Alfred Bekker
Die Perle CHARDHIN Bad Earth Band 3
ZAUBERMOND VERLAG
Die RUBIKON ist ins galaktische Zentrum aufgebr...
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Alfred Bekker
Die Perle CHARDHIN Bad Earth Band 3
ZAUBERMOND VERLAG
Die RUBIKON ist ins galaktische Zentrum aufgebrochen, um dem Leichnam ihres Gefährten Boreguir die letzte Ehre zu erweisen, ihn auf seiner Heimatwelt beizusetzen. Doch schon das Betreten des Planeten gestaltet sich schwierig – denn Saskana ist unsichtbar … nicht nur visuell, auch die Ortungssensoren sind nicht in der Lage, die Welt auszumachen. Während ein Außentrupp unter Scobees Führung mittels eines technischen Tricks doch noch nach Saskana aufbrechen kann, werden John Cloud und die RUBIKON-Crew Zeuge eines Raumgefechts. Eine golden schimmernde Kugel wird von einem Schwarm kleinerer grüner Schiffe attackiert … und schließlich vernichtet. Die RUBIKON kann nur noch ein zylindrisches Objekt bergen. An Bord geholt, verwandelt es sich in eine humanoide Gestalt, die sich Fontarayn nennt. Fontarayn gehört dem Volk der Gloriden an. Er führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine hundert Kilometer durchmessende Kugel befindet, die er als Chardhin-Perle bezeichnet. Die Perle gehört zu einem universellen Netz von so genannten Perma-Stationen, die zu jeder Zeit existieren … bis hin zu den ersten Anfängen des Universums, wie Fontarayn beteuert. Gleichzeitig räumt er ein, die Erbauer nicht zu kennen, obwohl sein Volk die Perlen seit einer kleinen Ewigkeit wartet. Doch die hiesige Perle ist verwaist, entvölkert. Mit Mühe können die RUBIKON-Crew und ihr Gast den Gefahren der Station entkommen. Wieder heil zurück im Normalraum beschließen sie, sich vor allem anderen erst einmal um ihren auf Saskana verschollenen Gefährten Jiim zu kümmern. Doch Boreguirs Heimat ist immer noch unsichtbar …
1. Kapitel – An Bord der RUBIKON Er war eins mit dem Schiff, dessen feine Sensoren zu seinem Auge und Ohr geworden waren, die rochenförmige Konstruktion zur Verlängerung des eigenen Körpers. Du hast die Kontrolle über die Steuerung der RUBIKON zurück!, signalisierte Sesha. Was ist mit Fontarayn?, fragte John Cloud. Er hat seinen Sarkophag verlassen, lautete die Antwort der KI. Cloud war etwas verwirrt. Wollte er uns nicht zu den Koordinaten des verborgenen Saskanensystems führen? Sesha bestätigte dies. Das hat er getan!, erklärte die Kl. Die Positionsdaten sind eingegeben. Sie stehen jederzeit zur Verfügung, ganz gleich, wer die Steuerung der RUBIKON übernimmt. Cloud fragte sich, weshalb Fontarayn seinen Sarkophag eigentlich verlassen hatte. Kurz zuvor schien es diesem androgyn wirkenden, vollkommen haarlosen Humanoiden, den die RUBIKON-Crew aufgelesen hatte, noch sehr wichtig gewesen zu sein, den Kurs zu bestimmen. Er konnte seine körperliche Gestalt auflösen und in pure Energie verwandeln. In dieser Form war er auch in der Lage, fremde technische Systeme zu infiltrieren und zu übernehmen. Nachdem sein Schiff, mit dem er von Andromeda aus in die Milchstraße gereist war, havarierte, befanden sich nun an Bord der einstigen Foronenarche. Inzwischen wussten Cloud und die anderen an Bord, dass er einem Volk angehörte, das sich als »Gloriden« bezeichnete und ein kosmisches Netz so genannter Chardhin-Perlen verwaltete, mit deren Hilfe die Nullzeit-Reise von Galaxis zu Galaxis möglich war. Sesha schien zu erraten, was Cloud durch den Sinn ging. Fontarayn gab an, ein Regenerationszeitquantum nehmen zu wollen!, erklärte die KI. Was soll das sein?, wollte Cloud wissen. Seshas Antwort war ernüchternd: Tut mir Leid. Über den gloridi-
schen Metabolismus, ihre Kultur schlechthin, sind bislang in meinen Datenspeichern so gut wie keine Informationen verfügbar. Ich verstehe, übermittelte Cloud. Ich nehme an, es handelt sich bei deiner letzten Gedankenübermittlung um eine Botschaft mit verborgenem Hintersinn!, glaubte die KI. Wie kommst du denn darauf?, erwiderte John Cloud beinahe amüsiert. Weil deine Botschaft inhaltlich nicht den Tatsachen entsprechen kann!, erläuterte die Künstliche Intelligenz der RUBIKON. Es ist unmöglich, dass du verstehst, weshalb Fontarayn seinen Sarkophag verließ, um ein so genanntes Regenerationszeitquantum zu nehmen, weil dir sämtliche zur Beurteilung dieses Sachverhalts relevanten Informationen fehlen – genau wie mir. Wer wird denn so spitzfindig sein?, erwiderte Cloud. Darauf ging Sesha nicht weiter ein. Stattdessen meinte sie: Vielleicht interessiert dich noch, dass Fontarayn um eine Möglichkeit bat, geringe Mengen an Energie abzuzapfen, um seinen energetischen Status stabil zu halten. Dagegen hatte Cloud nichts einzuwenden. Ein anderer Stein lag ihm auf dem Herzen. Ich hatte gedacht, wir wären uns einig darüber, dass deine Loyalität ausschließlich dem Kommandanten der RUBIKON gilt, stellte er fest. Sesha bestätige dies. Das ist richtig. Dann verstehe ich nicht, weshalb du einfach seinen Befehlen folgen konntest und mir jegliche Kontrolle entzogen wurde, als er die RUBIKON schnurstracks in das zentralgalaktische Black Hole steuerte! Diese Frage beschäftigte Cloud schon länger. Seshas Antwort war verblüffend einfach. Ich hatte nicht die Möglichkeit, mich dagegen zur Wehr zu setzen, gestand die KI beinahe kleinlaut.
John Cloud lag in einem der sarkophagähnlichen Kommandositze, die ursprünglich für die sieben Hohen der Foronen vorgesehen gewesen waren. Aber die Zeiten, da John Cloud mit den Anführern
der Foronen um die Herrschaft über die RUBIKON hatte streiten müssen, waren längst vorbei. Sesha, die allgegenwärtige KI hatte ihn längst als Schiffsführer anerkannt, sodass er die uneingeschränkte Herrschaft über das Schiff innehatte. Die RUBIKON bewegte sich mit Hilfe der überall im Weltall vorkommenden Dunklen Energie vorwärts. Seine Ressourcen waren – gemessen an menschlichen Vorstellungen – schier unermesslich. Was für eine seltsame Odyssee liegt hinter dir!, ging es ihm durch den Sinn. Die eigenartigste und phantastischste Reise, die je ein Mensch unternommen hatte, durch Raum und Zeit. Von der Erde des 21. Jahrhunderts war er in jene Epoche gerissen worden, in der man die Menschen Erinjij nannte und sie als eroberungssüchtige Geißel der Galaxis betrachtete. Von dort aus hatte ihn sein Weg – mehr oder minder als Gefangener der Foronen – in die Große Magellansche Wolke geführt, wo sie auf die alten Feinde der Foronen, die Virgh, gestoßen waren. Jetzt befand sich das Rochenschiff unweit des galaktischen Zentrums. Boreguir, der außerirdische Felide mit der eigenartigen Fähigkeit, sich selbst bei Bedarf vergessen zu machen, hatte seine letzte Ruhe auf seiner legendären Heimatwelt Saskana finden sollen, deren Position er auf einer primitiven Sternenkarte in der RUBIKON hinterlassen hatte. John Cloud nahm mit den Sinnen der RUBIKON den umgebenden Raum wahr: Die Sonnen, die in dieser galaktischen Region ausgesprochen dicht beieinander lagen. Gigantische Materieansammlungen, die Fusionsprozesse von unvorstellbarer Intensität in Gang hielten. Die Lichter der einzelnen Gestirne waren oft gar nicht voneinander zu unterscheiden und bildeten riesige Leuchtfeuer. Aber da war auch diese gut achtzehn Lichtjahre durchmessende Zone der Leere, in der sich scheinbar nichts befand. Genau dort aber lag die Position der saskanischen Heimatwelt, die Boreguir angegeben hatte. Ein Landeteam der RUBIKON-Crew war bereits mit einer der speziellen Bordkapseln dort gewesen, um Boreguir das letzte Geleit zu geben.
Anschließend hatte sie eine abenteuerliche Odyssee hinter den Ereignishorizont des galaktischen Super Black Hole geführt. Der an Bord genommene Fontarayn hatte plötzlich die Kontrolle über die RUBIKON übernommen und sie in dieses Land der Albträume vorstoßen lassen, aus dem es unter normalen Umständen eigentlich keine Rückkehr gab. Nicht einmal das Licht konnte der gewaltigen Gravitation eines Schwarzen Lochs entkommen. Alles, was jenseits des Ereignishorizonts gelangte, war für gewöhnlich rettungslos verloren und wurde unaufhaltsam vom großen dunklen Schlund im Zentrum der Milchstraße angezogen, verschwand auf Nimmerwiedersehen. Die Gloriden jedoch schienen Mittel und Wege zu kennen, diese Kräfte zu beherrschen oder zumindest nicht von ihnen vernichtet zu werden. Fontarayn hatte die Perle Chardhin angesteuert – jene geheimnisvolle Gloridenstation, die Teil eines universalen Netzwerks war. Aber die Perle war entvölkert gewesen, und Fontarayn verfing sich in einer Falle, die offenbar nur für einen einzigen Zweck konstruiert worden war: um Gloriden auszuschalten. Nur dem Eingreifen der RUBIKON-Besatzung hatte Fontarayn seine Befreiung zu verdanken. Jetzt hatte er das Rochenschiff zurück in die Leerzone geführt, in der das verborgene Heimatsystem der Saskanen zu finden sein sollte. Genau dorthin steuerte die RUBIKON nun. Fontarayn schien keine Schwierigkeiten zu haben, die Koordinaten wiederzufinden, obwohl Sonne und Planeten weder sicht- noch ortbar waren. Es war so, als existiere für ihn die Tarnung überhaupt nicht … Unter Beibehaltung der gegenwärtigen Geschwindigkeit werden wir die angegebene Zielposition in etwa drei Stunden erreichen, übermittelte Sesha per Gedankenbotschaft. Danke, gab Cloud zurück. Kurs und Geschwindigkeit beibehalten. Ein schnelleres Erreichen des Zielpunktes wäre unter geringfügiger Veränderung einiger Parameter durchaus möglich, belehrte ihn die KI. Wird eine Optimierung gewünscht?
Nein, entgegnete Cloud. Es ist ganz gut, wenn wir uns erst über das weitere Vorgehen einigen können, bevor wir die Zielregion erreichen. Ich bin überzeugt davon, dass wir uns sehr schnell über das weitere Vorgehen einigen könnten, Cloud, erklärte Sesha. Cloud musste innerlich über diese Äußerung der KI schmunzeln. Wir beide würden uns mit Sicherheit schnell einigen, meinte er, aber ich möchte auch die anderen Besatzungsmitglieder in die Entscheidungsfindung einbeziehen. Seshas Reaktion ließ überraschend lange auf sich warten. Ich verstehe, gab die KI schließlich ein Signal der Bestätigung. Aber Cloud kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass da noch etwas anderes war. Etwas, das sie nicht verstand. Übernimm die Steuerung!, wies er die KI an. Steuerung übernommen!, meldete Sesha. Ich hätte eine Frage an dich, John Cloud. In deiner Erwiderung auf meine Feststellung, dass wir beide uns sicher schnell über die weitere Vorgehensweise einigen würden, schwang ein Bedeutungsgehalt mit, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob ich ihn richtig erfasst habe. Ironie?, erwiderte Cloud. Genau das schien es zu sein, womit Sesha Schwierigkeiten hatte. Was ist Ironie?, fragte die KI. Aber Cloud hatte jetzt keine Lust, sich mit Sesha über die Feinheiten menschlicher Kommunikation auszutauschen. Wir unterhalten uns ein anderes Mal darüber. Seshas Erwiderung überraschte Cloud. Auf deine Verantwortung!, äußerte die KI. Wieso auf meine Verantwortung?, fragte Cloud irritiert. Nun, falls durch mein mangelndes Wissen über ein Phänomen, das du Ironie nennst, unsere Kommunikationsbasis fehlerhaft sein sollte, liegt die Verantwortung für daraus resultierende Probleme bei dir!, erklärte ihm die KI mit bestechender Logik. Diese Verantwortung übernehme ich!, war Clouds trockene Erwiderung, wobei ihm erst im Nachhinein bewusst wurde, dass auch in dieser Gedankenbotschaft etwas von jener für Sesha offensichtlich verwirrende Bedeutungsebene mitschwang.
Aber im Moment gab es Wichtigeres, als die Optimierung des Verständnisses zwischen der Schiffs-KI und ihrem Kommandanten. Cloud öffnete den sarkophagähnlichen Pilotensitz der RUBIKON und erhob sich daraus. John Cloud ließ den Blick durch die Zentrale der RUBIKON schweifen. Den Großteil der Reise in diese Region des Alls hatte die Besatzung im Staseschlaf verbracht, während das Energiewesen Fontarayn, das unterwegs an Bord genommen worden war, Sesha den Weg gewiesen hatte. Aber Sesha hatte Cloud und seine zusammengewürfelte Mannschaft an Bord der RUBIKON deutlich vor Erreichen des Zielgebietes geweckt, was auch sinnvoll schien. Schließlich musste zunächst über das weitere Vorgehen nach Erreichen von Saskana, der Heimatwelt der Saskanen, beraten werden. Insbesondere ging es auch darum, das Schicksal von Jiim zu klären, dem nargischen Gefährten, der beim ersten Vorstoß auf Saskana zurückgeblieben war. Es war völlig unklar, was aus ihm geworden war. Möglicherweise lebte er gar nicht mehr. John Cloud machte einen Schritt nach vorn, auf das senkrechte Holorama der RUBIKON zu. In die Pixel erfüllte Säule ließen sich beliebige Ausschnitte – Fenster – einblenden, die das Außenpanorama wiedergaben, Details heranzoomten oder Bordräume zeigten. Nur eine einzige Person befand sich außer Cloud im Moment in der Zentrale: Scobee. Sie war Teil eines Klonprogramms der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika gewesen und hatte Cloud von Beginn einer erstaunlichen Odyssee an begleitet; mitunter waren seine Gefühle ihr gegenüber durchaus ambivalent gewesen. Aber das gehörte ebenso der Vergangenheit an wie die Regierung der seit mehr als zweihundert Jahren nicht mehr existenten Erdstaaten oder das damalige GenTec-Programm zur genetischen Optimierung der Menschen – es war von einem weitaus perfekteren und ausgeklügelteren Klonverfahren der Jay'nac und deren »Statthalter auf Erden«, der KeelonMaster, abgelöst worden.
Die Klonfrau mit der sportlichen Figur und den charakteristischen Tätowierungen, die bei ihr die Augenbrauen ersetzten, stand an einer Konsole und war darin vertieft, sich Messdaten aus der unmittelbaren Umgebung der RUBIKON anzeigen zu lassen, sodass sie Cloud im ersten Moment gar nicht zu bemerken schien. »Wir müssen entscheiden, was wir tun, sobald wir Saskana erreichen«, stellte Scobee schließlich fest und sah auf. Cloud nickte. Sein Blick hing an dem Ausschnitt des Weltalls, den die Holosäule naturgetreu wiedergab. Man hatte das Gefühl, tatsächlich nur ein paar Schritte tun zu müssen, um wie durch eine offene Tür in den freien Raum hinausschreiten zu können. »Ich bin für einen erneuten Kapselvorstoß«, bekannte Scobee unverblümt. John Cloud hob die Augenbrauen. »Dir ist schon klar, dass die Anzahl der Rettungskapseln an Bord der RUBIKON begrenzt ist und für einen sehr, sehr langen Zeitraum reichen muss?«, fragte er. Scobee hob leicht die Schultern und bedachte Cloud mit einem nachdenklichen Blick. »Ich sehe keinen anderen Weg, um herauszufinden, was mit Jiim passiert ist. Und dass wir ihn einfach so zurücklassen, ohne uns darum zu kümmern, was aus ihm geworden sein mag, wirst du ja wohl nicht ernsthaft in Erwägung ziehen!« »Natürlich nicht. Aber es macht auch keinen Sinn, erneut ein Landeteam auf die Saskanenwelt zu schicken, dessen Mission dann genauso zum Scheitern verurteilt ist, wie es beim ersten Mal der Fall war.« »Ach – und wie lautet die Alternative?« John Cloud atmete tief durch. »Schon gut, aber wir müssen diesmal wenigstens sicherstellen, dass unser Einsatzteam mehr Erfolg hat. Vielleicht ist tatsächlich ein Kapselvorstoß die einzige Möglichkeit, herauszufinden, was mit Jiim passierte, und gleichzeitig mehr über Saskana selbst in Erfahrung zu bringen.« »Unser Wissen über Boreguirs Heimatwelt ist mehr als lückenhaft«, pflichtete sie ihm bei. »Wir wissen weder, was es genau mit diesen Angriffen von Flugmaschinen auf die Dörfer der Saskanen auf sich hat, noch haben wir ein Mittel, dem wir bedenkenlos
vertrauen können, was den gefährlichen Schwingstaub betrifft. Wobei …« Sie stockte kurz. »… ich glaube, dass Sesha, was das angeht, durchaus erfinderisch genug ist, uns mit etwas auszustatten, das eine erneute Schwächung sowohl unserer Technik als auch parapsychischer Begabungen verhindert. Falls du in Erwägung ziehst, erneut auf Algorian zurückzugreifen.« Cloud wiegte unentschlossen den Kopf. Ihr Optimismus, Sesha betreffend, irritierte ihn ein wenig. Die KI war durchaus kein absoluter Garant für die Sicherheit eines zweiten Außeneinsatzes. Auch sie stand einem ungelösten Phänomen gegenüber. »Ich weiß, was du denkst«, behauptete Scobee. »Ich kann es dir von der Stirn ablesen.« Sie deutete auf die Anzeigen ihrer Konsole. »Aber ich habe mir von Sesha bereits verschiedene Varianten von Schutzfeldern durchspielen lassen, die den schädlichen Einfluss des Schwingstaubs neutralisieren sollen. Die Resultate sind bislang zwar noch etwas durchwachsen, aber …« »Versuch nichts schönzufärben, was einfach nicht funktioniert – oder nicht in ausreichendem Umfang wirkt«, sagte er. »Wobei ich anmerken möchte, dass ich dabei bin, sämtliche Fehlerquellen auszumerzen«, meldete sich eine künstliche Stimme aus dem Off. »Die Verfügbarkeit eines nahezu perfekten Schutzes ist nur eine Frage der Zeit.« Cloud musste unwillkürlich schmunzeln. Für einen Moment hatte er den Eindruck gewonnen, Sesha würde beinahe beleidigt klingen – und händeringend nach Argumenten suchen, um ihrem Status als fast allwissendes Bordhirn gerecht zu werden. »Wie viel Zeit?«, fragte er. »Ich verwende derzeit etwa zwanzig Prozent meiner Rechnerkapazitäten darauf, eine zufrieden stellende Lösung anzubieten«, erwiderte Sesha – was Clouds Frage aber keineswegs beantwortete. Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen. Scobee hatte auf ihrer Konsole ein Display aktiviert. Es zeigte den verborgenen Planeten Saskana, dessen Darstellung auf den Scan-Daten beim ersten Besuch der RUBIKON basierte. Saskana befand sich mitten in der Zone scheinbarer Leere, die jedem Betrachter sofort als
für das galaktische Zentrum vollkommen untypisch auffallen musste. Achtzehn Lichtjahre pures Nichts inmitten der größten und dichtesten Materiezusammenballung im Umkreis von mehreren hunderttausend Lichtjahren – das widersprach einfach zu sehr allen Gesetzen der Masseverteilung, als dass man es als gegeben hinnehmen konnte. Es waren nur die groben Konturen der Oberfläche auf dieser Projektion zu sehen. In Äquatornähe war ein Punkt rot markiert. Die Markierung blinkte rhythmisch auf. Scobee deutete darauf und sagte: »Genau an dieser Position befindet sich die von korallenartiger saskanischer Vegetation überwucherte Foronenstation …« »Womit das Ziel unseres Kapselvorstoßes vorgegeben ist«, sagte Cloud. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Wenn wir einen neuerlichen Ausflug unternehmen, müssen wir das Außenteam klein halten.« »Um das Risiko zu minimieren?« »Ja.« »An wen hast du gedacht?« »Wiederum Algorian.« »Eine gute Wahl – falls wir den Staub in den Griff bekommen. Und sonst?« »Jarvis. Ich bin überzeugt, dass wir seinen Nanokörper am ehesten vollumfänglich gegen den Schwingstaub schützen können. Außerdem …« »… war er, wie Algorian, schon beim ersten Mal dabei.« Cloud nickte. »Wo ist eigentlich Fontarayn?« Scobee lächelte flüchtig. »Unser gloridischer Gast hat sich zurückgezogen, kurz nachdem du die Steuerung via Sarkophag übernommen hattest. Und da er momentan auch nicht als Lotse vonnöten ist …« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung, ob Wesen dieser Art irgendein Ruhebedürfnis haben.« Cloud nickte. »Sesha, ich möchte mit Fontarayn sprechen.« »Ich lokalisiere ihn«, erwiderte die KI. In der Holosäule erschien ein dreidimensionales Abbild der RUBIKON. Der Raum, in dem sich der Gloride befand, war markiert.
