnis mit den Dy namitstangen. »Schön! Ich werde also lange leben.« So wie Isabel und Arkarian. Also gar keine so schlechten Aussichten. »Isabel und Arkarian werden nur einen Bruchteil deines Lebensalters erreichen.« »Dann werde ich ja ganz schön einsam sein, was?« Besorgt neigt er den Kopf. »Für was für einen Vater hältst du mich?« »Wie soll ich diese Frage verstehen?« »Ehe du von hier weggehst, erhältst du von mir ein Ge schenk. Ein ganz besonderes Geschenk, das du einer bestimm ten Person übergeben musst.« »Das ist eine große Verantwortung! Wie soll ich wissen, dass ich das Geschenk der richtigen Person übergebe?« Seine Augen leuchten wie glühende Kohlen. Er steht auf, und obwohl er nichts sagt, spüre ich, wie sein Groll in jede Zelle meines Körpers dringt. Er fixiert mich. Was könnte seinen Zorn ausgelöst haben? Meint er vielleicht, es fehle mir an Verantwortungsgefühl? Seit der Flucht des Vaters meiner Schwester aus unserem Leben fühle ich mich für Isabel ver antwortlich. Und für meine Mutter gleichermaßen. Zumin dest bis Jimmy in unser Leben trat. Wir sehen einander lange an. Er soll bloß nicht glauben, ich würde den Blick früher abwenden als er. Nach einer Weile nickt er und seine Angespanntheit löst sich. »Matthew, du wirst es spüren. Du wirst merken, dass sie es ist, sobald du dir ein Bild von ihrer Gesinnung gemacht 167
hast.« Er setzt sich wieder hin und fügt hinzu: »Und wenn du ihr dieses Geschenk von mir überreichst, denk daran, dass du meinen Namen nicht nennst. Und jetzt schließe die Augen. Es liegt eine Menge Arbeit vor uns.« Ich seufze tief und bemühe mich, mich seinen Wünschen entsprechend zu verhalten, doch mir gehen so viele Dinge durch den Kopf, dass ich mich überhaupt nicht entspannen kann. Dartemis stöhnt leise, doch seine Stimme klingt eher beruhigend als verärgert. »Ich möchte dir zeigen, wie man Magie erzeugt«, sagt er. »Magie ist nichts weiter als die Verstärkung deiner Kräfte. Du kannst sie als Werkzeug einsetzen und zuweilen auch als Waffe. Du musst dieses Instrument beherrschen lernen, Matthew, weil du nicht rückgängig machen kannst, was du nicht wirklich begreifst. Während du hier mit mir zusammen bist, werde ich dich mit vielen Dingen vertraut machen.« Seine Stimme hat jetzt einen warmen Klang. Ich höre ihm gern zu. »Du wirst lernen, wie man die Elemente beherrscht.« Was redet er da? »Du wirst lernen, die Winde und die Gewässer der Erde in Bewegung zu bringen, wie man Feuer erzeugt und löscht, Berge, Täler und Flüsse formt. Und wie man mit Tieren spricht und die Gestalt einer jeden Kreatur seiner Wahl an nehmen kann.« Habe ich richtig gehört? »Doch diese natürlichen Elemente, Matthew, wirst du nicht mit Hilfe von Zaubersprüchen und Zaubertränken verändern. Aufgrund eines einzigen Gedankens, der deiner Seele ent wächst, wird all dies geschehen. Durch einen einzigen Gedan ken!« 168
Durch einen einzigen Gedanken? »Du wirst unsichtbar, wann immer es erforderlich ist, und du wirst andere Menschen in deiner Begleitung unsichtbar machen können.« Es fällt mir schwer, seine Worte aufzunehmen, dennoch üben sie eine hypnotische Wirkung auf mich aus. Unmerklich verlangsamt sich mein Herzschlag, und ich atme plötzlich leicht, ohne jede Anstrengung. Schließlich füge ich mich in diese unglaubliche Lethargie, die jeden einzelnen Muskel meines Körpers erfasst hat. Ich habe das Gefühl, als würde Dartemis aus großer Entfer nung zu mir sprechen. Seine Worte gleiten sanft und gemäch lich über diese unermessliche Leere. Er spricht vom Leben und von der Macht, die ich durch meine Kräfte über die Lebenden habe. Lange fühle ich mich nahezu entrückt, weiß nicht mehr, wer und wo ich bin, was ich tue, ob ich hungrig oder müde bin, oder ob mir kalt ist. Ich weiß nicht, ob es Nacht ist oder Tag, und ob ich überhaupt noch atme. Ich spüre nur, dass ich dahingleite. Mein Körper ist schwerelos, mein Geist leer. Die Zeit vergeht – es könnten Minuten, aber auch Stunden oder Tage sein. Auf einmal bemerke ich unterschwellig eine Art Unruhe. Eine Stimme dringt zu mir durch. Es ist die Stimme eines Mannes. Jedoch nicht die von Dartemis. »Verzeiht, dass ich Euch störe, Mylord.« Nach und nach wird mir klar, dass es Janahs Stimme ist. Die Stimme klingt verängstigt, und wenig später bin ich hellwach. »Ich bringe Besorgnis erregende Nachrichten.« Das Gefühl zu schweben lässt allmählich nach. »Langsam, Matthew«, warnt Dartemis. 169
Aber ich bin Anfänger und noch nicht vertraut mit all dem Neuen. Ich öffne die Augen und merke, dass ich nicht nur meine, ich würde schweben. Ich schwebe tatsächlich! Fast unter der Zimmerdecke. Doch plötzlich ist es vorbei. Ich falle und komme mit einem dumpfen Schlag unsanft auf dem Boden auf. Dartemis zuckt zusammen, ehe er sich Janah zuwendet. »Was gibt es?« »Eure Schwester hat die Zwischenwelt betreten und die weiße Brücke zerstört.« Kaum bin ich wieder auf den Füßen, haste ich zu den bei den. »Was bedeutet das?« Dartemis betrachtet mich mit sorgenvoller Miene. »Das bedeutet, dass die verlorenen Seelen ihr Ziel niemals erreichen werden. Sprich weiter, Janah.« »Mylord, Lathenia hat einen Spalt geöffnet und zwischen beiden Welten einen Tunnel angelegt. Wo einst die weiße Brücke stand, gibt es nun einen Übergang zwischen der Zwi schenwelt und der Unterwelt.« »Das heißt, dass meine Schwester nun sowohl Macht über die Seelen der Verlorenen als auch über die der Verdammten besitzt«, flüstert Dartemis gedankenverloren. Er wirft mir einen Blick zu. »Matthew, du wirst ab sofort Tag und Nacht trainieren, bis ich zufrieden bin. Hast du verstanden?« Wie ernst es ihm damit ist, lässt sich dem Ton seiner Stim me entnehmen. Ein Schauder durchfährt meine Glieder. Ich nicke. »Gut. Wir beginnen. Janah, bitte lass uns allein.« »Aber, Mylord …«, wirft Janah zögernd ein. »Es gibt noch weitere Nachrichten.« 170
Erneut zeigt sich Besorgnis auf Dartemis’ Gesicht und er knurrt hilflos: »Sprich.« »Marduke greift die Festung an.« »Neriahs Festung?«, hake ich nach und spüre, wie mir plötzlich schlecht wird. Entweder ist es die Reaktion auf mein Schweben oder auf Janahs Nachricht. »Ja«, antwortet Janah. »Sie lebt dort mit ihrer Mutter im Schutz der Wachen.« »Waas?«, rufe ich aus. Dartemis legt seine Hand auf meine Schulter. Ich blicke in sein leuchtendes Gesicht. In seinen goldenen Augen spiegelt sich erneut die Farbe des Feuers. »Matthew, wir müssen uns beeilen.«
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Kapitel 14
Rochelle
Als wir zu dritt vor dem Tor zu Neriahs hochgesichertem Anwesen stehen, formt sich in der Sicherheitsbarriere eine Öffnung, die sich kurz nachdem wir hindurchgetreten sind, mit dem vertrauten schmatzenden Geräusch schließt. Aus Angst vor der Gefahr, der wir uns aussetzen, klopft mein Herz beinahe zum Zerspringen. Wer weiß, was uns erwartet. Ich kenne den Park nur bei Nacht und fand ihn schon beim letzten Mal gruselig. Jetzt scheint er mir noch bedrohlicher, denn die Umgebung liegt im Dämmerlicht, und überall sieht man unruhige Schatten. Als es plötzlich über uns zu knacken beginnt, blicke ich hinauf zu der Kuppel und begreife im selben Augenblick, weshalb die unmittelbare Umgebung in dieses seltsame, gespenstische Zwielicht getaucht ist. »Seht euch das an!« »Was zum Teufel …« Ethan bleibt das Wort im Hals ste cken, als er hinaufblickt. Hunderte Vögel sitzen Seite an Seite auf dem gewölbten Dach – die gleichen Vögel, die Ethan und mich im Wald angegriffen hatten. Sie bilden den Umriss der Kuppel. Wäh rend die einen mit ihren Schnäbeln auf das Dach einhacken, versuchen die andern die Abdeckung mit den Krallen zu zerstören. »Nicht mehr lange, und das Dach ist zerlöchert«, sagt Isa bel. 172
An mehreren Stellen hört man es splittern und krachen, begleitet von ohrenbetäubendem Gekreische, das zunehmend anschwillt. Und auch aus der Ferne dringt schriller Lärm zu uns herüber. Ich bekomme eine Gänsehaut am ganzen Rü cken. »Wie lange wird es dauern, bis das Dach einbricht?« »Arkarian glaubt, es wird in Kürze unter dem Druck nach geben. Wir müssen unbedingt in das Haus gelangen, denn sobald die Kuppel durchlöchert ist, hat Marduke ungehinder ten Zugang«, antwortet Isabel. Marduke? Und die Vögel? Du lieber Himmel! Das gespenstische knackende Geräusch, das sich anhört, als würden Dutzende Eierschalen zerbrechen, geht kurz darauf in ein anhaltendes Prasseln über. »Lauft!«, schreit Ethan. Hals über Kopf rennen wir in die Richtung, in der Neriahs Haus steht. Ein ziemlich langer Weg bis dorthin. Da die Lö cher in der Abdeckung immer größer werden, fliegen mehr und mehr Vögel auf uns zu. Nachdem es anfänglich nur ein paar waren, sind es jetzt bereits Dutzende. Plötzlich gibt die Kuppel nach, birst und begräbt uns unter den herabfallenden Bruchstücken. »Die Kuppel ist aus Kristall!«, schreit Ethan. Sofort hat er eine rettende Idee. »Gib uns deinen Mantel, Rochelle.« Obwohl mir nicht klar ist, was er damit vorhat, reiche ich ihn ihm. Er breitet ihn über unsere Köpfe. Zunächst bietet der Stoff immerhin ein wenig Schutz gegen die Kristallsplitter, doch für die Vögel stellt er kein Hindernis dar. In Scharen stürzen sie sich auf uns. Arkarian und Dillon rennen herbei und vertreiben die Tie re, indem sie mit bloßen Händen auf die Vögel einschlagen. Gleichzeitig jagen Neriahs Hunde, nun in Gestalt von Schnee 173
leoparden, die Auffahrt herauf. Ein geradezu atemberauben der Anblick. Die graziösen und zugleich kraftvollen Tiere springen hoch und schnappen nach den Vögeln, die zu Boden fallen und bewegungslos liegen bleiben. Endlich haben wir das Haus erreicht. Nachdem es Neriah und ihrer Mutter gelungen ist, die Vögel, die nicht von uns ablassen wollen, in die Flucht zu schlagen, schließen sich die Türen und die beiden Leoparden nehmen wieder ihre ur sprüngliche Hundegestalt an. Draußen kreischen die Vögel unvermindert weiter. Sie schlagen mit ihren Körpern und Flügeln gegen die Mauern und Fenster und gegen das Dach. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Aysher und Silos kratzen so lange an der Tür, bis Neriah sie bei Fuß befiehlt. Folgsam setzen sie sich neben sie. Als Arkarian sich umsieht, fällt sein Blick auf einen der Leibwächter. »Hat Jimmy etwas von sich hören lassen?« »Er ist beinahe fertig«, antwortet der Mann. Nahezu im selben Augenblick beginnen die Fenster sowie das Dach und die Fassade bis ins Gemäuer hinein zu dröhnen und zu glühen. Unter schrillem Gekreische fliegen die Vögel auf, als hätten sie sich verbrannt, kehren jedoch kurz darauf wieder zurück und beginnen erneut zu kreischen. Diesmal so schrill, dass wir uns die Ohren zuhalten müssen. Schließlich lassen sie vom Haus ab und ziehen sich ins Geäst der Bäume zurück. Jimmy stürmt herein und läuft auf ein Fenster zu. Die Fens ter sind zwar mit Brettern verbarrikadiert, doch lässt sich durch einen Spalt erkennen, wo sich die Vögel niedergelassen haben. Grinsend wendet er sich uns zu. »Es funktioniert.« Arkarian gibt ihm einen anerkennenden Klaps auf den Rü cken. »Demnach sind wir also im Augenblick in Sicherheit.« 174
Dann richtet er das Wort an Ethan und mich. »Ich bin so froh, dass ihr beide unversehrt seid. Gab es Probleme mit Lathenias Dogge?« Ethan schüttelt den Kopf und deutet auf das Fenster. »Nein. Doch dafür hatten wir ziemlichen Ärger mit den Vögeln dort draußen.« »Ist einer von euch verletzt worden?« Ethan blickt mich verstohlen an, sagt aber nichts. Ich zwin ge mich, seine Gedanken auszublenden, denn ich möchte nicht wissen, was in seinem Kopf vor sich geht. Er ist vielleicht nicht besonders geschickt darin, alles, was er denkt, völlig abzuschirmen, aber er merkt gewiss, wenn ich mitlese, und wird mich dann umso mehr hassen. Und da ich jetzt wieder Kontrolle über meine Fähigkeiten habe, muss ich an seinen Gedanken nicht länger unfreiwillig teilhaben. Arkarian wartet noch immer auf eine Antwort. »Nein, wir sind alle unverletzt.« »Gott sei Dank. Wir müssen Neriah und Aneliese schleu nigst in Sicherheit bringen.« »Was ist dein Plan?«, fragt Ethan. »Ich kann Neriah in die Festung transportieren«, erklärt Arkarian und dreht sich zu ihr um. »Dort bist du außer Ge fahr, bis wir entschieden haben, wo du am besten unter kommst. Aber …« Er schweigt einen Augenblick und richtet den Blick auf Neriahs Mutter. »Dich, Aneliese, kann ich allerdings nicht dorthin bringen. Nur jene, die mit den Kräf ten der Wachen ausgestattet sind, können es in dieser Welt, in der der irdische Zeitbegriff aufgehoben ist, aushalten.« Aneliese fasst ihre Tochter am Arm. »Du musst dich fügen, Neriah.« »Nein!«, entgegnet Neriah entschlossen und sieht dabei ihre 175
Mutter an. »Ich werde dich nicht allein lassen! Außerdem will ich hier bleiben. Ich möchte helfen.« »Deine Ausbildung hat eben erst begonnen«, erinnert Arka rian sie. »Deine Kräfte sind noch begrenzt.« »Ich bin absolut in der Lage, die Aufgabe zu bewältigen, Arkarian. Außerdem kann ich mich noch auf andere Weise nützlich machen. Ich werde nicht zulassen, dass Marduke meiner Mutter etwas antut!« »Ich zweifle keineswegs an deinen Fähigkeiten, Neriah«, entgegnet Arkarian mit sanfter Stimme. »Doch hin und wieder ist es notwendig, sich ganz der Führung eines andern anzuver trauen. Das ist bei den Wachen gang und gäbe. Ich bitte dich, diese Regel zu akzeptieren. Du hast doch Vertrauen zu mir, oder?« »Ja, natürlich! Ich weiß, dass du alles tust, damit wir ge schützt sind. Aber wenn die Situation hoffnungslos ist …« Sie beißt sich auf die Unterlippe, als wolle sie den Rest des Satzes zurückhalten. Ich versuche ihre Gedanken zu lesen – jedoch ohne Erfolg. Sie schmiedet ganz offensichtlich einen Plan. »Marduke würde auch dir etwas antun, Neriah«, versucht Arkarian ihr klar zu machen. »Das bezweifle ich.« »Weshalb bist du dir da so sicher?« »Ich bin seine Tochter, und er liebt mich.« Alle schweigen betroffen. Aneliese fasst nach Neriahs Arm. Sie weiß ebenso wie wir, dass sich in Neriahs Leben mehr abspielt, als sie uns mitteilt. »Du hast erzählt, du hättest Marduke bei dem Kampf mit Shaun zum letzten Mal gesehen«, greift Arkarian den Faden wieder auf. 176
Sichtlich widerstrebend antwortet Neriah schließlich: »Manchmal spricht er mit mir.« Die Augen weit aufgerissen, schüttelt Aneliese den Kopf. Doch ehe Neriah weitere Fragen beantworten muss, fügt sie rasch hinzu: »Aber nur in meinen Träumen. Er hat in meinen Träumen zu mir gesprochen.« »Neriah, ich kenne Marduke«, mische ich mich ein, »und ebenso seine Tricks.« »Ich auch!«, wirft Dillon ein. »Er ist wahnsinnig und setzt sich über alles hinweg, um seine Rachegelüste zu befriedigen.« Dillons Bemerkung scheint Neriah in ihrer Haltung nur noch zu bestärken. »Genau so ist es! Er möchte sich rächen, und zwar an Mum. Er wird sie umbringen.« »Jetzt hör mal zu, Neriah …«, unterbreche ich Dillons Re defluss, doch er drängt sich erneut dazwischen. Diesmal tritt Arkarian vor und hält Dillon seine Hand Ein halt gebietend entgegen. »Sag, was du sagen möchtest, Rochel le.« »Ich habe mit Marduke ziemlich eng zusammengearbeitet. Da er sehr überzeugend auftreten kann, habe ich mich oft von seinen Worten einlullen lassen. Er hat mir unmissverständlich erklärt, dass ich aufgrund meiner Herkunft zum Orden gehö re. Er sagte, dies sei nun mal mein Schicksal, und meine Seele gehöre der Göttin. Jedes Mal wenn ich ihn ansah, schien es mir, als stünde mein leiblicher Vater vor mir. Manchmal war mir, als sähe ich in das Gesicht meines Vaters, der mich auf eine Art anlächelte, nach der ich mich immer gesehnt hatte. Und jedes Lob von Marduke hielt ich für ein Zeichen der Anerkennung meines leiblichen Vaters.« Abgesehen vom gelegentlichen Schrei eines Vogels, der von draußen zu uns hereindringt, ist es mucksmäuschenstill. Alle 177
sehen mich erwartungsvoll an. Ich hasse es, mich derart zu offenbaren, aber Neriah führt etwas wirklich Gefährliches im Schilde, und ich muss versuchen, sie davon abzubringen. »Du solltest dir darüber im Klaren sein, dass Marduke sich in deine Träume hineinstiehlt, um deine Gefühle zu beeinflus sen. Diese List hat er auch bei mir angewandt. Er ist der Hand langer der Göttin, der Befehlshaber ihrer Truppen und war bis zu seiner verhängnisvollen Reise ins Zwischenreich auch ihr Geliebter. Was immer sie ihm befiehlt – er wird sich auf der Stelle fügen. Glaub mir, seine Loyalität gegenüber Lathenia ist größer als seine Liebe zu dir.« Dillon schnaubt hörbar. »Liebe! Diese Kreatur weiß doch gar nicht, was dieses Wort bedeutet!« Doch Dillon kennt Marduke längst nicht so gut wie ich. Sowohl Mardukes Loyalität als auch seine Leidenschaften sind grenzenlos. Er gibt sich allem, was er tut, voll und ganz hin. Ob aus Untertänigkeit oder aus Zuneigung. Und von anderen erwartet er das Gleiche. Seine Verluste bereiten ihm tiefen Schmerz. Er hat eine Menge Rückschläge in seinem langen Leben hinnehmen müssen. »Ich denke, er weiß nur zu gut, was Liebe ist.« Offenbar hat die Art, in der ich von Marduke gesprochen habe, die anderen nachdenklich gemacht. Niemand scheint so recht zu wissen, wohin er den Blick wenden soll. Doch bereits kurz darauf werden wir von einer lauten Exp losion aus unseren Gedanken gerissen. Das Haus wird bis in die Grundmauern erschüttert. Jimmy wirft Arkarian eine Tasche zu. Arkarian öffnet sie, zieht schwarze Masken heraus und gibt jedem von uns eine. »Legt die Masken an, damit man euch nicht erkennt.« Die Masken bedecken den ganzen Kopf bis auf Mund und Augen. 178
»Ethan und Rochelle, ihr nehmt Neriah und Aneliese mit in die Tunnel«, ordnet Arkarian an. »Aneliese wird euch von dort zu meinen Kammern führen.« Zu uns gewandt fügt er hinzu: »Alle anderen folgen mir. Wir müssen Marduke so lange in Schach halten, bis Neriah und Aneliese in Sicherheit sind.« Wir laufen hinter Aneliese und den Hunden eine schmale Treppe hinunter, treten durch eine Tür und steigen die nächs te Treppe hinab. Hier unten ist es stockdunkel. Aneliese nimmt von einem Gestell zu ihrer Rechten eine Taschenlam pe. Im Boden ist eine mit einem eisernen Riegel und einem Schloss gesicherte Tür eingelassen. Hastig reißt sich Neriahs Mutter die Kette vom Hals, an der mehrere Schlüssel hängen, nimmt einen davon und sperrt das Schloss auf. Ethan drückt gegen die Tür. Sie springt quietschend auf. Der Tunnel ist aus Sandstein und Ziegeln gemauert. Wie Kundschafter laufen Aysher und Silos voraus, bleiben jedoch in Sichtweite. Über uns ertönt Donnergrollen. Es hört sich an, als hätte ein Kampf begonnen. Der Lärm wird mit jeder Se kunde stärker. Hoffentlich können die andern Marduke aufhalten. Wenn doch bloß der Tunnel nicht allzu lang ist. Ich bin heilfroh, wieder frische Luft zu atmen und diese Maske absetzen zu können. Wir folgen den Hunden, bis sich der Tunnel plötzlich in drei Gänge gabelt. Ratlos bleiben wir stehen und atmen tief durch. »Wo enden diese Tunnel?«, denkt Ethan laut nach, während wir in die drei Gänge starren. »Der linke Tunnel führt zum nördlichen Eingang des Nati onalparks«, erklärt Aneliese. »Aber bis dorthin …«, sage ich nach kurzem Überlegen. 179
»… ist es noch weit«, vervollständigt Ethan meinen Satz. »Und was ist mit dem mittleren Gang?« Aneliese schüttelt den Kopf. »Er endet auf dem Grund des Sees. Ziemlich genau in der Mitte.« Ich überlege. Warum sollte ein Tunnel unter einem See en den? Aneliese bemerkt offenbar meine Zweifel und erklärt: »Von dort gelangt man zu einem Eingang, der in die unterirdische Stadt führt. Aber er nützt uns nichts. Man hat ihn vor vielen Jahren dichtgemacht.« »Und dieser Tunnel?«, fragt Ethan und deutet auf den rech ten Gang. »Das ist der, der uns zu Arkarians Kammern bringt.« Sie rasselt mit den Schlüsseln. »Einer dieser Schlüssel öffnet uns den Zugang.« Als wir in den Tunnel spähen, erschüttert eine weitere Exp losion die Mauern, und wir sind plötzlich umgeben von einer dichten Staubwolke. Hustend sehen wir einander an. Was geht dort oben vor? Eigentlich sind wir viel zu weit vom Haus entfernt, um etwas von dem Kampf hören zu können. Mir wird übel. Marduke ist ein grausamer Gegner. Ihm unmittel bar gegenüberzustehen, macht mir Heidenangst. Jetzt begreife ich allerdings auch, weshalb Arkarian mich und Ethan hier hinuntergeschickt hat. Wir sind diejenigen, deren Leben am stärksten gefährdet ist. Meines, weil ich Mardukes persönliche Spionin gewesen bin und ihn verraten habe. Und Ethans Leben, weil er ihm vor gut einem Jahr ein Messer in den Hals gestoßen und ihn vollkommen verunstaltet hat. »Los!«, ruft Ethan. Doch kaum setzen wir uns in Bewegung, hören wir erneut eine Explosion, die anscheinend ganz in unserer Nähe stattge 180
funden hat. Durch den Druck werden wir rückwärts geschleu dert. Gleichzeitig füllt sich der Tunnel mit noch mehr Staub und Gesteinstrümmern. Wir sind in einer Wolke gefangen, die uns die Sicht beinahe vollständig nimmt und deren feiner Staub in unsere Masken dringt und uns das Atmen erschwert. Aysher und Silos zupfen an unserer Kleidung, um uns zum Aufstehen zu bewegen. Als sich der Staub gelegt hat, erkennen wir, dass wir den Tunnel, der zu Arkarians Kammern führt, nicht nehmen können. Er existiert nicht mehr. Der Eingang ist verschüttet. »Toll!«, rufe ich, während ich versuche, mir den Staub aus dem Gesicht zu wischen. »Was nun?« Anelieses Augen weiten sich panisch. »Ich weiß es nicht. Zum Haus können wir jedenfalls nicht zurück.« »Dann nehmen wir eben den Tunnel, der in den Wald führt«, schlage ich vor. »Von dort finden wir auch den Weg zu Arkarians Kammern und sind nicht länger in der Todesfalle.« Widerspruchslos folgen mir die anderen. Doch kurz darauf hören wir hinter uns schwere Schritte. Wir pressen uns gegen die Mauer und geben keinen Laut von uns. Es ist Dillon. Als er uns erspäht, bleibt er stehen. »Hier bist du also.« Er sieht Neriah an. Mit entrücktem Ge sichtsausdruck geht er auf sie zu und berührt ihren Arm. »Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.« Wie liebevoll. Aber Neriah ist vollkommen befremdet. Of fenbar war sie sich seiner wachsenden Zuneigung bisher gar nicht bewusst. Sanft entzieht sie ihm den Arm. »Was ist mit unserem Haus?«, erkundigt sich Aneliese. »Ist jemand verletzt?« Dillon nimmt ihre Worte nicht einmal wahr. Er hat nur Augen für Neriah. 181
»Dillon?«, spreche ich ihn direkt an. »Was ist geschehen?« »Marduke und einige seiner Krieger verwüsten das Haus – ein Zimmer nach dem andern. Sie suchen Aneliese.« Neriah packt ihre Mutter am Arm. »Er wird so lange su chen, bis er dich gefunden hat. Das ist die Gelegenheit für ihn.« »Keine Sorge, wir passen schon auf, dass sie euch nicht zu nahe kommen«, sagt Ethan. »Arkarian sagt, ihr sollt euch so schnell wie möglich in sei nen Kammern einfinden«, fügt Dillon hinzu. »Den Tunnel gibt es nicht mehr«, erklärt Ethan. »Und wohin führt dieser Gang?« »Ins Freie«, antworte ich. »Hast du diesen Tunnel ausgewählt?« Ich nicke. Dillon runzelt die Stirn, gibt aber schließlich nach. »Also nichts wie los!« Aus der Ferne dringen Geräusche zu uns, die sich wie Flü gelschlagen anhören, verstärkt durch schrilles Gekreische. Erschrocken sehen wir einander an. Die Laute kommen näher und näher. Ethan scheucht uns auf. »Kommt schon, wir müssen hier raus!« Wir rennen so schnell wir können, doch das Flügelschlagen und das wilde Geschrei kommen immer näher. Als ich einen Blick hinter mich werfe, sehe ich, dass einige von Mardukes Vögeln nur noch wenige Meter von uns entfernt sind. Schützend stellt Ethan sich hinter mich. »Nicht umdrehen!« Den Vögeln nur um Armeslänge voraus, hasten wir weiter. Doch plötzlich endet der Gang. Wir stecken in einer Sackgas se. Kaum haben uns die Vögel eingeholt und attackieren uns mit ihren spitzen Schnäbeln und scharfen Krallen, verwandeln 182
sich die beiden Doggen in Schneeleoparden. Sie halten die Vögel in Schach. Doch die Vögel sind hartnäckig. Wir schöpfen neue Hoffnung, als Aneliese ausruft: »Hier ist er!« Sie schlägt gegen eine Geheimtür in der Mauer über uns. »Das ist der Ausgang.« Sie versucht einen Schlüssel in das Schloss zu stecken, zittert jedoch so stark, dass ihr der Schlüs selbund aus der Hand fällt. Als sich die Vögel erneut auf uns stürzen, gehen die Schlüs sel in dem Tumult verloren. »Ich finde sie bestimmt!«, rufe ich. Meine Hände tasten über den Boden. Sofort formt sich vor meinem inneren Auge der Aufbau des Untergrunds, der aus Schichten schwerer, schwarzer Erde sowie aus Sandstein und Granit besteht. Als ich den Blick hebe, »sehe« ich zweihundert Jahre alte, unter einer feinen Erdschicht liegende Ziegelsteine. »Hier.« Ich halte den Schlüsselbund hoch. Ohne in dem Durcheinander viel erkennen zu können, greift Aneliese danach. Ehe sie ihn berührt und sich verbrennen würde, ziehe ich meine Hand zurück. »Ich mach’s schon«, sage ich und probiere einen Schlüssel nach dem andern aus, bis ich den passenden gefunden habe. Endlich ist die Luke offen. Geblendet sehen wir hinaus ins Tageslicht. Nachdem die Vögel ins Freie geflogen sind, folgen wir rasch. »Oh nein!«, stöhnt Ethan leise auf. Marduke steht vor uns. Geduldig wartend. Selbstgefällig. Er hat ein halbes Dutzend Krieger dabei. Alle vermummt, schwarz gekleidet. Nur die Augen sind erkennbar. Die Krieger haben einen Ring um den Ausgang gebildet. Sie sind mit Messern, Schwertern, Lanzen und anderen Waffen ausgerüs tet. 183
»Jetzt sitzen wir in der Falle«, murmle ich. »Du sagst es«, bestätigt Ethan. »Gut gemacht, Roh«, flüstert Dillon hämisch. »Du sollst sie nicht so nennen!«, zischt Ethan ihm zu. Er zieht ein Messer aus seinem Stiefel und reicht es Dillon. »Brauchst du das?« Dillon schüttelt den Kopf und holt mit der einen Hand eine Peitsche und mit der anderen ein Messer aus seiner Jackentasche. »Na, sieh mal an, was wir so alles bei uns tragen!«, sagt Marduke mit rauer, spöttischer Stimme. »Kein schlechtes Sortiment, würde ich meinen.« Mardukes Blick aus seinem rot funkelnden Auge gleitet hinüber zu Aneliese. Als sie ihn anstarrt, ist sie einen Augen blick unachtsam und lässt mich ihre Gedanken lesen. Sie denkt daran, wie er bei ihrer letzten Begegnung ausgesehen und wie er sich seitdem verändert hat. Ihr fällt die fehlende Gesichtshälfte auf, die leere Augenhöhle sowie die zickzack förmig verlaufenden Narben entlang seines entstellten Mun des. Mit dem dichten Haarwuchs über seiner Augenbraue ähnelt er jetzt eher einem abscheulichen Tier. Marduke betrachtet Neriah durchdringend. Seine Brust hebt sich und sein rotes Auge tritt hervor. Selbst eine Maske kann Neriahs Identität nicht verbergen. Neriah zieht ebenso wie Aneliese einen Dolch aus ihrem Gürtel. Auch ich trage stets ein Messer in meinem Stiefel, doch meine Hände sind weitaus gefährlicher als jede Waffe. Marduke bemerkt die flackernden elektrischen Ströme und zieht die Augenbraue hoch, während er mich mit seinem einen Auge fixiert. »Ich wusste, dass du über weitaus größere Kräfte verfügst. Was könnten wir mit diesen Händen alles bewirken – du und ich.« 184
Allein bei dem Gedanken dreht sich mir der Magen um, und mir liegt bereits eine höhnische Bemerkung auf der Zunge, als Ethan mir zuvorkommt: »Dazu müsstest du zuerst mich töten.« »Es wäre mir ein Vergnügen«, entgegnet Marduke und tippt an sein Schwert, das er um die Taille geschnallt trägt. »Aber da ich heute nicht wegen der Verräterin gekommen bin, muss ich dein verlockendes Angebot leider ausschlagen.« »Wir haben eine Vereinbarung getroffen«, wirft Neriah ru hig und absolut regungslos ein, »und du hast mir ein Verspre chen gegeben.« Zähnefletschend knurren Aysher und Silos Marduke an. Dillon greift nach Neriahs Arm. »Wovon sprichst du?« Neriah befreit sich aus seinem Griff. »Lass mich. Ich weiß, was ich tue.« »Fall bloß nicht auf Marduke und seine Vereinbarungen rein«, werfe ich eilig ein. Marduke lacht auf. »Aber du warst es doch, die mich betro gen hat. Verstehst du das etwa unter Loyalität?« Ich versuche ihn so gut es geht zu ignorieren. »Lass Neriah auf keinen Fall los«, flüstere ich Dillon zu. »Sie meint, sie könne ihm vertrauen, weil er ihr Vater ist, aber sie täuscht sich.« Dillon nickt zustimmend und verstärkt den Griff um Neri ahs Arm. Als sie erneut seine Hand abschüttelt, versucht er noch einmal, sie festzuhalten. Neriah blickt verzweifelt von einem zum andern. »Ihr begreift es nicht. Wenn ich es tue, kann ich verhindern, dass meiner Mutter und euch etwas zustößt.« »Lass uns unsere Arbeit tun«, zischt Ethan ihr zu. »Deshalb sind wir doch hier. Um dich und deine Mutter vor diesem Verrückten zu schützen.« 185
Marduke zuckt belustigt die Schultern. »Wirst du Neriah genau so beschützen, wie du deine Schwester beschützt hast?« Hätte ich die Gabe, Gegenstände in Bewegung zu versetzen, ich würde Ethan das Messer aus der Hand nehmen und es Marduke in den Hals stoßen. Doch ich kenne dieses Monster und weiß, was es im Schilde führt. »Apropos beschützen – wie war das damals mit Isabel?«, fügt er hinzu. »Wenn ich mich recht erinnere, hat sie einen Spaziergang in die Zwischenwelt unternommen, weil du sie so gut beschützt hast.« »Hör nicht auf ihn. Er will dich bloß verwirren, damit du dich nicht mehr konzentrieren kannst.« Ethan senkt den Blick und nickt mir verstohlen zu. Er be greift, aber natürlich zugleich haben Mardukes Worte ihn sehr getroffen. Doch auch dies bleibt Marduke nicht verborgen, und er fängt an zu lachen. Mit einer knappen Kopfbewegung gibt er seinen Kriegern ein Signal. Sie rüsten zum Angriff. Der Kampf beginnt. Dillon und Ethan bemühen sich, Neriah und Aneliese im Blickfeld zu behalten, was ihnen jedoch angesichts der Über macht, der sie gegenüberstehen, nur leidlich gelingt. Dillon ist kräftig und beherrscht den Umgang mit der Peitsche meister haft. Er schleudert zwei Kämpfer in die Luft, die sich jedoch bald wieder erholen und erneut in den Kampf eingreifen. Als Ethan einen von Mardukes Männern an der Schulter verwundet, wird er hinterrücks von einem mit einer Tonja bewaffneten Krieger angegriffen. Er benutzt seine Gabe, Gegenstände zu bewegen, und wehrt einige Wurfsterne ab, indem er sie seinem Widersacher zurückschickt. Plötzlich steht ein Krieger mit einem schimmernden Dolch vor mir. 186
Obwohl ich die Kraft meiner Hände nur ungern offen zeige, bleibt mir nun doch keine andere Wahl. Ich lasse ihn so nah wie möglich an mich herankommen, ehe ich seine Kleidung mit meinem Messer von der Schulter bis zur Brust aufschlitze. Gleich darauf bündle ich meine gesamte Energie in den Hän den und stürze mich auf ihn. Vielfarbig schillernde Funken sprühen aus meinen Händen. Der Krieger sinkt schreiend zu Boden. Marduke wird aufmerksam. »Du hast eine Menge gelernt. Deine Fähigkeiten sind hier absolut verschwendet.« Ich ignoriere ihn so gut ich kann und hoffe, dass niemand von uns Notiz nimmt. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie dächten, Marduke hätte mich tatsächlich in Versuchung geführt. Während wir uns gegen Mardukes Krieger zu behaupten versuchen, haben Aysher und Silos bereits erfolgreiche Arbeit geleistet. Nachdem sich die Tiere vergewissert haben, dass Neriah mit ihrem Angreifer allein fertig wird, gehen sie blind wütig zum Angriff über. Einem Krieger gelingt es, Aysher schwer verwundet zu entkommen. Er rennt in Todesangst auf den Wald zu. Daraufhin konzentrieren sich die Tiere auf Marduke. Sie stellen sich drohend vor ihm auf und wollen sich auf der Stelle den abstoßenden Mann vornehmen. Wenn es überhaupt jemandem gelingt, dann diesen Tieren. Mit ge fletschten Zähnen setzen sie zum Sprung auf Marduke an. Doch kaum sieht er die beiden Leoparden, streckt er ihnen die Hände entgegen. Neriah fängt an zu schreien. Dillon muss sie zurückhalten, als die Tiere in Mardukes heißen, tödlichen Sog gezogen und in die Luft geschleudert werden. Benommen schlagen sie hinter uns auf der Erde auf. Wir stürzen uns auf die übrig gebliebenen Krieger, während 187
Aysher und Silos allmählich ihre Kräfte zurückgewinnen. Mardukes Laune schlägt in Wut um. »Wir siegen«, flüstert Neriah. »Es wird alles gut werden.« Ich möchte ihre Zuversicht nicht enttäuschen, aber ich kenne Marduke und weiß, dass der Kampf erst beendet ist, wenn auch sein letzter Krieger tot ist und er jeden seiner abscheulichen Tricks angewendet hat. Bereits kurz darauf bewahrheiten sich meine Befürchtun gen, als Marduke seiner Verärgerung über die Unfähigkeit seiner Krieger Luft macht. Erneut streckt er die Hände in die Höhe. Diesmal erzeugen die aus seinen Fingerspitzen hervor schießenden grünlichen Blitze eine Welle zischender Energie, die wie eine Woge anschwillt und uns binnen Sekunden einhüllt, bis wir in einem kuppelähnlichen Gefängnis festsit zen. Die Männer, die noch in der Lage sind aufzustehen, stellen sich erleichtert neben ihren Herrn. Marduke hält das pulsie rende gewölbte Dach mit ausgestreckten Händen aufrecht. Als Ethan und Dillon sich aus dem Gefängnis zu befreien versuchen und das energiegeladene Lichtbündel berühren, werden sie von einem gewaltigen elektrischen Schlag zurück geschleudert. »Was nun?«, murmelt Dillon. »Er wird das Kraftfeld auflösen, um an Neriah und Aneliese heranzukommen. Das ist unsere Chance«, flüstere ich ihnen hastig zu. Nickend bilden Dillon, Ethan und ich ein Dreieck um Neriah und Aneliese, während Aysher und Silos sich zwischen uns schieben. Marduke nickt einem seiner Krieger zu. »Wenn ich das Spannungsfeld auflöse, pack die Frau. Aneliese muss endlich dafür bezahlen, dass sie mir mein Kind geraubt hat.« 188
Als Neriah seine Worte hört, schreit sie: »Nein! Du hast es versprochen. Nimm mich.« Auf ein Zeichen von Marduke hin bewegen sich zwei Krie ger auf die pulsierende Kuppel zu, während Marduke den Blick auf Aneliese heftet. Neriah gerät in Panik. Verzweifelt sieht sie zu ihrer Mutter und hört aus Angst lediglich auf die Stimme ihres Herzens. Plötzlich begreife ich, was sich hier abspielt. Marduke zeigt sein wahres, hinterhältiges, manipulierendes Wesen. Er setzt seine von langer Hand geplante Absicht um, indem er über Neriahs Träume in Kontakt zu ihr getreten ist und eine Bezie hung zu ihr aufgebaut hat. Nach und nach hat Neriah Ver trauen zu ihm entwickelt. Und das wurde ihr zum Verhängnis. Marduke ist keineswegs an Aneliese interessiert. Er hat es auf Neriah abgesehen. Und Neriah tappt geradewegs in die Falle. Sie drängt nach vorne, schiebt sich an mir vorbei auf das grüne Licht zu, das um uns herum schimmert und vibriert. »Nein, Neriah!« Ich stürze auf sie zu und packe sie an den Armen, doch kaum berühren meine Hände ihre Haut, fängt sie an zu kreischen und fällt zu Boden. Mit meinen Händen habe ich sie verbrannt. Reflexartig lasse ich sie los. Im selben Augenblick macht sie eine Vorwärtsbewegung. Fest entschlossen, zu Marduke zu gelangen, kriecht sie auf allen vieren durch die Öffnung der Kuppel. Kurz bevor sie Marduke erreicht, dreht sie sich um. »Sag ihnen, sie sollen bleiben, wo sie sind.« Kaum will Aneliese ihr folgen, schließt sich die Öffnung in der Kuppel und das Energiefeld wird noch stärker. Ethan packt Aneliese und zieht sie gerade noch rechtzeitig zurück. Als Aysher und Silos bemerken, dass sich ihre Herrin bei dem Feind befindet, beginnen sie bedrohlich zu knurren, ihre 189
Augen flackern voller Unruhe. Ethan versucht, sie zu besänfti gen, aber sie beißen um sich, um zu verhindern, dass wir ihnen zu nahe kommen. Kurz darauf setzen sie unvermittelt zum Sprung an. Bei dem Gedanken, was geschehen mag, wenn die pulsierende Energie durch sie hindurchfährt, bleibt mir beinahe das Herz stehen. »Nein!«, schreie ich. Ich will ihnen folgen, aber da fällt mir Arkarians Warnung ein, ich könne ein Tier mit meinen blo ßen Händen umbringen. Hilflos jaulend bewegen sich die Leoparden durch das grün lich schimmernde Energiefeld, elektrische Ströme durchzu cken ihre Körper. Und obwohl sich ihr Fell bis zum letzten Haar sträubt, kämpfen sie sich weiter voran. Als es so aussieht, als hätten sie es geschafft, lösen sich ihre Körper auf. Nichts als grünlich schimmernde Luft bleibt von ihnen zurück. Mit lautem Zischen fällt das Energiefeld in sich zusammen, und wir stolpern wie benebelt ins Freie. Suchend blicken wir umher, doch Neriahs und Mardukes Körper sowie die Körper seiner Krieger sind nur noch in schemenhaften Umrissen zu erkennen. Schließlich lösen sie sich vollständig auf.
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Kapitel 15
Matt
Als ich in die Festung zurückkehre, empfängt mich Arkarian. Seine sonst so strahlenden Augen sind voller Sorge. »Ich habe eine dringende Besprechung in meinen Kam mern einberufen«, begrüßt er mich. »Gut, gehen wir.« »Zuvor möchte ich dir noch erzählen, was passiert ist.« »Das mit Neriah habe ich schon gehört«, entgegne ich, um Zeit zu sparen. Die Besprechung findet in einem von Arkarians zahlreichen Nebenräumen statt, wo sich die anderen bereits versammelt haben. Einige haben auf Stühlen Platz genommen, die ähnlich wie im Ratssaal kreisförmig angeordnet sind, andere stehen beieinander und unterhalten sich. Auch Dillon ist hier. Ein Neuzugang zu unserer Gruppe. Wer hat ihm wohl den Zutritt zu Arkarians Kammern ermöglicht? Vermutlich Lady Arabel la. Sie hat sich am meisten mit ihm befasst. Somit sind wir auch ohne Neriah immer noch neun. »Matt!« Isabel entdeckt mich als Erste. Sie will schon auf mich zulaufen, ändert jedoch ihre Absicht. Wie alle hier scheint sie besorgt zu sein wegen der jüngsten Ereignisse, aber darüber hinaus lese ich in ihren Augen noch etwas anderes. Ihr Blick wirkt bekümmert, beinahe ängstlich. So kenne ich Isabel gar nicht. Sie befürchtet wohl, dass mich der Aufenthalt bei Dartemis verändert hat. Ist es denn tatsäch 191
lich so? Ich kann es nicht beurteilen. Eigentlich fühle ich mich nicht anders als zuvor, nur dass ich einiges erfahren habe, was ich lieber nicht gewusst hätte. Und ich bin immer noch er staunt, was ich alles gelernt habe. Doch bis jetzt habe ich meine neuen Kräfte noch nicht ausprobiert, und es hängt eine Menge davon ab, dass ich sie perfekt beherrsche. Ich strecke Isabel die Hände entgegen und versuche sie mit einer scherz haften Bemerkung aufzumuntern. »Was ist? Willst du dein Bruderherz nicht begrüßen? Im merhin war ich ganze sechs Monate weg! Oder hast du mich etwa gar nicht vermisst?« Grinsend kommt sie näher. Ich kann ihren Anblick kaum ertragen. Nach wie vor liegt ein zögernder Ausdruck in ihren Augen. Instinktiv ziehe ich sie an mich und nehme sie in die Arme. Sie lässt den Kopf auf meine Brust sinken und drückt mich fest an sich. Nach einer Weile blickt sie auf. »In Wirk lichkeit warst du nur sieben Tage weg.« Schließlich löst sie sich aus meinen Armen und gibt mir einen Klaps auf die Schultern. »Dafür ist diese Umarmung eigentlich übertrie ben.« Dann begrüßen mich die anderen. Angesichts des ernsten Anlasses für unser Treffen sucht sich jeder schnell einen Platz. Arkarian setzt sich rechts neben mich und nickt mir auffor dernd zu. Ich soll den Vorsitz übernehmen. Macht er Witze? Er teilt es mir über seine Gedanken mit. Seiner Meinung nach bin ich bereit. Bereit, meine Rolle gemäß der Prophezeiung einzunehmen. Besäße ich doch nur seine Zuversicht! Um mich zu wappnen, hole ich noch einmal tief Luft, doch als ich ausatme, klingt es wie ein resignierter Seufzer. Irgendwie entspricht das meinem Gemütszustand. Mag sein, dass ich meine Kräfte entwickelt habe, und eine davon ist es, Gedan 192
ken zu lesen, aber ich brauche noch sehr viel Übung, bevor ich genug Selbstvertrauen habe, sie auch einzusetzen. Die anderen werden allmählich unruhig und sehen sich un behaglich um. Arkarian drängt mich, den nächsten Schritt zu machen. Es ist Zeit, Matt. Glaub an dich und übernimm die Verantwortung. Zeig allen hier, dass du unser Führer bist. Ich blicke in die Runde. Bin ich wirklich der Richtige, um all diese Menschen anzuführen? Die Hälfte der Anwesenden ist älter als ich. Einer ist mein Lehrer! Und, mein Gott, einer sogar Ethans Vater! Mach kleine Schritte. Als mich dieser Gedanke erreicht, be ginne ich zu überlegen, wie der erste Schritt aussehen könnte. Das lenkt mich von meinen Zweifeln ab. Mich auf eine Aufga be zu konzentrieren, tut mir gut. Plötzlich habe ich das Ge fühl, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ich lasse den Blick über die steinernen Wände und den Boden schweifen. »Ist dieser Raum sicher?« »In meinen Kammern sind alle Räume sicher«, erklärt Ar karian. »Und es kann wirklich … niemand mithören?« »Eine absolute Garantie gibt es nicht.« Erneut sehe ich mich im Raum um und suche ihn nach Sprüngen und Rissen ab. »Ich möchte, dass ihr den Kopf gesenkt haltet, bis ich euch erlaube aufzublicken.« Ohne Zögern kommen sie meiner Aufforderung nach. Mit Hilfe meiner neuen Kräfte durchflute ich den Raum mit einem blauen Licht, das sich allmählich zu einem dicken Nebel verdichtet. Dillon und Mr Carter müssen husten. Um eine klare innerste Sphäre zu schaffen, in der wir uns geschützt vor fremden Ohren unterhalten können, puste ich sanft aus. Zu meiner Erleichterung funktioniert es. 193
»Ihr dürft jetzt den Kopf heben.« Erstaunt bemerken die anderen den Dunst, der an der Zimmerdecke, den Wänden und am Boden zu haften scheint. »Jetzt ist der Raum sicher«, erklärt Arkarian leise. »Gute Arbeit, Matt.« »Danke, aber …« Ich spreche den Satz nicht zu Ende. Was hat es schon für einen Sinn, allen zu sagen, wie unsicher ich bin? Wenn ich erreichen möchte, dass sie an mich glauben, muss ich wenigstens den Anschein erwecken, als hätte ich Selbstvertrauen. Dillon, der mir schräg gegenübersitzt, zappelt nervös herum. Unablässig tippt er mit den Füßen auf den Boden, fährt sich mit den Händen durchs Haar und lässt die Fingerknöchel knacken. »Bevor wir anfangen, hast du noch was auf dem Herzen, Dillon?« »Allerdings!«, erwidert er auffahrend. »Weißt du es schon? Marduke hat Neriah in seiner Gewalt!« »Ich habe davon gehört und garantiere dir, dass wir sie zu rückholen werden.« »Wie immer der Plan lautet – ich möchte unbedingt dabei sein!« Abwehrend hebe ich die Hand. »Erzähl mir erst, was vorge fallen ist.« Mit einem verächtlichen Schnauben deutet er auf Rochelle. »Sie hat uns in eine Falle gelockt und Neriah ausgeliefert!« »Das stimmt doch überhaupt nicht!«, stößt Rochelle hervor und springt auf. Shaun, der neben ihr sitzt, bewegt sie dazu, wieder Platz zu nehmen. Dillon fährt fort: »Rochelle hat Neriah an der Hand gehal ten, aber dann hat sie plötzlich losgelassen, und Neriah ist Marduke direkt in die Arme geflogen.« 194
Rochelle fasst sich an die Stirn, als könnte sie dadurch ver hindern, den Verstand zu verlieren. »Das sind schwerwiegende Anschuldigungen, Dillon.« »Es ist die reine Wahrheit. Frag doch Ethan. Er war auch dabei.« »Wir wollen zuerst Rochelles Version hören.« Sie sieht mich an. Ihre sonst leuchtend grünen Augen sind gerötet und haben dunkle Ringe. Als sie die Hände vorstreckt, kann sie ein Zittern nicht unterdrücken. Sie starrt darauf, als wären sie Fremdkörper und gehörten nicht zu ihr. In den achtzehn Monaten, die wir zusammen waren, habe ich sie kein einziges Mal so verzweifelt erlebt. »Sie hat sich an meinen Händen verbrannt. Und was den Tunnel betrifft, so dachte ich, es wäre der Richtige.« »Jetzt trägst du deine Handschuhe. Wo waren sie zu der fraglichen Zeit?«, fragt Arkarian neben mir. »In meiner Manteltasche«, entgegnet sie. »Im Haus. Als ich durch den Tunnel gegangen bin, habe ich den Mantel nicht getragen. Erst danach bin ich zurückgegangen und habe ihn geholt.« »Welche Fortschritte machen deine Stunden bei Lady Ara bella?«, will ich wissen. Ehe sie antworten kann, springt Dillon auf, sein ganzer Körper bebt vor Wut. »Du hattest Unterricht darin, deine Hände unter Kontrolle zu halten, und hast Neriah trotzdem wehgetan?« Er beantwortet seine Frage selbst mit einer weite ren Anschuldigung. »Typisch! Also arbeitest du immer noch für Marduke, stimmt’s?« Wie der Blitz ist Ethan auf den Beinen. »Halt die Klappe, Dillon! Keiner hat das Recht, hier jemanden zu beschuldigen, kapiert? Rochelle sitzt schließlich nicht auf der Anklagebank!« 195
Und an mich gewandt erklärt er: »Ich habe gesehen, was sich abgespielt hat. Es stimmt, dass Rochelle Neriah losgelassen hat, aber es war keine Absicht. Bei Rochelles Berührung hat Neriah so geschrien, dass Rochelle instinktiv die Hände zu rückgezogen hat. Uns blieb gar keine andere Wahl, als diesen Tunnel zu benutzen, da derjenige, der zu Arkarians Kammern führt, blockiert war.« Stille tritt ein, bis Rochelle mit leiser Stimme sagt: »Die Ge fühle sind mit mir durchgegangen. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle.« »Ganz genau, und deshalb haben wir Neriah verloren«, ent gegnet Dillon. »Dann müssen wir sie eben zurückholen«, versuche ich die anderen zu beruhigen. »Schluss mit den Schuldzuweisungen.« Dillon nimmt nervös Platz. »Meinetwegen, aber ich will auf jeden Fall an der Rettungsmission teilnehmen.« Sein Blick gleitet von mir zu Arkarian. »Arkarian, sag ihm, dass er mich mitnehmen soll.« Schweigend erwartet die versammelte Runde Arkarians Antwort. Er wirft mir einen kurzen Seitenblick zu, aber seine Worte sind an alle Anwesenden gerichtet. »Von nun an trifft Matt sämtliche Entscheidungen.« »Ach?«, fragt Dillon überrascht. »Soll mir recht sein. Mir geht es nur darum, Neriah zurückzuholen. Klar?« Ich versuche, Dillons Hartnäckigkeit zu ignorieren, doch was seine leidenschaftlichen Gefühle für Neriah betrifft, ist das schier unmöglich. Sie werden sein Urteilsvermögen trüben, und das könnte den Ausgang einer wie auch immer gearteten Rettungsaktion gefährden. Dennoch … seine Leidenschaft nimmt ihm die Angst, und das wäre von Vorteil, besonders wenn man bedenkt, wohin diese Mission uns führen wird. 196
In die Stille hinein sagt Rochelle: »Neriah denkt, dass ihre Mutter sicher ist und es kein Blutvergießen gibt, solange sie selbst sich in Mardukes Gewalt befindet. Sie hat mir eine Botschaft für euch mitgegeben …« Als sie zögert, hake ich nach. »Und wie lautet die Bot schaft?« Sie schluckt schwer. »›Sag ihnen, sie sollen bleiben, wo sie sind‹, war ihre Nachricht.« Schäumend vor Wut springt Dillon auf. »Setz dich wieder hin, Dillon! Wir haben deinen Einspruch bereits zur Kenntnis genommen.« Dann wende ich mich wieder an Rochelle: »Glaubst du, dass sie bei Marduke sicher ist?« »Auf keinen Fall!«, erwidert sie sofort. »Dann bist du also der Ansicht, dass wir sie retten sollten?« »Ja, und zwar so schnell wie möglich.« »Weißt du, wohin man Neriah gebracht hat?«, erkundigt sich Shaun, der neben Rochelle sitzt. »Sie wird in Lathenias Palast auf dem Olymp gefangen gehalten.« »Verdammter Mist!«, ruft Dillon, bevor er Rochelle einen weiteren hasserfüllten Blick zuwirft. »Gut gemacht, Roh. Und wie sollen wir sie deiner Meinung nach aus diesem Bunker wieder herausholen?« Dillon reagiert viel zu emotional. Wenn er sich nicht zu sammenreißt, wird er nur eine Belastung sein. Schon wieder tigert er nervös auf und ab, wobei er aufgeregt mit den Armen fuchtelt. »Ihr begreift das nicht. In Lathenias Palast einzudringen ist so gut wie unmöglich!« »Das klingt ja so, als wärst du schon mal dort gewesen.« Schließlich bleibt er stehen und sieht mich an. »Ja genau, 197
das stimmt, ich war da. Glaubt mir, es ist eine eisige Höllen festung.« »Wenn du uns ein bisschen mehr erzählst, verstehen wir vielleicht, warum du dich so aufregst.« »Der Palast ist von hohen Außenmauern aus undurch dringlichem Stein, Marmor und Kristall umgeben. Die gesam te Anlage ist durch scharfe Sicherheitsmaßnahmen geschützt. Auf der Brüstung stehen rund um die Uhr Wachposten, jeweils drei pro Eckturm. Sie verfügen über ganz spezielle Waffen – Armbrüste mit vergifteten Pfeilspitzen, die den Gegner binnen Sekunden töten. Und sollte es jemandem gelingen, die Außenmauern zu überwinden, muss er es mit Lathenias Hunden aufnehmen, sieben an der Zahl. Sie werden bewusst ausgehungert und darauf dressiert, jeden anzugreifen, der zu den inneren Mauern vordringt. Ach, habe ich die magischen Fallen schon erwähnt?« Bei diesen Worten hebt Gemurmel an. »Die gesamte Anlage ist durch Fallen in Form von Zauber sprüchen und Verwünschungen geschützt.« »Danke, Dillon. Du darfst wieder Platz nehmen. Ich denke, wir sind jetzt im Bilde«, sage ich. Mir bleibt überhaupt keine andere Wahl, ich muss ihn mit nehmen, auch wenn er noch so labil ist. Seine Kenntnisse über Neriahs Gefängnis sind zu wertvoll. Es sei denn … ich lasse den Blick zu Rochelle gleiten. »Was weißt du über diesen Palast, Rochelle?« Sie zuckt mit den Schultern. »Im Grunde nichts. Ich war nie dort.« »Nein, selbstverständlich nicht«, höhnt Dillon. »Du warst doch Mardukes persönliche Assistentin. Er wollte dich nicht mit Lathenia teilen.« 198
Diese Bemerkung ruft helle Empörung hervor. Ethan ist der Erste, der aufspringt und Dillon schwere Vorwürfe macht, aber auch alle anderen zeigen offen ihre Missbilligung. Über raschenderweise tut Mr Carter seinen Ärger am lautesten kund: »Jetzt reicht’s aber, Dillon! Du gehst zu weit!« »Warum setzen ausgerechnet Sie sich für Rochelle ein? Alle wissen doch, dass Sie ihr nicht trauen.« »Vertrauen muss man sich verdienen. Du solltest das ei gentlich wissen.« Gebieterisch hebe ich die Hand, um die Ordnung wieder herzustellen. »Bevor wir … bevor ich entscheide, wer wohin geht, gibt es noch einige Punkte zu besprechen. Zunächst einmal müssen wir in Erfahrung bringen, wo sich der Schlüs sel befindet.« »Warum suchen wir nicht gleich in Lathenias Palast da nach, wenn wir schon mal da sind?«, schlägt Arkarian vor. Allgemeines Kopfnicken. »Weil wir den Schlüssel dort nicht finden.« Ich werde mit Fragen bombardiert. Als wieder Ruhe ein kehrt, erkläre ich: »Offenbar wurde der Schlüssel nicht von Lathenia aus den Ruinen des Tempels geholt.« »Dann muss es der Verräter gewesen sein«, sagt Jimmy. »Nur, wer hätte die Macht dazu? Es ist schließlich kein Kin derspiel, die Unterwelt zu betreten und sie wieder zu verlassen.« »Weißt du, wo der Schlüssel jetzt ist?«, fragt mich Arkarian leise. Stille. Sie warten auf eine Antwort. Aber ich darf Dartemis’ Namen weder aussprechen noch offen an ihn denken. »Mir wurde gesagt, dass ich ihn in Athen suchen soll.« »Im Palast von Athen?«, fragt Jimmy ungläubig. »Alle, die dort leben, genießen aber doch unser vollstes Vertrauen.« 199
»Wer immer der Verräter sein mag, er muss sowohl die Macht als auch die Erlaubnis haben, Hochsicherheitsgebiete und andere Welten zu betreten.« »Weißt du, wer unter Verdacht steht?« »Es wurden keine Namen genannt«, erkläre ich. Isabel legt die Hand auf meinen Arm. »Wir schaffen das nicht allein, Matt. Gibt es im Palast jemanden, dem wir ver trauen können?« Ich nicke. »König Richard. Er wird uns helfen.« Zustimmendes Gemurmel hebt an. Als wieder Ruhe herrscht, fragt Arkarian: »Also, wie sollen wir vorgehen?« Ich hole tief Luft und hoffe, die richtigen Entscheidungen zu treffen. »Ethan, Isabel und Rochelle, ihr werdet zum Palast in Athen reisen, den Schlüssel zurückholen und versuchen, den Verräter ausfindig zu machen. Solltet ihr jedoch durch seine Entlarvung euer Leben aufs Spiel setzen, haltet seinen Namen geheim und kehrt zurück.« »Wenn nicht einmal Lorian weiß, dass sich der Schlüssel in seinem Palast befindet, wie groß ist dann überhaupt unsere Chance, ihn zu finden?«, wendet Ethan ein. »Die Wahrscheinlichkeit ist klein. Trotzdem, ihr alle besitzt außergewöhnliche Kräfte, und Rochelles Hände werden von unbezahlbarem Nutzen sein.« Ich werfe ihr einen Blick zu, um sicherzugehen, dass sie mich verstanden hat. Doch im selben Augenblick wird mir klar, dass ich ihr Dinge zu sagen habe, die man besser nicht laut ausspricht, weil sie missverstanden werden könnten. Daher benutze ich meine neu erworbene Fähigkeit, Gedanken zu lesen, und schicke ihr eine Botschaft. Du darfst deine Hände nicht als Verderben bringende Waffen sehen, sondern als nützliche Werkzeuge. 200
