Dämonenjäger
Frank MacLachlan
Die Mystery-Serie von Jake T. Magnus
Band 46
Die Prophezeiung Teil 2 - von Prospero Vergangenheit Noch hing das blaue Schimmern des Tores für eine Sekunde in der Luft, dann hatte sich die Nacht wieder über den Teil des Parks gelegt, in dem kurz vorher noch eine Schlacht geschlagen worden war. Doch nicht der Verlierer war auf dem Schlachtfeld geblieben, sondern der Gewinner. Und noch jemand war erschienen, jemand, mit dem der Gewinner nicht gerechnet hatte. Er hatte gewonnen – aber diese Tatsache verwirrte den Boten der Nacht eher, als dass sie ihn freute. Denn der Sieg hatte einen billigen Beigeschmack – er hatte nicht das Gefühl, ihn aufgrund seiner Fähigkeiten errungen zu haben. Nein, die Hüter der Macht hatten ihn absichtlich gewinnen lassen – aber warum? Sollte er sich deswegen Sorgen machen? Er wusste es nicht. Noch während er darüber nachdachte, fühlte er eine Präsenz, die er lange nicht mehr gespürt hatte. Eine Ausstrahlung, die bis ins Innerste seines Wesens drang und Bilder von Dingen hervorrief, die alles andere als angenehm waren. Er drehte sich abrupt um und versuchte erst gar nicht, sich zu verbergen. Der Verursacher dieser Aura war weitaus gewandter in den dunklen Künsten als er. “Der Herr der Finsternis,” stellte der Dämon fest, als dieser wenige Minuten später in der Mitte des Rasens stand. McDonald, der seine Arme demonstrativ vor seiner Brust verschränkt hatte, nickte ihm nur kurz zu. Der Bote war sich nicht sicher, was diese Geste bedeuten sollte. “Ich wusste, dass ich dich hier treffen würde”, sagte der Herr der Finsternis und diese Aussage hatte einen sehr ironischen Unterton. “Was willst du von mir?” Der Bote der Nacht wahrte einen gewissen Abstand – was angesichts der Präsenz McDonalds gar nicht so einfach war. “Eigentlich nur eine Kleinigkeit – mich bedanken.” “Bedanken?”, fragte der Dämon verwirrt. McDonald lächelte. Sein Lächeln glich dem eines zufriedenen Tigers, der gerade eine Mahlzeit verschlungen hatte, bei dem man aber nicht sicher sein konnte, ob er nicht noch Appetit auf einen Nachtisch hatte. “Gewissermaßen verdanke ich dir meine Existenz. Nun, nicht in erster Linie, aber du hast einen nicht unwesentlichen Anteil an meiner Entstehung.” “Ich begreife nicht ganz ...” “Das brauchst du auch nicht. Es gibt Dinge, die nur ich zu verstehen brauche.” McDonalds Lächeln erlosch. Er trat einen Schritt auf ihn zu. “Ich mache dir ein Angebot – ich vergesse deinen Vertragsbruch und nehme dich in meine – nun, nennen wir es Arbeitsgemeinschaft – auf.” “Und was erhalte ich als Gegenleistung dafür?” “Dein Leben?” Der Bote der Nacht brach in schallendes Gelächter aus. “Bei allem Respekt, so mächtig kannst selbst du nicht sein. Ich kann mich meiner Haut wehren.” “Ich würde es mir an deiner Stelle überlegen, gut überlegen. Ich mache solch ein Angebot nicht jedem ...” McDonalds Augen wurden bei diesen Sätzen schmal und
spätestens jetzt hätte der Dämon auf der Hut sein sollen. Doch trotz der Tatsache, dass sein Sieg nicht auf seinem eigenen Können beruhte, war sich der Dämon seiner sehr sicher. Vielleicht etwas zu sicher. “So großzügig dein Angebot auch sein mag, ich lehne es ab.” McDonald zuckte mit den Achseln. “Schade. Ich vergeude nur ungern gutes Material.” Für einige Sekunden geschah nichts und der Dämon glaubte schon, der Herr der Finsternis würde ihn unbehelligt gehen lassen. Doch er hatte sich getäuscht – urplötzlich