»Den bioenergetischen Werten nach scheint unser Gast aktiv zu sein«, stellte Sesha fest. »Allerdings fehlen mir in diesem Fall die Vergleichsparameter, sodass die Irrtumswahrscheinlichkeit recht hoch angesetzt werden muss.« »Ich werde mich zu ihm begeben«, sagte Cloud und ging auf einen der Türtransmitter in der RUBIKON-Zentrale zu. Augenblicke später war er entmaterialisiert.
Fontarayn hatte die Gestalt eines androgynen Humanoiden angenommen, als John Cloud sein Quartier betrat. Der Gloride hatte darauf verzichtet, diesen Bereich nach seinen Bedürfnissen modifizieren zu lassen, was ohne weiteres möglich gewesen wäre. Cloud erinnerte sich in diesem Augenblick an das erste Zusammentreffen mit dem Energiewesen. Die RUBIKON hatte einen Notruf empfangen und wenig später einen zylindrischen »Gegenstand« an Bord genommen. Aber schon in den nächsten Augenblicken hatte Fontarayn seine Gestalt verändert und seinem Körper – wenn das denn der richtige Ausdruck dafür war – eine quasi-humanoide Form gegeben, mit der er sich möglicherweise an seine Umgebung angepasst hatte. Das Wesen hatte sich vorgestellt und gleich darauf aufgelöst. Wie sich sehr schnell herausstellte, war es in das Schiff selbst hineingesickert und hatte problemlos Sesha übernommen, ohne dass es irgendwelche spürbaren Hindernisse gegeben hätte. Die Fähigkeiten des Gloriden waren beängstigend, aber da er nicht bestrebt schien, erneut die Macht an Bord an sich zu reißen, sondern sich mit der Rolle eines hilfreichen Gastes zufrieden gab, sah Cloud derzeit keinen Anlass zur Besorgnis. Zumal sie auf die Unterstützung des Gloriden durchaus angewiesen waren … »Sei gegrüßt, John Cloud«, sagte Fontarayn. »Ich habe mir erlaubt, mich etwas zurückzuziehen, nachdem meine Anwesenheit auf der Brücke zeitweilig entbehrlich schien.« »Wenn wir das Rätsel der Saskanenwelt lösen wollen, werden wir
deine Hilfe benötigen.« »Ich bin ein Gast – aber ich helfe gerne.« Er hätte jederzeit die Macht, mehr zu sein, als nur ein Gast!, ging es Cloud durch den Sinn. Über diesen Punkt gab er sich keinerlei Illusionen hin. Aber er verzichtet darauf. Jedenfalls im Moment … Offenbar verfolgt er seine eigenen Absichten. Es wäre vielleicht nicht schlecht, mehr darüber zu wissen … »Uns interessiert, was mit unserem Gefährten Jiim auf der Saskanenwelt geschehen ist. Vielleicht ist er tot, und unsere Bemühungen sind vollkommen umsonst. Aber ich habe die Hoffung nicht aufgegeben, dass er lediglich in Gefangenschaft geraten ist.« »Das ist nachvollziehbar für mich«, sagte der Gloride. »Diese Leere, die wir durchfliegen, ist ebenso ein Rätsel wie Saskana selbst.« »Leere in einem Gebiet mit derart hoher Materiedichte ist ein absolut unnatürlicher Zustand«, bestätigte der Gloride, der sich Cloud nun ein Stück weit näherte. »Aber vielleicht kann ich dazu beitragen, es zu lösen.« »Was hättest du selbst davon?« »Es … wäre auch mir wichtig.« Er weicht aus!, erkannte Cloud. »Wichtig?«, echote Cloud. »Wichtig wofür und weshalb?« »Wichtig für mich«, erklärte der Gloride. »Die Möglichkeit eines erneuten Kapselvorstoßes, wie er schon einmal erfolgte, könnte ich nur begrüßen.« Er muss zwischenzeitlich Kontakt zu Sesha gehabt haben!, erkannte Cloud. Anders war es nicht erklärlich, dass er von diesem Plan offenbar bereits wusste.
Jarvis' Körper war humanoid und schien sich aus Milliarden winzigster Insekten zusammenzusetzen. Und diese Insekten gerieten manchmal allesamt in Bewegung, um sich umzustrukturieren, eine neue Form zu bilden, ganz nach Bedarf des Bewusstseins, das ihnen innewohnte, seit der originale Körper des GenTec gestorben war
und er diese »Hightech-Prothese« erhalten hatte. Die einmal die Rüstung eines Foronen-Hohen gewesen war. Monts Panzerung aus Nanopartikeln. Inzwischen hatte Jarvis gelernt, seinen Ersatzkörper und dessen erstaunliche Möglichkeiten zu handhaben. Einzig und allein sein Denken war menschlich geblieben. Und seine Gefühle, seine Sehnsüchte? Je länger er in der Nanohülle steckte, desto mehr fragte er sich, was der Begriff »menschlich« in Bezug auf ihn eigentlich noch bedeutete. Letztlich war ihm nichts anderes übrig geblieben, als die Tatsachen zu akzeptieren und anzuerkennen, dass seine Existenz als Geschöpf aus Fleisch und Blut ihr Ende gefunden und danach etwas Neues begonnen hatte. Etwas, das vielleicht mit nichts vergleichbar war, was je zuvor einem Menschen widerfuhr. Nun war er Jarvis – der Einzige seiner Art. Ein Wesen, das mühelos seine Gestalt wandeln oder Wände durchdringen konnte. Selbst im freien Weltraum vermochte er zu überleben. In der Decke über ihm bildete sich ein trichterförmiger Fortsatz. Ein Blitz zuckte daraus hervor, und im nächsten Moment umgab Jarvis' Körper eine Lichtaura, die jedoch in den nächsten Augenblicken so weit wieder verblasste, dass sie kaum noch wahrnehmbar war. »Dieses körpernah anliegende Energiefeld müsste dich ausreichend von dem schädlichen Einfluss des Schwingstaubs abschirmen«, erklärte Seshas Kunststimme aus dem Off. »Ich habe das Feld speziell auf die Struktur deiner Nanopartikel kalibriert. Es könnten vielleicht noch ein paar Feinabstimmungen nötig sein, aber davon abgesehen denke ich, dass …« »Wie deaktiviert man dieses … ›Ding‹!«, brummte Jarvis. »Du kannst es selbst tun«, erklärte Sesha. »Der Projektor wurde in deine Körpersubstanz integriert und ist umhüllt von deinem Nanogewebe. Ich gebe zu, die Implantierung geschah etwas zu schnell, aber wenn du deine Cyber-Sinne einen Augenblick lang die immanente Fließstruktur deines Nanokörpers entlangfahren lässt, wirst du es erkennen.« »Ja …«, bestätigte Jarvis.
Er streckte die Pseudoarme aus, als würde er sich strecken. Die Struktur seiner Hülle hatte sich seit der Aktivierung des Feldes durch Sesha merklich verändert. Die zuvor chaotisch wirkenden Ströme, die ohne Richtung durcheinander zu fließen schienen, wie sich gegenseitig durchdringende Heerzüge winziger ameisenähnlicher Tiere, von denen jedes einzelne einem unvorstellbar kleinen schwarzen Punkt glich, hatte sich umgeordnet. Die Ströme, die die Winzlinge jetzt bildeten, wurden größer und breiter. Es gab wenige Abweichungen von den großen Hauptlinien. Das Chaos war einem bestimmten Muster gewichen. Jarvis fand den Projektor, den Sesha mehr oder minder in ihn hineingeschossen hatte, ohne dass dabei allerdings Schaden an Jarvis' amorphem Körper entstanden war oder er beeinträchtigt worden wäre. Es handelte sich um ein quaderförmiges Modul, das nun gänzlich von den Nanoteilchen eingehüllt und von diesen als neuer Bestandteil von Jarvis' Körper anerkannt wurde. Auch das gehörte zu seinen gemessen an menschliche Möglichkeiten erstaunlichen Fähigkeiten: Die problemlose Integration von neuen Bauteilen. Zumal es sich in beiden Fällen um Foronentechnologie handelte. Es dauerte nur einen Augenblick, und der Projektor war Teil seiner Selbst geworden. Jarvis deaktivierte das Feld. Die Nanoströme auf der Oberfläche seines Körpers fielen in ihre althergebrachte Strukturen zurück. »Wir werden tatsächlich noch einiges daran modifizieren müssen«, meinte Jarvis kritisch. Er hatte die Veränderung seiner Nanoströme spüren können. Das Energiefeld, dessen Aufgabe es war, ihn von den schädlichen Auswirkungen des Schwingstaubs zu schützen, hatte offenbar den Partikeln seine spezifische Feldstruktur aufgezwungen, was Jarvis im ersten Moment fast aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Für ihn war es zuerst fast wie ein K.o.-Schlag gewesen. Nur mit äußerster Mühe hatte er das Bewusstsein und die Kontrolle über seinen Nanokörper aufrechterhalten können.
»Dieses Feld muss sofort nach der Ankunft auf Saskana aktiviert werden«, erläuterte Sesha. Scobee hatte die Szene mit skeptischem Gesicht beobachtet, enthielt sich aber eines Kommentars. Auf einer der Anzeigen ihres Holodisplays wurde mit einer schematischen, dreidimensionalen Darstellung veranschaulicht, wie groß der Abstand zur Position des Systems noch war, in dem Saskana unsichtbar um seine gleichfalls unsichtbare Sonne kreiste. Die RUBIKON hatte den Zielort nahezu erreicht. Es wurde also Zeit, dass für die noch ungelösten Probleme praktikable Lösungen gefunden wurden. »Ich werde jetzt die Feinjustierung des Projektors vornehmen«, erklärte Sesha. »Bitte nicht mit der Brachialmethode wie eben!«, erwiderte Jarvis, den die Prozedur wohl doch etwas mehr mitgenommen hatte, als er zugeben wollte. »Keine Sorge. Die eigentliche Kalibrierung musst du ohnehin selbst vornehmen. Der Projektor ist schon zu sehr Teil deines Nanokörpers geworden«, erklärte Sesha. Ein schnurgerader, gebündelter Lichtstrahl fuhr aus derselben trichterförmigen Vorrichtung in der Decke, mit der auch der Projektor in Jarvis' Körper implantiert worden war. Es war ein Datenstrahl, der die noch zu justierenden Feineinstellungen an dem Gerät vornahm. Das Ganze dauerte nur ein paar Sekunden, dann verblasste der Strahl. Jarvis Körperform löste sich auf. Er schien in sich zusammenzuschmelzen, bildete zunächst ein klumpenförmiges Etwas, das wie ein ungeheuer dicht gedrängter Insektenschwarm wirkte, bevor sich die humanoide Körperform, die er bevorzugte, rekonstruierte. Jarvis aktivierte den Feldprojektor. Im nächsten Moment umflorte ihn erneut die rasch verblassende Lichtaura. Es war deutlich sichtbar, dass sich die Ströme seiner Nanopartikel auch diesmal neu konfigurierten – aber die Differenz zu der vorherigen, chaotisch wirkenden Struktur war nicht so gravierend wie beim ersten Mal. »Die Anpassung ist abgeschlossen«, bestätigte Jarvis und deakti-
vierte das Feld wieder. »Wenn ich dadurch sicher sein kann, dass mich dieser Schwingstaub nicht wieder außer Gefecht setzt, nehme ich die geringfügigen Nebenwirkungen im Hinblick auf die Integrität meines Nanokörpers gerne in Kauf.« Wenn jemand, dessen Körper aus feinsten, im Zweifelsfall autonom agierenden Partikeln besteht, von der Integrität seiner Gestalt spricht, kann man das ja wohl nur als pure Ironie auffassen!, ging es Scobee durch den Sinn. Ein mattes Lächeln glitt über ihr Gesicht. Fast ein Reflex. Aber dieses Lächeln erstarb, als sich die Vorderseite von Jarvis' Kopf, sein »Gesicht«, in ihre Richtung wandte. Augenlos. Ein wimmelndes amorphes Etwas, das mit einem menschlichen Antlitz nicht mehr das Geringste zu tun hatte. Dementsprechend fehlte für Scobee auch jegliche Möglichkeit, sich anhand mimischer Regungen über die genaue Bedeutung von Jarvis' Worten rückzuversichern. Wir sind einmal gleich gewesen, dachte sie beklommen. Klone des GenTec-Programms. Was ihm zugestoßen ist, hätte auch mir widerfahren können. Sesha erlöste sie beide aus der Verlegenheit. »Ich habe eine ähnliche Apparatur für Algorian vorgesehen, dessen Psi-Fähigkeiten durch die Auswirkungen des Schwingstaubs ja ebenfalls stark beeinträchtigt wurde«, erklärte die Schiffs-KI. Die Wiedergabe der Holosäule veränderte sich. Eines der eingeblendeten Fenster, das bislang einen Überblick über die fortlaufend durchgeführten Scans der näheren Raumumgebung präsentiert hatte, schmolz in sich zusammen und wich einem kugelförmigen Gebilde, das sich innerhalb von Sekundenbruchteilen in ein Abbild des Aorii Algorian verwandelte. Eine schlanke, humanoide und völlig haarlose Gestalt mit blaugrün schimmernder Haut. Am Gürtel trug sie ein quaderförmiges Modul, das jetzt von Sesha näher herangezoomt wurde. Ja, dachte Scobee. So müsste das funktionieren.
In diesem Moment rekonfigurierte sich abrupt jener Abschnitt der Holosäule, in der die Ortungsscans angezeigt wurden. Ein Alarmsignal schrillte. »Unbekanntes Objekt nähert sich mit halber Lichtgeschwindigkeit!«, meldete Sesha.
Algorian ging in dem mit Pflanzen aller Art bewachsenen Raum auf und ab. Er holte zu einer entschiedenen Geste aus. »Ich kann mich nur wiederholen«, sagte er. »Dieser dunkle Schemen, der Jiim quasi vom Himmel pflückte, hat gedacht. Da bin ich mir hundertprozentig sicher – trotz meiner nur schwach ausgebildeten telepathischen Begabung.« Algorian atmete tief durch und blickte zu seinen beiden Gesprächspartnern. Da war zum einen das zehnjährige Mädchen Aylea und zum anderen der Florenhüter-Klon Jelto, in dessen Raum sie sich aufhielten. Die besondere Verbindung zu Pflanzen spiegelte sich in der »Einrichtung« überdeutlich wider. Jelto war in der Lage, mit Pflanzen auf empathischer Ebene zu kommunizieren. Jene Flora, um die er sich seinerzeit auf der Erde kümmern musste, hatte er als »seine Kinder« betrachtet, und die Trennung von ihnen war für ihn ausgesprochen schwierig gewesen. Schließlich war er zu nichts anderem ausgebildet worden, als sie zu beschützen, sie zu hegen und zu pflegen. Allein das Abreißen des geistig-emotionalen Bandes zu diesen Pflanzen hatte ihm regelrechte körperliche Beschwerden verursacht. Zeitweilig hatte er sich in einem Zustand befunden, der dem Wahnsinn sehr nahe kam. Doch inzwischen hatte sich sein Zustand längst stabilisiert. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Umstand, dass er an Bord der RUBIKON Pflanzen halten konnte. Ein zweiter stabilisierender Faktor war die Freundschaft zu dem Mädchen Aylea, die ihren Anfang wohl schon während ihrer gemeinsamen Odyssee durch das Getto * *Ein Ort auf der Erde, auf dem Boden des einstigen Peking, wohin die Master alle »Systemuntreuen« verbrachten, ehe es auf Darabims Befehl dem Erdboden gleichgemacht wurde
genommen hatte, wohin die Ausgestoßenen verbannt worden waren. Aber das alles schien ihrem Gefühl nach lange zurückzuliegen. Es war fast wie eine Erinnerung aus einem anderen Leben, die mit ihrer jetzigen Existenz kaum noch etwas gemein hatte. Eins stand jedenfalls fest: Weder Jelto noch Aylea konnten hoffen, die Erde jemals wiederzusehen. »Konntest du etwas von diesen ›Gedanken‹ näher spezifizieren?«, fragte Jelto in die entstehende Stille hinein. Algorian hob leicht den Kopf. »Nein«, sagte er. »Und doch bist du dir sicher, dass du Gedanken wahrgenommen hast?« »Ja. Ich weiß, dass das widersprüchlich klingt, aber so ist es nun einmal. Leider besitze ich nicht das überragende Psi-Talent meines Hassbruders Rofasch. Ich bin nur ein Zweitling …« »Es kommt nichts dabei heraus, wenn wir Algorian nach den feinsten Nuancen seiner Wahrnehmung löchern«, meldete sich nun eine Stimme zu Wort, die direkt aus dem dichten Gewirr des künstlich angelegten Dschungels kam. Ein Rascheln folgte, dann eine Bewegung. Auf den ersten Blick war der Sprecher gar nicht als solcher erkennbar gewesen, was sich nun änderte. Der Aurige Cy kam zum Vorschein. Ein intelligentes Pflanzenwesen, das auf den ersten Blick wie ein wuchernder Strauch wirkte, aber nicht durch Wurzeln an die Erde gekettet war, sondern sich bestens fortzubewegen wusste. Dutzende von Sinnesknospen musterten Algorian aufmerksam. »Wenn wir alles bedenken, was wir bislang über Jiims Verschwinden wissen, können wir nur zu der Feststellung gelangen, dass nichts davon sicher ist. Was also war das für ein Schemen? Wirklich eine denkende Lebensform? Algorian konnte keine verwertbaren Gedanken empfangen. Aber könnte es nicht einfach so sein, dass er die Gedanken dieses Wesens nur nicht … versteht?« In diesem Augenblick ertönte ein Kommunikationssignal, und dann meldete sich Seshas Stimme. »Begebt euch unverzüglich zur Zentrale«, verlangte die KI. »Das ist eine Anweisung des Kommandanten. Es gilt höchste Alarmbereitschaft!«
2. Kapitel – Rückkehr Nach und nach fand sich die komplette gegenwärtige Besatzung in der Kommandozentrale der RUBIKON ein. »Maximaler Zoomfaktor«, meldete Sesha. In der Holosäule der RUBIKON wurde eine entfernt humanoide Gestalt sichtbar. Sie war in eine golden schimmernde Rüstung gehüllt und hatte … Flügel. »Das ist Jiim!«, stieß Algorian hervor. »Daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben.« »Sesha! Identität noch einmal überprüfen!«, forderte Cloud. »Identitätsprüfung abgeschlossen«, meldete sich Sesha nur Augenblicke später. »Sämtliche aus dieser Distanz messbaren Parameter stimmen mit den Vergleichswerten von Jiim aus dem Volk der Nargen überein.« »Lebenszeichen?« »Sind vorhanden«, bestätigte Sesha. »Allerdings fehlen mir die Vergleichswerte, um beurteilen zu können, ob sie für nargische Verhältnisse im tolerablen Rahmen liegen. Die Wahrscheinlichkeit dafür setze ich allerdings nur mit zwanzig Prozent an.« In einem Holofenster wurde die aktuelle Geschwindigkeit des armierten Körpers eingeblendet. Scobee schüttelte fassungslos den Kopf. »Halbe Lichtgeschwindigkeit! Mein Gott, wie kann er dermaßen schnell sein? Er rast ja geradezu auf uns zu!« John Cloud wandte sich an Fontarayn. »Hast du eine Erklärung dafür?« Der Gloride wich einer konkreten Antwort aus, wie Cloud es zuvor schon das eine oder andere Mal bemerkt hatte. »Letztlich ist die Geschwindigkeit eines Körpers im All nur von einem kinetischen Ausgangsimpuls abhängig!« Damit mochte er Recht haben. »Objekt wird in wenigen Sekunden aufprallen«, meldete Sesha.