Vor Überraschung weiten sich ihre Augen, aber sie sagt nichts darauf. Bevor die anderen ungeduldig werden, weil ich so lange schweige, fahre ich hastig fort. Sie bergen eine große Kraft, die du noch weiterentwickeln kannst. Arbeite daran und hab keine Angst. Geh behutsam vor. Dann wende ich mich rasch wieder an die Runde: »Arkari an und Dillon, ihr werdet mich zu Lathenias Palast begleiten, um Neriah zu retten.« Wie üblich reagiert Dillon ziemlich übertrieben. »Jawohl!« »Matt, ich bin mir nicht sicher, ob du meine Talente kennst«, wendet Jimmy ein. »Ich weiß Bescheid.« »Dann muss dir klar sein, dass ich euch im Palast äußerst nützlich sein könnte.« Bei Jimmys Worten stöhne ich innerlich auf, lasse mir je doch nichts anmerken. Wir sind nie gut miteinander ausge kommen, und es passt mir nicht, dass er bei uns wohnt. Aber Dartemis hält große Stücke auf Jimmy. Das muss ich akzeptie ren. »Im Augenblick werden deine Fähigkeiten hier dringender gebraucht«, erwidere ich und wende mich den anderen zu. »Lathenia hat die Zwischenwelt unter ihre Kontrolle gebracht. Sie hat ihr Heer mit den verlorenen Seelen verstärkt. Wie ihr wisst, sind bereits Geschöpfe der Unterwelt auf der Erde aufgetaucht. Wir müssen unbedingt zu verhindern suchen, dass sie mit Menschen in Kontakt treten.« Um mich zu verge wissern, dass er weiß, was er zu tun hat, richte ich den Blick erneut auf Jimmy. »Veridian ist in großer Gefahr. Sollten diese Geschöpfe in die alte Stadt eindringen, könnte das für uns verheerende Auswirkungen haben. Jimmy, deine Aufgabe ist es, Veridian zu sichern. Geh dorthin und finde einen Weg, es 201
zu schützen, sollte es zum Schlimmsten kommen. Leg mir deinen Plan vor. Die Stadt birgt mehr in sich, als es den An schein hat.« »Ich werde mein Bestes tun.« »Und wie lautet meine Aufgabe?«, will Shaun wissen. »Während Arkarians Abwesenheit musst du das Holo gramm überwachen. Lathenia plant etwas ganz Großes, das katastrophale Folgen für die Gegenwart und die Zukunft haben wird. Halte Ausschau, ob sich ein Portal öffnet. Sobald das geschieht, müssen wir schnell handeln und unsere Leute hinschicken.« Jetzt ist nur noch eine Person übrig. »Und ich?«, fragt Mr Carter. »Marcus, Sie werden in der Festung gebraucht. Da insge samt sechs von uns gleichzeitig durch die Zeit reisen, werden Ihre Fähigkeiten als Koordinator sehr wichtig sein. Ihre Arbeit erfordert größere Präzision denn je.«
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Kapitel 16
Rochelle
Mr Carter setzt uns mitten auf dem bereits vertrauten golde nen Palasthof in Athen ab. In der lauen Abendluft hören wir direkt hinter uns Vögel singen, in hohen, klaren Tönen. Rasch drehe ich mich um, weil ich wissen möchte, welche Vogelart eine derart reine und zugleich traurige Melodie hervorbringt. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so bezaubernde Stimmen wie die dieser Vögel gehört, und trotzdem bin ich auf ihren Anblick nicht gefasst. Sie sind so unbeschreiblich schön, dass es mir den Atem verschlägt. Isabel tritt an meine Seite. Auch sie heftet den Blick wie ge bannt auf das Papageienpärchen, das auf einer Stange aus Olivenholz sitzt. »Hast du schon mal so etwas Herrliches zu Gesicht bekommen?« »Nein, noch nie«, murmle ich. Ethan gesellt sich zu uns. »Was gibt’s denn da zu sehen?«, will er wissen, ehe er sie selbst entdeckt. »Wahnsinn! Sind die echt?« »Sie klingen jedenfalls recht lebendig«, erwidert Isabel, wäh rend das Vogelpaar eine neue melancholische Melodie an stimmt. Ein starkes Verlangen, die Hände auf den Käfig zu legen, erfasst mich. Ich bilde mir ein, ich könnte dann ihre Seelen »erspüren«. Der Drang wird so heftig, dass ich ihm nachgebe und langsam die Handschuhe abstreife. 203
Ein Zischen hinter mir unterbricht mich dabei. Erschreckt fahre ich zusammen, das Herz klopft mir bis zum Hals. Es ist Lady Arabella. Kaum habe ich meine Handschuhe wieder angezogen, steht sie neben uns und blickt mit uns in den Käfig. »Wie ich sehe, habt ihr meine Vögel schon entdeckt.« »Sie gehören Euch?«, erkundigt sich Isabel. »Ich wusste gar nicht, dass Ihr Vögel haltet, Mylady.« »Ich habe sie erst vor kurzem gefunden«, erklärt sie. »Oder vielleicht sollte ich besser sagen, sie haben mich gefunden. Sind es nicht wundervolle Geschöpfe?« Wir nicken zustimmend, aber Isabels Neugier ist noch nicht gestillt: »Sind ihre Federn aus echtem Gold?« »Es sieht ganz so aus.« »Und die Augen?«, will ich wissen. »Sind das echte Diaman ten?« »Rosa Diamanten, die seltensten im ganzen Universum.« Lady Arabella kann ihre Begeisterung für ihre neuen Haustiere kaum verbergen. »Ich muss sie zu ihrem eigenen Schutz einsperren. Als sie zu mir kamen, waren sie schwer verletzt. Sie konnten nicht mehr fliegen.« »Wer sollte diesen wundervollen Tieren etwas antun?«, stößt Isabel hervor. Mit nachdenklicher Miene betrachtet Lady Arabella die Vö gel. »Wer weiß, meine Liebe?« »Möchtet Ihr, dass ich versuche, sie zu heilen, Mylady?«, bietet Isabel an. Lady Arabella wirft ihr einen überraschten Blick zu, dann sagt sie leise, aber bestimmt: »Danke für dein großzügiges Angebot, aber die Heilung macht in meiner Obhut gute Fortschritte. Sie vertrauen mir.« 204
Ethan, der schweigend zugehört hat, mustert die Vögel nun stirnrunzelnd. Das entgeht Lady Arabellas Aufmerksamkeit nicht. »Magst du sie nicht, Ethan?« »Ich finde sie sehr beeindruckend, Mylady. Es ist nur so, dass ich noch nie etwas Derartiges gesehen habe.« Und ehe er es verhindern kann, entschlüpft ihm unvermittelt ein Gedan ke. Zumindest nicht in dieser Welt! Wo seid Ihr also gewesen, Mylady? Als ich ihm heftig auf den Fuß trete, schnellt sein Kopf her um. Endlich kapiert er, dass ich seine Gedanken gelesen habe, und wenn ich dazu fähig war, dann möglicherweise auch Lady Arabella. Eindringlich starrt sie ihn an, ihre eisverkrusteten Wimpern zucken nervös. Schließlich beginnt sie zu lächeln. Ich bin erleichtert. Diese Mission wird schwierig. Wir müssen wirklich jeden Gedanken sorgfältig abschirmen. Und obwohl wir erst so kurze Zeit hier sind, hat Ethan damit bereits Schwierigkeiten. Plötzlich taucht Lord Penbarin vor uns auf. »Hier seid ihr ja!« Erst denke ich, das sei an Lady Arabella gerichtet, aber ich begreife schnell, dass wir drei gemeint sind. »Lorian wünscht, euch sofort in seinen Privatgemächern zu sehen.« Kalte Angstschauer jagen mir den Rücken hinunter. Matt hat uns schließlich vorgewarnt. Es gibt kaum etwas, das hier oder anderswo vorgeht, ohne dass Lorian es sieht oder dass es ihm irgendwie zu Ohren kommt. Unsere Aufgabe – den Schlüssel zu finden und den Verräter zu entlarven – ist schier unlösbar. Aber jetzt sind wir nun mal hier und werden es zumindest versuchen. Jeder kleinste Hinweis könnte nützlich sein. Während uns Lord Penbarin durch eine Reihe weitläufiger 205
Flure führt, bleiben Ethan und ich ein Stück zurück. »Viel leicht ist es besser, wenn du nicht mit in Lorians Gemächer kommst .« Er blickt mich durchdringend an. »Warum denn?« Dann begreift er und wie immer wird er wütend auf mich. »Du hast schon wieder meine Gedanken gelesen! Hör endlich auf damit!« »Ich mache es doch nicht absichtlich«, versuche ich mich zu verteidigen. »Hast du deine Kräfte nicht unter Kontrolle?« »Natürlich«, zische ich ihm zu. »Aber du schleuderst mir deine Gedanken so heftig entgegen, als würdest du Tennisbälle auf meinen Kopf abfeuern.« »Das kannst du mir nicht weismachen!« »Tut mir leid, aber es ist so. Du weißt, wie gefährlich das ist, Ethan.« »Vielleicht geschieht es gegen meinen Willen«, erwidert er in etwas gemäßigterem Ton. Auch ich bemühe mich, leise zu reden. »Aber darauf will ich ja gerade hinaus.« Lord Penbarin wirft uns einen kurzen Blick zu, enthält sich aber Gott sei Dank eines Kommentars. Dafür möchte Isabel wissen, worüber wir reden. Und obwohl ich in letzter Zeit keinen Zugang zu Isabels Gedanken hatte, beschließe ich, mich zu vergewissern. »Hast du hin und wieder Probleme damit, deine Gedanken abzuschirmen?« Kichernd entgegnet sie: »Nein, das lernt man sehr schnell, wenn man mit einem Gedankenleser zusammen ist.« Dann blickt sie Ethan offen ins Gesicht und fügt flüsternd hinzu: »Versuch es doch auch mal.« 206
Bei ihren Worten wird mein Gesicht ganz heiß. Es gibt nicht viele, die Gedanken lesen können. Neben Arkarian und Marduke gehören nun auch Matt dazu und natürlich sämtli che Mitglieder des Hohen Rats. Wir gelangen zu einer Doppeltür, die mit prächtigen Schnitzereien und goldenen und silbernen Ornamenten verziert ist. Lord Penbarin drückt die Klinke herunter und stößt einen Flügel nach innen auf. »Lorian möchte euch alle drei sehen. Und denkt euch schon mal eine plausible Erklä rung aus, warum ihr euch unangemeldet und ohne Einladung hier aufhaltet.« Damit erledigt sich wenigstens die Frage, ob Ethan vor der Tür bleiben soll oder nicht. Einer nach dem anderen treten wir ein. Vor uns öffnet sich nicht nur ein einzelner Raum, sondern mehrere Gemächer auf verschiedenen Ebenen, die durch marmorne Bogengänge mit Geländern aus Alabaster mitein ander verbunden sind. Hier und dort in Wandhalterungen befestigte Lampen werfen einen goldenen Schimmer auf die überwiegend weißen Wände. Vor einigen Fenstern hängen dunkle Vorhänge, von denen manche fest zugezogen, andere durch Kordeln mit baumelnden Quasten seitlich gerafft sind. Die Möblierung wirkt in ihrer Kargheit elegant. In der Mitte des ersten Raums steht ein massiver weißer Steintisch, um den passende Stühle mit hoher Lehne gruppiert sind. Daneben gibt es eine ebenfalls weiße, weich gepolsterte Couchgarnitur. Als ich mich schon frage, wo Lorian bleibt, sehe ich ihn auf uns zukommen. Ohnehin von großer Gestalt, lässt ihn seine weiße, bodenlange Tunika mit silbernen Borten an Kragen und Ärmeln noch größer erscheinen. Er ist unglaublich ein drucksvoll. Arkarian hat mich ihm während meiner Verneh 207
mung einmal vorgestellt, aber damals trug er einen Umhang, der sein Gesicht fast völlig verbarg. Heute dagegen ist sein Kopf unverhüllt und man sieht seine helle, durchscheinende Haut, die sanft schimmert, die dunkelvioletten Augen und das lange, silberne Haar, das ihm fließend über die Schultern fällt. Auf eine Handbewegung hin erscheinen drei Schemel mit roten Samtkissen darauf. Ich weiß nicht, wie es Ethan und Isabel geht, aber ich bin dankbar dafür, denn plötzlich fühlen sich meine Beine wie Pudding an. Nun da ich Lorian, der stehen bleibt, so nahe bin, fällt es nur schwer, ihm ins Gesicht zu sehen. Er strahlt Kälte und Zorn aus. Isabel blickt nervös zu mir. Ich gehe sorgfältig noch einmal die Gründe durch, die wir uns für unsere Anwesenheit hier zurechtgelegt haben. »Warum hat die erste Sitzung, die Matt geleitet hat, in einer schützenden Atmosphäre stattgefunden?«, beginnt er. Es verschlägt uns die Sprache, denn auf diese Frage waren wir überhaupt nicht vorbereitet. Ich bestürme Ethan, seine Gedanken unbedingt abzuschirmen. Die Stille lastet schwer im Raum und wir winden uns unter dem bohrenden Blick des Unsterblichen. Schließlich ergreife ich das Wort. »Das war Matts Idee.« Isabel sieht mich warnend an. Wahrscheinlich fragt sie sich, worauf ich hinauswill. Ich bemühe mich, die Erklärung möglichst harmlos klingen zu lassen. »Er wollte nur eine seiner neuen Kräfte ausprobie ren.« Daraufhin heftet Lorian den Blick auf mich. Ich habe das Gefühl, er könne bis in mein Innerstes sehen. Mit einem Mal muss ich die Augen schließen. Ich benötige all meine Kon zentration für den simplen Vorgang, Luft in meine Lungen zu 208
befördern. Plötzlich beginne ich zu zittern und mir wird ganz schwindlig. Wie aus weiter Ferne höre ich Ethan rufen. »My lord, sie gehört jetzt zu den Auserwählten.« Die Benommenheit legt sich, aber ich fühle mich immer noch durcheinander und mir ist, als würde ich fallen. Tatsäch lich lande ich hart auf dem Boden. Isabel und Ethan helfen mir wieder auf den Schemel. »Was war los?« »Alles in Ordnung, jetzt ist es vorbei«, erklärt Ethan. Als ich zu Lorian aufblicke, stelle ich fest, dass das Leuchten seiner Haut schwächer geworden ist. »Du bist noch nicht eingeführt worden.« »Nein, Mylord.« »Aus welchem Grund?« »Arkarian hatte viel zu tun. Ich bin sicher, er kümmert sich darum, sobald er wieder zurück ist«, erklärt Ethan an meiner Stelle. Aber damit gibt sich Lorian nicht zufrieden. Meine Kon zentration lässt kurz nach. Mir schwirrt noch der Kopf von dem intensiven Kontakt mit Lorian vor wenigen Augenbli cken, daher gelingt es mir nicht, meine Gedanken für mich zu behalten. Weil man mir nicht vertraut! Na super! In meinem Kopf beginnt es zu pochen, er fühlt sich so schwer an, dass ich die Stirn mit der Hand abstützen muss. Nach einer Weile wird das Pochen unerträglich. Gleich zeitig strömt eine Woge warmer Energie durch meinen Kopf. Als ich aufblicke, sehe ich Lorian mit erhobener Hand direkt vor mir stehen. Ich gebe dem Verlangen nach, die Augen zu schließen, und sogleich pulsiert die Energie in sanften Wellen durch meinen ganzen Körper. Nach wenigen Sekunden ist es vorüber und Lorian tritt einen Schritt zurück. Ich mache die 209
Augen auf. Alles ist wieder klar, die Kopfschmerzen sind weg. Stattdessen erfüllt mich ein angenehmes Gefühl der Zufrie denheit und, was noch eigenartiger erscheint, der Zugehörig keit. »Morgen bei Tagesanbruch findet deine Einführung statt«, verkündet Lorian, bevor er sich an Ethan wendet: »Wirst du während Arkarians Abwesenheit seinen Platz einnehmen und Rochelle dem Hohen Rat vorstellen, damit sie ihre Gaben erhalten kann und von den anderen endlich akzeptiert wird?« »Natürlich, Mylord.« »Dann ist das also abgemacht. Jetzt erklärt mir, was ihr hier zu suchen habt.« »Wir sind gekommen, um dem König von der Lage in Ve ridian zu berichten«, sagt Ethan. »Wie Ihr sicher wisst, ist eine Menge passiert.« Dann fügt er noch hinzu: »Was mich betrifft, Mylord, so freue ich mich darauf, König Richard wiederzuse hen.« Lorian senkt den Kopf. Einen Moment schließt er mit zit ternden Lidern die Augen. »Das ist nur natürlich, Ethan. Lord Penbarin erwartet euch vor der Tür. Er wird euch in den Nordflügel bringen, wo ihr euren König findet. Fühlt euch wie zu Hause. Heute Abend dürft ihr nach Belieben den Palast erkunden.« Draußen mustert uns Lord Penbarin eingehend. Trotzdem, es hätte nicht besser laufen können. Wir haben tatsächlich Lorians Erlaubnis, uns hier umzusehen! Ich versuche nicht daran zu denken, was morgen bei Tagesanbruch geschehen wird. Offenbar sehe ich trotzdem bekümmert aus, denn Isabel legt beruhigend die Hand auf meinen Arm. »Wegen der Einführung brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich kann mich noch gut an meine erinnern. Vor 210
Aufregung hatte ich weiche Knie. Aber dann lief alles wunder bar. Und du kennst ja Lady Arabella schon ganz gut …« »Außerdem kennst du mich«, fügt Lord Penbarin mit ei nem verschmitzten Zwinkern hinzu. Er betrachtet mich prüfend, dann legt er einen Finger an die vollen roten Lippen. »Hm, welche Gabe soll ich dir verleihen? Hast du irgendwel che Vorschläge, Ethan?« Lord Penbarin hat es scherzhaft gemeint, und Isabel lacht, während Ethan mit vollem Ernst erwidert: »Warum fragt Ihr mich, Mylord?« Lächelnd blickt Lord Penbarin zwischen uns hin und her. Dann wendet er sich ab und murmelt: »Ich dachte, das liegt auf der Hand.« Gott sei Dank geht er nicht weiter darauf ein, und einige Minuten später stehen wir vor einer weiteren hohen Doppel tür. Noch bevor wir klopfen, wird sie von König Richard persönlich geöffnet. Obwohl er eigentlich nicht groß ist, wirkt er in seiner langen Robe hoch gewachsen. Es scheint ihm gut zu gehen und er ist offensichtlich bester Stimmung. Er be grüßt Lord Penbarin mit einem Lächeln und bittet uns einzu treten. Als er Ethan entdeckt, umarmt er ihn herzlich. »Endlich sehen wir uns wieder!« »Wie geht es Euch, Hoheit?« Lachend wirft König Richard den Kopf in den Nacken. »Ausgezeichnet, mein Guter.« Mit einer ausholenden Hand bewegung deutet er auf die luxuriöse Umgebung. »Das hier ist viel besser als das dreckige Gefängnis, aus dem du mich befreit hast.« Auch Ethan strahlt übers ganze Gesicht. Sie wirken wie zwei alte Freunde, die sich nach Jahren der Trennung wieder be gegnen. 211
Dann schließt König Richard Isabel in die Arme. »Meine liebe Lady Madeline …« »Ich heiße Isabel, Hoheit«, erinnert sie ihn. Damals in der Vergangenheit, als sie ihn das letzte Mal gesehen hat, trug sie einen anderen Namen. Ich war schließlich dabei. Und habe Gift in ihr Glas gegeben. »Ja, natürlich!«, ruft König Richard. »Ich muss schon sagen, ohne Kostüm siehst du noch hübscher aus.« Dann wendet er sich mir zu. Sofort erfasst er, dass ich Gedanken lesen kann, und ist auf der Hut. Das ist die übliche Reaktion. Niemand mag es, wenn die eigenen Gedanken anderen zugänglich sind. »Und wen haben wir hier?« Lord Penbarin stellt mich vor. »Das ist Rochelle Thallimar. Sie wird bei Tagesanbruch eingeführt. Sie ist eine Eurer Aus erwählten.« König Richard neigt den Kopf. »Willkommen, meine Lie be.« Er nimmt meine Hände und spürt durch die Handschuhe hindurch, welche Kraft ihnen innewohnt. Eine ganze Weile sieht er mich prüfend an, ohne ein Wort zu sagen. Mir wird ganz sonderbar zu Mute, bis er schließlich meine Hände wieder loslässt. Sogleich fällt jegliches Unbehagen von mir ab, als wäre es nie da gewesen. Nachdem sich Lord Penbarin verabschiedet hat und wir allein sind, verändert sich König Richards Verhalten von Grund auf. Sein Blick verdüstert sich. Ihm ist klar, dass unser Besuch einen sehr ernsten Anlass hat. »Darf ich euch etwas zu essen bestellen, oder möchtet ihr gleich zur Sache kommen?« »Wir brauchen Eure Hilfe, Hoheit«, entgegnet Ethan. Ohne zu zögern erwidert der König: »Ihr sollt sie bekom men. Was kann ich für euch tun?« 212
»Ihr könntet uns herumführen.« »Im Palast?« »Ja, Hoheit, überall im Palast.« »Das dürfte die ganze Nacht dauern.« »Dann sollten wir keine Zeit verlieren.« König Richard hat vollstes Vertrauen zu uns und macht sich sofort mit uns auf den Weg. Ich ziehe unbemerkt meine Handschuhe aus und stecke sie in die Tasche. Wir besichtigen eine Vielzahl von Räumen einschließlich der Gemächer der hier lebenden Herrscher und Herrscherinnen sowie der Dienstbotenunterkünfte. Unter König Richards Führung stoßen wir auf keinerlei Schwierigkeiten. Man merkt sofort, dass er ein erfahrener Diplomat und außerdem allseits beliebt ist. Während wir uns in einem Raum aufhalten, verwickeln Isa bel und Ethan die dort Anwesenden in ein Gespräch, so dass sie abgelenkt sind und ich mich in aller Ruhe an die Arbeit machen kann – unauffällig Wände, Böden und Möbel zu berühren, alles, was einen geheimen Durchgang, ein Paneel oder einen Hohlraum verbergen könnte. Ich muss nur die Hand auf eine Stelle an der Wand legen, um zu spüren oder eigentlich zu sehen, was darin oder dahinter liegt. Als wir mit der Durchsuchung des Palasts fertig sind, däm mert bereits der Morgen, und noch immer haben wir nichts gefunden. Schließlich erreichen wir den Innenhof und schau en uns dort um. Lady Arabella ist gerade dabei, den Vogelkäfig zu säubern. Sie leert den Fressnapf, entfernt Verunreinigun gen vom Boden und füllt frisches Wasser nach. Es kommt mir komisch vor, dass sie diese niedere Arbeit persönlich erledigt. Aber natürlich sage ich nichts. Vielleicht liebt sie ihre Vögel so sehr, dass sie niemandem ihre Pflege anvertrauen möchte. 213
Bei diesen Gedanken hole ich die Handschuhe aus der Ta sche und ziehe sie an. Lady Arabella wird aufmerksam und hält mit ihrer Arbeit inne. »Was machst du denn ohne deine Handschuhe? Wie lange hast du sie schon ausgezogen?« Ihr harscher Ton überrascht mich. Ich habe sie noch nie zuvor so sprechen gehört. Als sie mein Erstaunen bemerkt, wird ihre Stimme sofort weicher. »Ich möchte dich nicht beunruhigen, meine Liebe, aber ich dachte, ich hätte dich gelehrt, sie ständig zu tragen.« Rasch lege ich mir eine Erklärung zurecht. »Sie sind ein bisschen knapp, Mylady. Es ist angenehm, ab und zu die Finger zu strecken.« Sie grübelt eine Weile über meine Worte nach. »Ich werde mit Arkarian sprechen. Vielleicht kann er etwas dagegen tun. Im Augenblick musst du dich allerdings damit abfinden. Jetzt beeil dich lieber.« Sie deutet auf den heller werdenden Him mel. »Du musst dich noch umziehen.« Aufgeregt packt mich Isabel am Arm. »Komm mit, sehen wir uns an, welche Tunika sie für dich ausgesucht haben.« »Wovon redest du?« »Weiß bedeutet, dass man Schülerin wird. Ich habe bei meiner Einführung eine weiße Tunika getragen, aber ich hatte Glück, denn ich bekam eine blaue Schärpe dazu. Das bedeute te, dass ich bereits als ehrenhafte Schülerin galt.« Als wir uns auf unsere Zimmer begeben, finden wir auf meinem Bett eine purpurrote Tunika mit einer goldenen Schärpe vor. Isabel verschlägt es bei diesem Anblick den Atem, sie streicht mit der Hand über das samtige Gewebe. »Wahnsinn! Sieh dir das an, Ethan. Was hat das zu bedeu ten?« 214
Obwohl ich zugeben muss, dass es ein prächtiges Gewand ist, verstehe ich nicht, warum Isabel so einen Wirbel macht. Ethan tritt näher, nimmt die Schärpe in die Hand und lässt sie ein paar Mal durch die Finger gleiten. »Die goldene Schärpe ist die höchste Auszeichnung der Wachen.« Er richtet den Blick auf mich und seine Gedanken dringen in mich ein. Er fragt sich, womit ich diese Ehre verdient habe. Auch Isabel wirkt ziemlich überrascht, doch sie gibt nicht preis, was sie denkt. »Und was ist mir der purpurroten Tuni ka?« Ethan tritt einen Schritt zurück und wendet sich ab. Unter äußerster Kraftanstrengung schirmt er seine Gedanken ab. Er weiß es, aber er möchte es nicht sagen. »Was bedeutet es?« Isabel lässt nicht locker. Mit gerunzelter Stirn blickt er mich an. Irgendetwas stimmt nicht. »Woher soll ich das wissen?«, sagt er. »Da musst du schon Arkarian fragen.« Isabel spürt seine merkwürdige Stimmung und lässt das Thema fallen. Aber die Reaktion der beiden hat mich neugierig gemacht. Sie tun, als wäre nichts gewesen, und machen sich im Zimmer zu schaffen. Ungeduldig ziehe ich Ethan am Arm. »Warte mal. Sag mir, was du weißt.« »Nichts«, blafft er mich an und wendet nervös den Blick ab. »Sag es mir, Ethan, oder ich setze dir so lange zu, bis ich alles aus dir herausgeholt habe, was ich wissen will, und dazu das letzte bisschen Grips, das du noch hast.« Ärger blitzt in seinen Augen auf. Dann gesteht er: »Also, ich weiß nur, dass Purpurrot für Treue steht.« Aber das kann noch nicht alles sein. »Und?« Widerstrebend fügt er hinzu: »Für eine Treue, die so stark 215
ist, dass der Träger dieser Farbe … sein Leben für die Sache hingeben würde.« »Die Farbe der Märtyrer«, murmle ich mehr zu mir selbst. War es das, was Lorian wahrnahm, als er gestern Abend meine Gedanken erforscht hat? Wenn man es genau betrachtet, handelt die Zeile der Prophezeiung, in der es um mich gehen soll, von Sieg und Tod. Wie hieß es noch mal? Seid auf der Hut! Zwei letzte Krieger bringen sowohl Leid als auch Segen, der eine tritt aus der Mitte Verdächtiger hervor, der andere ver kommt zum Bösen, während der eine den Sieg erlangt, wird der andere siegreich sein im Tode. Durch lautes Klopfen an die Tür signalisiert uns Lord Pen barin, dass es so weit ist. Nachdem Ethan den Raum verlassen hat, ziehe ich die Tunika an. Ich versuche, die beunruhigen den Gedanken an den Tod abzuschütteln. Isabel zupft die Schärpe zurecht, dann legt sie mir den zur Tunika passenden Umhang um die Schultern und zieht mir die Kapuze über den Kopf. »Hör mal«, sagt sie. »Über das, was Ethan gesagt hast, musst du dir keine Sorgen machen. Dieses Zeug über Märtyrer. Er kann sich auch irren, das kommt immer wieder vor.« Zaghaft versuche ich zu lächeln und entspanne mich ein wenig. Den Gedanken, für irgendeine Sache sterben zu müs sen, kann ich nur schwer abschütteln. »Ethan dachte immer, er wäre mein Seelengefährte«, fährt Isabel fort. »Aber tatsächlich war es Arkarian.« »Woher weiß man denn, wer sein Seelengefährte ist?« Sie zuckt die Schultern. »Arkarian hat mir erzählt, dass wir unserem Seelengefährten wenigstens einmal im Leben begeg nen. Es liegt an uns, einander zu erkennen – falls nicht, ist unsere Chance auf die wahre Liebe für immer vertan.« 216
Was für eine traurige Vorstellung. Mein neues Wissen wird plötzlich unwichtig, als wir durch die Tür treten und Ethan mit Lord Penbarin streiten hören. »Wer hat sie ausgesucht?«, will Ethan wissen. »Das kann ich dir …« Er hält mitten im Satz inne. Lord Penbarin nickt mir aner kennend zu, während Ethan mich nur mit offenem Mund anstarrt. »Du siehst umwerfend aus.« »Schön, schön«, murmelt Lord Penbarin. »Dann kann ich dem Hohen Rat Bescheid geben.« Damit dreht er sich um, wirft Ethan noch einmal einen durchdringenden Blick zu und eilt mit Isabel davon. »Arkarian wird es leid tun, dass er nicht dabei ist«, bemerkt Ethan. Am liebsten würde ich ihn fragen, worüber er mit Lord Penbarin gestritten hat, aber angesichts meiner bevorstehen den Einführung liegen meine Nerven blank, und ich beschlie ße, lieber im Ungewissen zu bleiben. Nach Ethans Worten zu urteilen, scheint die Einführung ein äußerst bedeutsames Ereignis zu sein. Mir zittern vor Aufregung die Hände. Nach dem ich mich noch einmal vergewissert habe, dass ich die Handschuhe trage, stecke ich die Hände in die seitlichen Schlitze des langen Umhangs. Wenige Minuten später treffen wir vor dem Ratssaal ein und Ethan holt noch einmal tief Luft. »Bist du bereit?« »Eigentlich nicht«, erwidere ich aufrichtig. »Ich bin ja völlig unvorbereitet und weiß nicht, was mich erwartet. Mir ist ganz flau im Magen vor Angst. Ich glaube, ich muss mich gleich übergeben.« Er versucht mich zu beruhigen. »Es wird alles gut gehen. Sie werden dich mit offenen Armen empfangen.« 217
»Ich bin eine Verräterin, Ethan. Ich war Mitglied des Or dens und habe mich gegen die Meinen gewandt.« Sein Gesicht verzerrt sich vor Wut. Die weit aufgerissenen blauen Augen nehmen einen kalten, harten Ausdruck an. »Du hast nie wirklich zum Orden gehört, klar?« »Nein, natürlich nicht! Das wollte ich auch nicht sagen.« Er mustert mich schweigend. »Es ist nur so: Was ich getan habe, hat mich gezeichnet, und ich werde dieses Stigma nicht mehr los. Ich sehe es in den Augen aller hier. Sie kennen meine Geschichte. Und aufgrund dieser Tatsache haben sie kein Vertrauen zu mir.« »Du bist jetzt einfach nervös, Rochelle, und bildest dir was ein.« »Ich kann Gedanken lesen, Ethan.« Er dreht die Augen zur Decke. »Arkarian vertraut dir. Und auch ich vertraue dir, das weißt du.« Seine Worte sind tröstlich. Er weiß gar nicht, wie sehr. Ich betrachte sein Gesicht, während seine Augen wieder zu mir zurückfinden. Unsere Blicke verschmelzen. Um nichts auf der Welt könnte ich jetzt wegsehen. Etwas passiert zwischen uns, ich finde keine Worte dafür, trotzdem ist es so real wie meine Hand oder mein Herz. Die Türen schwingen auf, wir sind nicht mehr allein. Ich lasse mich von Ethan in die Mitte des Raumes führen. »Mylords und Myladys«, beginnt er, dann dreht er sich zu König Richard, der rechts von Lord Penbarin sitzt, und verneigt sich vor ihm, »Eure Majestäten, erlaubt mir, Euch die Achte der Auserwählten vorzustellen. Ihr Name ist Rochelle Thallimar.« Alle applaudieren. Neben dem Hohen Rat sind noch weite re Personen anwesend, darunter auch Isabel. Auf den Bänken an der Seite entdecke ich eine Reihe fremder Gesichter. Hinter 218
mir erscheint ein Schemel, auf dem ich mich niederlasse, während Ethan neben Isabel Platz nimmt. Als wäre er plötz lich nervös geworden, ergreift er ihre Hand. Ich versuche mir den Grund dafür lieber nicht auszumalen, schließlich bin ich schon aufgeregt genug. Als Lorian sich erhebt, richten sich aller Augen auf ihn. Er zeigt auf mich, bevor er eine ausholende Handbewegung in die Runde macht. »In wenigen Augenblicken werden dir die verehrten Herr scher und Herrscherinnen je eine spezielle Gabe verleihen und dich damit bei den Wachen willkommen heißen. Doch zuvor will ich dir meine Gabe schenken.« Gemurmel hebt an. Offenbar ist das nicht die normale Vor gehensweise. Mit einem strengen Blick sorgt Lorian für Ruhe. Erst als vollkommenes Schweigen herrscht, kommt er zu mir und hebt die Hand über meinen Kopf. »Rochelle Thallimar, willst du den Wachen Treue schwören und versprichst du, dich für ihre Sache einzusetzen?« »Ja, Mylord.« »Meine Gabe an dich ist die Verbindung deiner beiden Fä higkeiten. Von nun an wirst du nicht nur Gedanken lesen, sondern gleichzeitig feststellen können, ob die betreffende Person loyal ist, indem du sie mit der Hand berührst.« Aufgeregtes Getuschel setzt ein, das immer lauter wird, bis Ethan in die Mitte der Runde tritt. »Mylord, auf ein Wort, bitte!« Lorian lässt die Hände sinken und seufzt, als hätte er Ethans Reaktion halb erwartet, halb befürchtet. »Sprich.« »Eure Gabe ist sehr großzügig, aber auch … gefährlich.« »Mag sein, aber wir sind jetzt alle in Gefahr, Ethan. Eine solche Fähigkeit …« 219
»… kommt einem Todesurteil gleich.« Da Lorian nichts erwidert, fährt Ethan fort. »Wie wir alle wissen, befindet sich ein Verräter unter uns. Mit ihrer neuen Gabe wird Rochelle in der Lage sein, ihn oder sie zu identifi zieren. Sollte sich die fragliche Person in diesem Raum aufhal ten, wird Rochelle getötet, noch ehe sie den Palast verlassen kann, und das wisst Ihr. Mylord …« »Aber wenn der Verräter hier und jetzt, noch während un serer Zusammenkunft, entlarvt wird …« »Das ist absolut lächerlich«, rufen Lord Penbarin und Lord Samartyne wie aus einem Mund. Gleich darauf springt Köni gin Brystianne empört auf, gefolgt von Lord Alexandon, der ihre Entrüstung zu teilen scheint. König Richard tritt in die Kreismitte. »Mylord, trifft es zu, dass Ihr ein Mitglied des Hohen Rats verdächtigt, der Verräter zu sein?« »Ich wünschte, es wäre nicht so«, erwidert Lorian gequält. Als ich darüber nachdenke, was Lorian von mir erwartet, beginne ich zu begreifen. Der Verräter muss unbedingt gefun den werden, und wenn Lorian es mit meiner Hilfe zu Wege bringen kann, dann gibt es in meinen Augen keinen Grund, aus dem ich – oder sonst jemand – dies ablehnen könnte. »Euer Plan hat einen großen Schwachpunkt, Mylord.« Alle wenden den Kopf. Sir Syford steht von seinem Platz auf und kommt auf mich zu. »Sollte Ms Thallimar einen von uns des Verrats bezichtigen, so steht das Wort eines Verräters gegen das eines anderen.« Erneut setzt Gemurmel ein. Ethan wirbelt herum und wirft jenen Ratsmitgliedern, die am lautesten zustimmen, einen scharfen Blick zu. Auf mein Kopfschütteln hin zieht Isabel Ethan wieder zurück auf seinen Platz. 220
Doch niemand ist so außer sich wie Lorian. Seine Augen verfärben sich von einem dunklen Purpur zu tiefstem Nacht blau, während seine Haut einen auffälligen Goldschimmer annimmt. Als er die Hände hebt, ringen wir nach Atem. Es ist, als würde der Raum plötzlich schrumpfen und die Luft knapp werden. Lorian erhöht die Spannung noch, indem er die Hände weiter erhoben hält. »Hat denn keiner von Euch die Prophezeiung gelesen?«, fragt er und zitiert: »Zugleich wird Argwohn Zwietracht säen.« »Ich werde es tun.« Ich sage die Worte mit leiser Stimme, doch in der Stille sind sie klar und deutlich zu vernehmen. »Mir sind die Risiken bewusst und ich tue es aus freiem Willen.« »Rochelle!«, schreit Ethan auf. »Du weißt nicht, was du sagst!« Ich wende mich direkt an ihn. Alle hören mit. »Ich muss es einfach tun.« »Aber warum?« »Du hast sie doch gehört, sie vertrauen mir nicht. Jetzt habe ich Gelegenheit, mir ihr Vertrauen zu verdienen. Wenn ich den Verräter entlarven kann, wird das die Wachen stärken. Außerdem werden dann alle erkennen, dass ich nicht mehr mit der Göttin oder mit Marduke im Bunde bin.« »Aber das ist zu gefährlich.« »Ich bin an die Gefahr gewöhnt.« Dann wende ich mich ab und sehe Lorian ins Gesicht. Zum ersten Mal gelingt es mir, seinem Blick standzuhalten. Seine Augen scheinen mich zu durchdringen, aber es ist ein angenehmes Gefühl. Er hebt die Hände ganz dicht über meinen Kopf. »Schließ die Augen.« Eine Sekunde lang empfinde ich Zweifel, doch ich fege sie rasch beiseite. Ich tue das Richtige. Marduke hat sich in mir geirrt. 221
Das Letzte, was ich sehe, ist golden schimmerndes Licht, das Lorians Händen entströmt. Um meine Nerven zu beruhigen, atme ich tief ein und langsam wieder aus. Gleichzeitig spüre ich, wie sich die Luft um mich erwärmt. Ich sauge diese eigen artig warme Luft ein, ja, trinke sie durch alle Poren. Als es vorbei ist und ich die Augen wieder öffne, starrt Lorian mir ins Gesicht. »Die Gabe ist nun verliehen.« Ethan seufzt resigniert und besorgt. Einen Moment ergreift mich eine böse Vorahnung, aber im Augenblick kann ich dem nicht auf den Grund gehen. Lorian erklärt den weiteren Ablauf. »Die Herrscher und Herrscherinnen werden dir nacheinander eine Gabe verleihen. Dann werden sie vor dir niederknien …« Unterbrochen von missbilligenden Äußerungen hält Lorian inne. Er blickt auf. Als er mit seinen Erläuterungen fortfährt, lässt sein Ton keinen Zweifel daran, dass er keinen Wider spruch duldet. »Und dann wird Rochelle jedem die Hand auf den Kopf legen. Ihr dürft euch erst wieder bewegen, wenn sie es erlaubt.« Es ist jetzt so still, man könnte eine Stecknadel fallen hö ren. »Wer fängt an?« Lorians Stimme erfüllt den ganzen Raum. König Richard erhebt sich. »Ich.« Er wirkt zögerlich. Wo ist seine fröhliche Art geblieben? »Zunächst, meine Liebe, möchte ich dich herzlich im Königreich Veridian willkommen hei ßen.« Der Herrscher hebt beide Hände und hält sie über meinen Kopf. »Meine Gabe an dich ist es, die Wahrheit zu erkennen … die Wahrheit über dich selbst.« Nach einem Augenblick der Stille sinkt er auf die Knie, seine Augen suchen meine. »Jetzt bist du an der Reihe. Nur Mut!« 222
Meine Hände zittern. Ich ziehe die Handschuhe aus, hole tief Luft und hebe eine Hand über König Richards Kopf. Plötzlich habe ich Angst, ihn zu verbrennen. »Mach weiter«, spornt mich Lorian an. Ich lasse die Hand auf König Richards Stirn sinken und schließe die Augen. Sofort nehme ich ein gleißendes Licht wahr. Es ist, als käme dieses Licht aus seinem Innersten. Bevor es sich im Kern zu einem Trichter formt, schwillt es einen Moment lang an wie eine Flamme. Ich konzentriere mich auf diesen Kern und plötzlich erfüllt mich ein Gefühl von Glau ben, Dankbarkeit und Vertrauen. Ich weiß, dass diese Empfin dungen echt sind. Als ich die Hand zurückziehe, kehrt König Richard zu sei nem Platz zurück. Nun folgen die anderen. Zuerst Lady Devine mit ihrem lan gen, blutroten Haar. Die Hände gefaltet kniet sie vor mir nieder, während Lord Alexandon mit seinem plumpen Knie fall offen sein Missfallen zur Schau trägt. Lord Meridian, das kleinste Mitglied des Hohen Rats, sieht erbost aus. Nach ihm ist Königin Brystianne an der Reihe, die Lippen vor Verach tung zu einem Strich zusammengepresst, während Sir Syfords gemessener Schritt von seiner Arroganz und seiner Abscheu zeugt. Einer nach dem anderen verleihen sie mir ihre Gaben, aber wenn mich jemand fragen würde, welche Gaben es sind, könnte ich es wirklich nicht sagen. Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis wir bei den letzten beiden angelangt sind – Lady Arabella und Lord Penbarin. Allerdings macht Lady Arabella keine Anstalten aufzustehen, als wüsste sie nicht, dass sie nun an der Reihe ist. Lord Penbarin neigt den Kopf in ihre Richtung. »Nach Euch, Mylady.« 223
Sie funkelt ihn wütend an, was Lorian nicht entgeht. »Ihr zögert, Arabella?« Schließlich strafft sie energisch die Schultern und steht auf. »Keinesfalls, Mylord. Aber ich lege Protest ein.« »Zur Kenntnis genommen«, erwidert er. Als Lady Arabella um mich herumschreitet, sieht man unter ihrer bodenlangen Robe blaue Satinslipper hervorlugen. Direkt hinter mir bleibt sie stehen. Sie hebt die Hand und lässt sie dicht über meinem Kopf ruhen, ohne mich zu berühren. »Meine Gabe ist die der Kontrolle«, beginnt sie, wobei sie das letzte Wort besonders betont. Ich verstehe nicht, warum sie so einen scharfen Ton anschlägt. Offensichtlich bezieht sie sich auf die Kraft meiner Hände, die in meinem Schoß ruhen, durchzuckt von Stromstößen. Plötzlich spüre ich, dass sie über meinen Kopf hinwegsieht, und ich folge ihrem Blick, der von Lorian erwidert wird. Es ist, als wären die beiden allein im Raum, ja, im ganzen Universum! Zwischen ihnen entsteht eine derart intensive, überwältigend starke Verbindung, dass meine Gedanken durcheinander geraten. Was geht hier vor? Empfinden sie denn etwas füreinander? Das kann ich mir kaum vorstellen. Es ist doch allgemein bekannt, dass Lorian sich entschieden hat, weder männlich noch weiblich zu sein. Schließlich tritt sie vor mich hin und kniet mit gesenktem Kopf vor mir nieder. Ich schließe die Augen, lege meine Hand auf ihre Stirn und versuche mich auf meine Aufgabe zu kon zentrieren. Die vertraute Flamme erscheint vor meinem inneren Auge. Rasch entwickelt sie sich zu einem lodernden Feuer, dessen leuchtend rote Flammenzungen flackern und knistern. Aufmerksam warte ich auf den Trichter, aber die Flamme verändert weiterhin ständig ihre Form. Ich nehme etwas Undefinierbares wahr, es ist nicht die Klarheit, die ich 224
bei den meisten anderen empfand. Schon regen sich Zweifel in mir, als die Flamme plötzlich still hält und sich zu einem brennenden Herzen formt. Mit einem erleichterten Seufzer ziehe ich meine Hand zu rück. Ich sehe nur Liebe. Eine starke, tiefe Liebe, aber eine Liebe, die vor Reue und Trauer brennt. Lady Arabella kehrt zu ihrem Platz zurück. Lorian folgt ihr mit den Augen. Noch lange, nachdem sie sich auf ihrem Stuhl niedergelassen hat, ruht sein Blick auf ihr. Erst als er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich richtet, kommt Lord Penba rin laut ächzend zu mir. »Das Haus Samartyne heißt dich herzlich willkommen, meine Liebe. Ich habe lange über meine Gabe nachgedacht. Es ist nicht die, die ich dir ursprünglich verleihen wollte.« Er strafft die Schultern und hebt seine Hände über meinen Kopf. »Ich beschenke dich mit der Gabe der Vergebung.« Dann fügt er hinzu: »Vergebung für all jene, die dich falsch einschätzen.« Umständlich rafft er seine Robe und kniet nieder. Meine Berührung enthüllt sofort eine klare, reine und echte Flamme. Ich lasse ihn los und er nimmt wieder Platz. Sogleich beginnen alle miteinander zu tuscheln. Durch einen bloßen Blick bringt Lorian sie zum Schweigen. »Was hast du gefunden?« »Ich habe viele Dinge gefunden, Mylord, aber nichts, was irgendein Mitglied des Hohen Rats als Verräter brandmarken würde.« Unter das einsetzende Gemurmel mischen sich erleichterte Seufzer. Doch Lorian weiß, dass ich noch nicht fertig bin, und hebt die Hand. Im Raum wird es wieder still. »Ich fand Treue, Mylord. Im Übermaß.« »Was noch?« 225
»Sorge, Dankbarkeit, Angst und … Liebe, Mylord.« Lorian wirkt nachdenklich. »Liebe und Hass sind die zwei Seiten einer Medaille. Wie kannst du sicher sein, dass das, was du gesehen hast, echt war?« Ich erinnere mich an das intensive Gefühl, das mich ergriff, zusammen mit der überwältigenden Liebe, die Lady Arabella verströmte. Und daran, dass Lorian diese Liebe erwidert hat, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. »Die Liebe, die ich wahrgenommen habe, ist echt, Mylord. Da bin ich ganz si cher.« Die Erleichterung ist nun deutlich zu spüren. Der Hohe Rat steht außer Verdacht. Keines der Mitglieder ist der Verräter, wie Lorian befürchtet hatte. Als Lorian unvermittelt aufsteht, mache ich mir schon Hoffnungen, dass die Prüfung endlich vorüber ist. Aber Lorians Haut hat wieder zu leuchten begonnen, seine Augen funkeln wie glitzernde Juwelen. »Du hast dich geirrt«, erklärt er. Lauter Protest regt sich. Auf ein Handzeichen von Lorian hin weht eine eisige Brise durch den Raum. Fröstelnd reibe ich mir unter dem Umhang die Arme. »Entweder ist deine Gabe noch nicht genug entwickelt, oder du bist überlistet worden. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Letzteres zutrifft.« Lord Penbarin schüttelt den Kopf. »Habt Ihr irgendeinen Beweis, Mylord? Warum seid Ihr so sicher, dass der Verräter einer von uns ist?« Lorian zieht unter seinem Umhang einen Kristall in der Größe seiner Handfläche hervor. Er hat die Form einer acht eckigen Pyramide. Als Licht darauf fällt, beginnt er zu gleißen und zu schimmern, und erstauntes Gemurmel macht die 226
Runde. Ich begreife, dass ich den Schlüssel zur Waffentruhe vor mir habe – ebenjenen Schlüssel, den wir finden sollten! »Das ist der Beweis!«, brüllt Lorian, während die Kammer mit jedem zornigen Atemzug kälter wird. »Ja, seht ihn euch ganz genau an. Das ist der Schlüssel zur Waffentruhe.« Und dann tut er etwas Unglaubliches. Er kommt zu mir und hält ihn vor mir hoch. »Trägst du deine Handschuhe, Rochelle?« Schnell streife ich sie über und vergewissere mich, dass kein Stückchen Haut mehr zu sehen ist. »Ähm … ja, Mylord.« Er nickt. »Dann nimm diesen Schlüssel und bringe ihn zu jemandem, der ihn sicher verwahrt.« »Mylord, wo habt Ihr ihn gefunden?«, ruft Sir Syford hinter mir. »Als Rochelle, Ethan und Isabel mich gestern Abend aufge sucht haben, fand ich heraus, dass sie hierher geschickt wur den, um nach dem Schlüssel zu suchen. Zunächst war ich entsetzt und zornig bei der bloßen Vorstellung, dass solch ein Verrat in meinem eigenen Palast möglich sein sollte. Aber dann habe ich mich auf die Suche danach gemacht. Wie Ihr sehen könnt, habe ich ihn gefunden – verborgen in einem sicheren Behälter, der in einem geheimen Hohlraum im Garten des Innenhofs vergraben war.« Lorian zieht die Augenbrauen hoch, als er die Runde mus tert. »Unter unseren eigenen Füßen, aber kaum zu entdecken. Ein kluges Versteck – für alle zugänglich und doch unsichtbar. Nun, einer von Euch hat ihn dorthin gelegt. Und bevor Ihr Eure Krieger oder Bediensteten verdächtigt: Den undurch dringlichen Behälter, in dem ich den Schlüssel gefunden habe, konnte nur jemand erschaffen, der mindestens den Rang eines Ratsmitglieds innehat!« 227
Nach diesen Worten legt er den Schlüssel in meine Hände. Ich kann den Blick nicht von den schimmernden Kristallflä chen abwenden. Lorians Stimme verbreitet weiterhin eine Eiseskälte. »Und weil mein Plan, den Verräter zu entlarven, heute fehlgeschlagen ist, muss ich dieses unschuldige Kind beschützen, denn in dem Maße, in dem Rochelles Kräfte stärker werden, nimmt ihre Gefährdung zu.« Er blickt auf mich herab, während er beide Hände wie einen Schirm über meinen Kopf hält. Dann verkündet er mit lauter, widerhallender Stimme: »Wer immer diesem Kind jemals etwas zuleide tut und seinen Tod verursacht, wird selbst zu Stein werden und noch vor Son nenuntergang sterben.« Das darf nicht wahr sein! Soeben hat der Unsterbliche die Person verflucht, die es darauf anlegt, mich zu töten! Ethan stürzt mit weit ausgestreckten Armen in die Kreis mitte. »Mylord …!« Bei seinem Anblick stöhnt Lorian leise auf. »Ich habe sie geschützt, Ethan. Worüber willst du dich jetzt noch beschwe ren?« Ethan holt tief Luft. »Wer sollte den Mörder davon abhal ten, einen Attentäter anzuheuern?« Er hat Recht. Mein Leben ist immer noch in Gefahr. Lorian nickt zustimmend, beinahe ein wenig reumütig. »Ich habe getan, was ich konnte.«
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Kapitel 17
Matt
Sie haben den Schlüssel. Dartemis sagte mir, ich würde es spüren, wenn er gefunden wäre. Und jetzt spüre ich es. Dillon, Arkarian und ich sind in einem der Nebenräume von Arkari ans großer Kammer zusammengekommen, um letzte Vorbe reitungen für unsere Reise zum Gipfel des Olymp zu treffen. Dort, wo heute der Olymp liegt, befindet sich Lathenias Palast, jedoch in einer Zeit, die der Welt der alten Mythen und Sagen angehört. Sie hat ihr eigenes virtuelles Reich erschaffen. »Fürchtet ihr nicht, dass das eine Nummer zu groß für Mr Carter ist?«, fragt Dillon, als wir darüber diskutieren. »Es wird sicher nicht einfach werden. Und aufgrund des magischen Schutzschildes rund um den Palast kann er uns nur außerhalb der Palastmauern absetzen beziehungsweise abho len.« Arkarian hat sich Dillons Zweifel durch den Kopf gehen lassen. »Warum erzählst du uns nicht einfach, wie du in Lathenias Palast hineingelangt bist?«, hakt er nach. Dillon zuckt die Achseln. »Ich bin dicht an der Seite der Herrin gereist, das war alles. Sie hat mir schon vor einigen Jahren meine Schwingen gegeben, was sicherlich hilfreich war. Aber bestimmt hatte auch Lathenias Zauberer Keziah bei dem Transport seine Hand im Spiel.« Ich versuche, sie beide zu beruhigen. »Marcus ist dieser Aufgabe durchaus gewachsen.« 229
»Du hast ja eine Menge Vertrauen in den Mann«, bemerkt Dillon. »Aber er ist schließlich auch nur ein Mensch. Hin und wieder unterlaufen ihm Fehler, das habe ich selbst miterlebt.« »Jene Wesen, die über uns stehen, werden ihn leiten«, erwi dere ich. Dillon ist noch nicht überzeugt. »Ach ja? Und wer soll das sein?«, fragt er skeptisch. Zum Beispiel die Engel, denke ich, lasse jedoch nur Arkarian an meinen Gedanken teilhaben. Man bezeichnet sie auch als die Überlebenden. Sie flohen zur Erde, als ihre Welt von der Dun kelheit überwältigt und zur Unterwelt wurde. Nachdem ihre erste Siedlung hier zerstört worden war, errichteten sie die alte Stadt Veridian. Ihre uns überlegene Technik, die sie retten konnten, wirkt immer noch im Verborgenen hinter Veridians verwitterten Mauern. Obwohl ihre Nachkommen die Erde noch Tausende von Jahren bevölkerten, wurde nur den ersten Überle benden die Ehre zuteil, die Erde und ihre wachsende Bewohner schar zu überwachen. Es sind ihre sterblichen Körper, bewahrt in menschlicher Gestalt, derer wir uns bedienen, wenn wir durch das Labyrinth der Festung in die Vergangenheit reisen. Ohne mich anzusehen, antwortet mir Arkarian. Er stimmt mir zu, dass dieses Zwiegespräch unter uns bleiben sollte. Sanft erinnert er mich daran, dass Dillon auf eine Antwort wartet. Ich versuche, mich an seine Frage zu erinnern, doch letzten Endes werde ich der Antwort enthoben. Jemand, der offensichtlich in Eile ist, klopft kräftig an die Tür. Arkarian öffnet. Draußen steht Shaun, schwer atmend, als hätte er gerade einen Marathonlauf hinter sich. »Schnell, Arkarian! Irgendwas ist mit dem Hologramm los. Es spielt total verrückt!« Wir folgen Shaun zu der achteckigen Kammer, die das Ho 230
logramm beherbergt. Früher versetzte mich dessen Anblick immer in Unruhe, aber nun, da ich weiß, woher es stammt, woher Arkarians sämtliche technischen Geräte stammen, irritiert es mich nicht mehr so. Das Hologramm dreht sich wie wild und gibt dabei einen durchdringenden Summton von sich. Dillon bleibt unbeeindruckt. Er hat nur einen Gedanken. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit! Was ist mit Neriah?« Arkarian legt ihm die Hand auf die Schulter. »Du hast Recht, Dillon. Bei der Geschwindigkeit, mit der sich das Hologramm dreht, kann das noch eine ganze Weile dauern. Shaun, bleib bitte hier und beobachte es. Wenn es zum Still stand kommt und klar ist, um welchen Zeitabschnitt es sich handelt, halte Ausschau nach verdächtigen Anzeichen, irgend etwas, das uns verraten könnte, was Lathenia plant. Wenn wir Glück haben, sind wir zurück, bevor es aufhört, sich zu dre hen.« Shaun nickt mit besorgtem Blick und zieht sich einen Schemel heran. Ich deute auf das Hologramm. »Hast du schon irgendeine Vermutung, wohin es steuert?« Arkarians Augen werden dunkel, ein Zeichen, dass er sich ernsthaft Sorgen macht. »Nur, dass Lathenia weit in die Ver gangenheit zurückgeht. Sehr weit. Wir müssen so schnell wie möglich wieder zurückkehren, Matt.« »Worauf warten wir dann noch?«, ruft Dillon. Arkarian bringt uns zur Festung, in den hohen achteckigen Raum mit der getäfelten Decke und dem auf dem Boden markierten Achteck. Als wir uns innerhalb des Achtecks aufgestellt haben, reicht er jedem von uns einen langen silber glänzenden Umhang. »Zieht das an.« 231
Zerstreut nimmt Dillon den Umhang entgegen. Er ist damit beschäftigt, sich genau umzusehen. »Was tun wir in diesem Teil der Festung? Das ist doch nicht das Labyrinth! Reisen wir etwa in unseren eigenen Körpern?« »Wir gehen an einen Ort, der außerhalb unserer Zeit liegt …« »Ja, das weiß ich, aber … wenn sie uns sieht. Wenn sie mich sieht!« »Sie wird keinen von uns zu Gesicht bekommen«, versuche ich Dillon zu beruhigen. »Du weißt doch gar nicht, wovon du redest. Ich war schließlich schon in Lathenias Palast, und es gibt einfach keine Möglichkeit, dort unbemerkt hineinzukommen.« »Vertrau mir.« Dillon blickt zu Arkarian. Zu ihm hat er mehr Vertrauen. Arkarian nickt bestätigend und endlich ist Dillon still. Als wir drei eingehüllt in die silbernen Mäntel innerhalb des Achtecks Aufstellung genommen haben, kann er sich jedoch einen letzten Kommentar nicht verkneifen. »Hoffen wir, dass uns Mr Carter nicht zu weit von den Palastmauern entfernt absetzt.« Das hoffe ich auch insgeheim. Mit einem Mal beginnen wir uns aufzulösen. Innerhalb weniger Sekunden nehmen wir auf unebenem Boden wieder Gestalt an. Blind taumle ich vor wärts. Es ist stockdunkle Nacht und ein stürmischer Wind fegt uns Graupelkörner ins Gesicht. »Alles in Ordnung mit euch?«, übertönt Arkarians Stimme das Heulen des Sturms. Ich drehe mich zu den anderen um und ziehe mir dabei die Kapuze des Umhangs über den Kopf. Die beiden haben es mir gleichgetan. »Wo sind wir?« Dillon, dessen Augen sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt haben, sieht sich blinzelnd um. »Gute Frage.« 232
»Kommt dir irgendetwas bekannt vor?«, will Arkarian wis sen. Dillon schüttelt den Kopf und späht weiter angestrengt durch den Vorhang aus Regen und Schnee. »Ich denke, wir sollten uns nördlich halten.« Arkarian wirft mir einen besorgten Blick zu. Wir können es uns nicht leisten, hier herumzuirren und kostbare Zeit zu verlieren. Wir marschieren los. Die Graupelkörner peitschen uns ins Gesicht und machen es schwer, etwas zu erkennen. »Ich hab dich ja gewarnt, dass das hier kein Zuckerschle cken wird«, murmelt Dillon. Eine Stunde später erreichen wir müde und durchfroren einen felsigen Hügel. Plötzlich wird Dillon ganz aufgeregt. »Ich kenne diesen Ort!« Na, endlich! Auf allen vieren klettern wir hinter Dillon über das Geröll bis zum Kamm des Hügels hinauf. Und dort, unter uns in der Dunkelheit, liegt ein Palast wie aus einem Märchen – einem düsteren Märchen. Er ist fast völlig von Nebelschwa den verhüllt, doch in den Türmen und entlang der mit Zinnen versehenen Mauern glimmen Lichter. Arkarian kneift die Augen zusammen und späht in die Dunkelheit. »Solche Armbrüste habe ich noch nie gesehen. Sie sehen eher wie Pistolen aus.« »Das sind die Waffen, von denen ich dir erzählt habe«, er klärt Dillon. »Ihre Giftpfeile töten in Sekundenschnelle. Damit kann man auch noch aus einer Entfernung von dreihundert Metern genau zielen. Die nadeldünnen Pfeilspitzen müssen nicht einmal die Haut durchdringen, um zu töten, ein kleiner Kratzer genügt schon. Auch Isabels Heilkräfte könnten dann nichts mehr bewirken, selbst wenn sie uns begleiten würde 233
oder wir schnell genug zu ihr zurückkehren könnten. Ich hoffe, diese Umhänge bieten ausreichend Schutz, sonst sind wir drei schon so gut wie tot.« »Herzlichen Dank für deine aufmunternden Worte, Dil lon.« »Ach, Matt, immer sagst du, ich müsse Vertrauen haben, aber jetzt will ich endlich eine Antwort – wie sollen wir unsere Aufgabe erfüllen, ohne gleich bei der ersten Bewegung einen Pfeil zwischen die Rippen zu bekommen?« Nachdem ich mich vergewissert habe, dass wir uns noch nicht im Blickfeld der Wachtürme befinden, erläutere ich die wesentlichen Punkte meines Plans. »Sobald ich weiß, wo genau sich Neriah befindet, werde ich jeden von uns mit einem Tarnzauber versehen.« »Du willst uns unsichtbar machen?«, wiederholt Dillon überrascht. Einen Moment leuchtet Hoffnung in seinen Augen auf. »Das ist eine gute Idee, aber werden uns die Hunde nicht trotzdem riechen?« Arkarian lässt mich über seine Gedanken wissen, dass Dil lons Einwand berechtigt ist. »Und vergiss nicht die Sicherheitsbarriere rund um den Pa last«, fügt Dillon hinzu. »Hier handelt es sich schließlich um Zauberkraft.« »Hineinzugelangen ist nicht das Problem. Sobald ich weiß, an welchem Ort sie Neriah gefangen halten, werde ich die Barriere lange genug deaktivieren, so dass wir mit Hilfe unse rer Schwingen direkten Zugang bekommen.« »Das kannst du?« »Ja.« »Okay, aber wenn wir sie gefunden haben, wie bringen wir sie raus? Neriah hat doch ihre Schwingen noch nicht, oder?« 234