hob McDonald seine rechte Hand empor und aus der Handfläche raste ein Ball dunkler Materie auf den Dämon zu. Dieser versuchte noch, sich zu ducken und außer Reichweite zu gelangen, aber es gelang ihm nicht. Die dunkle Materie erwischte einen Fangarm des Dämons und begann nun, sich unaufhörlich und rasend schnell durch den Körper des Boten durchzufressen. Eine Welle unendlichen Schmerzes raste durch den Dämon. Er schrie. Er versuchte, sich aufzuspalten, um dem Schmerz zu entgehen. Ein vergeblicher Versuch – die dunkle Materie wanderte auch in den zweiten Teil des Körpers. Ungerührt von dem Rasen und Toben des Dämons stand McDonald da, mittlerweile wieder mit überkreuzten Armen. Die Schreie des Boten wurden schwächer und schwächer und verstummten schließlich ganz, nur noch die dunkle Materie blieb übrig. Mit einem Fingerschnippen schwirrte diese in Form eines dunklen Balls wieder zu McDonald zurück und verschwand geräuschlos in seiner Handfläche. “Wirklich schade”, murmelte McDonald. “Aber jetzt bleibst du wenigstens teilweise bei mir.” Er lachte. Und noch lange, nachdem McDonald längst wieder verschwunden war, hallte das gespenstische Echo seines Gelächters durch den Park.
Franks Tagebuch
Ich starre auf das weiße Papier und frage mich immer wieder, wie es eigentlich dazu kommen konnte. Natürlich, weder ich noch Jane, noch irgendjemand sonst hat Schuld an den Ereignissen – dennoch hat sich eine schwarze Wolke auf mein Gemüt gelegt und ich befürchte, in der nächsten Zeit werde ich nicht so leicht wieder fröhlich sein können. Es war ein Fehler, die alten Photoalben hervorzukramen und in ihnen zu blättern. Aber wie so oft kann man das erst im nachhinein sagen – nachher weiß man immer alles besser, nicht wahr? Ich halte dieses Photo in meinen Händen, starre auf den Schnappschuss und kann meine Tränen nicht zurückhalten. Es tut immer weh, einen Freund zu verlieren – aber diesmal haben wir weit mehr verloren ...
Bericht Frank MacLachlan Alles begann damit, dass wir auf einen sehr mordgierigen Dämon aufmerksam gemacht wurden, der im Städtchen Merkheim sein Unwesen trieb. Genauer: Ein Hüter der Macht platzte einfach in unser Hauptquartier herein und erklärte uns den Sachverhalt. Offenbar hatten die Hüter der Macht Probleme, diesen Dämon in seine Schranken zu weisen und so erklärten wir uns bereit, die Hüter zu unterstützen. Von D’Arroyo erfuhren wir, dass Agrippa von Nettelsheim in der Vergangenheit den Dämon besiegt hatte – beziehungsweise, er hatte ihn irgendwie gebannt. Demzufolge sollten wir in die Vergangenheit reisen, um Agrippa zu beobachten. Doch nicht wir alle, sondern nur Jack nahm dann an dem geheimnisvollen Ritual der Hüter teil, das ihn in die Vergangenheit bringen sollte. Kurzer Rede, langer Sinn: Die Hüter spielten ein falsches Spiel mit uns. Denn als das Ritual vollendet war, verschwand Jack und das Buch mit der Zeitmagie, dass sie für das Ritual benutzt hatten, verbrannte – als wir eingreifen wollten, hinderten