»Ausweichmanöver ist unmöglich, da eine permanente Angleichung an unseren Kurs vollzogen wird. Schutzschirm wurde aktiviert. Es besteht auf Grund der erheblichen relativen Geschwindigkeit des Objekts die Gefahr, dass die Außenhülle durchschlagen wird!« Wie ein Geschoss von unvorstellbarer Wucht würde Jiim gegen die RUBIKON-Ummantelung schlagen. »Maximale Beschleunigung!«, forderte Cloud. »Und dann: Parallelkurs!« »Ausweichmanöver unmöglich«, war die lapidare Antwort der Schiffs-KI. »Immer noch exakte Kursangleichung durch das Objekt. Maßnahmen gegen den Aufprall wurden ergriffen. Es besteht keine ernst zu nehmende Gefahr für den Bestand des Schiffes.« Und für Jiims Bestand?, dachte Cloud düster. Doch es kam anders. Sekunden vergingen. »Geschwindigkeit sinkt«, stellte Scobee plötzlich fest. Sie deutete dabei auf die Anzeigen. Kurz bevor der Körper des Nargen in seinem goldenen Nabiss auf die RUBIKON prallen konnte, bremste der Narge abrupt ab. Seine relative Geschwindigkeit zur RUBIKON sank auf Null. »Das ist vollkommen unmöglich«, stellte Jarvis fest. »Was ist mit den Gesetzen der Trägheit. Befinden wir uns etwa in einem Raumsektor, in dem die nicht mehr gelten?« »Auch ein paar andere Naturgesetze scheinen sich hier etwas schwerer zu tun, als im Rest des Universums«, ergänzte Scobee und spielte damit auf die nur scheinbare Leere an, die das Gesicht dieses Sektors prägte. »Jiim soll sofort an Bord genommen werden!«, verlangte Cloud. In der Holosäule wurde von Sesha schematisch dargestellt, wie ein Traktorstrahl den frei im All schwebenden Jiim durch die Hauptschleuse der RUBIKON an Bord zog. Dann schaltete die KI auf Realsicht um, und sie wurden Zeuge, wie die bordeigenen Spinnenroboter den Nargen in Empfang nahmen.
Über einen der Türtransmitter gelangten Cloud, Jarvis und Algorian in den Haupthangar. Jiims Körper befand sich zunächst in einer Art Leichenstarre. Allerdings wurde durch einen durch Sesha durchgeführten medizinischen Sofortscan festgestellt, dass alle Lebensfunktionen des Nargen intakt waren und offenbar keine akute Lebensgefahr bestand. Die Spinnenroboter hatten bereits die Anweisung zum Abtransport in die Medostation erhalten, als sich plötzlich ein Flügel des Nargen leicht bewegte. Er hob sich schwach. Als Nächstes rührte sich ein Bein. Die Erstarrung, die seinen Körper befallen hatte, wich von ihm. Sesha registrierte penibel, dass sich die Atemtätigkeit des geflügelten Wesens normalisierte. Jiim rang dennoch sichtbar nach Luft. Sein vom Helm des Nabiss bedeckter Kopf wandte sich in Clouds Richtung. »Ich danke dir«, erklärte er. Ein Augenblick des Schweigens folgte, ehe er fortfuhr: »Es ist schön, wieder an Bord zu sein.« »Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht«, ergriff Algorian das Wort, noch ehe Cloud etwas hatte sagen können. »Was ist geschehen? Ich habe nur einen undeutlichen Schemen bemerkt, der irgendwie …« »Ja?«, hakte Jiim nach, als der Aorii stockte. Algorians Blick war von einer Sekunde zur anderen nach innen gewandt. Er schien durch die anderen hindurchzusehen und sich auf irgendetwas sehr stark zu konzentrieren. Einen Moment später schloss er sogar die Augen, um eine noch bessere Konzentration zu gewährleisten. »Kannst du seine Gedanken wahrnehmen?«, fragte Cloud den Aorii-Zweitling. »Ich kann immerhin bestimmen, dass er nachgedacht hat. Allerdings nicht, worüber und zu welchem Zweck. Aber ich weiß, dass wir keinen Fremden an Bord geholt haben.« »Du musst uns berichten, Jiim!«, forderte Cloud den Nargen auf. »Das werde ich tun!«, versprach der so unverhofft Wiedergekehrte.
Er erhob sich langsam. Betastete mit seinen Händen, die aus den Flügeln hervortraten, als gehörten sie nicht recht dazu, die glatte, metallisch wirkende Außenhülle des Nabiss. Er stand auf. Algorian half ihm dabei. Die Flügel zuckten einmal heftig und falteten sich dann auf Jiims Rücken zusammen. »Bringen wir ihn in die Zentrale!«, schlug Algorian vor. »Ja«, stimmte Cloud zu. »Denn er hat uns einiges zu erzählen … und zu erklären …«
3. Kapitel – Jiims Geschichte Da war die undeutliche Erinnerung an einen dunklen Schemen und eine Kraft, die ihn umschloss, gefangen hielt, fesselte … Es war unmöglich, dafür einen Begriff zu finden, der auch nur annähernd das auszudrücken vermochte, was Jiim im Zusammenhang mit dieser Erinnerung empfand. Danach war jedenfalls zunächst einmal alles dunkel gewesen. So als hätte jemand einfach ein Stück aus seinem Leben herausgetrennt und gelöscht. Jiim erwachte. Er stellte fest, dass sein Körper nach wie vor vom Nabiss bedeckt war und ihm niemand die golden schimmernde Rüstung abgenommen hatte. Offenbar war demjenigen, der ihn gefangen genommen hatte, nichts über die Kräfte bekannt, die dem Nabiss innewohnten. Kräfte, mit deren Hilfe sich auch massive Steinwände durchdringen ließen … Umso besser, überlegte der Narge in der Hoffnung, nicht lange in diesem Gefängnis zubringen zu müssen – wer auch immer ihn hier eingesperrt haben mochte. Und dass es sich bei seiner Umgebung tatsächlich nur um ein Gefängnis handeln konnte, daran bestand für ihn von der ersten Sekunde des Erwachens an nicht der geringste Zweifel. Der Raum, in dem er sich befand, war kahl, die Wände schimmerten glatt. An der Decke leuchtete eine mäßig helle Lichtquelle. Einen Ausgang schien es nicht zu geben, was nur bedeuten konnte, dass er sehr geschickt verborgen worden war. Der Narge bewegte sich leicht, setzte sich auf und entdeckte in der anderen Ecke des etwa dreißig Quadratmeter großen Raumes eine kauernde Gestalt. Sie befand sich zunächst im Schatten, sodass Jiim nicht viel mehr als die ausgefahrenen Rückenstacheln sowie die Umrisse des feliden Kopfes erkennen konnte. Ein Saskane!, erkannte Jiim sofort, den der Fremde sofort an den
verstorbenen Boreguir erinnerte. Der Katzenartige erhob sich und musterte Jiim mit einem Blick, der nach Interpretation des Nargen zunächst einmal Misstrauen ausdrückte. Jiim fiel auf, dass sich die Kleidung des Saskanen, mit dem er seine Zelle und das Schicksal als Gefangener teilte, deutlich von dem martialischen Äußeren unterschied, das für Boreguir so kennzeichnend gewesen war. Statt der Montur eines Kriegers trug dieser Saskane eine weit fallende Tunika aus grauem Stoff, die allerdings auf dem Rücken über spezielle Öffnungen für die ausfahrbaren Stacheln verfügte. Schließlich unterlag das Ausfahren dieser Rückenstacheln bei Saskanen nicht immer der willentlichen Kontrolle, sondern geschah oft einfach aus einem Reflex heraus. Der Saskane kam jetzt aus seiner Ecke hervor und näherte sich Jiim zögernd. Als er in den Schein der Lichtquelle trat, fiel Jiim auf, dass die Haut des Feliden einen Farbton angenommen hatte, der dem Grau seines Gewandes ähnelte. Möglicherweise, so glaubte Jiim, war dies darauf zurückzuführen, dass sein Zellengefährte schon sehr lange in diesem Verlies vor sich hin vegetierte und für lange Zeit kein Sonnenstrahl seine Haut berührt hatte. »Ich bin Jiim«, stellte sich der Narge vor. Er benutzte dabei die Sprache Boreguirs, deren Wortschatz und Grammatik auf dem Übersetzungschip gespeichert waren, den Sesha in Jiims Rüstung integriert hatte. Die Reaktion des Saskanen verlief jedoch alles andere als wunschgemäß. Er wich ein Stück zurück und stieß einen unartikulierten Laut aus, den Jiim als einen Ausdruck der Furcht interpretierte. Vielleicht gehört die Gruppe, der dieser Saskane zuzuordnen ist, einem anderen Dialekt an, überlegte Jiim. Es konnte also sein, dass seine als freundliche Begrüßung gemeinten Worte von seinem Gegenüber völlig missverstanden wurden. Eine andere Möglichkeit war die, dass dieses Wesen schon dermaßen lange hier gefangen gehalten wurde, dass es jegliches Vertrauen
– gleichgültig ob in sich selbst oder in andere – verloren hatte. Jiim hob die von seinem Nabiss bedeckten Hände. Geöffnete und augenscheinlich waffenlose Hände waren als universelles Friedenszeichen kaum misszuverstehen, glaubte Jiim. Gleichzeitig bewegten sich aber auch seine Flügel ein wenig, was den Saskanen sehr zu beunruhigen schien. Er kauerte in einer Haltung da, die man nur als Abwehrhaltung auslegen konnte. Offenbar war er jedoch keine Kämpfernatur wie Boreguir. Zumindest deutete nichts an ihm darauf hin. Jiim war klar, dass er sehr behutsam vorgehen musste und seinen Zellengenossen wohl zunächst einmal am besten einfach in Ruhe ließ, bis dieser sich einigermaßen beruhigt hatte. Unterdessen versuchte Jiim die Zeit zu nutzen, in dem er sein Gefängnis mit Hilfe des Nabiss erkundete. Zumindest versuchte er es. Aber erschrocken stellt er fest, dass die Rüstung einfach nicht zu ihrer gewohnten Machtentfaltung kam. Es war ihm unmöglich, mit ihrer Hilfe die massiven Steinwände zu durchdringen, ja, er vermochte noch nicht einmal einen kleinen Teil ihrer verborgenen Kräfte zu aktivieren. Irgendetwas hinderte Jiim daran, die Rüstung so einzusetzen, wie er es gewohnt war. Das ist also der Grund dafür, dass man mir das Nabiss gelassen hat!, erkannte er schaudernd, denn nun wurde dem Nargen zum ersten Mal bewusst, dass dieses Gefängnis für ihn tatsächlich bis auf weiteres die Endstation bleiben würde. Noch einmal versuchte er, die Kräfte des Nabiss wachzurufen. Seine von der Rüstung bedeckte Hand prallte mit einem metallischen Geräusch gegen die Wand, aber mehr als einen Kratzer hinterließ sie dort nicht. Jiim stieß einen Laut der Wut aus, ein heftiges Schlagen der Flügel folgte, woraufhin sie sich jedoch sogleich wieder auf dem Rücken zusammenfalteten. Jiim fühlte den halb misstrauischen, halb interessierten Blick seines saskanischen Zellengenossen auf sich ruhen. »Das ist sinnlos«, stellte der Saskane schließlich nach längerem
Schweigen fest. »Was du tust, ist sinnlos.« Da Jiim die Sprache des Saskanen mit Hilfe des in seine Rüstung integrierten Übersetzungschips mühelos verstand, stand auch fest, dass dieser Bewohner Saskanas kein anderes Idiom benutzte als seinerzeit Boreguir. »Vielleicht hast du Recht«, sagte Jiim schließlich, sichtlich darum bemüht, beim zweiten Versuch einer Kontaktaufnahme etwas behutsamer vorzugehen. Schließlich waren sie beide in gewisser Weise aufeinander angewiesen. Bislang hatte Jiim nicht die geringste Ahnung, was eigentlich mit ihm geschehen war – und vor allem warum! Was war die Absicht desjenigen, der ihn gefangen genommen und in dieses Verlies gesperrt hatte? Gut möglich, dass der Saskane ebenso ahnungslos ist, wie ich es bin, überlegte Jiim. An den Gedanken, hier womöglich für lange Zeit festgehalten zu werden, wie er es im Fall seines Zellengenossen vermutete, wollte sich Jiim erst gar nicht gewöhnen. Es musste einen Weg hinaus geben, so sagte er sich. Und er nahm sich vor, alles zu unternehmen, um ihn zu finden. »Mein Name lautet Jiim«, erklärte der Narge noch einmal, da er glaubte, jetzt ein günstigeres Gesprächsklima vorzufinden. »Jiim aus dem Volk der Nargen.« »Du wiederholst dich«, war die kühle, überraschend abweisende Erwiderung. Das Kommunikationsbedürfnis des Saskanen schien fürs Erste vollkommen gestillt zu sein. Jedenfalls setzte er sich in seiner Ecke nieder und wandte demonstrativ den Kopf zur Seite. Eine Geste, die kaum irgendwelchen Spielraum für Interpretationen ließ. Im Moment hatte er einfach genug von dieser Unterhaltung. Jiim kam zu dem Schluss, dass er dies akzeptieren musste. Wenn seine Annahme stimmte, und dieser Saskane vielleicht tatsächlich schon unsagbar lange Zeit in dem Kerker verbracht hatte, so war seine Reaktion sogar verständlich. Er scheint die Gesellschaft anderer gar nicht mehr gewöhnt zu sein, wurde es Jiim klar. Ich werde Geduld mit ihm haben müssen. Viel Geduld. Mit ihm und auch mit mir selbst.
Die Zeit floss so zäh dahin wie ein erkaltender Lavastrom – und drohte in Jiims subjektiver Wahrnehmung ebenso langsam aber sicher zu erstarren. Es geschah buchstäblich nichts. Mehr als ein paar misstrauische Blicke tauschte er mit seinem saskanischen Zellengenossen nicht aus. Dieser schien dem Nargen von Grund auf zu misstrauen, und wenn er näher darüber nachdachte, so fand Jiim, dass er es ihm auch kaum verübeln konnte. Der Narge dachte daran, was wohl aus seinen Gefährten geworden war, den anderen Mitgliedern des Außenteams, die mit einer Kapsel der RUBIKON auf der verborgenen Saskanenwelt gelandet waren. Jarvis, Scobee, Algorian … Hatten sie sich retten und vielleicht sogar an Bord der RUBIKON zurückkehren können – oder wurden sie an anderer Stelle gefangen gehalten? Die Tatsache, dass er zur vollkommenen Untätigkeit verurteilt war, ärgerte Jiim und machte ihn innerlich fast rasend. Aber in diesem Punkt musste er den Worten seines Zellengenossen zumindest vom Verstand her Recht geben. Im Moment hatte es keinen Sinn, mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen. Die Grenzen, die ihm die Mauern seines düsteren Gefängnisses zogen, musste er zunächst einmal schlicht und einfach akzeptieren, bevor er seine Chance suchen konnte, sie zu überwinden. Aber träumte davon der Saskane mit dem aus Sonnenmangel grau gewordenen Gesichtszügen nicht ebenfalls schon seit langer Zeit und hatte es doch nie geschafft? Ein deprimierender Gedanke. Je weiter die Zeit fortschritt, desto schwerer spürte Jiim die wachsende Lethargie auf seinem Bewusstsein lasten. Er fühlte sich wie lebendig begraben. Langsam aber sicher schien jegliche Hoffnung dahinzusiechen. Wie hatte der Saskane, dessen finsteres Schicksal er nun zwangsweise teilte, es so lange aushalten können, ohne vollständig den Verstand zu verlieren, fragte sich Jiim irgendwann und war sich nicht mehr sicher, ob er seinen Zellengenossen wegen dem, was hinter ihm lag, bedauern oder seiner mentalen Stärke wegen be-
wundern sollte. Ein Geräusch riss Jiim aus der Lethargie heraus und sorgte auch bei dem Saskanen dafür, dass er augenblicklich aktiv wurde und aufsprang. Nach Jiims subjektiver Empfindung war seit seinem Erwachen in diesem Kerker eine unermesslich lange Zeitspanne vergangen. Die Zeit schien sich auf groteske Weise gedehnt zu haben und jeder einzelne Augenblick zu einer schieren Ewigkeit zu zerfließen. Genau das Gegenteil wurde durch das Geräusch ausgelöst. Alles schien sich auf einmal zu beschleunigen – bis hin zu den Biofunktionen des Nargen. Das Geräusch wiederholte sich noch einmal. Es glich einem Schaben, so als würde Stein an Stein reiben und sich irgendwo eine Tür öffnen. Jiim ließ den Blick schweifen. Nirgends war allerdings auch nur eine Öffnung erkennbar. Der Raum war so kahl, leer und rundherum geschlossen wie zuvor. Was geht hier vor?, fragte er sich. Wollte man ihn und seinen Mitgefangenen zum Narren halten? Aber der Saskane wusste natürlich mehr über die Bedeutung des Geräuschs. Er sah Jiim an. In seinen Augen blitzte es herausfordernd. »Beunruhigt?«, fragte er. »Was war das?«, wollte Jiim wissen und erkannte sogleich, dass er wieder einmal zu ungeduldig im Umgang mit seinem Zellengenossen gewesen war. Der Saskane wich – wie schon zuvor bei anderer Gelegenheit – einer direkten Antwort aus. Stattdessen sagte er: »Du wirst sehen, es ist nicht schlimm.« »So?« »Nein. Das nicht.« »Eine Tür ist aufgegangen.« »Keine Tür. Nur eine kleine Öffnung.« »Wo ist sie?« »Du kannst sie nicht sehen. Noch nicht …« Einige Augenblicke angespannten Schweigens folgten. Dann deu-
tete der Saskane plötzlich auf eine der Wände, in der sich eine Öffnung gebildet hatte, die vom Boden aus etwa zwanzig Zentimeter hoch lag. Zwei zylinderförmige Behälter waren offenbar durch diese Öffnung geschoben worden. »Wieso habe ich die Öffnung vorhin nicht wahrgenommen?«, fragte Jiim. Der Saskane vollführte mit seinem rechten Arm eine Geste, deren Bedeutung Jiim natürlich nicht bekannt war und die ihm auch der Sprachchip in seiner Rüstung nicht näher zu bringen vermochte. »Sie haben ihre Tricks«, erwiderte der Saskane knapp. »Und wer sind sie?« Jiim erhielt keine Antwort. Der Saskane trat auf die beiden auf dem Boden stehenden, oben offenen Behälter zu, nahm sie beide an sich und wandte sich anschließend Jiim zu. Erneut ertönte das schabende Geräusch. Die Öffnung war wieder verschwunden. Einen kurzen Moment nur hatte Jiim sich nicht konzentriert … Der Saskane trat jetzt auf den Nargen zu. Langsam, fast zögernd – und in jeder Hand einen Behälter, von denen er einen Jiim überließ. »Unsere Nahrung«, kommentierte der Saskane diese Geste und zog sich sofort wieder einen Schritt zurück. Jiim warf einen Blick in das Gefäß. Darin befanden sich keksähnliche Brocken in rechteckiger oder dreieckiger Form. Der Saskane hatte sich bereits eines der Dreiecke genommen und es verschlungen. Wenig später ertönte noch einmal das Geräusch, das das Öffnen der Tür ankündigte, welche die meiste Zeit über unsichtbar war. Diesmal gab es zwei Krüge, in denen sich Wasser befand, und ganz offensichtlich war wiederum je einer für Jiim und den Saskanen bestimmt. Das Nahrungsangebot wurde offenbar nicht nach Spezies unterschieden. Was das Wasser anging, so war es die Basis aller organischen Lebensformen, aber davon abgesehen konnte Jiim nur hoffen, dass die Nährstoffe, die für den Saskanen genießbar waren, auch ihm gut taten. Zögernd biss der Narge in eines der keksartigen Dreiecke hinein.