»Ich werde sie ebenfalls unsichtbar machen, und dann … gehen wir einfach.« »Ach ja, einfach so.« »Es wird bestimmt funktionieren, Dillon.« »Aber eines vergisst du dabei.« »Und das wäre?«, schaltet sich Arkarian ein. »Wir können unsere Schwingen nicht benutzen, wenn wir uns kein Bild von unserem Ziel machen können. Und wir wissen nun mal nicht, in welchem Raum man sie gefangen hält.« Sanft fasse ich Dillon am Arm. Mein Plan hängt ganz allein von seinem Erinnerungsvermögen ab. »Hast du nicht gesagt, du warst schon einmal im Palast?« Auf sein Nicken hin füge ich erklärend hinzu: »Ich möchte, dass du dir jeden einzelnen Raum, jeden Korridor für mich ins Gedächtnis rufst. Stell sie dir bildlich vor. Diese Bilder werde ich benutzen, um den Palast im Geist zu betreten und Neriah zu finden. Wenn das gelungen ist, werde ich dir mitteilen, an welchem Ort sie gefangen gehalten wird. Da du den Palast kennst, wirst du ohne weiteres mit Hilfe deiner Schwingen dorthin gelangen können. Und was Arkarian angeht – wir können beide Gedanken lesen, daher werden ihm die Bilder in meinem Kopf den Weg weisen.« Endlich lässt sich auch Dillon überzeugen, dass diese Ret tungsaktion funktionieren könnte. Er grinst mich an und kann kaum erwarten, dass es losgeht. »Kapiert. Also dann. Mal sehen …« Er schließt die Augen und ich folge seinem Beispiel. »Das Haupttor an der Vorderseite besteht aus Eisen und ist zwölf Meter hoch. Kannst du es sehen?« Dillons Gedächtnis ist klar, die Bilder deutlich zu erkennen. Er müsste mir die Dinge nicht zusätzlich mit Worten be 235
schreiben, aber wenn es so angenehmer für ihn ist, kein Prob lem. »Es ist ein mächtiges Eisentor«, teile ich ihm mit. »Wie wird es geöffnet?« »Durch einen Mechanismus, den der Torwächter bedient.« »Zeig ihn mir.« Vor meinem inneren Auge erscheint das Bild eines bewaffneten Soldaten. Er bewegt eine Reihe von Hebeln in einer bestimmten Abfolge. Die Torflügel öffnen sich, und Dillons Gedanken folgend, trete ich hindurch. »Der äußere Palasthof ist leicht überschaubar und bietet keinerlei Versteckmöglichkeiten«, erklärt Dillon. »Siehst du den gepflasterten Weg zu deiner Rechten? Pass genau auf. Er führt dich zum Eingang des inneren Palasthofs.« Als dieses Tor aufschwingt, erkenne ich eine gepflasterte Fläche, die jedoch in Dunkelheit gehüllt ist. Dies könnte bei unserer Flucht von Vorteil sein. Allerdings fügt Dillon hinzu: »Hier lauern die Wachhunde.« Dillon erweist sich als ein wahrer Quell des Wissens! »Schau nach rechts«, weist er mich an. »Da ist ein Tunnel. Er besteht vollkommen aus dickem, gewölbtem Glas. Man kann durch seine Wände hindurch in den äußeren Hof sehen, nimmt aber alles nur verzerrt wahr.« Vor meinem inneren Auge erscheint der Tunnel. »Am Ende des Tunnels befindet sich der Eingang zum Palast. Es ist eine Bronzetür mit golde nen Verzierungen in Form von Löwenköpfen. Sie ist sechs Meter hoch und oben geschwungen.« Im Geiste gehe ich näher heran. »Dahinter liegt die große Halle, ein riesiger, offener Raum. Es gibt kaum Möbel, nur einige lange Tische und Schemel. Am anderen Ende brennt ein Feuer, das vollständig in Glas eingeschlossen ist. Lathenia hat es nicht so mit dem Feuer.« 236
Das hat man mir bereits erzählt. »Weiter.« Dillon beschwört mehr Bilder für mich herauf. Er beschreibt das Innere des Palasts, die große Halle mit ihren angrenzenden Korridoren, die weitläufige Bibliothek, die Studierzimmer, Schlafzimmer, Küchen, Salons und so weiter. Währenddessen suche ich nach Hinweisen auf Neriahs Aufenthaltsort. Doch sie ist wie vom Erdboden verschluckt. »Beherbergt der Keller Verliese?«, fragt Arkarian. »Natürlich«, erwidert Dillon. »Aber … glaubst du wirklich, Marduke würde seine eigene Tochter dort unten einsperren? Da lauern Wesen, die es in dieser Welt eigentlich gar nicht geben sollte. In keiner Welt!« Es widerstrebt mir, Neriah womöglich mitten in diesem Szenario zu entdecken, aber ich muss das Verlies überprüfen. Nach einem Augenblick des Schweigens holt Dillon tief Luft, als wolle er sich gegen das Schlimmste wappnen. »Erinnerst du dich an die Tür mit dem Vorhängeschloss am anderen Ende der Halle? Sie führt zu dem Korridor, den du hinuntergehen musst. Siehst du die Treppe? Sie ist lang, steil und düster, aber geh trotzdem weiter. Am Fuß der Treppe wende dich nach links. Dort befindet sich ein aus Ziegeln gemauerter Tunnel. Er ist ziemlich feucht und glitschig, doch an der Wand sollte eine Lampe angebracht sein. Noch mehr Stufen. Geh sie hinunter, bis du auf eine zweite verschlossene Tür stößt.« Die Gänge mit den Ziegelwänden sind schmal und düster, genau, wie Dillon sagt, und die Flammen der Kerzen werfen unheimlich zuckende Schatten über den gepflasterten Boden. Nachdem ich das zweite Tor passiert habe, erkenne ich zu beiden Seiten des Gangs Räume. Vorsichtig taste ich mich auf dem feuchten Pflaster vorwärts und versuche, ein Würgen zu 237
unterdrücken. Der Gestank ist unerträglich, aber schlimmer noch ist die bedrückende Atmosphäre des Bösen, die einem nahezu die Sinne raubt. Dillon wird ganz still, als ich die einzelnen Zellen untersuche. Ich bin schockiert von dem Anblick, der sich mir bietet, und scheue unwillkürlich davor zurück. Irgendjemand – oder eher irgendetwas – haust in der ersten Zelle, aber es ist eindeutig nicht Neriah. Es hat keinerlei Ähnlichkeit mit einem menschli chen Wesen. Rastlos läuft es in der Enge seines Kerkers hin und her und gibt dabei ein lautes Grunzen von sich. Ich wage einen Blick in die benachbarte Zelle, wo eine andere Kreatur lauert. Sie wird unruhig und wirft sich gegen die Wand. Die Mauern erzittern unter der Wucht des Aufpralls, Wasser tropft von der feuchten Decke. Ein weiterer dumpfer Schlag, diesmal ganz in meiner Nähe. Als ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass sich die Spitze eines Horns durch das alte Mauerwerk gebohrt hat. Nicht einmal Lathenia würde Neriah in diesen Mikrokosmos der Hölle verbannen, aber um ganz sicherzugehen, visualisiere ich alle sechs Zellen, bevor ich diesem Ort den Rücken kehre. Als ich die Augen öffne, begegne ich den besorgten Blicken von Dillon und Arkarian. Ich zittere am ganzen Körper und versuche, die Empfindungen, die der Besuch des Verlieses bei mir hinterlassen hat, abzuschütteln. »Nichts.« »Aber wo kann sie dann sein?«, stöhnt Dillon. »Denk nach«, befiehlt Arkarian. »Gibt es irgendeinen Raum, irgendeinen Ort innerhalb der Palastmauern, den du Matt womöglich vergessen hast zu zeigen?« Mit einer heftigen Bewegung streift sich Dillon die Kapuze vom Kopf. »Eine Möglichkeit gibt es noch. Aber nein …« »Sag es uns«, ermuntert ihn Arkarian sanft. 238
Dillon holt tief Luft. »Es gibt da einen Turm … das heißt, na ja, eigentlich ist es gar kein Turm.« »Wo befindet er sich?« Rasch versuche ich mir ein Bild da von zu machen. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. »Irgendwo am südlichen Ende des Innenhofes.« Kein Bild will sich einstellen. »Geht es nicht ein bisschen genauer, Dillon?« Frustriert reibt er sich die Schläfen. »Ich habe ihn noch nie gesehen, daher kann ich dir nicht wirklich helfen. Wenn Neriah da drin ist, haben wir verloren.« »Erzähl mir alles, was du über diesen Turm weißt.« »Wie schon gesagt, es ist nicht direkt ein …« »Sag es mir trotzdem.« »Die Herrin nennt ihn ihren Käfig.« »Ein Käfig?«, fragt Arkarian und wirft mir einen besorgten Blick zu. »Er hängt ungefähr hundert Meter über dem Erdboden. Ein Zauber hält ihn dort oben. Jedenfalls wurde mir das erzählt.« Arkarian runzelt die Stirn. »Du kennst doch den Palast wie deine Westentasche, wie kann es daher sein, dass du diesen … ›Käfig‹ nie gesehen hast?« »Er war immer hinter dem grauen Nebel verborgen, der dort herrscht.« »Hmm«, murmelt Arkarian. »Das perfekte Gefängnis. Eins, das unsichtbar ist.« »Vielleicht …«, überlege ich laut. »Ich bezweifle jedenfalls, dass es wirklich so perfekt ist.« »Was meinst du?« »Nichts hängt einfach so in der Luft, Magie hin oder her. Der Zauber soll vielmehr verhindern, dass man den Zugang findet.« 239
Mir kommt eine Idee, wie ich diesen »Käfig« für mich sichtbar machen könnte. »Ihr beiden bleibt hier. Ich habe eine Idee. Ich werde selbst herausfinden, was es mit dem Käfig auf sich hat. Sollte ich in zwanzig Minuten nicht zurück sein, lasst euch in die Festung holen und wartet dort auf mich. Hier auf den Felsen ist es zu gefährlich. Früher oder später werden die Hunde eure Witte rung aufnehmen. Ich weiß nicht genau, wie lange mein Tarn zauber anhält, daher werde ich ihn erst erzeugen, wenn wir bereit sind. Außerdem wirst du bald einen Blick auf das Holo gramm werfen müssen, Arkarian.« »He«, widerspricht Dillon. »Ohne Neriah gehe ich nir gendwohin.« Meinem Instinkt vertrauend, ignoriere ich Dillons Ein wand, denn ich spüre, dass sein Temperament uns alle in Gefahr bringen könnte. Ich sende Arkarian meine Gedanken: Solltest du ohne ihn gehen, versucht er womöglich, Neriah auf eigene Faust zu retten. Dann verschwinde ich in die Dunkelheit. Als ich außer Sichtweite bin, probiere ich eine der Kräfte aus, die ich bei Dartemis erlernt habe. Es ist die Kraft, die mich am meisten erschreckt hat, und das nicht nur, als ich sie zum ersten Mal anwendete. Ich schließe die Augen und konzentriere mich darauf, meine Mitte zu finden. Ohne große Mühe richte ich mein ganzes Wesen auf einen einzigen Gedanken aus. Ein Gedanke! Und dann strömt es einfach aus mir heraus. Adler. Mit einer Mühelosigkeit, die immer noch ungewohnt ist, verwandeln sich meine Arme in mächtige Flügel, und auch meine Beine und der restliche Körper nehmen Vogelgestalt an. Obwohl ich dies nun schon so viele Male getan habe, erstaunt mich das Gefühl der fast völligen Schwerelosigkeit und des 240
Auftriebs in meiner Brust und meinen Lungen jedes Mal von Neuem. In Gestalt eines Goldadlers breite ich meine Schwin gen aus und steige auf in das düstere Schneetreiben. Hoch über dem Palast gleite ich dahin, in sicherer Entfer nung zu der ihn umgebenden magischen Barriere. Unter mir wallt dichter Nebel auf, doch dem scharfen Blick meiner Adleraugen entgeht fast nichts. Die Höfe des Palasts sind riesige, weite Flächen. Ich mache Lathenias rastlos umherstrei fende Hunde aus. Als einer von ihnen zu heulen beginnt, fallen die anderen sofort ein. Sie spüren etwas. Ich muss äußerst vorsichtig sein. Ich lasse mich tiefer gleiten, fliege so nahe heran wie mög lich und halte Ausschau nach dem »Käfig«. Fast habe ich meine Runde über die Höfe abgeschlossen, da entdecke ich ihn. Er ist vollständig in Nebel gehüllt. Als ich nahe genug bin, konzentriere ich mich darauf, den Zauber direkt über dem Käfig aufzuheben. Von hier aus erkenne ich, warum dieses Ding als Käfig be zeichnet wird. In Form einer Kuppel hängt er scheinbar mit ten in der Luft, mit einem so feinmaschigen Gitter, dass selbst der kleinste Vogel nicht hindurchschlüpfen könnte. Doch im Moment beherbergt er keinen Vogel. Neriah sitzt darin, die Arme fest um die angezogenen Knie geschlungen. Sie zittert, denn der Boden aus Glassteinen ist kalt. Ich betrachte das feinmaschige Silbernetz des Käfigs von Nahem. Es gibt keine Möglichkeit, in meiner Adlergestalt das Gitter oder gar den Bann um den Käfig zu durchdringen. Rasch bemühe ich mich, den Zauber zu analysieren, der Neriahs Käfig zu einem sicheren Gefängnis macht, und ihn außer Kraft zu setzen. Daraufhin verwandle ich mich in einen Nachtfalter. Zunächst habe ich Schwierigkeiten, mich an die 241
neue Gestalt zu gewöhnen. Alles scheint Übergröße zu besit zen. Meine Flügel flattern wild und unkoordiniert, aber sie erfüllen ihren Zweck und streifen das Netzwerk nur ein- oder zweimal, während ich hindurchschlüpfe. Im Innern des Käfigs nehme ich wieder meine menschliche Gestalt an. Neriah weicht zurück, als ich mich plötzlich vor ihren Au gen verwandle, und kriecht voller Angst von mir weg. »Neriah«, flüstere ich. »Ich bin’s, Matt.« Sie wendet den Kopf. Endlich erkennt sie mich. »Sprich leise«, warne ich sie. »Wir befinden uns zwar in großer Höhe, aber die Hunde haben ein feines Gehör.« »Bist du es wirklich, Matt? Wie bist du hierher gekommen?« Sie winkt ab. »Nein, du brauchst nicht zu antworten. Du warst der Adler, der eben noch in den Käfig geäugt hat.« Sie steht auf und tritt zögernd auf mich zu. »Bringst du Neuigkeiten von meiner Mutter?« »Es geht ihr gut«, beeile ich mich sie zu beruhigen. »Man kümmert sich um sie. Du brauchst dir keine Sorgen zu ma chen.« »Sagst du das nur, damit ich mit dir zurückkomme?« »Ich lüge dich nicht an, Neriah. Deine Mutter befindet sich wieder auf der Insel, auf der du aufgewachsen bist. Es ist im Moment der sicherste Ort für sie. Du brauchst also nicht länger hier zu bleiben. Das ist die reine Wahrheit, ich schwöre es.« Sie nickt. Sie glaubt mir. Aber dann fragt sie: »Was ist mit Aysher und Silos? Geht es auch ihnen gut?« Im ersten Augenblick weiß ich nicht, von wem sie spricht, doch plötzlich sehe ich im Geist ihre Hunde vor mir. Unwill kürlich schließe ich die Augen, während ich meine Gedanken 242
sammle, um ihr die Nachricht schonend beizubringen. Sie spürt, dass etwas nicht stimmt. »Erzähl es mir, Matt! Schnell! Ich halte es kaum aus, von ihnen getrennt zu sein. Es ist, als hätte man mir beide Arme amputiert. Sag mir, dass es ihnen gut geht. Bitte.« »Es tut mir so leid, Neriah. Sie sind fort.« »Fort? Was meinst du damit?« »Als Marduke dich aus deiner Welt geraubt hat, sind dir die beiden gefolgt – man hat mir erzählt, dass sie in dem Moment, in dem sie auf der anderen Seite ankamen, verschwunden sind. Seither hat sie niemand mehr gesehen.« Mit einem leisen Aufschrei wendet sich Neriah ab und krallt die Hände in das Gitter, bis ihre Knöchel weiß hervortreten. Als ich ihr sanft die Hand auf die Schulter lege, strafft sich ihr Rücken, und sie schluckt die Tränen herunter. »Ich bin in Ordnung.« Einen Augenblick später dreht sie sich um und sieht mich an. »Ich habe nicht verlangt, dass du hierher kommst.« »Da deine Mutter nun in Sicherheit ist, gibt es keinen Grund mehr für dich, hier zu bleiben.« Sie betrachtet das feine Gittergeflecht, das uns umschließt. »Nicht jeder von uns hat die Fähigkeit, sich in ein so kleines Insekt zu verwandeln, dass er diesem Gefängnis entfliehen kann.« »Nein, das nicht, aber es gibt noch eine andere Möglichkeit. Arkarian und Dillon warten draußen vor den Palastmauern auf mich. Ich werde nun zu ihnen zurückkehren und ihnen den Weg zu diesem Turm zeigen. Mit Hilfe unserer Schwin gen werden wir zu dir gelangen. Ich werde einen Tarnzauber heraufbeschwören. Damit er uns auch sicher schützt, dürfen wir keinen Laut von uns geben. Aber zuvor möchte ich noch 243
wissen, wer dich hier heraufgebracht hat. Ich weiß, dass Mar duke ein Ungeheuer ist, aber … er ist doch dein Vater!« »Er hatte ein wunderschönes Zimmer für mich hergerichtet. Wir haben uns stundenlang unterhalten, und ich hatte das Gefühl, ihn wirklich kennen zu lernen.« »Was ist dann passiert?« »Leider wurde Lathenia Zeuge, wie sich eine meiner Kräfte zeigte. Damit hatte sie nicht gerechnet, und da sie fürchtete, ich könnte fliehen, hat sie mich hier eingesperrt.« »Und Marduke war damit einverstanden, dich in diesen Käfig zu sperren?« »Sie haben sich die ganze Nacht gestritten. Einmal dachte ich sogar, ich hätte gehört, wie er sie … anflehte«, flüstert sie und verstummt. Ich dränge sie nicht, mehr zu erzählen. Es ist offensichtlich, dass es sie schmerzt. Außerdem wird die Zeit knapp. Arkarian wird zwanzig Minuten warten, keine Sekunde länger. »Ich muss jetzt gehen, bin aber bald zurück.« Bei diesen Worten hole ich einen weiteren silbernen Umhang hervor. »Hier.« Ich reiche ihn ihr, aber gerade als sie danach greifen will, beschließe ich, ihn ihr selbst um die Schultern zu legen. Dabei spüre ich ihren warmen Atem an meinem Hals. Das verwirrt mich, und als ich den Umhang am Halsausschnitt schließen will, gehorchen mir meine Finger nicht mehr. Es fühlt sich an, als hätte ich nicht zehn, sondern zwanzig Finger, die auch noch doppelt so groß sind. Sie fasst sich an den Hals, um die Kordel selbst zu binden, und dabei streift sie meine Hand. Ich weiß nicht, wie mir geschieht, aber plötzlich halten wir uns an den Händen und sehen uns in die Augen. »Matt«, flüstert sie. »Hast du mich endlich erkannt?« 244
Seltsame Frage. Ich habe keine Ahnung, was ich darauf antworten soll. Stattdessen starre ich wie gebannt in dieses engelhafte Gesicht. Ihr voller roter Mund zieht mich magisch an und ich beuge mich über sie. Jetzt bin ich ihr so nahe, dass ich die Wärme ihres Körpers fühlen kann. Es wäre so leicht, nur noch einen Schritt weiterzugehen. Was tue ich da? Ich lese es in ihren Augen. Sie akzeptiert ohne Einschrän kung, wer ich bin, wer sie ist, was wir zusammen sein könn ten. Während ich sie anblicke, meine ich zu versinken. Es ist ein schönes Gefühl, eine Aufforderung, es wirklich zu tun. Ich habe den Eindruck, dass am Ende dieses Sturzes nur die Freiheit warten kann. Eine noch nie gekannte Freiheit. Ich trete ganz nahe an Neriah heran, und das Bedürfnis, mit ihr zu verschmelzen, wird stärker. Geradezu dringlich. Ich möchte mit ihr zusammen sein, hier und jetzt. Sie streicht mir mit der Hand übers Gesicht. Die Berührung ist sanft und warm, aber sie katapultiert mich schlagartig wieder in die Realität zurück. Die Liebe wird mich schwächen. Um zu vermeiden, dass ich einen Riesenfehler begehe, werfe ich den Kopf zurück. »Lass das.« Sie sieht traurig aus. Ich wende mich ab. »Was ist los, Matt?« Es gibt nur einen Weg, um sicherzustellen, dass ich mich nicht an dieses Mädchen binde. »Ich bin nicht interessiert. Kapiert?« Ihre Augen flackern, als hätte ich ihr einen Schlag versetzt. Um es ihr ein für alle Mal klar zu machen, werde ich wieder zu einem Nachtfalter und füge dabei hinzu: »Und ich werde es auch niemals sein.« 245
Mit wirbelnden Flügeln verlasse ich den Käfig und ver wandle mich rasch wieder in einen Adler. Ohne einen Blick zurück erhebe ich mich hoch über die Vorhöfe des Palasts und steuere den Schutz der Felsen an. Arkarian und Dillon begrüßen mich erleichtert. Dillon platzt sofort heraus: »Hast du sie gefunden?« Ich nicke, doch bevor ich zu einem Bericht ansetzen kann, teilt mir Arkarian mit: »Die Hunde sind unruhig geworden und das hat die Wächter auf den Plan gerufen. Wir müssen uns beeilen, Matt!« Kurz erkläre ich ihnen, wo sich der Käfig befindet, und nur wenige Sekunden später nehmen wir drei darin Gestalt an. Schweigend registriert Neriah unsere Ankunft. Steif erwidert sie Dillons Umarmung und blickt mich dabei über seine Schulter hinweg an. Dillon spürt, dass etwas nicht stimmt, und weicht zurück. Als er sieht, wohin sie schaut, werden seine Augen schmal. Doch wir wissen, dass wir nicht sprechen dürfen, nicht ein einziges Wort, und welche Schlussfolgerun gen er auch gezogen haben mag, er behält sie für sich. Leise beginnen Arkarian und ich den Käfig nach einem Ausgang zu untersuchen. Neriah schüttelt den Kopf, sie glaubt nicht daran. Aber es gibt bestimmt einen – wir müssen ihn nur finden. Arkarian hat ihn schnell entdeckt. Mit einem einzigen Ge danken schaffe ich es, die Falltür im gläsernen Käfigboden zu öffnen. Darunter erscheint eine Treppe aus schimmerndem Kristall, die in vielen Windungen bis nach unten führt. Dillon drängt Neriah, als Erste hinunterzugehen, doch ich packe sie am Arm und halte sie zurück. Noch habe ich den Tarnzauber nicht ausgeführt. Arkarian hat verstanden und bedeutet allen, sich nicht zu bewegen. Indem ich die Augen 246
schließe, leere ich meinen Geist und mache uns alle mit einem Gedanken unsichtbar. Es funktioniert. Ich kann die anderen nicht mehr sehen, aber ich spüre ihre Nähe. Und wenn ich die Hand ausstrecke, kann ich sie berühren. Wir gehen die Wendeltreppe hinunter. Die vielen Stufen rauben uns kostbare Zeit. Der Gedanke, einfach die Schwin gen zu benutzen und schleunigst von hier zu verschwinden, ist verlockend, aber Neriah besitzt diese Fähigkeit noch nicht, und sollten wir in Schwierigkeiten geraten, brauchen wir all unsere Kräfte, um einander zu schützen. Endlich sind wir am Fuß der Treppe angelangt und stehen vor einer mächtigen Tür aus dickem Glas, durch die wir alles nur verschwommen erkennen können. Soweit ich die Lage des Käfigs in Erinnerung habe, müsste die Außenseite der Tür durch den Nebel verdeckt sein, und ich kann nur hoffen, dass dies eine strenge Bewachung überflüssig gemacht hat. Vor sichtig drücke ich die Klinke herunter. Als die Tür aufgleitet, spähe ich nach draußen. Niemand blickt in unsere Richtung. Nur zwei Hunde sind in der Nähe. Hoffentlich hält der Tarn zauber länger als bei den vorherigen Versuchen. Einer nach dem anderen verlassen wir den Turm und über queren den gepflasterten Hof. Wie vereinbart übernimmt Dillon die Führung. Wir haben schon beinahe ein zweites gläsernes Tor erreicht, als am Rand des Hofes zwei Hunde auftauchen, die seltsam verwirrt wirken. Schnüffelnd schlei chen sie in einem Bogen um uns herum. Sie wittern etwas, aber da sie niemanden sehen, sind sie völlig aus dem Konzept gebracht. Geht weiter, befehle ich den anderen. Doch die Hunde sind klug. Die Nase am Boden folgen sie unseren unsichtba ren Fußspuren. Plötzlich hebt einer den Kopf und fängt an 247
zu heulen. Es ist ein Zeichen. In den Türmen regt sich etwas und breite Lichtbündel wandern kreuz und quer über uns hinweg. »Halt! Wer ist da?« »Zeigt euch oder wir schießen!«, ertönen andere Stimmen. Wenigstens können sie uns immer noch nicht sehen. Und das bedeutet auch, dass die Hunde es nicht können, wie clever sie auch sein mögen. Rasch gehen wir weiter, überbrücken die letzten Meter bis zum Schatten einer Nische. Als wir außerhalb der Reichweite der Suchscheinwerfer sind, entdeckt Dillon eine Tür und zieht sie langsam auf. Wir schlüpfen hindurch, weg von den schnüffelnden Hunden. Im Innern des Palasts fasst Dillon nach meinem Arm, um sich zu vergewissern, dass ich ihm folge. In diesem Moment kann ich ihn mit Lady Arabellas Augen betrachten, und mein Vertrau en in ihn wächst. Plötzlich bleibt er stehen und hält uns zurück. Schnell wird mir klar, warum. Ich höre Stimmen in der Nähe. Sie dringen aus dem Korridor, den wir durchqueren müssen, um in die große Halle zu gelangen. Regungslos und eng aneinander gepresst verharren wir in einer Türöffnung. Eine der Stimmen kennen wir. Lathenia. Da packt mich Arkarian am Unterarm. Er hat die andere Stimme erkannt und ringt um Fassung. Schon kommt Lathenia auf uns zu, neben ihr ein Mann mit einem fröhlichen Lachen. Zwischen den beiden herrscht eine gewisse Vertrautheit, als stünden sie sich sehr nahe. Der Mann trägt einen langen roten Mantel. Als ich sein Gesicht erkenne, kann ich mich nicht mehr konzentrieren, und einen Augen blick lang lässt der Tarnzauber nach. Schnell bemühe ich mich, ihn wiederherzustellen. Während sie an uns vorübergehen, wird Arkarians Griff um 248
meinen Arm noch fester. Er steht unter Schock. Ich ebenso. Wir müssen erleben, wie unser lang ersehnter König Arm in Arm mit unserer größten Feindin an uns vorbeispaziert. Richard wendet den Kopf und scheint mich direkt anzusehen. Aber da ich unsichtbar bin, schenkt er Lathenia bald wieder seine volle Aufmerksamkeit. Wir behalten es zunächst für uns Matt. Arkarians Gedanken hallen in meinem Kopf wider. Sobald sich die Tür hinter dem Paar geschlossen hat, scheucht uns Dillon weiter. Arkarian und ich können kaum den Blick von der Tür losreißen, hinter der sich nun unser König befindet. Es ist die Tür zu Lathenias Schlafzimmer. Im Innern des Palasts ist alles ruhig. Nur einige Dienstboten halten sich dort auf und so erreichen wir ohne weitere Zwi schenfälle das Bronzeportal und steigen in den gläsernen Tunnel hinab. Da mir von der Begegnung mit König Richard am Arm von Lathenia immer noch schwindlig ist, erkenne ich einen Augenblick zu spät, welche Gefahr droht. Dillon hat die Hand auf der Türklinke. Aber diese Tür liegt direkt im Blick feld des Hofs und somit der Turmwächter. Auch wenn wir immer noch unsichtbar sind, wird eine sich öffnende Tür bestimmt Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dillon drückt die Klinke bereits herunter, und da sich Arka rian und Neriah zwischen uns befinden, müsste ich laut rufen und würde dadurch verraten, wo wir uns befinden. Nein! Meine Gedanken erreichen Arkarian. Er will Dillon zurück halten, aber zu spät. Die Tür schwingt auf. Beinahe im selben Augenblick hat offenbar ein Soldat etwas bemerkt. Suchscheinwerfer blenden uns. Wir sind zum Glück nicht weit von der Mauer des äußeren Hofes entfernt. Solange der Unsichtbarkeitszauber anhält, müssen wir nur die Beine in 249
die Hand nehmen und einen Vorsprung vor den Hunden bewahren. Aber die Hunde sind zu schnell. Sie sind uns auf den Fer sen, und obwohl sie immer noch ein wenig verwirrt wirken, laufen sie doch zielstrebig in unsere Richtung. Während ich renne, beobachte ich sie. Mir fällt auf, dass sich ihre Augen auf uns richten. Knurrend fletschen sie die Zähne, Speichel tropft aus ihren Mäulern. Der Tarnzauber lässt nach! Pfeile zischen durch die Luft. Nun bringt es nichts mehr, sich still zu verhal ten. »Lauft so schnell ihr könnt!«, rufe ich, während die Hunde immer weiter aufholen und die Pfeile gefährlich nahe an uns vorbeisausen. Als sich der Tarnzauber vollkommen auflöst, packe ich Ne riahs Hand und lege sie in Dillons. »Lauf mit ihr zum Tor. Ich werde euch von hier aus Deckung geben und dafür sorgen, dass das Tor offen ist. Wickelt euch gegen die Pfeile fest in eure Umhänge. Wenn ihr den Hügel erreicht habt, ruf Mar cus. Denk daran, wegen des Schutzzaubers um den Palast kannst du ihn erst rufen, wenn ihr euch außerhalb der Pa lastmauern befindet. Wartet nicht auf uns! Hast du verstan den?« Er nickt und nimmt Neriah fest an der Hand. Sie sieht mich einen Moment an und zögert. »Nun geht schon!« Sie wenden sich ab und spurten davon. »Ich übernehme die Hunde«, bietet sich Arkarian an. Aber die ersten beiden Hunde sind sehr flink, und bevor Arkarian etwas ausrichten kann, springen sie mit einem riesi gen Satz über uns hinweg und nehmen die Verfolgung auf. »Sie haben es auf Neriah abgesehen«, zischt Arkarian. Als wir uns umdrehen, haben die Hunde bereits angegrif fen. Dillon kann einen der Hunde abwehren, aber der andere 250
hat Neriah niedergeworfen und versetzt ihr mit der Pfote einen heftigen Schlag gegen den Hals. Dillon und ich stürzen uns von zwei Seiten auf das Tier und ziehen es mit vereinten Kräften von Neriah weg. Währenddes sen setzt Arkarian seine Kräfte ein, um alle sieben Hunde in Schach zu halten. Doch seine Kraft reicht nicht aus. Sie wei chen nur wenige Zentimeter zurück und warten knurrend auf eine Gelegenheit anzugreifen. Dillon versucht, Neriah aufzuhelfen. »Rasch! Sie blutet am Hals! Seht euch an, was diese Bestie getan hat!« Neriah ist schwer verletzt, aber hier in diesem Hof, unter diesem Regen aus Pfeilen, der von den Türmen auf uns nie derprasselt, und angesichts der sich nähernden Schritte kann ich nichts für sie tun. Jeden Augenblick werden wir von den Wachsoldaten umringt sein und für Neriah wird es kein Entrinnen mehr geben. »Dillon, Arkarian! Benutzt eure Schwingen und seht zu, dass ihr hier rauskommt!« Dillon schüttelt den Kopf. Neriah in seinen Armen wird immer schwächer. »Niemals. Du willst sie nur für dich haben und den Helden spielen.« Ich packe ihn von hinten an den Schultern, hebe ihn dabei hoch und zische ihm ins Ohr: »Hörst du denn nicht?« Dabei deute ich auf den gepflasterten Weg. »Da kommen Soldaten, sie werden gleich da sein. Möchtest du hier in Lathenias Palast erwischt werden? Was meinst du, Dillon, was sie wohl mit dir, ihrem einst getreuen Diener, machen wird? Wir haben beide ihr Verlies gesehen. Da willst du doch bestimmt nicht hin!« Er wirft einen hastigen Blick auf Neriah. »In Ordnung. Ich werde gehen.« »Befiehl mir nicht, dich zu verlassen«, zischt mir Arkarian zu. 251
»Du hast gesagt, von jetzt an erteile ich die Befehle. Und ich befehle dir hiermit zu gehen.« Er wendet kurz den Blick ab, dann nickt er. Es ist jedoch klar, dass ihm meine Entscheidung nicht gefällt. Die beiden verschwinden. Wenigstens sie werden sicher nach Hause zurückkehren. Ich beuge mich zu Neriah hinunter, um ihr aufzuhelfen. Plötzlich zischt ein Pfeil haarscharf zwischen uns hindurch. Ich ziehe ihr die Kapuze wieder über den Kopf. »Wickle dich fest in deinen Umhang.« »Benutze deine Schwingen«, flüstert sie schwach. Ich greife nach ihrer Hand und lege sie ihr auf die Wunde. »Lass sie dort und drück fest dagegen!« »Bitte geh, Matt!« Nun, wo Arkarian fort ist, werden die Hunde unruhig. Zu rück!, zwinge ich sie mit Hille meiner Willenskraft. Winselnd ducken sie sich und lassen die Köpfe sinken. Die herbeieilenden Schritte gehören zu einem Dutzend Wachsoldaten. Sie heben die Armbrüste und zielen direkt mit ihren vergifteten Pfeilen auf uns. Einer von ihnen ist Marduke. Als er Neriah erblickt, deren Hals und Schultern blutver schmiert sind und die mit jeder Sekunde mehr Blut verliert und blasser wird, gibt er ein Ekel erregendes Knurren und Grunzen von sich. »Bring sie mir!« Beim Klang von Mardukes barscher Stimme werden die Hunde wieder mutiger. Genau wie die Soldaten schauen sie erwartungsvoll auf ihren Herrn und erwarten seine Befehle. »Nicht feuern!« »Sie braucht einen Heiler, und zwar rasch!«, erkläre ich ihm. 252
»Wir haben einen Heiler.« »Und was dann? Wirst du erneut zulassen, dass Lathenia sie in diesen Käfig sperrt? Dort oben ist es eiskalt. Wie lange, glaubst du, wird sie das überleben?« Sein Auge quillt hervor, sein zerstörter halber Mund ver zieht sich zu einer geraden Linie. Auf einem Balkon im Innenhof blitzt ein Licht auf und Lathenia erscheint. Allein. »Gibt es ein Problem, mein Hünd chen?« Marduke stößt eine Art Seufzer aus, ein verabscheuungs würdiges Geräusch, und wendet sich um. »Nichts, womit ich nicht fertig werden würde, Herrin.« Neriah ist nahe daran, das Bewusstsein zu verlieren, und Marduke will schon zu ihr hinstürzen. Ich stütze sie und sie schlägt die Augen auf. »Vater …« Marduke scheint zu zögern, ob absichtlich oder nicht, wer de ich nie erfahren. Aber dieser Augenblick genügt mir, um selbst einen Zauber zu erzeugen. Die Gedanken rasen durch meinen Kopf, während ich in den eiskalten Graupelschauer spähe. »Achte auf ihn!«, höre ich Lathenia rufen. Zu spät, Göttin. Auch die Soldaten haben keine Chance. Mit einem Gedanken habe ich den Schneeregen in Feuer verwandelt. Die Luft ist zum Schneiden und wird schier lebendig. Es ist unmöglich zu atmen. Winselnd suchen die Hunde nach einem Unterschlupf vor der brennenden Luft. Die Wächter stieben kopflos auseinander. »Die Luft hat sich entzündet!« »Was ist das für ein Zauber?« »Lauft!« Lathenia auf ihrem Balkon beginnt zu kreischen, ihr Ge 253
schrei ist bis in die umliegenden Täler zu hören. Vor nichts fürchtet sie sich so sehr wie vor dem Feuer, und sie wird alles daransetzen, ihm zu entkommen. In all dem Durcheinander hebe ich Neriah hoch und renne zum Haupttor. Gedanklich spiele ich das Bedienen der Hebel durch, das Tor öffnet sich. Dann sind wir draußen und ich rufe Mr Carters Namen. Als wir zur Festung zurückgeholt werden, werfe ich einen letzten Blick auf den Palast. Die Wachsoldaten laufen aufge regt umher und versuchen, die überall auflodernden Feuer zu löschen. Die hauptsächlich aus Holz errichteten Wachtürme stehen in Flammen. Lathenia ist nirgends zu sehen. Auch ihr neuer Liebhaber König Richard nicht. Nur Marduke rührt sich nicht. Wie festgefroren steht er immer noch am selben Platz, den schützenden Umhang eng um sich gewickelt. Sein glühendes Auge blickt wild um sich. Geifer läuft aus seinem schnauzenähnlichen Mund und seinen Nüstern und er bleckt die gelben Zähne. Sein Gesichtsausdruck prägt sich unauslöschlich in mein Gedächtnis. Es ist der Ausdruck des Wahnsinns.
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Kapitel 18
Rochelle
Das
Hologramm dreht sich nach wie vor. Und während Arkarian es beobachtet und mit jeder Stunde, die verstreicht, unruhiger wird, müssen wir Übrigen unserem Alltag nachge hen, wie immer er dieser Tage auch aussehen mag. Und daher sitze ich an diesem Montagmorgen im Schulbus. In gewisser Weise bin ich für dieses Stück Normalität dankbar. In letzter Zeit haben sich die Ereignisse in meinem anderen Leben so überstürzt, dass es geradezu eine Erleichterung ist, etwas ganz Gewöhnliches zu tun. Seit meiner Rückkehr aus Athen wissen alle von meiner neuen Kraft, die Loyalität gegenüber den Wachen zu prüfen, und von dem Fluch, den Lorian ausge sprochen hat. Ein Fluch, du meine Güte! Er hätte mir genauso gut ein Brandzeichen auf die Stirn drücken können; noch ausgegrenzter kann man sich kaum fühlen. Wenigstens war unsere Mission nach Athen erfolgreich. Und der Schlüssel befindet sich nun in Matts Obhut. Der Bus hält am vorderen Schultor, und schon bevor ich aussteige, entdecke ich das Dreiergrüppchen Matt, Ethan und Isabel. Bis ich ausgestiegen und an den Sicherheitsleuten vorbeigegangen bin, hat sich ihnen noch Neriah angeschlos sen. Sie sieht blasser aus als sonst, aber das ist ja kein Wunder bei dem, was sie durchgemacht hat. Zumindest haben Neriah und ich einen Anknüpfungs punkt – unsere Väter sind beide Monster. Mein Vater ist im 255
Gefängnis, wo er hingehört. Ich bekomme ihn wenigstens nicht mehr zu Gesicht – er ist derjenige, der in einen Käfig eingesperrt ist. Am Fuß der Treppe spricht mich Dillon an. »Hallo. Hab von dem Fluch gehört. Das hast du ja mal wieder fein hinge kriegt!«, stichelt er. »Sicher steigst du damit in der Beliebt heitsskala!« Was ist nur heute Morgen mit ihm los? Er ist noch zyni scher als sonst. Einen Moment verspüre ich den Drang, ihn mal kurz ohne meine Handschuhe zu berühren, aber natürlich würde ich das nie tun. »Was ist mit dir?« Wie gebannt hängen seine Augen an Neriah. »Hm? Hast du was gesagt?« Ich folge seinem Blick. Neriah spricht gerade mit Matt, und wenn ich Matts Körpersprache richtig deute, dann ist zwi schen den beiden irgendetwas vorgefallen. Sogar von hier aus kann ich die Spannung spüren! Matt wirkt wie ein Dampfkes sel kurz vor der Explosion und schaut überall hin, nur nicht zu Neriah. Dillon neben mir ist wie gebannt. Natürlich hat auch er etwas gemerkt. Es ist einfach zu offensichtlich. Seine Augen werden schmal vor Wut und Neid. Als Neriah ihre Hand auf Matts Arm legt, damit er sie an sieht, wird Dillon ganz grün im Gesicht. Fast wie ein Laub frosch. Er hastet los, und ich muss gar nicht erst seine Gedan ken lesen, um herauszufinden, auf wen er zusteuert und was er vorhat. Ich versuche ihn aufzuhalten. »He, warte doch!« Stur geht er weiter. Oh weh, das gibt bestimmt Ärger. »Dillon, stopp!«, rufe ich noch einmal. Vergeblich. Er marschiert geradewegs auf Matt zu und baut sich vor ihm auf. »Was denkst du dir eigentlich?« 256
Matt wirkt überrascht. Er blickt zur Seite, als frage er sich, ob Dillon wirklich ihn meint. »Wovon redest du? Was ist los, Dillon?« »Was los ist? Was los ist? Ich sehe doch, was hier abgeht. Während ich weg war, hast du dich an Neriah rangemacht!« Neriah steht vor Staunen der Mund offen. »Dillon, da hast du etwas falsch verstanden. Lass uns das irgendwo in Ruhe bereden.« Er starrt sie an. Ich kann zwar sein Gesicht nicht sehen, aber sein Ausdruck lässt Neriah zurückweichen. »Das ist eine Sache zwischen mir und Matt«, stößt er zwischen zusammengebis senen Zähnen hervor. Isabel und Ethan werden nun auch aufmerksam. Genau wie einige andere Schüler in der Nähe. Neriah beginnt zu protestieren, aber Matt bedeutet ihr, nicht näher zu kommen. »Hör zu, Dillon, ich habe mich nicht an Neriah rangemacht.« »Ach ja«, höhnt Dillon. »Schau sie dir doch an, sie ist ja völ lig verknallt in dich!« Die beiden drehen sich um und sehen Neriah an, die erst zartrosa und dann puterrot anläuft. Sie will etwas sagen, bringt jedoch kein Wort heraus. Matt versucht Dillon zu beschwichtigen. »Ich versichere dir noch einmal, ich habe nichts hinter deinem Rücken getan. Das musst du mir einfach glauben.« Doch Dillon sieht rot. »Das kann ich aber nicht. Ich habe schließlich Augen im Kopf.« Er gibt Matt einen Schubs, so dass dieser nach hinten fällt und auf dem Allerwertesten landet. Mit dem Rücken kracht er gegen die Bank, auf der Ethan und Isabel sitzen. Die Wirkung war viel zu stark für etwas, was nach einem 257
leichten Schubs ausgesehen hat. Da fällt mir ein, dass eine von Dillons angeborenen Fähigkeiten seine Körperkraft ist. Mit wutverzerrtem Gesicht steht Matt wieder auf. »Jetzt hör mir mal gut zu! Neriah ist nicht dein Eigentum. Sie gehört niemandem. Und ihre Entscheidungen trifft sie allein.« »Stimmt genau! Und sie hatte sich für mich entschieden, bevor du aufgetaucht bist und sie mir weggeschnappt hast!« Diesmal rammt Dillon Matt die Schulter in den Magen. Matt fällt flach auf den Rücken und schnappt verzweifelt nach Luft. »Hoch mit dir!«, brüllt Dillon. »Na komm schon! Steh auf und kämpfe wie ein Mann. Oder hast du etwa Angst?« Mühsam rappelt Matt sich auf und erhebt die Hände zu einer beschwichtigenden Geste. Das ist ihm hoch anzurech nen. Doch Dillon achtet gar nicht darauf, sondern verpasst Matt einen Kinnhaken. Matt fällt zwischen irgendwelche abgestellten Taschen und schiebt dabei eine Bank einige Meter weit nach hinten. »Dillon!«, schreit Isabel, während Ethans Gedanken auf mich einstürmen. Auch er weiß, wie vernarrt Dillon in Neriah ist. Anscheinend wissen es alle. Aber Matt hat sich nichts zu Schulden kommen lassen, und Ethan kann nicht fassen, was Dillon hier in aller Öffentlichkeit aufführt. Er geht hinüber und packt Dillon von hinten. »Immer mit der Ruhe, okay?« Dillon zuckt die Achseln und schüttelt Ethan ab wie ein läs tiges Insekt. Während Matt sich zum wiederholten Male aufrappelt, ver sucht Neriah Dillon zu besänftigen. »Du hast uns deinen Standpunkt klar gemacht, Dillon. Wir werden das Ganze ohne Prügelei lösen. Komm mit und lass uns reden.« 258
Aber Dillon hat inzwischen völlig die Beherrschung verlo ren. Er scheucht Neriah beiseite, fest entschlossen, den Kampf mit Matt fortzusetzen. Doch er kann seine Kraft nicht dosie ren. Neriah stürzt zu Boden. Jetzt sieht Matt rot. Inzwischen hat sich eine kleine Schar von Zuschauern um die Kampfhähne versammelt und feuert sie an. Die Sicher heitsleute beobachten uns, zögern jedoch, ihren Platz am Schultor zu verlassen. Mit geballten Fäusten tritt Matt auf Dillon zu. Er platziert einen Schlag gegen Dillons Kinn, und nun ist Dillon derjenige, der zurückgeschleudert wird. Er fällt gegen Ethan und stößt ihn dabei um. Die Menge johlt. Ich suche nach Mr Carter. Jemand muss einschreiten, bevor das hier völlig ausartet. Da ich weiß, dass eine seiner Kräfte ein außergewöhnlich feines Gehör ist, rufe ich seinen Namen. Falls er sich irgendwo auf dem Schulgelände aufhält, müsste er mich eigentlich hören. Aber nichts tut sich. »Na los, Mr Carter, wo bleiben Sie denn?« Wenn er nicht bald kommt und das hier unterbindet, ist es zu spät. Vielleicht ist es das sowieso schon. Der Kampf wird heftiger, beide teilen ordentlich aus. Die Sicherheitsleute haben endlich kapiert, dass ihr Eingreifen erforderlich ist. Entschlossen bahnen sie sich einen Weg durch den Schülerpulk. Aber der Lehrer der Pausenaufsicht, der stellvertretende Direktor, Mr Trevale, ist noch vor ihnen bis zu den Streithäh nen vorgedrungen. »He, ihr zwei. Hört sofort auf!« Er drängt sich zwischen die beiden schwer atmenden Geg ner und hält sie mit weit ausgestreckten Armen auf Abstand. Wie wütende Bullen starren sie einander an, doch als Dillon sich losmachen will, brüllt Mr Trevale: »Es reicht!« Endlich kommt auch Mr Carter herbeigeeilt. Als er merkt, 259
dass ausgerechnet Dillon und Matt in eine Prügelei verwickelt sind, fallen ihm schier die Augen aus dem Kopf. »Was geht hier vor?« Mr Trevale blickt von Dillon zu Matt, um sich zu vergewis sern, dass er die Situation so weit im Griff hat und sie ihm nicht im nächsten Moment den Schädel einschlagen werden. »Ich habe keine Ahnung, Marcus, aber das werde ich be stimmt gleich herausfinden. Ihr beiden kommt jetzt mit in mein Büro!« Matt wechselt einen raschen Blick mit Mr Carter, der nahe zu unmerklich nickt. »Wenn du möchtest, kann ich mich darum kümmern, Bob. Ich kenne die beiden Jungen.« Mr Trevale zögert und ich kann seine Gedanken deutlich lesen. Auf seinem Schreibtisch türmt sich eine Menge Arbeit, und in wenigen Minuten muss er zum Unterricht, der ihn fast den ganzen Vormittag beanspruchen wird. Als der Gong ertönt, stöhnen alle auf. Mr Trevale wirft ei nen scharfen Blick in die Runde. »Ihr habt den Gong gehört. Ab mit euch.« Mr Carter versucht es noch einmal. »Ich habe erst später Unterricht. Wenn du willst, gehe ich der Sache auf den Grund.« Endlich gibt Mr Trevale nach. »Natürlich müssen sie nach sitzen, Marcus.« Warnend sieht er Dillon und Matt an. »Viel leicht sollten sie sogar zeitweise vom Unterricht ausgeschlos sen werden. Wir werden heute Nachmittag darüber reden. Ihr seid schließlich schon in der Oberstufe, da solltet ihr es wirk lich besser wissen!« Endlich zerstreut sich die Menge. Die Schüler verschwinden in ihre Klassen. Mr Carter schüttelt angewidert den Kopf. Ich 260
kann es ihm nicht verübeln. »Ihr zwei kommt jetzt sofort mit in mein Büro. Dort werden wir eine kleine private Unterhal tung führen.« Mit hängendem Kopf trabt Dillon davon, als könne er nicht fassen, was er da soeben angerichtet hat. Ich gehe zurück zu der Stelle, wo ich meinen Rucksack habe fallen lassen, und will ebenfalls in den Unterricht eilen, aber gerade als ich den Rucksack überstreife, höre ich, wie Matt zu Mr Carter sagt: »Ich möchte, dass Rochelle auch dabei ist.« Einen Augenblick starrt ihn Mr Carter verständnislos an. »Ich würde nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wä re«, fügt Matt hinzu. Mr Carter ruft mich zu sich. »Matt will, dass du auch mit in mein Büro kommst.« »Wozu?« »Ich möchte, dass du Dillons Loyalität überprüfst«, entgeg net Matt. »WAS? Meinst du das ernst? Warum?« »Du hast es doch miterlebt. Dillon hat diese Prügelei provo ziert, ohne an die Folgen zu denken. Der Hohe Rat wird sich fragen, ob er diesen Streit absichtlich angefangen hat, um meine oder unser aller Identität aufzudecken. Also solltest du seine Loyalität überprüfen.« Ich kann es einfach nicht glauben! Dieser verflixte Dillon mit seinem überschäumenden Temperament! »Bitte zwing mich nicht dazu, Matt.« »Ich verstehe nicht, wo das Problem liegt. Du hast es bei allen Mitgliedern des Hohen Rats gemacht. Das war bestimmt auch nicht einfach.« »Natürlich, aber … Dillon ist einer von uns. Es erscheint mir nicht richtig. Er wird mich dafür hassen.« 261
Wie die anderen auch! Dieser vorwitzige Gedanke hängt zwischen uns. Stammt er von Matt oder von mir? Mr Carter drängt zur Eile. »Wir sollten diese Fragen lieber in meinem Büro besprechen.« Ohne den Blick von mir abzuwenden, hebt Matt fragend die Augenbrauen und drängt mich einzuwilligen. »Gut, ich mach’s. Aber wenn, dann jetzt gleich, mit Mr Carter als Zeuge. Ich möchte Dillon keinesfalls vor den ande ren demütigen, kapiert?« Matt schaut fragend zu Mr Carter. »Das geht klar. Wir ha ben noch ungefähr eine Stunde, bevor die anderen Lehrer aus dem Unterricht kommen. Trotzdem sollten wir uns jetzt lieber beeilen.« Mr Carters Büro ist ein kleiner Raum, in den man drei Schreibtische gequetscht hat. Überall türmen sich Papierstapel und an den Wänden reihen sich überquellende Bücherregale und Aktenschränke planlos aneinander. Dillon erwartet uns schon, provozierend zurückgelehnt in Mr Carters Schreib tischstuhl. »Wo wart ihr denn so lang?« Als er mich sieht, setzt er sich kerzengerade hin. »Und was macht die hier?« Er begreift sofort. »Oh, nein, mich fasst sie nicht ohne ihre Handschuhe an. Das könnt ihr nicht machen. Ich will mit Arkarian spre chen.« Mr Carter setzt sich ebenfalls und rollt seinen Stuhl hinüber zum Schreibtisch, bis sein Gesicht nur wenige Millimeter von Dillons entfernt ist. »Hast du denn etwas zu verbergen, Dil lon?« »Natürlich nicht!« »Was meinst du wohl, was die Leute über deine kleine Vor 262
stellung da draußen denken werden? Schon allein deine Bä renkräfte müssen ihnen verdächtig vorkommen. Der Hohe Rat wird sehr zornig sein. Womöglich fordern sie eine Ver handlung, aber das Mindeste wird sein, dass sie von Rochelle verlangen, deine Loyalität zu überprüfen. Du hast die Wahl: entweder hier, mit mir und Matt als Zeugen, oder im Kreise des Hohen Rats, unter den Augen von Lorian und allen ande ren.« Dillon stöhnt auf, doch er hat bereits resigniert. Mr Carter schiebt seinen Stuhl zurück und lässt das Rollo herunter. Matt nickt mir auffordernd zu. Ich bahne mir einen Weg um eine Aktentasche am Boden, deren Inhalt teilweise um den Abfall eimer verstreut liegt, und stelle mich direkt hinter Dillon. Aus irgendeinem Grund möchte ich ihm bei meinem Tun nicht ins Gesicht sehen. Mir ist, als würde ich ihn verraten. Ein sehr unangenehmes Gefühl. Mit den Zähnen ziehe ich einen der Handschuhe von meinen Fingern. Die Hand sprüht Funken und die elektrische Spannung läuft in Form eines Zickzack musters von meinem Handgelenk in jeden einzelnen Finger. Dillon hört es, spürt es vielleicht sogar, und zieht hastig den Kopf weg. »Was soll das, zum Teufel!« Mr Carter pfeift leise. »Deine Kraft hat noch einmal zugenommen«, bemerkt Matt stirnrunzelnd. »Tut es weh?« Ich zucke die Achseln und versuche den Eindruck zu erwe cken, das mit meinen Händen sei nichts Besonderes, obwohl ich inzwischen manchmal nachts vor Schmerzen nicht schla fen kann. »Die Spannung ist ein wenig intensiver, seit Lorian meine Fähigkeit, Gedanken zu lesen, verstärkt hat.« Ein Geräusch im Flur veranlasst Mr Carter auf die Uhr zu sehen. »Eigentlich ist das hier nicht der richtige Ort für solche 263
Dinge. Wir müssen schnell machen und dabei möglichst leise vorgehen.« Zögernd hält Dillon den Kopf wieder gerade. »Wenn du mein Haar verbrennst, wirst du dafür …« »Halt den Mund, Dillon«, unterbricht ihn Matt. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf meinen Atem. Ein und aus, gleichmäßig und langsam. Als ich bereit bin, lege ich meine Hand auf Dillons Kopf und umfasse mit den Fingern leicht seine Stirn. Plötzlich sehe ich eine hoch aufflackernde Flamme. Vor Überraschung zucke ich zurück und umklammere meine Hand. »Was ist?«, fragt Dillon angriffslustig. Fragend sehen mich die anderen an, doch ich schüttle den Kopf. »Nichts. Nur, dass die Vision dieses Mal stärker ist, darauf war ich nicht vorbereitet. Lorian hat mich schon ge warnt, dass so etwas geschehen kann.« Als ich mich wieder gesammelt habe, versuche ich es erneut. Wieder flackert die Flamme wie wild. Diesmal konzentriere ich mich und suche nach dem Grund für diese Intensität. Bald formt sich ein Bild von ihrem Innersten, und ich erkenne, dass Dillon so zornig ist, weil er sich getäuscht fühlt. Von Matt. Er glaubt, Matt habe Neriah beeinflusst, sich in ihn zu verlieben, während Dillon fort war, um auf seine Mitgliedschaft bei den Wachen vorbereitet zu werden. Ich spüre auch seine Angst und seine Zweifel, dass Neriah Matt den Vorzug geben könn te, aber noch tiefer geht der Schmerz über seine traurige Kindheit, die Einsamkeit, weil seine Eltern nur mit sich selbst beschäftigt waren. Doch das ist nicht das, wonach ich suche. Ich arbeite mich durch all diese Feindseligkeit hindurch bis zum Herz der Flamme. Endlich sehe ich es. Ich öffne die Augen und nehme die Hand von Dillons Kopf. 264
Er schiebt den Stuhl zurück und schwingt herum, um mir ins Gesicht zu blicken. Alle drei starren mich an und warten auf mein Urteil. Gerade als ich zu einer Erklärung ansetzen will, geht die Tür auf. Rasch verstecke ich meine Hand hinter dem Rücken und bemühe mich, den Handschuh wieder anzuziehen. Es ist Mr Trevale, der es anscheinend eilig hat. »Ich wollte nur schnell mal nachsehen, ob alles in Ordnung ist.« Als er mich entdeckt, runzelt er die Stirn. »Rochelle, was machst du denn hier?« Um eine Antwort verlegen, blicke ich Hilfe suchend zu Mr Carter. »Tja, Bob«, sagt er, »es hat sich herausgestellt, dass … äh … Rochelle in diesen Streit verwickelt ist.« »Was meinst du damit, Marcus? Inwieweit?« »Tja …« Jetzt weiß Mr Carter nicht weiter. Mr Trevale beschließt, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Er sieht von Matt zu Dillon. »Habt ihr zwei Jungs euch etwa um ein Mädchen geprügelt?« Theoretisch gesehen ja, nur dass nicht ich dieses Mädchen bin. Die beiden murmeln irgendetwas Unverständliches und nicken vage. Mr Trevale gibt einen spöttischen Laut von sich. »Ich hätte es wissen müssen. Siebzehnjährige und ihre Hormone!« Er schickt sich an, den Raum zu verlassen. »Dann sehe ich euch heute Nachmittag alle drei beim Nachsitzen.« Sobald sich die Tür geschlossen hat, fahre ich zu Mr Carter herum. »Aber Sir, das ist nicht fair! Er hat nicht das Recht, mir eine Strafe aufzubrummen!« Seufzend zieht Mr Carter die Schultern hoch. »Was willst du tun, Rochelle? Dich mit dem stellvertretenden Direktor anlegen? Und noch mehr Aufmerksamkeit auf dich, Matt und Dillon lenken?« 265
Ich verschränke die Arme vor der Brust und versuche, mich zusammenzureißen. »Sie hätten zumindest etwas sagen kön nen«, knurre ich leise. Schweigen tritt ein. Natürlich hat Mr Carter Recht. Ich werde keinen Wind um so ein läppisches Nachsitzen machen, aber unfair ist es doch. Mr Carter erinnert mich wieder daran, warum ich tatsäch lich hier bin. »Rochelle, was wolltest du sagen, bevor wir unterbrochen wurden?« »Dillon ist den Wachen gegenüber loyal.« »Das hätte ich dir auch sagen können«, murmelt Dillon. Mr Carter hakt noch einmal nach. »Bist du ganz sicher? Keinerlei Zweifel?« »Er ist sozusagen sauber. Und er ist felsenfest davon über zeugt, dass seine Entscheidung für die Wachen richtig war.« Matt nickt. Ein Lächeln erhellt sein sonst so ernstes Gesicht. »Und was Neriah angeht …« Dillons Körper versteift sich. »Du wusstest, was ich für sie empfunden habe, schon bevor ich in den sicheren Raum gebracht wurde.« »Ich sage es jetzt zum letzten Mal, Dillon. Ich bin nicht an Neriah interessiert«, stellt Matt klar und neigt dabei kurz den Kopf. »Da habe ich aber einen ganz anderen Eindruck.« Matt sieht Dillon scharf an. »Ich bin nicht auf eine Bezie hung aus.« »Ich fürchte, sie ist ganz vernarrt in dich«, sagt Dillon leise. »Also ganz ehrlich, Dillon, davon weiß ich nichts. Ich habe keinen Einfluss auf Neriahs Gedanken oder Gefühle. Aber ich habe ihr meine Haltung klipp und klar verdeutlicht. Okay?« »Wie viel Wert hat dein Wort, Matt?« 266
»Wie lange sind wir schon befreundet?« Dillon hebt den Kopf. Er sieht hocherfreut aus. »Dann ver sprich mir, dass du dich nicht um sie bemühen wirst.« Matt starrt ins Leere und überdenkt Dillons Forderung. Mit leiser Stimme wirft Mr Carter ein: »Sei vorsichtig mit dem, was du versprichst, Matt.« Aber Matts Entschluss ist schnell gefasst. »Dillon, du hast mein Wort. Ich werde Neriah in Ruhe lassen.« Dillon springt auf und klopft Matt begeistert auf den Rü cken. »Du bist ein wahrer Freund, weißt du das?« Nun ist Dillon glücklich und zufrieden. Warum auch nicht? Da er nun weiß, dass er keine Konkurrenz von Matts Seite zu befürchten hat, hat er bei Neriah sozusagen freie Bahn. Bei mir verursacht Matts Versprechen jedoch ein Unbehagen. Wenn ich eines weiß, dann, dass Matt so etwas nicht auf die leichte Schulter nimmt. Ich fürchte, dies wird sich als die größte Herausforderung erweisen, der er sich je stellen musste. Dillon wird ganz zapplig. »Mr Carter, können wir jetzt ge hen?« Mr Carter will uns schon hinauswinken, als er plötzlich aus ruft: »Wartet. Seid leise!« Er hält die Augen einen Moment geschlossen. Mir läuft es kalt über den Rücken. Mr Carter kann keine Gedanken lesen, aber offensichtlich haben er und Arkarian eine Art eigenes Kommunikationssystem entwickelt. Endlich schlägt Mr Carter die Augen wieder auf. »Heute Abend steht eine Mission an.« »Das Hologramm?«, fragt Matt. »Hat es aufgehört sich zu drehen?« »Ja.« Kälte kriecht meine Wirbelsäule hinauf und lässt mich schaudern. »In welchem Jahr ist es stehen geblieben?« 267
Mr Carter starrt uns mit großen Augen an.
»Neuntausendfünfhundertsechsundneunzig vor Christus.«
»Wie bitte?«, zischt Dillon.
Matt runzelt die Stirn. »Das ergibt keinen Sinn. Das ist in
prähistorischer Zeit. Welche Stadt sollte das sein?« »Atlantis«, erwidert Mr Carter ehrfürchtig.