uns die Hüter daran. Frustriert und verwirrt landeten wir wieder in unserem Hauptquartier, Jacks Villa. Kurz darauf tauchte Julian auf und erklärte sich bereit, uns in die Vergangenheit zu bringen, doch wir würden nur beobachten, und nicht eingreifen können. Wir stimmten ohne zu Zögern zu. Und jetzt stehe ich mit einem reichlichen Brummschädel irgendwo in einer Gasse und versuche, mein Gleichgewicht wiederzufinden. Anscheinend habe aber nicht nur ich mit den Nachfolgen dieser Zeitreise zu kämpfen. Donna sieht sehr blass aus und Jane murmelt irgendwas von “Scheißzeitreisen” vor sich hin. Im Gegensatz zu uns wirkt der Hexenmeister aus der Hölle, wie Julian Summers auch genannt wird, so, als wäre er gerade einer englischen Nobelkarosse entstiegen. Julian, der seit ziemlich langer Zeit auf unserer Seite stand. Wir hofften, dass seine gute Natur noch eine Weile die Oberhand behalten würde, ihn zum Feind zu haben war keine erfreuliche Aussicht. “Verdammt noch mal,” flucht Donna. Ich sehe sie erstaunt an, solche Ausdrücke bin ich von ihr gar nicht gewohnt. “Bezahlt die Krankenkasse eigentlich die Folgeschäden einer Zeitreise?” “Vermutlich erst, wenn die einen Arzt vom MD durch ein Tor schicken ...”, frotzelt Jane. “Weiß jemand zufällig, wo und wann wir sind?” Ihre Frage beantwortet Julian in seiner bekannt mysteriösen Weise: “Es ist nicht so bedeutsam, wann und wo man ist, sondern was passiert. Und das, was hier passiert, wird sehr aufschlussreich sein – für manche.” Und von der einen Sekunde zur anderen war Julian einfach verschwunden. “Na klasse,” meinte Jane ironisch und trat in das Licht einer Gaslampe. “Manchmal ist Julian ein richtiger Schweinehund.” “Beruhigt euch,” sagte ich. “Julian wird schon seine Gründe haben.” “Die hat er doch immer,” meinte Donna und begann die Umgebung zu mustern. Wir standen in einer sehr engen Gasse. Das Kopfsteinpflaster sowie die Gaslampen ließen eher auf die frühen Jahre des vorletzten Jahrhunderts schließen. Leider besaß ich nicht die ausreichenden Kenntnisse, um das zu beurteilen. Und als ich in die Gesichter meiner Freunde sah, wusste ich, dass sie auch nicht die geringste Ahnung hatten, wo wir waren. Die Luft war angenehm frisch und trug noch nicht das Aroma der industriellen Welt in sich, aus der wir kamen. Ich trat auf die Hauptstraße hinaus. Frauenfiguren mit wallenden Gewändern sahen auf den Passanten der Straße herab. Das Gebäude an der Ecke musste irgendeinen repräsentativen Zweck erfüllen. Ich war beeindruckt. Donna, die hinter mir hergekommen war, pfiff anerkennend als sie die Statuen erblickte. “Meine Güte, die haben nicht gekleckert, die haben geklotzt.” Jane hatte sich uns angeschlossen und gemeinsam betraten wir jetzt die breite Hauptstraße. Was mir als erstes auffiel, waren die zahlreichen buntverglasten Fenster. Das warme Licht der Gaslampen ließ die Farben zwar nicht richtig zur Geltung zu kommen, aber ich konnte mir schon gut vorstellen, wie sie an einem klaren Sommertag wirken mussten. Natürlich waren da noch die Figuren, die aus der Hausfassade herauswuchsen. Einige von ihnen erkannte ich – Justitia mit den verbundenen Augen, daneben befand sich offensichtlich das Glück, denn neben der aparten Dame war ein Glücksrad abgebildet – und die ersten Zeilen von Orffs “O Fortuna” kamen mir in den Sinn. “Jugendstil, eindeutig”, bemerkte Jane. “Das ist von der Renaissance aber sehr weit entfernt”, murmelte ich. “Warum haben die Hüter Jack in dieses Zeitalter geschickt?” Donna zuckte mit den Schultern. “Die bessere Frage wäre: Was machen wir jetzt eigentlich?” “Julian wird vermutlich wieder auftauchen, wenn es wichtig wird. Von daher ist es unsinnig, wenn wir auf ihn warten würden. Er wird schon seine Gründe haben, warum er uns ausgerechnet hier abgesetzt hat.” Ich nickte. Jane hatte Recht. “Mein Vorschlag ist,