Es hatte keinerlei Geschmack. Aber wählerisch konnte Jiim hier nicht sein. Es ging ums nackte Überleben – und das war ohne ausreichende Nahrungszufuhr nun mal nicht gesichert. Während Jiim bereits den zweiten dreieckigen Keks verzehrte, überlegte er, inwieweit die ungesunde Hautfarbe des Saskanen möglicherweise auch durch eine mangelhafte Ernährung verursacht worden sein könnte. Der Saskane beendete sein Mahl schließlich. Anschließend ging er an eine bestimmte Stelle an der Wand und ritzte mit Hilfe einer seiner Krallen eine Markierung in den Stein. Das Geräusch, das dabei entstand, war unangenehm, und wie man den Krallen des Saskanen ansehen konnte, waren sie eigentlich nicht hart genug für diese Arbeit. Was ihn aber nicht hinderte. Jiim sah auch schnell den Grund dafür. Offenbar setzte der Saskane nach jeder Essensausgabe eine Markierung, weil das die einzige Möglichkeit für ihn war, die Zeit zu messen und einigermaßen den Überblick darüber zu behalten, wie lange er schon hier war. Und auch das nur unter der Voraussetzung, dass die Nahrungsmittelund Trinkwasserausgaben regelmäßig durchgeführt wurden. Der Saskane bemerkte Jiims Interesse. Er machte eine Geste, die Jiim nach anfänglichem Zögern so interpretierte, dass er sich nähern sollte. »Viel Zeit ist vergangen«, sagte der Saskane und deutete auf die Markierungen, die er bereits in die Wand geritzt hatte. »Mächtig viel Zeit …« Ging man davon aus, dass die Nahrungsmittelausgabe täglich stattfand, befand sich der Saskane bereits seit mehr als einem halben Saskana-Jahr in Gefangenschaft. »Mein Name ist Voscaguir«, erklärte der Saskane schließlich. Endlich fasst er Vertrauen, dachte der Narge. »Und ich bin Jiim.« »Du wiederholst dich.« »Ein Gebot der Höflichkeit, wenn man sich gegenseitig vorstellt.« »Ich verstehe nicht, was du sagst. Aber wir sind beide lebendig in diesem Kerker begraben. Da sollten wir wenigstens den Namen des
anderen kennen.« »Dem stimme ich zu.«
Das Schweigen dauerte diesmal bis zur nächsten Essens- und Trinkwasserausgabe, die sich exakt genauso abspielte, wie beim ersten Mal. Voscaguir machte die nächste Markierung, und Jiim fragte sich, ob er vielleicht auch damit anfangen und sich darauf einstellen sollte, vielleicht Monate oder Jahre in diesem kahlen Raum zuzubringen. »Du siehst seltsam aus«, erklärte Voscaguir in die Stille hinein und benannte damit vielleicht auch den Grund für die anfängliche übergroße Scheu, die er vor dem Nargen gezeigt hatte. »Wie ein Geschöpf der Legenden, die erzählt werden, um junge Saskanen zu erschrecken, von denen aber jeder Erwachsene eigentlich weiß, dass es nur Ausgeburten der Fantasie sind.« »Und du dachtest anfangs auch, ich sei eine Ausgeburt der Fantasie?«, fragte Jiim. »Ja. Ich war die ganze Zeit allein, dann erwache ich und finde dich in ein- und demselben Kerker wieder wie …« »… wie was?« »Es liegt nicht in meiner Absicht, dich zu beleidigen. Magst du äußerlich von ausgesprochener Hässlichkeit sein, so wünscht man selbst dem schlimmsten Monster aus Legenden nicht das, was uns in diesem Kerker widerfährt …« Jiim rief sich ins Gedächtnis, dass bis zu dem Zeitpunkt seiner Entführung noch kein Erstkontakt zwischen den Saskanen und dem Landeteam der RUBIKON stattgefunden hatte. Da Voscaguir ja ohnehin bereits seit mehr als einem halben Jahr in Gefangenschaft war, konnte er noch weniger als jeder andere Saskane von der Existenz der Fremden wissen, die seinen saskanischen Heimatplaneten betreten hatten. »Du musst von sehr weit her kommen – denn du bist eine Missgeburt, die direkt einem Albtraum entsprungen ist. Zuerst hielt ich dich für einen bösen Geist, mit dem meine Entführer mich zu peini-
gen suchten.« »Was hat dich davon überzeugt, dass ich kein böser Geist bin?«, fragte Jiim. »Die Tatsache, dass du offenbar in der Lage bist, dieselben Nahrungsmittel zu dir zu nehmen wie ich«, erklärte Voscaguir. »Geister essen nichts. Sie nehmen keine Nahrung zu sich und trinken auch kein Wasser.« »Ich kann mir deine Angst gut vorstellen«, erklärte Jiim nachsichtig. »Schließlich unterscheiden wir uns schon rein äußerlich in einigem.« »Das kann man laut sagen!«, stieß der Saskane hervor und ließ einen tiefen, kehligen Laut folgen, bei dem sich Jiim nicht sicher war, ob es sich um einen Ausdruck der Erleichterung oder Belustigung handelte. Vielleicht war es auch eine Mischung von beidem. »Ich versichere dir, dass ich genau wie du ein Gefangener bin«, sagte Jiim. »Dann kommst du von weit her. Aus einer abgelegenen Gegend? Einem abgelegenen Tal oder von einer entfernten Insel, auf der sich die Missbildung auf deinem Rücken über die Generationen ausbilden konnte, ohne dass man davon irgendwo anders etwas erfuhr.« »Das ist keine Missbildung auf meinem Rücken.« »Es erinnert entfernt an Flügel, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass …« »Warum nicht?«, unterbrach Jiim seinen Gesprächspartner. »Es handelt sich tatsächlich um Flügel – auch wenn es dir schwer zu fallen scheint, dies zu glauben.« »Und du vermagst damit auch zu fliegen?« »Natürlich – allerdings ist dies ein denkbar schlechter Ort, um es dir vorführen zu können.« »Funktioniert es so wie bei den Tlamarillas der südlichen Täler?« Jiim musste zugeben, von diesen Tlamarillas noch nie etwas gehört zu haben. Die Aufenthaltsdauer des Außenteams war im Übrigen auch viel zu kurz gewesen, um sich bereits eingehend mit Fauna und Flora der Saskanenwelt befassen zu können, zumal das Ziel der Mission ja auch ein ganz anderes gewesen war.
Aber Jiims saskanischer Mitgefangener schien inzwischen mehr und mehr Vertrauen gefasst zu haben. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. In blumigen, bildhaften Worten beschrieb Voscaguir eine Spezies, die Insekten von etwa einem Meter Größe ähnelte und offensichtlich flugfähig war. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du in der Lage bist, deine so genannten Flügel schnell genug zu bewegen, um dich damit in die Lüfte zu erheben.« Jiim versuchte seinem staunenden Gegenüber zu erklären, dass sich sein Flugstil von dem insektenähnlicher Flieger erheblich unterschied und nicht auf schnellen Bewegungen hauchdünner Flugmembranen basierte. Jiim war ein Gleitflieger. Für den Saskanen schien dieses Flugprinzip jedoch schwer nachvollziehbar zu sein. Jiim versuchte das Gespräch auf ein anderes, ergiebigeres Terrain zu lenken. Schließlich wollte er so viel wie möglich an Informationen sammeln. »Es gibt mehr Möglichkeiten, sich in die Lüfte zu erheben. Die Tlamarillas, von denen du sprachst, haben die ihre, ich die meine, und dann gibt es da ja noch diese Flugmaschinen, die eure Dörfer angreifen.« Aus irgendeinem Grund ging Voscaguir darauf nicht näher ein. Jiim fragte sich, was der Grund dafür sein mochte. Befanden sie sich möglicherweise in einer vom Landepunkt des Außenteams weit entfernten Region Saskanas, in der noch niemand von den Flugmaschinen wusste? Oder wollte Voscaguir ganz einfach nicht über diese Sache sprechen – aus welchen Gründen auch immer? Jiim fiel noch eine dritte mögliche Antwort ein. Es schien auch denkbar, dass das Problem mit den angreifenden Flugmaschinen vor etwas mehr als einem halben Jahr, als Voscaguir in Gefangenschaft geriet, noch nicht aktuell gewesen war. Eine Phase des Schweigens begann. Sie dauerte bis zur nächsten Nahrungsausgabe.
»Die Einsamkeit treibt einen langsam, aber sicher in den Wahnsinn«, bekannte Voscaguir, nachdem er sich gesättigt hatte. »Deswegen bin ich froh, dass du da bist – auch wenn dies für dich ein Unglück bedeutet. Aber bedenke eines: Du bist zwar ein Gefangener, aber ich war ein Gefangener, der allein in seiner Zelle leben musste, während du wenigstens Gesellschaft hast.« Ein schwacher Trost!, dachte Jiim, während der Saskane ihm mit umständlichen und zunächst nur schwer verständlichen Umschreibungen deutlich zu machen versuchte, dass er bereits daran gedacht hatte, sich selbst das Leben zu nehmen. Seine seelische Verfassung war offenbar mehr als schlecht. Jiim nahm sich daher vor, im Hinblick auf seinen Zellengenossen vorsichtiger und bedachter zu agieren. Erneut entstand längeres Schweigens. Diesmal war es Jiim, der es brach. »Wie bist du hierher geraten?«, fragte er Voscaguir. »Und kennst du den Grund, warum man dich hier festhält?« »Zwei Fragen. Die Antwort auf die erste ist leicht. Ich war auf der Jagd, folgte einem Korallenläufer in die tiefsten Verästelungen eines Matang …« »Was ist ein Matang?« Offenbar kannte nicht einmal der Übersetzungschip eine Entsprechung dafür, die Jiim verstanden hätte. »Das ist schwer zu erklären. Stell dir eine Höhle aus pflanzlichem, wurzelartigem Material vor. Korallenläufer benutzen sie als Wohnstätte. Zumeist sorgen sie dafür, dass ein Matang zwei Ausgänge besitzt, um eine Möglichkeit zur Flucht zu haben. Ich folgte dem Korallenläufer, aber er war zu schnell für mich. Er war durch den hinteren Ausgang verschwunden. Ich erreichte diesen Ausgang, bemerkte noch Bewegung … dann sah ich einen Schatten, der sich von hinten über mich senkte. Mehr weiß ich nicht mehr. Die nächste Erinnerung ist mein Erwachen in dieser Zelle.« Nach einer kurzen Pause, in der Voscaguir auf einem dreieckigen Keks herumgekaut hatte, fragte er: »Du hast mir noch immer nicht gesagt, wo du eigentlich herkommst.«
Eine schlichte Feststellung. Eigenartig, dachte Jiim. Es schien den Saskanen mehr zu interessieren, wo er herkam, als dass er die näheren Umstände seiner Gefangennahme erfahren wollte. »Ich wurde auf ganz ähnliche Weise überwältigt«, sagte Jiim. »Ist dir irgendwann gesagt worden, weshalb das geschehen ist und was man mit dir vorhat?« »Nein.« »Hast du ein Verbrechen begannen oder ein Tabu verletzt?« »Nein.« »Bist du irgendwann hier in diesem Kerker jemandem begegnet, der …« »Ich bin nie irgendjemandem begegnet, außer dir, Fremder.« »Fremder …« Jiim hob leicht den Kopf. »Oh, ich komme von noch viel weiter her, als du dir auch nur vorzustellen vermagst, Voscaguir!«, bekannte Jiim. »Von einem fernen, unerforschten Kontinent?« »Nein, weiter … Ich komme von einem Schiff, das zwischen den Sternen zu reisen vermag. Wir nennen es Raumschiff. Mit ihm sind wir in die Nähe dieser Welt geflogen.« Der Saskane schien Mühe zu haben, Jiims Worte zu begreifen. »Du sprichst von einem … fliegenden Schiff?« »Wenn du es so ausdrücken willst, ja. Dieses Schiff vermag von einem Stern zum nächsten zu reisen.« »Warum schwimmt es nicht? Der Himmel ist blau und unsere Weisen haben immer schon behauptet, dass dort die Urflut des Himmels zu finden sei, die nur vom löchrigen Firmament davon abgehalten wird, vollständig herunterzuregnen.« »Nein, das entspricht nicht den Tatsachen«, erwiderte Jiim. »Da draußen zwischen den Sternen ist das Nichts. Man nennt es das Vakuum des Alls. Unser Schiff ist in der Lage, durch diese Leerräume zu kreuzen.« »Ist dieses Schiff deine Heimat?«, fragte Voscaguir. »In gewisser Weise ist es das – im Augenblick zumindest«, erwiderte Jiim nachdenklich. »An Bord befinden sich Wesen von ver-
schiedenen Welten.« »Welten?«, echote der Saskane. »Gibt es denn mehr Welten als diese eine, auf deren Scheibe wir alle stehen?« »Viele der Sterne, die du siehst, wenn du in der Nacht zum Himmel aufschaust, sind die Gestirne, um die Welten kreisen, die der euren ähneln!« Voscaguir stieß einen unartikulierten Laut aus, der einem Seufzen ähnelte. »Ich weiß nicht, ob ich alles verstehe, was du sagst. Aber etwas so Erstaunliches habe ich bislang noch nie gehört.« »Es ist aber die Wahrheit.« »Vielleicht muss ich einfach nur noch mehr darüber hören, um es wirklich begreifen zu können, Jiim.« »Das wäre ein Weg, da stimme ich dir zu.« »Mal vorausgesetzt, deine Geschichte entspricht der Wahrheit – weshalb hat euer Schiff diese Welt angesteuert? Warum seid ihr hier gelandet und nicht auf einer der unzähligen anderen Welten, die da draußen in der Dunkelheit des … Alls angeblich existieren?« »Das kann ich dir erklären. An Bord unseres Schiffes befand sich ein Krieger mit dem Namen Boreguir. Er war ein Saskane wie du. Aber er starb während eines Kampfes. Da er allen an Bord ein wertvoller Freund war, beabsichtigten wir, ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen. Er wollte auf seiner Heimatwelt Saskana die letzte Ruhe finden. Um seine sterblichen Überreste zurückzuführen, deswegen landete ich mit zwei weiteren Gefährten auf der Oberfläche dieses Planeten.« Voscaguir schwieg daraufhin eine Weile. Er schien darüber nachzudenken, ob er dieser Geschichte Glauben schenken – oder sie als wahnhafte Idee eines Verrückten abtun sollte. »Du sagtest, dass dieser getötete Krieger Boreguir hieß«, vergewisserte sich der Saskane schließlich. »Ja.« »Das ist ein hier üblicher Name …« »Ja, aber du glaubst mir noch immer nicht.«
»Verzeih mein Misstrauen, Jiim. Das ist wohl eine Folge der Gefangenschaft. Ich war zu lange ein Spielschwert in den Händen von Unbekannten.« »Ein Spielschwert?«, echote Jiim etwas erstaunt. »Damit werden Turnierkämpfe ausgefochten. Die Klinge ist stumpf, um Verletzungen so weit wie möglich auszuschließen …« »Wie kommst du jetzt auf Schwerter?« »Ich benutzte nur eine bei uns übliche bildliche Redensart, Jiim.«
Jiim stellte im Laufe der Zeit fest, dass sein Zellengenosse ein ausgesprochen systematischer und hartnäckiger Fragesteller war. Dinge, die ihn interessierten, verlor er nicht aus den Augen. »Warum weilte dieser Krieger namens Boreguir an Bord eures Sternenschiffs?«, wollte Voscaguir beispielsweise wissen. »Das ist eine lange Geschichte.« »Wir haben viel Zeit, und eine Geschichte – gleichgültig ob lang oder kurz – wird bei mir den drohenden Wahnsinn vielleicht etwas hinauszögern.« Jiim versuchte zunächst auszuweichen und dafür seinerseits an zusätzliche Informationen über das Leben auf Saskana heranzukommen, aber Voscaguir ließ nicht locker. Er kam immer wieder auf Boreguirs Schicksal zurück. Jiim berichtete so knapp wie möglich von dem, was er über Boreguirs phantastische Odyssee wusste. Er sprach über die Foronen, die vielerorts in der Milchstraße so genannte Proben genommen hatten. Lebewesen, die sie in Staseschlaf versetzten und untersuchten. Bei Boreguir hatten noch andere Umstände mitgespielt, aber auch er war seiner Heimatwelt entrissen worden. Voscaguir stellte viele Zwischenfragen, aber plötzlich begann er, eisern zu schweigen. Jiim hielt in seiner Erzählung inne und wartete ab. Das Interesse seines Gesprächspartners schien jäh abgerissen zu sein. Dann … zerfloss die Gestalt des Saskanen plötzlich. Sie wandelte sich völlig.
»Voscaguir!«, stieß Jiim hervor und wich erschrocken zurück, während sich sein Mitgefangener vollständig auflöste. Lediglich ein golden schimmernder Lichtpunkt blieb zurück. Was war geschehen? Hatten die geheimnisvollen Herren dieses einsamen Kerkers ihren Gefangenen aus irgendeinem Grund bestraft und … desintegriert? Ein rasch per Energieblitz vollzogenes Todesurteil, wobei Jiim der Grund dafür in keiner Weise klar war? Mit Schrecken dachte der Narge daran, dass nun wohl er wahrscheinlich über sehr lange Zeit hinweg allein in diesem Gemäuer ausharren musste, dem Wahnsinn nahe vor Monotonie und Einsamkeit. Jiim hatte eigentlich erwartet, dass der goldene Lichtpunkt verschwinden würde, nach und nach verlöschen – aber das tat er nicht. Er schwebte in etwa Brusthöhe in der Luft und begann sich wieder auszudehnen, wobei er an Helligkeit verlor. Schon nach wenigen Augenblicken war der Umriss eines humanoiden Körpers erkennbar. Mit der Gestalt des Saskanen Voscaguir hatte dieses Wesen nicht das Geringste gemein. Fassungslos starrte Jiim zu ihm – oder ihr, ganz wie man wollte, denn festzustellen war das Geschlecht nicht eindeutig – hin und wartete ab, bis der Prozess abgeschlossen war. »Verzeih mir«, sagte der Androgyne. In Jiim lösten diese Worte nichts als Verwirrung aus. Was wurde hier gespielt? War alles nur eine optische Täuschung gewesen, die einzig und allein dem Zweck gedient hatte, ihm so viele Informationen wie möglich zu entlocken? Die Gedanken überschlugen sich in Jiims Kopf. Deshalb also die vielen Fragen nach dem Sternenschiff und seine Herkunft oder nach den Zielen, die das Außenteam verfolgt hatte. Der Androgyne fuhr fort: »Ich weiß jetzt, dass du nicht zu ihnen gehörst. Verzeih, dass du dies alles hast erleiden müssen, aber es gab keinen anderen Weg. Ich musste mir erst sicher sein. Zu viel steht auf dem Spiel, und ich durfte kein Risiko eingehen.« »Wer bist du?«, fragte Jiim. »Ich bin ein Gloride. Du wirst meine Art nicht kennen und ver-
mutlich nie von ihr gehört haben.« »Das ist richtig.« »Mein Individualname ist Ovayran.« »Und wer sind sie – vor denen du dich so sehr zu fürchten scheinst?« Die Antwort auf diese Frage blieb Ovayran dem Nargen schuldig. »Lass uns keine Zeit verlieren.« »Ich verstehe nicht, was du jetzt meinst!« »Ich bin schon viel zu lange auf diesem Planeten.« »Aber …« »Lass uns gehen, Jiim.« »Gehen?«, echote der Gefangene. Er machte eine ausholende Geste. Sie waren von massiven Mauern umgeben. Es war unmöglich, diesen Ort zu verlassen. »Ich kann nirgendwohin«, sagte Jiim. »Und außerdem …« Der Gloride schnitt Jiim das Wort ab. »Ich weiß, was du sagen willst, Jiim. Und ich kenne jeden Einwand, den du nun vorbringen könntest. Aber du solltest zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass dies keineswegs ein Gefängnis ist, auch wenn es dir im Moment noch so erscheinen mag. Und wir beide sind auch keine Gefangenen. Ich habe dich hierher gebracht, um dich kennen zu lernen.« Der Gloride trat näher an Jiim heran und fuhr nach ein paar Augenblicken des Schweigens fort: »Ja, ich war der Schatten, der dich gefangen nahm, Jiim. Aber nun hast du nichts mehr zu fürchten.« »Was … hast du vor?« »Warte es ab, Jiim.«
Es ertönte das Geräusch, das bis dahin stets die Essensausgabe angekündigt hatte. Aber diesmal waren es weder Nahrungsmittel noch Trinkwasser, was ins Innere des Gefängnisses geschoben wurde. Die Öffnung, die in der Wand entstand – oder vielleicht auch schon immer dort vorhanden gewesen und nur durch irgendeine ganz gezielt eingesetzte Sinnestäuschung verborgen gehalten worden war –, wirkte sehr viel größer als diejenige, die bei den Essens-
ausgaben jeweils für ein paar Augenblicke zu sehen war. Sie war so groß, dass Jiim hätte hindurchgehen können, hätte er die Flügel zusammengefaltet und den Kopf etwas eingezogen. Ein dichter Klangteppich von Geräuschen drang von draußen herein. Stimmen, Rufe, Schreie, Rascheln, Surren, das an Insekten erinnerte … Das alles ergab eine einzigartige Melange aus akustischen Eindrücken. »Folge mir«, forderte Ovayran den Nargen auf, der einige Momente wie erstarrt dastand, innerlich noch ganz gefangen von den Eindrücken des gerade Erlebten.