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Kapitel 19
Matt
Ich muss schleunigst zu Arkarian. Aber zuvor muss ich dieses »Nachsitzen« hinter mich bringen. Nachsitzen! Vierzig Minu ten »innere Einkehr halten«, wie Mr Trevale es nennt, wäh rend er vorne am Pult Hausaufgaben korrigiert. Die ersten zwanzig Minuten versetze ich mich in Trance. Während meines Aufenthalts bei Dartemis habe ich gelernt, wie ent spannend und erholsam tiefe Meditation ist. Dillon könnte eine Menge davon profitieren. Seitdem wir hier sind, ist er total zappelig – entweder schlenkert er mit den Armen oder klopft mit den Füßen auf den Boden. Jetzt trommelt er bei spielsweise mit den Fingern auf sein Pult. Rochelle, die vor ihm sitzt, dreht sich um. »Könntest du vielleicht damit aufhören? Es macht mich wahnsinnig!« »Mensch, Roh, das hier ist doch pure Zeitverschwendung.« »Das finden wir alle, Dillon, aber deshalb musst du die Si tuation nicht noch unerträglicher machen.« Einen Moment tut Rochelle mir echt leid. Dass sie hier nachsitzen muss, ist allein meine Schuld. Weil ich mir nämlich ihre Kräfte zu Nutze gemacht habe, um einen Beweis für Dillons Loyalität zu bekommen. Und das, obwohl sie mir eindeutig zu verstehen gegeben hat, wie unangenehm ihr das ist. Obendrein ist sie zu Unrecht bestraft worden. Tut mir leid!, lasse ich sie über meine Gedanken wissen. Als sie nicht reagiert, frage ich mich, ob meine Nachricht 269
überhaupt bei ihr angekommen ist. Langsam dreht sie sich um. Sie sagt weder ein Wort, noch schickt sie einen Gedanken zurück, aber der Ausdruck ihrer Augen signalisiert mir, dass meine spontane Entschuldigung gewirkt hat. Tränen stehen ihr in den Augen. Rasch wendet sie den Blick ab. Mr Trevale stößt einen bühnenreifen Seufzer aus und sieht umständlich auf seine Uhr. »Die Zeit ist um. Ihr könnt gehen.« Erleichtert schiebt jeder von uns seinen Stuhl nach hinten, steht auf und greift sich seine Schultasche, als Mr Trevale mit warnendem Unterton in der Stimme sagt: »Jungs, wehe, ihr lasst euch noch einmal bei einem derartigen Verhalten erwi schen. Und jetzt verschwindet. Ihr habt bestimmt Unterhalt sameres zu tun als nachzusitzen.« Kaum haben wir das Klassenzimmer verlassen und befinden uns außerhalb von Mr Trevales Hörweite, bombardiert Dillon uns mit Fragen: »Weiß einer von euch, wo Ethan heute mit Neriah trainiert?« Er sieht auf seine Uhr. »Was meint ihr, bin ich zu spät dran?« Rochelle schüttelt den Kopf. »Sie sind in Arkarians Kammern«, antworte ich. »Aber heu te trainieren sie ohne Zuschauer. Und da sie in den Kammern absolut sicher sind, ist auch Rochelles Anwesenheit nicht mehr erforderlich.« »Na gut«, antwortet er leise, obwohl ihm im Grunde noch weitere Fragen auf der Seele liegen. »Wo ist Neriah denn untergekommen? Ihr Haus ist doch völlig zerstört.« Zwar wird ihm das, was ich ihm jetzt antworte, nicht gefal len, aber ich muss ihm die Wahrheit sagen. »Sie wohnt bei … Isabel.« »Ach, wirklich?« Plötzlich dämmert es ihm. »Mit anderen Worten, sie wohnt bei dir.« 270
»Genau. Arkarian meint, dort sei sie im Augenblick am bes ten aufgehoben.« »Bei dir? Tja, das ist doch wirklich ganz praktisch.« »Außerdem wohnt Jimmy da, falls es Schwierigkeiten geben sollte.« »Na, was Besseres hätte dir doch eigentlich gar nicht passie ren können, oder?« Jetzt reicht es mir! Ich packe ihn am Hemd und ziehe ihn zu mir heran, bis sein Gesicht unmittelbar vor meinem ist. »Ich habe dir etwas versprochen. Und darauf kannst du dich ver lassen.« Rochelle schiebt sich zwischen uns und drängt uns ausein ander. »Was soll das? Wollt ihr etwa, dass wir wieder Ärger bekommen?« Wir treten jeder einen Schritt zurück, während sie Anstalten macht zu gehen. »Ich verschwinde.« Hastig verlässt sie den Schulhof durch das vordere Schultor. Mr Trevale kommt aus seinem Büro und geht in Richtung Parkplatz. Als er uns sieht, zieht er die Stirn kraus. »Alles in Ordnung, Jungs?« Ohne zu antworten setzen wir uns in Bewegung. Jeder in eine andere Richtung. Dillon folgt Rochelle, während ich geradewegs das hintere Schultor ansteuere. Ich muss unbe dingt zu Arkarian und bin ohnehin schon viel zu spät. Wäh rend ich über den menschenleeren Schulhof gehe, frage ich mich, warum ich so fertig bin. Ich habe heute Morgen völlig die Beherrschung verloren und bin auch vorhin beinahe ausgerastet. Was ist bloß los mit mir? Doch bereits wenig später weiß ich die Antwort – kein Wunder, dass Lorian meinte, man könne nur dann ein fairer und unparteiischer Herrscher sein, wenn es einem gelingt, sowohl männliche als 271
auch weibliche Gefühle auszuschalten. Nein – das kommt für mich nicht infrage! Ich verstehe allerdings seinen Standpunkt. Das Herz ist ein eigentümliches Ding. Und noch dazu ziem lich störungsanfällig. Kaum trete ich durch die geheime Tür zu Arkarians Kam mern und durchquere die Halle, erfasst mich ein Gefühl, als erwarte mich eine dringliche Neuigkeit. »Gut, dass du endlich da bist«, begrüßt Arkarian mich, als ich die Kammer betrete. »Sieh dir das an.« Das Hologramm eröffnet die überwältigende Ansicht einer historischen Stadt mit ungewöhnlichen Gebäuden aus weißem Gestein, die mit roten und goldenen Ornamenten verziert sind. Die Fassaden der hohen, überwiegend mehrgeschossigen Häuser sind mit runden Säulen versehen. Als Arkarian das Hologramm dreht, sehe ich die Stadt im Überblick. Die ge pflasterten, mit farbenprächtigen Glas- und Kristalllampen versehenen Straßen schimmern im strahlenden Sonnenschein. Mitten durch die Stadt verläuft ein Kanal, dessen Wasserober fläche sich leicht kräuselt. Dem Aussehen der Schiffe und Kanus nach zu urteilen, die die Wasserstraße entlanggleiten, wird der Kanal möglicherweise sowohl als Handelsweg wie auch für sportliche Veranstaltungen genutzt. Überall sieht man in lange Tuniken gehüllte Menschen mit fremdartigen, turbanähnlichen Hüten auf dem Kopf. Als Arkarian das Hologramm erneut dreht und die Ansicht vergrößert, kommt ein erstaunliches Bauwerk ins Blickfeld. Es überragt die Ge bäude in der unmittelbaren Umgebung, ist jedoch wie die anderen Häuser an der Stirnseite mit den gleichen weißen Marmorsäulen versehen. »Nach diesem Tempel musst du Ausschau halten«, erklärt Arkarian. »Eingeschlossen in einem Kellergewölbe befindet 272
sich ein Hologramm, das diesem hier sehr ähnelt, jedoch so klein ist, dass es in deine Hand passt.« Nachdem er sicher ist, dass ich ihm aufmerksam zuhöre, fährt er fort: »Gib es nicht aus der Hand. Es muss mit der Stadt bis auf den Meeresgrund sinken. Hast du verstanden, Matt?« »Was hat es mit diesem Hologramm auf sich?« »Es funktioniert ähnlich wie das in meinen Kammern, nur mit dem Unterschied, dass das Hologramm hier den Blick in die Vergangenheit öffnet. Das kugelförmige AtlantisHologramm hingegen weist uns den Blick in die Zukunft.« Mir verschlägt es für einen Augenblick die Sprache. »Mit anderen Worten …« »Es ist das letzte noch erhaltene Instrument einer überlege nen Technik, die die Bewohner von Atlantis erfunden haben, ehe die Insel vollständig zerstört wurde. Damals hatten ver heerende Erd- und Seebeben tödliche Flutwellen ausgelöst. Die Kugel ist ein einziges Mal auf ihre Wirkung erprobt wor den, und zwar in ihrer Testphase. Daher wissen wir, dass sie funktioniert. Jetzt möchte Lathenia sie unbedingt in ihren Besitz bringen.« »Tut mir leid, wenn ich das jetzt nicht kapiere, aber was hätte Lathenia davon, einen Blick in die Zukunft zu werfen, wenn die Zukunft noch gar nicht eingetreten ist?« »Der Endkampf um die Welten wirft seine Schatten voraus. Er ist näher, als …« Arkarian hält inne, und sein ernster Gesichtsausdruck lässt mich erschaudern. »… näher, als wir wahrhaben wollen. Mit diesem Hologramm ist es Lathenia nicht nur möglich, in die Zukunft zu blicken, sondern sie kann sich auf diesem Wege sogar Zugang zur Zukunft ver schaffen.« »Demnach könnte sie den Kampf mit eigenen Augen ver 273
folgen und einen Eindruck über den Verlauf gewinnen, um sich dann ihre Verteidigungsstrategie zurechtzulegen und uns zu überrumpeln, sobald der Kampf beginnt. Sie könnte den Ausgang des Krieges beeinflussen. Sie könnte alles verändern, Arkarian.« »Da ist noch etwas, was du wissen musst, Matt. Es gibt wei tere Gründe, weshalb die Kugel mit der Insel versinken muss. Da ich nicht beurteilen kann, wie viel du bereits weißt oder was du in Erfahrung gebracht hast, erkläre ich dir die Hinter gründe.« »Schieß los, Arkarian.« »Atlantis war eine Hochkultur mit einer ebenso hochentwi ckelten Gesellschaft. Und das betraf nicht nur die damalige Zeit. Auch uns und unserem Fortschritt war sie in jeder Hin sicht weit voraus. Die von den Bewohnern entwickelte Tech nologie ist bei uns noch nicht einmal erfunden worden.« »Und daher dürfen die in der alten Stadt verborgenen Anla gen sowie die Maschinerie nicht verändert werden, richtig?« »Richtig. Es ist noch nicht an der Zeit. Die Welt – die Erde – ist noch nicht so weit. Das natürliche Gleichgewicht würde aus den Fugen geraten. Keine Nation hat Zugang zu dieser Art von Macht. Noch nicht. Und das wird auch noch lange so bleiben. Man darf nicht vergessen, dass das Hologramm von Atlantis das bedeutendste technische Instrument ist, das jemals erfunden wurde. Und genau dieses wichtige Element ist mit dem Untergang von Atlantis verloren gegangen.« »Gut und schön, aber wie können wir die Kugel schützen?« Arkarian führt die Hand über das Hologramm vor ihm. Es beginnt sich zu drehen und enthüllt den Blick auf dieselbe schöne Stadt, die sich mir kurz zuvor gezeigt hatte. Doch jetzt herrscht dort Chaos. Asche und dichter Rauch verschleiern die 274
Sicht. In Todesangst suchen die Menschen hastig das Weite, Fuhrwerke mit Habseligkeiten hinter sich herziehend, deren Ladung von den Karren stürzt. Tiere – selbst Elefanten – trampeln über jene hinweg, die nicht rasch genug zur Seite springen. Ein anhaltendes Dröhnen erschüttert das Land. Menschen schreien und klammern sich aneinander. Manche beten, andere drängen kopflos vorbei, um zu entkommen. Die Mehrzahl der Schutzsuchenden scheint Zuflucht auf einer entfernten Bergkette finden zu wollen. »Die vergangenen drei Tage waren chaotisch, doch am heu tigen – der Tag, an dem sich das Portal geöffnet hat – wird Atlantis untergehen. Sieh mal, dort drüben.« Arkarian weist auf eine Anhebung, auf der ein Vulkan Feuer und flüssige Lava speit. »Dein Auftrag lautet, dir Zugang zum Tempel zu verschaffen und sicherzustellen, dass die Kugel mitsamt der Stadt versinkt. Anschließend musst du den Tempel unverzüg lich verlassen, damit du nicht mit ins Meer gerissen wirst. Vergiss nicht: Du brauchst nur meinen Namen zu rufen. Ich werde dich auf deinem Weg begleiten. Sobald du rufst, höre ich dich. Soweit ich habe herausfinden können, schickt der Orden zwei Krieger oder Kriegerinnen auf diese Mission. Lathenia ist eine davon.« »Na, toll!« »Der oder die andere ist nicht bekannt. Vermutlich wird die Aufgabe einem sehr gut ausgebildeten Mädchen zufallen. Da diese Kriegerin nicht ausfindig zu machen ist, schlage ich vor, dass du die Reise in Begleitung zweier Verbündeter antrittst.« Ich überlege, wer sich dazu am besten eignet. Doch um die richtige Entscheidung treffen zu können, fehlt es mir an Erfahrung. »Wen würdest du mitnehmen?« »In Anbetracht der Bedeutung dieser Mission und des Um 275
stands, dass du eine fortschrittliche, sich mitten in Umwäl zung befindende Gesellschaft antriffst, würde ich dir raten, eine weibliche und eine männliche Person – beide Gedanken leser, beide mit Schwingen versehen – als Begleiter auszuwäh len. Zwei kümmern sich um Lathenia und den sie begleiten den Krieger bzw. die Kriegerin, während die dritte Person die Kugel in Gewahrsam nimmt.« Ich rufe mir jedes Mitglied der Wachen ins Gedächtnis, über dessen Kräfte ich Bescheid weiß. Ethan hat seine Schwin gen, ist aber kein Gedankenleser. Mr Carter verfügt über keine der genannten Fähigkeiten. Jimmy und Shaun haben Schwin gen, können aber keine Gedanken lesen. Was die Mädchen angeht, sind Neriahs Kräfte noch nicht voll entwickelt, und ich weiß nicht einmal, welche Kräfte ihr innewohnen könnten. Sie ist noch zu unerfahren. Und weder Isabel noch Rochelle haben Schwingen. »Abgesehen von dir, Arkarian, gibt es niemanden, der die erforderlichen Voraussetzungen erfüllt.« »Ethan kann zwar keine Gedanken lesen, aber dafür hat er die Schwingen. Überdies könnte seine Gabe, Illusionen zu erzeugen, auf Atlantis von Vorteil sein.« »Gut. Dann soll Ethan mit auf die Reise gehen. Und welches Mädchen?« Als ich Schritte höre, drehe ich mich hastig um. »Na ja, ich habe zwar meine Schwingen noch nicht, aber ich kann Gedanken lesen.« Es ist Rochelle. Gewiss hat Arkarian sie hierher gebeten, weil er bereits wusste, dass sie Teil des Teams sein würde. Kurz darauf höre ich erneut Schritte, und Ethan tritt zur Tür herein. »He, wohin geht die Reise?« »Nach Atlantis«, entgegne ich. »Am letzten Tag vor seinem Untergang.« 276
Kapitel 20
Rochelle
Wir landen nacheinander in einem Raum der Festung. Matt als Erster, Ethan kurz nach mir. Ich sehe mich um und überlege wieder einmal, warum gerade dieser Raum ausgewählt wurde. Er ist dunkel, geheimnisvoll, die Luft feucht und drückend. »Seht mal dort drüben!«, ruft Ethan. Hastig drehe ich mich um. Eine Kletterpflanze breitet sich unaufhörlich wachsend über die Wand aus, verzweigt sich mehr und mehr, kriecht jetzt sogar hoch über uns die Decke entlang, die binnen Sekunden mit Ranken überzogen ist. Die Triebe hängen zum Teil bis zu uns herab. »Dieser Raum ist wirklich gruselig«, bemerkt Ethan. Matt stimmt ihm zu. »Nichts wie weg von hier. Kümmern wir uns lieber um unsere Identitäten.« Wir folgen Matt auf einer Treppe, deren Stufen sich bei je dem Schritt hinter uns auflösen, und stehen unversehens in einem Raum, der im Vergleich zu früheren Zeitreisen mit weniger Gewändern ausgestattet ist. Ich bin plötzlich in eine gelbe Hose gekleidet. Darüber trage ich eine passende lange Tunika. Beide Kleidungsstücke sind aus Seide. Um meine Taille liegt die gleiche goldene Schärpe wie bei meiner Einfüh rung. Ein fast bis zu den Waden reichender Zopf fällt mir über den Rücken. Als ich mich in einem der Spiegel ansehe, bemer ke ich, dass sich auch mein Gesicht verändert hat und nun herzförmig ist. 277
Matt und Ethan tragen ähnliche Hosen und Tuniken wie ich. Sie unterscheiden sich nur durch ihre weiße Farbe. Matt trägt das jetzt rötliche Haar kurz, während Ethans Schopf dunkel und sehr dicht ist. Nur die Augen sind dieselben. Ethan sieht mich an. Er kann den Blick nicht von mir wenden. Als Matt es bemerkt, schüttelt er den Kopf. Seine überhebliche Reaktion ärgert mich. »Nur weil unsere Beziehung nicht gut geendet hat, heißt das noch lange nicht, dass auch jede andere Beziehung scheitert«, erkläre ich ihm. »Wie oft soll ich mich denn noch bei dir entschuldigen?« Ehe Matt antworten kann, spreche ich weiter: »Meine Güte, wer weiß, was alles geschehen wird? Wer kann denn schon voraussagen, wie lange wir noch zu leben haben?« Verdutzt starrt er mich an. »Wovon sprichst du eigentlich?« »Na, hör mal, wir haben doch alle die Prophezeiung gele sen«, sprudelt es aus mir heraus. »Ja, und …? Ich verstehe nur Bahnhof.« »Seid auf der Hut! Zwei letzte Krieger bringen sowohl Leid als auch Segen …«, rezitiere ich die Prophezeiung. Und Ethan fährt fort: »Der eine tritt aus der Mitte Verdächti ger hervor. Der andere verkommt zum Bösen.« »Ja und …?« Matt begreift nicht. »Während der eine den Sieg erlangt, wird der andere siegreich sein im Tode«, beende ich den Satz. »Und du meinst, dass sich dieser letzte Satz auf dich be zieht?« »Bei meiner Einführung wurde mir eine Tunika über reicht«, erkläre ich und zupfe an meiner Schärpe. »Eine pur purne Tunika mit einer goldfarbenen Schärpe, genau wie diese hier.« »Worauf willst du hinaus, Rochelle?« 278
»Purpur ist die Farbe der Selbstaufopferung«, erklärt Ethan. Zum ersten Mal seit langer Zeit sieht Matt mich ohne Ver achtung und Zorn an. »Du wirst nicht sterben, Rochelle. Das darfst du nicht einmal denken.« Doch das sind nur Worte. »Woher willst du das wissen? Kannst du etwa in die Zukunft sehen?« Er zögert. »Nein. Natürlich nicht. Das ist nicht einmal dem Hohen Rat möglich. Nicht einmal Lorian«, antwortet er schließlich und schiebt den Kiefer hin und her. Für eine Sekunde durchströmt mich eine Welle von Gleichmut. Damit Ethan meine Worte nicht hören kann, teile ich sie Matt über meine Gedanken mit. Ethan interessiert sich nicht für mich. Daher brauchst du dir keine Sorgen darüber zu machen, dass ich ihn verletzen oder ihm vielleicht sogar das Herz brechen könnte. Aber sollte es noch eine Chance geben, dass er …, dass wir zumindest gute Freunde bleiben können, dann mach mir bitte nicht alles kaputt. Eine Tür schwingt auf und signalisiert uns, dass wir nun unsere Reise antreten sollen. Matt reagiert nicht. Ich nehme es als Zeichen, dass er zumindest über meine Bitte nachdenkt. Wir treten durch die Türöffnung und steuern auf eine Treppe zu. Auch hier lösen sich die Stufen hinter uns mit jedem Schritt auf. Kaum sind wir am oberen Treppenabsatz angekommen, formt sich in der gegenüberliegenden Mauer eine Öffnung. Wir gehen hindurch und bleiben angesichts dessen, was wir dort unten sehen, wie angewurzelt stehen. Es wird ein Sprung in große Tiefe und wir werden inmitten eines fürchterlichen Durcheinanders landen. Donnergrollen erfüllt die Straßen, in denen Menschen panisch und konfus umher hasten. Um sie herum nichts als Gebäude, die unter ohrenbe täubendem Dröhnen einstürzen. Sowohl Tiere wie auch 279
Menschen rennen schreiend und verwirrt von hier nach dort, um in den entfernten, unter Asche und undurchdringlichen Wolken versteckt liegenden Hügeln Schutz zu suchen. Unmit telbar unter uns fällt ein Gebäude in sich zusammen. Mörtel, Ziegelsteine und Marmorplatten fliegen durch die Luft, ehe sie in einem klaffenden Krater verschwinden. Die Situation spitzt sich noch mehr zu, als sich der Graben umgehend mit schäu mendem Meerwasser füllt. Nach einer weiteren Explosion versinkt auch die andere Straßenhälfte im Meer. Vergebens versucht ein Zebra aus dem Trichter herauszuklettern und sich in Sicherheit zu bringen. Ich spüre, dass Matt und Ethan einander ansehen. Als ich mich ihnen zuwende, lese ich in ihrem starren, beinahe leeren Blick blankes Entsetzen. Matt gewinnt als Erster die Fassung zurück. »Arkarian wird uns so nahe wie möglich beim Tempel absetzen, so dass wir nur ein paar Schritte gehen müssen.« Ethan nickt bestätigend. »Er lässt uns nicht aus den Augen.« »Wir brauchen nur seinen Namen zu rufen …« »Es ist sinnlos, unseren Sprung noch länger hinauszuzögern und dabei noch nervöser zu werden. Wir wissen schließlich, wie sich alles abspielt. Wir springen einfach, sollten aber darauf achten, beieinander zu bleiben, damit nicht jeder von uns in einem anderen Teil der Stadt ankommt.« Wir zählen bis ›drei‹, springen … und landen auf Steinstu fen, die sofort unter unseren Füßen nachgeben und auseinan der brechen. »Los«, ruft Matt uns zu. »Hier entlang.« Die Stufen führen zu dem Tempel, in dem sich das Holo gramm befindet, das wir in unseren Besitz bringen wollen. Wir helfen einander beim Erklimmen der Treppe. »Achtung!«, schreit Ethan plötzlich. 280
Kaum hat er uns gewarnt, bricht einer der hohen Marmor pfeiler auseinander. Inmitten herabfallender Steinbrocken, die bei ihrem Sturz in die Tiefe in Tausende Stücke zerschellen, hasten wir hinauf bis zum Ende der Treppe. »Wir müssen in das Innere des Tempels gelangen«, ruft Matt. Doch genau in dem Moment kommt es vor dem Eingang zu einer Explosion, die die Erde und sämtliche Überreste des Tempels erzittern lässt, so dass mein Herz vor Angst beinahe stehen bleibt. Eine Wolke gasartigen Feuers wälzt sich die Stuten hinauf. Geduckt kriechen wir eiligst auf allen vieren ins Innere. Der Feuerball rast in die letzten noch unversehrten Eingangssäulen, während die Flammen auflodern und uns wie Finger aus flüssigem Gold entgegenwallen. Matt kommt als Erster auf die Füße. »Beeilt euch … hier entlang!« Erleichtert darüber, dass er den Weg kennt, rennen wir hin ter ihm her. Zwar hat Arkarian uns in seinen Kammern um fassend über die Umstände aufgeklärt, doch in dem Trüm merhaufen sieht alles ganz anders aus. Aber immerhin wissen wir, dass wir etliche Ebenen hinabsteigen müssen, und halten uns dicht hinter Matt. Kurze Zeit später fällt uns das Atmen schwer. Der Gang füllt sich mit Asche, Rauch und Gas, und meine Augen brennen. »Mir nach«, schreit Matt, läuft los und verschwindet hinter einer Ecke. Kurz darauf kommt es zu einer weiteren Detonation. Das Gemäuer links und rechts von uns erzittert, ehe es nach und nach einstürzt. Die eine Wand fällt dabei gänzlich in sich zusammen. Ethan und ich rennen so schnell wir können davon und bringen uns gerade noch rechtzeitig in Sicherheit, 281
ehe die schwere Marmorplatte hinter uns auseinander bricht und eine noch dickere Staubwolke hervorruft. »Ich bin hier unten!«, ruft Matt von den tiefer gelegenen Stufen zu uns herauf. Am Fuß der Treppe stoßen wir auf eine versiegelte Tür. Auf der Suche nach einem Hinweis, der auf einen Eingang deutet, tasten Matts Hände über die Oberfläche. »Super!«, sagt Ethan und sieht mich an. Ob meine Hände das geheime Schloss ertasten können? Bestimmt! Zwar befin den wir uns in anderen Körpern, doch unsere Seelen wurden mit transportiert. Und das gilt ebenso für unser Sehvermögen und natürlich unsere Kräfte. Hastig ziehe ich meine Handschuhe aus. »Vorsicht! Macht Platz!« Nachdem Matt und Ethan einen Schritt zurückgetreten sind, presse ich meine Hand gegen die Tür. Sie ist aus einem Metall gefertigt, das ich nicht identifizieren kann. Ein derarti ges Material existiert nicht auf der Erde. Offenbar hat es das Volk, das hier einst gelebt hat, mitgebracht. Es hat Ähnlichkeit mit Kupfer und Messing, ist aber stärker als das Metall, das durch die Verbindung dieser beiden Stoffe entsteht. Die Tür selbst ist gut dreißig Zentimeter dick. Kaum gleiten meine Hände über die Oberfläche, spüre ich bereits eine Schwachstelle. »Hier.« Ich trete zurück und Matt stellt sich vor das Schloss. Er schließt die Augen. Ich vernehme seine Gedanken – zwei Worte. Öffne dich. Ein leises Klicken, und die Tür gleitet lautlos auf. Der Raum ähnelt einer Gefängniszelle. Er ist fensterlos, und die Wände sind aus dem gleichen eigentümlichen Metall wie die Tür. Der Boden ist aus Marmor. In der Mitte des Raums 282
steht ein einziges Möbelstück – ein Glasschrank auf einer Platte aus weißem Gestein. Ein Lichtstrahl fällt auf das Glas und lässt ein goldfarbenes Hologramm in der Größe einer menschlichen Hand erkennen. Aus der Nähe betrachtet sehen wir, dass die Kugel über der Platte schwebt und sich langsam dreht. »Wahnsinn!«, entfährt es mir, und ich frage mich, wie es möglich sein kann, die Erdanziehung derart außer Kraft zu setzen. Unvermittelt fällt die Gewölbetür zu. Ein seltsames Gefühl erfasst mich, das sich bereits wenig später in Angst verwandelt, als Lathenia überraschend vor uns erscheint. Und wie Arkarian uns bereits angekündigt hatte, ist sie in Begleitung eines ande ren weiblichen Wesens, einem Mädchen meines Alters. Wäh rend Lathenia sich niemals die Mühe macht, ihre Identität zu verbergen, nehme ich an, dass das Mädchen gut getarnt ist. Sie trägt eine ähnliche Tunika wie wir. Ihre ist allerdings schwarz. Um ihren Kopf ist ein Schal gewunden, der nur einen Schlitz für die Augen frei lässt. Es könnte sich bei ihr um jede x-be liebige Person handeln. Vielleicht ist es sogar jemand, den ich von der Schule her kenne. Aber ich bemühe mich gar nicht erst, ihre Identität herauszufinden. Es ist sinnlos, zumal Arkarian mir geraten hat, nichts zu riskieren, was mich entlarven könnte. »Ich habe damit gerechnet, dass ihr schon bald hier sein würdet«, sagt Lathenia voller Sarkasmus. »Warum gelingt es euch stets, einen Atemzug vor mir da zu sein, obwohl ich die Öffnung der Portale beobachte?« »Ganz einfach«, antwortet Ethan. »Wir sind euch nun mal überlegen.« Ihre silbrigen Augen blitzen auf. »Tatsächlich? Na ja, wir werden ja sehen, wie gut ihr euch diesmal zu behaupten versteht.« 283
Während sie sich mit uns unterhält, umkreist sie uns unab lässig, bis ich ihre Absicht durchschaue: Sie versucht unsere Identitäten aufzudecken. Ihre folgende Bemerkung bestätigt meine Vermutung. »Also, lasst mich überlegen. Mit wem haben wir es denn diesmal zu tun?« Ich habe den Blick abgewendet und fixiere stattdessen die Glaskugel. Doch der Unsterblichen ist meine Nervosität nicht entgangen. Sie tritt auf mich zu und hebt mit ihren langen Fingern mein Kinn. Obwohl ich hastig den Kopf abwende, weiß sie bereits das, was sie wissen wollte. Hörbar zieht sie die Luft ein. »Marduke hat dich gesucht. Er hat große Sehnsucht nach dir. Du hättest wirklich nicht einfach so weglaufen sollen. Es gibt Dinge, die tut man nicht, wenn man das Leben liebt, meine Gute. Du wirst mit mir dorthin zurückkehren, wo du hingehörst.« Matt stellt sich zwischen uns. »Sie gehört dir nicht. Und diese Kugel ebenso wenig.« Während ihr Blick zu der Kugel gleitet, schiebt sie beinahe im selben Augenblick die Hand in den Glasschrank. Das Glas zerbricht. Doch kaum hat sie die Finger ausgestreckt, beginnt die Kugel heftig zu rotieren, gleitet durch die Öffnung aus der Vitrine und außerhalb Lathenias Reichweite. Als Lathenia es bemerkt, flammen ihre silbrigen Augen blau auf. Ethan hat sich seiner Fähigkeit bedient, Gegenstände in Bewegung zu setzen, und hält jetzt die Kugel sicher in den Händen. »Gib sie mir!«, befiehlt Lathenia mit bedrohlichem Unter ton in der Stimme. Über seine Gedanken bittet Matt mich, einen Schritt zu 284
rückzutreten. Als ich seinem Wunsch nachkomme, mustert Lathenia mich mit funkelnden Augen. Es ist die einzige War nung. Irisierende blaue und grüne Strahlen schleudern mir aus ihren Fingern entgegen, schießen wie Laserstrahlen durch den Raum und bohren sich in meinen Körper. Wie eine Puppe werde ich gegen die Wand geschleudert. »Gib mir die Kugel oder ich verbrenne Rochelle Thallimar!« Und zu mir gewandt fügt sie hinzu: »Da ich jetzt die Zwi schenwelt beherrsche, soll deine Seele nach deinem Tod dorthin befördert werden, wo ich sie hinbefehle: zu der Stätte ewiger Folter.« Mit einer Ruhe, wie ich sie nie zuvor an ihm erlebt habe, erwidert Matt: »Das würde ich dir nicht raten.« »Das musst du mir näher erklären.« »Lorian hat einen Fluch über die Person verhängt, die ver sucht, Rochelle umzubringen.« »Einen Fluch?« »Wer immer diesem Kind jemals etwas zu Leide tut und sei nen Tod verursacht, wird selbst zu Stein werden und noch vor Sonnenuntergang sterben.« Lathenias Augen schimmern jetzt noch dunkler. »Weshalb sollte mein Bruder eine Verräterin schützen wollen?« Ich winde mich nach allen Seiten und versuche, mich von der Mauer zu lösen, um mich aus Lathenias Bann zu befreien. Doch schon die geringste Bewegung bereitet mir höllische Schmerzen. »Sie hat die Wachen nicht verraten«, erklärt Ethan. Lathenia heftet den Blick auf ihn, und je intensiver sie sich darum bemüht, die Identität der Person vor ihr zu enträtseln, umso mehr verengen sich ihre Augen. »Was macht dich da so sicher?« 285
»Ich kenne sie gut«, erklärt er unbeirrt. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich blinzle sie fort. »Ach, tatsächlich?« Lathenias Worte triefen vor Spott. »Das bezweifle ich. Kannst du mir vielleicht sagen, wo sie sich Letzte Nacht aufgehalten hat?« Ich spüre Argwohn. Er flackert wie eine Flamme und springt zwischen Matt und Ethan hm und her. »Na also!«, nimmt Lathenia das Gespräch wieder auf, als wüsste sie, dass sie bereits gesiegt hat. »Wollt ihr den Beweis sehen?« »Hört nicht auf das, was sie sagt!«, schreie ich. »Du lügst!«, widerspricht Ethan der Göttin. »Du hast kei nen Beweis.« »Meinst du? Dann sieh dir doch das hier an …« Unerwartet gleitet ihr Blick scharf nach links, und es formt sich ein Bild, das so real wirkt, als spiele sich die Szene tatsäch lich, unmittelbar vor unseren Augen ab. Nur Marduke und ich sind zu sehen. Er bespricht etwas mit mir und wendet sich mir wie so oft auf eine Art und Weise zu, die man als liebens würdige Geste missverstehen könnte. Die Szene ist mir noch gut in Erinnerung. Ich habe ihm gerade gesagt, ich hielte ihn für den Mörder von Ethans zehnjähriger Schwester, worauf hin er mir mit allen Mitteln zu erklären versuchte, dass er nichts damit zu tun habe. Er hat mich mit sämtlichen Tricks von seiner Unschuld überzeugen wollen und mir sogar die Wange getätschelt. Gleich darauf habe ich seine Hand wegge schoben, und es kam zu einem heftigen Streit. Diese Szene enthält Lathenia uns allerdings vor. Matt und Ethan steht die Fassungslosigkeit ins Gesicht ge schrieben. Kaum versuche ich zu widersprechen und die Situation zu 286
erklären, schickt Lathenia einen zweiten gebündelten Energiestoß durch meinen Körper und lässt erst von mir ab, als ich beinahe das Bewusstsein verliere. Keuchend und nach Luft ringend sinke ich zu Boden. Während Ethan und Matt ihren Gedanken nachhängen, gerät das Mädchen neben Lathenia plötzlich in Bewegung und springt wie ein Derwisch durch den Raum. Dem überraschten Ethan versetzt sie einen Tritt in die Nierengegend, so dass er vornüberkippt. Kurz darauf beginnt sie sich erneut wie wild zu drehen. Mittlerweile rotiert sie so schnell, dass ihre Gestalt nur noch als verschwommene Silhouette erkennbar ist. Plötz lich hält sie abrupt in der Bewegung inne und tritt Ethan ein zweites Mal, diesmal gegen den Kopf und in den Magen. Als sie ihm zum dritten Mal einen Fußtritt verpasst, fällt Ethan die Kugel aus der Hand und rollt über den Boden. »Rasch!«, ruft Lathenia und streckt die Finger nach der Kugel aus. Ich spüre meine Kräfte zurückkehren und versuche eben falls die Kugel zu fassen. Doch ich bin noch zu geschwächt, um aufzustehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie oder Lathenia die Kugel berührt. Würden sie es tun, würden sie sich auflösen und diese Zeit umgehend verlassen. Das hieße, die Kugel bliebe in Lathenias Gewalt. Doch Matt hat bereits einen Plan. Als der Raum von einem heftigen Beben erfasst wird und zu schwanken beginnt, schließt er die Augen etwas länger. Die Kugel bewegt sich von Lathenia und den suchenden Fingern ihrer Kriegerin fort und verharrt einen Augenblick in der Luft, ehe sie in Matts Hände gleitet. Sekunden später stürzt sich das Mädchen auf Matt, doch er stößt sie von sich, so dass sie über den Boden schlittert und verblüfft an die gegenüberliegende Wand prallt. 287
Als Ethan sich aufrichtet, wirft Matt ihm die Kugel zu. »Nimm sie in Verwahrung, während ich mir Lathenia vor knöpfe.« Nachdem ich auf die Füße hochgekommen bin, fragt Matt: »Meinst du, du kannst das Mädchen in Schach halten?« »Ja. Ich bin wieder bei Kräften. Ich kümmere mich um sie.« Einen Augenblick später greift das Mädchen Ethan an. Ihre Bewegungen sind so schnell, dass ich ihnen kaum zu folgen vermag. Die Kugel zwischen ihren Körpern eingeklemmt, rollen die beiden über den Boden. Ich beschließe mich in die Nähe des Mädchens zu stellen und sie zu berühren, doch sie ist flinker, als ich vermutet hatte, steht auf und blickt mich mit großen Augen an – bereit, mich jeden Moment zu attackieren. Am besten lasse ich sie einfach an mich herankommen. Blitz schnell springt sie erneut in Riesensätzen umher. All dies spielt sich binnen weniger Sekunden ab. Zuerst ist sie am einen Ende des Raums, und nur wenig später unmittelbar neben mir. Ich packe sie an den Armen, zerreiße die Ärmel ihres Gewands und entlade so viel Energie auf ihre ungeschützte Haut wie nur möglich. Mit einem Aufschrei lässt sie sofort von mir ab. Unterdessen hält Lathenia ihre Hände auf Matt gerichtet, um ihn mit der Energie, die aus ihnen hervorzischt, außer Gefecht zu setzen. Doch unvermittelt halten wir alle inne. Eine weit heftigere Explosion als zuvor entlädt sich über unseren Köpfen. Sprachlos und wie erstarrt sehen wir, wie sich in dem leuchtend roten Gemäuer ein Spalt formt, der mehr und mehr auseinander klafft, bis alles mit ohrenbetäubendem Getöse in die Tiefe stürzt. »Wir sinken«, schreit das Mädchen, während wir uns be mühen, aufrecht stehen zu bleiben. 288
Lathenia schenkt Matt keine weitere Beachtung und wendet sich Ethan zu. Er hat die Kugel. Ihm gilt jetzt ihre ganze Auf merksamkeit. »Sobald das Wasser steigt, schwimm so schnell du kannst an die Oberfläche und warte dort auf mich«, zischt sie ihrer Kriegerin zu. Als Lathenia das Wort »Wasser« ausspricht, erfasst mich ein Schauder. Unmittelbar darauf taucht eine zweite Explosion die Umgebung in völlige Dunkelheit. Der Marmorboden bricht auseinander. Wir sinken. Gleichzeitig dringt das Wasser des Ozeans in den Raum, der binnen Sekunden zur Hälfte mit Wasser gefüllt ist. Meine sämtlichen Ängste und Albträume schießen mir durch den Kopf, als die Wände nachgeben, Unmengen Wasser hereinbrechen und einen unerhörten Druck erzeugen. Riesige Marmorteile treiben im Wasser. Das Mädchen beginnt zu schwimmen, um an die Oberflä che zu gelangen. Unter mir hat Lathenia sich Ethan gepackt und zieht ihn tiefer und tiefer, dem Meeresgrund entgegen. Die Göttin kann die Luft zweifellos weit besser anhalten als jeder Sterbliche. Sie wird Ethan so lange unter Wasser zwin gen, bis er ertrinkt, dann die Kugel an sich nehmen, damit an die Oberfläche schwimmen und in ihre Zeit zurückkehren. Matt folgt ihnen. Doch Lathenia ist schnell. Ich kann nicht glauben, was hier passiert. Ethans Lungen werden das nicht mehr lange aushalten, und ebenso wenig wird er aus den Tiefen, in die Lathenia ihn gezerrt hat, jemals wieder an die Oberfläche finden. Doch sie lässt nicht nach und zieht ihn tiefer und tiefer. Obwohl meine Lungen zu platzen drohen, tauche ich ihnen nach. Matt übermittelt mir seine Gedanken. Nein! Kehr um. Schwimm an die Oberfläche! Ich muss ihm helfen! Er wendet sich flüchtig zu mir um. Vertrau mir! Kehr um 289
und bereite dich darauf vor, dass du jemanden wiederbeleben musst. Ich versuche mich durch heftiges Strampeln über Wasser zu halten. Wiederbeleben? Er hätte besser Isabel mitnehmen sollen als mich. Während ich beobachte, wie Matt davon schwimmt, erkenne ich trotz des vagen Lichts und der getrüb ten Sicht, dass sein Körper eine andere Gestalt annimmt. Angestrengt blicke ich in die Dunkelheit. Vielleicht sehe ich ja, was sich dort abspielt. Einen Augenblick meine ich einen Hai zu erkennen. Tatsächlich, ein Hai! Mit eleganten Bewegungen verschwindet er in den dunklen Tiefen. Ich versuche, schleu nigst an die Oberfläche zu gelangen. Kaum bin ich aufgetaucht und atme tief durch, schlägt mir faulige, mit Aschepartikeln zersetzte Luft entgegen. Der Him mel ist verhangen. Lediglich ein paar Trümmer ragen aus dem Wasser, und um mich herum ist nichts als weites Meer. Lathe nias Kriegerin sitzt auf einer der winzigen Inseln. Ich beschlie ße, mir eine andere Klippe zu suchen. Eine, die weiter weg ist. Nachdem ich mich aus dem Wasser gehievt habe, sinke ich erschöpft auf eine Anhäufung von Mauerbrocken – eine der letzten Überreste einer einst schönen Stadt. Mein Blick gleitet suchend über das Wasser und ich denke an Ethan, für den die Situation mit jeder Sekunde qualvoller wird. Luftblasen auf der Wasseroberfläche sind ein erstes Zeichen dafür, dass darunter etwas in Bewegung ist. Doch es ist nur Lathenias Kopf, der aus den Wellen auftaucht. Ist das ein Hin weis, dass sie gesiegt hat? Als sie ihre Kriegerin erblickt, winkt sie ihr erschöpft zu. Kaum sehe ich Lathenias blutüberströmten Arm, erschrecke ich zutiefst. Wessen Blut mag das sein? Noch immer keine Spur von Matt und Ethan. Nachdem Lathenia erneut untergetaucht ist, sehe ich sie 290
wenig später vor der kleinen Insel. Ihre Kriegerin robbt auf sie zu und zieht sie hoch. Lathenia blutet heftig aus mehreren Wunden. Es sieht beinahe so aus, als hätte sie sich einen Kampf mit einem … Hai geliefert. Doch plötzlich sind Lathenia und das Mädchen verschwun den, und ich höre längere Zeit nur das Rauschen der Wellen, die gegen die Trümmer branden. Das Warten scheint kein Ende zu nehmen, während ich mit den Augen unablässig das Meer nach einem Anhaltspunkt absuche und mit jeder Minute unruhiger werde. Schließlich bemerke ich eine Bewegung und sehe Luftbla sen. Aber es ist nur ein Delphin. Er nimmt Kurs auf den Fels, auf dem ich sitze, als hätte er mir etwas mitzuteilen. Im selben Augenblick erkenne ich Ethan auf dem Rücken des Delphins. Er scheint bewusstlos zu sein. Unvermittelt verändert der Delphin seine Gestalt und verwandelt sich in Matt! Ich helfe ihm, Ethan ans Ufer zu bringen, rolle Ethan rasch auf den Rücken und prüfe seine Atemwege. Dann beginne ich mit der Wiederbelebung, wie man es mir im letzten Schuljahr beigebracht hat. Minuten vergehen. Ich gerate in Panik. Matt schleppt sich zu mir. »Ich massiere seinen Brustkorb.« Als Ethan zu husten beginnt, rolle ich ihn wieder auf den Bauch, und er spuckt jede Menge Wasser. Schließlich setzt er sich auf und wir betrachten erschöpft die Verwüstung um uns herum. Keiner wagt die Stille zu durchbrechen. Mir fällt ein, dass ich nicht gesehen habe, ob Lathenia die Ku gel bei sich hatte. Matt und Ethan haben sie offenbar auch nicht. »Die Kugel ist fort«, sagt Matt. »Sie liegt auf dem Meeres grund.« Wir schweigen eine Weile. Schließlich ruft Matt nach Arkarian. 291
Kapitel 21
Matt »Mein Vater ist wütend.« Arkarians Bemerkung überrascht mich. Wir sitzen auf den Schemeln in seiner großen Kammer, den Rücken dem Holo gramm zugewandt, das dankenswerterweise vollkommen ruhig ist. Ich möchte mit Arkarian über Atlantis reden und Antworten auf die Fragen erhalten, die diese abenteuerliche Mission aufgeworfen hat. Doch Arkarians Worte rücken Atlantis sofort in den Hintergrund. Bei Lorians letztem Wut ausbruch ließ er Feuer auf die Erde regnen und verstärkte die Kräfte der Auserwählten. »Was hat Lorians Zorn ausgelöst?« »Die Mitglieder des Hohen Rats werden zunehmend unru higer. Diese Unruhe bleibt Lorian nicht verborgen und berei tet ihm Sorge.« »Hm, das ist verständlich. Es gibt einen Verräter unter ih nen, und das macht ihn nervös.« Verhalten zuckt Arkarian die Schultern. »Dafür gibt es kei nen eindeutigen Beweis, Matt.« Ich schnaube verächtlich, und da ich keinen Hehl aus mei nen Zweifeln machen will, erwidere ich ironisch: »Ich bitte dich, Arkarian! Hat nicht Lorian den Schlüssel entdeckt, vergraben im Innenhof des Palasts? Und zwar in einem Behäl ter, der nur von jemandem hat geschmiedet werden können, der über die Kräfte eines Mitglieds des Hohen Rats verfügt?« 292
Arkarian hebt den Kopf und unsere Blicke treffen sich. »Du magst Recht haben, aber nicht allein die Mitglieder des Hohen Rats sind mit diesen Kräften versehen.« Seit Neriahs Rettung aus Lathenias Palast habe ich meine eigenen Schlüsse gezogen, wer der Verräter sein könnte. Arkarians Gedanken weisen aber offenbar in eine völlig andere Richtung. Ich versuche herauszufinden, was ihn ihm vorgeht. »Jetzt erzähl mir bloß nicht, dein Vater hätte seine Finger im Spiel.« »Nein, nein, das meine ich damit nicht«, entgegnet er has tig. »Demnach glaubst du also, jemand würde den Hohen Rat an der Nase herumführen. Und wer? Etwa Marduke?« Erneut zuckt Arkarian die Achseln und starrt auf seine Fü ße. »Ich weigere mich, mir vorzustellen, dass es sich bei dem Verräter um ein Mitglied des Hohen Rats handelt. Im Laufe der Jahrhunderte habe ich zu ihnen allen ein inniges Verhält nis entwickelt …« »König Richard hast du aber erst vor gut einem Jahr kennen gelernt«, erinnere ich ihn. »Und während dieser Zeit sind wir sehr vertraut miteinan der geworden, Matt.« »Sei nicht so naiv, Arkarian. Wir wissen beide, wer der Ver räter ist.« Über meine Gedanken erinnere ich ihn an die Begebenheit in Lathenias Palast vor nicht allzu langer Zeit, als wir zu unserer Verblüffung König Richard gesehen haben, wie er Arm in Arm mit der Feindin persönlich herumspaziert ist. Mit der für ihn typischen Gelassenheit antwortet Arkarian: »Seit Jahrhunderten hat Veridian auf diesen König gewartet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ein Verräter ist.« Vollkommen gelassen! Durch und durch loyal! Sieht er 293
denn nicht, was sich unmittelbar vor seinen Augen abspielt? »Die Dinge, die wir uns erhoffen, sind zuweilen flüchtig wie ein Traum und ebenso weit von der Realität entfernt.« »Aber Matt, wo wären wir, wenn wir nicht mehr hoffen würden?« Als ich die Schultern zucke, antwortet er: »Die Welten ber gen derart viele Geheimnisse, dass unser Leben grau und farblos wäre, wenn wir uns jeglichen Hoffnungen und Träu men verschließen würden«, antwortet er. »Wie erklärst du dir König Richards Anwesenheit in Lathe nias Palast?« »Mein Vater wusste von unserem Versuch, Neriah zu ret ten. Vielleicht hat er Richard dorthin geschickt, um die Göttin abzulenken und uns dadurch die Aufgabe zu erleichtern.« »Falls es so gewesen ist, nimmt König Richard seine Aufga be in der Tat sehr ernst. Es war doch das Schlafzimmer, in dem die beiden verschwunden sind, oder nicht?« »Ich weiß nur eins, Matt: Wir sollten unsere Beobachtung fürs Erste für uns behalten.« »Warum? Falls König Richard der Verräter ist, muss er ent larvt werden. Und zwar rasch.« »Wenn wir ihn zu Unrecht beschuldigen, kommt der tat sächliche Verräter ungeschoren davon, und wir haben unseren König zu Grunde gerichtet.« Ich muss ihm wohl oder übel Recht geben. Zumindest für den Moment. »Einverstanden. Allerdings waren Dillon und Neriah dabei. Sie haben ihn auch gesehen.« »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Ich rede mit ihnen. Stell in jedem Fall sicher, dass wirklich niemand Zugriff auf den Schlüssel hat. Augenblicklich wissen wir nicht, wem wir tatsächlich trauen dürfen.« 294
»Der Schlüssel liegt an einem sicheren Ort, Arkarian. Er ist so lange gut aufgehoben, solange die alte Stadt uneinnehmbar ist.« »Jimmy tut sein Bestes. Aber auch er ist nur ein Mensch.« Wortlos hängen wir unseren düsteren Gedanken nach. »Es ist nicht allein die Frage, wer der Verräter ist, die mei nen Vater beunruhigt«, bricht Arkarian das Schweigen. »Was bereitet ihm denn noch Sorgen?«, frage ich erstaunt. »Er ist der Meinung, in diesen schwierigen Zeiten sollten alle ihre Einführung hinter sich gebracht haben. Doch bei zwei Auserwählten ist das noch nicht geschehen.« »Neriah?«, frage ich. »Ja. Neriah und Dillon.« Da fällt mir ein, dass auch ich noch nicht eingeführt worden bin. Ohne dass ich meinen Gedanken ausspreche, antwortet Arkarian: »Dir, Matt, können die Mitglieder des Hohen Rats keine Gabe verleihen, da du von einem höherstehenden Wesen ausgebildet worden bist. Die Zeit, die du in seinem Reich verbracht hast, war deine Einführung. Niemand stellt dein Recht infrage, ein Hüter der Zeit zu sein, noch bestehen Zweifel an deiner Rolle, die dir gemäß der Prophezeiung zukommt.« Arkarians Erklärung raubt mir die Worte. Diese Menschen kennen mich doch gar nicht. Wie können sie mir derart vorbehaltlos ihr Vertrauen schenken? Ich lenke unser Ge spräch in eine andere Richtung. »Werden Neriah und Dillon gemeinsam eingeführt?« Arkarian lässt sich mit seiner Antwort Zeit. »Neriahs Ein führung erfolgt hinter verschlossenen Türen. Neben Lorian und den Mitgliedern des Hohen Rats werden nur ich und … du anwesend sein.« 295
»Ist das ungewöhnlich?« Er nickt. »Die Einführung ist ein fröhliches Ereignis, das man mit anderen teilen soll.« »Weshalb findet dann Neriahs Einführung in einem derart kleinen Kreis statt?« »Neriah ist … ein besonderes Mädchen.« »Ja, stimmt. Das ist mir klar. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.« »Es ist unwichtig … zumindest im Augenblick.« Ich würde ihn zu gerne drängen, meine Frage etwas aus führlicher zu beantworten, bin aber nicht sicher, ob ich seine Antwort wirklich hören möchte. »Wann reisen wir also ab?« »Heute Abend. Sobald du zu Hause bist, gib die Informati onen an Neriah weiter. Dillon wird in wenigen Minuten hier sein. Dann werde ich mit ihm reden.« Ich verschwinde, ehe Dillon eintrifft. Es hat sich derart viel ereignet, dass ich ein großes Bedürfnis nach Ruhe verspüre. Die kalte Luft wirkt belebend und nimmt mir meine Be nommenheit, die mich seit der Zerstörung von Atlantis gefan gen hält. Leicht fröstelnd begrüße ich den frühen Abendhauch. Während ich den Berg hinuntergehe, wird es zunehmend dunkler. Obwohl ich keinen Hunger habe – seit der Mission in der vergangenen Nacht habe ich nichts mehr gegessen –, beginnt mein Magen zu knurren, als ich von draußen die verführerischen Düfte von Mums Essen rieche. In nahezu allen Räumen des Hauses brennt Licht. Isabel ist in ihrem Zimmer im ersten Stock, das sie nun mit Neriah teilt. Die Mädchen unterhalten sich. Ich höre ihre Stimmen. Nachdem Mum sie zum Abendessen gerufen hat, sehe ich ihre Silhouet ten, als sie auf die Tür zugehen. Seitdem ich weiß, dass Isabels Vater nicht mein Vater ist, 296
sondern mein wirklicher Vater in Wahrheit aus, na ja, aus einer anderen Welt stammt, fühle ich mich wie ein Außensei ter in meiner eigenen Familie. Isabel war damals in Sorge, ich würde von meiner Ausbildung verändert zurückkehren. Sie hatte sowohl Recht als auch Unrecht. Ich bin nach wie vor derselbe, bin immer noch aus demselben Fleisch und Blut und so ängstlich, zweifelnd und unerfahren wie zuvor. Aber die Fähigkeiten, über die ich jetzt verfüge, sind Zeichen einer gewissen Andersartigkeit. Ich zögere, meine Kräfte vor den anderen offen zu legen. Insbesondere meine Kraft, eine andere Gestalt anzunehmen. Jimmy tritt aus dem Haus. Er trägt eine Mülltüte. Als er mich sieht, bleibt er stehen. »Deine Mutter war in Sorge um dich. Ich habe sie beruhigt und ihr gesagt, du seist in der Nähe. Warte, bis ich den Abfall in die Tonne getan habe. Dann gehen wir zusammen ins Haus zurück.« Seit meinem Aufenthalt bei Dartemis kann ich Jimmys An wesenheit in unserem Haus immerhin akzeptieren. Er kommt zurück und hält mir die Tür auf. Als ich das Haus betrete, sind Isabel und Neriah gerade un ten angelangt. Isabel starrt mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Geht es dir nicht gut? Du siehst aus wie hinge spien.« Jimmy tritt neben uns. »Er ist nur durchgefroren, Liebes. Mutters gutes Essen wird ihm gut tun.« Während Jimmy und Isabel noch ein paar Worte wechseln, wandert mein Blick zu Neriah. Auch jetzt habe ich Mühe zu atmen. Mir ist, als würde man mir eine Metallspange um die Brust legen und Zentimeter für Zentimeter enger ziehen. Meine Atemnot bestätigt mir, dass ich die richtige Entschei dung getroffen habe, was Neriah betrifft. 297
Als sich für die Dauer einer Sekunde unsere Blicke treffen, erschrecke ich zutiefst. Aus ihren Augen spricht Schmerz, Ver wirrung und Wut – eine gefährliche Mischung. »Neriah …?« Abweisend schüttelt sie den Kopf, dreht sich wortlos um und steuert auf die Küche zu. Während des Essens wird es mir zu unbehaglich. Ich ent schuldige mich und gehe durch die Hintertür hinaus, um frische Luft zu schnappen. Ich sitze eine Zeit lang auf der unteren Stufe der Veranda und atme die kalte Nachtluft ein, bis ich Mum und Jimmy in der Küche hantieren höre. Das Abendessen ist beendet, und sie beginnen abzuwaschen. Gerade als ich beschließe, zurück ins Haus zu gehen, öffnet sich quietschend die Tür. Ich blicke auf. Neriah steht vor mir. Bei ihrem Anblick stockt mir das Blut in den Adern. Über die eisige Distanz hinweg trifft mich ihr Blick und es gelingt mir kaum, dem überwältigenden Wunsch zu widerstehen, sie in die Arme zu schließen. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich weiß, was du Dillon ver sprochen hast. Ein Versprechen! Matt, das ist etwas … so Endgültiges.« Jetzt wird mir klar, weshalb sie mich vorhin derart kalt an gesehen hat. »Lass mich erklären …« »Schon gut, Matt. Als Dillon es mir erzählt hat, war ich echt wütend. Ich konnte es nicht begreifen. Ich dachte, du würdest so empfinden wie ich und bräuchtest einfach nur Zeit.« Sie schüttelt den Kopf. »Aber jetzt kapiere ich, weshalb du nichts mit mir zu tun haben willst.« »Was meinst du damit?« »Du bist immer noch in Rochelle verknallt.« »Wie bitte?« Abwehrend hebt sie die Hand, damit ich ihr nicht zu nahe 298
komme. »Ich bin nicht hier, um dir Vorhaltungen zu machen, damit das klar ist. Es ist ganz und gar deine Entscheidung, mit wem du zusammen sein willst.« »Das hast du total missverstanden. Ich will nichts von Ro chelle. Ich fühle mich schon unwohl, wenn ich mich mit ihr in einem Raum aufhalte.« »Genau. Weshalb fühlst du dich unwohl, wenn du dich mit ihr in einem Raum aufhältst? Vor einem Jahr hast du die Wahrheit über sie erfahren. Warum kommst du nicht von ihr los und ziehst einen Schlussstrich?« Ich weiß darauf keine Antwort. »Keine Ahnung, ver dammt!« »Weil dich der Schmerz blind und ängstlich macht, willst du dich verstecken. Aber wie ich gerade eben schon versucht habe, dir zu erklären: Ich habe begriffen. Und, na ja, außer dem wollte ich sagen, dass ich auf dich warte, egal wie lange du brauchst, um den Schmerz zu überwinden.« Kaum hat sie den Satz beendet, dreht sie sich um und stürmt zurück ins Haus. In mir tobt das überwältigende Verlangen, ihr hinterherzu rennen und sie fest in meine Arme zu schließen. Aber ich darf diesem Wunsch auf keinen Fall nachgeben. Es wäre nieder trächtig, sie in dem Glauben zu lassen, es könne jemals etwas zwischen uns sein. Aber ich muss sie in jedem Fall über unsere Reise nach Athen und über die Einzelheiten aufklären, damit sie auf das, was sie erwartet, vorbereitet ist. Ich denke, ich überlasse das besser Isabel.
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Kapitel 22
Matt
Diese Nacht wird immer eigenartiger. Ich schiebe die Gedan ken an Neriah für den Augenblick beiseite, nehme eine Du sche und gehe zu Bett. Je schneller ich einschlafe und diese Einführungen hinter mich bringe, desto besser. Aber der Schlaf stellt sich einfach nicht ein. Eine Weile wäl ze ich mich im Bett herum, bis ich beschließe, zur Beruhigung meine Meditationsübungen zu machen. Bereits nach kurzer Zeit wird mein Atem langsamer und mein Körper entspannt sich. Gleichzeitig formt sich vor meinem inneren Auge ein Bild – ein Bild, das eigentlich nichts in meinem Kopf zu suchen hat. Nach einer Weile begreife ich, was sich hier ab spielt: Ich sehe einen Traum, den Isabel in diesem Moment träumt. Lebhafte Bilderfolgen jagen mir wie Stromstöße durch den Kopf. Macht Isabel etwa das Gleiche durch? Doch plötz lich wird mir klar, dass es sich keineswegs um einen Traum handelt, sondern um eine von Isabels Visionen. Rasch stehe ich auf und gehe in ihr Zimmer. Es brennt kein Licht. Isabel wirft sich im Bett hin und her und hält sich mit beiden Händen den Kopf. Neriah sitzt an ihrer Seite, die Augen vor Sorge weit aufgerissen. »Das geht gleich vorbei«, beruhige ich sie und setze mich auf die andere Seite des Betts. Hoffentlich!, füge ich stumm hinzu. Ich war schon einige Male Zeuge, wenn meine Schwester eine Vision hatte, aber so habe ich sie noch nie leiden sehen. 300
Wie sich wohl die verstärkten Kräfte auf ihre Visionen aus gewirkt haben? Besänftigend lege ich ihr die Hand auf die Schulter. Bei meiner Berührung erstarrt sie, setzt sich auf und gräbt die Finger in meinen Arm. »Matt!« »Ich bin ja da«, entgegne ich und bemühe mich, gelassen zu klingen. Die Bilderflut in meinem Kopf ist verebbt. Viel leicht bedeutet das auch das Ende von Isabels Vision. »Alles ist gut.« Verstört blickt sie mich an. »Da war … ich habe …«, sagt sie stockend und schluckt schwer. Ich streiche ihr das Haar aus dem Gesicht. »Eins nach dem andern. Beruhige dich erst mal.« Kopfschüttelnd entgegnet sie: »Du verstehst das nicht.« »Wenn du dich gefangen hast, kannst du es mir erzählen.« Sie holt tief Luft und bemerkt Neriah. Dann beginnt sie zu erzählen: »Da war so viel. Trümmer. Chaos. Seltsame Ge schöpfe. Einige von ihnen habe ich bereits in der Unterwelt gesehen, aber es gab auch noch andere, graue, schattenhafte Kreaturen.« Sie schaudert. »Was haben sie getan?«, will ich wissen. »Die geflügelten Kreaturen sind über die Schule geflogen. Es waren so viele, dass sich der Himmel verdunkelt hat.« Sie heftet den Blick auf mich. »Matt, sie waren mit Drogen aus Mardukes Garten bewaffnet. Und sie haben sie über Angel Falls abgeworfen!« »Weißt du, wann das passieren wird, Isabel?« Tief seufzend birgt sie den Kopf in den Händen. »Bald, glaube ich.« »Nun gut. Ich reise noch diese Nacht nach Athen und in formiere den Hohen Rat. Du kannst jetzt nichts tun. Versuch dich ein wenig zu erholen.« 301
»Ich bleibe bei dir, bis du einschläfst«, fügt Neriah mit sanf ter Stimme hinzu. Nein! Da ist noch etwas! Isabels Gedanken dringen in mich ein, als sie Neriah mit einem Blick streift. Was immer sie sonst noch gesehen hat – Neriah soll es offenbar nicht erfahren. Ich gebe Isabel durch Blicke zu verstehen, dass sie fortfahren soll. Ich habe Rochelle gesehen, teilt sie mir mit. Nur vier Worte, doch sie legt so viel Bedeutung hinein, dass ich mich auf alles gefasst mache. Ich habe versucht, sie zu heilen, aber der Pfeil steckte mitten im Herzen! Hör auf! Kein Wort mehr!, schreie ich in Gedanken. Sie ver steht mich nicht, denn sie kann ja keine Gedanken lesen. Die Pfeilspitze war vergiftet. Nachdem ich tief Luft geholt habe, wiederhole ich meine letzte Frage. »Weißt du, wann das geschehen wird?« »Nach dem Fall der Festung.« Ich starre sie an, als könnte ich so in ihr Innerstes blicken. »Was hast du gerade gesagt?« Plötzlich vernehme ich Arkarians Gedanken. Geht es Isabel gut? Auch er hat ihre Vision wahrgenommen und macht sich Sorgen. Ich teile ihm mit, dass sie ein bisschen durcheinander, aber ansonsten wohlauf ist. Arkarian lässt uns wissen, dass der Hohe Rat auf Neriah und mich wartet und wir uns beeilen sollen. Ich schicke Jimmy. Er soll sich um Isabel kümmern, fügt er noch hinzu. Sekunden später kommt ein verschlafener Jimmy ins Zim mer. »Was gibt es?« »Isabel hatte eine Vision«, erkläre ich. »In Ordnung, ich werde mich um sie kümmern«, erwidert 302
er. Dann wendet er sich an Neriah und mich: »Solltet ihr beiden nicht schlafen?« Widerwillig nicke ich, dann verlasse ich mit Neriah den Raum. Da drinnen bekommt sie jetzt kein Auge zu, so viel ist sicher. Für den Übergang in die Festung müssen wir voll kommen entspannt sein, aber wie sollte uns das angesichts dessen, was wir eben erfahren haben, noch gelingen? Nach dem. Fall der Festung! Waren das wirklich ihre Worte? Was hat sie sonst noch gesehen? Ich öffne die Tür zu meinem Zimmer. Neriah tritt ein und sieht sich um. »Du nimmst das Bett«, fordere ich sie auf und lasse mich selbst auf den Schreibtischstuhl fallen. Ihre Augen wandern zwischen Stuhl und Bett hin und her. »So wirst du unmöglich einschlafen. Warum legst du dich nicht neben mich, Matt? Ich schwöre, ich lasse dich in Ru he.« Obwohl es dunkel ist und ich ihr Gesicht nicht sehen kann, habe ich das Gefühl, dass sie lächelt. Aber dass sie den ersten Schritt macht, ist im Augenblick meine geringste Sorge. Ich täte nichts lieber, als mich an sie zu schmiegen und dabei die schrecklichen Bilder aus Isabels Vision zu vergessen. »Danke, aber ich habe gelernt, sogar im Stehen zu meditieren, wenn es sein muss. Auf dem Stuhl geht es ganz prima.« Sie legt sich aufs Bett und zieht die Beine an, als ob sie frie ren würde. Das Verlangen sie zu wärmen überkommt mich so heftig, dass ich zu zittern beginne. Mit drei Schritten bin ich am Bett und breite die Decke über sie. Sie kuschelt sich wohlig darunter und ich zwinge mich, wieder zum Stuhl zurückzu kehren. Als ich die Augen schließe, gelingt es mir schließlich, mich zu entspannen. Ich spüre, wie ich hinweggetragen werde. 303
Plötzlich falle ich. Ich bereite mich auf die Landung vor und komme in einem Raum der Festung an. Arkarian erwartet mich mit ernster Miene. »Alles in Ord nung mit ihr?« Er meint Isabel. »Ja«, beruhige ich ihn. »Jimmy ist bei ihr. Er geht noch mal die Vision mit ihr durch und versucht, sie klarer zu deuten. Es wäre schon von Vorteil, wenn wir sie zeitlich eingrenzen könnten.« Neriah nimmt vor uns Gestalt an. Nachdem Arkarian sie herzlich begrüßt hat, erklärt er: »Wir haben lange auf euch gewartet. Schließlich habe ich Dillon vorausgeschickt. Wir sollten uns nicht länger als unbedingt nötig hier aufhalten. In der Festung hat die Zeit eine andere Bedeutung.« Er führt uns zu einem Kostümfundus, wo wir alle mit langen Tuniken und dazu passenden Umhängen ausges tattet werden. Arkarian und ich tragen Silber, Neriah Weiß, ergänzt von einer goldenen Schärpe. Als wir im Palast eintreffen, empfangen uns Sir Syford und Königin Brystianne im Innenhof. »Ihr kommt spät«, begrüßt uns Sir Syford. »Aber so ist es nun mal. Uns wurde bereits von Isabels Vision berichtet. Sie klingt sehr Besorgnis erregend.« Königin Brystianne nimmt Neriah am Ellbogen. »Doch das ist nicht der Grund für deine Anwesenheit, Neriah. Du bist aus einem ganz besonderen Anlass hier, zu dem wir dich herzlich willkommen heißen. Ich habe eine außergewöhnliche Gabe für dich und kann es kaum erwarten, sie dir zu verleihen.« »Da werdet Ihr Euch noch ein wenig gedulden müssen, My lady«, sagt Sir Syford. »Dillon ist als Erster an der Reihe. Alle warten schon.« Arkarian nickt, und wir folgen Sir Syford und Königin Brystianne durch mehrere kühle Flure. Vor dem Ratssaal 304
erwartet uns Dillon in einer königsblauen Tunika. Er klopft nervös mit dem Fuß auf den Marmorboden. »Na endlich! Die da drin werden allmählich ungeduldig. Lord Penbarin ist schon zweimal herausgekommen.« Arkarian nimmt ihn zur Seite und erteilt ihm letzte Anwei sungen. Dann schwingen die Türflügel auf und Sir Syford und Lady Brystianne nehmen ihre Plätze im Kreis des Hohen Rats ein. Als ich Neriah zu den seitlich angeordneten Zuschauerbän ken führe, werfe ich König Richard einen Blick zu. Unerwartet verschmelzen unsere Blicke ineinander. Mit einem Mal sind alle Zweifel, die ich gegen ihn gehegt habe, wieder da. Zorn flammt in mir auf, den ich kaum verbergen kann. Dieser Mann ist der rechtmäßige König von Veridian, er ist dem Lauf der Geschichte entrissen worden, um eine Prophezeiung zu erfüllen, die lange vor unser aller Geburt niedergeschrieben wurde. Es liegt unglaublich viel in seiner Hand, nur – kann man diesem Mann trauen? Arkarian erscheint mit Dillon in der Tür. Er hat meine Ge danken gelesen und schickt mir eine Warnung. Schirme deine Gedanken ab! Rasch gehe ich weiter, aber als ich an Lorian vorbeikomme, merke ich, dass er mich stirnrunzelnd mustert. Arkarian führt Dillon in die Mitte des Kreises. Bewusst lenkt er sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich. »Vater, Herrscher und Herrscherinnen, erlaubt mir, Euch unseren neuesten Kandidaten für die Einführung vorzustellen. Sein Name ist Dillon Sinclair. Mag auch seine Anwesenheit alle Anwesenden überraschen, so ist sie doch höchst will kommen.« Applaus erklingt, und in dem Trubel entfährt mir ein tiefer Seufzer. 305
Obwohl Dillon, der sich auf einem Schemel niedergelassen hat, nervös wirkt, scheint er zugleich alles um ihn herum schrecklich aufregend zu finden. Arkarian setzt sich neben mich und Neriah. Er geht mit keinem Wort darauf ein, was gerade zwischen mir und König Richard geschehen ist, aber seine starre Körperhaltung spricht Bände. Schließlich wendet er den Kopf zu mir und schüttelt ihn kaum merklich. Ich soll den Vorfall vergessen, teilt er mir über seine Gedanken mit. Denk nicht mehr daran. Zumindest im Augenblick. Lorian schreitet zu Dillon in die Kreismitte und fordert ihn auf, den Treueschwur zu leisten. Dillon legt so viel Leiden schaft in die Eidesformel, dass allseits belustigte Blicke ge wechselt werden. Offenbar findet seine amüsante, erfrischende Art Gefallen. Anschließend verleihen ihm die Mitglieder des Hohen Rats einer nach dem anderen ihre Gaben. Lady Devine beschenkt Dillon mit Weisheit, Lord Meridian überträgt ihm die Fähig keit, Falschheit zu durchschauen und die Wahrheit zu erken nen. Königin Brystianne verleiht ihm Demut, Sir Syford Stärke, wobei er noch hinzufügt: »Da wir alle wissen, dass Dillon bereits über außergewöhnliche Körperkraft verfügt, soll meine Gabe seinen Geist stärken.« Nickend geben die Ratsmitglieder ihre Zustimmung. Es ist eine nützliche Gabe. Nun ist Lady Arabella an der Reihe. Mit schwebenden Schritten kommt sie auf Dillon zu und legt ihre zierlichen, bläulich schimmernden Hände auf seinen Kopf. »Ich schenke dir Erfüllung in Herzensangelegenheiten. Du wirst in der Lage sein zu erkennen, ob deine Liebe erwidert wird … oder nicht.« Dieses Mal hebt nervöses Getuschel im Rat an, die Stim mung im Saal ist zum Zerreißen gespannt. Mit ihrem eisigen 306
Blick sorgt Lady Arabella für Ruhe. Schließlich konzentriert sie sich wieder auf Dillon. »All die Gaben, die dir heute verlie hen worden sind, werden erst mit der Zeit zu voller Blüte reifen. Du musst dich darin üben wie ein Schüler, der noch am Anfang seiner Ausbildung steht. Setz deinen ganzen Eifer daran, Dillon.« Nun ist Lord Penbarin an der Reihe. Im Vorbeigehen mus tert er Lady Arabella mit leicht hochgezogenen Augenbrauen. Erst als diese wieder Platz genommen hat, wendet er sich zu Dillon. »Vision«, sagt er schlicht. »Meine Gabe ist die Ausprä gung deiner zweiten Kraft, die sich offenbar nicht zeigen will. Natürlich hattest du keinen Lehrer, zumindest nicht aus den Reihen der Wachen. Ich nehme an, das ist der Grund dafür, dass deine zweite Kraft noch im Verborgenen schlummert.« »Mylord«, fragt Dillon. »Was bedeutet das?« Lord Penbarin hebt die Hände als Zeichen, dass er die Frage nicht beantworten kann. »Es ist deine Kraft, Dillon. Wie immer sie aussieht, arbeite an ihr und lass dich überraschen.« Schließlich tritt König Richard in die Kreismitte. Ich achte darauf, jegliche Gedanken an Verrat streng unter Verschluss zu halten. »Von mir bekommst du die Gabe, dein Wissen weiterzugeben, damit du eines Tages Ausbilder werden kannst.« Dillon lächelt überrascht. Er nickt König Richard dankbar zu. Als dieser zu seinem Platz zurückkehrt, richten sich aller Augen auf Lorian. Eine ganze Weile bleibt der Unsterbliche mit gesenktem Kopf reglos sitzen. Im Saal herrscht vollkom mene Stille, nur unser Atmen ist zu hören. Schließlich erhebt sich Lorian, tritt vor Dillon und hält die Hände über seinen Kopf. »Du hast dich vom Orden losgesagt und für die Wa 307
chen entschieden. Das war eine überaus mutige Entschei dung. Kaum jemand in dieser Runde hätte wohl Gleiches gewagt.« Wenn er möchte, dass die Mitglieder des Hohen Rats wei terhin treu zu ihm halten, ist Spott sicherlich das falsche Mittel, kommt mir unwillkürlich in den Sinn. Arkarian hüstelt neben mir. Erst da fällt mir auf, dass ich auch diesen Gedan ken nicht abgeschirmt habe. Was ist heute eigentlich mit mir los? Erst lasse ich König Richard wissen, dass mein Vertrauen in ihn erschüttert ist, und jetzt das! Allmählich dämmert es mir, dass sämtliche Ratsmitglieder meine Gedanken gelesen haben. Lorian wirft mir einen bohrenden Blick zu. Wie kannst du es wagen, hier zu sitzen und mich zu kritisieren?, scheint er mich damit zu fragen. Aber ich kann und werde mich nicht entschuldigen. Auch wenn ich es nicht laut ausgesprochen habe, habe ich es dennoch so gemeint. Ich halte seinem Blick schier endlos stand und fühle mich sehr unbehaglich dabei, doch Lorian wendet als Erster die Augen ab. Arkarian seufzt sichtlich erleichtert auf. An Dillon gewandt knüpft Lorian wieder an seine Worte an. »Obwohl du nicht durch Geburt zu den Auserwählten zählst, hast du dir das Recht, ihren Reihen anzugehören, verdient. Und damit du dich ihnen ebenbürtig fühlst, sorge ich dafür, dass sich deine geistige Stärke und die zweite Kraft, die sich erst noch entwickelt, umso ausgeprägter zeigen.« Licht entströmt Lorians Händen und hüllt Dillon von Kopf bis Fuß ein. Noch von meinem Platz aus spüre ich Lorians Kraft so intensiv, als wäre sie auf mich gerichtet. Wie hält Dillon das bloß aus? Als es vorbei ist, zieht sich das Licht in Lorians Handflächen zurück und Dillon kippt auf dem Schemel nach hinten. Arka 308
rian eilt zu ihm und hilft ihm auf, während im Saal begeister ter Beifall ausbricht. Lorian tritt einen Schritt zurück und verkündet: »Du darfst jetzt gehen, Dillon. Dir zu Ehren ist ein üppiges Festmahl angerichtet. Nach Neriahs Einführung werden wir zusammen mit euch beiden die ganze Nacht feiern.« Während der Beifall allmählich verebbt, verlassen alle außer denen, deren Anwesenheit ausdrücklich erwünscht ist, den Raum. Lord Alexandon und Arkarian schließen hinter dem Letzten die Tür ab. Neriah, die neben mir sitzt, beginnt zu zit tern. Ich nehme ihre Hand in meine und versuche sie zu beru higen. »Es wird alles gut gehen. Sie mögen dich, das spüre ich.« Dankbar lächelt sie mir zu und senkt den Kopf. Arkarian ruft sie zu sich und sie entzieht mir die Hand, um ihren Platz in der Kreismitte einzunehmen. Während er sie dem Hohen Rat vorstellt, reibe ich meine Hände aneinander. Mir kribbeln die Finger. Wie erwartet wird sie mit lautem Beifall begrüßt. Ich habe nicht gelogen, als ich Neriah erzählt habe, dass die Mitglieder des Hohen Rats sie mögen. Die Atmosphäre im Saal ist erfüllt von überwältigender Wärme und Bewunderung. Lorian tritt an ihre Seite. »Neriah Gabriel, schwörst du den Wachen und all ihren Mitgliedern Treue?« »Ja, Mylord.« Dann zieht er sich zurück und bedeutet Lord Penbarin, ihr als Erster seine Gabe zu verleihen. »Willkommen, meine Liebe«, begrüßt Penbarin sie. »Das Haus Samartyne schenkt dir Seelenstärke und Gnade.« Nun folgt Lady Arabella, die ihr die Gabe verleiht, jegliche Verschleierung und List zu durch schauen. Sir Syford beschenkt sie mit der Fähigkeit, das Böse zu erkennen. Als Königin Brystianne an der Reihe ist, um 309