dass wir uns ...” Doch ich kam gar nicht dazu, den Satz zu beenden. “Jack! Seht doch, da vorne ist Jack!”, rief Donna aufgeregt. “Hey, Jack, hier sind wir.” Sie brüllte den Satz geradezu in seine Richtung, doch Jack und die Gestalt, die bei ihm war, setzten unbeirrt ihren Weg fort. Jane legte eine Hand auf Donnas Schulter. “Gib dir keine Mühe, Donna. Weder er noch irgendjemand anders wird uns hören können – geschweige denn sehen.” Donna wandte sich ihr zu – und in ihrer Stimme lag ein Ausdruck von Erstaunen gemischt mit Bedauern. “Stimmt. Ich hatte es ganz vergessen.” Ich lächelte ihr aufmunternd zu. “Damit wäre unsere Marschrichtung vorgegeben – wir folgen Jack und dem geheimnisvollen Menschen, der bei ihm ist.” Wir setzten uns in Bewegung und innerhalb weniger Minuten erreichten wir die beiden Gestalten. Ich sah in Jacks Gesicht und er schien verwirrt und desorientiert zu sein. Offenbar war auch bei ihm die Zeitreise anders verlaufen, als er gedacht hatte. Schließlich sagte er: “Mein Schicksal soll sich hier erfüllen? Welches Schicksal?” Offenbar setzte er ein kurz zuvor begonnenes Gespräch fort. Die Stimme, die unter der Kapuze hervorkam, klang uns allen vertraut, aber noch konnten weder ich noch die anderen ihr ein Gesicht zuordnen. “Ein Schicksal, dem du dich nicht entziehen wirst, Jack Claim.” “Wie pathetisch. Und wie soll sich mein Schicksal erfüllen, könntest du da etwas präziser werden?” Jacks Stimme war voll beißender Ironie. “Du wirst es sehen, Jack Claim. Und erleben.” In diesem Moment schlug der geheimnisvolle Fremde seine Kapuze zurück und beinahe gleichzeitig rief Jack, offenbar genauso überrascht wie wir, einen Namen. Einen Namen, den wir nur allzu gut kannten. “Julian?”
Donnas Tagebuch
Vielleicht wäre es besser, wir würden ausziehen. Ausziehen aus diesem Haus, das so viele Erinnerungen in sich birgt. Das de facto noch Jack Claim gehört – mein Gott, wir müssen unbedingt die magischen Sicherungen verstärken. Was schreibe ich da bloß? Ich muss verrückt sein. Oder doch nicht? Vielleicht ist es das Absurde der Situation, mit dem wir momentan nicht fertig werden. Einfach so, von einem Augenblick zum andern, hat sich die Welt weitergedreht, haben sich die festgefügten Konstellationen aufgelöst. Über Nacht, wie man so schön sagt. Im Grunde sind wir aber immer noch alle vor den Kopf gestoßen und wissen nicht, was als nächstes zu tun ist. Mein Gott, diese Stille im Haus macht mich noch wahnsinnig!
Bericht Jane Cardigan Julian – hallt es in mir nach. Julian Summers. Ich sehe die Überraschung in Franks Gesicht. Julian Summers, der Magier aus der Hölle. Wir sind so verdutzt, dass wir abrupt stehen bleiben und gar nicht richtig mitbekommen, wie Julian und Jack um eine Ecke biegen. Frank fällt es als erstem auf und er rennt ihnen hinterher, kommt aber einige Sekunden später wieder zurück. “Sie sind verschwunden.” “Also, irgendwie überrascht mich das nicht wirklich”, murmle ich. “Julian Summers – allmählich frage ich mich, was für ein Spiel er spielt.” “Ich spiele keine Spiele”, erklingt Julians Stimme hinter uns. Wir drehen uns auf der Stelle um. Ich sehe forschend in sein Gesicht, aber es sieht so aus wie immer. “Warum hast du uns das verschwiegen?” “Weil es nicht von Interesse für euch ist.” Diese Worte dringen mir ins Mark, weil sie so kalt und emotionslos ausgesprochen werden. Für einen Moment habe ich eine Gänsehaut. “Was hast du mit Jack gemacht?”, faucht ihn Frank geradewegs an und
gerade noch rechtzeitig kann ihn Donna bremsen.