Jiim und Ovayran traten ins Freie. Das Zentralgestirn stand im Zenit und strahlte von dort auf den Planeten Saskana herab – aber nur ein Bruchteil des Lichtes erreichte auch den Boden. Schuld daran waren die korallenartigen Strukturen, die große Teile der Oberfläche bedeckten. Es waren regelrechte Wälder aus verhärtetem, zum Teil abgestorbenem organischem Material, das den nachwachsenden Organismen als Behausung, Schutz oder Stütze diente, um sich daran emporranken zu können. Das galt sowohl für das pflanzliche als auch das tierische Leben des Planeten. Mangrovenartige Strukturen hatten sich im Laufe von Zeitaltern gebildet und boten mannigfachen Lebensformen Platz. Jiim war schier überwältigt von dem Anblick wimmelnden Lebens, der ihn umgab. Er drehte sich herum und sah nun, worum es sich bei seinem Gefängnis tatsächlich gehandelt hatte: um eine etwa zehn Meter große Kuppel, die – wie er später erfahren sollte – absichtlich mit Korallengeäst abgedeckt worden war. Nur hier und da schimmerte der Glanz des Goldes hervor. Eine Schleusentür schloss sich hinter ihm. Die Tatsache, dass Jiim in seiner Umgebung alle Wände so wahrgenommen hatte, als würde es sich um Bestandteile eines massiven Steingebäudes handeln, war offensichtlich auch nichts weiter als optische, speziell für ihn eingerichtete Täuschung.
Bei näherer Inaugenscheinnahme wurden an der oberen Hälfte der Kuppel schwere Beschädigungen sichtbar. Mehrere Hüllenbrüche und einige mäandernde Risse, die sich weitläufig über die Oberfläche zogen und immer stärker verzweigten. »Das ist … oder war mein Sternenschiff«, erklärte Ovayran. »Wie auch für dich sicherlich leicht erkennbar, weist es erhebliche Schäden auf.« »Wie kam es zu deiner Havarie?«, wollte |iim wissen. Der Gloride schien jedoch nicht gewillt zu sein, näher darauf einzugehen. »Ich weiß nicht, ob sich das mit den Beobachtungen deines Landeteams deckt, aber es scheint so zu sein, dass hoch entwickelte Technologie auf diesem Planeten entweder gar nicht oder nur sehr eingeschränkt funktioniert. Auf jeden Fall war es bislang unmöglich für mich, diese Welt wieder zu verlassen.« »Aber was habe ich mit all dem zu tun? Wenn du einen Notruf gesendet hättest, wären wir mit Sicherheit bereit gewesen, dir zu helfen. Warum musstest du mich stattdessen gefangen nehmen und glauben machen, mir stünde ein langer, einsamer Aufenthalt in einem unfreundlichen Verlies bevor – in einer Umgebung, die andere Insassen bereits an den Rand des Wahnsinns getrieben hat!« »Ich kann mich nur wiederholen und dafür um Verzeihung bitten. Aber ich hatte keine andere Wahl, das musst du mir glauben.« »Dann erklär es mir!«, verlangte Jiim. »Wie gesagt, ich versuchte vergeblich, mein Raumschiff wieder startklar zu bekommen. Aber einige technisch entscheidende Komponenten ließen sich einfach nicht wieder in Betrieb nehmen. Da seid ihr auf diese Welt gekommen … Ich wurde rasch auf deine Rüstung aufmerksam. Sie wird von einer Energiequelle gespeist, die offenbar von den allgegenwärtigen schädlichen Einflüssen, die auf dieser Welt wirksam sind, nicht beeinflusst wird! Das ist doch richtig, oder?« »Ja«, bestätigte Jiim. »So habe ich mir also gedacht, mir diesen Umstand irgendwie zu Nutze machen zu können, um vielleicht doch in die Lage versetzt zu
werden, diesen Planeten endlich zu verlassen.« »Langsam verstehe ich«, gestand Jiim. Ein deutliches Unwohlsein breitete sich in ihm aus. Was mochten Ovayrans weitere Pläne mit ihm sein? »Mein Ziel war es, dich und deine Rüstung zur Flucht von diesem zurückgebliebenen Planeten zu benutzen«, gestand Ovayran. Jiim war konsterniert. »Der Nabiss ist nicht weltraumtauglich«, wandte der Narge ein. »Zumindest – habe ich das nie probiert.« Der Gloride schien die emotionale Aufgewühltheit seines Gegenübers zu spüren und versuchte Jiim zu beruhigen. »Vertrau mir«, sagte er. Offenbar wollte er sich nicht mit weitschweifigen Erklärungen aufhalten. Er löste seine androgyne Gestalt auf und verwandelte sich wieder in golden schimmerndes Licht. Dieses Licht wurde im nächsten Moment vom Nabiss absorbiert … … und schon begannen sich Jiims Flügel wie von selbst zu bewegen. Er schwebte empor, beschleunigte dabei auf irrwitzige Weise. Mit traumwandlerischer Sicherheit fuhr er zwischen den Verästelungen des korallenartigen Waldes hindurch. Das gleißende Sonnenlicht blendete Jiim im ersten Moment. Höher und höher stieg er – und das mit einer Geschwindigkeit, die immer noch weiter anzusteigen schien. Jiim konnte nichts dagegen tun. Er war Spielschwert einer fremden Macht, wie der Saskane Voscaguir es ausgedrückt hätte, von dem Jiim inzwischen hatte erfahren müssen, dass er nichts weiter als eine Täuschung war, um ihn gefügig zu machen und besser manipulieren zu können. Der Abstand zur Oberfläche wurde immer größer. Die korallenartigen Strukturen waren aus der Höhe deutlich erkennbar. Jiim stieg zur Stratosphäre auf. Die den Planeten Saskana umgebende Lufthülle war an sich schon reichlich dünn, aber hier war es für ein Sauerstoff atmendes Wesen wie Jiim ohne raumtaugliche Ausrüstung eigentlich unmöglich zu überleben. Eigentlich …
Sollte es tatsächlich so sein, dass ich die Möglichkeiten des Nabiss bislang noch weit unterschätzte?, dachte der Narge. Ovayran hingegen hatte das Potenzial der Rüstung offenbar sofort erkannt. Das Licht Ovayrans, das in seine Rüstung eingedrungen war, quoll nun wieder daraus hervor und bildete eine schimmernde Aura, die sich um den Nabiss – und damit auch um Jiim – wie eine Blase schloss. Einen Moment später befand sich Jiim bereits im Weltraum. Im Nichts. Dort, wo die Kälte regierte und organisches Leben nicht ohne Hilfsmittel zu existieren vermochte. Aber Jiim spürte weder die hier herrschende eisige Kälte, noch machte ihm das Vakuum nachteilig zu schaffen. Was ist es, was mich vor der Lebensfeindlichkeit des Alls schützt – wirklich nur das Nabiss oder diese … Sphäre? Noch immer bewegten sich Jiims Schwingen wie automatisch. Offenbar vermochten sie selbst im freien Raum seinen Körper voranzutreiben. Auf welche Weise das geschah, davon hatte Jim nicht die geringste Vorstellung. Der Planet Saskana verschwand. Jiim war allein – inmitten der Leere des Alls. Und er beschleunigte noch immer – bis plötzlich ein gewaltiges Objekt auftauchte. Jiim bremste abrupt ab. Ein Traktorstrahl erfasste ihn und dann … begann er langsam zu begreifen, dass er gerettet war.
4. Kapitel – Jiims Begleiter »Es dürfte klar sein, dass Jiim nicht allein zurückkehrte«, stellte John Cloud fest, nachdem der Narge seine Schilderung beendet hatte. Der Kommandant der RUBIKON wandte sich an Fontarayn und fragte: »Ich nehme an, dass du derselben Ansicht bist.« »Das ist zutreffend«, erklärte der Gloride auf seine zurückhaltende Art. Fontarayn trat auf Jiim zu, der noch ganz unter dem schockierenden Eindruck seiner Rückreise zur RUBIKON stand. Der Gloride verwandelte sich in leuchtende Energie und drang anschließend durch die Außenhaut des Nabiss. Für einen Moment war nichts mehr von ihm zu sehen, dann quoll ein gleißendes Licht aus der Rüstung des Nargen hervor, schwebte ein paar Meter in die Zentrale der RUBIKON und begann sich dann zu teilen. Aus jedem der dabei entstehenden Lichtpunkte bildete sich eine humanoide Gestalt. Sie waren äußerlich kaum zu unterscheiden. Cloud war sich im ersten Moment nicht sicher, wer von ihnen nun Fontarayn war. Beide schienen miteinander zu kommunizieren. Ihre Körperhaltung verriet dabei, dass sie einander mit großem Interesse – und Respekt begegneten. Schließlich trat einer der Gloriden ein paar Schritte vor. »Ich bin Fontarayn – nur für den Fall, dass es euch Schwierigkeiten bereiten sollte, uns optisch auseinander zu halten.« Er streckte einen Arm aus und deutete damit auf den zweiten Gloriden. »Das ist Ovayran.« John Cloud wechselte einen kurzen Blick mit Scobee. Die GenTec schien seine Besorgnis zu teilen. Zumindest interpretierte er ihren Gesichtsausdruck so. Ein zweiter Gloride an Bord der RUBIKON – davon war Cloud alles andere als begeistert. Es gefiel ihm schon nicht, mit Fontarayn ein Wesen an Bord zu haben, das ihm jederzeit und nach Belieben
die Kontrolle über das Schiff zu entziehen vermochte, ohne dass dies auch nur besondere Mühe erfordert hätte. Bislang hatte Fontarayn seine Fähigkeiten mit Augenmaß für die jeweilige Situation eingesetzt und sich insgesamt in Zurückhaltung geübt. Aber nach dem, was Jiim in Bezug auf Ovayran geschildert hatte, war nicht unbedingt davon auszugehen, dass in seinem Fall dasselbe gelten würde. Immerhin war er mit ziemlich großer Rücksichtslosigkeit vorgegangen, um seine Ziele durchzusetzen. Was, wenn er die RUBIKON als willkommenes Werkzeug sieht – wofür auch immer?, ging es Cloud skeptisch durch den Sinn. Fontarayn erhob erneut seine Stimme. »Höchste Achtung gebührt Ovayran«, erklärte das Energiewesen. »Ich verbürge mich für ihn und erbitte auch in seinem Fall den Status eines Gastes, der mir gewährt wird. Er wird nichts tun, was der Besatzung dieses Schiffes schaden könnte.« Aber faktisch könnten wir auch nicht verhindern, wenn er es vorhätte!, kommentierte Cloud die Aussage des Gloriden in Gedanken. Algorian wandte den Kopf kurz in Clouds Richtung. War der Gedanke möglicherweise so stark gewesen, dass selbst der nur mäßig psi-begabte Aorii-Zweitling ihn wahrgenommen hatte? »Bevor ich darüber entscheide, würde ich gerne noch mehr über Ovayran wissen«, erklärte John Cloud, womit er einer direkten Antwort auf das Anliegen des Gloriden zunächst einmal auswich. Cloud war sich dabei durchaus bewusst, dass er dies nicht lange durchhalten konnte. Aber vielleicht ließen sich die beiden Gloriden darauf ein und gaben noch etwas mehr von ihrem Wissen preis. Woher kamen Sie? Was waren ihre Ziele, was ihre Motive? Es lag noch so vieles im Dunkeln, was einer unbedingten Klärung bedurfte. Cloud schien im Hinblick auf die beiden Fremdwesen den richtigen Ton getroffen zu haben. Fontarayn beugte sich etwas nach vorn. Welche Bedeutung diese Geste hatte – oder ob es sich überhaupt um eine Geste handelte –, blieb Cloud verborgen. »Ovayran ist einer der verschollenen Bewohner der Perle Chardhin. Er wird euch berichten, was auf der Perle geschah und wie es
dazu kam, dass er auf Saskana strandete …« »Gut«, stimmte Cloud zu. »Ich bin sehr gespannt. Sesha?« »Ja, John Cloud?« »Einen kurzen Statusbericht über die fortlaufenden Ortungsscans!« »Keine besonderen Datenvarianzen«, erklärte der Bordrechner der RUBIKON. »Die Suche nach eventuell feindlichen Fremdschiffen blieb bislang ergebnislos.« »Das freut mich zu hören«, murmelte Cloud. Er wandte sich an den mit Jiim an Bord gekommenen Gloriden Ovayran. »Was also ist geschehen?« »Ihr sollt alles erfahren«, versprach das Energiewesen. »Vieles habe ich euch schon berichtet, manches kommt nun hinzu. Weitere Aussagen über das Netzwerk der Chardhin-Perlen, über die Perle im Zentrum eurer Galaxis, die ja bereits einige von euch kurz betraten – und über die Zeit vor dem Exodus der Bewohner. Erinnert euch an die Perle … Bei eurem kurzen Aufenthalt darin habt ihr nur einen flüchtigen Eindruck dessen gewonnen, was das Leben dort ausmachte, als sie noch bewohnt war. Ihr besitzt kaum mehr als eine vage Ahnung davon, was es wirklich bedeutet, dass Materie und Energie letztlich ein und dasselbe sind und sich folglich auch restlos ineinander verzahnen lassen. Für uns Gloriden ist dieses Wissen die Grundlage unserer Existenz. Wir haben sowohl eine rein energetische als auch eine wechselnde körperliche Form und können zwischen beiden nach Belieben wählen. Die engen Beschränkungen der Materie, die ich bei so vielen Spezies erlebt habe, gelten für uns nicht. Aber es gibt Beschränkungen anderer Art, und ich glaube nicht, dass ihr in der Lage wärt, diesen Punkt wirklich zu verstehen. Das Meiste hat mit der ungeheuren Verantwortung zu tun, die uns von den Perlen-Erbauern auferlegt wurde. Schließlich sind wir es, die für ihren Erhalt und reibungslosen Betrieb zu sorgen haben. Dass sie permanent existieren, heißt ja nicht, dass sie immun gegen jedwede Störung sind …«
Ovayrans Vergangenheit Die Perle Chardhin, in der Zeit vor dem Exodus der Gloriden … Ein hundert Kilometer durchmessender Körper, golden schimmernd und einer Perle gleichend, die jemand auf geheimnisvolle Weise hinter dem Ereignishorizont jenes gigantischen Schwarzen Loches stabilisiert hatte, das sich im Zentrum der Milchstraße befindet. Wie eine Perle, so hätte sie auf einen hypothetischen Betrachter gewirkt. Aber normalerweise war es für kein Lebewesen möglich, den Ereignishorizont zu überschreiten. Die unglaubliche, für niemanden wirklich vorstellbaren Gravitationskräfte jenes Monstrums, das einer Sonne gleich im Zentrum der Galaxis lauerte und sich nach und nach von ihr zuströmender Materie ernährte, ließen für gewöhnlich nichts wieder entrinnen, was diese Grenze überschritten hatte. Die Grenze, nach der jede Rückkehr ausgeschlossen war. Die Perle im Zentrum der Milchstrasse war nur ein winziges Teil eines Netzwerk von schier unvorstellbarer Ausdehnung. An Bord der Chardhin-Basen gab es Einrichtungen, die es ermöglichten, ohne messbaren Zeitverlust von einer Galaxis zur anderen zu wechseln, von Station zu Station. Und dieses Netzwerk erstreckte sich nicht nur in die Unendlichkeit des Raumes, sondern auch in die Zeit. In Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Jede Chardhin-Perle, die in den Galaxienzentren installiert war, zeichnete sich durch diese Allgegenwart aus. Sie existierte permanent vom Anbeginn der Zeit an bis zum Ende des Universums. Eine Kontinuität, die aller Wahrscheinlichkeit nach aber wohl nur für die Perle selbst und nicht für ihre Bewohner, die Gloriden, galt, die das Wartungspersonal dieser unvorstellbar weit entwickelten Technologie stellten. Die Gloriden waren nicht die Erbauer, aber sie hatten viel Zeit damit verbracht, nach diesen geheimnisvollen Wesen zu suchen. Bislang jedoch vergeblich. Die Schöpfer der Chardhin-Perlen blieben unauffindbar.