kreist sie Neriah zunächst. In ihrer fließenden cremefarbenen Robe wirkt sie überaus majestätisch. »Meine Gabe an dich ist eine enge Vertrautheit mit Tieren. Du wirst in der Lage sein, ihre Sprache zu verstehen und mit ihnen zu kommunizieren.« Diese Gabe ist tatsächlich so außergewöhnlich, wie die Herrscherin zuvor geprahlt hatte. Auch ich muss das anerken nen und stimme in den Beifall mit ein. Neriah ist ganz über wältigt vor Dankbarkeit. Überglücklich blickt sie auf, um sich bei Königin Brystianne zu bedanken. Doch auch die übrigen Gaben sind beeindruckend. Offen sichtlich steht Neriah ganz besonders in der Gunst des Hohen Rats. Der Letzte in der Reihe ist König Richard, der Neriah einen Gegenstand schenkt. Er überreicht ihr einen feinen, zarten Pinsel, nicht größer als ihre Handfläche. »Mit diesem Pinsel kannst du Übergänge in andere Welten zeichnen. Es wird eine Weile dauern, bis du genügend Übung darin hast, aber irgendwann wirst du den Pinsel gar nicht mehr dazu brauchen. Diese Gabe bedeutet eine große Verantwortung, Neriah. Gehe klug damit um. Übe die Handhabung des Pin sels und ärgere dich nicht, falls du ihn verlieren solltest. Für jemand anderen ist er vollkommen nutzlos. Die Fähigkeit, von der ich spreche, liegt bereits in dir.« Während er wieder Platz nimmt, denke ich über seine Gabe nach. Sie kann Macht von unglaublichem Ausmaß verleihen. Und ich frage mich, wer dieses Mädchen – immerhin die Tochter eines Verräters – eigentlich ist, dass es die Herzen all dieser ehrenwerten Menschen gewonnen hat? Nun schickt Lorian sich an, Neriah mit seiner Gabe zu be schenken. Er hält die Hand über ihren Kopf und sagt schlicht: »Ich verleihe dir die Fähigkeit, Gedanken zu lesen.« 310
Im Saal hebt Getuschel an, dennoch sind sich alle einig, dass dieses Geschenk zwar überaus großzügig, aber auch angemes sen ist. Während Lorians Gabe auf Neriah übergeht, spenden die Mitglieder des Hohen Rats und Arkarian Beifall. Als die Zeremonie beendet ist, erhebt sich Neriah von ih rem Schemel, doch Lorian bedeutet ihr, wieder Platz zu neh men. »Heute gibt es noch eine weitere Person, die eine Gabe für dieses Mädchen hat.« Aufgeregt flüsternd stecken die Ratsmitglieder die Köpfe zusammen. Lorian sieht mich auffordernd an. »Matt, kommst du bitte zu mir?« Es ist als Frage formuliert, klingt aber eher wie ein Befehl. »Sehr wohl, Mylord«, entgegne ich und folge seiner Aufforde rung. »Hast du eine Gabe für dieses Mädchen?« Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Natürlich habe ich ein Geschenk. Mein Vater hat mir versprochen, dass ich mein Leben nicht ohne eine Gefährtin verbringen muss. Ich weiß noch gut, was er mir gesagt hat: dass ich diese Gabe hegen und pflegen soll, bis ich die Richtige finde. Um sie zu erkennen, soll ich mir ein Bild von ihrer Gesinnung machen. Ich betrachte Neriah. »Ist die etwa diejenige?« Lorian lächelt, und einen Moment ähnelt er beinahe seinem Bruder. »Aber …?« Wenn es so ist, warum erkenne ich es dann nicht? »Das haben wir uns auch gefragt«, sagt Lorian immer noch schmunzelnd. Neriah blickt unbehaglich im Saal umher. Sie will bereits aufstehen. 311
»Setz dich, Neriah«, befiehlt Lorian, dann sieht er mich ab wartend an. Erneut richte ich die Augen auf sie, aber Neriah scheint sich plötzlich brennend für das raffinierte Muster der Bodenfliesen zu interessieren. Mit einem tiefen Atemzug versuche ich, meine aufgewühlten Gedanken zu beruhigen, dann fasse ich sanft Neriahs Kinn und hebe ihren Kopf an. Unsere Blicke treffen sich und verlieren sich ineinander. Da weiß ich es: Neriah ist dazu bestimmt, das Leben mit mir zu teilen – für immer und ewig! Eines Tages wird sie Mitglied des Hohen Rats werden. Da jeder im Saal das weiß, hat sich ein Großteil ihrer Gaben um Urteilsvermögen und Gnade gedreht. Und es ist auch der Grund dafür, warum sie so hoch geschätzt ist. Plötzlich fällt mir wieder ein, was ich Dillon versprochen habe. Gleichzeitig liegt mir Mr Carters Warnung im Ohr: »Sei vorsichtig mit dem, was du versprichst.« »Oh nein!« Bei diesen Worten schnellt Neriahs Kopf herum, und mir wird bewusst, dass ich sie laut ausgesprochen habe. Neriah sieht aus, als würde sie sich am liebsten verkriechen. Vor all diesen Leuten fällt mir keine glaubhaft klingende Erklärung ein. »Matt, bist du so weit?«, fragt Lorian. »Es ist an der Zeit.« Ich nicke wie betäubt und Lorian kehrt zurück an seinen Platz. Um wieder ruhig zu werden, mache ich einen tiefen Atemzug, dann lege ich die Hand auf ihre Stirn, wie Dartemis es mir ge zeigt hat. Und mit all meiner Kraft und all meinen neu erwor benen Kenntnissen konzentriere ich mich ganz darauf, jene Ga be zu Tage zu fördern, die mir mein Vater anvertraut hat. »Ne riah Gabriel, ich verleihe dir die Gabe … der Unsterblichkeit.« 312
Kaum habe ich dieses Wort ausgesprochen, spüre ich eine Erschütterung, die den ganzen Saal erfasst. Einige Mitglieder des Hohen Rats schnappen hörbar nach Luft, andere nehmen sich an der Hand. Während Lorian sie zu beruhigen versucht, strömt goldenes Licht von meiner Hand auf Neriahs Stirn. Als es allmählich in sie eindringt, beginnt ihre Haut von innen heraus zu schimmern. Vom Kopf aus erfasst das Leuchten den ganzen Körper, die Arme, die Brust, den Rumpf und die Beine bis hinunter zu den Zehenspitzen. Man sieht es sogar deutlich durch die weiße Tunika. Sie zittert ob der Kraft, von der sie erfasst wird. Aber das Schauspiel dauert nur kurz, der goldene Schimmer ihrer Haut schwindet rasch. Sie blickt auf ihre Hände und dreht die Handflächen nach oben. »Das geht vorüber. Bis morgen ist deine Haut wieder ganz normal.« Lorian tritt zu Neriah und bedeutet ihr aufzustehen. Mit wackligen Knien kommt sie seiner Aufforderung nach. Nun sollten wir uns Dillon anschließen und mit ihm feiern, ver kündet Lorian. Unter begeistertem Beifall scharen sich viele Mitglieder des Hohen Rats um Neriah und gratulieren ihr. Die Türen werden geöffnet. Nach und nach begibt sich die ganze Gesellschaft zu einem Saal, in dem ein üppiges Büffet angerichtet ist. Als Dillon sich zu Neriah gesellt, fällt ihm sofort ihre schimmernde Haut auf, aber Neriah lässt sich schnell eine harmlose Erklärung einfallen. Warum erzählt sie ihm nicht, dass sie jetzt Gedanken lesen kann? Wahrscheinlich muss sie sich erst noch daran gewöhnen. Fast den gesamten Abend geht mir Neriah aus dem Weg. Wenn sie mich auf sich zukommen sieht, sucht sie sich rasch einen anderen Gesprächspartner. Die meiste Zeit ist Dillon 313
nicht weit weg. Selbst als sich Lorian mit ihm unterhält, lässt er Neriah nicht aus den Augen. Weil mir die Luft im Palast zu stickig wird, gehe ich nach draußen. Im Innenhof entdecke ich in einem Käfig ein wunder schönes goldenes Vogelpärchen. Als mich die Tiere sehen, kom men sie ganz nah ans Gitter und beginnen zu singen. Es ist die traurigste, schwermütigste Melodie, die ich je gehört habe. Da ich den Eindruck habe, dass sie mir etwas sagen möchten, kon zentriere ich mich darauf, sie zu verstehen, aber ihre Gedanken sind mir nicht zugänglich. Immer schneller und schriller wird ihr Gezwitscher, schließlich drücken sie sich gegen den feinma schigen Draht und beginnen heftig mit den Flügeln zu flattern. Da tritt Lady Arabella an meine Seite und die Vögel ver stummen. »Sie wirken unruhig«, bemerke ich. Die Herrscherin macht sich an den Näpfen auf dem Käfig boden zu schaffen. »Bei all der Aufregung heute habe ich vergessen, sie zu füttern. Sie sind nur hungrig.« Doch die Vögel rühren die frischen Körnchen, die Lady Arabella in den Futternapf gibt, nicht an. »Hier, meine Lieblinge.« »Wo habt Ihr sie gefunden?« »Sie haben mich gefunden«, erklärt sie. »Diese Vögel gehören nicht in diese Welt.« »Deshalb singen sie wohl auch so traurige Melodien«, seufzt sie. »Warum sperrt Ihr sie in einen Käfig?« Sie sieht mich mit großen Augen an. »Zu ihrem Schutz. Sie sind verletzt, und bis sie wieder fliegen können, sind sie durch wilde Tiere bedroht.« »Bittet doch Isabel, sie zu heilen. Dann könnt Ihr sie freilas sen.« 314
»Ich dachte, Isabel kann nur Menschen heilen.« Aus irgendeinem Grund möchte ich ihr nicht mehr Infor mationen über meine Schwester preisgeben. Um das Thema zu wechseln, lasse ich die Hand über den prächtig gearbeiteten Käfig gleiten. »Das ist ein richtiges Kunstwerk.« »Ja. Jimmy ist wirklich ein Genie, nicht wahr?« »Jimmy hat das gebaut?« »Er kann einfach alles. Ich glaube, es gibt nichts hier im Pa last, bei dem er nicht die Hand im Spiel hat. Er ist sehr begabt. Und er kommt immer zur rechten Zeit. Wenn man ihn braucht, ist er schon da, bevor man ihn gerufen hat.« »Ja«, murmle ich und stimme ihr ungewollt zu. Jimmy ist der Beschützer. Er hat Zugang zu sämtlichen Hochsicherheits zonen und kennt alle Geheimtüren und Übergänge, die in die Stadt und aus ihr hinaus führen. Im Grunde sind wir alle nur durch seine Sicherheitssysteme geschützt. Und dennoch konnte Marduke bei Neriahs Haus die Schutzhülle durchbre chen. »Ist was mit dir, Matt?«, erkundigt sich Lady Arabella. Aber ich bin in Gedanken immer noch bei Jimmy. Arkarian vertraut ihm. Und Dartemis vertraut ihm sogar die Mutter seines Sohnes an! Habe ich überhaupt ein Recht, an ihm zu zweifeln? Oder bin ich einfach nur paranoid? Ich muss daran denken, dass Arkarian mir aufgetragen hat, den Schlüssel vor jedem zu verbergen, weil wir nicht wissen, wem wir vertrauen können. War damit auch Jimmy gemeint? Neben Arkarian ist Jimmy die einzige Person, die weiß, wo ich den Schlüssel aufbewahre. Er hat mir sogar dabei geholfen, ein sicheres Versteck zu finden. Aus dem Augenwinkel sehe ich Neriah durch ein Tor auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes laufen. Auch Lady 315
Arabella bemerkt es. »Mach nicht die gleichen Fehler wie Lorian.« Ich bin mir nicht sicher, was sie damit meint. Vermutlich, dass ich Neriah folgen und mich bei ihr entschuldigen soll. Keine schlechte Idee. Ich beschließe, jegliche Gedanken an den Verräter für den Augenblick beiseite zu schieben. Ich kann nicht jeden verdächtigen, nur weil er durch seine Fähigkeiten Zugang zu Hochsicherheitszonen hat! Und auch wenn ich immer wieder mit Jimmy aneinander geraten bin, so hat er mir eigentlich nie einen konkreten Anlass gegeben, ihm zu misstrauen. Die Vögel scheinen sich beruhigt zu haben. Mit einem letz ten Blick reiße ich mich vom Käfig los. Meine Hände sind schmutzig und ich wische sie an meinem Umhang ab. »Der Käfig ist staubig. Ich dachte, er wäre neu.« Lady Arabella sieht mich ausdruckslos an. »Staub? Oh, ja, der Nachtwind bläst ihn her. Ich mache ihn gleich sauber.« Dann deutet sie auf das Tor, durch das Neriah gerade ver schwunden ist, und fügt hinzu: »Du solltest dich beeilen. Da draußen in den Hügeln kann man bei Dunkelheit schnell jemanden aus den Augen verlieren.« Ich mache mich auf den Weg und durchkämme die Gegend vor den Palastmauern. Als ich Neriah entdecke, die sich einen Weg durch das Gebüsch bahnt, folge ich ihr bis zu einem Grashügel. Von hier aus hat man einen wundervollen Aus blick auf das antike Athen im Mondschein. Auch sie hat mich gesehen und will schon wieder weglau fen. »Bleib doch stehen!« Sie wartet. »Was willst du?«, fragt sie. 316
»Mit dir reden. Das Missverständnis zwischen uns ausräu men.« »Sehr einfach. Tut mir wirklich leid, dass du den Rest dei nes Lebens mit mir verbringen musst.« Wie gebannt starre ich sie voller Bewunderung an. Ihre Haut schimmert sanft, aber auch ohne diesen Schein ist sie das schönste Wesen, das ich je gesehen habe. »Du hast vom ersten Augenblick an gewusst, dass wir vom Schicksal füreinander bestimmt sind.« Sie denkt einen Augenblick darüber nach, dann prustet sie los. »Na klar.« Der Klang ihres Lachens geht mir durch und durch. »Ich könnte deiner Stimme ewig lauschen.« Kichernd beginnt sie sich im Kreis zu drehen. Das Mond licht scheint um sie herum zu tanzen. Ich fasse sie am Arm und halte sie fest. »Halt, du machst mich schwindlig.« Atemlos flüstert sie: »Und du machst mich so glücklich.« »Ich dachte nicht, dass ich noch einmal so empfinden könnte. Ich wollte es auch nicht.« »Und jetzt?« »Wenn ich dich ansehe, spüre ich, dass es richtig ist.« Sie lächelt. »Weißt du noch, als du mich aus dem verzau berten Käfig in Lathenias Palast gerettet hast?« »Ja.« Worauf will sie hinaus? »Damals habe ich dir doch gesagt, dass sie mich eingesperrt hat, weil sich eine meiner neuen Kräfte gezeigt hatte und sie befürchtete, ich könnte entkommen.« »Ja.« Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Neriah entzieht sich meinen Armen und tanzt und wirbelt herum. Ich weiß kaum, wie mir geschieht, da verändert sich ihre schlanke Gestalt. Aus ihren Armen bilden sich flatternde 317
Flügel, die Beine schrumpfen, bis sie sich schließlich ganz und gar in eine Taube verwandelt hat! Direkt vor mir schwebt sie in der Luft und in Gedanken höre ich sie sagen: Komm mit mir! Bei dieser Vorstellung beginnt mein Herz zu rasen. Ich ver wandle mich ebenfalls in eine Taube, und zusammen steigen wir in den Himmel auf. Ich fühle mich so frei wie nie zuvor. Wir kreisen über Athen und genießen den Anblick dieser geschichtsträchtigen Stadt, aber mehr noch die Gesellschaft des anderen. Die Zeit verfliegt. Beinahe vergessen wir das Festmahl, das im Palast stattfindet. Ich weise Neriah mit meinen Gedan ken darauf hin, und wir fliegen zurück zum Hügel und nehmen wieder unsere menschliche Gestalt an, sobald wir den Boden berühren. Wir stehen so nahe beieinander, dass sich unsere Körper berühren. Ganz selbstverständlich schlingen wir die Arme umeinander. Und als wäre es das Natürlichste der Welt, findet mein Mund ihren Mund und wir küssen uns. Wir küssen uns so intensiv, dass die Welt um uns zu versinken scheint. Ein Rascheln oder Knacken holt mich in die Wirklichkeit zurück, und ich werde mir wieder meiner Verantwortung bewusst. »Was ist?«, flüstert Neriah, den Kopf an meine Brust ge lehnt. Instinktiv umschließe ich sie fester, weil ich sie beschützen möchte. Etwas oder jemand ist da draußen. Das Geräusch klingt, als würde jemand absichtlich einen Zweig zerbrechen. »Nichts«, versuche ich sie zu beruhigen. »Beobachtet uns jemand?«, fragt sie erneut. Ich spreche meinen Verdacht nicht laut aus und schirme meine Gedanken ab, so gut ich kann. »Komm. Wir gehen besser zurück, bevor man uns vermisst.« Aber ich vermute, das ist bereits geschehen. 318
Kapitel 23
Matt
Die Erlebnisse in Athen haben mich aufgewühlt. Nachdem mich Arkarian zurück in mein Bett gebracht hat, fahre ich erschreckt aus dem Schlaf hoch. Der Wecker zeigt kurz nach zwei Uhr. Ich rolle mich auf die andere Seite und versuche wieder einzuschlafen, aber der Gedanke an das Versprechen, das ich Dillon gegeben habe, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich kann das Versprechen nicht länger halten. Und darüber muss ich bei der nächsten Gelegenheit mit Dillon reden. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass irgendetwas im Haus nicht stimmt. Ich schließe kurz die Augen, um nach der Ursache zu forschen. Ob es wohl damit zu tun hat, was zwi schen Neriah und mir passiert ist? Wir sind zur gleichen Zeit zurückgekommen. Sie müsste eigentlich nebenan in Isabels Zimmer sein und schlafen. Ich will zuerst bei Mum nach dem Rechten sehen. Obwohl sie jetzt die ganze Zeit mit Jimmy zusammen ist und sein Auftrag lautet, sie unter Einsatz seines Lebens zu beschützen, schwebt sie in ständiger Gefahr. Abgesehen von ihr gehören sämtliche Bewohner dieses Hauses den Wachen an. Und das bedroht ihre Sicherheit. Aber Mum schläft wie ein Murmeltier, während Jimmy ne ben ihr zufrieden schnarcht. Als ich mich von ihrem Schlaf zimmer zu Isabels Tür wende, erfasst mich das mulmige 319
Gefühl erneut, nur viel stärker. Schlagartig wird mir klar, aus welcher Richtung es kommt und welche Ursache es hat. Ich reiße die Zimmertür auf und rüttle Neriah wach. »Matt? Was ist denn los?« »Wo ist sie?« »Wer?«, fragt sie und reibt sich die Augen. »Isabel!« Zum Beweis schalte ich Isabels Nachttischlampe ein und ziehe ihre Bettdecke zurück. Darunter kommen zwei Kissen zum Vorschein, so angeordnet, dass sie die Form ihres schlafenden Körpers nachbilden. Neriah trippelt auf Zehenspitzen herüber, um sich selbst davon zu überzeugen. Sie hebt mit einer ratlosen Geste die Hände. Es dauert nicht lange, bis sie eins und eins zusammen gezählt hat. Als sie bemerkt, dass ich ihre Gedanken lese, schirmt sie sie rasch ab und setzt eine ausdruckslose Miene auf. Ich koche vor Wut. Jimmy kommt herein. Kaum begegnen sich unsere Blicke, weiß ich, dass er eingeweiht ist. Und das bringt das Fass zum Überlaufen. »Du hast es gewusst?« Er kommt mit ausgestreckten Armen auf mich zu. »Jetzt mal langsam, Matt.« »Du hast Bescheid gewusst und sie trotzdem gehen lassen? Erzähl mir ja nicht, dass du bei ihrem kleinen Täuschungsma növer mitgespielt hast! Und so was nennt sich Beschützer!« »Leise, sonst wacht deine Mutter noch auf.« Als ich mich gerade mit Hilfe der Schwingen auf den Weg machen möchte, packt Jimmy mich an beiden Armen. »Bleib hier, Matt. Arkarian würde Isabel niemals in Gefahr bringen.« Ich schüttle Jimmy ab und er fällt durch die Wucht meiner Abwehrbewegung hin. »Wenn das wirklich so ist, warum müssen sie sich dann mitten in der Nacht heimlich treffen?« 320
Ohne eine Antwort abzuwarten hebe ich mit den Schwin gen ab. Wenig später stehe ich in stockdunkler Nacht vor dem geheimen Eingang zu Arkarians Kammern. Er hat sie hierher gebracht. Ich spüre durch Fels und Erde hindurch, dass sie da drinnen sind. Öffne die Tür, Arkarian! Auf der Stelle! Nichts. Ich stelle mir die verzweigten Gänge im Innern des Berges vor und erforsche sie im Geiste. Ich weiß, dass meine Schwester da drin ist, Arkarian. Wenn du nichts zu verbergen hast, warum bringst du sie dann heimlich hierher? Vor mir formt sich die Öffnung mit der dunklen Halle da hinter. Als ich eintrete, stelle ich fest, dass sie nur durch ein oder zwei Kerzen schwach beleuchtet ist. In ihrem flackernden Schein stürme ich durch den großen Raum und rüttle an sämtlichen Türen, aber sie sind alle zugesperrt. Ich bleibe kurz stehen und bemühe mich, ruhiger zu atmen. Dann wird es mir leichter fallen herauszufinden, in welchen Raum sich Isabel aufhält. Schließlich tritt Arkarian durch eine Tür zu meiner Linken. Er reißt die Arme hoch. »Ich weiß, dass du wütend bist, Matt, aber hör dir erst mal meine Erklärung an.« Erklärung! »Was gibt es denn da zu erklären? Ist Isabel bei dir oder nicht?« Die Tür, vor die sich Arkarian schützend stellt, wird geöff net und Isabel kommt heraus, im Begriff, sich den langen, schwarzen Mantel anzuziehen. Sie drängt sich an Arkarian vorbei und stellt sich zwischen ihn und mich. »Halt bloß die Luft an! Es geht dich zwar nicht das Geringste an, aber wir wollten mal ein paar Minuten allein sein.« »Das kannst du mir alles zu Hause erklären.« »Matt, reagierst du nicht reichlich übertrieben?« »Ich habe dein Bett gesehen, Isabel, und da war mir klar, 321
dass du das geplant hast. Deshalb bin ich so wütend. Wegen der Geheimnistuerei.« »Matt«, mischt sich Arkarian mit leiser Stimme ein. »Wenn du dich wieder beruhigt hast, wirst du einsehen, dass wir uns nur aus Angst vor deiner Reaktion heimlich hier getroffen haben.« »Ach wirklich? Warum soll ich dir eigentlich noch was glauben? Gerade hast du mir bewiesen, wie hinterlistig du sein kannst.« Ich stehe in der Nähe des Ausgangs. »Isabel, ich möchte, dass du jetzt mit mir nach Hause kommst.« »Du hast mir gar nichts zu sagen«, zischt Isabel. »Ich bin sechzehn, Matt. Und du bist nicht mein Vater.« »Aber der ist nun mal nicht da, richtig?« Ihre Augen nehmen einen gequälten Ausdruck an. Sofort bereue ich, was ich gerade gesagt habe. Ich möchte doch nur, dass sie mich versteht. Wegen mir hat uns ihr Vater vor all den Jahren verlassen. Er wusste, dass ich nicht sein Sohn war. Er hat versucht, mit Mum zusammenzubleiben, aber er konnte einfach nicht darüber hinwegkommen. Dann hat er angefan gen zu trinken. Schließlich ist er zu der Erkenntnis gelangt, dass Isabel ohne ihn besser dran wäre. Und aus diesem Grund muss ich mich jetzt um sie kümmern. An dem Tag, als Isabels Vater weggegangen ist, habe ich es ihm versprochen. Seufzend folgt mir Isabel nach draußen. Hinter uns ver schwindet die Öffnung wieder. Ich zittere, als ich in die schneidende Kälte hinaustrete, denn meine Arme sind nackt. In der Eile hatte ich ganz vergessen, eine Jacke oder einen Pullover anzuziehen. Aber das Wetter ist mir plötzlich ganz unwichtig, denn Isabel steht mit zornfunkelnden Augen vor mir. »Wie konntest du nur?« »Was denn?« 322
»Wie konntest du mich so demütigen?« Ich habe sie noch nie so wütend erlebt. Um sie zu beruhigen und ihr zu erklären, warum ich gekommen bin, strecke ich die Hand nach ihr aus, aber sie zuckt zurück. Ihre Stimme wird unangenehm schrill. »Nein! Fass mich bloß nicht an! Sprich nie wieder mit mir!« Mit diesen Worten läuft sie davon und lässt mich in der eiskalten Nacht stehen. Wie betäubt starre ich ihr nach. Ob ich sie jetzt für immer verloren habe? Das könnte ich nicht ertra gen. Ich lege den Kopf in den Nacken und blicke in den klaren Sternenhimmel. Bald wird der neue Morgen anbrechen. Ein langer Tag liegt hinter mir, und ich habe ihn von Anfang bis Ende gründlich vermasselt. Als ich hinter mir jemanden atmen höre, mache ich vor Schreck einen Satz. Es ist Arkarian, der mich kühl und distan ziert mustert. »Man hat mich gerade darüber informiert, dass König Richard eine Versammlung aller Auserwählten einberu fen hat. Wir treffen uns bei Tagesanbruch in meinen Kam mern. Sag den anderen Bescheid.« Dann verschwindet er so schnell und leise, wie er gekom men ist. Mir krampft sich der Magen zusammen. König Richard wird hierher kommen. Was will er denn bloß? Nor malerweise könnte ich auf Arkarians Unterstützung zählen, aber jetzt? Gerade habe ich ihn gründlich vor den Kopf gesto ßen. Er hat mir immer gesagt, dass ich ihm vertrauen soll, aber ich habe es nicht getan. Ich bin zu weit gegangen und weiß nicht, ob ich das je wieder in Ordnung bringen kann. Kaum habe ich die anderen benachrichtigt, schwinden schon die letzten grauen Schatten und der Morgen bricht an. Ich treffe als Letzter ein. Sogar Dillon ist da. Obwohl er nicht direkt auserwählt wurde, hat Lorian bei seiner Einführung in 323
aller Deutlichkeit gesagt, dass wir ihn als einen von uns be trachten sollen. Sie sind alle um einen runden Holztisch versammelt. Shaun, Jimmy und Mr Carter sitzen nebeneinan der. Isabel hat an Ethans Seite Platz genommen, Neriah zwi schen Dillon und Rochelle. Arkarian schließt hinter mir die Tür. Unsere Blicke treffen sich kurz, dann wendet er sofort die Augen ab. Seine Gedanken sind vollkommen unzugänglich. Als ich eintrete, hebt Jimmy den Kopf und zieht hörbar die Luft ein. Auch ihn habe ich mit meinem Vorwurf, ein schlech ter Beschützer zu sein, verletzt. Außerdem steht das Gespräch mit Dillon noch aus, der Neriah verträumt anhimmelt. Kaum haben sie mich bemerkt, hören sie auf zu tuscheln und sehen mich erwartungsvoll an. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so allein gefühlt. Es ist, als hätte ich plötzlich lauter völlig Fremde vor mir. Neriah kneift die Augen zusammen. Sie erkundigt sich in Gedanken, ob mit mir alles in Ordnung ist. Bevor ich ihr antworten kann, nimmt König Richard vor uns Gestalt an. Ohne die anderen zu beachten, tippt er mir bedeutungsvoll auf die Schulter und sagt: »Wir müssen uns unterhalten. Und zwar sofort.« Damit verschwindet er wieder, und ich bleibe ratlos zurück. Ich begegne Arkarians Blick, und er sagt leise: »Ich begleite dich.« Obwohl ich sehr erleichtert bin, sollte ich nicht zu viel in diese Geste hineinlesen. »Wo ist er denn jetzt?« Arkarian deutet an die Decke. »Irgendwo da oben.« Mit meinen Schwingen folge ich Arkarian zum Hügel kamm. Tatsächlich schlendert König Richard am Ufer des Sees entlang. Als wir ihn einholen, nickt er Arkarian kurz, aber wohlwollend zu. Seine Frage ist allerdings nur an mich gerich tet. 324
»Sag mal, Matt, hältst du mich wirklich für den Verräter?« Zum ersten Mal, seit ich gesehen habe, wie er in Lathenias Schlafzimmer gegangen ist, habe ich Zweifel. Sein Blick ist so klar und aufrichtig, dass es schwer fällt, ihm etwas Derartiges zuzutrauen. Ich erkläre, was mich zu meinem Verdacht verlei tet hat. »Wir haben Euch in Lathenias Palast gesehen. Ihr wart bei ihr und habt mit ihr gelacht.« Er nickt. »Weißt du, wir sitzen nicht den ganzen Tag im Kreis und beraten. Jedes Mitglied des Hohen Rats hat eine Aufgabe .« »Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr in Lathenias Palast wart, um sie abzulenken?« »Oh, meine Aufgabe umfasst sehr viel mehr, als sie nur ab zulenken«, erwidert er amüsiert. »Ich wurde zum Herrscher erzogen und kann den königlichen Hoheiten so manche Information entlocken.« Jetzt geht mir ein Licht auf. »Ihr spioniert für Lorian.« Er lacht auf. »Ich sehe es eher so, dass ich … Veridian be schütze. Ich würde alles dafür tun, dass meinen Untertanen kein Leid geschieht. Matt, ich bin nicht der Verräter. Aber wie es scheint, ist es ein Mitglied des Hohen Rats. Davon ist Lorian überzeugt. Und ich glaube ihm. Was du im Ratssaal getan hast, ist beinahe unverzeihlich. Indem du den Verdacht auf mich gelenkt hast, hast du fast meinen Auftrag verraten.« Ich stöhne auf, als ich die Tragweite meines Handelns be greife. »Es tut mir leid, Hoheit.« »Wie ich schon sagte«, fährt er fort. »Beinahe unverzeihlich.« Wie nett von ihm. Ich suche Arkarians Augen und diesmal wendet er sie nicht ab. Sie sind erfüllt von Schmerz und Qual. Ich habe es total vermasselt, teile ich ihm in Gedanken mit. Ich wusste ja, dass ich für diese Aufgabe noch nicht bereit bin. 325
König Richard antwortet an seiner Stelle. »Unsinn. Du wirst ein guter Führer sein. Ich habe in Athen und anderswo viel zu tun und kann nicht immer hier sein, Matt. Dafür bist du zuständig. Aber jetzt möchte ich etwas anderes mit dir bespre chen. Isabels Vision. Es betrifft Rochelle.« »Isabel hat gesehen, dass sie tot war«, sagt Arkarian mit ei nem heiseren Flüstern. König Richard nickt. »Ich denke, es wäre gut, wenn sie das nicht erfährt.« Da wir nichts erwidern, spricht er weiter: »Außerdem bin ich der Meinung, dass du ihr einen Bewacher zur Seite stellen solltest. Jemanden, dem du vertraust.« »Einen Leibwächter?«, frage ich. »Ganz genau.« Das ist eine hervorragende Idee. Ich denke darüber nach, wer dafür geeignet wäre. Über Rochelles Leben zu wachen und sie zu beschützen ist eine enorme Verantwortung. »Ich werde es tun.« Aber König Richard schüttelt den Kopf. »Du hast dich um andere Dinge zu kümmern. Fällt dir niemand sonst ein?« »Auf keinen Fall Ethan. Er … empfindet etwas für sie. Und wenn er erfährt, welches Schicksal sie vielleicht erwartet, würde ihn das … zu sehr mitnehmen.« Dillon kommt mir in den Sinn, aber ich lasse diesen Ge danken schnell wieder fallen. Er ist emotional zu labil. Hilfe suchend blicke ich zu Arkarian. »Was meinst du, wer dafür infrage kommt?« Er sieht mich lange an. Als ich schon glaube, er bleibt mir die Antwort schuldig, sagt er: »Isabel ist die Richtige.« An sie hatte ich überhaupt nicht gedacht. »Warum Isabel?« »Zum einen weiß sie Bescheid. Sie hat es mit eigenen Augen gesehen. Falls es wirklich zu der Situation kommt, ist sie die Einzige, die die Anzeichen zu deuten versteht.« 326
Er hat Recht. »Zum anderen«, fährt Arkarian fort, »beherrscht sie die Selbstverteidigungstechniken ausgezeichnet und …« Er schweigt. Schließlich beendet er seinen Satz: »Ethan ist ihr bester Freund. Er liegt ihr sehr am Herzen. Und sie weiß, dass Ethan etwas für Rochelle empfindet. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um keinen der beiden im Stich zu lassen. Außerdem ist sie den Wachen treu ergeben. Sie würde ihre Rolle als Beschützerin mit größter Loyalität erfüllen. Und auch wenn sie Rochelle nicht vierundzwanzig Stunden am Tag überwachen kann, wird sie sehr effektiv sein. Immerhin ist sie eine Heilerin. Wenn es zum Äußersten kommt und Rochelle verletzt wird, kann Isabel sie sofort behandeln.« Arkarian hat sich bereits alles gründlich überlegt. »Damit ist diese Frage wohl geklärt«, sagt König Richard. »Doch ich muss noch etwas ansprechen, bevor wir wieder in diese stickige Höhle zurückkehren.« Er nimmt mich ins Visier. »Deine zarten Bande mit Neriah sollten geheim bleiben, bis du mit Dillon gesprochen hast.« »Ihr wisst von uns?«, frage ich. König Richard hebt die Hände, verschränkt die Daumen und macht mit den restlichen Fingern flatternde Bewegungen. »Ich habe euch letzte Nacht gesehen, wie ihr über Athen geflogen seid.« »Ihr wart das? Ich dachte … es wäre Dillon.« »Genau dazu wäre es beinahe gekommen. Er hat nach Neri ah gesucht und als er sie nicht fand, wollte er schauen, wo du bist. Das ist mir aufgefallen, Matt, denn ich wache über meine Untertanen. Ich habe ihm erzählt, du seist im Keller und würdest die Weinvorräte begutachten, und Neriah würde im Hof ihre neuen Kräfte an Lady Arabellas Vögeln ausprobieren 327
und dürfe nicht gestört werden. Dann habe ich nach euch gesucht.« Erneut macht er Flügelbewegungen mit den Händen. »Ihr beiden müsst wirklich vorsichtig sein, wenn ihr euch heimlich trefft, wenigstens so lange, bis Dillon sich mit deinem Betrug abgefunden hat. Wir sollten jetzt zurückkehren. Ich möchte mich mit den Auserwählten beraten. Wir müssen einander vertrauen können. Schließlich stehen wir unmittelbar vor einer Schlacht, die die Menschheit in ihrer jetzigen Form auslöschen könnte. Und wenn wir in Zwietracht in den Kampf ziehen, werden wir verlieren. Wir müssen …« Während König Richard fortfährt, sieht mich Arkarian vorwurfsvoll an. Da wird mir klar, dass der Quell der Kraft, die ich aus der Freundschaft mit ihm gezogen habe, versiegt ist.
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Kapitel 24
Rochelle
Allmählich kriege ich meine Angst vor dem Sterben in den Griff. Natürlich war ich ziemlich niedergeschmettert, als ich die Prophezeiung zum ersten Mal gelesen habe. Aber im Grunde kann man die betreffende Zeile gar nicht so genau deuten. Matt ist der Meinung, dass niemand in die Zukunft sehen kann. Das klingt einleuchtend. Außerdem muss nicht alles, was darin steht, auch wirklich so eintreten. Wenn sich das Gleichgewicht der Macht verschiebt, ändert sich die Pro phezeiung womöglich. Vermutlich ist das bereits geschehen. Jedenfalls sollte ich nur nicht über Dinge Gedanken ma chen, die vielleicht niemals eintreten. Und damit die ohnehin angespannte Stimmung hier noch verschlechtern. Isabel würdigt Matt keines Blickes mehr, sie sieht ihn nicht mal an, wenn er mit ihr redet. Neriah hat mir anvertraut, dass sie jetzt Gedanken lesen kann – diese Gabe wurde ihr vom Unsterblichen verliehen. Da sie nun weiß, was Dillon denkt, macht sie sich große Sorgen. Ich muss unbedingt mit ihm reden!, teilt sie mir in Gedanken mit. Er muss endlich begreifen, dass ich mich nicht auf die Weise für ihn interessiere, wie er es gerne hätte. Gute Idee. Und je früher, desto besser, finde ich. Schau ihn dir bloß an! Ich weiß! Unfassbar, wie sehr er unsere Freundschaft missver standen hat. 329
Bei diesem Gedanken richtet Neriah die Augen auf Matt. Sie erinnert ihn daran, dass auch er bald mit Dillon sprechen muss. Ihre Blicke begegnen sich und verschmelzen. Die inten sive Verbindung zwischen den beiden haut mich schier um. Mann oh Mann! Was ist denn mit denen passiert? Kein Wun der, dass Neriah sich wegen Dillon Sorgen macht. Zum Glück kann er ihre Gedanken nicht lesen. Arkarian wirft mir einen merkwürdigen Blick zu. Ich spüre ein Gefühl des Verlusts. Was ist heute Morgen bloß los? Ethan weicht mir offenbar aus. Glaubt er etwa an die Bilder, die Lathenia ihm in Atlantis vorgegaukelt hat? Nach einer längeren aufmunternden Ansprache schließt König Richard die Besprechung und wir verlassen einer nach dem anderen den Raum. Jeder hat dringend etwas zu erledi gen. Jimmy reist hinunter in die alte Stadt. In letzter Zeit hat es den Anschein, als würde er beinahe schon dort wohnen. Seine Aufgabe besteht darin, die Stadt zu befestigen, und zwar mit allen Mitteln. Mr Carter behauptet, er komme zu spät zur Personalversammlung, und rennt Dillon fast um, so eilig hat er es, sich von uns zu verabschieden. Isabel will gerade aufstehen, da kniet Arkarian neben ihr nieder. »Kannst du noch ein bisschen bleiben? Ich muss mit dir reden.« Als ich an ihnen vorbeigehe, mustert er mich kurz, aber wie üblich gibt er keinen seiner Gedanken preis. Draußen ist es kalt, bald wird es schneien. Als ich den Man tel fest um mich wickle, sehe ich eine Gestalt in den National park hasten. Sie ähnelt Mr Carter, aber das kann eigentlich nicht sein. Er hatte es doch so eilig, zur Personalversammlung zu kommen. Kaum habe ich ein kurzes Stück Weg zurückgelegt, holt mich Isabel ein. »Warte.« 330
»Ich dachte, Arkarian wollte mit dir reden.« »Ja, hat er auch. Es ging nur um eine Kleinigkeit.« Eine unbehagliche Gesprächspause tritt ein. Ich weiß nicht so genau, was sie hier will. Normalerweise unterhalten wir uns nur miteinander, wenn es unbedingt nötig ist, zum Beispiel auf einer Mission. Es liegt nicht daran, dass ich Isabel nicht mag. Sie ist in Ordnung. Als ich noch mit ihrem Bruder zusammen war, hat sie sich immer wieder bemüht, mich näher kennen zu lernen. Ich war diejenige, die abgeblockt hat. Das liegt an meinen Schuldgefühlen. Ich denke darüber nach, wie ich das Eis brechen könnte. »Du und Arkarian, ihr seid in letzter Zeit recht häufig zusam men.« Das war voll daneben. Sofort verschließt sie sich, ihr Ge sicht wirkt abweisend. Dann seufzt sie. »Von wegen, schön wär’s. Wir können uns so gut wie nie ungestört treffen, ohne gleich Gewissensbisse haben zu müssen.« Ich bin sofort im Bilde: Matt übertreibt es wieder mal mit seinem Beschützerinstinkt. Aber diesmal hat er offenbar eine Grenze überschritten. Er ist zu weit gegangen. Ich versuche sie aufzuheitern und erwidere schulterzuckend: »Na, ihr habt ja auch keinen Grund zur Eile. Schließlich bleibt euch noch das ganze Leben Zeit dafür.« Sie wirft mir einen eigenartigen Blick zu, aber ich versuche, nicht zu viel hineinzulesen. Mir schwirrt immer noch der Kopf von der Mission nach Atlantis. Sie hat viele Fragen aufgeworfen. Plötzlich nimmt Matt vor uns Gestalt an und stellt sich uns in den Weg. Er sieht seiner Schwester ins Ge sicht. »Kann ich dich sprechen?« Aber sie sieht an ihm vorbei, zu den Bäumen am Wegrand. »Was immer du zu sagen hast, ändert nichts zwischen uns. 331
Außerdem, meinst du nicht, du solltest lieber mit Dillon reden? Arkarian hat mir so manches erzählt.« Ihre Worte machen mich neugierig. Matt liest meine Ge danken und scheint sich unwohl dabei zu fühlen. »Ja, ja, das mach ich schon.« »Warte damit nicht zu lange.« Ich weise mit dem Kopf in Dillons Richtung. Er ist schon halb im Tal angekommen und folgt Neriah, wie es früher ihre Hunde getan haben. »Er geht ihr fürchterlich auf die Nerven, weißt du.« Matt wirft erschreckt den Kopf hoch. Das Problem mit Dil lon ist größer, als es ihm bewusst war, aber im Augenblick hat er Wichtigeres zu erledigen. »Isabel, du musst auf dem schnellsten Weg nach Athen.« »Wohl kaum. Ich werde hier gebraucht.« Matt geht über ihren schroffen Ton hinweg. »Lady Arabella hat diese zwei seltsamen Vögel.« »Ja, ich habe sie gesehen.« »Sie sind verletzt und ich möchte, dass du sie heilst.« »Das habe ich ihr bereits angeboten.« Auf Matts Stirnrunzeln hin erklärt Isabel ungeduldig: »Als du uns ausgesandt hast, um den Schlüssel zu suchen!« Er wirft einen Blick hinüber zum Wald. »Komisch«, mur melt er. »Lady Arabella hat gar nichts davon erwähnt.« Ich kann mich noch gut an die Situation erinnern. »Isabel hat ihr angeboten, die Vögel zu heilen. Aber Lady Arabella wollte sich selbst um ihre Tiere kümmern.« »Wo liegt das Problem, Matt? Hältst du etwa einen der Vö gel für den Verräter?« Isabels Stimme trieft vor Sarkasmus. Irgendwie gelingt es ihm, ruhig zu bleiben. »In meinen Au gen sind das keine normalen Vögel.« »Ach? Was denn sonst?« 332
Matt sieht mich an, dann gleitet sein Blick zu meinen Hän den. Mir ist sofort klar, woran er denkt. Er möchte, dass ich die Vögel berühre und seinen Verdacht bestätige. »Nein, Matt. Durch die Berührung mit meiner Hand könnte ich ein kleines Tier umbringen. Das weißt du doch! Und diese Vögel wirken ohnehin zart und zerbrechlich.« Eine Windbö lässt uns nach Norden blicken. »Was zum Teufel ist das?«, ruft Shaun in einiger Entfernung. Alle starren wie gebannt in dieselbe Richtung. Auf dem Berggipfel bildet sich ein eigenartiger Nebel und wabert zu uns in Richtung Tal. Was immer das ist, es sieht ganz anders aus als der Nebel, den es sonst in dieser Gegend gibt. Dieser Nebel ist dunkel und erinnert an einen schwarzen Schleier. Die Augen immer noch auf diese unheimliche Erscheinung gerichtet, gesellt sich Shaun zu uns. »Sollen wir in Deckung gehen?«, fragt er. Dann sieht er Isabel an. »Ist es das, was du gesehen hast?« Keine Ahnung, wovon Shaun spricht. Isabel beißt sich auf die Unterlippe. Sie weiß etwas, das steht fest. Plötzlich wirkt sie unsicher. Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Schließlich sagt sie: »Ja, ich glaube schon. Ich denke, das ist dieser Wind.« »Wieso Wind? Aber man kann ihn doch sehen!«, versucht Shaun klarzustellen. »Die Dunkelheit kommt mit dem Wind«, erklärt Isabel. Mein Mund ist ganz trocken geworden, aber ich muss es einfach wissen. »Eine Dunkelheit wie die in der Unterwelt?« Ehe Isabel antworten kann, erreicht uns der sonderbare Wind. Überrascht von seiner Heftigkeit stolpern wir einige Schritte bergab. Wir versuchen, uns gegenseitig an den Jacken und Mänteln festzuhalten. Die Bö verdunkelt alles um uns herum. Neriah und Dillon kommen zurückgerannt. 333
»Was ist das?«, fragt Dillon. »Dieser Wind war gruselig, er hat mich an die Unterwelt erinnert.« Abwartend blickt er zu Matt. »Und? Was war das?« In einer ratlosen Geste hebt Matt die Hände. »Ich weiß es nicht. Isabel sagt …« »Was meinst du damit, dass du es nicht weißt? Arkarian wüsste es.« »Halt die Klappe, Dillon«, fahre ich ihm über den Mund. In letzter Zeit fällt er wegen jeder Kleinigkeit über Matt her. Und das geht mir gewaltig auf die Nerven. Der Wind frischt auf und zerrt an den Bäumen. Es ist be ängstigend mit anzusehen, wie diese Welle der Dunkelheit unaufhaltsam weiter über das Land zieht und die Morgen dämmerung in ein unheimliches Zwielicht verwandelt. Eine bleierne Stille senkt sich herab. Ehe wir uns darüber Gedanken machen können, lenkt etwas anderes unsere Auf merksamkeit auf sich: Der Himmel im Norden färbt sich tiefschwarz. »Was ist denn das jetzt? Dort am Horizont?«, fragt Shaun. Zunächst sieht es aus wie ein Schatten am Himmel, aber als es immer größer wird und auf uns zukommt, sehen wir, was für Ausmaße der dunkle Fleck hat. Ethan tritt aus dem geheimen Eingang und blickt sich stirn runzelnd um. Er spürt, dass etwas in der Luft liegt, kommt aber nicht darauf, was es sein könnte. Fröstelnd zieht er die Jacke enger um sich und macht sich auf den Weg zu uns. Als er uns eingeholt hat, bemerkt er, dass wir alle nach Norden starren, in den Himmel. »Was ist das denn? Ein Vogel schwarm?« Isabel schnappt hörbar nach Luft. »Verdammt! Das sind die Vögel aus meiner Vision!« 334
»Doch nicht etwa Mardukes Geschöpfe?«, erkundigt sich Shaun. »Schon so bald?« Ich bleibe an dem Wort »Vision« hängen. Offenbar hatte Isabel eine Vision. Und anscheinend war sie ziemlich auf schlussreich! Jetzt verstehe ich wenigstens, warum sie so gut informiert ist. »Von was für einer Vision redest du, Isabel?« Anstatt einer Antwort blickt Isabel unsicher zu ihrem Bru der. Dann wendet sie schnell die Augen ab. Ich habe das Gefühl, dass alle außer mir davon wissen. »Sind das die Vögel, die das Gift bei sich hatten?«, will Matt wissen. Ich fühle mich wie eine Außenseiterin. Warum haben sie mir diese wichtigen Details verschwiegen? Die Antwort liegt auf der Hand: weil sie mir immer noch nicht vertrauen. Den ken sie vielleicht, ich würde sofort zu Marduke rennen? Ethan spürt meine Verstimmung und setzt zu einer Erklä rung an. »Marduke hat in der Unterwelt einen Garten, in dem er Tausende von Blumen züchtet, ausschließlich schwarze Lilien. Diese Blumen sind eine Art Droge.« Dann fügt er noch hinzu: »Aber warum erzähle ich dir das eigentlich? Du solltest uns sagen können, was vorgeht.« »Marduke hat mich nie in die Unterwelt mitgenommen«, verteidige ich mich. Ethans Worte haben mich getroffen. »Ich durfte nicht überall dabei sein. Da muss ich euch leider ent täuschen. Von diesen Drogen habe ich noch nie gehört.« Erneut blicke ich zum Himmel. Nun kann man deutlich sehen, dass der Schatten aus einer Unzahl von Vögeln im Formationsflug besteht. Es werden immer mehr und mehr, als würde der Zug nie ein Ende nehmen. Obwohl mir eiskalt ist, fühlt sich meine Haut plötzlich feucht an. »Ich glaube, dass sind Beutelgeier«, sagt Dillon mit zusam 335
mengekniffenen Augen. »Ja, ich kenne diese Vögel. Sie haben Beutel wie Kängurus.« »Kann man sie töten?«, erkundigt sich Shaun. »Sie sind bereits tot. Wenn man sie angreift, schlagen sie zurück, immer wieder und wieder. Besser, man reizt sie nicht. Marduke hat sie zum Töten abgerichtet.« »Wie sollen wir sie dann aufhalten?«, fragt Ethan. »Erzähl uns alles, was du über sie weißt, Dillon.« »Ihre Krallen sind zwar so scharf wie die von Adlern, aber die Tiere sind längst nicht so schlau. Sie halten sich strikt an die Anweisungen, und sobald sie ihren Auftrag ausgeführt haben, kehren sie wie ferngesteuert zu ihrem Ausgangspunkt zurück, wo immer der liegen mag.« Ich hefte den Blick auf Isabel. »In dieser Vision, von der offenbar alle wissen, wo wollten diese … Beutelgeier da ihr Gift abwerfen?« Mit schuldbewusster Miene entgegnet sie: »Über Angel Falls.« »Reizende Vorstellung!« »Das Gift wird das Trinkwasser verseuchen und sämtliche Personen, die damit in Kontakt geraten, benebeln – jeder, der es einnimmt, fühlt sich wie betäubt. Das kann Tage oder auch länger anhalten, je nach Dosis. Man weiß nicht mehr, wer man ist und was man eigentlich tun wollte. An diesem Punkt …« »Was?« »An diesem Punkt kommt Lathenia ins Spiel. Sie über nimmt die Kontrolle über den Verstand der Menschen und führt eine Gehirnwäsche durch. Wenn dann die Wirkung der Droge nachlässt, hat sie eine ganze Armee, die ihrem Befehl gehorcht.« Eine Armee aus Menschen? Freunden, Familienangehörigen 336
und Kollegen? Na super! Ich blicke auf die Uhr. »Gleich fängt die Schule an. Auf dem Schulhof wimmelt es bestimmt vor Leuten.« Alle blicken erwartungsvoll zu Matt. Doch er wendet die Augen ab, als würde er sich am liebsten in den Wald flüchten und dort eine Weile untertauchen. Ratlos kratzt er sich am Hals. Was ist bloß mit ihm los? Ich habe ihn noch nie so … entscheidungsschwach erlebt. Neriah teilt mir über ihre Gedanken mit, dass sie sich Sor gen macht, aber ich weiß nicht, was ich ihr antworten soll. Sie legt ihre Hand auf Matts Arm. »Was wäre, wenn wir die Beutelgeier dazu bringen könnten, ihr Gift über einer Gegend abzuwerfen, die nicht so dicht besiedelt ist?« Er nickt erleichtert. Der Vorschlag ist gut. »Wenn wir es schaffen, ihren Kurs zu ändern, fliegen sie dann anschließend dorthin zurück, von wo sie hergekommen sind?« Neriahs Frage ist an uns alle gerichtet. Dillon hat als Erster eine Antwort parat: »Marduke wird zwar vor Wut rasen, aber ich denke schon, dass es klappen könnte. Es wird allerdings nicht leicht. Marduke hat sie fest im Griff. Wenn der Meister erst einmal die Kontrolle über deinen Kopf hat, ist es fast unmöglich, sich ihm zu widersetzen.« Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie Ethans Blick zu mir wandert, dann schlägt er die Augen nieder. Äußerlich lasse ich mir nichts anmerken, aber tief im Innern verletzt und ärgert es mich, dass er nach all der Zeit immer noch an mir zweifelt. Was muss ich denn noch tun, damit sie mir vertrau en? Ich versuche mich zu fassen, bevor die anderen merken, wie sehr mich sein Argwohn aus der Bahn geworfen hat. Schließlich hat Matt eine Idee, die er mit unsicherer Stimme vorträgt. »Ich … ich hätte da vielleicht einen Plan. Aber ich 337
brauche jemanden, der mir hilft.« »Nimm mich!« Eins muss man Dillon lassen, er ist immer der Erste, der sich freiwillig meldet. »Ich habe diese Vögel schon mal gesehen und weiß, wie sie funktionieren.« Neriah sieht Dillon direkt an. »Matt braucht jemanden, der fliegen kann …« »Genau. Und ich habe bereits meine Schwingen.« »Ich glaube, Neriah meint fliegen im wörtlichen Sinn«, wendet Matt ein. Dillon ist perplex. »Wovon redest du eigentlich? Vielleicht bist du mit diesem Anführer-Quatsch doch ein bisschen überfordert …« »Außerdem sollte es jemand sein, der sich mit diesen Tieren verständigen kann«, unterbricht ihn Neriah und lenkt unsere Aufmerksamkeit wieder auf die wirklich wichtigen Dinge. »Dank Königin Brystiannes Gabe bin ich dazu in der Lage.« Matt wirkt erleichtert und Neriah lächelt ihm zu. Dieses Lächeln würde Dillons Herz zum Schmelzen bringen, aber es ist nicht für ihn bestimmt. Genau das wird ihm klar und zum ersten Mal in seinem Leben ist er um Worte verlegen. Ein Kreischen lässt uns erneut zum Himmel blicken. Die Vögel sind näher gekommen, aber sie befinden sich noch nicht unmittelbar über uns. Shaun legt seine Hand auf Matts Schulter. »Was immer ihr beiden vorhabt, ihr solltet keine Zeit mehr verlieren.« Neriah und Matt treten einen Schritt von uns weg. Erwar tungsvoll sehen wir sie an. Vor unseren Augen verwandeln sich ihre Körper, die Gliedmaßen werden kürzer und ver schieben sich. Binnen weniger Sekunden nehmen sie die 338
Gestalt von Falken an. Sie steigen auf und flattern mit ihren beeindruckenden Flügeln. Ehrfürchtig starren wir sie an. »Hast du gewusst, dass sie das können?«, erkundigt sich Isabel bei Ethan. Er schüttelt den Kopf. Dann sieht sie mich fragend an: »Und du?« »Ich habe mal gesehen, wie Matt sich in einen Hai und in einen Delphin verwandelt hat, aber er hat es mir nie erzählt.« Plötzlich beginnt der größere Vogel, Matt, aufgeregt mit den Flügeln zu schlagen. Eine seiner Brustfedern löst sich und schwebt in Isabels ausgestreckte Hand. Als sie nach oben blickt, wird ihr Blick von Matts Vogelaugen lange erwidert. Mardukes Vogelschwarm erstreckt sich bereits über die Hälfte des Himmels. Das Falkenpaar steigt auf, um sich ihm anzuschließen. Einen Moment lang empfinde ich heftige Eifersucht. Es ist der Anblick von Matt und Neriah, die dort oben in Vogelgestalt ihre Kreise ziehen. Wie frei müssen sie sich bei jedem Flügelschlag fühlen! Als ich schließlich die Augen abwende, stelle ich fest, dass auch Dillon wie gebannt zum Himmel starrt. Er allerdings heftet den Blick auf den kleineren Vogel, Neriah. Ich lese in seinen Gedanken, dass er gerne in der Haut des Vogels neben Neriah stecken und über ebensolche Kräfte und Fähigkeiten verfügen würde. Der arme Dillon. Er hat sich in die Falsche verliebt. »Sie müssen sich beeilen«, sagt Isabel. »Ich denke, es ist ein hartes Stück Arbeit, einen Vogelschwarm dieser Größe zum Umschwenken zu bringen.« Das denke ich auch. Es sind einfach so viele. »Matt schafft das schon«, meint Shaun. Plötzlich nehme ich im Kopf eine Stimme wahr. Obwohl sie 339
klingt wie aus weiter Ferne, handelt es sich unverkennbar um eine dringende Nachricht. Es ist Arkarian. Ich hebe die Hand, damit die anderen still sind. Er meldet sich von seinen Kam mern aus. Wo ist Matt?, ruft er mir zu. Mit einem Schwarm von Mardukes Vögeln beschäftigt, erwi dere ich. Das kann noch Stunden dauern. Keine Antwort. Ich spüre förmlich, wie enttäuscht und frustriert er ist. Arkarian, was ist los? Isabel und die anderen haben bemerkt, dass es offenbar Probleme gibt, und sehen mich an. Marduke ist in Veridian! Mit seinen Kriegern bereitet er die Invasion durch die Zaunkönige vor. Schick alle verfügbaren Kräfte! Für einen Augenblick bin ich sprachlos vor Erschütterung. Mein Mund öffnet sich, aber ich bringe kein Wort heraus. »Was ist denn?«, will Isabel wissen. »Stimmt was nicht, Ro chelle?« Sie packt mich an den Schultern und schüttelt mich. »Ist Arkarian etwas zugestoßen?« Die Angst in ihrer Stimme löst meinen Schock. Ich beeile mich, sie zu beruhigen. »Nein, Arkarian geht es gut. Er hat mir eine Botschaft geschickt.« »Und?«, fragt Dillon. »Wie lautet sie?« »Marduke ist im Begriff, mit seinen Kriegern und einer Armee von Zaunkönigen in die alte Stadt einzudringen!« Wir hasten in Windeseile zurück zu Arkarians Kammern. Kaum stehen wir davor, gleitet die Geheimtür auf. Arkarian empfängt uns bereits an der Schwelle und führt uns hinein. »Wir dürfen keine Zeit verlieren, vor uns liegt eine gewaltige Aufgabe.« Isabel hält ihn auf. »Wie schlimm steht es?« Mit besorgtem Blick wendet sich Arkarian an uns alle. 340
»Nach all den Jahren ist es Lathenia gelungen, Veridian zu orten. Mit Mardukes Hilfe hat sie einen Tunnel bis unter die Stadt graben lassen. Weil sie so tief unter der Erde gearbeitet haben, dass man weder Geräusche gehört noch Erschütterun gen gespürt hat, wurden sie nicht entdeckt. Mittlerweile sind zwanzig von Mardukes Kriegern eingedrungen. Sie führen Hunderte von Zaunkönigen mit sich und haben bereits damit begonnen, die Stadt niederzureißen.« Keiner sagt etwas. So beunruhigt haben sie Arkarian noch nie erlebt. Ihre Gedanken spielen verrückt und stürmen alle gleichzeitig auf mich ein. »Bitte, beruhigt euch doch!« Isabel legt die Hand auf Arkarians Arm. »Warum reißen sie die Mauern nieder? Was um Himmels willen suchen sie denn?« »Die Technologie der Bewohner von Atlantis – den Überle benden der Unterwelt.« »Wovon sprichst du?«, fragt Isabel. Er seufzt. »Die Wachen sind nur mit Hilfe der Technologie aus Atlantis in der Lage, ihre Aufgaben zu erledigen. Auch die Geräte in meinen Kammern gehören dazu.« Er macht eine ausholende Handbewegung. »Das Hologramm und alles, was ihr sonst noch seht. Ohne diese Geräte können wir die Erde nicht vor Lathenia beschützen. Sie hat herausgefunden, wie man in die Vergangenheit reist und die ursprüngliche Festung gebaut. Mit Hilfe der Technologie aus Atlantis halten die Wachen sie davon ab, dort Unheil zu stiften.« Viele Fragen tun sich auf, aber Arkarian hebt abwehrend die Hand. »Wir haben keine Zeit für lange Erklärungen.« Doch er merkt, dass wir genauere Informationen brauchen. »Beim Untergang von Atlantis konnten einige Bewohner entkom men. Sie begaben sich auf die Suche nach einem anderen Ort, 341
wo sie leben konnten. Nach vielen Jahren kamen sie nach Angel Falls und brachten ihre Geräte hier sicher unter. Sie errichteten die alte Stadt und bewahrten sie davor, entdeckt zu werden. Diese Technologie darf Lathenia nicht in die Hände fallen. Sie würde sie dazu benutzen, ein Hologramm für die Zukunft zu bauen. Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen.« »Moment mal«, ruft Dillon. »Ist sie denn dazu überhaupt in der Lage?« Aller Augen richten sich auf Arkarian. »Ja.« Shaun tritt vor. »Arkarian, wäre es zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorteilhaft, wenn wir die Waffen aus der Waffentruhe zur Verfügung hätten? Wie sollen wir sonst mit diesen Kreatu ren fertig werden?« Arkarian fährt sich hastig durch das blau schimmernde Haar. »Meine Besorgnis rührt hauptsächlich daher … dass der Schlüssel zur Waffentruhe in Veridian liegt.« Er deutet auf die Tür, die zum Verbindungsschacht mit der Stadt führt. »Wie bitte? Dort, wo im Augenblick Zaunkönige herumlau fen und alles niederreißen?«, schreit Dillon. »Wer hatte denn die brillante Idee, ihn da unten zu verstecken? Ich wette, es war Matt.« Isabel wirft ihm einen scharfen Blick zu und Arkarian ent gegnet: »Es war eine gute Idee, Dillon. Die Stadt war elftau send Jahre lang sicher.« »Jetzt offenbar nicht mehr.« »Leider nein.« »Glaubst du, Marduke weiß, dass sich der Schlüssel dort befindet?«, schaltet sich Ethan ein. »Möglich. Er scheint seine Spione neuerdings überall zu haben.« Außer Arkarian schauen alle kurz zu mir. Dann ist es ihnen 342
peinlich. Kein Wunder! Aber das ist ja nichts Neues für mich. Ich wusste bereits, dass sie mir misstrauen. Sie können einfach nicht vergessen, dass ich einmal für Marduke gearbeitet habe. Aber bei den Wachen geht es doch gerade um Vertrauen. Den Glauben an etwas, was auf den ersten Blick nicht immer sinn voll erscheint. Genau davon hat König Richard gesprochen. Haben sie ihm denn nicht zugehört? Oder liegt es an mir? Mit Dillon scheinen sie offensichtlich kein Problem zu haben. Als Arkarian meinen Arm berührt, erfüllt mich ein warmes Gefühl der Ruhe. Ich danke ihm in Gedanken, und er wendet seine Aufmerksamkeit wieder der Gruppe zu. »Wir brauchen Matt, um den Schlüssel zu holen.« »Aber er ist nicht da«, gibt Dillon schnell zurück. »Er kann noch Stunden weg sein. Lass mich gehen, Arkarian. Ich hole den Schlüssel zurück. Wo liegt er genau?« »Jimmy hat in der Mitte des Labyrinths ein Geheimfach im Boden des Gewölbes eingelassen.« »Das klingt nicht besonders schwierig.« Dillon mag es leicht vorkommen, doch meist ist es kompli zierter, als man denkt. Arkarian lässt mich wissen, dass er meine Ansicht teilt. »Matt hat den Schlüssel verzaubert. Er hat ihn unsichtbar gemacht. Nur er kann den Zauber lösen oder den Schlüssel finden, obwohl er unsichtbar ist.« »Wie bitte?«, ruft Dillon. »Außerdem ist das Berühren des Schlüssels tödlich.« »Das darf doch nicht wahr sein. Wie sollen wir dann den unsichtbaren Schlüssel herausholen?« »Ich kann ihn berühren«, sage ich in die Stille, die auf Dil lons düstere Bemerkung folgt, und wedle mit den Händen. »Solange ich diese Handschuhe trage.« 343
Arkarian tritt mit einer goldenen Schatulle auf mich zu. »Sobald er in diesem Kästchen liegt, lässt er sich gefahrlos anfassen. Aber du kannst diese Aufgabe trotzdem nicht über nehmen, Rochelle. Du hast keine Schwingen.« »Und nun?« »Ohne die Waffen gibt es nur eine Art, die Zaunkönige um zubringen: indem man sie ertränkt. Sobald der Schlüssel aus dem Versteck entfernt wird, öffnen sich automatisch die Schleusentore. Und du darfst dich nicht in den Tiefen der Stadt aufhalten, wenn das geschieht.« Ich denke über seine Worte nach. »Wie lange wird es dau ern, bis die Stadt überflutet ist?« »Genau neun Minuten.« »Ich bin eine gute Läuferin, Arkarian. Ich schaffe es.« »Aber nicht bergauf!«, ruft Ethan dazwischen. Ich achte nicht auf ihn. Manchmal klingt es, als würde er sich etwas aus mir machen. »Lass es mich einfach versuchen.« Arkarian mustert mich kurz und schüttelt den Kopf. »Nicht ohne deine Schwingen, Rochelle. Du würdest es nicht schaf fen.« Vielleicht ist das ja meine Bestimmung. Vielleicht lässt sich die Prophezeiung doch nicht ändern. Ohne Ethan hat mein Leben sowieso keinen Sinn. Ich will keinen anderen, das weiß ich jetzt. Und wenn ich gehe, werde ich ein für alle Mal bewei sen, dass ich den Wachen treu ergeben bin. Alles, was ich tun muss, ist, den Schlüssel aus dem Geheimfach im Boden des Gewölbes zu holen und ihn sicher in diesem Kästchen zu verstauen. Damit ist meine Aufgabe erledigt. Wenn mich jemand begleitet, der Schwingen hat, kann ich ihm das Käst chen geben, und er bringt es in Sicherheit. »Das ist nicht schwer, Arkarian. Ich werde es tun.« 344
»Es muss noch einen anderen Weg geben«, widerspricht Ethan. Arkarian blickt auf meine Hände. »Zieh die Handschuhe aus.« Vorsichtig streife ich sie ab. Als meine Hände enthüllt sind, schnappen die anderen nach Luft. Seit Lorian unsere Kräfte verstärkt hat, ist die elektrische Ladung in meinen Händen immer stärker geworden. Funken in allen Farben sprühen hervor. Ich schüttle sie. Es ist angenehm, die Luft auf der Haut zu spüren. Aber durch die Bewegungen verteilen sich die Funken im ganzen Raum. Shaun und Dillon müssen sich ducken und ihr Gesicht bedecken, als mehrere der glühenden Partikel auf sie zufliegen. Arkarian sieht mich durchdringend an, während er mir die Handschuhe abnimmt. »Warum hast du nichts gesagt? Du musst doch höllische Schmerzen haben.« So was Blödes, auf seine freundlichen Worte und seinen mitfühlenden Blick hin schießen mir die Tränen in die Augen. Ich zwinkere sie schnell weg, bevor sich noch ein Sturzbach aus meinen Augen ergießt und ich mich zu Tode schämen muss. »Es geht schon«, versuche ich ihn zu beschwichtigen. »Wirklich.« Er glaubt mir nicht. Seine Gedanken sind zwar vor mir ab geschirmt, doch seine Augen sprechen Bände. Er versucht, die Handschuhe anzuziehen, aber seine Finger sind zu lang. Dann reicht er sie Shaun, dem sie allerdings auch nicht passen. Ethan hat noch breitere Hände als sein Vater und versucht es ebenfalls vergeblich. Schließlich greift Dillon danach. »Mir passen sie!« Er zieht und zerrt mit aller Kraft daran, um sie über die Finger zu bekommen, doch es ist zwecklos. Ich nehme die Handschuhe wieder an mich. »Dann ist es 345
entschieden. Ich werde gehen.« Ich nehme Arkarian die gol dene Schatulle aus der Hand und stecke sie in die Mantelta sche. »Ich begleite dich«, sagt Arkarian. »Du kletterst so schnell hinauf, wie du kannst, ja? Du bist doch auch eine gute Schwimmerin, oder, Rochelle?« Als ich nicke, fährt Ethan dazwischen: »Du wirst hier ge braucht, Arkarian.« Shaun packt seinen Sohn fest an der Schulter. »Bist du si cher, mein Sohn? Du hast deine Schwingen gerade erst be kommen. Was, wenn sie versagen?« Ethan schüttelt die Hand seines Vaters ab. »Sie werden nicht versagen.« Isabel blickt verzweifelt zwischen Ethan und Arkarian hin und her. Sie liebt beide und hat um jeden von ihnen Angst. Sie geht auf Ethan zu. »Du wirst deine Schwingen benutzen und zurückkommen, nicht wahr, Ethan?« Als Ethan die Augen auf mich richtet, erwidere ich einfach seinen Blick. Und einen Augenblick lang erfüllt mich eine Wärme, die einem Feuer tief in seinem Innern entströmt. »Ich tue mein Bestes«, erwidert er. »Aber ich kann nichts verspre chen.«
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Kapitel 25
Matt
Die Vögel fliegen höher, als ich zunächst angenommen habe. Erst beim Näherkommen erkennen wir, wie riesig sie sind. Ihr Kopf ähnelt dem eines Kondors, der Bauch dem eines Pelikans, aber sonst erinnert nichts an ein uns bekanntes Tier. Sie besitzen kleine runde Augen ohne Pupillen, die auf einer Art knochigem Wulst sitzen und wie glänzende schwarze Kugeln wirken. Lass uns die Gestalt der Beutelgeier annehmen, schlägt Neriah vor. Zwar widerstrebt es mir, mich in einen Vogel aus einer an deren Welt zu verwandeln, doch Neriah hat Recht. Es ist die beste Möglichkeit, mit ihnen in Kontakt zu treten. Ihrem Rat folgend, verändere ich gleichzeitig mit ihr meine Gestalt. Plötzlich sacken wir nach unten weg, denn es dauert einen Moment, bis wir uns an die massigen Körper, die unge wöhnliche Gestalt und die schweren Hautbeutel unter der Brust gewöhnt haben. Während wir wieder an Höhe gewin nen, überlege ich, wie es wäre, mit einem gefüllten Beutel unterwegs zu sein, und bin froh, dass meiner leer ist. Was ist denn mit dir los? Warum fliegst du mit leerem Beutel? Die Gedanken eines Beutelgeiers stürmen auf mich ein. Wa rum hast du ihn nicht gefüllt, wie es der Meister befohlen hat? Jetzt bist du den ganzen Weg umsonst geflogen! Neriah wendet kaum merklich den Kopf. Auch sie hat die Gedanken des Vogels wahrgenommen. Bald meldet sich ein 347
zweiter Vogel: Wie weit ist es noch, Lydia? Meine Flügel erlah men allmählich von der schweren Last. Tja, Justin, erwidert der erste Vogel mit dem menschlichen Namen Lydia, wenn du unserem Meister bei der Unterweisung genau zugehört hättest, dann wüsstest du, dass wir fast da sind! Justin! Noch ein menschlicher Name! Während der Reise in die Unterwelt hatte ich mich mit einem Zaunkönig namens John angefreundet. Der Name war der einzige Hinweis auf sein früheres Leben. Doch Lydias letzter Kommentar gibt mir das passende Stichwort. Ich richte meine Gedanken an sie. Du irrst dich, Lydia. Wir sind noch weit von unserem Ziel entfernt. Wer war das? Sag mir, wer du bist! Der Meister hat mich gesandt, um dafür zu sorgen, dass du die richtige Route einhältst. Was du allerdings nicht getan hast. Der Meister wird sehr zornig darüber sein, dass du alle in die falsche Richtung geführt hast. Da wir nun wissen, wer die Anführerin ist, fliegen Neriah und ich näher und nehmen sie in unsere Mitte. Was redest du da?, will Lydia wissen und dreht den Kopf von mir zu Neriah. Ich habe die Koordinaten des Meisters genau befolgt. Sieh doch nach unten. Da ist der See und dort drüben die Schule. Neriah wirft mir einen durchdringenden Blick zu und schaltet sich ein. Lydia, der Meister hat in letzter Minute seine Pläne geändert. Er hat uns geschickt, um dir die neuen Koordi naten zu bringen. Du musst den Schwarm umleiten. Lydia schweigt verwirrt. Neriah klingt sehr überzeugend. Neriah spürt, dass Lydias Widerstand nachlässt und fährt fort. Es ist gar nicht mehr weit. Nur noch eine kurzes Stück, erst in nördlicher, dann in westlicher Richtung. 348
Aber wir kommen doch von Norden! Was soll das alles? Lydia ist nicht die Einzige, die sich das fragt. Neriah setzt zu einer Erklärung an. Der Meister hat von einem geheimen Tref fen der Wachen erfahren, das zu dieser Stunde mitten im Wald von Angel Falls stattfindet. Er möchte, dass ihr eure Ladung genau dort abwerft, wo sich die hochrangigsten Krieger der Wachen versammelt haben. Ich halte mich raus. Neriah macht das einfach fantastisch. Lydia frisst ihr beinahe aus der … Klaue. Unter uns ist die Schule schon deutlich zu erkennen. Wir müssen die Beutelgeier so schnell wie möglich dazu bringen, ihren Kurs zu ändern, sonst ist es zu spät. Wenn sie erst ein mal direkt über der Schule und der Stadt sind, wird sie kaum noch etwas davon abhalten können, das Gift abzuwerfen. Du musst dich irren!, kreischt Lydia protestierend. Ich irre mich nicht. Neriah setzt sich an die Spitze und ich folge ihr. Natürlich gehen wir damit ein großes Risiko ein, denn auf diese Weise könnten wir am Ende den Schwarm verlieren. Die Vögel werden müde, und womöglich ist es zu viel verlangt, dass sie zwei Fremden auf einen neuen Kurs folgen sollen, obwohl sie ihr ursprüngliches Ziel schon fast erreicht haben. Ich glaube, ihr lügt, sagt Lydia und bewegt den Kopf hin und her. Dort unten liegt unser Ziel. Und dann befiehlt sie ihrem Schwarm: Bereit machen zum Abwurf! Du bist diejenige, die dich irrt!, erklärt Neriah ruhig, aber bestimmt. Der Meister spricht durch mich. Sein Befehl lautet: Fliegt zum Wald! Dies ist die Gelegenheit für ihn, die mächtigs ten Krieger der Wachen zu vernichten! Anstatt einer Antwort legt Lydia den Kopf schief, als könne sie nicht glauben, was sie da hört. Du wagst es zu behaupten, 349
der Meister würde durch dich sprechen! Ich bin der Liebling des Meisters. Mich zieht er allen anderen vor! Sag mir endlich, wer du bist. Auf der Stelle! Neriah fliegt eine elegante Wendung und segelt zurück, bis sie Schnabel an Schnabel mit Lydia in der Luft steht. Ich werde dir sagen, wer ich bin, und zwar ein für alle Mal: Ich bin die Tochter des Meisters! Lydia ist sprachlos. Neriahs Aussage erscheint ihr glaub würdig. Und dass es tatsächlich wahr ist, verraten ihr Neriahs schwarze Augen. Die Anführerin ist um eine Antwort verle gen. Es erscheint ihr undenkbar, sich über einen einmal erhal tenen Befehl des Meisters hinwegzusetzen. Und dennoch, dies hier ist des Meisters Tochter, sein eigen Fleisch und Blut! Zum Wald, sagst du? Neriah seufzt. Nun, da sie gewonnen hat, entspannt sie sich ein wenig. Folgt mir, ich werde euch den Weg weisen. Sie begibt sich wieder an die Spitze des Schwarms und hält sich Richtung Norden. Ich fliege dicht hinter ihr. Zum Glück schließt sich Lydia an, und ihr Befehl wird rasch an die unge fähr tausend Beutelgeier weitergegeben. Der Kurswechsel erfolgt in einem gewaltigen Bogen, immer mit Blick auf die Schule. Doch endlich haben wir das Schulge lände hinter uns gelassen. Wir erkennen den See mit der imposanten Bergkulisse dahinter. Neriah schwenkt leicht nach Westen und führt den Schwarm über das Dickicht in der Mitte des Waldes. Als wir vorüberziehen, bleiben die Leute stehen und sehen staunend nach oben. Einige ducken sich sogar beim Anblick eines solch riesigen und Furcht einflößenden Schwarms, aber die meisten stehen einfach nur mit offenem Mund da. Noch nie haben sie so eine riesige Menge Vögel in Formation gesehen. 350
An der Stelle, an der der Wald am dichtesten ist, nimmt Ne riah mit allen dort lebenden Tieren Kontakt auf und rät ihnen, das Gebiet auf dem schnellsten Weg zu verlassen. Dann erklärt sie Lydia, dass wir unseren Bestimmungsort erreicht hätten. Es ist ein eigenartig faszinierender Anblick, als die Beutel geier ihre Fracht abwerfen. Das Gift sieht aus wie feiner Staub, und mir fällt ein, dass es aus Tausenden zerriebener Blüten blätter besteht. Der graue Staub, der an Asche erinnert, legt sich auf die Baumkronen und löst sich auf, sobald er auf das feuchte Laub trifft. Die letzten Reste des Gifts werden von einer Brise erfasst und ein wenig davon legt sich auch auf meine Klauen. Ich versuche es rasch abzuschütteln, aber das Gefühl, das es auf meiner lederartigen Haut auslöst, ist seltsam vertraut und ruft eine Erinnerung wach. Das Gleiche habe ich schon einmal empfunden. Es war im Palasthof in Athen. Der Staub auf dem Käfig der zwei goldenen Vögel! Aber was hat das zu bedeuten? Sind die Vögel vergiftet worden? Laut Lady Arabella wehte der Nachtwind den Staub herbei. Aber wer schickt ihn? Ich spähe zu Neriah hinüber. Ob ich ihr von meinem Ver dacht erzählen soll? Doch ihre Aufmerksamkeit gilt den Beu telgeiern und vor allem Lydia, die plötzlich erschöpft und verloren wirkt. Einen Augenblick lang habe ich genau wie Neriah Mitleid mit Lydia. Bei ihrer Rückkehr in die Unterwelt wird sie Mar duke gegenübertreten müssen. All die Jahre, in denen er den Garten nur für diesen einen Zweck gehegt und gepflegt hat. Er wird außer sich sein vor Zorn. Aber wie soll man ein Wesen bestrafen, das bereits tot ist? Gewiss wird Marduke einen Weg finden. 351
Neriah nimmt meine Gedanken wahr und ist ganz durch einander. Auch wenn die Beutelgeier geplant haben, Zerstö rung und Chaos nach Angel Falls zu bringen, sind sie doch nur einer Anweisung gefolgt. Sie kämpften für ihre Sache. Kreischend fliegt Lydia im Kreis. Sie hat die Orientierung verloren und gerät in Panik. Wir haben die anderen Wachen nun schon vor geraumer Zeit verlassen, und mich beschleicht das Gefühl, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Wir können sie nicht sich selbst überlassen! Neriah hat Recht. Wir müssen ihnen den Weg zurück zei gen. Doch das Gefühl, dass meine Kräfte gebraucht werden, wird mit jedem Flügelschlag stärker. In Veridian gibt es Prob leme! Ich weiß. Ich spüre es auch. Matt, du musst gehen. Die Beutel geier vertrauen mir. Ich werde sie zurückführen und sichergehen, dass sie alle wieder durch den Spalt verschwinden. Es ist mir gar nicht wohl dabei, Neriah mit tausend umher irrenden Vögeln aus einer anderen Welt allein zu lassen. Wenn sie nun merken, dass wir sie zum Narren gehalten haben? Wenn sie sich gegen sie wenden? Mir wird schon nichts passieren, beschwört sie mich. Ich komme bald nach. Mir bleibt keine andere Wahl. Rasch verwandle ich mich wieder in einen Falken und mache mich auf den Weg nach Veridian.