“Ich? Gar nichts. Ich habe nur dafür gesorgt, dass sich sein Schicksal erfüllt. Mehr nicht.”
“Und was ist sein Schicksal?”
“Ihr werdet es sehen – in der nächsten Sekunde.” Julian schnippt mit dem Finger und die
Umgebung verändert sich.
Bericht Frank MacLachlan
Wie in einer schlechten Überblendung überlagert sich das Bild der Gasse mit dem Bild
eines flachen, hohen Plateaus, ein Flackern, eine Verdrehung der Geometrie: dann sind
wir da. Doch noch bevor wir richtig erkennen können, wo wir genau sind, dringen erregte
Kampfgeräusche an unsere Ohren.
Doch ehe ich mich genauer umsehen kann, meint Jane: “Verdammt noch mal –
irgendwoher kenne ich diesen Ort doch.” Dies ist eine Erkenntnis, der wir uns nur
anschließen können.
Zugegeben, es gibt Kleinigkeiten – einige Anbauten sind noch nicht vorhanden, die Burg
selbst wirkt noch ein wenig frischer und alles in allem hängt dem Gebäude eine Aura an,
wie man sie von neuen, eben gekauften Möbelstücken kennt. Aber es ist – “Die Burg der
Hüter der Macht.” Donna hat meinen Gedankengang beendet.
Wir befinden uns an der Westseite der Burg. Wir kennen diesen Teil des Geländes nur
flüchtig. Wie überall ist auch hier die Burg von imposanten Bergen umgeben, deren
Gipfel meist wolkenverhangen sind. Über uns erhebt sich eine breite, flache Plattform,
die so wirkt, als hätte sie jemand aus dem Bergrücken herausgesägt. Dort sehen wir
einen Hüter, der mit Etwas kämpft, das ich auf den ersten Blick nicht recht einordnen
kann. Nicht nur dort, auch direkt vor uns liefern sich die Hüter einen verbissenen Kampf
gegen eine Dämonenart, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Es sind aufrechtgehende,
massige Gestalten. Ihr Arme hängen wie bei den Affen fast bis zum Boden.
Schwefelfarbene Augen dominieren einen Kopf, der ansonsten nur noch aus drei
Mündern zu bestehen scheint. Eine Reihe von scharfen Zähnen blitzt auf, wenn sie sich
auf ihren Gegner stürzen – und ab und an scheint es, als würden diese Zähne rotieren.
Was der Wahrheit entspricht. Der Anblick dieser Schreckensgestalten löst in mir Ekel und
Abscheu aus.
“Wo ist Jack?”, frage ich mich und gleichzeitig auch Julian. Doch er schweigt und deutet
nur auf das Plateau über uns. Offenbar scheint man unsere Anwesenheit immer noch
nicht zu bemerken. Theoretisch könnten wir auf das Plateau gelangen – praktisch jedoch
ist das unmöglich, der Höhenunterschied ist zu groß und Julian scheint auch nicht der
Meinung zu sein, dass er uns helfen müsse. So konzentrieren wir uns auf den Hüter der
Macht, der dort oben allein gegen einen Dämon kämpft. “Offensichtlich der Anführer von
diesen Dingern”, sagt Jane. “Oder zumindest jemand, der die Horden lenkt.” Wir
beobachten den Kampf eine Weile und ich versuche, mir den Gegner des Hüters genauer
anzusehen.