Ovayran hatte ein Zeitquantum mit der Reinigung seiner Gedanken und Übungen zur seelischen Stabilisierung verbracht. Übungen, die für jeden Pflicht waren, dem ein Dienstzeitquantum in einer Chardhin-Perle bevorstand, denn diese Arbeit erforderte ein Höchstmaß an geistiger Konzentration. Ovayran befand sich in der Mitte eines Raumes, dessen Inneres golden-metallisch schimmerte, aber über so gut wie keine Einrichtungsgegenstände verfügte. Die Wände waren aus jener absolut glatten Legierung, deren konturlose Oberfläche prägend sowohl für das Innere als auch das Äußere der Perle war. Dieser Raum stand Ovayran für seine ganz persönlichen Bedürfnisse zur Verfügung. Bei einem Wesen, das seine Körpermaterie jederzeit in pure Energie umzuwandeln vermochte, waren dies naturgemäß in erster Linie geistige Bedürfnisse. Die Schlichtheit der Inneneinrichtung dieses Raums war ein Spiegelbild. Je schlichter das Äußere, umso mehr Raum bietet sich dem Geist, so lautete ein Axiom der uralten Überlieferung der Gloriden. Einer Überlieferung, von der manche sagten, dass Teile davon älter waren als das Volk der Gloriden selbst und vielleicht sogar noch aus jener Zeit stammten, als die Schöpfer der Perlen ihre Ewige Kette selbst instand gehalten und verwaltet hatten. Ovayran wusste, dass Zeit etwas Relatives war und dass sein Zeitbegriff erheblich von dem der meisten anderen Intelligenzen abwich, auf die er in jenen ungezählten Galaxien, die er bereits besucht hatte, getroffen war. Wie hätte es auch anders sein können. Jenseits des Ereignishorizontes eines Schwarzen Lochs war nichts so wie in dem Raum, der diesen umgab. Auch nicht die Zeit. Es wäre verwunderlich gewesen, wenn das Zeitempfinden der Gloriden von dieser Tatsache völlig abgekoppelt gewesen wäre. Ovayran schwebte als Lichtball exakt in der geometrischen Mitte des Raums. Mit Hilfe seiner Geisteskraft dehnte er diesen Lichtballon abwechselnd aus und ließ ihn auf Punktgröße schrumpfen. Eine jener Übungen, durch die ein Gloride geistige Disziplin er-
langte. Die Voraussetzung dafür, jene Kraft aufbringen zu können, die nötig war, um mitzuhelfen, die Ewige Kette aufrechtzuerhalten. Die Zeit ist veränderlich – trotz ihrer permanenten Existenz, lautete ein Lehrsatz der Gloriden. Und Zeit spielte eine gewichtige – wenn nicht die gewichtigste – Rolle, was die Chardhin-Perlen und das Universum als solches anging. Ovayran spürte die Anwesenheit eines anderen Individuums, das mit ihm Kontakt aufzunehmen wünschte. Es war der Ruf Mantayans, der ihn erreichte. Diesen Gloride hatte er vor mehreren Zeitquanten zum letzten Mal gesehen und sich mit ihm ausgetauscht. Möglicherweise hätten Angehörige anderer Spezies den Begriff Zuneigung für das benutzt, was Ovayran ihm entgegenbrachte. Ovayran hatte Ähnliches vor allem bei Geschöpfen kennen gelernt, die in verschiedene Geschlechter gespalten waren und von daher viel mehr aufeinander angewiesen waren, als dies bei Gloriden der Fall war. Ovayran selbst bevorzugte den Begriff Wertschätzung. Er bewunderte an Mantayan die Gedankenschärfe, die diesen Gloriden auszeichnete und die bewirkte, dass der geistige Austausch zwischen ihnen stets fruchtbar war. Ihm verdankte Ovayran viele Bereicherungen seiner eigenen Gedankenwelt, und daher sah er einem Wiedersehen mit Freude entgegen. »Du bist willkommen«, signalisierte Ovayran. Daraufhin schmolz sein derzeit im energetischen Stadium befindlicher Körper zunächst zu einem winzigen, dafür aber ausgesprochen intensiv leuchtenden Punkt zusammen, bevor eine stofflich fassbare androgyne Gestalt geformt wurde. Im nächsten Moment drang ein Licht durch die Wand. Ovayrans Privatraum verfügte über keinerlei Türen. Für Wesen, die sich in Energie zu verwandeln vermochten, war das auch nicht nötig. Das aus der Wand hervorbrechende Licht formte sich zu einem zweiten Glorienkörper, der Ovayran fast völlig glich. Die äußeren Unterschiede zwischen Gloriden waren verschwindend gering. Die
Gestalt ist nichts, die Substanz alles, lautete ein weiterer Lehrsatz. Die äußere Erscheinung war instabil, ihre Wahrnehmung leicht manipulierbar. Es blieb nur das Bewusstsein. Die Struktur der Persönlichkeit. Das, was das Individuum unterschied. Alles andere war nur vordergründiger Schein, dem man nicht trauen durfte. »Sei gegrüßt, Mantayan«, wandte sich Ovayran an seinen Gast. »Sei ebenfalls gegrüßt, Ovayran.« »Ich habe im zentralen Datenspeicher der Chardhin-Perle gesehen, dass dein Dienstzeitquantum unmittelbar bevorsteht …« »Das ist richtig.« »So werden wir uns nicht lange dem Austausch von Gedanken und Erlebnissen hingeben können.« »Bedauerlicherweise, aber uns beiden dürfte klar sein, wie wichtig das Wirken in der Perle ist …« »Natürlich. Wie auch immer, ich brauche sehr dringend die Möglichkeit, mich mitzuteilen und eine zweite Beurteilung einzuholen.« »Du weißt, dass ich dir immer zur Verfügung stehe!« »So werde ich mich kurz fassen«, sagte Mantayan. »Ich kehre gerade aus einer Galaxie zurück, die in unseren Sternkarten unter der Bezeichnung 33.456.667 zu finden ist. Es ist ein sehr exotisches Gebilde. Eine gigantische Materieansammlung, die aus der Kollision mehrerer kleinerer Galaxien entstand und nun eine vollkommen bizarre und irreguläre Form bildet … aber davon werde ich dir ein anderes Mal berichten.« »Was liegt dir sonst am Lichtquant?« »Die Umstände meiner Rückkehr. Es gibt in 33.456.667 nicht nur ein zentrales Schwarzes Loch, sondern mehrere, von denen jedes vor Äonen das Zentrum einer eigenen Galaxis bildete. Dementsprechend existieren hinter dem Ereignishorizont eines jeden dieser Schwarzen Löcher auch Chardhin-Perlen. Ich gab meine Zieldaten wie immer ein, ich hatte es mit einer gut geführten Perlenmannschaft zu tun, die ihre Station in hervorragendem Zustand hielt … aber woran auch immer es gelegen haben mag, meine Heimkehr war zunächst nicht durchführbar. Zuerst glaubte ich, dass die Ursache in 33.456.667 zu finden sei, und so reiste ich dort von einer Perle
zur anderen. Aber es gelang mir auch von ihnen aus nicht, in die Heimat zurückzukehren. Ich dachte schon, dass es mit den besonderen astronomischen Verhältnissen in 33.456.667 zu tun hätte, schließlich handelt es sich um ein wahrhaft außergewöhnliches Objekt.« »Ein …« Ovayron wagte den Gedanken kaum auszusprechen; er kam ihm wie Blasphemie vor. Aber dann formulierte er ihn doch. »… wartungstechnisches Problem?« Mantayan zögerte. »Ich habe noch von keinem Fall gehört, dass die Kette unterbrochen war.« »Niemand hat das. Ich entschuldige mich für –« »Aber genau das schien hier der Fall zu sein!« Mantayan wirkte mit einem Mal wie aufgelöst. Ovayran erwartete fast, dass sein Besucher sich wieder in seine energetische Gestalt auflösen würde. Er sandte einen Impuls an das Steuersystem des Raumes. Aus dem Boden wuchs ein Kontursitz, der sich dem stofflichen Körper des Gloriden perfekt anpasste, als er sich hineinsinken ließ. Ein weiterer, eher beiläufiger Impuls signalisierte Mantayan, dass ihm dasselbe gestattet wäre und er Zugang zum System dieses Privatraums habe. Nachdem auch Mantayan sich auf einen aus dem Boden emporwachsenden Möbelstück, das einer Couch ähnelte, niedergelassen hatte, fuhr er etwas ruhiger fort: »Wie du siehst, gelang es mir schließlich doch noch, hierher zurückzukehren. Das war nur mit ein paar Tricks und der Hilfe einiger Freunde auf den ChardhinPerlen von 33.456.667 möglich. Wir benutzten einen anderen Transportkanal. Der Hauptkanal, der 33.456.667 mit meiner Heimatperle verband, war jedoch blockiert! Und zwar eindeutig von dieser Seite aus.« »Ein Transportkanal blockiert? Wie sollte das möglich sein?« Ovayran hatte noch nie gehört, dass so etwas geschehen war. »Es gibt wirklich keinen Zweifel?« »Nein.« »Bist du beim Perlenweisesten vorstellig geworden?« »Ja. Es wird an der Behebung des Schadens gearbeitet. Ich frage nun dich, ob du nicht irgendetwas darüber gehört hast!«
Ovayran sandte einen deutlichen, fast vehement zu nennenden Impuls der Verneinung. »Natürlich nicht! Glaubst du, ich hätte soeben dir gegenüber den Ahnungslosen gespielt?« »Möglicherweise will der Perlenweiseste zunächst nichts von diesem Geschehen verbreiten, um keine Panik ausbrechen zu lassen.« »Jedenfalls kannst du davon ausgehen, dass ich mit dem Perlenweisesten reden werde«, versprach Ovayran. Wenn Mantayans Darstellung den Tatsachen entsprach, war das der größte Störfall im Betrieb des universalen Netzes, von dem Ovayran in all den Äonen gehört hatte. »Ich will dich jetzt nicht länger aufhalten«, sagte Mantayan. »Dein Dienstzeitquantum ist nah …« »Ja, das ist wahr. Aber wie heißt es so schön? Nicht allein für dich selbst und den Frieden deiner Seele lebst du, sondern um das Band zu halten, das Netz zu knüpfen und die Tore offen zu halten …« »Ja, ich kenne all diese … Sprüche«, entgegnete Mantayan. Diese Äußerung war mit Impulsen so eindeutiger Gleichgültigkeit oder gar Geringschätzung vermischt, dass Ovayran unwillkürlich zurückschrak. Fast schien es, als gehörte Mantayan zu jenen, die der Bedeutung der Ewigen Kette unverblümt kritisch gegenüberstanden. Gloriden, die nicht mehr davon ausgingen, dass ihr Volk eine wichtige, ja, einzigartige Mission im Kosmos zu erfüllen hatte, sondern die Arbeit in den Chardhin-Perlen als Sackgasse für ihre Spezies ansahen. Ovayran hatte diese Geisteshaltung immer verachtet. Aber es war ihm nicht verborgen geblieben, dass sie sich mehr und mehr ausbreitete. Mantayan schien die Gedanken seines Gegenübers zu erraten. »Du weißt, dass ich nie zu jenen gehörte, die im Hinblick auf die Erfüllung unserer Aufgabe den dafür notwenigen Optimismus verloren haben – doch mittlerweile frage ich mich, ob die Skeptiker nicht Recht haben. Ich jedenfalls bin nicht bereit, meine Sinne vor der Realität zu verschließen, nur um nicht in Widerspruch mit der allgemeinen Doktrin zu geraten, die uns überliefert wird.« »Das ist Doktrinabweichung«, stellte Ovayran fest.
»Das mag sein. Aber ist dir wirklich nie in den Sinn gekommen, dass die Fraktion der Skeptiker vielleicht Recht haben könnte und die Ewige Kette verhindert, dass sich unser Volk … selbst verwirklicht?« »So habe ich es nie betrachtet«, widersprach Ovayran. Er hat Recht, meldete sich gleichzeitig eine unüberhörbare Stimme in seinem Bewusstsein. Du hast es bisher nur nicht wahrhaben wollen, aber auch du hast die Zeichen doch bemerkt, wenn du in dich gehst und deine Beobachtungen ehrlich befragst. Die Worte Mantayans drangen nun wie aus weiter Ferne in Ovayrans Gedanken. »Ich werde nicht mehr lange abwarten. Und wenn sich meine Befürchtung bestätigt, dass sich meine Heimatperle vom Rest der Ewigen Kette isoliert, wird das Konsequenzen von unabsehbarer Tragweite haben.« »Was wäre für dich persönlich die Konsequenz einer solchen … Katastrophe?« Ovayran erkannte erst jetzt, wie tief Mantayan die Erlebnisse im Zuge der Rückkehr zu seiner Heimatperle beeindruckt hatten. »Ich würde fortgehen. Ich möchte nicht eines Tages aus meiner energetischen Traummeditation erwachen und vollkommen isoliert von den Orten und Wundern sein, für die wir heute nur einen Schritt brauchen, um sie zu erreichen. Meine vorherigen Worte waren auch keine Kritik an den Perlen schlechthin. Sie zu nutzen betrachte ich als durchaus legitim, zumal wir es uns über unfassbare lange Zeiten verdient haben. Aber ich sähe es lieber, wenn wir Gloriden uns neu positionieren und eine eigene Vision verfolgen würden. Aber … lassen wir das. Es führt hier und heute zu weit.« Ovyaron schwieg betroffen. Die Verbundenheit zur jeweiligen Chardhin-Heimat war jedem Gloriden eigen. Nichtsdestotrotz nutzten sie die fantastischen Reisemöglichkeiten, die ihnen das kosmische Transportnetz bot, ausgiebig. Aber sie blieben ihrer Heimatperle stets treu und kehrten immer wieder dorthin zurück. Selbst dann, wenn die Erfüllung wichtiger Aufgaben es notwendig machte, dass man große Teile seines persönlichen Existenzzeitquantums an einem
unvorstellbar weit entfernten Ort verbrachte. Trotz all seiner Reisen, die Ovayran daher bis dahin hinter sich gebracht hatte, wäre es für ihn, wie für die meisten anderen Gloridcn unvorstellbar gewesen, seiner Heimat für immer den Rücken zu kehren. Die Vorstellung, vom Rest des kosmischen Transport- und Kommunikationsnetzes abgeschnitten zu sein, ängstigte allerdings auch ihn. »Es wird schon nicht so schlimm kommen, wie du befürchtest«, sagte er.
Nachdem Mantayan sich verabschiedet, seinen Körper in pure Energie verwandelt hatte und durch die golden schimmernde Außenwand entschwunden war, musste sich Ovayran zu seinem Dienstort begeben. In seinem Fall war das die Steuerzentrale der ChardhinPerle, wo er für die Stabilisierung des Energieflusses im Transportsystem verantwortlich war. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um eine Überwachungsaufgabe, die allerdings seine volle Aufmerksamkeit verlangte und daher mental sehr anstrengend war. So anstrengend, dass nicht alle Gloriden dazu in der Lage waren, ihre geistigen Kräfte ausreichend zu sammeln und die nötige Konzentration aufzubringen. Das war erst nach einem intensiven Training möglich, das nur gut dreißig Prozent der Bewerber erfolgreich abzuschließen pflegten. Die mentalen Anforderungen wurden dabei immer höher, denn die Azahl der Störungen im Energiefluss der Transportsysteme war im Verlauf des letzten Zeitgroßquantums aus unerfindlichen Gründen stark angestiegen. Zunächst hatte Ovayran geglaubt, dass es sich dabei lediglich um eine subjektive Wahrnehmung handelte, bei der es sich um erste Anzeichen einer unstabilen mentalen Verfassung handeln mochte. Ein Alarmzeichen also, das bedeuten konnte, dass er seinen Dienst auf längere Sicht nicht mehr würde ausführen können. Aber wenn dem so war, schien die schnellere mentale Erschöpfung alle Gloriden zu betreffen, die innerhalb dieser Chardhin-Perle
mit derartigen Überwachungsaufgaben betraut waren. Je länger Ovayran darüber nachdachte, desto plausibler erschienen ihm Mantayans geäußerte Vorbehalte. Gewiss, es war unter den Gloriden bislang nicht verpönt, ein Skeptiker zu sein. Aber Ovayran fühlte, dass sich dies schon sehr bald ändern konnte. War es wirklich eine reale Gefahr, die seine Chardhin-Perle bedrohte? Bei dem Gedanken, vom Rest des Netzes abgekoppelt zu werden, graute ihm ebenso wie Mantayan. Ovayran schwebte durch die Decks der gewaltigen Perle. Er strebte auf die Zentralregion zu. Dort befand sich der Kontrollraum, von dem aus sämtliche Transport- und Kommunikationsfunktionen der Chardhin-Perle ausgeführt wurden. Nur die mental stabilsten Gloriden verrichteten hier ihren Dienst. Ovayran gehörte zu ihnen. In einem Kontursitz, der sich exakt in der Mitte des Raumes befand, hatte Gantorayn Platz genommen. Seit mehreren Großzeitquanten bekleidete er die Position eines Perlenweisesten. Ein Perlenweisester zeichnete sich durch ein besonders hohes Niveau an mentaler Stabilität aus. Ihm oblag die letzte Entscheidungsbefugnis innerhalb der Chardhin-Perle. Allerdings war es Tradition unter Gloriden, dass Entscheidungen soweit das irgend möglich war, im Konsens getroffen wurden. Von seiner Entscheidungsbefugnis machte ein Perlenweisester so wenig Gebrauch wie möglich, um die mentale Stabilität des Gemeinwesens zu fördern. Die Überlieferung der Gloriden kannte eine Legende eines Perlenweisesten, der sein Amt mit den Worten niederlegte: »Ich bin in eine Lage geraten, in der ich eine Entscheidung zu treffen hatte. Mit anderen Worten: Ich habe versagt.« Der Perlenweiseste wandte sich an Ovayran. »Es gibt Schwierigkeiten«, erklärte Gantorayn. »Die energetischen Schwankungen in den Transportkanälen sind besonders hoch. Du wirst dein ganzes Können brauchen.« »Was ist die Ursache dieser Schwierigkeiten?«, bat Ovayran zu erfahren.
»Bisher unerkannt«, war die ratlose Erwiderung des Perlenweisesten. »Aber so viel: Es leisten viele Gloriden unserer geliebten Chardhin-Heimat doppelte Dienstzeitquanten, anderenfalls würden wir den Netzbetrieb kaum aufrechterhalten können.« »Ich werde tun, was ich kann.« »Davon bin ich überzeugt.«
Nach dem Ende dieses Dienstzeitquantums fühlte sich Ovayran so ausgelaugt und energiearm wie nie zuvor. Er war kaum noch in der Lage, seine körperliche Form wieder naturgetreu zu konfigurieren. Nur mit äußerster Anstrengung gelang ihm dies, nachdem er in energetischer Form einen Großteil der Perle durchdrungen hatte. Er verzichtete darauf, zunächst in sein Privatgemach zurückzukehren, sondern suchte gleich einen jener Gemeinschaftsräume auf, in denen die Energiezufuhr in ritualisierter Form durchgeführt wurde. Für Gloriden war das ein soziales Ereignis ersten Ranges. Die Energiezufuhr stellte ein Gemeinschaftserlebnis dar und wurde öffentlich zelebriert. Ovayran setzte sich in einen der Schalensessel. Darüber befanden sich trichterförmige Vorrichtungen, die der Energieübertragung dienten. Der Stoffwechsel der Gloriden brauchte nicht den Umweg über die Aufnahme und Verbrennung von Nahrungsmitteln, um versorgt zu werden. Stattdessen waren sie in der Lage, buchstäblich jegliche Form von Energie zu absorbieren und bis zu einem gewissen Grad auch zu speichern. Aus dem trichterförmigen Energiespender schoss ein breiter, blassrosa schimmernder Strahl hervor und hüllte Ovayran in ein Feld ein. Der Gloride fühlte, wie die Kraft in ihn zurückkehrte. Er lauschte den Gesprächen der anderen. Überall war von Schwierigkeiten mit dem Transport- und Kommunikationsnetz die Rede. Die Verbindung zu ganzen Galaxienhaufen riss zeitweilig ab. »Es gibt ein Gerücht, aber ich weiß nicht, ob es stimmt«, sagte jemand.