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Kapitel 26
Rochelle
Überall wimmelt es von Zaunkönigen. Von Nahem sehen sie wirklich abscheulich aus. Ihre runden, rot glühenden Augen sind selbst in den düsteren Gängen der alten Stadt deutlich zu erkennen. Die Zaunkönige ähneln Schweinen, besitzen jedoch eigentümliche, unbeholfen wirkende Flügel und menschliche Hände und Füße. Diese Hände mit den langen Fingern sind ihr wichtigstes Werkzeug. Außerdem tragen sie Waffen bei sich – Äxte, Meißel und Hämmer –, die sie dazu einsetzen, die Wände niederzureißen. Uns beachten sie zunächst gar nicht und lassen uns unbehelligt passieren. Zu sehr sind sie damit beschäftigt, Schichten aus altem Holz, Lehm und Ziegeln abzutragen. Plötzlich stehen wir vor einem Abgrund. Zu unseren Füßen gähnt ein endloses schwarzes Nichts. Es ist unmöglich auszu machen, wie tief die Schlucht ist. Ich bin schon einmal hier gewesen, mit Arkarian. Der einzige Weg auf die andere Seite führt über eine unsichtbare Brücke. Sie muss hier irgendwo sein. Und wenn ich mich richtig erinnere, geht sie direkt von dem gepflasterten Weg ab, auf dem wir uns befinden. Ich schenke dem nervösen Flattern in meinem Magen keine Beachtung, sondern vergegenwärtige mir noch einmal die Breite des Weges. Dann drehe ich mich nach links und mache einen Schritt vorwärts. Als ich festen Boden unter den Füßen spüre, atme ich erleichtert auf. Mit neuem Selbstvertrauen laufe ich weiter und gelange sicher zur anderen Seite. 353
Ethan, der mir gefolgt ist, blickt mich anerkennend an. »Du hast nicht eine Sekunde gezögert.« Ich werde ihm ganz sicher nicht auf die Nase binden, dass sich meine Beine wie Wackelpudding anfühlten! »Damit Isabel den Abgrund zum ersten Mal überqueren konnte, musste ich die Illusion einer Brücke für sie erzeugen.« »Für mich war es aber nicht das erste Mal«, entgegne ich. »Und außerdem bin ich nicht Isabel.« »Nein«, sagt er und sieht mir direkt in die Augen. »Ganz gewiss nicht.« Wenn ich nur wüsste, wie er das meint! Während ich seinen Blick erwidere, versuche ich seine Gedanken zu lesen. Aber er hat sie perfekt abgeschirmt. Das überrascht mich, denn übli cherweise bekommt er das nicht so gut hin. »Was dagegen?«, fragt er mit einem schiefen Grinsen. »Im Übrigen würde ich es begrüßen, wenn du dich in Zukunft aus meinem Kopf heraus hältst.« Unwillkürlich muss ich lächeln. »Wahnsinn«, murmelt er. »Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich dich lächeln sehe.« Ein schlichter Satz, der mir jedoch den Wind aus den Segeln nimmt. »Du solltest das öfter tun«, fügt er hinzu. Er geht weiter, während ich stehen bleibe und ihm nach starre. In meinem Kopf herrscht ein einziges Durcheinander. »Komm!«, ruft er. In diesem Moment wirft mich etwas Schweres zu Boden. Ich krümme und winde mich und versuche mit aller Kraft, das Gewicht abzuschütteln. Wild mit den Flügeln flatternd, hält mich der Zaunkönig umklammert. »Ethan!«, stoße ich hervor, aber er ist bereits an meiner Seite. 354
Beherzt zerrt er den Zaunkönig an den Flügeln von mir herunter und tritt ihn in den Bauch, so dass dieser über den Rand der Schlucht stürzt. Doch da eilt bereits ein zweiter halb laufend, halb fliegend über die unsichtbare Brücke. Ethan hilft mir auf. »Nichts wie weg von hier!« Wir hasten einen schmalen gepflasterten Pfad entlang, ver folgt von weiteren Zaunkönigen, die rasch aufholen. Als ich einen Blick zurückwerfe, sehe ich, dass es immer mehr wer den. Unglücklicherweise nehmen wir die falsche Abzweigung und landen in einer Sackgasse. Fünf Zaunkönige schneiden uns den Weg ab. Offensichtlich können sie es kaum erwarten, uns zu töten. Vor Erregung sabbernd und grunzend drängen sie heran. Ethan verteidigt sich mit Faustschlägen und Tritten. Ich ziehe meine Handschuhe aus und stopfe sie eilig in die Tasche. Funken stieben durch die Luft und lenken die Angreifer einen Augenblick ab. »Na, komm schon!«, fordere ich den mir am nächsten stehenden Zaunkönig heraus. Er macht einen Satz und wirft mich durch den Aufprall um, doch dadurch ist sein Nacken ungeschützt. Ich lege nur leicht die Hände auf und der Zaunkönig bricht mit einem hohen, schrillen Schrei zusam men. Innerhalb kurzer Zeit liegen alle fünf auf dem Boden, jeder mit von Verbrennungen entstelltem Hals. Schnell streife ich mir wieder die Handschuhe über, um nicht aus Versehen Ethan zu verletzen. Die elektrische Span nung in meinen Händen stellt eine Gefahr dar. Ich darf gar nicht darüber nachdenken. »Wir sollten uns beeilen.« Bald sind wir wieder auf dem richtigen Weg gelandet. Schließlich erreichen wir eine Stelle, von der aus man eine 355
gute Aussicht über die niedriger gelegenen Teile der Stadt hat. Was wir da sehen, lässt uns unwillkürlich innehalten. Wir lehnen uns gegen das Eisengeländer und starren hinunter. Unmengen von Zaunkönigen sind dabei, die Stadtmauern einzureißen. Technische Geräte wie jene in Arkarians Kam mern kommen zum Vorschein. Im Schein der Fackeln, die die Krieger bei sich tragen, blitzt es silbern und kupfern auf. Einige der Geräte sind bereits zerlegt und werden zum Ab transport auf Karren geladen. Schwarz gekleidete und mas kierte Krieger führen die Aufsicht. Ich frage mich, wer sie wohl sind und ob ich einen von ihnen aus meinem normalen Alltag kenne. Ethan tippt mich auf die Schulter. »Wir sind schon ganz in der Nähe des Labyrinths. Lass uns keine Zeit verlieren. Sieht so aus, als würden die Karren bald weggebracht werden.« Wenige Minuten später befinden wir uns vor dem Eingang zum Labyrinth. Nachdem wir ein paar Mal in die Irre gegan gen sind, gelangen wir endlich zur Mitte. Und plötzlich stehe ich vor der Wand, in die die Prophezeiung eingemeißelt ist. Mein Blick wandert zu der Stelle, die sich auf mich bezieht. Ob sich etwas verändert hat? »Tu’s nicht«, beschwört mich Ethan. Er hat Recht. Will ich es wirklich wissen? Arkarian hat mir die Prophezeiung schließlich nur aus einem einzigen Grund gezeigt: weil ich darauf bestanden habe. Ich hoffte, es würde meine Zweifel zerstreuen und mich überzeugen, dass ich auserwählt bin. Ethan betrachtet mich mit durchdringendem Blick. »Kommst du?« Als ich nicke, richtet Ethan seine Aufmerksamkeit wieder auf die Tür zum Gewölbe. Auf seine Aufforderung hin gleitet 356
sie lautlos zurück. Zu unserer Erleichterung ist der Raum leer. Sofort mache ich mich daran, das im Boden eingelassene Geheimfach im Zentrum des Gewölbes zu erspüren. Ich ziehe einen Handschuh aus und lege die bloße Hand auf den silber nen Bodenbelag. Der Hohlraum befindet sich direkt unter meiner Hand. Als ich den Handschuh wieder angezogen habe, schiebe ich die Verkleidung über dem Geheimfach beiseite. Es ist nicht viel größer als das goldene Kästchen in meiner Tasche. Aber in Wahrheit ist das Fach gar nicht leer. Es enthält den Schlüssel, der für das menschliche Auge derzeit unsichtbar ist. »Ist er da?«, fragt Ethan. Ich ziehe die goldene Schatulle aus meiner Tasche und stelle sie geöffnet auf den Boden. »Sei vorsichtig«, mahnt Ethan. »Überprüfe lieber noch ein mal, ob deine Handschuhe auch richtig sitzen.« »Sie sitzen perfekt«, beruhige ich ihn und will in den Hohl raum greifen. »Warte!« Als ich fragend aufblicke, erklärt er: »Sieh nach, ob du keine Löcher in den Handschuhen hast. Vielleicht wurden sie beim Kampf mit den Zaunkönigen beschädigt.« »Sie sind unzerstörbar, Ethan. Sonst könnte ich ja auch den Schlüssel nicht anfassen.« Endlich ist er zufrieden. Vorsichtig schiebe ich meine Hand in das Fach und ertaste den Schlüssel. Obwohl er eng einge passt ist, gelingt es mir rasch, meine Hand darum zu legen. Ein Ruck, und er löst sich. Einen Augenblick herrscht Stille, dann ertönt ein Klicken. Jimmys Sicherheitssystem hat sich eingeschaltet und das Offnen der Schleusentore ausgelöst. In wenigen Minuten wird die gesamte Stadt überflutet werden und alle Zaunkönige vernichten. 357
»Liegt er schon in der Schatulle?«, ruft Ethan. Behutsam lasse ich den Schlüssel in das Kästchen gleiten und schließe den Deckel. Indem ich mich noch einmal verge wissere, dass er auch dicht schließt, überreiche ich es Ethan. »Fertig.« Er verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln. Der erste Teil unserer Mission ist erfüllt. Jetzt müssen wir auf schnells tem Weg hier raus. Für Ethan ist das natürlich leichter zu bewerkstelligen als für mich. Irgendwo in der Nähe strömt schon das Wasser des Sees herein, aber noch bin ich trocken. Wenn ich mich beeile, komme ich vielleicht auch mit heiler Haut davon. Ethan steckt das Kästchen unter seinen Pullover. »Los, lauf!« Ein Schatten verdunkelt die Türöffnung. Wir sind nicht mehr allein, die Chance auf eine rasche Flucht ist vertan. Ich weiß, wer da steht, auch ohne einen Blick auf dieses Ungeheu er zu werfen. Das Böse, das von ihm ausströmt, kann ich überall und zu jeder Zeit spüren, sogar wenn ich schlafe. Werde ich denn niemals frei sein? Marduke hebt die Fäuste und brüllt triumphierend. Und da kapiere ich. Er muss gewusst haben, dass der Schlüssel ir gendwo in der Stadt versteckt ist und wir kommen würden, um ihn zu holen. Wir haben ihm direkt in die Hände gespielt. »Ethan, verzieh dich!«, zische ich. Aber Ethan sieht mich nur an. »Nicht ohne dich.« Wie kann man bloß so stur sein! »Was soll das? Geh!« »Nein.« Marduke lacht spöttisch. »Hältst du das für den richtigen Zeitpunkt, den edlen Ritter zu spielen?« »Ich besitze mehr Ehrgefühl im kleinen Finger, als du in tausend Leben je haben könntest.« 358
»Mag sein. Aber dein Ehrgefühl wird dir nicht das Leben retten.« Mardukes Blick schweift zu mir. »Oder ihr. Jetzt gib mir die Schatulle.« »Vorher musst du mich töten.« Marduke macht ein Geräusch, das wie das Zischen einer Schlange klingt. Spucke tropft aus seinem schnauzenähnlichen Mund. »Du hast mein Leben ruiniert! Dich zu töten wird mir ein Vergnügen sein!« Noch nie habe ich Marduke so irr erlebt. Er ist verrückt. »Ethan, verschwinde einfach. Benutze deine Schwingen und bring den Schlüssel in Sicherheit!« Plötzlich werden wir alle durch ein unheimliches Rauschen abgelenkt. Marduke lauscht angestrengt und versucht heraus zufinden, was es mit dem immer stärker anschwellenden Brausen auf sich hat. Ethan und ich wissen natürlich, was es ist – das Wasser aus dem See. Und so wie es sich hier unten anhört, ist es nicht mehr sehr weit entfernt. Im nächsten Augenblick ergießt sich ein Riesenschwall in das Gewölbe und schleudert uns alle drei gegen die Wand. »Was ist das?«, bellt Marduke. »Die Stadt wird geflutet! Meine Zaunkönige!« Nach der ersten Welle stehen wir hüfttief im Wasser. Mar duke starrt uns mit seinem rot glühenden Auge an, dann macht er einen Satz, packt mich um die Taille und dreht mir die Arme auf den Rücken. »Gib mir den Schlüssel, oder ich lasse sie erst los, wenn es für eine Rettung zu spät ist!« Ich suche Ethans Blick und flehe ihn an abzuhauen. Aber Ethan hat etwas anderes im Sinn. »Du darfst sie nicht töten, es sei denn, du willst noch vor Sonnenuntergang sterben.« Mardukes eiserner Griff wird fester. Ich versuche, die Handschuhe abzustreifen, aber es ist, als würde ich in einem 359
Schraubstock stecken. »Ich bin kein Dummkopf, mein Junge. Ich weiß von dem Fluch. Aber nicht ich werde sie töten. Ihr Schicksal war von dem Moment an besiegelt, in dem sie den Fuß in diese Stadt gesetzt hat.« Sein Auge blickt zu mir herun ter. »Wusste ich’s doch, dass es eine kluge Entscheidung war, dir deine Schwingen noch nicht zu geben.« Ethan wirft sich mit aller Kraft gegen Mardukes Schulter. »Lass sie los!« Ebenso gut hätte er einen Felsblock rammen können. Da grollt die nächste Woge durch die Gänge. Marduke brüllt. Er leidet Höllenqualen, denn jede neue Welle löscht mehr von seinen Zaunkönigen aus. Ihre Schreie sind deutlich zu ver nehmen. Marduke hält mich fest umklammert. Noch einmal ver sucht Ethan, ihn ins Straucheln zu bringen. Eine dritte Welle strömt herein und überflutet das Gewölbe bis unter die Decke. Während Marduke mich unter Wasser drückt, versucht Ethan verzweifelt, meine Arme aus Mardukes Griff zu befreien. Doch Marduke ist fest entschlossen, mir keine Überlebenschance zu lassen. Ich stelle mich tot. Als er das Gefühl hat, mich erledigt zu haben, macht er sich mit Hilfe seiner Schwingen davon. Endlich bin ich frei. Ethan zieht mich mit sich, und wir schwimmen um unser Leben, raus aus dem überfluteten Gewölbe. Eine Ewigkeit scheint zu vergehen, bevor wir endlich die Wasseroberfläche erreichen. Um Atem ringend, zwänge ich mich an unzähligen Zaunkönigen vorbei. Ihr Kreischen zerrt an meinen Nerven. In ihrer Panik stolpern sie übereinander und stoßen sich gegenseitig um. Da entdeckt Ethan eine Treppe. Während wir mit zittern den Knien aus dem Wasser taumeln, rollt eine neue Welle 360
heran. Wir laufen, so schnell es unsere voll gesogenen Kleider erlauben. Ich schüttle meinen tropf nassen Mantel ab, der mich behindert. Als uns die Welle einholt, lassen wir uns von ihr mittragen und bemühen uns, den Kopf über Wasser zu halten. Doch wir haben die Wucht der Woge unterschätzt. Sie schleudert uns gegen Wände, Zaunkönige und ertrinkende Krieger, von denen einer sich an Ethan klammert. Er ist groß und schwer und zieht Ethan in dem Versuch, sich zu retten, unter Wasser. Ich packe den Krieger bei den Haaren und versetze ihm einen Faustschlag ins Gesicht, woraufhin er von Ethan ablässt. Schließlich schleppen wir uns eine zweite Treppe hinauf. Ich weiß nicht, wie lange ich dieses Tempo noch beibehalten kann. Bis oben ist es noch so weit! »Du schaffst es!«, feuert mich Ethan an. »Du wirst es schaf fen, hörst du!« Da erreicht uns die nächste Flutwelle und schickt uns auf eine Art Achterbahnfahrt, rauf und runter, gegen Wände und in Durchgänge, die sich rasch mit Wasser füllen. Am Ende finden wir uns in einer Sackgasse wieder. Das Wasser steht bis knapp unter die Decke. Wir können gerade noch den Kopf aus dem Wasser heben und nach Luft schnappen. Ethan packt mich am Arm. »Schnell raus hier, sonst sitzen wir in der Falle!« Wir arbeiten uns zum offenen Ende des Korridors vor, als uns eine Erschütterung herumwirbelt und gegen die Mauer drückt. Das Wasser ist voller Unrat, die wenige verbliebene Luft rauchgeschwängert und staubig. Aber das Schlimmste erwartet uns noch. Da die Wände hier vorne ausgehöhlt wor den sind, um die darin verborgene Technologie zu entfernen, sind sie zusammengebrochen und blockieren den Ausgang. 361
Wir versuchen, die Ziegel beiseite zu räumen. Doch bald müssen wir feststellen, dass sich der größte Teil der Trümmer nicht bewegen lässt. Sie sind völlig ineinander verkeilt! Da hören wir auch schon die nächste Welle heranbrausen! In Kürze wird alles unter Wasser stehen, und es gibt keinen Ausweg. Ein letztes Mal hechten wir zur Oberfläche und holen tief Luft. »Du musst deine Schwingen benutzen, Ethan. Dir bleibt jetzt keine andere Wahl.« »Oh doch, man hat immer eine Wahl«, widerspricht er. »Und ich habe mich dagegen entschieden.« »Meine Güte, Ethan! Was ist mit dem Schlüssel?« »Sie werden ihn finden«, sagt er sanft. Ich brauche eine Weile, bis ich kapiere, was er meint. »Nein, das kannst du nicht tun! Hör zu, Ethan, du darfst dein Leben nicht wegwerfen. Was hätte das für einen Sinn?« Mit ohrenbetäubendem Getöse nähert sich die verhängnis volle Welle. »Ich gehe nicht«, sagt Ethan fest. »Ich werde dich nicht al lein sterben lassen.« Ungläubig starre ich ihn an. Das kann doch nicht sein Ernst sein! Doch die Ruhe, die sein Blick ausstrahlt, verrät mir, dass er es sehr wohl ernst meint.
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Kapitel 27
Matt
Als ich in Arkarians Kammern eintreffe, ist das Gefühl einer drohenden Katastrophe so stark, dass mir die Hände zittern. Arkarian nimmt vor mir Gestalt an. Seine Kleidung hängt ihm in Fetzen vom Leib, die eine Gesichtshälfte ist mit Blutergüs sen und roten Striemen bedeckt. Entsetzt packe ich ihn bei den Schultern. »Was geht hier vor?« »Die Zaunkönige sind überall! Sie reißen die Mauern nie der!« Ein knarrendes Geräusch lenkt meine Aufmerksamkeit auf die Tür, die den Eingang zum Schacht in die Stadt verbirgt. Sie schwingt auf und Isabel, Dillon und Shaun taumeln herein. Alle drei sind ebenso schlimm zugerichtet wie Arkarian. Shaun hält sich den Arm, Blut quillt unter seinen Fingern hervor. »Wir können nicht mehr hinunter!« Isabel kämpft mit den Tränen, während sie vorsichtig Shauns verkrampfte Finger löst und seinen Arm zu heilen beginnt. »Das Wasser steht schon sehr hoch, ständig strömt mehr nach. Hunderte von Zaunkönigen sind bereits umgekommen.« »Die Stadt wurde geflutet?«, frage ich erstaunt. Sie unter Wasser zu setzen war immer als letzter Ausweg gedacht gewe sen. Allmählich fängt Arkarian sich wieder. »Es gab keine andere Lösung.« 363
»Und was ist mit dem Schlüssel?« Alle blicken sich plötzlich suchend im Raum um, doch nicht wegen des Schlüssels. »Wer fehlt alles?« »Jimmy ist ebenfalls im Begriff, die Stadt zu verlassen. Ich habe es nicht geschafft, Marcus zu benachrichtigen, er muss also noch in der Schule sein«, sagt Arkarian. »Wo sind Ethan und Rochelle?« Arkarian sieht mir fest in die Augen. »Sie wollten den Schlüssel holen.« Ich warte keine weiteren Erklärungen ab. Mir ist klar, was ich zu tun habe: Ich muss hinuntergehen und sie rausholen. Weil die Stadt jedoch so weitläufig ist, werde ich sie zunächst einmal orten müssen. Mit geschlossenen Augen konzentriere ich mich auf die Suche. Düsternis umgibt mich. Nur in den höher gelegenen Bereichen, die noch nicht unter Wasser stehen, lodern einige Fackeln. In meiner Vorstellung streife ich durch die Gänge, durch leere Nebengebäude und Korridore. Sie nehmen kein Ende! Ich versuche es erneut und dringe diesmal tiefer in die überfluteten Bereiche vor. Überall treiben Zaunkönige im Wasser, ab und zu entdecke ich auch einen Krieger. Ich tauche noch weiter hinab. Wo könnten sie nur sein? Mir fällt eine zerstörte Mauer auf, in deren Umkreis das Wasser getrübt ist. Anscheinend ist sie eben erst eingestürzt. Als ich sie näher untersuche, entdecke ich eine schmale Öff nung und schlüpfe in Gedanken hindurch. Plötzlich sehe ich die beiden. Sie versuchen, den Eingang frei zu räumen, kom men jedoch nur langsam voran. Und mit jedem Ziegel, den sie beiseite schaffen, schwinden ihre Kräfte mehr und mehr. »Oh, nein! Verflixt!« »Was hast du gesehen?«, fragt Arkarian. »Erzähl es uns!« 364
Aber dazu ist keine Zeit. Jetzt kommt es auf jede Sekunde an! Ich hole tief Luft, löse mich auf und nehme direkt an der zusammengestürzten Mauer, hinter der Ethan und Rochelle gefangen sind, wieder Gestalt an. Das Wasser ist so kalt, dass ich zu zittern beginne. Rasch passe ich meine Körpertempera tur an, konzentriere mich und beschwöre die Gabe der Kör perkraft in meine Hände. Dann mache ich mich daran, die Ziegel wegzuräumen. Wie Ping-Pong-Bälle fliegen sie nach links und rechts. Innerhalb weniger Sekunden ist der Durch gang wieder frei. Vor mir öffnet sich ein düsterer und eben falls komplett überfluteter Raum. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, kann ich die Umrisse zweier Körper erkennen. Ethan und Rochelle leben noch, sind aber nahe daran, das Bewusstsein zu verlieren. In dieser Tiefe haben sie ohne Hilfe keine Chance. Da sie spüren, dass jemand in der Nähe ist, drehen sie sich um. Sie haben den starren Blick von Menschen, die sich mit letzter Kraft ans Überleben klammern. Ich wirble herum und atme ein wenig aus, um den Druck in meinen Lungen zu verringern. Ich muss etwas unternehmen, und zwar schnell! Vorsichtig taste ich die Wände ab. Hat nicht Arkarian erzählt, hier gäbe es überall Geheimgänge und versteckte Hohlräume? Mit den Fäusten schlage ich gegen die Decke über mir. End lich geben die verrotteten Balken nach. Dahinter verbirgt sich eine Luftblase mit dem so dringend benötigten Sauerstoff. Zumindest können wir die Köpfe über Wasser halten. Ethan und Rochelle atmen die abgestandene, aber lebensret tende Luft tief ein. »Das war knapp«, stößt Ethan keuchend hervor. »Ihr habt den Schlüssel.« Das ist eine Feststellung. Wenn ich ihm so nahe bin, kann ich ihn spüren. 365
»Ja, aber Marduke hätte es beinahe vereitelt. Er hat gewusst, dass sich der Schlüssel in der Stadt befindet. Was jetzt?« »Benutze deine Schwingen und sieh zu, dass du hier raus kommst«, befehle ich ihm. »Aber …« »Los jetzt, Ethan! Ich werde Rochelle in Sicherheit bringen.« Er zögert und ist offenbar drauf und dran, mit mir Streit anzufangen. »Geh endlich!« Schließlich nickt er ergeben und verschwindet. Rochelle seufzt erleichtert auf. »Du kannst mich jetzt allein lassen.« Ich schüttle nur den Kopf. Wir wissen beide, dass diese Luftblase nur bis zur nächsten Welle bestehen wird, aber glaubt sie etwa, ich würde sie hier dem sicheren Tod überlas sen? »Ich werde mich gleich umdrehen«, erkläre ich ihr. »Wenn ich sage ›Jetzt!‹, möchte ich, dass du so tief Luft holst, wie du kannst, und dich auf meinen Rücken setzt. Verstanden?« Zwar blickt sie mich stirnrunzelnd an, aber sie nickt. Ein Brausen kündet von der Ankunft der nächsten Flutwel le. »In Ordnung, los geht’s.« Wieder nickt sie. Ich wende ihr den Rücken zu und kon zentriere mich. »Jetzt!« Sie atmet tief ein und klammert sich an meine Schultern. Als die Woge durch die Öffnung hereinströmt, die ich uns vorhin gebahnt habe, verwandle ich mich in einen Delphin und schwimme los. Pfeilschnell gleite ich durchs Wasser und weiche dabei he rabsinkenden Trümmern und ertrunkenen Zaunkönigen aus. Als wir den höchsten Punkt der Stadt erreicht haben, nehme 366
ich wieder meine menschliche Gestalt an und helfe Rochelle auf einen trockenen Felsvorsprung hinauf. Ethan hat auf uns gewartet und führt uns in den Aufzugschacht. Sobald sich die Türen schließen und wir nach oben transportiert werden, brechen Ethan und Rochelle am ganzen Körper zitternd zusammen. »Decken, schnell!«, ruft Isabel bei unserem Anblick. Arkarian zaubert drei Stück herbei. Eine davon wirft er mir zu. In diesem Moment stürzt Jimmy durch einen Seitenein gang herein. »Die Stadt steht völlig unter Wasser.« Bei Jimmys plötzlichem Erscheinen drängt sich mir die Fra ge auf, woher Marduke wohl wusste, dass der Schlüssel in Veridian versteckt war. Außer Arkarian kannte nur Jimmy das Geheimfach. Arkarian liest meine Gedanken und packt mich grob am Arm. »Was soll das?« Ich habe den Verdacht, Jimmy könnte … Nein! Du tust ihm Unrecht! Aber Arkarian, wie kannst du davon so überzeugt sein? Schließlich ist Jimmy für alle Sicherheitsvorkehrungen zuständig. Er war der Einzige, der außer mir in das Versteck des Schlüssels eingeweiht war. So einfach ist das nicht. Vielleicht hat Marduke Ethan und Rochelle von dem Moment an beobachtet, in dem sie die Stadt betraten. Ihm war klar, dass sie ihn zum Versteck führen wür den, sollte der Schlüssel in der Stadt verborgen sein. Obwohl Arkarian natürlich Recht hat, werde ich meine Zweifel nicht los. Woher wusste Marduke überhaupt, dass man die Stadt vom See aus erreichen kann? Ein Tunnel, der von Neriahs Haus ausging, endete dort. Nachdem das Haus angegriffen worden war, haben wir ihn 367
versperrt, aber Marduke hatte bis dahin vielleicht schon in Erfahrung gebracht, wohin er führte. »Was ist los?«, fragt Jimmy. »Ich versuche herauszufinden, wie Marduke deine Sicher heitsvorrichtungen hat durchbrechen können.« Er zuckt verwirrt die Achseln. »Ich wünschte, ich könnte es dir sagen, Matt.« »Vielleicht kannst du es sogar, willst aber nicht.« Wachsam sieht er mich an. »Was meinst du damit?« Dann seufzt er resigniert auf »Matt, sag jetzt bloß nicht, dass du mich für den Verräter hältst. Meine Güte, du kannst doch nicht …« Plötzlich erinnere ich mich, mit welchem Vertrauen und welcher Wertschätzung mein Vater von Jimmy gesprochen hat, und weiß im selben Augenblick, dass ich einen Fehler gemacht habe. »Nein«, beteuere ich, »ich verdächtige dich nicht.« »Aber ich lese es in deinen Augen. Matt, ich lebe in deinem Haus, ich beschütze deine Mutter und deine Schwester und jetzt auch noch Neriah. Du musst mir einfach vertrauen.« Er hat Recht. Jimmy sollte wirklich der Letzte sein, an dem ich zweifle. Wie bin ich nur darauf gekommen, dass er der Verräter sein könnte? Im Raum wird es still. Jimmys Blick wandert zu Rochelle. Er geht zu ihr hinüber und zieht sie am Arm. »Rochelle, leg mir deine Hand auf. Sag ihnen, dass ich nicht der Verräter bin. Komm schon, Mädchen.« Aber Rochelle kauert immer noch in ihre Decke gehüllt auf dem Boden und sieht ihn mit leeren Augen an. »Hmm?« Jimmy wirft sich vor ihr auf die Knie. »Gib mir deine Hand! Ich könnte es nicht ertragen, wenn mich jemand hier verdäch tigen würde. Ich könnte es einfach nicht ertragen!« 368
Da packe ich Jimmy an der Schulter und ziehe ihn hoch, damit er mich ansieht. »Ich verdächtige dich nicht, Jimmy.« Nervös fahre ich mir mit der Hand durchs Haar, während ich mich zu erinnern versuche, wann sich zum ersten Mal die lächerliche Vorstellung in meinem Kopf festgesetzt hat, Jimmy wäre der Verräter. Mir fallen Lady Arabellas Worte ein. »Er kann einfach alles. Ich glaube, es gibt nichts hier im Palast, bei dem er nicht seine Hand im Spiel hat. Er ist sehr begabt. Und er kommt immer zur rechten Zeit. Wenn man ihn braucht, ist er stets bereits da, bevor man ihn gerufen hat.« Arkarian legt Jimmy sanft die Hand auf die Schulter. »Es war ein langer Tag. Geht doch jetzt alle erst einmal nach Hause.« Jimmy seufzt und nickt. Dann wandert sein Blick zu Ethan und Rochelle, die sich die ganze Zeit nicht gerührt haben. »Geht es euch beiden gut?« Rochelle hebt den Kopf. Ihr Blick wird lebhafter. »Hm, ich denke schon. Wir sind beinahe …« Ihre Stimme verliert sich, als sie den Kopf erst zu Ethan und dann zu mir wendet. »Ich bin nicht gestorben«, sagt sie langsam. Die anderen nicken und grinsen. In ihrer Stimme liegt so viel Erleichterung, dass man sich unwillkürlich mit ihr freuen muss, und nach dieser unangenehmen Szene mit Jimmy vermögen Rochelles Worte die Atmosphäre wieder zu ent spannen. Ethan greift unter sein Hemd und hält die goldene Schatulle hoch. Der Anblick löst Applaus und allgemeinen Jubel aus. Doch bald richtet sich die Aufmerksamkeit wieder auf Ro chelle. Erst so langsam wird allen klar, was sie gerade durch gemacht hat. »Ich bin nicht gestorben!« Mühsam richtet sie sich auf und schaut sich um, als sähe sie alles zum ersten Mal. 369
Sie läuft umher und berührt einzelne Gegenstände. Während sie ausgelassen herumwirbelt, spritzen Wassertröpfchen aus ihrem Haar. »Ich bin nicht ertrunken!« Wir sind nicht daran gewöhnt, dass Rochelle ihre Gefühle so offen zeigt. Ethan steht auf und beobachtet sie fasziniert. Selbstvergessen tanzt Rochelle weiter durch den Raum. »Seht doch, ich lebe noch!« Sie legt den Kopf in den Nacken und streckt die Fäuste in die Luft. »Ja! Ich hab’s geschafft! Ich hab’s tatsächlich geschafft!« Und dann fügt sie hinzu: »Die Prophe zeiung hatte Unrecht!« Jimmy und Shaun zwingen sich, zu lächeln, Dillon streicht ihr über den Rücken und Isabel umarmt sie. Aber wie sollen wir reagieren? Alle hier außer Ethan und natürlich Rochelle kennen die Wahrheit. Plötzlich wendet sich Rochelle mir zu, als bräuchte sie eine Bestätigung. Nur mit Mühe kann ich meine Gedanken abschirmen. Sie darf sie jetzt auf keinen Fall lesen. Ich nehme sie in die Arme. »Das hast du gut gemacht!« Sie tritt einen Schritt zurück. »Matt, du hattest Recht. Du hast mir gesagt, ich würde nicht sterben.« Dann geht sie auf Arkarian zu. Seine Gefühle sind in Auf ruhr. Und obwohl er seine Gedanken ausgezeichnet zu ver bergen versteht, hat er sehr zu kämpfen. Immerhin sind seine Gedanken so durcheinander, dass man sie schwerlich lesen kann. Er nimmt Rochelle ebenfalls in den Arm, und während sie uns den Rücken zuwendet, sieht er mich an. Er braucht nichts zu sagen. Sein Blick sagt mehr als alle Worte. Was immer heute auch geschehen ist, es war nicht das, was Isabel vorhergesehen hat. Ihre Vision hat Rochelle nicht den Tod durch Ertrinken prophezeit. 370
Kapitel 28
Matt
Arkarian schickt uns alle fort. Alle bis auf mich. Isabel geht als Letzte, aber vorher verabschiedet sie sich von Arkarian mit einem langen Kuss. Als sich die Geheimtür geschlossen hat, herrscht eine Weile Schweigen. »Ich habe mit Isabel gesprochen«, beginnt Arkarian. »Sie wird so viel Zeit wie möglich mit Rochelle verbringen.« »Gut.« Plötzlich fühle ich mich müde und abgekämpft. Su chend blicke ich mich nach einem von Arkarians Schemeln um. Sofort stehen zwei bereit und ich setze mich. »Weißt du, ob Neriah wieder wohlbehalten zurückgekehrt ist?« Er nickt und setzt sich auf den anderen Schemel. »Sie ist ziemlich erschöpft, aber ansonsten fehlt ihr nichts.« Unver wandt blickt er mich an, wohl wissend, dass ich noch etwas auf dem Herzen habe. »Ich muss nach Athen«, kläre ich ihn auf. »Ich weiß, wer der Verräter ist.« Er beugt sich vor und betrachtet mich skeptisch. »Und wer ist es diesmal, Matt? Letzte Woche war es König Richard, vor fünf Minuten dachtest du noch, es wäre Jimmy. Du kannst nicht ständig Beschuldigungen vorbringen, ohne Beweise in der Hand zu haben. Wir spielen hier doch kein Spiel.« »Bring uns jetzt sofort zum Palast in Athen, und ich werde dir den Beweis liefern, den du brauchst.« 371
Seine Augen werden schmal, während er mich ansieht. »Nun gut, aber ich kann nicht lange bleiben.« »Es wird auch nicht lange dauern. Glaub mir.« Gerade noch habe ich auf einem Schemel in Arkarians Kammern gesessen, nun stehe ich auf unsicheren Füßen im Hof des Palasts in Athen. Ein Zischen hinter uns lässt mich herumfahren. Sie wissen bereits, dass wir hier sind! »Vater.« Arkarian neigt ehrerbietig den Kopf. »Mylord«, begrüße auch ich Lorian. »Arkarian, Matt. Was führt euch ohne Ankündigung hier her? Ich fürchte, kein erfreulicher Anlass.« »Es gibt eine Menge zu erzählen, Vater, aber zuerst hat Matt dringend etwas zu erledigen.« Arkarian blickt mich an und plötzlich steigen Zweifel in mir hoch. Doch beim Klang des klagenden, bittersüßen Gesangs in meinem Rücken schöpfe ich neue Kraft. Ich drehe mich um und nähere mich dem Käfig. Die Vögel spielen verrückt. Sie zwitschern und pfeifen seltsam unrhythmische Melodien, schlagen mit den Flügeln und fliegen gegen das Gitter. Aber sie ermüden rasch. Mir fällt auf, dass ihr goldenes Gefieder stumpf geworden ist und die diamantenen Augen ihren Glanz verloren haben. Lady Arabella eilt herbei und versucht sie zu beruhigen. Dann hält sie inne. »Matt, was ist los?« Ich deute auf den Käfig. »Ihr seht es doch mit eigenen Au gen, Mylady. Diese Vögel, dieser Käfig, sind der Beweis, dass Ihr die Verräterin seid.« Sie gibt einen erschrockenen Laut von sich und presst die zierliche Hand vor den Mund. »Ich verlange eine Erklärung!«, befiehlt Lorian mit drohen dem Unterton in der Stimme. 372
Ich hole tief Luft. »Lasst die Vögel frei, dann wird sich alles von selbst erklären.« »Aber sie sind noch nicht so weit!«, protestiert Lady Arabel la. Als ich mit dem Finger über die Gitterstäbe streiche, wirbelt Staub auf. Die Vögel verstummen. »Ich habe versucht, den Staub zu entfernen, Matt«, sagt La dy Arabella seufzend. »Aber der Nordwind bringt jede Nacht neuen Staub.« Mein Blick wandert über den blitzblanken Innenhof. »Selt sam, dass die Bänke und das Pflaster so sauber bleiben, wäh rend dieser Käfig ständig mit Staub bedeckt ist.« Ich streife mit dem Finger über einen herabhängenden Ölbaumzweig, dessen dichtes grünes Laub glatt und sauber ist. Dann reibe ich zur Bekräftigung meiner Aussage noch einmal über die Käfigstäbe. »Dies ist der gleiche Staub, den die Beutelgeier heute über Angel Falls abwerfen wollten. Er besteht aus Pflanzen, die in Mardukes Garten gewachsen sind. Der Staub ist giftig. Und der Wind, der ihn des Nachts herbeiweht, kommt direkt aus der Unterwelt.« »Ist das wahr?«, fragt Lorian Lady Arabella streng. »Steckst du mit Marduke unter einer Decke?« »Natürlich nicht! Wenn das wirklich giftiger Staub ist, so habe ich nichts davon gewusst.« Um uns scharen sich weitere Zuhörer. Lord Penbarin tritt hinzu. »Diese Beweise reichen nicht aus, Matt. Das ist eine schwere Anschuldigung.« »Ich war heute schon nahe daran, Jimmy als Verräter zu beschuldigen.« Allein diese Vorstellung lässt einige der hier versammelten Mitglieder des Hohen Rats empört aufstöhnen. Der Gedanke 373
ist ja auch absurd! »Und dann ist mir eingefallen, wessen Bemerkungen zu meinem Verdacht geführt haben.« Ich drehe mich um und sehe Lady Arabella an. »Das ist noch lange kein Beweis, Matt«, entgegnet Lord Penbarin. Lorian stimmt zu. »Was kannst du sonst noch vorweisen?« Ich schaue zu dem Käfig hinüber. »Lasst die Vögel frei, dann werde ich es Euch zeigen.« Lorian hebt die Hand. »Öffnet den Käfig.« »Das würde ich ja gerne tun, Mylord«, sagt Lady Arabella leise, »aber die Vögel sind noch nicht gesund und können deshalb nicht freigelassen werden.« Lorian seufzt. Es klingt sehr resigniert. Wenn die jüngsten Ereignisse selbst einen so mächtigen Unsterblichen aus der Fassung bringen und an seinen Kräften zehren, wie können wir anderen dann die Hoffnung behalten? »Wir werden diese Angelegenheit unverzüglich regeln, Mylady. Öffnet den Kä fig.« »Aber, Lorian«, fleht Lady Arabella und streckt die Arme aus, als wolle sie den Käfig schützen. »Schaut sie Euch doch an. Sie sind viel zu geschwächt …« »Ja, aber nur, weil sie zu weit von ihrer Heimat entfernt sind«, erkläre ich. »Nein, sie sind schwach, weil sie lieben.« »Was meint Ihr damit, Arabella?«, fragt Lord Penbarin. »Man nennt sie auch die Unzertrennlichen. Sie müssen immer mit dem Partner zusammen sein. Dann sind sie stär ker. Liebende überleben nur, indem sie einander das geben, was der andere braucht …« Die Ratsmitglieder wechseln unbehagliche Blicke. Keiner begreift den Sinn von Lady Arabellas Worten. 374
»Ihr werdet den Käfig öffnen«, sagt Lorian entschieden, »oder soll ich es tun?« Mit Tränen in den Augen wendet sich Lady Arabella dem Käfig zu. »Zwingt mich nicht dazu. Die Vögel sind voller Vertrauen zu mir gekommen. Sie wussten, dass ich die Fähig keit habe, sie wieder gesund zu pflegen, und dass ich mich um sie kümmern würde.« Lorian antwortet nicht, aber in seinem Blick liegt ein Befehl. Lady Arabella hebt die Hand zur Vorderseite des Käfigs. Im Gitter erscheint eine Öffnung. Flink schlüpfen die Vögel heraus und breiten die Flügel weit aus. Plötzlich regnet es Federn, während die Vögel ihre Gestalt verändern. Noch bevor sie auf dem Boden aufkommen, haben sie sich zur allgemeinen Verblüffung in zwei herrliche Schneeleoparden verwandelt. »Aysher! Silos!«, ruft Arkarian laut. Die Schneeleoparden lassen sich zu seinen Füßen nieder und nehmen wieder ihre vertraute Hundegestalt an. Im Palasthof erhebt sich überraschtes und entrüstetes Ge murmel. Lord Penbarin blickt fassungslos zwischen Lady Arabella und den Hunden hin und her. »Warum, Mylady?« Lady Arabella steht ebenso vom Donner gerührt da wie alle anderen Beobachter. Lorian scheint plötzlich noch größer zu werden. Sein Zorn fegt wie ein eisiger Wind durch den totenstillen Palasthof und Lady Arabella duckt sich unwillkürlich. »Mylord, es ist ganz anders, als Ihr denkt. Ich wusste es nicht. Ich schwöre, ich wusste nicht, dass diese Vögel die Hunde waren, nach denen wir alle gesucht haben.« »Hebt Euch Eure Ausreden für die Verhandlung auf.« Auf einen Wink Lorians hin ergreifen zwei Wachsoldaten Lady 375
Arabella. »Bringt sie in einer Zelle unter, aus der sie nicht entfliehen kann!« »Mylord!«, kreischt Lady Arabella. »Nein! Tut mir das nicht an! Mylord, Ihr könnt nicht an meiner Loyalität zweifeln. Erinnert Euch doch, dass mich Rochelle bereits überprüft hat. Ich bin keine Verräterin, das schwöre ich!« »Als Ihr Euch der Prüfung unterzogen habt, waren Rochel les Fähigkeiten noch nicht voll entwickelt. Ich bin davon überzeugt, Ihr habt sie überlistet, indem Ihr Eure Illoyalität hinter falschen Gefühlen verborgen habt.« »Nein, das habe ich nicht getan. Ihr müsst mir glauben! Ich habe mich nur um zwei Vögel gekümmert, die meine Hilfe brauchten. Sie waren so schön, so unschuldig und zutraulich. Ich habe mich nicht gefragt, woher sie kamen, ich wollte sie bei mir behalten. Bitte sperrt mich nicht ein, Lorian. Ich könnte es nicht ertragen.« Niemand sagt etwas. Alle sind völlig verstört. »Das werde ich Euch niemals verzeihen!« Lady Arabella hört nicht auf zu schreien und zu flehen, während die Solda ten sie in den Keller des Palasts zerren. Die verzweifelten Klagelaute graben sich tief in mein Gedächtnis. Dass der Verräter nun gefunden ist, bringt keine Erleichterung. Es grenzt an eine Tragödie, dass ausgerechnet Lady Arabella eingekerkert wird, jemand, den wir alle schätzen. Lorian legt die Hand auf meine Schulter, und einen Augen blick überschwemmen mich seine Gefühle so stark, dass es mir den Atem nimmt. Er liebt sie. Und ihr Verrat bricht ihm das Herz.
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Kapitel 29
Rochelle
Lady
Arabella wird in einer Gefängniszelle im Palast von Athen festgehalten. Die Anklage lautet auf Verrat. Ich kann es nicht glauben! »Hast du von der Sache mit Lady Arabella gehört?«, fragt mich Dillon sichtlich entsetzt auf dem Weg in den Ge schichtskurs. »Ja. Jetzt ist klar, weshalb Isabel den edlen Vögeln nicht zu nahe kommen durfte.« »Offenbar hat dieses Gift bewirkt, dass die Hunde die Ge stalt von Vögeln annehmen, damit die Tiere mit niemandem Kontakt aufnehmen können.« Dillon schüttelt fassungslos den Kopf. Als wir im Klassenzimmer sind, sucht sich jeder von uns einen Platz. Heute ist der letzte Schultag vor den Winterferien. Ein Trimester mit vielen seltsamen Geschehnissen liegt hinter uns, und die Klasse ist dementsprechend unruhig. Mr Carter betritt den Raum und verkündet, dass er sich für die heutige Stunde ein lustiges Quiz ausgedacht hat, woraufhin alle zu johlen beginnen. Ich drehe mich um. Als ich sehe, dass Ethan hinter mir sitzt, wende ich mich hastig ab. Seit unserem le bensgefährlichen Unterwassermanöver haben wir so gut wie kein Wort miteinander gesprochen. Ich möchte dieses Erleb nis auch keinesfalls wieder zur Sprache bringen. Wenn ich nur daran denke, wie fassungslos ich war, als mir klar wurde, dass 377
ich dieses Abenteuer tatsächlich lebendig überstanden hatte, kriege ich schon Gänsehaut. Bin ich wirklich singend durch die Kammern getanzt? Schon wieder bekomme ich einen roten Kopf. Ethan sitzt neben Chloe Campbell. Er hat seine Gedanken vollkommen abgeschirmt. Eigentlich sollte ich mich freuen, dass er endlich gelernt hat sie zu verbergen, aber etwas in mir würde doch liebend gerne wissen, was sich in seinem Kopf so abspielt. Ein letztes Mal. Mein Blick gleitet zu den Fenstern. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Ethan den Arm über Chloes Stuhllehne legt. Chloe fängt an zu glucksen und schenkt ihm ein herausfor derndes Lächeln. Auf einmal wünschte ich, ich hätte Ethans Gabe und könnte Gegenstände in Bewegung versetzen. Es reizt mich nämlich sehr, ihm den Stuhl unterm Hintern wegzuzie hen. Als Dillon merkt, was meine Aufmerksamkeit so fesselt, fängt er an zu kichern, und ich bedenke ihn mit einem säuerli chen Grinsen. Gelangweilt schnalzt er ein Stück Radiergummi durch den Raum, das wie ein scharfes Geschoss unbeabsichtigt an Mr Carter vorbeisaust und an der Wand hinter ihm ab prallt. Mr Carter wirft ihm einen warnenden Blick zu. Dillon zuckt die Achseln und gibt ihm – ein Lachen unterdrückend – zu verstehen, dass es ihm leid tut. Offenbar ist er gerade mal nicht in Gedanken bei Neriah. Seine Obsession nervt mich echt. Vergangene Woche hat sie jeden Tag auf ihn eingeredet, dass sie einfach nur einen guten Freund in ihm sieht, aber auf diesem Ohr scheint er absolut taub zu sein. Er hört nur das, was er hören will. Matt ist seit ein paar Tagen unterwegs. Die Sache mit Arabella bringt in Athen alle zum Rotieren. Es finden endlose Gespräche statt, jede Aussage wird zu Protokoll genommen. Heute Morgen erwarten wir ihn zurück. Dann 378
erklärt er Dillon hoffentlich, was Sache ist. Eines ist sicher: Ich werde nicht dabei sein. Mr Carter verteilt die Blätter mit den Quizfragen. Das Denkspiel ist als Spaß gedacht. Die Person mit den meisten richtigen Antworten gewinnt einen Preis. Mr Carters Vorstel lung von »Spaß« ist allerdings ein bisschen schräg, und die Fragen sind ziemlich kryptisch. Vermutlich ist heute einfach nicht mein Tag. Als er zu seinem Pult zurückgeht, bleibt er am Fenster ste hen. Eigentlich nichts, was einem seltsam vorkommen müsste, aber dass er derart abrupt stehen bleibt, macht mich stutzig. Er neigt den Kopf zur Seite, als versuche er angestrengt ein Geräusch zu vernehmen. Plötzlich dreht er sich um und sieht mich an. Diesen Blick werde ich so schnell nicht vergessen. Starr und angsterfüllt sieht er mich an. Er weiß, dass ich im Gegensatz zu ihm Ge danken lesen kann. Mit Wucht stürmen seine Gedanken in meinen Kopf. Schließ die Tür! Mach sämtliche Fenster zu! Sie kommen! Sie kommen schnell! Wovon spricht er? Wer kommt? Los, Rochelle! Mach schon! Im selben Augenblick gebe ich meine Gedanken so nach drücklich wie möglich an Matt und Neriah weiter. Es stellt sich heraus, dass Matt ganz in der Nähe ist, während Neriah sich unten im Physik- oder Chemiesaal aufhält, und ich nicht beurteilen kann, ob meine Gedanken sie erreichen. Ich bitte Matt, dafür zu sorgen, dass sie die Nachricht erhält. Was ist denn los?, fragt Matt zurück. Während ich Mr Carter helfe, den Raum zu sichern, teile ich Matt mit, ich wüsste es nicht. Tu einfach, was er sagt, und achte drauf, dass niemand versucht, das Gebäude zu verlassen! 379
Ethan tritt neben mich ans Fenster. Er sagt nichts, spürt jedoch, dass sich dort unten etwas zusammenbraut. Auch andere Mitschüler spüren es. Mr Carter hebt abwehrend die Hände, als er mit Fragen bombardiert wird, und weist Ethan unbemerkt von den andern an: »Schließ die Tür hinter mir ab und lass niemanden hinaus. Offne die Tür unter keinen Um ständen. Hast du verstanden?« Ethan nickt, und Mr Carter verschwindet. Durch die Glas scheiben sehe ich ihn von Raum zu Raum hasten. Er deutet erst auf die Fenster, dann auf die Türen. Ms Burgess steht am anderen Ende des Gangs und starrt ihn nur wortlos an. Erst als er sie nahezu anschreit, schreckt sie auf. Kaum betritt er das nächste Klassenzimmer, zuckt sie verständnislos die Schultern, weist aber ein paar Schüler an, seinen Anordnungen zu folgen. Jemand möchte wissen, was denn eigentlich los sei. »Keine Ahnung«, antwortet Ethan und zuckt die Schultern. »Carter hat vermutlich endgültig den Verstand verloren.« Dillon und einige andere Schüler stellen sich neben mich ans Fenster. Während wir in den trüben Wintertag und auf die Sportanlagen starren, erscheint uns die Warterei geradezu unerträg lich. Plötzlich beginnt der Boden zu vibrieren. Im selben Augenblick bricht Panik unter den Schülern aus. »Das ist ein Erdbeben!«, ruft Bryce Wilson und hastet zur Tür. Als er merkt, dass sie verschlossen ist, bekommt er Angst. »Lasst uns hier raus!« Ethan wirft mir einen Blick zu, ehe auch er zur Tür rennt. Er zieht Bryce zur Seite und versucht ihn zu beruhigen. »Es ist alles in Ordnung. Bleib ganz ruhig, dann wird …« Ehe er den Satz beendet hat, offenbart sich die tatsächliche Ursache des Donnerns und Grollens. Alle rennen ans Fenster 380
und sehen hinaus. Zunächst verharren sie überrascht und vollkommen stumm. Ethan blickt über meine Schulter hinweg hinaus. »Sie kommen«, murmelt er. Und kurz darauf: »Geht alle vom Fenster weg.« Eine Horde Tausender schwarzer Ratten wälzt sich über die Sportanlagen in unsere Richtung. Die Schüler beginnen zu kreischen. Wenig später haben die Ratten die Klassenzimmer erreicht. Die großen, massigen Tiere tauchen den Raum in totale Dunkelheit, während sie über die Fenster das Dach erklimmen. Chloe und eine Reihe anderer Mädchen fangen hysterisch an zu schreien und kauern sich unter einem Pult zusammen. Doch nicht nur die Mädchen verlieren die Ner ven, auch ein paar Jungen steht die Angst ins Gesicht ge schrieben. Als die Tiere über das Dach trippeln, rennen die meisten Schüler in die gegenüberliegende Ecke des Klassen zimmers und stoßen dabei Tische und Stühle um. Das Geräusch von splitterndem Glas im Flur verstärkt das Entsetzen noch mehr. Hoffentlich konnte Mr Carter alle Klassen warnen. Wie steht es überhaupt um ihn? Hat er sich in Sicherheit bringen können? Mir wird ganz schlecht. »Wo sind Sie, Mr Carter?«, flüstere ich. »Mach dir keine Sorgen um ihn«, beruhigt Ethan mich, während er an meine Seite tritt. Ich kann ihn kaum verstehen, so laut ist das Geräusch der über das Dach rennenden Tiere. Es übertönt sogar das Krei schen meiner Mitschüler. Mittlerweile bebt das gesamte Gebäude. Ich hoffe nur, dass das Dach unter dem Gewicht nicht einbricht. Dann sehe ich Mr Carter. Auf der Flucht vor Hunderten von Ratten gelingt es ihm gerade noch die Ein gangstür zu schließen, ehe die Tiere ihn eingeholt haben. 381
Ethan hat die Hand am Türschloss unseres Klassenzimmers, damit er es, wenn es so weit ist, sofort aufsperren kann. Doch während Mr Carter nur noch wenige Meter bis zur Tür über winden muss, haben die Ratten einen Durchschlupf im Dach gefunden und fallen nun eine nach der anderen von der Decke herab. Als Mr Carter die Tiere sieht, schüttelt er nur fassungs los den Kopf. »Nein!«, schreit er und weicht zurück. »Bitte, Sir, bleiben Sie hier.« Aber er macht auf dem Absatz kehrt und sucht das Weite. Voller Entsetzen sehen wir, dass die Ratten ihn in Windesei le einholen. Binnen Sekunden laufen sie an seinen Beinen hoch und über seinen Rücken. Als er vornüberfällt, machen sie sich über ihn her. Bestürzt und zu keiner Regung fähig, die Gesichter an die Glasscheibe gepresst, verfolgen wir das Schauspiel. Als ich unvermittelt rufe: »Wir müssen etwas unterneh men!«, stimmen die andern im Chor mit ein. Ethan und Dillon starren einander an. Mit ohrenbetäuben der Lautstärke dringen ihre Gedanken in meinen Kopf. Die Tür zu öffnen würde das Leben aller anwesenden Schüler gefährden. »Wir dürfen ihn da draußen doch nicht seinem Schicksal überlassen.« Gleich darauf zertrümmert Dillon einen Stuhl, löst zwei Stuhlbeine und wirft Ethan eines zu. Im selben Augenblick wird es im Klassenzimmer etwas heller – die Ratten ziehen weiter. Sie jagen auf der anderen Seite des Gebäudes hinunter und bewe gen sich auf die angrenzenden Trakte zu. Mit lautem Geschrei hasten Ethan und Dillon aus dem Klassenzimmer. Die Stuhl beine schwingend befreien sie Mr Carter von den Tieren. 382
Aufgebracht schieben mich Bryce und andere Mitschüler zur Seite und nehmen die Verfolgung der Ratten auf. Wenig später versammeln sich alle Schüler im Gang. Auch ich habe mich endlich zu Mr Carter durchgekämpft. Ihm wurde wirk lich böse mitgespielt. Er hat unzählige blutende Wunden, seine Kleidung ist zerrissen, von Kopf bis Fuß ist er mit Kratz spuren und Bisswunden übersät. »Wo ist Isabel?«, zischt Ethan mir zu. Ich versuche zu Isabels Gedanken vorzudringen, um he rauszufinden, in – welchem Klassenzimmer sie sich aufhält. Aber sie reagiert nicht. Als ich länger darüber nachdenke, fällt mir ein, dass ich sie an diesem Vormittag überhaupt noch nicht gesehen habe. »Ich glaube, sie ist heute gar nicht in die Schule gegangen.« »Das Gefühl habe ich auch«, stimmt Ethan mir zu und hilft Mr Carter auf die Beine. »Vermutlich ist sie mit …« Ms Burgess schiebt die Schüler beiseite, um zu uns zu ge langen. »Was ist mit Marcus?« Wortlos drängt sich Ethan an ihr vorbei. »Ethan, was machst du denn da?«, ruft sie. »Das Sekretariat ruft einen Notarzt. Leg Marcus lieber wieder auf den Boden.« Aber Ethan ignoriert sie. »Junger Mann, bring Mr Carter auf der Stelle hierher!« Je weiter sich Ethan entfernt und den Schultoren nähert, desto schwächer werden Ms Burgess’ Rufe. Kaum steht er außerhalb des Schulgeländes, fängt er an zu rennen. Dillon bietet ihm seine Hilfe an, doch Ethan schüttelt nur den Kopf. Er ist fest entschlossen, sich höchstpersönlich um Mr Carter zu kümmern. Doch er hat seine Kräfte überschätzt und japst nach Luft. Diesmal lässt Dillon Ethans Einspruch nicht gelten. Er nimmt Mr Carter aus Ethans Armen und trägt ihn auf den 383
Berg, geradewegs zu Arkarians Kammern. Dank seiner außer gewöhnlichen Kräfte stehen wir bereits wenig später vor dem geheimen Einlass. Die Wand öffnet sich und Isabel nimmt uns in Empfang. »Rasch. Hier hinein.« Sie deutet auf eine Tür, in der Arkarian steht. Nachdem Dillon Mr Carter auf ein Bett gelegt hat, sehe ich erst, wie er zugerichtet ist. Arkarian legt eine Decke über ihn und mustert mich merkwürdig. Unwillkürlich schießt mir der Gedanke durch den Kopf, wie glücklich sich Arkarian und Isabel schätzen können, dass Matt nicht anwesend ist. Rasch lenkt Dillon meine Aufmerksamkeit wieder auf das Chaos in der Schule. »Ich gehe zurück. Vielleicht kann ich ja helfen.« Eine gute Idee. Eigentlich könnte ich ihn begleiten. Hastig werfe ich einen Blick auf Mr Carter. Die Bisswunden füllen sich mit Eiter und sehen aus wie die Wunden nach einer Säureverätzung. Aber für mich gibt es hier nichts zu tun. Jetzt liegt alles in Isabels Hand.