Zuerst nehme ich nur eine dunkle Wolke wahr, die sich an gewisse Grenzen zu halten
scheint – dann jedoch verdichtet sich diese mehr und mehr vor meinen Augen und ich
sehe die überdimensionale Verkörperung eines der für mich schlimmsten Monster der
Antike – es ist der Höllenhund Zerberus, dessen Geifer auf das Plateau tropft und
offensichtlich den Belag sofort zersetzt. Allerdings besitzt diese Ausgabe des
Höllenhundes der antiken Legenden noch ein Attribut, dass ich eher bei der Gorgone
vermutet hätte – massenweise Schlangen, die mit ihren gierigen Mäulern nach dem Hüter
schnappen. Dieser machte einen schnellen Schritt zur Seite und konzentriert sich auf die
drei Hundeköpfe mit ihren Reißzähnen und dem giftigen Geifer. Die Schlangen wachsen
dem Biest regelrecht aus der Haut. Und offensichtlich kann es sie gerade dort entstehen
lassen, wo es sie braucht. Später erfahre ich, dass jeder von uns etwas anderes gesehen hat – ich den Zerberus, Jane eine Mischung aus Echse, Drache und Vampir. Donna gibt später keinen Kommentar ab, sagt nur, es wäre das ekelhafteste gewesen, was sie je zu Gesicht bekommen habe. Offenbar versteht es das Wesen, unsere Ängste aus alten Kindertagen zu absorbieren und sich dann für den jeweiligen Betrachter genau in das zu verwandeln, was uns insgeheim immer noch ängstigt. Als Kind habe ich einmal eine sehr drastisch illustrierte Ausgabe des Schwab in die Hand bekommen – das Best-of der griechisch-römischen Göttersagen. Und der Zerberus, den Herakles überlistete um in die Unterwelt zu kommen, sah exakt so aus wie das Monster, das den Hüter dort oben nun angreift. Dann plötzlich wird es Jane schlagartig klar – ihr Gesicht spricht Bände. “Frank, das ist nicht irgendein Hüter, der da oben kämpft – das ist der Oberste Hüter der Macht. Sieh dir mal die Robe an.” “Tatsächlich,” murmelt Donna. “Mich würde brennend interessieren, wer der Oberste Hüter der Macht ist. Schade, dass man wegen dieser Kapuze sein Gesicht nicht erkennen kann.” Julian grinst. Sein Verhalten macht mich rasend – aber wie zuvor legt mir Donna beruhigend ihre Hand auf die Schulter und es scheint, als wolle sie damit sagen: Lass es, es ist die Aufregung nicht wert. Vielleicht hat sie Recht. Wir treten so nah wie möglich an den Ort des Geschehens heran und nach einer Weile wird deutlich, dass der Dämon keine Chance gegen den Obersten Hüter der Macht hat. Mit geballter Macht hiebt der Hüter auf seinen Gegner ein, bringt ihm zahlreiche, offensichtlich schmerzhafte Wunden bei. Mehr und mehr stellen wir fest, dass der Oberster Hüter ein Meister seines Faches ist. Geschickt tänzelt er aus der Reichweite der Schlangenköpfe, wehrt den Geifer ab; eigentlich steht der Sieger dieses ungleichen Kampfes längst fest. “Wer ist das?”, fragt Jane sich und gleichzeitig auch uns. Ich zucke mit den Achseln. “Keine Ahnung, aber irgendwie kommt mir sein Kampfstil verdammt bekannt vor. Sieh mal genauer hin.” Jane strengt sich sichtlich an, zuckt aber ratlos mit den Achseln. “Sieh doch mal – dieser Side-Stepp, diese Fuß-Schritt-Kombination ...” Donna schluckt hörbar. “Verdammt noch mal, ich fresse einen Besen, wenn das nicht ...” In diesem Moment stellt sich der Oberste Hüter so, dass wir endlich sein Gesicht sehen können. “... Jack ist”, beendet Donna ihren angefangenen Satz. Jack.
Janes Tagebuch
Die Puzzleteile haben sich ineinandergefügt und der Schock sitzt immer noch tief. Wir bewegen uns still durch dieses große Haus und wissen momentan nicht, was wir mit uns anfangen sollen. Kein Wunder, die Wahrheit ist auch zu schmerzvoll. Zu groß, um sie richtig begreifen zu können. Auch ich weiß nicht so richtig, wie ich das Ganze verarbeiten soll. Vor allem weiß ich nicht, ob ich den Hütern der Macht jemals wieder vertrauen werde.