»Was für ein Gerücht?« »Angeblich steht unsere geliebte Chardhin-Heimat vor ihrem Ende.« »Aber wie verträgt sich das mit der zeitlichen Permanenz?« »Ich meinte das Ende ihrer Funktionsfähigkeit. Sie mag bis zum Ende der Zeit existieren, aber sie ist dann nicht viel mehr als ein bizarrer Materiebrocken an einem bizarren Ort …« Weitere Stimmen erhoben sich. »Aber das kann nicht sein«, widersprach jemand. »Wieso? Sehen wir nicht um uns herum, dass sich alles ändert? Dass unser gesamtes Universum dem Verfall unterworfen ist und in einen Zustand immer größerer Entropie steuert? Die thermodynamischen Gesetze sorgen für die Zunahme des Chaos, und es gibt nichts, was dagegen getan werden kann, außer den Verfall einzudämmen.« »Dagegen steht die Permanenz der Chardhin-Perlen. Im Gegensatz zu einem meiner Vorredner möchte ich nämlich bemerken, dass die Existenz einer Chardhin-Perle nur in einem funktionstüchtigen Zustand und nicht als verlassene Ruine denkbar ist.« »Wie kommst du zu dieser Annahme?« »Weil wir uns an einem Ort befinden, der für alle anderen Leben im Universum tödlich wäre. Ein Ort, der in einer Zone des Todes liegt. Alles, was sich hier befindet, unterliegt normalerweise den gigantischen Kräften des nahen Schwarzen Loches, und wenn die Perle vollkommen funktionsunfähig würde, vielleicht sogar auf einen Energiestatus von Null sänke, dann stürzte sie in die namenlose Schwärze, die sogar das Licht und die Zeit zu knechten scheint.« »Niemand weiß, was mit einer funktionsuntüchtigen ChardhinPerle geschehen würde«, wandte ein anderer Sprecher ein. »Möglicherweise gibt es sogar Notfunktionen, die sie selbst bei Abwesenheit der Besatzung an ihrer Position hielten. Bis in alle Ewigkeit.« Ovayran hatte inzwischen genug Energie in sich aufgenommen, um wieder aktiv werden zu können und sich in das Gespräch einzuschalten. »Ich habe im Verlauf dieser vielstimmigen Unterhaltung immer
wieder davon reden hören, dass die Chardhin-Perle verlassen werden könnte … Dass dies überhaupt als Möglichkeit angesehen wird, um den gegenwärtigen Schwierigkeiten zu entgehen, löst in mir großen Schrecken aus. Was sollte geschehen, wenn die Gloriden nicht nur diese Perle, sondern vielleicht Hunderte, Tausende, Millionen anderer ihre Heimat verließen? Das kann niemand wollen. Dieser Gedanke ist …« Ovayran zögerte. »Er sprengt den großen Konsens über unsere Aufgabe und unsere Bestimmung«, erklärte Ovayran dann entschieden. Einige Augenblicke lang herrschte in Ovayrans Umgebung betretenes Schweigen, während in anderen Bereichen des großen Gemeinschaftsraums die Debatten mit ungebremstem Temperament fortgesetzt wurden. »Es ist nicht verboten, Gedanken zu äußern, die dem großen Konsens widersprechen«, wandte schließlich einer der anderen Gloriden ein. »Nein«, bestätigte Ovayran. »Aber es ist eine Schande.«
Was hast du da eigentlich gesagt?, durchzuckte es Ovayran wie ein greller Blitz, nachdem er den Gemeinschaftsraum verlassen hatte. Er fühlte sich zum Bersten mit Energie geladen und obgleich seine geistigen Prozesse mit einem Höchstmaß an Brillanz und Präzision abliefen, hatte er ein Gefühl der Verwirrung. Warum hast du dich als Verteidiger des großen Konsens aufgespielt? Angst vor der Realität? Angst vor der Veränderung? Vielleicht ist all das, woran du geglaubt hast, nichts anderes ein schwacher Trost gegen die übermächtige Entropie … Ovayran hatte genügend andere Spezies kennen gelernt, um zu wissen, dass die meisten von ihnen diese Furcht vor dem Chaos und dem Tod kannten. Ihre Lebensspannen waren oft so lächerlich gering wie ihre Reisemöglichkeiten, sodass Ovayran diese Verzweiflung bei ihnen sehr gut nachvollziehen konnte. Viele suchten Trost in religiösen Vorstellungen, die weit unter dem Niveau ihrer naturwissenschaftlichen Erkenntnisfähigkeit lagen, und hielten doch daran fest. So wie du an deinem Glauben an den großen Konsens?, meldete sich
eine kritische Stimme in Ovayran, die der Gloride am liebsten zum Schweigen gebracht hätte. Unter normalen Umständen hätte Ovayran das ihm zur Verfügung stehende Zeitquantum zur Pflege sozialer Kontakte – auch hin zu anderen Galaxien – genutzt. Oder aber zur inneren Versenkung und Meditation. Aber nicht nach dem Dienstzeitquantum, das hinter ihm lag. Nicht im Anschluss an die deprimierende Lagebeurteilung durch den Perlenweisesten. Ovayran suchte sich einen Zugang zum Hauptrechner, den jeder Gloride mühelos herstellen konnte. Er wollte wissen, wie häufig energetische Schwankungen in den Transport- und Kommunikationskanälen in der Vergangenheit vorgekommen waren. Erstaunlicherweise waren sämtliche Informationen dieser Kategorie mit einem Geheimhaltungsvermerk gesichert, den Ovayran nicht zu öffnen vermochte. Er hatte keine Zugangsberechtigung. Im dazugehörigen Datenprotokoll war ersichtlich, auf wessen Anweisung und in wessen Verantwortung dies geschehen war. Es war niemand Geringeres als Gantorayn, der Perlenweiseste persönlich. Offenbar beschäftigte er sich schon länger mit sämtlichen Bedrohungen, die einer Chardhin-Perle zum Verhängnis werden konnten …
Mantayan suchte Ovayran während dessen Regenerationszeitquantum auf. »Ich bin entschlossen zu gehen«, verkündete Mantayan. Für Ovayran war dies nach dem letzten Gespräch, das er mit Mantayan geführt hatte, keine Überraschung mehr. »Wohin wirst du dich wenden?« »Es gibt so viele Galaxien …« »Du hast dich noch nicht entschieden?« »Galaxis 33.456.667 wäre die erste Wahl – aber mittlerweile würde ich jede andere funktionierende Fernverbindung nehmen.« »Deine Schwarzseherei werde ich wohl nie teilen können.«
»Das brauchst du auch nicht.« Die Verabschiedung war kurz. Sowohl Ovayran als auch Mantayan gingen davon aus, dass es das letzte Mal war, dass sie sich begegneten. Sie irrten.
Ein Klangteppich aus sehr tiefen Tönen erfüllte den Raum. Mantayan hatte immer wieder Zeitquanten dafür geopfert, Musik zu komponieren – eine Kunstform, die sich auf vielen Welten unabhängig voneinander entwickelt hatte. Die meisten anderen Gloriden verachteten diese Aktivität jedoch und hielten sie für die Aneignung einer primitiven Sitte. Mantayan hingegen hatte festgestellt, dass ihm das Komponieren von komplexen Klangbildern ein höheres Maß an mentaler Stabilität gab. Allerdings musste er aufpassen, dass davon nicht zu sehr Notiz genommen wurde. Andernfalls kam es vielleicht zu einem Konsens darüber, dass Mantayan seine Fähigkeiten der Gemeinschaft der Chardhin-Perle nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung stellte. Schließlich liebte er es, in die Weiten des Alls zu reisen, anstatt seinen Dienst gewissenhaft zu verrichten. Möglicherweise führte das dann dazu, dass seine Stabilitätstests wiederholt werden mussten und er dazu angehalten wurde, mehr Dienstzeitquanten abzuleisten. Diese Aussicht schreckte ihn. Den Auftrag der Erbauer zu erfüllen, darin sahen die meisten seiner Artgenossen nicht nur den Existenzsinn der gloridischen Spezies, sondern auch ihren ganz persönlichen Lebensinhalt. Für Gloriden wie dem Perlenweisesten Gantorayn gab es da nicht die geringste Differenz. Aber Mantayan sah das in Bezug auf seine eigene Person anders. Auf seinen Reisen hatte er viele Kulturen kennen gelernt. Solche, die der Individualität des Einzelnen nicht den geringsten Stellenwert beimaßen, und andere, die genau darin den entscheidenden Faktor sahen, der ein intelligenten Geschöpf von einem Tier abhob. Inzwischen war Mantayan zu der Erkenntnis gelangt, dass er ein
Recht darauf hatte, sein Leben so zu führen, wie es seinen persönlichen Bedürfnissen entsprach. Der Kampf der Gloriden um die Stabilität der Seele und des kosmischen Netzes war auf lange Sicht der falsche Weg für seine Mitgloriden. Davon war Mantayan zumindest überzeugt. Es war ein psychologisches Problem, aber auch andere Gründe sprachen gegen die gigantische Aufgabe der Perlenpfleger. Und über allem schwebte die Frage: Was war aus den Erbauern geworden? Wohin hatten sie sich zurückgezogen – und warum? Was niemand auszusprechen gewagt hätte, beschäftigte Mantayan seit langem: Was, wenn die Erbauer nicht einfach nur verschwunden waren, sondern … ausgerottet worden waren? Wenn die Perlen nichts anderes als Gebilde waren, die ihren Sinn und Zweck in dem Augenblick verloren hatten, als ihre Schöpfer verschwanden? Welcher Sinn und Zweck?, raunte es spöttisch in Mantayan. Bis heute wissen wir fast nichts über das, was die Perlen tun. Niemand bei Verstand kann annehmen, dass sie ausschließlich das Reisen durch Zeit und Raum ermöglichen. Es muss eine andere Aufgabe geben. Nur haben wir sie niemals erkannt. Es ist jämmerlich. Ich wünschte, ich hätte die Legitimation, nicht nur von Galaxie zu Galaxie zu springen, sondern auch in die Vergangenheit. Was würde ich darum geben, den Meinen zu begegnen, wie sie einst waren, als die Dekadenz sie noch nicht satt und zufrieden machte und ihrer Neugier, dem höchsten Gut eines Wesens, beraubte? Er speicherte die Daten seiner Komposition in seinem Gedächtnis ab, sodass er jederzeit in der Lage sein würde, sie exakt zu reproduzieren. Der Klangteppich verstummte daraufhin. Gibt es sonst noch etwas, was dir hier etwas bedeutet?, fragte er sich. Die Antwort war eindeutig. Nein. Mantayan verwandelte sich in Energie und begab sich zum Transportkanal. Das Überwachungssystem stellte seine Identität fest. Eine Reise über ein paar Milliarden Lichtjahre war wirklich keine große Sache. Die Aufgabe der eigenen Chardhin-Heimat mit dem Vorsatz, nicht zurückzukehren, hingegen schon. Es muss wohl sein, dachte Mantayan. Hier sieche ich nur dahin. Aber ich will leben!
Im nächsten Moment erschien eine Folge von Symbolen auf einem Projektionsfeld, die nichts anderes bedeutete, als dass der Transportkanal nach Galaxis 33.456.667 derzeit blockiert war. Unbehagen stieg in Mantayan auf. Das war es, was er befürchtet hatte. Mantayan versuchte, ein anderes Ziel anzuvisieren. Auch das erwies sich als unmöglich. Das darf nicht wahr sein!, durchzuckte es ihn. Das intergalaktische Transportsystem war völlig blockiert. Von dieser Chardhin-Perle aus gab es keinen Zugang mehr zu anderen Elementen der Ewigen Kette! Abgeschnitten vom Universum war er nun. Das, was er am meisten gefürchtet hatte, war eingetreten. Verzweiflung erfüllte ihn. Das darf einfach nicht wahr sein! Ich hätte nicht hierher zurückkehren dürfen! Es war ein verfluchter Fehler … Aber all diese Gedanken führten zu nichts. Dasselbe galt für den Zorn und die Wut, die in ihm aufkeimten und für die es keinen wirklich gerechtfertigten Adressaten gab. Welchen Sinn hatte es, auf ein blindes Schicksal und ein kalt funktionierendes Universum zornig zu sein? Was brachte es ein, die eigenen Fehlentscheidungen zu verfluchen? Du wirst dich mit der neuen Lage abfinden müssen … Mantayan wusste nicht, was die Ursache der Störung des intergalaktischen Transportsystems war … so wenig wie alle anderen Gloriden in der Perle, die ihre Welt, ihre Heimat war. In der Zentrale der Chardhin-Perle wurde der Totalausfall der Transportkanäle gemeldet. Die diensthabenden Gloriden glaubten erst, ihren Sinnen nicht trauen zu können. Natürlich hatte es in den letzten Lang- und Mittelzeitquanten immer wieder einmal Probleme mit einzelnen Verbindungen gegeben. Aber dass eine Perle komplett vom Rest des Universums abgeschnitten wurde, weil ihre sämtlichen Transportkanäle auf einmal ausfielen – dafür gab es keinen vergleichbaren Fall, der in den umfangreichen Datenbänken verzeichnet gewesen wäre. »Wir müssen sofort den Perlenweisesten und seinen Stellvertreter verständigen!«, verlangte der Diensthabende mit der höchsten
Rangstufe. »Sie nehmen beide gegenwärtig ihr Regenerationszeitquantum«, erwiderte einer der anderen anwesenden Gloriden. »Dann werden sie ihre Regeneration wohl unterbrechen müssen«, lautete die barsche Antwort. Den wenigsten Gloriden in der Zentrale war in diesem Augenblick klar, dass die schwerste Krise begonnen hatte, in der sich die Chardhin-Perle und ihre Besatzung jemals befunden hatten.
5. Kapitel – Ovayrans Vergangenheit Ein schwachenergetischer Alarmimpuls riss Ovayran aus seiner Meditation, in der er vergeblich versucht hatte, seine seelische Stabilität wiederherzustellen. Ovayran war sofort wieder im Hier und Jetzt. Seine Gedanken konzentrierten sich auf die Frage, was wohl die Ursache des Alarms sein mochte. Über einen Kommunikationskanal setzte sich im nächsten Augenblick der Perlenweiseste mit ihm in Verbindung. »Ich spreche zu allen, die über die Stabilitätsstufe verfügen, die sie zum Dienst auf Kontrollbrücken befähigt. Bitte dringend an den Dienstorten einfinden. Ein zusätzliches, unbegrenztes Dienstzeitquantum wird angeordnet.« Ovayran stutzte. Der Perlenweiseste traf nicht nur eine Entscheidung. Er ordnete an und machte dabei nicht einmal den Versuch, einen Konsens mit den Betroffenen herzustellen. Das war ungewöhnlich und konnte nur als Zeichen dafür gewertet werden, dass tatsächlich etwas völlig Unvorhergesehenes geschehen war. Etwas noch nie da Gewesenes. Eine Gefahr von unvorstellbaren Dimensionen … Ovayrans Gedanken rasten nur so. Er ermahnte sich selbst zur Ruhe und Gelassenheit. Zeige deine Stabilität, die dich zum Dienst in der Zentrale befähigt, versuchte er sich selbst zu befehlen. Gleichzeitig aber nagten die Fragen in ihm. Hatte der Augenblick der großen Veränderung begonnen? Alles in Ovayran sträubte sich gegen den Gedanken, Mantayans Skepsis Recht geben zu müssen. Aber nun schien tatsächlich all das einzutreten, wovor er gewarnt hatte. Das einzig Positive an dieser Situation war, dass Ovayran keine weitere Zeit mehr blieb, länger darüber nachzudenken. Sein Frie-
denszeitquantum war beendet, er stand jetzt wieder im Dienst seiner Chardhin-Heimat. »Ein kleines Rädchen in einer großen Maschine«, so war ihm ein Sprichwort noch in Erinnerung, das ihm auf einer Welt in einer unvorstellbar weit entfernten Galaxis ein Insektoide zugeraunt hatte, dessen Volk gerade erst die Dampfmaschine erfunden hatte. Daran musste Ovayran jetzt denken. Wie könnte man dieses Sprichwort auf gloridische Verhältnisse ummünzen?, dachte er, während er bereits seine körperliche Form als androgyner Humanoide aufgelöst und als Lichtpunkt durch die golden schimmernde, kuppelartige Decke seines Privatraums gedrungen war. Innerhalb von Augenblicken passierte er die zahllosen Decks, die seinen in der Peripherie der Chardhin-Perle gelegenen Privatraum von der Zentrale trennten. »Alle auf ihre Posten! Höchste Alarmstufe!«, meldete ein Impulsgeber. Diese energetischen Impulse nahm Ovayran direkt auf und vermochte sie innerhalb eines Sekundenbruchteils zu verstehen. Das war nur einer der zahlreichen Kommunikationskanäle, über die ein Gloride verfügte, der in seinem Aktionskörper den Vertretern von Völkern ähnelte, die ihm oft blind und taub erschienen. Eine weitere Impulsfolge setzte ihn innerhalb weniger Augenblicke darüber in Kenntnis, was den Alarm ausgelöst hatte. Ein unbekanntes Objekt kam auf die Chardhin-Perle zu! Wie betäubt näherte sich Ovayran seiner Konsole. Das, was ihm soeben gemeldet worden war, musste von ihm erst einmal verarbeitet werden. »Wie kann das sein?«, fragte Ovayran, nachdem er seinen Platz erreicht und seine Konsole aktiviert hatte. Aber niemand achtete auf ihn. Keiner der Gloriden, die gegenwärtig Dienst in der Zentrale ihrer Chardhin-Heimat taten, hätte dafür im Übrigen auch nur den Ansatz einer Erklärung gefunden. Was da im Begriff stand zu geschehen, sprengte jedes Denk-Tabu. Jeden Konsens, dachte Ovayran und fügte in Gedanken noch bitter hinzu: Das große Nichts für den großen Konsens! Unter dem großen Nichts verstand die Philosophie der Gloriden
die Zeit vor dem Urknall – wobei der Begriff Zeit in diesem Zusammenhang wohl nur hilfsweise verwendet werden durfte. Ein mit Fehlern behaftetes Bild, um sich etwas vorzustellen, das jegliche Vorstellung, jegliches Denken im Grunde sprengte. Gloriden griffen zu dieser Redewendung, wenn sie jemandem die Nicht-Existenz wünschten – nur dass Ovayran sich gehütet hätte, sie auf etwas so Erhabenes wie den großen Konsens anzuwenden. »Das Objekt drosselt seine Geschwindigkeit«, meldete einer der diensthabenden Gloriden. »Dennoch wird es in nur vier Kurzzeitquanten auf die Außenhülle unserer Chardhin-Perle auftreffen.« In einer großen holographischen Projektion, die in der Mitte der Zentrale, direkt über dem Kopf des Perlenweisesten schwebte, wurde die Position dieses rätselhaften Ankömmlings durch eine schematische Darstellung veranschaulicht. Jeder der anwesenden Gloriden konnte, sofern er dies wollte, die Projektion direkt in seinen vorderen Hirnlappen transferieren lassen, wo sie ihm ständig vor Augen war. »Warum wird das Objekt nicht von unseren optischen Sensoren erfasst?«, fragte Gantorayn, der Perlenweiseste mit einem für ihn ungewöhnlichen Mangel an Geduld. Die Lage musste tatsächlich sehr ernst sein, wenn selbst seine seelische Stabilität bereits so offensichtlich erschüttert war. »Eine optische Ortung ist unmöglich«, erklärte der für die Funktionsfähigkeit der Ortungssysteme verantwortliche Gloride. »Erklärung!«, verlangte der Perlenweiseste. »Bislang negativ«, gab der Gloride zurück. »Weder das Rechnersystem noch irgendeiner der im Ortungsnetzwerk an Bord der Perle tätigen Diensthabenden vermag sich die Tatsache zu erklären, dass dieses Objekt optisch unsichtbar ist, während wir seine Energiesignatur deutlich anmessen können.« »Was werden wir jetzt tun?«, fragte Ovayran in die entstehende Stille hinein, während sämtliche in der Zentrale befindlichen Gloriden wie gebannt auf das sich nähernde Objekt blickten, von dem sie – entweder auf der großen Holokugel oder auf der Hirnlappenprojektion – nichts weiter als einen Positionsmarker zu Gesicht beka-