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Kapitel 30
Matt
In der Schule haben die Ratten erheblichen Schaden angerich tet. Einige Schüler wurden schwer verletzt. Ringsum hört man nichts als Stöhnen und Klagen. Wir sind erleichtert, als wir das Martinshorn eines Rettungswagens vernehmen. Am stärksten scheinen der Physik- und der Chemiesaal betroffen zu sein. Ich gehe nach unten. Dort herrscht ein einziges Durcheinan der. Wenn ich doch bloß die andern sehen würde. Aber sie scheinen nicht in der Nähe zu sein. Ich könnte sie über meine Gedanken ausfindig machen, aber dazu brauche ich etwas Ruhe. Darauf kann ich allerdings noch lange warten. Die Invasion der Ratten ist zwar vorbei, aber die Tiere hal ten sich nach wie vor in der Nähe auf. Sie werden weiterzie hen. Wohin auch immer. Plötzlich entdecke ich Neriah. Sie geht von einem zum an dern, versucht zu beruhigen und Trost zu spenden. Mittler weile sind Rettungswagen eingetroffen. Wer unversehrt ist, wird aufgefordert, das Gelände zu verlassen. Als Neriah mich sieht, läuft sie auf mich zu und wir gehen hinaus. Hinter dem Haus nehme ich sie fest in die Arme. »Erzähl mir, was geschehen ist.« Sie schließt die Augen und projiziert die Bilder unmittelbar in meinen Kopf. Mr Carter läuft von einem Klassenraum in den nächsten und fordert die Schüler auf, Fenster und Türen 385
zu schließen. Unterdessen kommen die Ratten immer näher und erreichen schließlich die vorderen Gebäude. Vielen Tieren gelingt es, in das Gebäudeinnere einzudringen, ehe die Schüler alle Türen und Fenster schließen können. Es ist, als hätten sie es nur auf eines abgesehen: Menschenfleisch. Als ob sie auf diese irrsinnige Weise wieder sterblich werden könnten. Ich sehe, wie Neriahs Blick starr wird und sich ihre Augen weiten. Die Angst, die ihre Mitschüler empfinden, greift nun auch auf sie über. Schreie zerreißen die Luft. Stühle poltern gegen Pulte. Um Zuflucht vor den Ratten zu suchen, drängen sich die Schüler gegenseitig weg und flüchten sich auf die Tische. Mr Walker versucht, die Klasse zu beruhigen, während er gleich zeitig darum bemüht ist, sich und den Schülern in seiner Nähe die durchdringend pfeifenden Ratten vom Leib zu halten. Neriah wendet sich ab und schließt die Augen. Zunächst hält das tumultartige Treiben noch an, während sie versucht, über ihre Gedanken Kontakt zu den Tieren aufzunehmen. Einige Augenblicke geschieht nichts, doch dann verharren die Tiere, heben die Köpfe und bewegen sich wie hypnotisiert auf Neriah zu. Ein verblüffender Anblick. Als sie ein Fenster öffnet, flüchten die Tiere hinaus. Gott sei Dank hat in der Aufregung niemand Neriahs Gabe erkannt. »Das hast du gut gemacht«, flüstere ich über ihren Kopf hinweg. Sie blickt auf und sieht mich verzweifelt an. »Matt, ich habe etwas gesehen.« »Und was?« »Ich habe Einblick in ihr Denken nehmen können.« »In das Denken der Ratten?« Sie nickt und schluckt schwer. »Was hast du gesehen?« 386
»Krankheit«, flüstert sie. Ich streiche ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, als sie weiterspricht. »Was unternehmen wir dagegen? Wo sollen wir beginnen?« Ein Schatten huscht vorbei, aber ich schenke ihm keine Be achtung. Ich male mir aus, wie die Ratten unsere Welt über schwemmen und Krankheiten verbreiten. Wie sollen wir damit umgehen? Plötzlich beginnt der Schatten zu sprechen. Seine Stimme klingt aufgebracht und anklagend: »Wie wäre es, wenn wir gleich hier beginnen? Und zwar mit mir!« Als Dillon wie ein Wolf, der seine Beute aufgespürt hat, um uns herumschleicht, stockt uns das Blut in den Adern. »Also, seit wann seid ihr zusammen?« Ich stelle mich schützend vor Neriah. »Dillon, lass es mich erklären.« »Deine Arme um sie, ihre Arme um dich … Damit ist doch alles erklärt, wenn du mich fragst.« »Ich wollte es dir sagen«, versuche ich mich zu rechtferti gen, obwohl es im Grunde zu spät ist. Warum habe ich es ihm nicht früher erzählt? Sobald ich mir über meine Gefühle zu Neriah klar war, hätte ich mit ihm reden sollen. Falls sich die Situation jetzt zuspitzt, muss ich meine Kräfte im Zaum halten. Alles andere wäre unfair. Neriah tritt vor. »Dillon, ich habe mich bemüht, dir begreif lich zu machen, dass wir lediglich Freunde sein können.« »Freunde? Glaubst du etwa, wir könnten jetzt noch Freunde sein?« Er stellt sich unmittelbar vor mich. »Und was dich betrifft: Wir sind seit unserer Kindheit befreundet. Geht man so mit einem Freund um? Du hast gewusst, dass ich Neriah mag. Und trotzdem hast du dich an sie rangemacht. Und zwar, während ich in dem sicheren Raum vernommen wurde. Als ich dort fertig war, warst du zu feige, es zuzugeben.« 387
»Nein, es war ganz anders.« »Jetzt wird mir auch klar, weshalb mir die Mitglieder des Hohen Rats all diese Gaben verliehen haben. Sie wussten bereits, was du mir antun würdest. Arabella hat immer wieder gezielt darauf hingewiesen, dass ich diese Gaben pflegen muss.« Er schüttelt den Kopf. »Ich hätte ihren Worten Beachtung schenken sollen. Die Hinweise waren nicht zu übersehen.« »Wenn du versucht hättest, uns zuzuhören, wärst du jetzt nicht so aufgebracht«, fügt Neriah hinzu. Er presst die Lippen aufeinander und zieht hörbar Luft ein. »Früher oder später hätte ich sowieso erfahren, was sich hinter meinem Rücken abspielt!« Er wendet sich mir zu. »Und was ist mit deinem Versprechen? Hast du mich etwa zum Narren halten wollen, Matt?« »Nein. Ganz bestimmt nicht.« Er schubst mich unwirsch, und ich pralle mit dem Rücken gegen die Mauer, in der sich im selben Augenblick ein Riss bildet. Neriah versucht sich zwischen uns zu drängen. Halt dich raus!, gebe ich ihr warnend über meine Gedanken zu verstehen. Dillon stürzt sich auf mich und zwingt mich zu Boden. Ich stehe auf und versuche in Deckung zu gehen, um mich nicht seinen Kräften auszuliefern. Erneut drückt er mich gegen die Mauer und schlägt mir an die Schläfe. Daraufhin stoße ich ihn beiseite und trete ein Stück von der Hausmauer weg, aus der sich etliche Ziegel lösen und herabfallen. »Hör auf, Dillon!«, schreit Neriah, als es um uns herum Ziegel regnet. Ohne auf sie zu achten, nähert er sich mir erneut und packt mich bei den Schultern. Ich schiebe meine Hände unter seine 388
Arme und versuche seinen Griff zu lösen. Doch Dillon ist ungeheuer stark, und ich muss all meine Kräfte einsetzen, um nicht kläglich zu scheitern. Ein weiterer Fausthieb, und er gibt hoffentlich auf, damit dieser lächerliche Kampf beendet ist. Von wegen! Wieder und wieder drischt er auf mich ein. Schließlich liege ich blau und grün geschlagen auf dem Boden. Neriah rennt zu mir. Du musst deine Kräfte einsetzen! Das werde ich nicht tun! Er wird gleich aufhören. Sei doch kein Idiot! Er wird erst aufhören, wenn er dich umge bracht oder zumindest Brei ais dir gemacht hat! Sie hat Recht. Aber ich werde meine Kräfte dennoch nicht einsetzen. Ich wische mir das Blut aus dem Gesicht und kom me wankend auf die Füße. »Dillon, hör mir zu.« »Ich habe dir schon viel zu oft zugehört!« Als er erneut zum Angriff ansetzt, schlingen sich von hinten zwei Arme um seinen Oberkörper und hindern ihn an jeder weiteren Bewegung. Es sind Shauns Arme. »Es ist immer Zeit, um jemandem zuzuhören.« Mühelos windet sich Dillon aus Shauns Griff. Aber sein Zorn ist wenigstens etwas abgekühlt, so dass er nicht gleich wieder über mich herfällt. Kopfschüttelnd betrachtet Shaun den Kampfschauplatz. »Ich kenne den Anlass zu diesem Streit nicht, aber was auch immer der Grund dafür sein mag, jetzt ist Schluss!« »Was ist geschehen?«, frage ich Shaun, während ich mich allmählich wieder berapple. Shaun sieht uns an. »Der Übergang zwischen den Welten hat sich geöffnet.« »Oh nein!«, schreit Dillon aufgebracht und schlägt mit der Faust ein Loch in die Mauer hinter ihm. »Das darf doch nicht wahr sein.« 389
Die Befürchtung, dass Lathenia den Spalt öffnet, war einer der Gründe, weshalb sie mich nach Athen gerufen haben. Der Hohe Rat hatte bereits vermutet, dass die Göttin diesen Schritt unternehmen würde. »Wie groß ist der Spalt jetzt?« »Groß genug, um sämtlichen finsteren Kreaturen mühelos den Übertritt in unsere Welt zu ermöglichen.« »Allen Kreaturen?«, ruft Dillon. »Das kann nicht sein. Sie lässt keinesfalls alle in der Unterwelt lebenden Kreaturen in unsere Welt eindringen.« »Und was nun?«, fragt Neriah. »Jetzt?«, äfft Dillon sie nach. »Jetzt übernimmt unser Führer das Kommando. Unser Meister, falls wir diesen hinterhältigen, rückgratlosen Schwächling überhaupt so bezeichnen können! Mal sehen, wie du die Situation in den Griff bekommst.« Shaun wirft Dillon einen zornigen Blick zu. »Was zwischen euch geschehen ist, Dillon, hat hier nichts verloren. Nicht das Mindeste! Damit das klar ist! Hast du das kapiert?« Ohne die Augen von mir abzuwenden, zieht Dillon erneut hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein. Doch schließlich gibt er nach. »Einverstanden. Aber da ist etwas, was ihr nicht verstehen könnt. Ihr macht euch keine Vorstellung von den gefährlichen Kreaturen, die Lathenia in der Unterwelt gefan gen hält. Und gegen die müssen wir nun mit diesem Schlapp schwanz als Anführer antreten!« Shaun versucht Dillons Sarkasmus zu ignorieren und wen det sich mir zu. »Matt, es ist so weit. Wir brauchen die Waf fen. Die Waffen, die für die Auserwählten angefertigt worden sind.« Dillon schießt nach vorne. »Wehe euch, wenn keine für mich dabei ist!« 390
In dem Augenblick kommt Rochelle um die Ecke des Ge bäudes und erspart mir die Antwort. »Um Himmels willen, was ist denn hier los?« Sie sieht mein blutverschmiertes Ge sicht. »Was ist mit dir passiert?« Als keiner sie aufklärt, lasse ich sie an meinen Gedanken teilhaben, damit sie rasch versteht, dass es wegen Dillons Eifersucht Probleme gab. Fassungslos sieht sie Dillon an. »Du hast ihn also so zugerichtet?« »Er hat es verdient.« Als sie ihn weiterhin fixiert, fragt er sie: »Hast du auch ge wusst, dass die beiden miteinander gehen?« Sie hält ihm die Hände vors Gesicht und spreizt die Finger. »Sei jetzt bloß nicht noch sauer auf mich, Dillon. Ehrlich, man muss blind sein, um nicht zu merken, dass die zwei sich sehr gern haben. Matts Verhalten ist typisch für einen Mann. Er hat es anfänglich gar nicht gemerkt, während es die andern um ihn herum schon längst wussten. Und in dem Augenblick, als es ihm selber klar wurde, hat er dir dieses dämliche Ver sprechen gegeben. Dir nichts davon zu erzählen war ein zusätzlicher Fehler, aber er hat dich nicht bewusst verletzen wollen.« Rochelles Worte sind wirklich milde, und vielleicht, unter Umständen, nimmt Dillon die Erklärung einer dritten Person an. Als er achselzuckend den Blick abwendet, überbringt Rochelle mir ihre Nachricht: »Lorian hat Arkarian die Waffen truhe übergeben. Wir sollen uns auf dem Bergrücken oberhalb der Wasserfälle versammeln, und du sollst den Schlüssel in Empfang nehmen.« Shaun nickt zustimmend. »Machen wir uns also auf den Weg.« »Wo sind die andern?«, frage ich Rochelle. 391
»Ethan und Isabel sind unterwegs zu unserem Treffpunkt.« »Und Mr Carter?«, erkundigt sich Dillon. »Hat er sich er holt?« »Was soll das heißen, Dillon? Ist ihm etwas zugestoßen?« Shaun weiß offenbar nicht Bescheid. Plötzlich tritt eine Frau hinter dem Gebäude hervor. »Das würde ich auch gerne wissen!« Es ist Ms Burgess. »Oh, Ms Burgess«, ruft Rochelle erschro cken. »Ich habe Sie in dem Durcheinander gar nicht gesehen. Seien Sie unbesorgt, Mr Carter geht es gut.« »Das kann ich mir kaum vorstellen, junge Dame, in Anbet racht seines Zustands. Ich hätte gerne ein paar Worte mit Ethan Roberts gewechselt. Wo steckt er? Und wohin hat er Marcus gebracht?« »Ich versichere Ihnen, Mr Carter ist unversehrt. Ich … ich habe ihn erst vor ein paar Minuten gesehen.« Ms Burgess verzieht ungläubig das Gesicht. Sie stellt sich vor Rochelle und droht ihr mit dem Finger. »Eins sage ich dir: Wenn Marcus Carter nicht umgehend hier in der Schule erscheint, rufe ich die Polizei, und dann werden etliche Köpfe rollen. Habe ich mich klar ausgedrückt, Ms Thallimar?« »Emily, weshalb diese Aufregung? Man kann dich bis hinter den Kricketplatz hören.« Endlich mal etwas Erfreuliches! Mr Carter ist rechtzeitig aufgetaucht. Ms Burgess bleiben die Worte im Hals stecken, als sie ihn sieht. »Marcus, alles in Ordnung? Wohin hat dich der Junge gebracht?« Mr Carter geht auf Ms Burgess zu und zupft an seinem Ja ckettkragen. »Ich versichere dir, Emily, es geht mir ausge zeichnet. Dieses Jackett ist aus einem festen Stoff. Die ver dammten Ratten haben sich die Zähne daran ausgebissen. Die 392
Mistviecher haben mir wirklich zugesetzt. Ich bin ohnmächtig geworden. Ethan hat mich aus der Menge weggetragen, sofort Riechsalz geholt und das Blut abgewischt.« Als er sie daraufhin breit angrinst, schmilzt sie geradezu dahin. Ich glaub es kaum! Ms Burgess ist doch tatsächlich in unseren Mr Carter verknallt! »Ich nehme an, dass der Unterricht für den Rest des Tages ausfällt, richtig?«, fragt er, als sei alles wie immer. »Oh ja«, antwortet Ms Burgess, als sie auf das Büro zuge hen. »Die meisten Eltern sind benachrichtigt. Einige haben ihre Kinder bereits abgeholt. Außerdem haben wir Busse angefordert, damit die anderen Schüler nach Hause gebracht werden können. Etliche von ihnen sind bereits unterwegs. Ist es nicht ungeheuerlich, was in der letzten Zeit alles geschehen ist? Schon zum zweiten Mal in diesem Trimester ist der Unter richt ausgefallen. Was ist denn nur los, Marcus?« »Ich weiß es nicht, Emily, aber ich denke, die Schüler soll ten im Gebäude bleiben, falls die Ratten erneut auftauchen. Ich gebe das umgehend über die Lautsprecher bekannt.« Kaum sind die zwei außer Hörweite, machen wir uns auf den Weg. Meine Gedanken kreisen immer wieder um Dillon und die Angst, die ihm vor ein paar Minuten eindeutig ins Gesicht geschrieben stand. Noch jetzt wirkt er wie gelähmt. »Dillon, was genau hält Lathenia unter den Eisentoren ge fangen, die du vorhin erwähnt hast?« Er setzt zum Sprechen an, doch seine Stimme versagt. »Du tätest gut daran, es uns zu erzählen«, sagt Shaun. Dillon holt tief Luft. »In Ordnung. Matt, du hast sie doch auch gesehen.« Ein Schauder erfasst mich, als ich im Geist die abscheuli chen, in Lathenias Kerker eingesperrten Tiere vor mir sehe. 393
»Sie gehen wie Menschen auf zwei Beinen«, erklärt Dillon. »Sie haben mächtige Hände und sind auch so groß wie wir. Aus ihren riesigen Köpfen ragen zwei gebogene Hörner. Außerdem … ich weiß nicht recht, wie ich es erklären soll, bohrt sich ihr Blick richtiggehend durch einen hindurch. Die Augen sind dunkel und glasig. Wie Fenster, die auf einen dunklen, leeren Brunnen blicken. Spitze, aus dem Rückgrat herausragende Knochen verlaufen über ihren Rücken. Diese Kreaturen sind massig und sehr stark. Und habe ich schon erwähnt, dass sie der Geruch von Menschenfleisch anlockt?« »Ich habe die Kreaturen gesehen. Sie sehen genau so aus, wie du sie beschrieben hast«, werfe ich ein. »In der Unterwelt bin ich allerdings keinen Geschöpfen dieser Art begegnet.« »Nein, das war auch nicht möglich. Lathenia hält sie in ver schiedenen Höhlen und Stollen unter der Erde gefangen. Sie leben bei ihren Artgenossen, in ihrem Dreck, während Lathe nia über eine Lösung brütet, wie sie die Kreaturen befehligen kann.« »Woher weißt du das alles?«, fragt Shaun. Dillon wendet sich ihm zu. »Sie hat mich einmal zu diesen Kreaturen gesperrt. Aber da sie mir meine Schwingen nicht weggenommen hatte, konnte ich entkommen.« Rochelle schaudert es. »Dillon, wie heißen diese Tiere?« »Dämonen«, antwortet er. »Die finstersten Gestalten im Universum.«
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Kapitel 31
Rochelle
Am Mittag sind wir alle vollzählig auf dem Bergrücken ver sammelt. Die Umgebung ist auf ihre Sicherheit geprüft wor den und dank unserer vier Gedankenleser, Mr Carters gutem Gehör und Neriahs zwei Hunden sollten wir vor neugierigen Ohren und unerwünschten Gästen sicher sein. Nachdem Arkarian die Waffentruhe abgesetzt hat, stellt er sich zu uns in den Kreis, den wir unbewusst gebildet haben. Erstaunt betrachte ich den Behälter. Er ist viel kleiner, als ich ihn mir vorgestellt habe, gerade mal so groß wie ein Nacht schränkchen, und aus einem Metall gefertigt, das sowohl Gold als auch Messing sein könnte. Darüber hinaus ist er über und über mit silbernen Ornamenten und Edelsteinen besetzt. Der Deckel trägt das vertraute Achteck. Ich bin ungeheuer nervös, lasse es mir aber nicht anmerken. Ich kann mich nicht erinnern, jemals derart aufgeregt gewesen zu sein. Nicht einmal als Kind in Erwartung eines Ge burtstagsgeschenks. Das soll nicht heißen, dass meine Ge burtstage immer sehr aufregend waren. Ein Fest war für meinen Vater stets ein Vorwand, sich zu betrinken. Meistens haben meine Mutter und ich meinen Vater gar nicht an meine Geburtstage erinnert. Matt nimmt den Schlüssel und legt ihn in die achteckige Aussparung. Ein Klicken, ein knarrendes Geräusch, und der jahrtausendealte Mechanismus gibt die Verriegelung frei. Als 395
Matt den Deckel hebt, atme ich hörbar aus, ohne überhaupt bemerkt zu haben, dass ich den Atem angehalten hatte. Was mag uns erwarten? Ein Feuerwerk? Sprengstoff? Eine dröh nende Stimme? Doch es passiert nichts Ungewöhnliches. »Man hat mir die Waffen im Innern des Kastens gezeigt und mich im Umgang mit ihnen eingewiesen.« Matt nimmt einen länglichen Gegenstand aus der Truhe und stellt sich vor Ethan. Ich erkenne einen Pfeil mit Bogen aus Gold. Als Ethan die Waffe in den Händen hält, runzelt er die Stirn. »Bogenschießen liegt mir nicht besonders. Vielleicht sollte diese Waffe eher Isabel bekommen.« Verhaltenes Gelächter erhebt sich in der Runde. »Diese Waffe wurde eigens dazu angefertigt, um deine angeborenen Fähigkeiten zu verstärken. Das mag dir zunächst nicht ein leuchten, doch indem du den Umgang mit der Waffe lernst und dabei geschickter wirst, wirst du es begreifen.« »Welche Verbindung besteht zwischen mir und dem Pfeil und Bogen?«, fragt Ethan. »Mit Hilfe dieser Waffe wirst du noch perfektere Animatio nen und Illusionen erzeugen, als es dir bisher möglich gewesen ist«, erklärt Matt, nimmt den Pfeil und spannt ihn in den Bogen. »Befiehl dem Pfeil, mit der Kraft deiner Gedanken das ins Auge gefasste Ziel zu treffen …« Er dreht sich um und deutet zwischen Jimmy und mir hindurch auf einen in der Ferne liegenden Punkt. »Und zwar jenen Baum dort drüben mit dem abgebrochenen Ast. Ziele auf die Samenschote, die daran baumelt. Aber …« Er zögert, überlegt eine Weile und deutet in die entgegengesetzte Richtung auf einen ebenso weit entfernt stehenden Baum. »Schieß deinen Pfeil dorthin.« »In Ordnung«, antwortet Ethan. Er zielt nach links und lässt den Pfeil los. 396
Ich verliere den Pfeil aus den Augen, so schnell ist er. Doch dafür höre ich ein scharfes Zischen, als er die Luft zwischen Neriah und mir zerschneidet. Unmittelbar danach ist das Geräusch der aufplatzenden Samenschote zu vernehmen. Erstauntes Murmeln ertönt ringsum. Ethan grinst zufrie den. »Trifft man jedes Mal?« »Ja. Außerdem wirst du immer einen Pfeil zur Hand haben.« Als Ethan seine Waffe in Augenschein nimmt und den Bo gen über die Schulter streift, wendet Matt sich Isabel zu. Er übergibt ihr einen Stab, doch als ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass es eher ein Griff ist. Etwas, das sich für gewöhnlich am unteren Ende eines Schwerts befindet. Sie blickt ihn an. »Was ist das?« »Dies ist eine Licht spendende Waffe. Sie wird aus deiner inneren Kraft gespeist. Für jemanden, der kein inneres Licht in sich trägt, ist diese Waffe nutzlos. In dunkler Umgebung verstärkt sie deine Sehfähigkeit.« Als er den Griff einen Au genblick lang in die Hand nimmt, formt sich ein strahlend weißer Lichtstrahl von der Größe einer Schwertklinge, der so hell ist, dass er uns blendet. Matt weist mit dem Griff auf einen Geröllhaufen neben uns. Mit einem zischenden Ge räusch bohrt sich der Strahl tief ins Innere des Kiesbergs, der zu glühen beginnt und nach einer Weile vollständig ver schwunden ist. Erstaunt heften wir den Blick auf den Fleck. »Jetzt du.« Isabel wiegt den Griff in der geöffneten Hand. »Wie bringe ich ihn zum Strahlen?« »Löse dich von allen Gedanken und sei vollkommen gelas sen. Lass deinem inneren Licht freien Lauf. Es dauert nicht lange, bis du weißt, was du tun musst.« 397
Plötzlich leuchtet ein Lichtstrahl auf, und Isabel lächelt. Sie hält den Griff in Richtung eines Felsbrockens, und er zerbirst in tausend Teile, die auf uns herunterregnen. Jeder duckt sich oder rennt davon. »Entschuldigung.« Matt grinst sie an, ehe er auf Mr Carter zugeht und ihm zwei Metallstreifen mit Löchern in der Mitte überreicht. »Ziehen Sie die beiden Streifen über Ihre Hände.« Wie fingerlose Handschuhe passen sie sich Mr Carters Händen an. »Oh Mann!«, stößt er beeindruckt hervor. Als er die Hand zur Faust schließt und wieder öffnet, treten über jedem Knö chel spitze Metallstifte hervor. Es sind tödliche Waffen. Kein Zweifel. Matt tätschelt ihm die Schulter, ehe er sich Shaun zuwendet und ihm zwei wunderschön gearbeitete Schwerter mit Silbergriff übergibt. Eins der Schwerter ist lang, das andere kurz. »Für unseren besten Schwertkämpfer zwei Schwerter, die den Tod mit einem Streich bringen.« Shaun ist beeindruckt. Er nimmt ein Schwert in jede Hand und vergleicht ihr Gewicht. »Ausgezeichnet.« Während Matt von einem zum andern geht, werde ich zu nehmend nervöser. Welche Waffe mag für mich gedacht sein? Welche meiner Gaben werden sich mit Hilfe dieser unglaubli chen Werkzeuge verstärken? Als Matt auf Jimmy zugeht, kann ich vor lauter Ungeduld kaum mehr an mich halten. Zum ersten Mal in meinem Leben durchströmt mich das überwäl tigende Gefühl von Zugehörigkeit. Hier ist mein Platz. Ge meinsam, Seite an Seite werde ich mit diesen Menschen für die gerechte Sache kämpfen. Matt legt eine Tüte in Jimmys Hand. 398
»Eine Tüte voller Kunstgriffe?«, fragt Jimmy und tastet sie mit den Fingern ab. »Oder eine Tüte mit Kieselsteinen?« Matt lacht. »Etwas in der Art, doch diese ›Kieselsteine‹ be sitzen die Schlagkraft einer Granate. Außerdem ist dein Vorrat – obwohl er bequem in deine Tasche passt – unendlich groß. Die Munition wirkt nicht nur im Kampf gegen die Kreaturen der Finsternis, sondern sie überwindet jegliche Art von Hin dernissen, mit welchen Abwehrwaffen sie auch ausgerüstet oder gesichert sein mögen.« Beeindruckt von dem geringen Gewicht seiner Waffe wiegt Jimmy grinsend den Beutel in der Hand. Nun ist Neriah an der Reihe. Als Matt ihre Hand ergreift, spüren alle ausnahmslos die ungeheure Kraft, die bei diesem plötzlichen Kontakt zwischen den beiden zu fließen beginnt. Als würden sie im Augenblick der Berührung zu einer Einheit verschmelzen. Nachdem Matt seine Hand zurückgezogen hat, spreizt Neriah die Finger. In ihrer Handfläche liegt etwas, das sich nur als Bruchstück eines Blitzes beschreiben lässt. Stau nend reckt jeder den Hals, um es zu betrachten. Sogar Aysher und Silos setzen sich auf und schnuppern. »Wozu dient dieses Fragment?«, fragt Neriah, während der Blitz in ihrer Handfläche glüht und schimmert. Matt blickt sich um. »Zeige damit auf den Busch dort drü ben und schicke mit Hilfe deiner Gedanken Energie dorthin.« Kaum ist sie seiner Anweisung gefolgt, schnellt ein Blitz aus ihrer Hand und setzt den Busch in Brand. Binnen zwei Se kunden ist das Gebüsch niedergebrannt. Alle starren wie gebannt auf das, was eben noch ein Strauch war. Jetzt sind nur noch drei von uns ohne Waffe. Ich, Dillon und Arkarian. Als Matt auf mich zugeht, strecke ich unwill kürlich die Hände aus. Sie zittern, aber es ist mir egal. Matt 399
steht lange vor mir, und als sich nichts tut und mir nichts in die Hände gelegt wird, blicke ich zu ihm auf. »Für dich habe ich keine Waffe«, sagt er. Es herrscht absolute Stille ringsum. Ich ziehe meine beben den Hände zurück und verschränke sie hinter dem Rücken. »Ich verstehe nicht.« Mehr bringe ich nicht hervor. »Ich habe für dich keine Waffe, weil du keine benötigst.« Ich bin fassungslos. »Was willst du damit sagen?« . »Die Waffe, die ursprünglich für dich gedacht war, werde ich Dillon geben.« »Was?« Er greift nach meinen Armen und zieht sie nach vorn. »Du hast bereits bewiesen, dass deine Hände töten können. Du brauchst kein zusätzliches Werkzeug. Und da wir jetzt zu zehnt sind, fehlt uns eine Waffe.« »Und deshalb gibst du meine Waffe an Dillon.« »Richtig.« Er wendet sich zu der Waffentruhe. Ich bin sprachlos. Be stürzt kämpfe ich gegen die Tränen an und trete einen Schritt zurück, fest entschlossen fortzulaufen. Was tue ich hier eigent lich? Nein, ich gehöre nicht zu dieser erlesenen geheimen Gruppe. Sie lehnen mich ab. Sosehr ich mich auch bemühe, sie werden mir immer den Zugang verwehren. Als Matt meine Gedanken liest, die ich nicht abgeschirmt habe, dreht er sich verwundert zu mir um. Ich versuche es ihm zu erklären. »Steht mir denn keine Waffe zu?« »Rochelle, darum geht es nicht.« Ich sehe ihn an und schüttle den Kopf. Dann betrachte ich auch die anderen kopfschüttelnd und laufe davon. Doch Matt rennt hinter mir her und packt mich bei den Händen. »Jetzt hör mir mal zu: Niemand schließt dich aus. Deine Hände sind 400
deine Waffen. Sieh sie dir doch an.« Er reißt mir die Hand schuhe von den Händen. Funken sprühen in alle Richtungen. Die andern ducken sich Schutz suchend. »Hier.« Matt legt mir einen Stein in die Hand. Er zerfällt zu Staub. Matt hat es gewusst. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Überraschte, erstaunte Rufe dringen an mein Ohr. »Bleib hier. Dein Platz ist bei uns.« Matt sagt »bleib«, aber mein Herz sagt »geh«. Noch nie ha be ich mich derart erniedrigt gefühlt. Arkarian legt mir trös tend die Hand auf die Schulter. Wortlos entreiße ich Matt die Handschuhe. Nachdem ich sie mir übergestreift habe und meine Hände für niemanden mehr sichtbar sind, trete ich schweigend zurück in den Kreis. Lange starre ich auf meine Füße. Ich möchte gar nicht sehen, welche Waffe Dillon be kommen hat. Ich höre, dass Arkarian eine Art Peitsche erhält. Sie birgt Kräfte, durch die Dinge in Bewegung versetzt und Stoffe verändert werden: Feuer und Sandstürme können entfacht, Wassermassen bewegt werden. Zusätzlich ist diese Peitsche eine wirkungsvolle Waffe gegen all die Geschöpfe, denen wir begegnen werden. Sie passt zu ihm. Von allen Anwesenden steht ihm die schlagkräftigste Waffe zu. Als Letzter ist Matt an der Reihe. Er bekommt eine Axt. Während er sie in den Gürtel schiebt, erklärt er, dass ihm die Axt, diese solide, kraftvolle und profane Waffe, ein Gefühl von Sicherheit verleiht. Als sämtliche Waffen verteilt sind, hebe ich langsam den Kopf. Alles ist verschwommen. Ich versuche, die Tränen zurückzudrängen. Ethan fixiert mich von der anderen Seite des Kreises. Während ich allmählich wieder klar sehen kann, hält er die Augen unverwandt auf mich gerichtet. Ich weiß seinen Blick nicht zu deuten. Das Wort »Mitleid« 401
kommt mir in den Sinn. Ich schiebe es weg. Es wäre unerträg lich für mich, wenn Ethan mich bemitleiden würde. Einen Augenblick kämpfe ich gegen das Bedürfnis an, seine Gedan ken zu lesen. Zu meiner Überraschung sind sie mir nicht verschlossen. Aber ich lasse die Gelegenheit verstreichen. Das Gefühl, ein Eindringling zu sein, ist nach wie vor tief in mir verwurzelt. Doch plötzlich sind alle Gedanken wie fortgeblasen. König Richard nimmt vor uns Gestalt an. Am Himmel über uns wird der Umriss eines Gebäudeteils sichtbar. Jimmy läuft zu der Stelle und birgt einige Ziegelsteine. Er hält sie hoch, damit alle sie sehen können. König Richard erklärt: »Die Steine stammen von der Fes tung. Sie wird in diesem Augenblick angegriffen. Nehmt eure Waffen. Schnell!«
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Kapitel 32
Matt
Die Festung mag unter Beschuss sein, doch das hält Ethan nicht davon ab, auf mich loszugehen. Er rempelt mich an und zerrt mich auf dem Weg zu Arkarians Kammern zur Seite. »Wie konntest du ihr das antun?« »Du sprichst wohl von Rochelle?« »Natürlich. Von wem denn sonst? Sie war schließlich dieje nige, die du gedemütigt hast!« »Es war ganz und gar nicht meine Absicht, jemanden zu demütigen. Ich weiß genau, was ich tue.« Ich versuche an ihm vorbeizugehen, aber er presst mir seine Hand auf die Brust. »Es war ein Fehler.« »Ich kenne sie besser als du, Ethan. Rochelle ist sehr stark.« »Idiot! Merkst du nicht, dass sie immer auf Distanz geht, nie ihre Handschuhe auszieht und stets die … Zynikerin herauskehrt?« Als Arkarian unser Gespräch hört, kommt er zu uns. »Arkarian, hältst du es für einen Fehler, dass ich Rochelle keine Waffe gegeben habe? Sie braucht schließlich keine, und außerdem hätten wir eine Waffe zu wenig gehabt.« Er schweigt. Nach einer Weile antwortet er: »Wenn es überhaupt ein Fehler war, dann bestand er darin, dass du nicht vorher mit Rochelle darüber geredet hast.« Natürlich hat Arkarian wieder einmal Recht. Was für eine Blamage. »Ich eigne mich nicht als Führer.« 403
Als Ethan aufstöhnt, entgegnet Arkarian: »Matt, wir alle machen Fehler. Dass es dir nicht anders geht, beweist nur, dass du auch eine menschliche Seite hast.« »Aber du machst nie einen Fehler!«, antworte ich hastig, überzeugt davon, diesmal die richtige Antwort zu geben. »Du solltest meinen Platz einnehmen. Du solltest die Auserwählten anführen. Ich wäre stolz darauf, dir zu dienen.« »Was sind das denn für Gedanken?« »Ich meine es ernst. Ich übertrage dir die Führerschaft.« »Matt, jetzt denk doch mal nach, wie sich das auf unseren Kampfgeist auswirken würde. Sieh dich um – fällt dir was auf?« Ich betrachte die anderen, die sich den Berg hinaufmühen, als gingen sie zu ihrer Hinrichtung. Plötzlich dämmert es mir. Wir sind alle aufeinander angewiesen. Jeder von uns hat eine Aufgabe. Meine Aufgabe ist es, die Auserwählten zu führen. Welche Fehler ich auch mache, wie unsicher ich mir in vielen Dingen sein mag, ich bin der Sohn eines Unsterblichen und mächtiger als alle Auserwählten zusammen. Und aufgrund all meiner Schwächen, Zweifel und Unerfahrenheit bin ich weit davon entfernt, perfekt zu sein – aber genau das gilt für die andern gleichermaßen. Ich gehe direkt auf den geheimen Eingang zu und öffne ihn ohne Arkarians Hilfe. Schließlich ist das eine meiner Fähigkei ten. Plötzlich erscheint es mir seltsam, meine Kräfte noch länger zu verbergen und vor den anderen geheim zu halten. Ehe ich hineingehe, drehe ich mich um und blicke allen, die sich vor mir versammelt haben, ins Gesicht. »Hört mir zu!« Ich schmettere die Worte mit lauter Stimme heraus, so dass es bis über die Berge hallt. »Wir werden in Kürze einen Kampf beginnen, in dem wir die Erde von dem 404
schlimmsten Übel befreien werden, das es in unserem Univer sum gibt. Ich werde derjenige sein, der euch führt. Verzeiht meine Schwächen in der Vergangenheit. Ab sofort werde ich Stärke zeigen!« Ich hebe die Hände und forme einen Gedan ken: Kraft. Sie sollen diese Kraft spüren. Als sie mir ins Innere des Bergs folgen, fühle ich, dass sich etwas verändert hat. Ich messe dieser Veränderung nicht allzu großes Gewicht bei, noch versuche ich sie zu ergründen – dazu fehlt mir die Zeit. Arkarian betritt das Berginnere als Letzter. Als er an den Anwesenden vorübergeht, machen sie ihm Platz und er tritt vor mich hin. »Nenne uns unsere Auf gaben.« Ich lege meine Hand auf seine Schulter. »Bring uns alle in die Festung, damit dieser Kampf endlich entschieden wird.«
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Kapitel 33
Rochelle
Als wir in der Festung eintreffen, werden wir von Lord Penba rin empfangen. Bewaffnet mit Schwertern, Messern und ande ren Waffen bewachen seine Krieger sämtliche Zugänge. Die Männer sehen ziemlich mitgenommen aus. Hier hat bereits ein Kampf stattgefunden. Lord Penbarins Kleider sind zerfetzt, an seinem Schwert klebt Blut. »Marduke ist mit einem weiteren Bataillon Zaunkönigen in die unteren Ebenen eingedrungen. Die Geschöpfe der Zwischenwelt haben das Labyrinth besetzt.« »Wie sind sie hereingekommen?«, erkundigt sich Matt. Lord Penbarins Blick gleitet hinauf zur Decke mit den acht Paneelen. »Ein Überraschungsangriff. Sie waren in der Über macht. Lathenia schleust ihre gewaltigen Armeen der Toten über die Festung in unsere Welt ein. Das dürfen wir nicht zulassen. Diejenigen, die es bereits geschafft haben, müssen wir mit Hilfe der Waffen aus der Waffentruhe auslöschen.« Er packt Matt an den Schultern. »Lorian ist bereit, die Festung zu zerstören, wenn es uns nicht auf andere Weise gelingt, das Eindringen weiterer Kreaturen zu verhindern.« »Die Festung zerstören?!« »Wir sind dem Ansturm nicht gewachsen. Es sind jetzt schon zu viele. Und Lathenia schickt immer mehr. Lorian plant, die Schächte und alle technischen Geräte zu vernichten, um ihre Truppen aufzuhalten. Im Augenblick entwickelt er gemeinsam mit König Richard eine Strategie.« 406
»Hoffentlich kommt es nicht dazu, Mylord.« »Lathenia wirft vielerlei Geschöpfe in die Schlacht. Aber wenn sie darüber hinaus auch noch die allerschlimmsten Ungeheuer aus der Unterwelt einsetzt …« »Ihr meint die Dämonen!«, ruft Dillon dazwischen. Lord Penbarin zuckt bei der bloßen Erwähnung dieses Wortes zusammen. »Ja, genau. Ehe dies eintritt, wird die Festung zerstört. Die Gefahr für die Erde, für das Leben an sich, wäre zu groß.« »Na gut«, erwidert Matt. »Dann teilen wir uns auf. Jeder geht dorthin, wo er am dringendsten gebraucht wird.« Er wendet sich an Ethan, Shaun und Neriah. »Ihr drei übernehmt die zentralen Kontrollräume. Die technischen Geräte dort müssen geschützt werden.« Lord Penbarin erläutert: »Ohne diese Geräte können wir nicht mehr durch die Zeit reisen. Sie dürfen dem Orden auf keinen Fall in die Hände fallen, um nicht Gefahr zu laufen, dass er sie später irgendwo anders wieder aufbaut. Aber es wird nicht leicht sein, da der Feind bereits in die Kontroll räume eingedrungen ist.« »Na toll«, bemerkt Ethan trocken. Neriah kauert sich zwischen Aysher und Silos, tätschelt sie und streicht ihnen übers Fell. »Scheint, als gäbe es Arbeit für uns.« Die beiden Hunde setzen sich auf und sehen sie auf merksam an. »Bleibt in meiner Nähe.« Lord Penbarin nickt unwillkürlich. Niemand wird Neriah noch einmal von ihren Hunden trennen. »Sir Syford, Königin Brystianne und ihre Krieger versuchen, im Kontrollraum die Stellung zu halten, aber ohne eure Kräfte und eure Waffen haben sie keine Chance. Beeilt euch!« Matt weist jedem der Übrigen eine Aufgabe zu. »Dillon, du kommst mit mir.« 407
»Nie im Leben!«, weigert sich Dillon. »Ich kämpfe nicht an deiner Seite. Vergiss es!« Als Matt den Blick auf ihn heftet, blitzen seine braunen Au gen einen Moment lang golden auf. Dillon weicht zurück. »Wir werden die Festung Seite an Seite verteidigen. Ist das klar, Dillon?« Er nickt. »Marcus, Sie bleiben mit Isabel und Rochelle hier. Ihr drei helft Lord Penbarin dabei, weitere Eindringlinge abzuweh ren.« Bei diesen Worten deutet er auf die Decke mit den acht Paneelen, die sich im Augenblick ausnahmsweise nicht bewe gen. Ein rumpelndes Geräusch aus einer tieferen Ebene erinnert uns daran, dass die Zeit drängt. Arkarian und Jimmy erhalten von Matt den Auftrag, das Labyrinth von den Wesen aus der Zwischenwelt zu befreien. »Du bist diesen Geschöpfen bereits begegnet«, sagt Matt zu Arkarian. »Aber selbst wenn du weißt, wie sie vorgehen, solltest du weder ihre Kraft noch ihre verwundbaren Stellen unterschätzen.« »Um was für Wesen handelt es sich denn genau?«, will Jimmy wissen. »Einige sind verlorene Seelen«, entgegnet Arkarian. »Und da die Brücke zerstört ist, irren sie ziellos umher. Daneben gibt es noch andere Geschöpfe. Sie sind ein Produkt deiner übersteigerten Ängste, deiner Albträume.« »Huh! Vielen Dank, Matt«, scherzt Jimmy. »Ich kann es kaum erwarten.« »Aus diesem Grund habe ich euch für diese Aufgabe vorge sehen«, erklärt Matt. »Ihr beiden habt eure Ängste besser im Griff als alle anderen.« 408
Als wir aufbrechen, bemerkt Matt, dass ich ein Messer aus meinem Stiefel gezogen habe. »Was willst du damit?« »Ich halte mich einfach bereit. Wir könnten jeden Augen blick angegriffen werden, da will ich gewappnet sein.« Matt blickt auf meine Hände. »Zieh die Handschuhe aus.« Ich schüttle den Kopf. »Nein.« »Mach schon, Rochelle.« »Wenn ich sie ausziehe, kann ich das Messer nicht halten.« Ich möchte nicht, dass man meine abscheulichen Hände sieht. »Deine Hände sind deine Waffe und nicht dieses lächerliche Messer. Damit gehst du in den sicheren Tod.« Er nimmt es mir ab und sagt nichts weiter, sieht mich jedoch so durchdrin gend an, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als zu tun, was er verlangt. Ich streife die Handschuhe ab und stecke sie in die Tasche. Gleißende Funken stieben aus meinen Händen, flie gen in hohem Bogen zu den weit entfernten Mauern und hinterlassen Brandlöcher. Lord Penbarin hebt die Augenbrauen. »Wie lange wird die Energie in ihren Händen noch zunehmen?«, fragt er Matt. Unsicher schiebt Matt den Unterkiefer hin und her. »Jedes Mal, wenn ich Rochelles Hände sehe, sind sie noch stärker geladen.« Das Blut schießt mir ins Gesicht, einen Augenblick fühlt es sich heißer an als meine Hände. Wenn sie doch nur aufhören würden, mich anzuglotzen! Sogar Mr Carter wirkt verblüfft. »Hat dir jemand gezeigt, wie du sie unter Kontrolle halten kannst?«, fragt mich Lord Penbarin. »Lady Arabella, Mylord.« »Nun, das wird in Zukunft jemand anderer übernehmen. Tut es sehr weh?« 409
Seit einiger Zeit habe ich höllische Schmerzen, aber ich hüte mich, das zuzugeben. »Nein, Mylord.« »So, so«, murmelt er. Eine weitere Explosion lässt den Boden derart erzittern, dass eine große Glasscheibe hinter uns zerbirst. Die Erschütte rung reißt uns zu Boden und es hagelt Splitter um uns herum. Als es vorüber ist, erkundigt sich Matt, ob jemand verletzt ist. Lord Penbarin rappelt sich hoch. »Lord Alexandon ist in Schwierigkeiten.« Matt nickt. »Ich kümmere mich darum. Komm mit, Dillon. Wir werden da unten gebraucht.« Ehe sie aufbrechen, hat uns Matt noch etwas zu sagen: »Sollte es Schwierigkeiten geben, mit denen ihr nicht fertig werdet, ruft mich einfach. Ich kann euch hören und komme euch zu Hilfe. Verstanden?« Kaum habe ich genickt, sind sie auch schon fort. Lord Pen barins Krieger treten zu uns. »Im Hof befinden sich Zaunkö nige. Einige sind bereits in die Treppenschächte eingedrungen, Mylord.« Plötzlich beginnen die acht Paneele an der Decke zu rotie ren, immer schneller und schneller. Nach wenigen Sekunden sieht man nur noch einen vielfarbigen Wirbel. Lord Penbarin blickt zu Mr Carter, Isabel und mir. »Ach tung! Sie kommen.« Noch während er spricht, springen die Seitentüren auf und unzählige, mit Äxten, Ketten, Schwertern und Messern be waffnete Zaunkönige fallen grunzend und flügelschlagend ein. Ich taste nach meinem Messer, aber Matt hat es mir ja wegge nommen. Echt Spitze! Lord Penbarin und seine Krieger rüsten zum Angriff. Sie versuchen, die Zaunkönige in die Treppenschächte zurückzu 410
drängen, ehe weiß Gott was für Geschöpfe durch die Decke eindringen. Obwohl die Krieger geübte Schwertkämpfer sind, stehen die niedergestreckten Zaunkönige rasch wieder auf. Der Herrscher und seine Männer haben nicht die geeigneten Waffen, um ihnen den Garaus zu machen, sie können sie nur kurz aufhalten. Isabel betrachtet die Licht spendende Waffe in ihrer Hand, als würde sie überlegen, wie sie sie in Gang setzen kann. »Mach es so, wie Matt es dir gezeigt hat!«, rufe ich ihr zu. Meine Worte rütteln sie auf. Als sich ein Zaunkönig auf sie stürzt, streckt sie zögerlich die Hand aus und richtet die Waffe auf ihn. Ein langer, schimmernder Lichtstrahl durchbohrt seinen Flügel. Die Wucht der Explosion, mit der der Zaunkö nig zerbirst, reißt uns beide nach hinten. Die dabei entstehen de Hitze brennt auf unseren Gesichtern. Stolpernd kommen wir wieder auf die Beine. Isabel wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. »Halb so wild. Versuch’s einfach noch mal.« Diesmal trifft der Strahl sein Ziel genau und geht mitten durch die Brust des Zaunkönigs. Er zittert einen kurzen Mo ment, dann löst er sich vollkommen auf. Mr Carter wird von mehreren Zaunkönigen gleichzeitig bedrängt. Seine Waffe ist direkt, schlagkräftig und effektiv. Er platziert seine Faustschläge geschickt. Aber der Ansturm lässt nicht nach. Kaum haben wir die Zaunkönige einigermaßen dezimiert, beschleunigt sich die Rotation der Paneele erneut und ein unglaublich gleißendes Licht, das uns für einen Augenblick blendet, durchdringt den Raum. Binnen kürzester Zeit beginnt es im Raum vor Ge schöpfen, die von der Decke fallen, zu wimmeln. Zu Hunder ten prasseln sie unter schrillem Gekreische auf uns nieder. 411
Grauhäutige, ausgemergelte Gestalten, die mit ihren abgema gerten Gesichtern an Skelette erinnern. Ihre Haut fühlt sich nass und klebrig an. Zum Glück zerfallen sie sofort unter ohrenbetäubendem Quietschen, sobald meine Hände sie berühren. Es ist die Hölle. Lord Penbarin und seine Krieger ringen hart mit den Gegnern. Ich eile ihnen zu Hilfe und versuche, die knochigen Wesen von ihnen wegzuziehen, indem ich sie an der Kehle packe. Isabel steht einem Krieger bei, während Mr Carter einen Angreifer nach dem anderen mit seinen tödlichen Fäusten erledigt. Mehr und mehr Geschöpfe fallen herab und uns wird klar, dass die Übermacht zu groß ist. Aber noch geben wir uns nicht geschlagen. Als ich innehalte, um mir einen Überblick zu verschaffen, stelle ich fest, dass Lord Penbarin ernsthaft in Bedrängnis geraten ist. Mr Carter begegnet meinem Blick und eilt ihm zu Hilfe. Noch kann ich ihn nicht unterstützen. Ein Angreifer hat mich von hinten gepackt und will mich durch bohren. Endlich bekomme ich eine seiner langen Gliedmaßen zu fassen und schleudere ihn über meine Schulter. Er bleibt einen Augenblick liegen, bevor er sich auflöst. Sein klebriger Schleim dringt durch meine Kleider. Ich haste zu Lord Penbarin. Mittlerweile ist es Mr Carter gelungen, alle bis auf eines der abscheulichen Wesen, die ihm zusetzen, auszuschalten. Aus Lord Penbarins Augen spricht die pure Erleichterung darüber, dass er in Kürze von den feindlichen Kreaturen befreit sein wird. Doch als ich hinunter fasse, um das Wesen am Nacken zu packen, schlägt gleichzei tig Mr Carter darauf ein. Unsere Hände stoßen zusammen und bleiben ein paar Sekunden aneinander haften, Haut an Haut. Ich spüre die scharfen Metallspitzen seiner Waffe, die in 412
meine Handflächen pieksen, er hingegen bekommt von mir einen starken Stromstoß verpasst. Schließlich werden wir auseinander geschleudert, als hätte unser Zusammenprall ein Übermaß an Energie erzeugt. Mr Carter betrachtet seine versengten Hände. Für mich hat der Hautkontakt mit ihm ebenfalls eine Nebenwirkung. Ich blute von den Metallstiften, die meine Haut durchbohrt haben. Aber das ist nicht der Grund, warum ich vollkommen verstört dasitze. Denn als meine Hände seine berührten, habe ich etwas gespürt. Etwas Starkes und gleichzeitig Vertrautes. Eine Empfindung, die ich mein Leben lang nicht mehr vergessen werde. Das Gleiche habe ich vor ein paar Wochen empfunden, als ich Neriah zu Hause besucht habe und ihre Hand meine streifte. Mr Carter bemerkt meine Erstarrung. Er rappelt sich hoch und schleicht mit weit aufgerissenen Augen um mich herum. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragt er mit schleppender Stimme. Mir ist sofort klar, dass er argwöhnt, ich könnte durch mei ne Fähigkeit der Berührung etwas gespürt haben. Und so ist es auch. Es hat mich bis ins Mark erschüttert. Zwischen Mr Carter und Neriah gibt es eine Verbindung. Eine starke, enge Verbindung wie Blutsbande. Doch während ich bei Neriah einen hellen Charakter entdeckte, spürte ich bei Mr Carter eine finstere Gesinnung. »Ja … mmh … mir fehlt nichts.« »Warum schaust du mich dann so komisch an?« »Ich … ich war nur in Sorge, ich könnte Ihnen wehgetan haben.« Und da ist er wieder, der Blick, mit dem er mich stets ansieht – ein reservierter, latent hasserfüllter Blick. Für ihn habe ich schon immer eine Bedrohung dargestellt. Ganz besonders, seit Lorian meine Fähigkeit dergestalt verstärkt hat, 413
dass ich nun auch die Loyalität des Einzelnen erkennen kann. Eine einzige Berührung hätte die Wahrheit aufgedeckt. »Was ist denn los mit dir, Rochelle?«, fragt er mich heraus fordernd. Hilfe suchend blicke ich zu Isabel und den anderen, aber sie kämpfen immer noch gegen die namenlosen Kreatu ren und bemerken gar nicht, was um sie herum vorgeht. Auch Lord Penbarin hat sich ein Stück entfernt. »Du kommst mir vor wie ein Kaninchen. Ein Kaninchen mit einem Lauf in der Schlinge, das soeben begriffen hat, dass es nicht mehr lange zu leben hat.« Als ich aufstehe, weicht er mir nicht von der Seite. Ich ziehe mich in Isabels Richtung zurück, aber er stellt sich mir in den Weg. Ich versuche, ihn abzulenken. »Ethan hat die ganze Zeit Recht gehabt. Er hat instinktiv gespürt, dass Sie böse sind.« »Ein Jammer, dass niemand auf ihn gehört hat«, spottet er. »Es wäre besser gewesen, weißt du. Der Instinkt ist einer von Ethans stärksten Kräften.« »Warum haben Sie die Schule verschont?« »Weil man Helden immer zuletzt verdächtigt, Schätzchen.« »Lady Arabella ist gar nicht die Verräterin.« Langsam verzieht er den Mund zu einem Lächeln. »Das wird immer unser kleines Geheimnis bleiben.« Während ich diese Drohung zu verdauen versuche, tritt Schweigen zwischen uns ein. Ich überlege, was er mit mir vorhat. »In Ihren Adern fließt Mardukes Blut.« »Hm«, murmelt er, während er näher an mich herantritt. »Na, das ist doch ganz normal, oder? Immerhin ist er mein Bruder.« Er will mich schockieren, damit ich vor Schreck wie ge lähmt bin. Erst zu diesem Zeitpunkt bemerke ich, dass er mich in die Mitte des Raumes manövriert hat. Ein Blick auf den 414
Boden bestätigt mir, dass ich innerhalb des Oktogons stehe. Genau dort wollte er mich haben. Ich blicke auf und rufe über meine Gedanken Matt zu Hilfe. Komm schnell! Ich stecke in der Klemme! Hilf mir, Matt, schnell! Aber noch während ich meine Gedanken losschicke, wird mir klar, dass es zu spät ist. Die Paneele an der Decke haben wieder zu rotieren begon nen, und nach kurzer Zeit fällt das Licht ein, das einen bevor stehenden Übergang ankündigt. Mr Carter hat die Geräte manipuliert. Wenn jemand dazu befähigt war, dann er. Er war in den letzten zwanzig Jahren als Koordinator für die Festung tätig und hatte Zugang zu jedem Raum, jeder Ebene, jedem offenen Portal einschließlich des Übergangs in andere Welten. »Wie lange arbeiten Sie schon für den Orden?« »Seit ich herausgefunden habe, dass Marduke mein Bruder ist. Das war an dem Tag, als sein Gesicht in zwei Hälften zerteilt wurde und er sterben wollte. Ich habe mich um ihn gekümmert und ihn davon überzeugt, dass das Leben auch für ihn weitergehen kann. Er sann auf Rache und ich half ihm, sie zu bekommen.« »Aber warum sind Sie bei den Wachen geblieben?« »Auf diese Weise war ich viel nützlicher. So konnte ich an interne Informationen gelangen. Ich hatte Zugang zu Hochsi cherheitsbereichen.« Als ich über seine Schulter sehe, erhasche ich Lord Penba rins Blick. Er hat meine Gedanken wahrgenommen, muss sich jedoch gerade heftig zur Wehr setzen. Auch Isabel sieht ver wundert zu mir, aber mittlerweile ist das Licht bereits nahezu unerträglich hell. »Sie haben Lady Arabella geopfert.« »Das war ein Kinderspiel. Ihre Liebe zu Lorian hat sie ge blendet. Sie konnte sich einfach nicht zurückhalten, sich um diese ›Vögel‹ zu kümmern.« 415
»Sie haben mit Hilfe der Drogen aus Mardukes Garten die Identität der Hunde verschleiert.« Er zuckt gleichgültig die Schulter. »Mit der Hilfe meines Bruders konnte ich nahezu alles, was ich wollte, in meine Gewalt bringen.« »Sogar den Schlüssel.« Er nickt. »Ja, auch den Schlüssel. Bis er Matt in die Hand fiel und er ihn im Gewölbe in der alten Stadt versteckt hat.« Das Licht über uns leuchtet noch stärker auf und blendet uns einen Augenblick. Ich versuche wegzulaufen, aber Mr Carter packt mich um die Taille und schleudert mich zurück. Während ich mich anstrenge, wieder auf die Beine zu kom men, spüre ich, wie ich hinweggetragen und in eine andere Welt katapultiert werde.
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Kapitel 34
Matt
In diesem Teil der Festung war ich noch nie. Es ist eine Stadt für sich. Hier wohnen die Überlebenden, die über die Erde wachen. Was geschieht mit ihnen, wenn die Festung zerstört wird? Und es stellt sich noch eine weitere Frage: Bedeutet es das Ende unserer Reisen durch Zeit und Raum? Die Treppe führt tief hinab. Je weiter wir vordringen, desto lauter poltert und dröhnt es. Hoffentlich halten die anderen durch. Sie sind mit ihren Waffen noch nicht so vertraut, aber mit Hilfe ihrer Fähigkeiten, die sie meisterhaft beherrschen, sollten sie sich eigentlich behaupten können. Das erinnert mich an etwas. Da Dillons Waffe ursprünglich für Rochelle gedacht war, wird sie sich in seiner Hand fremd anfühlen. Ich deute auf seine Handgelenke. »Glaubst du, du kannst damit umgehen?« »Klar«, antwortet er und streckt ruckartig die Arme aus, wobei die goldenen, spitz zulaufenden Bänder mit den kleinen Armbrüsten zum Vorschein kommen. »Sie fühlen sich zwar eigenartig, aber nicht unangenehm an. Ich habe versucht, eine gedankliche Verbindung zu ihnen aufzubauen, wie du mir geraten hast.« »Das sind sehr wirkungsvolle Waffen. Du steuerst sie durch deinen Willen.« Nachdenklich betrachtet er die zierlichen Schusswaffen. »Ich habe mich gefragt, warum du das getan hast. Warum du 417
sie mir zugedacht hast. Es hat mich überrascht, dass du mir so sehr vertraust.« »Beim Orden hast du unter Lathenias Kriegern einen sehr hohen Rang eingenommen, das stimmt doch, oder?« »Ja.« »Dann bist du ganz offensichtlich darin geschult, Macht und Autorität zu tragen. Lathenia hat deine Eignung erkannt. Arkarian glaubt an dich. Und ich auch.« »Aber dir muss doch klar sein, wie wütend ich auf dich bin. Wie kannst du mir noch vertrauen? Machst du dir keine Sorgen, dass ich mit dieser pulsierenden Wunderwaffe direkt zu Lathenia überlaufe?« »Denkst du darüber nach?« Er bleibt mir die Antwort schuldig. Plötzlich wird neben uns eine Tür aufgerissen und ein Dutzend merkwürdig ausse hender Gestalten rennt an uns vorbei in den Treppenschacht. »Was war das denn?« »Das sind die Überlebenden«, erkläre ich Dillon, der ihnen verwundert nachstarrt. Dann begreife ich, warum sie so schnell gerannt sind – Hunderte Kreaturen kommen auf uns zu. Größtenteils sind es Zaunkönige, daneben aber auch Vögel und schwebende, hundeähnliche Vierbeiner. Diejenigen, die Hände haben, schwingen Schwerter, Dolche, Hämmer und Äxte. Unmittelbar vor ihnen stürmt Lord Alexandon mit einem Dutzend Kriegern durch den Schacht. »Zurück!«, schreit er. »Es sind zu viele! Wir müssen uns in Sicherheit bringen und eine Strategie überlegen.« Zuerst werden wir von einer Schar Vögel mit Menschenge sichtern und spitzen Schnäbeln eingeholt. Sobald Dillon die Hände hebt, schießen strahlende Lichtpunkte pfeilschnell aus 418
seinen Handgelenken und die sechs herannahenden Vögel zerplatzen. Lord Alexandon und seine Krieger, die alles aus nächster Nähe mit angesehen haben, starren Dillon verblüfft an. »Hoppla!« Während ich mir Blut aus dem Gesicht wische, murmle ich ihm zu: »Versuch nächstes Mal, an völlige Eliminierung zu denken, einschließlich Fleisch und Blut.« »In Ordnung«, erwidert er und fährt seine Waffen ein. Indessen haben die Zaunkönige, Vögel und Vierbeiner zu uns aufgeschlossen und befinden sich praktisch unmittelbar über uns. »Lauft!«, ruft uns Lord Alexandon zu. »Nein, wartet!«, halte ich sie zurück. Meine Hand gleitet instinktiv zu der Axt an meiner Taille. »Rasch, alle hinter mich!« Während sie meinem Befehl folgen, besinne ich mich je doch anders und lasse die Waffe stecken. Stattdessen forme ich einen Gedanken: Wind. Augenblicklich kommt ein mäch tiger Wind auf. Ich schicke ihn der Armee des Ordens entge gen. Weder die Zaunkönige noch die anderen namenlosen Kreaturen, nicht einmal die Vögel kommen gegen seine Kraft an. Als ich leicht puste, werden die herumwirbelnden Ge schöpfe zurück in die tiefer liegenden Schächte geschleudert. Rasch verriegeln Dillon und die Krieger die Türen. »Es gibt einen zweiten Ausgang«, erklärt Lord Alexandon und zeigt auf einen Gang zu unserer Rechten. »Lady Devine kann ihn nur mit Mühe und Not gegen den Ansturm verteidi gen. Ich habe ihr gesagt, ihr würdet so schnell wie möglich zu ihr stoßen. Aber seid vorsichtig, Matt. Marduke ist dort.« »Komm mit, Dillon.« 419
Nachdem wir die Hälfte des Ganges zurückgelegt haben, kommt uns einer von Lady Devines Kriegern entgegen. »Mei ne Herrin schickt mich. Ihr sollt euch beeilen. Sie kann die Armeen der Dunkelheit nicht länger aufhalten.« Bei unserem Eintreffen bersten die Türen und Lady Devine stürzt heraus. »Es ist aussichtslos.« »Sind noch welche von Euren Leuten da drin?«, erkundige ich mich. »Nicht dass ich wüsste.« »Gut, dann ziehen wir uns zurück.« Während die Krieger in die Treppenschächte hinter mir drängen, forme ich einen weiteren mächtigen Gedanken: Sturm. Nein, noch besser: Feuersturm. Ich richte ihn direkt auf die angreifenden Kreaturen. Glü hende Feuerbälle wirbeln umher und fahren durch die heran stürmenden Massen, ehe sie zu den tiefer liegenden Gängen vordringen. Schreie zerreißen die Luft. Dillon, der neben mir steht, starrt in die Feuerwalze, die durch die Gänge rollt. Gelassen bemerkt er: »Das ist wirklich beeindruckend. Hast du das in der ›Schule des Unsterblichem gelernt?« Ich muss lachen. Doch nicht lange, denn die Hitzewelle flu tet zu uns zurück. Auch Dillon spürt es. »Ach du lieber Himmel!« Ich kann Lady Devine gerade noch rechtzeitig warnen. »Sucht mit Euren Leuten Deckung. Die Treppe hinauf, schnell!« Während sie sich in Sicherheit bringt, packe ich Dillon und ziehe ihn unter mich. Ein Feuerregen ergießt sich über uns. Einige von Lady Devines Kriegern und die Herrscherin selbst haben es nicht rechtzeitig hinauf geschafft. Ihre qualvollen 420
Schreie gehen mir durch und durch. Kaum sind die Flammen vorbeigezogen, helfe ich Dillon auf. Als ich nach den Verletz ten sehen will, fasst er mich am Arm. Überrascht drehe ich mich zu ihm um – und stelle fest, dass Marduke vor ihm steht. Jetzt verstehe ich auch, warum die Flammen zurückge kommen sind. Marduke hat sich in der Tür aufgebaut, hält sich die versengten Hände über den rußgeschwärzten Kopf und gibt ein mächtiges Brüllen von sich. Um ihn herum wimmeln Zaunkönige und andere Kreaturen, aufgestachelt vom Klang der Stimme ihres Herrn. »Erledige sie mit deiner Waffe«, rufe ich Dillon zu und deu te auf die Zaunkönige. »Ich übernehme Marduke.« Dillon zielt auf die hereindrängenden Zaunkönige, die auf den Treppenschacht zusteuern, und dieses Mal verschwinden die Kreaturen spurlos, als sie von seinen Pfeilen getroffen werden. Marduke ist beeindruckt. Sein rotes, geschwollenes Auge blickt spöttisch. Er zaubert ein Schwert in seine Hand. »Wie interessant. Aber lass uns nach Art der Sterblichen kämpfen.« Sein Ziel ist es, mich aufzuhalten, damit seine Armee in der Zwischenzeit in die oberen Ebenen eindringen und ihr zerstö rerisches Werk fortsetzen kann. Seine Geschöpfe sausen an uns vorbei. Dillon heftet sich ihnen zusammen mit Lady Devine und ihren Kriegern an die Fersen. Als Marduke sich auf mich stürzt, ziehe ich die Axt. Marduke hat Bärenkräfte und weiß sie geschickt einzusetzen, während ich nur spärliche Kenntnisse in Selbstverteidigung besitze. Doch mit meiner Axt kann ich sogar dieses Ungeheuer töten. Dazu reicht ein einzi ger gezielter Schlag. Komm schnell! Ich stecke in der Klemme! Hilf mir, Matt, schnell! 421
Rochelles Gedanken schießen so heftig in meinen Kopf, dass ich kurz abgelenkt bin und Marduke die Oberhand gewinnt. Er drückt mich mit dem Rücken gegen ein Treppen geländer und legt blitzschnell die Klinge seines Schwerts an meine Kehle. Ich rieche seinen fauligen Atem. Sein ganzer Körper stinkt. Doch es gelingt mir, ihn wegzudrücken, und er fällt nach hinten. Während ich versuche, Rochelle zu antwor ten, greift Marduke erneut an. Diesmal in blinder Wut. Ich wehre mich nach Kräften. Immer wieder trifft seine Klinge meine Axt, bis mein Arm zu erlahmen beginnt. Einen Augen blick befürchte ich, dass er mir das Schwert in die Rippen stößt. Unter äußerster Willensanstrengung zwinge ich meinen Arm, nicht nachzulassen, so dass ich weiterkämpfen kann. Aber das ist nicht genug. Um Rochelle helfen zu können, muss ich Marduke so schnell wie möglich entwaffnen. Ich rufe sie in Gedanken, doch sie antwortet nicht. Stille. Es ist, als würde es sie gar nicht mehr geben. Ihr Schweigen, das Gefühl der Leere jagen mir kalte Schauer über den Rücken. Gleichzeitig spüre ich frische Energie. Wir ringen wütend und verbissen. Marduke muss doch allmählich ermüden. Aber er ist ja kein menschliches Wesen mehr, wenngleich sich nicht sagen lässt, welche Art Wesen er nun ist. Als er sich auf mich stürzt und versucht, mir sein Schwert in die Brust zu stoßen, schwinge ich abwehrend meine Axt unter seinen Arm. In hohem Bogen fliegt seine Waffe davon. Endlich! Keiner von uns spricht ein Wort, wir ringen nach Atem und mustern uns abschätzend. Sein Auge wandert zu der Stelle, wo das Schwert gelandet ist. Das ist die Gelegenheit, mich zu Rochelle durchzuschlagen. Sie braucht mich. Ich befürchte ohnehin, dass es bereits zu spät ist. Die Zeit drängt! Marduke muss ich mir später vorknöpfen. 422
Kapitel 35
Rochelle
Ich treffe hart auf dem Boden auf, in einer Welt vollkomme ner Dunkelheit. Meine elektrisch geladenen Hände sind die einzige, spärliche Lichtquelle. Wie blind tappe ich umher und gerate allmählich in Panik. Da legen sich Hände um meine Ellbogen. Ich spüre die Metallstifte und versuche mich zu befreien, aber Mr Carter lässt nicht locker. Plötzlich werde ich um die eigene Achse gedreht und eine schwere Eisenkette wickelt sich mehrmals um meinen Körper, so dass meine Hände kampfunfähig sind. Ächzend tritt Mr Carter einen Schritt zurück. Dann wird es hell. Ein Kristall in Mr Carters Hand erleuchtet die nähere Umgebung. Jetzt bemerke ich, dass die um meinen Körper geschlungene Kette zu seiner anderen Hand führt. Ich versu che die Arme zu bewegen, damit ich meine Hände einsetzen kann, aber die Kette sitzt zu fest. In Mr Carters Blick scheint einen Moment Bedauern aufzuflammen. Doch gleich darauf nehmen seine Augen wieder den kalten, abweisenden Aus druck an. »Eines muss Ihnen klar sein: Wenn Sie mich töten, unter schreiben Sie damit Ihr eigenes Todesurteil.« »Ich werde dich nicht töten«, erwidert er selbstgefällig. »Was haben Sie dann mit mir vor?« Er starrt in die uns umgebende Dunkelheit und zieht an meiner Fessel, so dass ich stolpere und zu Boden falle. Dann 423
zerrt er mich an den Haaren hoch und reißt erneut an der Kette. »Es gibt hier etliche unterirdische Tunnel mit nur einem Zugang.« Ich kann nicht glauben, was er da sagt. »Sie sperren mich in einen unterirdischen Tunnel? In dieser Dunkelheit? Ganz allein?« »Nein, allein wirst du nicht sein.« Seine Worte lassen mich frösteln. Meine Beine werden schwer wie Blei. Aber er geht nicht näher darauf ein, obwohl ich immer wieder nachbohre. Mir kommt es vor, als würden wir stundenlang marschieren. Allmählich werde ich müde, sowohl körperlich als auch geistig. Die Finsternis lähmt mich. Sie erinnert mich daran, wie ich mich als Kind immer vor meinem Vater versteckt habe. Plötzlich bleibt er stehen, so dass ich gedankenverloren bei nahe in ihn hineinrenne. Er stößt mich weg und ich falle hin. Wieder versuche ich, die Fessel zu lockern, aber sie gibt kein bisschen nach. Da fällt mir auf, wie Mr Carter mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck durch ein Eisengitter im Boden starrt. »Was ist? Stimmt was nicht?« Er sieht mich an. »Sie sind fort!« Um ebenfalls durch das Gitter sehen zu können, verrenke ich mir fast den Hals. Es geht tief hinunter in eine Höhle, die leer zu sein scheint. Zunächst bin ich erleichtert, aber mir wird schnell klar, dass das nicht nur ein gutes Zeichen ist. »Was hat das zu bedeuten?« Keuchend vor Anstrengung hievt er das Gitter zur Seite. »Das bedeutet, dass heute dein Glückstag ist.« Er zerrt an der Kette und zieht mich zu dem klaffenden Loch im Bo den. 424
»Nein, warten Sie! Das können Sie nicht machen. Da unten krepiere ich. Und Sie sind daran schuld.« »Du wirst nicht durch meine Hand sterben. Sie kommen sicher bald zurück.« »Wer denn?« Ich erwarte eigentlich keine Antwort von ihm, aber dann erwidert er: »Die Dämonen.« »Wie bitte? Sie sperren mich in eine Höhle, in der Dämonen hausen?« »Wenn du Glück hast, verlierst du den Verstand, bevor der erste zurückkehrt.« Nach diesen Worten schlingt er von hinten die Arme um mich. »Halt still, ich sperre die Kette auf.« Eine verlockende Vorstellung. Ich mache mich zur Flucht bereit. Doch Mr Carter hat nichts dem Zufall überlassen. Er hält mich umklammert wie ein Schraubstock, die Spitzen in seinen Händen bohren sich in meine Haut. Sobald das Schloss aufschnappt, stößt er mich auf das Loch zu. Aber so einfach lasse ich ihn nicht davonkommen. Irgendwie muss ich ihn daran hindern, zur Erde zurückzukehren und sich mit irgend einer glaubhaft klingenden Erklärung für mein Verschwinden herauszureden. Während ich durch das Loch plumpse, ent rollt sich die Kette. Im Fallen bekomme ich sie gerade noch zu packen und ziehe heftig daran. Damit hat Mr Carter nicht gerechnet. Mit einem lauten Aufschrei verliert er das Gleichgewicht und fällt ebenfalls in die Höhle. Er rappelt sich schnell auf. »Was hast du getan?« Vergeblich versucht er, zur Öffnung hinaufzuspringen. Drohend die Kette schwenkend, als würde er mich am liebsten damit erwürgen, kommt er auf mich zu. Ich kann mir ein selbstgefälliges Grinsen nicht verkneifen. 425
Er wird mich nicht eigenhändig umbringen, dazu hat dieser Feigling viel zu große Angst vor dem Sterben. Mal sehen, wie er sich jetzt im Angesicht des Todes verhält! Plötzlich lugt er zur Seite, seine Augen werden so groß, als würden sie ihm gleich herausfallen. »Was ist? Hören Sie etwas?« »Schritte.« »Sind es die Dämonen?« Er lauscht aufmerksam, dann seufzt er frustriert und verär gert. »Nein, es sind Frauenschritte.« »Also weibliche Dämonen?« Er bleibt mir die Antwort schuldig. Stattdessen höre ich von oben eine beruhigende Stimme. »Wenn wir mit Ihnen fertig sind, Mr Carter, werden Sie sich wünschen, wir wären Dämo nen.« Isabel ist gekommen, zusammen mit Neriah und ihren Hunden. Beide Mädchen tragen ein Licht in der Hand, das ihre Gesichter leuchten lässt, und von hier unten aus erschei nen sie mir wie rettende Engel. »Ich war noch nie im Leben so froh, euch zu sehen!«, rufe ich zu ihnen hinauf. »Woher wusstet ihr, wo ihr mich suchen müsst?« »Neriah hat von den Kontrollräumen aus deine Gedanken wahrgenommen. Sie hat alles stehen und liegen lassen und ist zu mir gerannt. Und falls Sie vorhaben, es zu leugnen, Mr Carter: Auch von Ihnen hat sie genug gehört, damit es für eine Verurteilung reicht. Rochelles Entführung hat Sie so sehr in Anspruch genommen, dass Sie vergessen haben, Ihre Gedan ken abzuschirmen.« »Isabel hat dein Gesicht gesehen, kurz bevor du verschwun den bist«, schaltet sich Neriah ein. 426
»Ja, und da wusste ich, dass du in Schwierigkeiten steckst«, fügt Isabel hinzu. »Lord Penbarin hat uns auf deine Spur gebracht. Danach war es ganz leicht. Aysher und Silos haben deine Witterung aufgenommen und uns hierher geführt.« Isabel späht zu Mr Carter hinunter. »Sie werden einiges erklä ren müssen, aber das können Sie sich für Ihre Verhandlung aufheben.« »Genau jene Verhandlung, bei der Lady Arabella jetzt nur noch als Zeugin für Ihren Verrat auftreten muss«, ergänzt Neriah, während sie ein langes Seil in die Höhle wirft. Mr Carter hechtet danach, doch ich stoße ihn weg. Als er auf mich losgeht, halte ich drohend meine knisternden Hände hoch. »Meine Hände sind nicht mehr gefesselt. Das überleben Sie nicht, das kann ich Ihnen garantieren. Treten Sie zurück, Mr Carter. Ich werde als Erste dieses muffige Loch verlassen, in das Sie mich gesteckt haben.« Er blickt nervös über seine Schulter, und ich ahne, dass er wieder etwas gehört hat. Obwohl ich nicht das Geringste erkennen kann. Plötzlich reißt Mr Carter den Kopf herum und seine Augen weiten sich erneut vor Schreck. Da ist tat sächlich etwas im Tunnel, und nach seinem panischen Blick zu urteilen, nichts Angenehmes. »Schnell!« Aber ich muss ja erst meine Handschuhe anziehen, sonst verbrenne ich das Seil und dann ist es für uns beide nutzlos. »Beeil dich doch!«, schreit Mr Carter. »Hörst du es nicht?« Doch, jetzt höre ich es auch. Schwere Schritte, die rasch nä her kommen. Obwohl ich erst einen Handschuh überstreifen konnte, pa cke ich damit das Seil und rucke daran. Die Mädchen ziehen mich hoch. Als ich es ungefähr zur Hälfte geschafft habe, taucht ächzend und grunzend der Dämon auf. Beim Anblick 427
von Mr Carter beginnt er zu geifern. Dieser begreift nach einem kurzen Blick zu mir, dass er keine Chance hat. Ich strecke ihm die Hand entgegen, aber ich trage ja den zweiten Handschuh nicht, und die andere Hand hält den Strick. Drohend scharrt der Dämon mit dem Fuß. Rasch zerren mich Neriah und Isabel über den Rand des Lochs. Ich rolle zur Seite, dann werfen die Mädchen das Seil wieder hinunter und rufen Mr Carter zu, dass er es packen soll. Inzwischen hat ihm der Dämon jedoch den Weg abgeschnitten. Er streckt eine Hand nach oben, ergreift das Seil und zieht daran. Schreiend versuchen die Mädchen es festzuhalten, der Dämon ist jedoch zu stark und sie müssen schließlich loslassen. Mr Carter wirft uns einen langen, bedauernden Blick zu, ehe er sich umdreht und davonrennt.