Bericht Frank MacLachlan Donna hat recht. Jack ist es, der dort oben mit dem Dämon kämpft und der ihn jetzt endgültig mit einer Lichtattacke zu Boden zwingt. Die Form des Dämons beginnt zu verwischen, wird undeutlich, dünner, verflüchtigt sich schließlich ganz und löst sich in Nichts auf. Triumph zeichnet sich auf Jacks Gesicht ab, als er sieht, dass auch seine Mitstreiter gegen die Horde der Dämonen siegreich geblieben sind. Er winkt sie zu sich,
tritt an den Rand des Plateaus und seine Worte dringen kraftvoll an unser Ohr: “Dieser Tag wird in die Geschichte eingehen. Denn an diesem Tag haben wir bewiesen, dass wir gemeinsam stärker sind. Dass wir, wenn wir einig und entschlossen vorgehen, das Böse besiegen können. Dieser Tag bedeutet den Anfang einer neuen Ära. Denn seit heute, seit diesem Augenblick gibt es den Orden der Hüter der Macht. Unsere Ziele sind klar, unsere Methoden bewährt. Als Hüter der Macht werden wir fortan einen Wall gegen die Mächte des Bösen bilden – egal wo sie sind, egal was sie sind – wir haben die Macht.” “Pathetisches Gesülze,” murmle ich und unterbreche damit den Bann, der über uns allen gelegen hat. Jane schaut mich mit großen Augen an. “Frank, ist dir nicht klar, was wir gerade erleben? Dies ist die Geburtsstunde der Hüter der Macht.” “Und damit wissen wie endlich, wer der allererste Oberste Hüter der Macht war”, sagt Donna, sichtlich geschockt. “Und wir wissen auch, was das bedeutet, nicht wahr?” Zuerst weiß ich nicht, was Donna damit meint, aber es bleibt mir auch keine Zeit, ihre Aussage zu begreifen. Denn Julian bringt uns ohne Zeitverlust zurück in die Gegenwart. Ohne Vorwarnung.
“Der Kreis schließt sich,” stellt Donna bitter fest. Julian hat uns direkt in das Schloss der Hüter zurückgebracht. Wir befinden uns wieder dort, wo die Reise begonnen hat: Im Zimmer D’Arroyos. Der jetzige Oberste Hüter scheint uns schon erwartet zu haben, blockt die Vorwürfe und Fragen, die Donna und Jane auf ihn loslassen, souverän ab. “Alles zu seiner Zeit, meine Freunde. Alles zu seiner Zeit. Setzt euch erst mal.” Wütend und zornig folgen Jane und Donna seinem Ratschlag, während ich noch etwas benommen und verdattert stehen bleibe und gar nicht verstehe, warum die beiden so wütend sind. Doch allmählich fügen sich auch für mich die Teile des Puzzles zusammen – der Oberste Hüter, die Ereignisse, in die McDonald involviert war ... “Ich weiß, wie ihr euch jetzt fühlen müsst.” “Ach,” spottet Jane, “wissen Sie das wirklich?” Der Oberste Hüter der Macht zuckt schuldbewusst zusammen, hält aber Janes wütendem Blick stand. “Sie wissen gar nicht, wie viel ich schon erlebt habe. Und auch wenn Sie es jetzt nicht glauben wollen, ich kann Ihren Zorn und die Verwirrung nachvollziehen.” “Warum?”, bricht es schließlich aus mir heraus. “Warum, D’Arroyo?” Der Oberste Hüter steht auf, geht zu seinem Bücherregal und zieht ein kleines, schmales Buch heraus. “Ich konnte nicht anders handeln. Was geschehen musste, ist jetzt geschehen – Jack selbst hat es so angeordnet.” Er öffnet das Buch und hält es uns hin. Jane nimmt es entgegen und ihre Augen huschen über die Seiten. “Was ist das?” “Anscheinend Jacks Tagebuch.” “Jacks Tagebuch? Ich dachte, das hätten wir?”, frage ich. Vor einiger Zeit hatte uns jemand das Tagebuch des allerersten Obersten Hüters der Macht zugespielt. Dass dieses Jack gehört haben musste, ist uns jetzt allen klar. “Es sieht so aus, als wäre das hier eine Fortsetzung. Hör dir das an, Frank: ‚Die Zeit der Dunkelheit rückt näher und näher. Die Prophezeiung wird sich erfüllen und ich, Jack Claim, Oberster Hüter der Macht, weiß, dass sie unabwendbar sein wird. Wenn denn nun die Zeit gekommen ist, sollen die Hüter der Macht ...” “Was sollen sie?”, dränge ich ungeduldig, als Jane langsam etwas vor sich hinmurmelt. “Hier ist genau festgelegt, wie sich die Hüter der Macht in der Zukunft verhalten sollen – Zeitmagie, Ritual, alles bis ins kleinste Detail beschrieben.” D’Arroyo lächelt, aber es ist ein trauriges Lächeln. “Der Bote der Nacht war nur ein Vorwand,” erklärt er uns. “Wir wussten, dass der Dämon später keine Rolle mehr spielen würde, aus welchen Gründen auch immer. Aber als wir erfuhren, dass der Bote aktiv wurde ... es tut mir sehr, sehr Leid.”
Betretenes Schweigen legt sich über die Szene. Wut und Zorn sind einstweilen verraucht, werden aber später wiederkommen. “Ich möchte jetzt nach Boston zurück”, sagt Jane kalt und sowohl Donna als auch ich sind ganz ihrer Meinung. D’Arroyo ist anzusehen, wie Leid ihm das alles tut, aber wir haben einstweilen genug von den Hütern und ihrem obskuren Gebaren.
Jaspers Selbstgespräch Sie haben es mir gesagt. Sie haben es mir gesagt, aber ich kann es immer noch nicht fassen. Wie betäubt stehe ich jetzt vor deinem Bild und versuche mir, über all das klar zu werden. Es ist nicht einfach. Ich sehe in dein Gesicht, Master Jack, sehe in deine Augen und in mir sträubt sich alles, meine Seele will es immer noch glauben. All die Jahre, all die vielen Begebenheiten, an die ich mich immer noch genau erinnern kann – de facto sind sie Erinnerungen an einen Toten. Denn du, Master Jack, du bist längst nicht mehr. Aber es wird kein Grab geben, an das ich gehen kann, um Abschied von dir zu nehmen, es wird keinen Grabstein geben. Es wird schwer sein – es wird unendlich schwer sein, so von dir Abschied zu nehmen, Jack Claim – der du jetzt McDonald heißt.
Breuis a natura nobis uita data est at memoria bene redditae uitae sempiterna. ENDE
Dämonenjäger Frank MacLachlan
Ihr einstiger Mitstreiter ist zu ihrem größten Feind
geworden. Noch immer können die Dämonenjäger das
Unfassbare nicht begreifen. Doch ihre Gegner lassen
ihnen keine Gelegenheit, zur Ruhe zu kommen - als
Das Erbe der Hexe
aktiv wird, müssen Frank und Jane gegen einen
uralten Gegner antreten - und treffen dabei
selbst eine alte Bekannte ...
Was Das Erbe der Hexe ist, erzählt in vier Wochen Dorian Hyde mit Band 47. Zuletzt erschienen: 36 “Desteros Rache” (3. Teil) Marc H. Romain 37 “Der Kampf um die Macht” (4. Teil) Roger Covey 38 “Der Seelenstein” Prospero 39 “Der Feind in dir” Jake Magnus 40 “Das Grab des Ritters” Morgan de Clerk 41 “Die Ebene des Blutes” Jake Magnus 42 “Tödliche Falle” Ernest P. Teclar 43 “Hexenjagd” B.J. Harvest & Roger Covey 44 “Die Seelendiebin” Steve Byron 45 “Der Bote der Nacht” (1. Teil) Prospero
Alle Bände ab Nummer 1 können im Internet unter
http://www.maclachlan.de als RTF- oder HTML-Files und in diversen eBook-Formaten heruntergeladen werden!
Dämonenjäger Frank MacLachlan
erscheint regelmässig im Internet unter
http://www.maclachlan.de zum downloaden.
Band 46: “Die Prophezeiung”
Serie: Jake Magnus
Korrektor: Roger Covey
Expose: Jake Magnus
Autor: Prospero
Internet: www.maclachlan.de
Print-Version: www.atlantis-verlag.de
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