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Kapitel 36
Matt
Wir treffen uns in einem sicheren Raum. König Richard und Lorian zeigen mir einen dreidimensionalen Plan der Festung. Während wir ihn studieren, nähern sich zwei Wachmänner. »Meldet der Kommandozentrale, dass sie unsere Position über Angel Falls halten, uns jedoch langsam absenken sollen«, ordnet Lorian an. Die Wachmänner nicken und machen sich sofort auf den Weg. Dann wendet sich Lorian zu mir und sieht mir dabei zu, wie ich mich in das Hologramm der Festung vertiefe. »Konzent riere dich, Matt. Du musst dir strategisch wichtige Punkte einprägen.« Er weiß, dass ich versuche, mich zu sammeln. Aber Isabel und Neriah sind schon so lange fort! Als Lord Penbarin eintrifft, stürze ich mich sofort auf ihn. »Habt Ihr Neuigkeiten?« »Keine Sorge, Matt. Sie können mehr, als du ihnen zu traust«, beruhigt mich Lord Penbarin. »Aber sie sind ganz allein in der Unterwelt.« König Richard muss lachen. »Sie sind zu dritt und haben die Hunde dabei. Da kann man kaum von ›allein‹ sprechen. Außerdem waren zwei von ihnen schon mal dort. Beruhige dich, Matt. Wir können hier nicht auf dich verzichten.« Er hat Recht. Ich atme tief durch, aber ganz werde ich das Gefühl nicht los, dass ich Rochelle im Stich gelassen habe. Ich habe gehört, wie sie mich gerufen hat … 429
»Und du bist ihr so schnell du konntest zu Hilfe geeilt«, ver sichert mir Lorian. »Marduke ist noch nicht bezwungen, ganz zu schweigen von meiner Schwester.« Ein Krieger tritt ein. »Welche Nachricht hast du für uns?«, fragt ihn König Richard. »Die Damen, Neriah, Isabel und Rochelle, sind wohlbehal ten zurückgekehrt und …« »Wo sind sie?«, unterbreche ich ihn. Da treten sie bereits durch die Tür. Ich laufe ihnen entgegen und umarme sie. Ein erleichterter Dillon ist bei ihnen. König Richard begrüßt sie freudig. »Was habt ihr mit dem Verräter gemacht?« »Mr Carter hat es nicht geschafft, Hoheit«, erklärt Isabel. Mir schwant, dass noch mehr dahintersteckt. »Aus der Höhle der Dämonen.« Der Krieger hinter ihnen räuspert sich vernehmlich. Da begreift Lord Penbarin, dass dieser mit seiner Meldung noch nicht fertig war. »Was ist, Milon?« »Es geht um die Dämonen, Mylord. Der erste ist bereits eingedrungen.« Lorian erstarrt, seine violetten Augen werden riesengroß. »Ist meine Schwester wahnsinnig geworden? Sie will doch wohl nicht die Erde regieren, wenn dort Geschöpfe walten, die sie an Bosheit übertreffen?« Keiner weiß etwas zu erwidern. Aber dann kommt mir ein Gedanke. »Mylord, könnte es sein, dass Lathenia es geschafft hat, die Dämonen zu unterwerfen?« »Wenn das wirklich zutrifft, ist sie viel mächtiger, als ich es für möglich gehalten hätte. Und unsere Lage ist verzweifelter denn je!« Er lässt die Augen zu dem dreidimensionalen Plan gleiten. »Ich brauche deine Hilfe, Matt. Wenn wir unsere 430
Kräfte vereinen, können wir die Festung zerstören. Es wäre ein trauriger und schlimmer Tag für die Wachen, weil wir so jämmerlich versagt haben. Aber uns bleibt keine andere Wahl.« Nach diesen Worten blickt er zu Lord Penbarin und König Richard. »Schafft unsere Leute hinaus, und zwar schnell! Die Festung fällt.« Die Mitglieder des Hohen Rats wechseln einen besorgten Blick. »Wie viel Zeit bleibt uns, Mylord?«, erkundigt sich König Richard. »Einen Augenblick, dann kann ich es euch sagen.« Lorian starrt mir in die Augen, ich spüre, wie jede Faser seines Ge hirns meines erforscht, um meine Kraft einzuschätzen. Er erkennt rasch, wie lange es dauern wird, unsere Kräfte zu vereinen und die Festung zu sprengen. »Sieben Minuten.« »Nur sieben Minuten!«, ruft König Richard. »Sieben Minuten zu viel«, fährt ihn Lorian an. »Wisst Ihr eigentlich, wie viele Dämonen meine Schwester in dieser Zeit einschleusen kann?« Wahrscheinlich Hunderte, aber den Ratsmitgliedern berei tet jetzt etwas anderes Sorge. »Mylord«, setzt Lord Penbarin an. »Arkarian und Jimmy befinden sich im Labyrinth.« »Mein Sohn kann Gedanken lesen. Warnt ihn.« Lord Penbarin wiegt den Kopf hin und her. Er wirkt verle gen. »Schon, Mylord, aber wir hatten seit einiger Zeit keine Verbindung mehr zu ihm. Vielleicht können unsere Gedanken die Mauern des Labyrinths nicht durchdringen.« Rochelle tritt vor und streift die Handschuhe ab. »Ich gehe und hole sie.« Isabel folgt ihr. »Ich begleite sie!« Als Lorian die beiden Mädchen mustert, umspielt der An flug eines Lächelns seine Mundwinkel. Schließlich nickt er. 431
»Gut, aber nehmt das mit.« Er reicht ihnen einen Kristall. »Achtet darauf, dass ihr draußen seid, bevor dieser Zeitmesser abgelaufen ist.« Dann blickt er zu Neriah, die bereits dazu ansetzt, sich ebenfalls freiwillig zu melden. »Du übernimmst die Kontrollräume und benachrichtigst Ethan. Sorge dafür, dass keiner zurückbleibt. Und ihr beiden«, fügt er an Dillon und Lord Penbarin gewandt hinzu, »gebt allen Übrigen Be scheid. Die Festung muss unverzüglich geräumt werden.« Sobald er mit mir allein ist, setzt Lorian sich an den Tisch, um sich zu sammeln – um jenes Ausmaß an Kraft zu erzeu gen, mit der dieses unfassbare Gebilde zum Einsturz gebracht werden kann. Plötzlich hält er inne und seufzt. »Es war ein langer Tag, Neffe, und ich bin müde. Aber so, wie ich meine Schwester kenne, ist er noch längst nicht zu Ende.«
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Kapitel 37
Rochelle
Im Labyrinth rührt sich nichts. Eigenartig. Wo sind die Ge schöpfe aus der Zwischenwelt? Werden es lebendige Wesen oder Schreckensbilder aus unseren Albträumen sein? Ich habe so viele davon! Isabel klammert sich urplötzlich an mich und schreit mir ins Ohr. Panisch beginne ich ebenfalls zu kreischen, obwohl ich nicht weiß, was ihr Angst macht. »Da!« Sie deutet auf eine Stelle am Boden neben unseren Füßen. »Die haarigste, hässlichste, größte …« Ich schiebe sie von mir weg, weil ich keine Luft mehr be komme. Dieses Verhalten passt so wenig zu ihr, dass ich neu gierig geworden bin. Ich blicke zu Boden. »Was meinst du?« »Die Spinne da! Bist du blind? Sie ist so groß wie ein Fuß ball!« Prüfend wandert mein Blick erneut nach unten, aber bis auf einen Schatten kann ich immer noch nichts entdecken. »Keine Panik, Isabel. Ich glaube, ich weiß, wie wir hier wieder heil herauskommen.« »Ach ja?«, erwidert sie. Ihre Stimme ist nur noch ein Wim mern. »Sag’s mir schnell. Sieht ganz so aus, als wäre diese Spinne hungrig.« »Also, erstens ist hier nicht die Spur einer Spinne. Das bil dest du dir nur ein.« Ich greife mit der Hand nach unten und streiche über den Schatten am Boden. 433
»Halt! Tu das nicht!« »Die Spinne ist genauso real wie eine von Ethans Illusionen. Nicht mehr und nicht weniger.« »Aber er kann seine Visionen lebendig werden lassen, Ro chelle.« »Und umgekehrt mit seinen Gedanken wieder aus der Rea lität verbannen. Genau so müssen wir jetzt vorgehen. Ver stehst du?« Sie geht neben mir in die Hocke, schließt die Augen und holt tief Luft. Als sie die Augen wieder aufmacht und nach unten blickt, beginnt sie erleichtert zu lächeln. »Ist sie weg?«, frage ich nach. Sie nickt. Nachdem sich der Grund für ihre Angst in Luft aufgelöst hat, ändert ihr Gesicht die Farbe, von aschfahl zu puterrot. Sie streicht sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und steckt sie hinters Ohr. »Bitte erzähl nieman dem davon. Vor allem nicht Matt und Ethan, ja? Sie würden es mir immer wieder unter die Nase reiben.« »Glaubst du etwa, ich würde ihnen freiwillig einen Grund dafür liefern, dass sie sich vor uns als Machos aufspielen können? Bei mir ist dein Geheimnis sicher.« »Gut. Wir sollten uns jetzt beeilen.« Sie wirft einen Blick auf den Zeitmesser aus Kristall, den ihr Lorian gegeben hat. Er ist bereits ein Stück abgelaufen. »Wir haben nur noch fünf Minu ten.« Wir laufen los und springen auf die erstbeste bewegliche Treppe, die unseren Weg kreuzt. Oben angekommen hasten wir von Raum zu Raum. »Arkarian! Jimmy!«, ruft Isabel, während ich versuche, die beiden über meine Gedanken zu erreichen. Aber niemand antwortet. Über eine weitere Treppe gelangen wir zu einer Reihe von Räumen, die ebenfalls leer 434
sind. Türen öffnen und schließen sich ohne unser Zutun vor und hinter uns. Mir kommt es vor, als wäre uns die Festung bei unserer Suche behilflich, als machte sie sich ebenfalls Sorgen. Als wir auf einen Treppenabsatz treten, beginnt er sich un ter unseren Füßen aufzulösen und wir springen über die Treppe rasch nach unten. Wie groß und verzweigt das Laby rinth ist! Auch wenn der größte Teil davon für das Auge nicht sichtbar ist, handelt es sich ganz offensichtlich um ein gewalti ges Gebilde. Soweit ich verstanden habe, ist es ein zeitloser Bereich, wir könnten uns also endlos verlaufen, ohne zu ahnen, wie viele Minuten nach dem irdischen Zeitbegriff bereits verstrichen sind. Aus diesem Grund hat uns Lorian vermutlich den Kristall mitgegeben. »Es muss noch einen schnelleren Weg geben, als jeden Raum einzeln abzusuchen.« »Welchen?«, fragt Isabel. Langsam streife ich die Handschuhe ab. »Bedeck dein Ge sicht. Ich versuch’s mal mit meinen Händen.« Funken stieben aus meiner Hand, als ich sie auf das Trep pengeländer neben mir lege. Vor meinem inneren Auge formt sich das Bild von jahrtausendealtem Holz – Rotem Eukalyp tus, der einst von einer Flut fortgeschwemmt und in deren trübem Wasser konserviert wurde. Ich versuche mir Arkarians und Jimmys Bild vor Augen zu rufen. »Hilf uns, Arkarian und Jimmy zu finden!« »Und?«, erkundigt sich Isabel. Nach einem Blick auf den Zeitmesser fügt sie hinzu: »Wir haben nur noch drei Minuten, um die beiden zu finden und uns selbst zu retten!« Die Treppe wechselt die Richtung, was ich für ein gutes Zei chen halte. Kaum beginne ich mich ein wenig zu entspannen, 435
bemerke ich, wie Isabel neben mir erstarrt. »Was ist das denn?« Auf dem Treppenabsatz über uns formt sich ein Schatten. Während wir uns nähern, nimmt er die Gestalt eines Mannes an. Ich bekomme eine Gänsehaut. Irgendwie erscheint mir diese Person entsetzlich vertraut. Mein Blick gleitet zu seinem locker herabhängenden Arm. In der schwieligen Hand hält er einen schwarzen Ledergürtel. »Isabel, sag mir, was du siehst.« Isabel schaudert. »Ich sehe nur einen Schatten, aber er hat eine böse Ausstrahlung. Mir läuft’s kalt den Rücken runter.« Sie dreht sich zu mir. »Warum? Was siehst du denn?« Wir nähern uns der Stelle, wo der Mann steht. Ich erwidere mit leiser Stimme: »Meinen Vater.« »Ist er tot?« »Nein, er sitzt im Gefängnis!« »Dann ist er nicht real.« »Er sieht aber so aus.« »Wie meine Spinne, weißt du noch?« Als wir den Treppenabsatz erreichen, klatscht das ziemlich echt wirkende Abbild meines Vaters den Gürtel gegen das Geländer. Ich taumle rückwärts. Sogar Isabel duckt sich, obwohl sie die Bosheit meines Vaters doch nur erahnt, wäh rend ich sie mit eigenen Augen sehen kann! »Arkarian! Jimmy!«, schreit Isabel und versucht mich wei terzuziehen. Aber mein Vater hat andere Pläne, er hält mich am Arm zurück. »Sachte, sachte, Schätzchen. Begrüßt man so seinen alten Herrn nach all den Jahren?« »Rühr mich nicht an!«, kreische ich und versuche, mich seinem Griff zu entwinden. Aber er packt nur noch fester zu. 436
Ein weiteres Mal ruft Isabel Jimmy und Arkarian und will mich mit in einen Flur ziehen. »Er ist nicht echt. In Wirklich keit sitzt er im Gefängnis. Begreif doch, er ist nicht echt!« »Ich spüre aber den Griff seiner Hand!« »Isabel hat Recht.« Als ich aufblicke, steht Arkarian vor mir. Seine sonst sanf ten Augen sind voller Sorge. Hinter ihm kommt Jimmy ange rannt. »Was ist geschehen? Was macht ihr denn hier? Wir sind fast fertig. He, wo kommt denn der Typ her? Ich dachte, wir hätten diese Etage schon geräumt.« Arkarian bringt ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Ro chelle, vergiss nicht, dass du ihn durch deine Gedanken hierher gebracht hast. Du hast die Kraft, ihn in die Flucht zu schlagen.« Isabel blickt nervös auf den Zeitmesser. »Schnell, in zwei Minuten geht hier alles in die Luft!« »Was?«, ruft Jimmy. Mit einem schnalzenden Laut landet der Gürtel auf meiner Schulter. Schreiend kauere ich mich zusammen. »Du kannst deinen Vater hier und jetzt endgültig loswer den«, versucht Arkarian mich zu überzeugen. Endlich begreife ich, was er mir sagen will. Dies ist die Gelegenheit für mich, das zu tun, was ich schon vor langer Zeit hätte tun sollen – und was meine Mutter nie fertig gebracht hat. »Eine Minute!«, zischt mir Isabel ins Ohr. Erneut holt mein Vater aus und ich beobachte, wie der Gür tel auf mich zukommt, aber dieses Mal ducke ich mich nicht. Stattdessen strecke ich die Hand nach oben, fange ihn und ziehe daran, bis ich den Arm meines Vaters zu fassen bekom me. Er brüllt vor Schmerz, als meine Hand seine Haut ver sengt. Ich spüre, wie er zusammensackt, dann löst er sich auf und verschwindet vor meinen Augen. 437
»Zehn Sekunden!«, ruft Isabel. Jimmy und Arkarian nehmen uns an der Hand. Alle zu sammen springen wir auf einen Treppenabsatz, der sich bewegt. Nach einem weiteren Blick auf den Zeitmesser sagt Isabel: »Jetzt!« Noch während sie dieses Wort ausspricht, beginnt der ge samte Raum und alles darin zuerst weiß, dann gelb und schließlich feuerrot zu glühen. Arkarian, Jimmy und Isabel ähneln plötzlich Skeletten. »Oh nein!«, stöhnt Jimmy. »Schnell!« Arkarian zieht uns alle eng an sich. Aber ich fürchte, es ist zu spät. Unter unseren Füßen ver schwindet die Treppe und wir fallen.
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Kapitel 38
Matt
Die Festung fällt. Stein, Glas, Marmor und Kristall stürzen in sich zusammen. Die Überlebenden haben im Reich meines Vaters Zuflucht gesucht, der sie mit offenen Armen aufneh men wird. Sie haben ihre Aufgabe hier erfüllt und sich ein friedvolles Leben redlich verdient. Hinter dem Bergrücken sehe ich die Trümmer der Festung in die Tiefe fallen. Eine weitere Explosion erhellt den Himmel und lässt noch mehr Bruchstücke auf den Berg herabregnen. Suchend sehe ich mich nach vertrauten Gesichtern um. Ei nige Mitglieder des Hohen Rats fehlen, aber wir wissen, dass König Richard nach Athen geeilt ist, um Lady Arabella wieder auf freien Fuß zu setzen. Wie sehr habe ich ihr mit meiner Anklage Unrecht getan! Auch Lorian hat eingeräumt, dass er ihr Unrecht zugefügt hat. »Bei unserer nächsten Begegnung werde ich dies als Erstes zur Sprache bringen«, hat er kürzlich erklärt. Was die anderen Ratsmitglieder betrifft, so ist Lady Devi ne mit den meisten ihrer Krieger ebenfalls in Athen, um in den Heilungsräumen behandelt zu werden. Unmittelbar neben mir machen Lord Samartyne und Lord Penbarin gerade eine Bestandsaufnahme ihrer Heere. Shaun und Dillon unterstützen sie dabei. Der Verbleib von Mr Carter sowie von sechs weiteren Wachen ist ungeklärt. Wo mögen Ethan und Neriah stecken? Zuletzt hieß es, sie seien zusam 439
men mit Mitgliedern des Hohen Rats und einigen Kriegern aus dem Kontrollraum geflohen. Seither sind sie offenbar verschwunden. Erneut spaltet eine Explosion den Himmel. Der letzte Teil der Festung bricht zusammen. Es ist das Labyrinth. Lorian und ich haben dafür gesorgt, dass es erst ganz zum Schluss zerstört wird. Aber nach wie vor fehlt jede Spur von meiner Schwester, von Rochelle, Arkarian oder Jimmy, die sich alle noch vor kurzem darin aufgehalten haben. Wir können nur abwarten und hoffen, dass ihnen die Flucht geglückt ist. Doch als die Sekunden verrinnen und sich der Staub gelegt hat, den die letzten herunterfallenden Ziegel aufgewirbelt haben, werden wir unruhig. Shaun ist der Erste, der es nicht mehr aushält. »Es muss doch irgendetwas geben, was wir tun können! Wir müssen zumindest irgendwie herausfinden, wo sie sind!« Ich bemühe mich, wenigstens Gedankenfetzen von ihnen wahrzunehmen, und durchsuche im Geist die Trümmer der Festung. Nichts. Stirnrunzelnd läuft Dillon auf einen seltsam geformten Ge genstand zu, der vom Himmel fällt. »Was ist das denn?« Er fängt den Gegenstand auf und bringt ihn uns. Es ist ein schwarzer Ledergürtel. Er hebt ihn hoch, damit alle ihn begutachten können. Shaun schüttelt den Kopf. »Den habe ich noch nie gesehen. Ich glaube nicht, dass er Jimmy oder Arkarian gehört.« Als ich ihn in die Hand nehme, stürmen plötzlich Rochelles Gedanken auf mich ein. Sie teilt mir mit, wo sie sich gerade befinden. Sofort spurte ich los. »Wo willst du hin?«, ruft Dillon und eilt mir nach. »Sie kommen. Und es wird eine harte Landung!« 440
Alle vier landen dicht beieinander. Noch während sie sich aufrappeln, streift Rochelle hastig ihre Handschuhe über. »Alles in Ordnung?«, frage ich sie. Sie nickt. »Ich denke schon.« Isabel kriecht zu Arkarian, um zu sehen, ob er verwundet ist. Als er ihr versichert, dass es ihm gut geht, wendet sie sich an Jimmy. »Hast du dir was gebrochen?« »Meinen Knöchel.« »Beweg dich nicht.« Sie legt die Hand auf sein Bein und be ginnt ihn zu heilen. Lorian schickt mir vom Bergrücken aus seine Gedanken. Er befiehlt uns, sich ihm rasch anzuschließen. »Braucht jemand von den anderen Hilfe?«, erkundigt sich Isabel bei mir. »Unglücklicherweise sind noch nicht alle zurück«, entgeg net Shaun mit zitternder Stimme. Rochelle will mich etwas fragen, merkt jedoch, dass ich noch gedanklich mit Lorian in Verbindung stehe. Seine Bot schaft ist Besorgnis erregend und ich runzle unwillkürlich die Stirn. Mein Blick verrät meine Gefühle. Sie fasst mich am Arm. »Was ist los?« »Lathenia erwartet uns auf dem Bergrücken mit ihrem Heer.« »Was?«, ruft Dillon aus. »Aber wir haben ihr Heer soeben vernichtet. Was hat sie denn jetzt noch auf Lager?« Von düsteren Vorahnungen gepackt, machen wir uns auf den Weg zur Kuppe des Berges, wo sich Lorians Silhouette wie ein lang gezogener Schatten in der Nachmittagssonne ab zeichnet. Als wir näher treten, dreht er sich zu uns um. In seinen Augen lodert Zorn. Bei Arkarians Anblick werden sie einen Moment sanfter, aber gleich darauf sind sie wieder hart 441
wie Stahl. Ich spüre mein Herz langsam und dumpf schlagen. Was wird uns hier oben erwarten? Kurz darauf verstehe ich Lorians Wut. Ethan und Neriah wurden gefangen genommen! Lathenia muss sie sich in all dem Durcheinander bei dem Fall der Festung geschnappt haben. Nun sind sie ihre Gefangenen, eingesperrt in goldene Käfige, die hoch in der Luft hängen und unter Strom stehen. Grünliche Lichtblitze pulsieren knisternd um die Metallgitter. Aber Ethan und Neriah sind nicht die einzigen Waffen, die Lathenia für diese letzte, entscheidende Schlacht ins Feld führt. Hinter den Käfigen hat sich ein Heer von Dämonen versammelt. Endlose Reihen von Dämonen in Schlachtord nung, so weit das Auge reicht. Sie sind rastlos. Schnaubend scharren sie mit den Füßen. Es sind Hunderte, ja, bestimmt an die tausend. Einer in der vordersten Reihe fällt mir auf. Er scheint ihr Anführer zu sein. Ihn werde ich im Auge behalten müssen. Neben mir höre ich die anderen erschrocken aufstöhnen. Lord Penbarin schüttelt fassungslos den Kopf. Königin Brysti anne umklammert das Tuch um ihren Hals. Beide Ratsmit glieder stehen unter Schock. Shaun kann den Blick nicht von seinem Sohn wenden. »Wie konnte das geschehen?« »Wir werden sie befreien«, versucht Rochelle ihm Mut zu machen. In meinem Innern lodert unbändiger Hass auf. Doch als ich an Lorian vorbeigehen will, stemmt er die Hand gegen meine Brust und zwingt mich stehen zu bleiben. »Du musst Ruhe bewahren. Wenn du jetzt die Beherrschung verlierst, bist du keine Hilfe für die beiden. Mehr denn je solltest du dich der Fähigkeiten besinnen, die dich dein Vater gelehrt hat.« 442
»Ich werde die Göttin töten, und jeden einzelnen Krieger ihres Heeres dazu!« »Nein, ich werde sie töten«, entgegnet er leise. »Denn sie hat mich heute viel gekostet. Dass sie diese beiden als Geiseln genommen hat, wird ihr Verderben sein. Damit ist sie zu weit gegangen.« Isabel tritt zu mir. Ihr Blick gleitet zwischen Ethan und Ne riah hin und her. »Man hat sie geschlagen. Ethans Rippen sind gebrochen, er bekommt kaum noch Luft. Auch Neriah ist verletzt, aber ihre Wunden verheilen von selbst.« Ich sehe zu Neriah hinüber. Unsere Blicke treffen sich. Als sie mir ihre Gedanken mitteilt, kann ich ihren Schmerz spü ren. Die Käfige stehen unter Strom. Nichts kann durch das Gitter dringen. Lathenia plant, uns mitzunehmen. Du musst zuerst Ethan retten. Schließlich kennt ihr euch schon von klein auf, und seine Mutter darf nicht noch ihr zweites Kind verlieren, und … Ich werde immer bei dir sein, egal, in welcher Welt ich gezwungen bin zu leben. Nein! Hör mir zu … »Achte auf deine Gedanken«, ermahnt mich Lorian. »Meine Schwester kann sie lesen. Sieh nur, wie sie lächelt.« Er hat Recht. Lathenias Lächeln ist hämisch und sogar … frohlockend. Sie wartet nur darauf, dass ich einen Fehler mache, indem ich mich von meinen Gefühlen leiten lasse. Marduke zu ihrer Rechten beobachtet uns lauernd. Ab und zu wandert sein Blick zu dem hoch über dem Erdboden hängen den Käfig, in dem seine Tochter sitzt. Wie kann ein Vater seiner Tochter nur so etwas antun? Dann höre ich ihn schnauben, Spucke trieft aus seinem rüsselähnlichen Mund. Das beantwortet meine Frage. Mein Blick gleitet zu dem Dämon an seiner Seite, der in der 443
einen Hand eine Kette, in der anderen eine Axt trägt. Er sieht mich unverhohlen an und hält beide Waffen grunzend nach oben. Seine Botschaft ist klar. Ich muss mich dazu zwingen, gleichmäßig weiterzuatmen. Als Shaun mich von hinten am Arm berührt, mache ich vor Schreck einen Satz. »Warum benutzt mein Sohn seine Schwingen nicht, um dem Käfig zu entfliehen?« »Vielleicht fehlt ihm dazu die Kraft«, wirft Dillon ein. »Er sieht mitgenommen aus.« Und Rochelle ergänzt: »Niemals würde er Neriah allein sterben lassen.« Sie sagt die Wahrheit. Es gab Zeiten, in denen ich Ethan für einen eher schwachen Charakter hielt. Wie sehr habe ich mich geirrt! Plötzlich stößt Isabel einen Seufzer aus. »Ich habe die Rip pen heilen können, so dass er wenigstens eine Weile leichter atmen kann. Da, Ethan schließt die Augen! Ich glaube, er hat etwas vor, Matt.« Als ich mich in seine Gedanken einklinke, erkenne ich, dass es in seinem Kopf wie wild arbeitet. Ich ziehe mich wieder zurück, um ihn nicht zu stören. Ohne den Blick von Ethan abzuwenden, erteile ich den Umstehenden Befehle. »Haltet eure Waffen bereit und wartet auf das Signal. Jimmy, du zielst auf die hinteren Reihen. Isabel, du übernimmst die Mitte. Arkarian, du springst überall dort ein, wo Hilfe nötig ist.« Isabel tippt mich an. »Teile mich mit Rochelle zusammen ein.« »Warum?«, fragt Rochelle barsch. Ich schüttle kaum merklich den Kopf, gerade genug, um Isabel zu vermitteln, dass ich Rochelle Deckung geben werde und sie die Angelegenheit auf sich beruhen lassen soll. 444
»Ich finde eben, wir waren ein tolles Team«, murmelt Isa bel, um Rochelle nicht zu beunruhigen. Sie hat in den letzten Stunden genug durchgemacht, noch eine Sorge mehr kann sie nun wirklich nicht brauchen. Rasch gebe ich die letzten Anweisungen. »Shaun, du und Dillon zerschlagt die vorderen Reihen.« »Und vergiss nicht«, erinnert mich Lorian, »Lathenia ist mein!« Liebend gern würde ich mich dieser Unsterblichen selbst an nehmen, aber die Stimme meines Onkels ist erfüllt von leiden schaftlichem Zorn, dass ich nicht zu widersprechen wage. »Was ist mit mir?«, fragt Rochelle. »Du hast mich einst aus Mardukes Fesseln befreit, nun möchte ich, dass du dasselbe für Ethan und Neriah tust. Wenn du es geschafft hast, begib dich zu den vorderen Reihen und kämpfe an meiner Seite.« »Kann ich mein Messer wiederhaben?« »Ein Messer ist bei diesen unter Strom stehenden Käfigen wirkungslos.« »Ich brauche das Messer, um mich gegen die Dämonen zu verteidigen.« Einen Augenblick lang starre ich sie an. Müssen wir schon wieder darüber diskutieren? »Mit dem Messer kannst du gegen solche Kreaturen nichts ausrichten. Du musst deine Hände einsetzen.« Beim Blick auf die Ungeheuer erschaudert sie. »Aber das bedeutet, dass ich sehr nahe an sie herangehen muss. Matt, du weißt nicht, wie grausam sie sind. Mr Carter war vor Angst wie gelähmt.« »Ich werde an deiner Seite kämpfen. In Ordnung?« Lorian lässt mich wissen, dass sich soeben etwas getan hat. 445
Vor unseren Augen beginnen sich Ethan und Neriah aufzulö sen. Binnen weniger Sekunden sind die beiden verschwunden. »Was geht hier vor?«, ruft Lathenia aus. Mehrmals stößt sie ihr Schwert durch das Gitter von Ethans Käfig. Funken stieben durch die Luft, die elektrische Ladung knistert hörbar. Der ganze Käfig erzittert unter der Wucht der Schläge. Immer wieder holt Lathenia aus. Diesmal hat sie sich Neriahs Ge fängnis vorgenommen. Wieder nichts. »Marduke! Wo sind sie hin? Hast du etwa deine Hand im Spiel?« Er beteuert seine Unschuld und ich nutze die augenblickli che Verwirrung. Wenn wir uns einen Vorteil sichern wollen, müssen wir schnell handeln. Keiner weiß, wie lange Ethans unglaubliche Illusion anhalten wird. Ich hebe die Hand und lasse sie nach unten fallen. »Jetzt!« Jimmy feuert seine Granaten in die hinteren Reihen ab und verursacht ein Chaos. Marduke gibt den Dämonen den Befehl zum Angriff. Sie ächzen und knurren und scharren mit den Füßen. Dann stürmen sie mit Äxten, Schwertern und Ketten auf uns zu. Hoffentlich habe ich diese Bestien nicht unterschätzt. Sie ähneln weder den Zaunkönigen noch all den anderen Wesen, mit denen wir bisher zu tun hatten. Und ihr Geruch allein reicht völlig aus, um einen umzuhauen. Shaun hat es mit zwei Dämonen gleichzeitig aufgenommen. Plötzlich erscheint König Richard in Begleitung von Lady Arabella. Ich muss mich unbedingt bei ihr entschuldigen, aber dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt. Lady Arabella sieht sich suchend um und ich deute den Bergrücken hinunter. »Er ist dort unten, Mylady, und deckt die nördliche Flanke.« Sie nickt kurz und macht sich auf den Weg, während König Richard das Schwert zieht und Shaun zu Hilfe eilt. 446
Ich finde mich Auge in Auge mit dem Dämon wieder, der sich als Anführer bezeichnet. Er führt die Kette mit großem Geschick. Schon mit dem ersten Schlag schleudert er mir die Axt aus der Hand. Ich befehle Kraft in meine Finger und richte sie gegen ihn. Blaues Licht flackert zwischen uns auf und wirft ihn nach hinten. Grunzend liegt er am Boden, und obwohl in seinem Bauch ein riesiges Loch klafft, schafft er es, wieder aufzustehen. Zu meiner Überraschung stürzt er sich erneut auf mich und versetzt mir mit dem Kopf einen Stoß vor die Brust. Damit hat er mich überrumpelt. Er nimmt Anlauf und greift wieder an, die Kette und meine Axt mit schier unglaublicher Heftigkeit führend. Ich packe ihn am Arm und versuche, ihm die Axt zu entwinden. Mit der freien Hand lässt er die Kette über meinen Rücken sausen. Der brennende Schmerz geht mir durch und durch. Jetzt ächze ich genauso wie der Dämon. Zwar versuche ich von Neuem, seinen anderen Arm zu packen, aber er weicht meinem Griff geschickt aus. Allein mit der Wucht seines Körpers wirft er mich um. Sich dem Sieg nahe wähnend, rammt er mir das Knie in den Hals und erstickt mich fast. Ich würde meine Kraft benutzen, um ihn abzuwer fen, habe jedoch Mühe, überhaupt atmen zu können. Nun hebt er die Axt und zielt direkt auf meinen Kopf. Immer noch nach Atem ringend muss ich hilflos zusehen, wie er Anstalten macht, sie auf mich niedersausen zu lassen. Da schreit der Dämon plötzlich auf. Eine Peitsche schlingt sich um seine Mitte und schleudert ihn von mir herunter. Arkarians leuchtend blauer Haarschopf erscheint in meinem Blickfeld. Ich greife nach seiner ausgestreckten Hand. »Wie hat dich diese Bestie derart überrumpeln können?« Ich zucke mit den Achseln und löse die Axt aus den Klauen des toten Dämons. »Er hat mir die Luft abgedrückt.« 447
Mein Kommentar scheint Arkarian zu belustigen. »So leicht ging das also, hm? Wie dem auch sei, der Kampf mit dem Dämon war reine Zeitverschwendung, du wirst woanders dringender gebraucht. Lathenia ist außer sich vor Wut, und Lorian hat alle Hände voll zu tun, mit ihr fertig zu werden.« »Was ist mit Ethan und Neriah?« Ich folge seinem ausgestreckten Arm mit dem Blick. Ro chelle hat Neriahs Käfig heruntergeholt und ist dabei, das Gitter mit den Händen zu zerstören. Inzwischen ist Neriah wieder sichtbar und der Freiheit nahe, aber Rochelles Vorge hen hat Marduke auf den Plan gerufen. Sie bräuchte mehr Zeit! Ich schließe die Augen und konzentriere mich. Über uns sammeln sich auf meinen Befehl hin schwarze Wolken, ge paart mit heftigem Wind. Marduke wird davon abgelenkt und plötzlich trifft ihn ein Blitzstrahl. Doch der Blitz kommt nicht vom Himmel. Er stammt aus der Hand seiner eigenen Toch ter. Marduke stößt einen klagenden Laut aus, und als Neriah ihm entgegentritt, schnaubt er und verschwindet. Ich sehe mich um. Das Schlachtfeld ist mit toten Dämonen übersät. Unsere Waffen erweisen sich als wirksam, und ich bin froh, dass Neriah ihre Kräfte sogar während der Gefangen schaft verbergen konnte. Dass es Ethan ebenso gelungen ist, bezweifle ich. Seine Waffe lässt sich nicht so leicht verstecken. Mehr Dämonen greifen an, und die nächsten Minuten sind Arkarian und ich damit beschäftigt, sie abzuwehren. Mit einem Mal steht Neriah an meiner Seite und unterstützt mich mit ihrer Waffe im Kampf gegen weitere heranstürmende Dämonen. Als sie mir zulächelt, hebt sich meine Stimmung. Da durchschneidet ein Schrei das Schlachtengetümmel, ein Schrei, der mit keinem Laut, den ich je gehört habe, vergleich 448
bar ist. Alle am Kampf Beteiligten halten inne und richten ihre Aufmerksamkeit auf die Unsterblichen. Sie ringen miteinan der, jeder mit einem Schwert und einem Messer bewaffnet. »So weit sind wir also gekommen, Schwester. Ich hätte dich erledigen sollen, als ich im Mutterleib die Gelegenheit dazu hatte.« Mit zornfunkelnden Augen stößt Lathenia einen gellenden Schrei aus und macht einen Ausfallschritt. »Ha! Wenigstens am Ende gibst du zu, dass du mich um mein Erstgeburtsrecht gebracht hast!« »Nein«, entgegnet Lorian, während er ihr ausweicht, »ich habe dich nicht betrogen, denn nicht du solltest als Erste geboren werden!« »Was sagst du da?« »Dartemis sollte der Erste sein.« »Du lügst! Er war der Jüngste.« »Er war immer der Klügere und hat sich aus unserem Streit herausgehalten.« »Willst du damit sagen, dass er den Thron nicht begehrt hat, obwohl er ihm rechtmäßig zustand?« »Er ist ein Gott des Friedens. Er kann warten, bis der Thron ihm zufällt.« »Du redest, als würde er noch leben.« »Eins jedenfalls ist sicher, Schwester, du wirst es niemals erfahren«, erwidert er und entwaffnet Lathenia. Ihr Schwert fliegt in hohem Bogen durch die Luft. Fassungslos blickt sie hinterher und in diesem Moment stößt Lorian ihr sein Schwert tief in die Brust. Sie erstarrt und richtet die hervorquellenden Augen auf das Schwert zwischen ihren Rippen. »Du würdest mich töten?« »Ich muss. Der Tod ist die einzige Lösung.« 449
Lange sieht ihn Lathenia ungläubig an, dann schließt sie die Augen. Lorian seufzt und wendet sich ab. Ein Fehler! Lathenia öff net die Augen wieder und richtet sich mühsam auf. Sie hält immer noch den Dolch in der Hand. Mit der letzten ihr verbliebenen Kraft – der Kraft einer Unsterblichen – wirft sie ihn in Lorians Richtung. Bei dem Geräusch dreht sich Lorian um. Ein weiterer Feh ler. »Vater!«, ruft Arkarian. Der Dolch trifft sein Ziel. Tief dringt er in Lorians Kehle ein. Lorian legt die Hände an den Hals, aber seine Augen verraten, dass er sein Schicksal besiegelt weiß. Er wird sterben. Genau wie seine Schwester. Dann bricht er zusammen. Lady Arabella, Arkarian und Isabel eilen zu ihm, doch es ist bereits zu spät. Die Geschwister sind tot.
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Kapitel 39
Rochelle
Die
Unsterblichen sind tot! Ich kann es nicht fassen! Sie haben sich tatsächlich gegenseitig umgebracht. Erschüttert und wie in Trance laufen wir umher. Isabel beruhigt Arkarian, und Lord Penbarin versucht Lady Arabella zu trösten, die vollkommen aufgelöst ist. Plötzlich höre ich Matts Stimme. »Wir werden ihnen einen Tempel errichten. Und zwar aus den Steinen der Festung, damit er den Blicken der Menschen entzogen ist. Wie die Festung, so wird auch der Tempel in großer Höhe im Universum schweben. Lord Penbarin und Königin Brystianne, könnt Ihr die Leichname zum Begräbnis vorbereiten?« »Ja, Mylord«, antwortet Lord Penbarin. Ja, Mylord!, wiederhole ich in Gedanken. Königin Brystianne tritt zu uns. Sie wischt sich die Tränen vom Gesicht. »Wir müssen sie zunächst nach Athen transpor tieren. Zum Glück haben wir einen Teil der technischen Geräte gerettet.« »Ja, bringt sie umgehend nach Athen. Später werden wir ihnen zu Ehren eine Trauerfeier abhalten. Da Lathenia nicht mehr lebt, kann mein Vater Dartemis nun in unsere Welt zurückkehren, sofern er das möchte. Zum ersten Mal in seinem Leben darf er sein himmlisches Gefängnis verlassen. Ich habe keine Ahnung, wie er sich entscheiden wird.« Er sieht Arkarian an. »Würdest du bei der Trauerfeier eine Rede 451
halten, Arkarian, falls Dartemis beschließt, in seinem Reich zu bleiben?« Arkarian nickt. Matt drückt ihm sanft die Schulter, ehe er sich an uns wendet: »Wer immer sich dazu in der Lage fühlt, wird gebeten, die Überreste des Kampfes auf dem Hügel zu beseitigen und mit den Vorbereitungen für den Bau des Tempels zu beginnen. Sobald der Tempel errichtet ist und die Unsterblichen zur Ruhe gebettet sind, bilden wir ein Heer und bringen die seelenlosen Kreaturen, die die Erde über schwemmt haben, zur Strecke. Wir werden die Krankheiten bekämpfen, die sie uns gebracht haben, und die Übergänge zwischen den Welten schließen.« Er hebt die Hand, als deute er auf die Luft, die wir atmen. »Und sobald die Natur wieder im Gleichgewicht ist, wird der Unheil bringende Wind abflau en, und auf der Erde wird wieder Frieden einkehren.« Matt nimmt alles in die Hand. Als ich mich umsehe, wird mir klar, dass wir genau das brauchen. Und da er der Sohn eines Unsterblichen ist und selbst zu den Unsterblichen zählt, gehört es zu seiner Aufgabe, Anweisungen zu erteilen. Während Lord Penbarin und Königin Brystianne die Vorbe reitungen für die Überführung der Leichname von Lorian und Lathenia nach Athen treffen, säubern die anderen die Umge bung von den Überresten der gefallenen Festung und schichten das noch verwendbare Material auf. Shaun und Jimmy über nehmen die unangenehme Arbeit, die Überreste sämtlicher, nun hoffentlich vernichteter Dämonen wegzuschaffen. In all dem Durcheinander vergesse ich meine Handschuhe wieder überzustreifen und berühre unabsichtlich Dillons Hand, als wir gemeinsam die Trümmer zusammenklauben. Schreiend weicht er zurück. »Pass doch auf! Was soll das? Roh, wo sind deine Handschuhe?« 452
Alle drehen sich um und sehen mich an. Ich werfe einen Blick auf Dillons Hand und will mich soeben entschuldigen, kann aber gar keine Verletzung erkennen. Vielleicht hat er nur so heftig reagiert, weil er Angst vor den Kräften hat, die meine Hände bergen. »Bleib mir bloß mit deinen Händen vom Leib, hast du ver standen?« Nach all den Erlebnissen des heutigen Tages verliere ich angesichts von Dillons übertriebener Reaktion die Nerven. Ich drehe mich um und betrachte die vielen Menschen. Hat er etwa das ausgesprochen, was jeder von ihnen denkt? Miss trauen sie mir nach wie vor, obwohl der wahre Verräter über führt ist und ich Seite an Seite mit ihnen gekämpft habe? Befürchten sie vielleicht, ich würde mich gegen sie wenden und meine Hände als Waffen einsetzen? »Denkt ihr etwa alle so?« Als sie einander ansehen, dringen ihre Gedanken zu mir. Sie sind betreten. Betreten! Ich spüre einen Kloß im Hals, den ich mit aller Kraft versuche hinunter zuschlucken. Kann nicht wenigstens einer von ihnen wider sprechen und mich gegen Dillons unsensible Äußerung in Schutz nehmen? »Glaubt ihr denn tatsächlich, ich würde euch willentlich verletzen, wenn sich mir die Gelegenheit dazu bietet? Wagt sich deshalb niemand von euch in meine Nähe? Oder haltet ihr mich etwa nur für überspannt?« Hastig nehme ich meine Handschuhe aus der Tasche und ziehe sie mir vor aller Augen über. »So! Ich werde sie nie wieder ausziehen. Versprochen! Fühlt ihr euch nun sicherer?« Ethan tritt auf mich zu. Aus seinem Blick und seinen Ge danken lese ich unendlich viel Mitgefühl. Abwehrend strecke ich die Hand aus. »Bleib, wo du bist. Ich will dein Mitleid nicht, Ethan. Ich wollte dein Mitleid noch nie.« 453
Plötzlich habe ich nur einen Wunsch: allein zu sein! Ir gendwo zu sein, nur nicht hier. Unter diesen … Fremden – als solche empfinde ich sie nämlich in diesem Augenblick. Ich drehe mich um und laufe in den nahe gelegenen Wald. Hinter mir höre ich sie darüber streiten, wer von ihnen mir denn nun hinterherrennen soll. »Vergiss es, Isabel!«, ruft Ethan. Ich schalte ab. Nein, ich will nichts mehr hören. Nur allein sein. Ich kann ziemlich gut rennen. Und schnell. Zweige und. Ranken versperren mir den Weg, aber es ist mir einerlei. Sie zerkratzen mir Arme und Gesicht, doch ich laufe einfach weiter. Als sich ein Zweig in meinem Ärmel verfängt, zerre ich daran und zerreiße dabei meine Bluse. Endlich habe ich den Bergrücken erreicht und bleibe stehen. Der steile Fels fällt hundert Meter ab ins Tal. Dort unten liegt Angel Falls. In weiter Ferne kann ich sogar den Ozean erken nen. Ein überwältigender Anblick. Tief atme ich die kühle Bergluft ein und versuche, wieder zur Ruhe zu kommen. Das Geräusch raschelnder Blätter, knackender Äste und sich nähernder Schritte sagt mir, dass Ethan in der Nähe ist. Als er den Rand der Klippe erreicht hat, wendet er sich um und sieht mich. Ich brauche seine Gedanken nicht zu lesen, um zu wissen, dass er erleichtert ist. Ein unsicheres Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht. Reglos steht er da und mustert mich, während er versucht, wieder zu Atem zu kommen. Plötzlich werde ich nervös. Was will er hier? Weshalb musste er mir unbedingt folgen? Einen Augenblick später geht er auf mich zu und bleibt unmittelbar vor mir stehen, so nah, dass ich seinen warmen Atem auf meiner Stirn spüre. Er nimmt meine Hände und zieht mir langsam einen Handschuh aus. Instinktiv ziehe ich die Hand zurück. »Was soll das?« 454
Doch er ergreift sie erneut. Diesmal fester. Ohne zu antwor ten, streift er den Handschuh ab. Funken fliegen ihm ins Gesicht. Gewiss spürt er sie. Aber er weicht nicht zurück. Er nimmt den Handschuh und wirft ihn über die Klippe ins Wasser. »Ethan!« Dann tut er das Gleiche mit dem zweiten Handschuh. Ich versuche ihm zuvorzukommen, damit er ihn nicht auch wegwirft, aber sein Arm ist länger als meiner, und schon fällt der Handschuh in die Tiefe. »Ethan, warum? Ich muss sie doch tragen. Was soll ich jetzt in der Schule machen?« Er nimmt meine glühenden Hände in seine und dreht die Handflächen nach oben. »Das sind deine Hände. Sie sind ein Teil von dir, das heißt, sie sind ein Merkmal, das zu dir gehört. Ich weiß, dass du niemanden absichtlich verletzen würdest, und ebenso wenig würde das jemand in deinem Bekannten kreis annehmen. Ab sofort – zumindest bis die Schule wieder beginnt – trägst du keine Handschuhe mehr. Je seltener du sie überziehst, desto besser gelingt es dir, die Kräfte in deinen Händen zu kontrollieren.« »Aber Dillon …« »Dillon ist nun mal vorlaut und hin und wieder unsensibel und gedankenlos. Das ist seine Art. Ich möchte ihn nicht in Schutz nehmen, aber er hat die Bemerkung gemacht, ohne nachzudenken, weil du ihn nämlich einschüchterst. Wie die meisten von uns.« Ich schnaube verächtlich. »Du bist begabt und hübsch, und außerdem …«, er holt tief Luft, »… verleihen dir deine Hände ungeheuer viel Macht. Du kannst in unsere Seelen blicken.« 455
Während ich seine Worte verdaue, legt er meine Hände auf seine Wangen. Diese Geste berührt mich so tief, dass mir die Tränen in die Augen steigen. Ich versuche sie fortzublinzeln, doch sie lassen sich nicht unterdrücken. »Weshalb tust du das?«, frage ich ihn. »Weil mir was an dir liegt«, entgegnet er, runzelt allerdings unmittelbar darauf die Stirn. »Nein.« »Nein? Also liegt dir doch nichts an mir?« »Ich wollte sagen: Ich tue es, weil ich dich liebe.« Ich traue meinen Ohren nicht. »Was hast du da eben gesagt?« Er lächelt mich an und ich kann den Blick nicht von ihm wenden. »Ich habe dich von dem Augenblick an geliebt, in dem ich dir begegnet bin«, sagt er. »Ich wäre so gerne mit dir zusammen gewesen, und als ich den Eindruck hatte, du hättest kein Interesse an mir, hat sich meine Zuneigung in Hass verwandelt. Das war der größte Fehler meines Lebens.« »Ethan …« Ehe ich noch ein Wort sagen kann, drückt er seine Lippen auf meinen Mund und küsst mich. Plötzlich versinkt alles um uns herum. Und alles ist, wie es sein soll. Wir küssen uns erneut und halten uns im Arm. Ich bin glücklich. Doch unvermittelt drängt sich ein Gedanke in meinen Kopf. Er weckt ein irgendwie vertrautes Gefühl. Ich sehe hinüber zu dem bewaldeten Gebiet und halte Ausschau nach der Ursache. Ethan bemerkt meine Unruhe. »Was ist?« »Da war ein Geräusch. Ist dir jemand gefolgt?« Er schlingt die Arme fester um mich. »Nicht, dass ich wüss te. Ich habe den anderen klar gesagt, dass ich mit dir allein sein möchte. Vielleicht sollten wir besser zurückgehen.« Er hat Recht. Ich nicke. Doch plötzlich meldet sich das Ge 456
fühl erneut, und wieder versuche ich, es zu ergründen. Dies mal brauche ich nur kurz zu überlegen, um zu wissen, wessen Gedanken es sind. Ich war schließlich lange genug seine Spio nin. Es ist Marduke. Und er hält sich ganz in der Nähe auf. Mit zusammengekniffenen Augen suche ich die Umgebung nach ihm ab, aber er versteht es gut, sich zu tarnen. Als ich erneut seine Gedanken wahrnehme, durchschaue ich seine Absicht. Nachdem er seine Verbitterung lange mit sich he rumgetragen hat, hat er sie schließlich auf eine Person gelenkt. Und zwar auf jene Person, die all seine Bemühungen, die Revanche einzufordern, vereitelt hat. Ethan. Es war Ethan, der sich in seinen Träumen Mardukes Bild ins Gedächtnis gerufen hat. Es war Ethan, der ihn bekämpft und getötet hat, so dass er aus der Zwischenwelt als Ungeheuer zurückgekehrt ist. Und es war Ethans Verschulden, dass Marduke Lathenia an einen anderen Mann verloren hat, weil er kein Mensch mehr war. Marduke will sich an Ethan rächen. Er will ihn auslöschen. Ein für alle Mal. Mein Herz beginnt wie wild zu schlagen. Marduke ist im Besitz von Ethans Pfeil und Bogen. Während er den Pfeil einspannt, nehme ich seine Gedanken wahr. Suchend drehe ich mich um – aus welcher Richtung mag er sich nähern? »Rochelle, was ist denn?« Ich höre ein zischendes Geräusch. Oh nein! Der vergiftete Pfeil fliegt genau auf Ethan zu. Fest entschlossen, ihn abzulen ken, damit er sein Opfer nicht trifft, werfe ich mich vor Ethan. Der Pfeil dringt in mich ein. Ich spüre, wie er sich durch meine Rippen hindurch direkt in mein Herz bohrt. Der Himmel verschwimmt vor meinen Augen. Ich taumle. Ethan spürt, dass ich zusammensacke, und fängt mich auf, ehe ich auf den Waldboden sinke. »Rochelle!« 457
Als er den Pfeil entdeckt, weiten sich seine Augen. »Rochel le!« Ich strecke die Hand nach ihm aus und berühre sein Ge sicht. »Du bist jetzt sicher. Du bist nicht mehr in Gefahr.« Er schüttelt den Kopf. Seine Augen füllen sich mit Tränen, die ihm langsam übers Gesicht laufen. Ich versuche sie weg zuwischen, aber mir fehlt die Kraft. Ich sterbe. Aber das ist nicht schlimm. Die Wachen werden mein Opfer ehren. Und, was noch wichtiger ist: Ethans Liebe ist fest in meinem Her zen. Eines Tages werden wir wieder zusammen sein. Ethan schreit. »Nein, nein, nein!«
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Kapitel 40
Matt
Nie werde ich Ethans Gesichtsausdruck vergessen, als er aus dem Wald auf uns zurennt. Schlaff liegt Rochelles Körper in seinen Armen, ein goldener Pfeil ragt aus ihrer Brust. Ebenso wenig werde ich jemals die Verzweiflung in seiner Stimme vergessen, als er Rochelle vor Isabel auf den Boden legt. »Schnell, Isabel! Heile sie, rasch!« Isabel und Arkarian knien sich hin. Isabel legt die Hände auf Rochelles Gesicht, ihren Nacken, ihre Brust. Tief beküm mert sieht sie Arkarian an, ehe sie die mit Tränen gefüllten Augen hebt und sich Ethan zuwendet. »Es gibt für mich nichts mehr zu tun.« »Es fällt dir bestimmt noch etwas ein. Isabel, ich flehe dich an, du kannst doch jeden heilen! Hast du nicht auch mich wiederhergestellt, als ich die schweren inneren Verletzungen hatte?« Arkarian steht auf und streckt den Arm nach Ethans Schul ter aus. »Da hast du aber noch geatmet, Ethan. Rochelle ist bereits tot.« Ethan schüttelt Arkarians tröstende Hand ab. »Nein! Sie war …, wir waren …« Plötzlich leuchten seine Augen auf. »Wir können sie wieder lebendig machen, Arkarian. Du und ich. Isabel haben wir doch auch wieder ins Leben zurückge holt. Weißt du nicht mehr? Wir haben die Zwischenwelt aufgesucht und ihre Seele gerettet.« 459
Isabel runzelt die Stirn und lässt mich über ihre Gedanken wissen, dass sie keine Ahnung hat, wovon Ethan redet. Doch da jetzt nicht der richtige Zeitpunkt ist, nachzufragen, schweigt sie. Arkarian blickt Ethan in die Augen und neigt den Kopf. »Ethan, Rochelle ist in der Gegenwart gestorben. Ihre Seele wandert nicht durch die Zwischenwelt. Ihr Körper ist hier, direkt vor uns. Sie atmet nicht. Ihre Seele befindet sich auf dem Weg zu ihrer endgültigen Bestimmung. Wir sind macht los.« Schluchzend bricht Ethan zusammen. Halb wahnsinnig vor Schmerz greift er mit beiden Händen nach dem Pfeil und reißt ihn ihr mit einem Schrei aus der Brust. Entsetzt wenden wir den Blick ab. »Der vergiftete Pfeil steckt nicht mehr in ihrem Körper!«, ruft er gellend, die Augen wie im Irrsinn geweitet. »Jetzt kann sie geheilt werden.« Shaun kauert sich neben Ethan und legt die Hand auf sei nen Arm. »Ganz ruhig, mein Sohn.« Doch Ethan verweigert sich dem Trost seines Vaters und rückt von ihm ab. »Fass mich nicht an! Komm mir nicht zu nahe, es sei denn, du zauberst Rochelle wieder her.« Im selben Augenblick kommt ihm ein Gedanke. Er hallt deutlich in meinem Kopf nach, als er zu mir aufblickt. Sein Wunsch ist ihm aus den Augen abzulesen, die jetzt wie dunkle Strudel wirken. »Bist du dazu in der Lage?« Ich schüttle den Kopf. »Nein.« Er steht auf. »Aber du bist doch unsterblich! Deine Kräfte übersteigen unsere um ein Vielfaches!«, schreit er und wendet sich an Arkarian. »Ist es ihm möglich, Arkarian?« Ehe Arkari an antworten kann, wendet sich Ethan an die übrigen Mitglie 460
der des Hohen Rats. Als Sir Syford mit den Händen eine Geste der Hilflosigkeit vollführt, brüllt Ethan: »Ist denn niemand hier, der mir das sagen kann?« Er stürzt auf mich zu und packt mich an den Schultern. »Matt, du musst es versuchen!« »Ethan, es ist unmöglich!« »Warum? Was sind das für Unsterbliche, die die Toten nicht zurückbringen können?« »Unsere Kräfte wirken auf die Lebenden. Wir können Le ben verlängern, so wie Lorian es für Arkarian und Isabel getan hat. In seltenen Fällen können wir Unsterblichkeit verleihen, wie mein Vater es bei Neriah getan hat. Der Tod jedoch ist Schicksal. Man muss ihn hinnehmen.« Mit rot verweinten Augen und tränenüberströmtem Ge sicht greift Isabel von hinten nach Ethans Hand. »Ich habe dich enttäuscht. Ich kann dir nicht helfen. Es tut mir so leid.« Ethan schlingt die Arme um sie und birgt den Kopf an ih rer Schulter. Lange steht er so da und schöpft Kraft, ehe er sich wieder aufrichtet und ihr in die Augen sieht. »Dich trifft keine Schuld.« Er blickt von einem zum andern. »Es ist nie mandes Schuld.« Plötzlich bleibt sein Blick an Neriah hängen. »Außer …« Er tritt einen Schritt von Isabel zurück und seufzt tief. Sein ganzer Körper zittert, als er hörbar wieder ausatmet. »Ich muss noch etwas erledigen.« Neriah umschließt meinen Arm noch fester. Wie wir alle, weiß sie genau, worauf Ethan anspielt. »Aber Ethan«, richtet Arkarian behutsam das Wort an ihn. »Marduke wird ohnehin bald sterben«, sagt er und blickt nach Westen, wo die Sonne im Begriff ist unterzugehen. »Der Fluch wird in Kürze seine Wirkung entfalten.« 461
Ethan schüttelt den Kopf. »Mir geht es nicht um den Fluch. Ich muss es mit meinen eigenen Händen tun!« Hastig greift er nach dem goldenen Pfeil und verschwindet. Als Arkarian mich ansieht, nicke ich. Wir werden nicht zu lassen, dass Ethan sich allein auf dieses Wagnis einlässt. Ei lends machen wir uns auf den Weg und sind bereits wenig später dicht hinter ihm. Als er uns hört, dreht er sich zu uns um. »Wehe, ihr haltet mich von meinem Vorhaben ab.« Schweigend gehen wir neben ihm her. Jedes Wort wäre überflüssig. Wir werden Marduke in Kürze eingeholt haben. Seine Spuren sind überall erkennbar. Wie ein verwundeter Bulle hetzt er durchs Gehölz und schlägt seine Fäuste in Bäume und Sträucher. Ich hebe einen zerbrochenen Ast auf. »Er stirbt bereits.« Ethan blickt auf die Sonne, die rasch hinter den fernen schneebedeckten Gebirgszügen versinkt. »Dann sollten wir uns besser beeilen.« Auf einem Felsbrocken sitzend, nach Atem ringend, den Oberkörper vornübergebeugt, so finden wir ihn. Ethans Bogen liegt zu seinen Füßen. Er spürt, dass wir da sind, und blickt uns an. Sein Auge ist trüb und er wirkt eingefallen. »Ihr habt meine Tochter. Jetzt gehört sie dem Licht. Was habt ihr mit meinem Bruder gemacht?« »Er befindet sich tief in der Unterwelt – dort, wo er hinge hört«, presst Ethan hervor. »Wird er fliehen?« »Nein.« »Und die Göttin?« »Sie ist von ihrem Bruder umgebracht worden.« »Und was ist mit Keziah?« 462
»Er ist verschwunden. Allerdings wird er ohne seine Herrin, die ihm dieses lange Leben ermöglicht hat, allmählich dahin siechen und sterben.« »Dann bin ich allein. Erfüllt eure Pflicht. Ich respektiere Rache.« Lange lässt Ethan den Blick auf Marduke ruhen. Vor ihm sitzt das Ungeheuer seiner Albträume. Der Mörder seiner Schwester, die Bestie, die ihm seine größte Liebe geraubt hat. Wie einfach, wie befriedigend wäre es, diesen Mann umzu bringen? Doch der Pfeil entgleitet Ethans Fingern und fällt zu Boden. »Nein. Selbst eine Revanche wäre eine zu große Ehre für dich.« Kaum senkt sich die Dunkelheit und setzt diesem langen, unheilvollen Tag ein Ende, da holt Marduke mühsam ein letztes Mal Atem, ehe sein Körper zu Stein wird.
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Dank
Die Trilogie über die Hüter der Zeit entstand mit der Unter stützung vieler Menschen. Dabei gilt folgenden Personen mein ganz besonderer Dank: Zuallererst möchte ich meinen Kindern danken. Amanda, die die Wirkung meines Textes beurteilte und die wunderbars ten Eingebungen hatte. Danielle für ihre einzigartigen Anmer kungen, als die Manuskripte bereits nahezu fertig vor mir lagen. Und meinem Sohn Chris für seine wertvollen Beiträge aus der Perspektive eines Siebzehnjährigen. Darüber hinaus schulde ich ihm Dank für seine waffentechnischen Ratschläge. Gleichermaßen möchte ich meinem Mann John für seine unerschöpfliche Unterstützung und Ermutigung einschließ lich der zahllosen tröstlichen Tassen Tee danken. Ein ganz besonderer Dank geht an meinen Agenten Geoff rey Radford, der mit seinem Beistand, seiner Ausdauer und Entschlossenheit darauf geachtet hat, dass wir mit unserer Arbeit nicht in Verzug geraten. Letztendlich möchte ich den Mitarbeitern des Bloomsbury Verlags aufs Herzlichste danken, die an dem Fortgang der Trilogie beteiligt waren. Insbesondere meiner Lektorin Ele Fountain für die präzise Durchsicht aller drei Bücher, ihr Ge schick, Formulierungen auf ihre Richtigkeit zu erkennen, sowie für ihre nimmermüde Begeisterung am Fortgang des Romans. Marianne Curley 464
Marianne Curley wurde 1959 in Windsor, Australien, gebo ren. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in einem kleinen Ort an der Küste von New South Wales. Das vorlie gende Buch ist nach Die Hüter der Zeit und Die Rache der Göttin der abschließende Band der Trilogie über die Zeithüter.
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