men, obwohl unter normalen Umständen eine optische Erkennung längst hätte möglich sein müssen. Ovayrans Frage stand im Raum. Er hatte damit ausgesprochen, was jetzt wohl den meisten Gloriden in der Zentrale durch den Sinn ging. Aber es schien keine Antwort zu geben. Selbst der Perlenweiseste zeigte nichts als Ratlosigkeit. Ovayran bemerkte, dass Gantorayn nicht einmal seine Gesichtszüge mehr unter Kontrolle hatte. Normalerweise waren die Gesichtszüge der androgyn erscheinenden Gloriden eher gleichförmig und wiesen im Übrigen auch kaum individuelle Unterschiede auf – was es Angehörigen anderer Völker manchmal schwer machte, sie zu unterscheiden. Im Allgemeinen verzichteten Gloriden fast völlig darauf, ihre Emotionen über den Gebrauch der Gesichtsmuskulatur mitzuteilen, da dies als ein Merkmal barbarischer Völker galt. Nur wenn die emotionale Betroffenheit sehr hoch war, konnte man dies unter Umständen einem Gloriden ansehen. Ovayran beobachtete die Positionsveränderung des Objekts. Es schien zu treiben. Die gemessenen Werte bestätigten dies. Die Antriebssysteme, über die es zweifellos verfügte, wie das anfängliche Bewegungsmuster verriet, waren offensichtlich abgeschaltet worden, und nun trieb es – was auch immer es sein mochte – in die Todeszone des Schwarzen Lochs hinein. Bisher hatte es als gesicherte Erkenntnis gegolten, dass niemand außer den Gloriden in der Lage war, den Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs kontrolliert zu überschreiten und eine ChardhinPerle zu erreichen. Auf Grund dessen gab es in den Perlen auch so gut wie überhaupt keine Sicherheitsvorkehrungen oder Verteidigungsanlagen. Wozu auch? Man hatte schließlich in dem Glauben gelebt, sich an einem Ort zu befinden, der für sämtliche anderen Spezies des Universums nicht nur im physikalischen Sinne eine unüberwindbare Grenze darstellte. Es war auch die Grenze ihrer Verständnisfähigkeit, die hier überschritten wurde. Gantorayn, der Perlenweiseste brachte die deprimierende Lage auf
den Punkt. »Wer immer es auch geschafft hat, den Ereignishorizont zu überschreiten, um hierher zu gelangen, er muss über eine Technologie verfügen, die der unseren oder der der Perlenschöpfer ebenbürtig ist. Sollte dieses Objekt von einer feindlichen Intelligenz ausgesandt worden sein, so haben wir keine Möglichkeit, die Perle zu schützen und unserer Aufgabe treu zu bleiben.« »Wir sollten angesichts dieser Lage sämtliche Raumschiffe aus den Hangars ausschleusen!«, verlangte einer der anwesenden Gloriden. Ovayran kannte ihn. Es handelte sich um Dambiayn, den Stellvertreter des Perlenweisesten. Die goldenen Schiffe der Gloriden verfügten über mächtige Verteidigungssysteme, aber diese waren für den Gebrauch außerhalb der dunklen Zone um das Schwarze Loch konzipiert. Die enorme Schwerkraft, die nicht einmal das Licht entweichen ließ, sorgte auch dafür, dass jegliche Form von Geschossen nicht in gewohnter Weise funktionierte. Das galt für Projektile ebenso wie für hoch konzentrierte Energiestrahlen. Letztlich landete jeder Strahlenschuss und was man sich noch an Vernichtungstechnologien ausdenken konnte, im Orkus des Schwarzen Lochs. »Dein Vorschlag läuft auf ein Verlassen der Chardhin-Perle hinaus«, stellte Gantorayn fest. »Diese Option sollten wir nicht ausschließen«, erklärte Dambiayn. In den Augen des Perlenweisesten blitzte es plötzlich sehr grell auf. Ein optisches Zeichen dafür, dass er sich in einem emotionalen Ausnahmezustand befand. Andererseits bedeutete es auch, dass er auf seine Autorität bestand und nicht gewillt war, es zu einem langen Palaver zur Erzielung eines großen Konsenses kommen zu lassen. Dem Perlenweisesten stand dieses Recht zu. Das diente insbesondere dazu, in Zeiten unmittelbarer Gefahr die Handlungsfähigkeit der Perlenbesatzung aufrechtzuerhalten und nicht mit langwierigen Debatten zu lähmen, die ansonsten unweigerlich stattgefunden hätten. »Noch wissen wir nur eines über dieses Objekt«, stellte Gantorayn
fest. »Es ist nicht natürlichen Ursprungs. Kein Materiebrocken oder Ähnliches also, der hinter den Ereignishorizont gezogen wurde und auf bisher unerklärliche Weise der Zerstörung durch das Schwarze Loch entging. Nein, es ist ein künstlicher Körper. Alle Ortungsdaten und insbesondere die angemessenen Energiesignaturen legen das nahe. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind Intelligenzen an Bord dieses Objekts, sodass man es als Raumschiff betrachten könnte. Aber das wissen wir nicht sicher, genauso wenig wie wir wissen, ob das Objekt vielleicht selbst intelligent ist.« »Immerhin scheint hier ein zielgerichtetes Handeln vorzuliegen«, stellte Ovayran fest. »Nicht einmal das ist zu diesem Zeitpunkt tatsächlich bewiesen«, widersprach ihm unerwartet der Perlenweiseste Gantorayn. »Geschweige denn, dass wir eine Aussage darüber treffen könnten, ob das Objekt mit friedlicher oder feindlicher Absicht zu uns gesandt wurde.« »Es spricht nicht gerade für eine friedliche Absicht, sich im Schutz einer Tarnung an seinen Zielort heranzuschleichen«, stellte sein Stellvertreter Dambiayn fest. »Meiner Ansicht nach deuten alle Anzeichen auf einen Angriff hin. Es wäre zu überlegen, ob wir nicht wenigstens einen Warnruf in das kosmische Netz einspeisen. Denn eines steht fest: Sollte sich die Angriffshypothese bewahrheiten, könnte aus unserem lokalen Problem sehr schnell eine Krise werden, die andere Teile der Ewigen Kette in Mitleidenschaft zieht. Vielleicht wäre sogar das gesamte kosmische Netz betroffen …« »Alles nur haltlose Hypothesen«, tadelte Gantorayn. »Wir werden abwarten, was geschieht. Und in den bis zum Kontakt verbleibenden Kurzzeitquanten sollen so viele Ressourcen wie möglich auf die Ortung des umliegenden Raumsektors verwendet werden.« Ja, pflichtete Ovayran ihm innerlich bei. Denn was, wenn dieses Objekt nichts weiter als die Vorhut einer gigantischen Armada ist? Auch das war nicht mehr auszuschließen. Denkbar auch, dass sich nur der Umstand, dass sich das Objekt hinter dem Ereignishorizont befand, negativ auf seine Tarnung auswirkte und es im normalen Raum überhaupt nicht zu erkennen gewe-
sen wäre. Ovayran stellte sich die Frage, was den Perlenweisesten Gantorayn wohl zu seinem abwartenden, gefährlich passiven Kurs bewog. Verweigerte er sich einfach der Erkenntnis des Offensichtlichen? Ovayran erinnerte sich daran, dass Mantayan ihm im Grunde genau dasselbe vorgeworfen hatte, als er sich von ihm verabschiedet und den vergeblichen Versuch gestartet hatte, die Chardhin-Perle zu verlassen. Was ist es, das uns in unserer Mehrheit so lethargisch gemacht hat?, ging es Ovayran durch den Sinn. Der Umstand, dass wir niemals selbst um unsere Bestimmung kämpfen, niemals darum ringen müssen, unserer Existenz einen Sinn zu verleihen? Vielleicht war das die Wurzel jenes Übels, von dem Ovayran durchaus zugab, dass es auch ihn selbst betraf. Nicht einmal ihre Götter hatten die Gloriden selbst erfinden müssen. Die Überlieferung berichtete davon, wie sie ihren Auftrag direkt von den Schöpfern der Chardhin-Perlen erhalten hatten. Der Auftrag, der letztlich darauf hinauslief, dass sie etwas warten und funktionsfähig halten sollten, das sie gar nicht bis ins letzte Detail verstanden. Sie konnten die Technologie der Erbauer zwar bedienen, aber es war eben nicht ihre eigene. Niemals waren sie dazu in der Lage gewesen, etwas auch nur annähernd Vergleichbares zu erschaffen wie die genialen Erbauer, von denen nicht einmal der Name überliefert war.
Mantayan hatte eine ganze Weile in seinem Privatraum zugebracht, um die innere Stabilität mit Hilfe von meditativen Übungen zurückzugewinnen. Seit seinem gescheiterten Versuch, die Chardhin-Perle zu verlassen, hatte seine Konstitution spürbar gelitten. Ich habe zu lange gezögert, ging es ihm durch den Sinn. Und dieses Zögern konnte er sich nicht verzeihen; es war genau das eingetreten, was er prophezeit hatte. Du hättest niemals in deine Chardhin-Heimat zurückkehren dürfen!,
warf er sich wieder und wieder vor. Jetzt war er ein Gefangener. Gefangen auf einer Chardhin-Perle, die offenbar ein Opfer der allmächtigen Entropie geworden war, die irgendwann dafür sorgen würde, dass die Ewige Kette riss und das kosmische Kommunikations- und Transportnetz sich schließlich auflöste. Oder was immer dahinterstecken mochte … Es bestand nur noch die Möglichkeit, mit einem Raumschiff aufzubrechen, um irgendwann nach einigen Großzeitquanten die hoffentlich funktionsfähige Chardhin-Perle einer Nachbargalaxis zu erreichen. Mantayan vertiefte sich in einige Stellen aus der gloridischen Überlieferung, um sich abzulenken und den psychischen Stabilitätsfaktor zu erhöhen. Auf ewig seien die schwarzen Augen der Sterneninseln in der Kette verbunden, sodass der Weg des Reisenden leicht wie ein Windhauch sei … Jetzt erschienen ihm diese Zeilen fast wie Hohn. Warum war es nie gelungen, mehr über die legendären Erbauer herauszufinden, die für die Erschaffung der Chardhin-Perlen verantwortlich waren? Und wohin waren sie verschwunden? Warum hatten sie auf Dauer offenbar kein Interesse daran gehabt, ihr kosmisches Netz selbst zu betreiben, sondern hatten dafür die Gloriden eingesetzt? War es überhaupt so gewesen? Das Problem mit den Erbauern war, dass sie – von den Perlen selbst abgesehen – nur sehr, sehr wenige Zeugnisse ihrer Existenz hinterlassen hatten. Und so gut wie nichts, wovon man auf sie als Art hätte rückschließen können. Mantayan erreichte zeitweilig einen Zustand geistiger Versenkung, der ihm die vollständige Rückgewinnung seiner inneren Stabilität erlaubte. Ein Gefühl der Gleichgültigkeit begann sich in ihm auszubreiten, und er genoss dies sogar. Welchen Sinn machte es, innerlich gegen Zustände zu rebellieren, die nicht zu ändern waren? Die Entropie nagte an allem, und es war vielleicht das Beste, dies einfach anzuerkennen. Aus Erfahrung wusste Mantayan, dass es
nicht lange dauern würde, bis sich wieder andere Gedanken in ihm regten. Nach Beendigung seiner Meditation suchte Mantayan einen der Gemeinschaftsräume auf, um sich Energie zuzuführen. Ihm fiel auf, dass verhältnismäßig wenig Gloriden anwesend waren und die Möglichkeiten einer vielfältigen Energiezufuhr in netter Gesprächsatmosphäre nutzten. Und das, obwohl jetzt gerade eigentlich ein traditionelles Hochfrequenzzeitquantum für die Energiezufuhr verstrich. »Du hast es tatsächlich nicht gehört?«, fragte ihn ein anderer Gloride erstaunt, dessen Energiespenderstrahl soeben verebbt war. Mantayan hatte ihm gegenüber sein Erstaunen über die geringe Anzahl von Energieaufnehmenden geäußert. »Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst«, erklärte Mantayan ruhig und gefasst. Der Gloride berichtete Mantayan von dem Alarm, der inzwischen stattgefunden hatte. Mantayan schwieg daraufhin. Die Tatsache, dass er nicht zu jenen gehörte, die darüber informiert worden waren, verdeutlichte nur, wie gering seine Qualitäten im Hinblick auf psychische Stabilität eingeschätzt wurden. Seine Anwesenheit war derzeit nirgendwo erforderlich. Die Tatsache, dass man ihn im Augenblick offenbar schlicht und ergreifend nicht brauchte, um dem so unvermittelt aufgetauchten Problem zu begegnen, verletzte ihn. Aber hatte er es nicht letztlich so gewollt und alles dafür getan, dass man ihn zu möglichst wenigen Dienstzeitquanten heranzog? Es schien Mantayan so, als würde es in jedem Gloriden eine Art inneren Trieb geben, der ihn dazu brachte, sich dem Dienst an der Chardhin-Heimat verpflichtet zu fühlen. Vielleicht haben es die Erbauer der Perlen sogar geschafft, dies auf irgendeine Weise in unseren genetischen Code einzuspeisen, überlegte Mantayan. Die biotechnologischen Voraussetzungen dafür hatten sie zweifellos besessen. »Das Auftauchen des fremden Objekts bedeutet zumindest eine Abwechslung«, war einer der anderen im Gemeinschaftsraum an-
wesenden Gloriden überzeugt, der bereits sein zweites Energiequantum mit großem Genuss zu sich genommen hatte. Mantayan hatte gehört, dass ein übermäßiges Zuführen von Energie zu einer gefährlichen Überladung führen konnte. Das interne Datennetz der Perle warnte davor, da es bei den betreffenden Gloriden zu irreparablen Schäden führte. Von seinen Reisen wusste Mantayan, dass die Sucht nach übermäßiger Energiezufuhr in manch anderen Perlen bereits zu einem ernst zu nehmenden Problem geworden war, da sie für den Ausfall von für den Betrieb der Station wichtigen Gloriden gesorgt hatte. Vielleicht war das eine andere Art der Flucht vor der Gleichförmigkeit als die, die Mantayan betrieb, der die entferntesten Punkte des Netzes bereist hatte, um der Lethargie zu entgehen. Andere Gloriden stimmten dem Sprecher zu und äußerten, dass sie ebenfalls im Auftauchen des unbekannten Objekts eine willkommene Abwechslung sahen. Allerdings bemängelten sie, dass es der Perlenweiseste verabsäumt habe, sie alle über einen Datenstrom ausgiebig daran teilhaben zu lassen. »Angeblich aus Ressourcenmangel!«, spöttelte ein Gloride. »Aber das kann ich mir kaum vorstellen.« »Vielleicht wird insgeheim mit einer Gefährdung der Perlen-Sicherheit gerechnet, auch wenn dies kaum jemand öffentlich auszusprechen wagt«, gab jemand anderes zu bedenken. »Schließlich ist es dem Objekt offenbar gelungen, die Grenze des Ereignishorizontes kontrolliert zu überschreiten.« »Dann wäre die goldene Außenhülle unserer Chardhin-Heimat die letzte Barriere, die wohl auch kaum zu überwinden ist!« In diesem Punkt herrschte allgemeine Einigkeit. Niemand machte sich Sorgen darüber, dass die Chardhin-Perle keinerlei Verteidigungsanlagen besaß, da sie sich in einer dermaßen lebensfeindlichen Umgebung befand, die normalerweise jegliche Bedrohung durch externe Geschehnisse ohnehin ausschloss. Und es gab noch einen Grund für die Zuversicht, die unter den Gloriden überwog. »Es gibt schließlich die zeitliche Permanenz!«, stellte einer von ih-
nen fast trotzig fest. Es klang wie ein Gebet, das den Sinn hatte, sich in kritischer Lage der Hilfe einer höheren Macht zu vergewissern. »Da die Chardhin-Perle immer existiert, vom Beginn der Zeiten an bis zum Zustand der größtmöglichen Entropie, wie er am Ende des Universums herrschen wird, so ist anzunehmen, dass dies auch für uns Gloriden gilt – denn wer sollte diese Wunder der Erbauer sonst erhalten?« »Die Frage ist einfach nur, ob erstens die Permanenz tatsächlich für jede einzelne Chardhin-Perle oder nur für die Ewige Kette als Ganzes gilt. Letzteres würde nicht zwangsläufig ausschließen, dass es zwischendurch zu Ausfällen einzelner Perlen kommen könnte!«, mischte sich Mantayan ein. Ausfällen, hatte er gesagt. Eine sehr euphemistische Beschreibung dessen, was man auch Vernichtung hätte nennen können, überlegte Mantayan, ehe er fortfuhr: »Die andere Frage, die wir stellen sollten, ist, ob die Permanenz möglicherweise für die Perlen – nicht aber für uns Gloriden gilt …«
Die Kurzzeitquanten rannen dahin. In der großen Projektion in der Zentrale war zu sehen, wie sich das Objekt immer mehr näherte. »Ortungsversuch durch die optischen Sensorsysteme scheitert auch weiterhin!«, hörte Ovayran wie aus der Ferne eine Meldung, die ihn aus seinen Gedanken herausriss. »Distanz verringert sich. Zusammentreffen steht unmittelbar bevor.« Eine andere Meldung besagte, dass immer noch sämtliche Transportkanäle zu anderen Chardhin-Perlen blockiert waren. Dasselbe galt für die Kommunikationswege in die Ewige Kette. Es war also nicht einmal möglich, die Besatzungen anderer Perlen zu warnen. Gantorayn hielt es nicht mehr im Schalensitz des Perlenweisesten. Er erhob sich und schloss die Augen. Die Hirnlappenprojektion sorgte dafür, dass er einen sehr intensiven Eindruck davon hatte, mit welcher Geschwindigkeit sich das fremde Objekt der Perle Chardhin näherte.
Sämtliche Kontaktversuche waren erfolglos geblieben. Auf welcher Frequenz und in welchem Signalcode die Besatzung der Chardhin-Perle auch gefunkt hatte – ihre Botschaften waren ungehört verklungen. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass die andere Seite diese Signale überhaupt empfangen, geschweige denn entschlüsselt hatte. Vielleicht waren sie den Fremden auch einfach nur gleichgültig. Betretenes Schweigen herrschte in der Zentrale, als das fremde Objekt gegen die Außenhülle der Perle stieß. Das Objekt hatte zuvor so stark abgebremst, dass der Aufprall beinahe einem sanften Andockmanöver glich. Die Außensensoren der Perle registrierten diese »Berührung«. Sie registrierten ebenfalls, dass Dutzende von tellerförmigen Gegenständen an der Außenhülle angebracht wurden und dabei aus dem Tarnfeld heraustraten, das das Objekt selbst jetzt noch umgab. »Es scheint sich um Module zu handeln«, stellte Ovayran nach einer rechnergestützten Kurzanalyse gegenüber dem Perlenweisesten fest. »Welchem Zweck dienen sie?«, verlangte Gantorayn zu wissen. »Negativ. Darüber liegen keine Erkenntnisse vor. Fest steht nur, dass sie über starke magnetische Haftfelder verfügen, die sie auf der Oberfläche unserer Chardhin-Heimat fixieren.« In der großen, über den Köpfen der Gloriden schwebenden Projektion wurde die betreffende, von den optischen Außensensoren der Perle erfasste Region auf der golden schimmernden Oberfläche erfasst. Das Objekt selbst blieb erstaunlicherweise immer noch unsichtbar, aber man konnte erahnen, welche Ausmaße es hatte und wo es sich befand, denn die tellerförmigen, mit Magnethalterungen fixierten Module bildeten ein Oval. Laut den Messdaten begrenzten sie exakt die Auftrefffläche des Phantoms, dessen eigene Außenhülle sich wiederum perfekt an die Oberfläche der Perle schmiegte. Es war nicht feststellbar, woraus diese Oberfläche bestand. Die Instrumente der Gloriden zeigten lediglich an, dass dort etwas war. Eine genaue Analyse des Materials, die vielleicht Aufschlüsse über die Herkunft des Objekts hätte geben können, scheiterte auch
weiterhin. »Wir haben es mit einem Raumschiff zu tun!«, erklärte Dambiayn plötzlich in die angespannte Stille hinein. »Dann sind die Fremden jetzt im Begriff, auf ihre Weise anzudocken«, ergänzte Gantorayn. Dambiayns Ansicht unterschied sich in einem wesentlichen Detail von der des Perlenweisesten. Er sagte: »Andocken? Das könnte der erste Schritt zu einer Enterung der Perle sein!« »Oder zu einem friedliche Kontaktversuch«, widersprach Gantorayn und verlieh damit wohl seiner innersten, beinahe schon verzweifelten Hoffnung Ausdruck. Dambiayn widersprach. »Mit Verlaub, es gibt nicht viel, was wir über die Besatzung des Phantoms sagen könnten. Aber eines dürfte doch klar sein: An Kontakt sind sie nicht interessiert, Perlenweisester!« Er machte eine Pause. Alle Blicke und alle energetischen Sinne waren in diesem Minimalzeitquantum auf den Stellvertreter gerichtet, der schließlich noch hinzufügte: »Lass die Schiffe klarmachen, Perlenweisester! Schon jetzt scheint ein Teil unserer Systeme auf geheimnisvolle Weise blockiert zu sein – wahrscheinlich sogar durch die unmittelbare Einflussnahme des Phantoms. Es könnte sein, dass es bald zu einer Evakuierung zu spät ist, wenn wir zu lange zögern.« Gantorayn überlegte. Nach mehreren Minimalzeitquanten erklärte er schließlich seine Entscheidung. »Ich habe deutlich gemacht, dass ich keinen großen Konsens anstrebe, sondern auf der Vollmacht des Entscheiders bestehe«, begann er, um jeden Zweifel daran auszuräumen, dass er nicht bereit zu weiteren Diskussionen war. »Die Schiffe sollen startklar gemacht werden. Aber es werden noch keine Evakuierungsmaßnahmen eingeleitet, um gegenüber den Fremden den Eindruck zu vermeiden, wir würden uns in heller Panik davonmachen, bevor dazu überhaupt Anlass besteht.« »Es besteht kein Anlass?«, echote Dambiayn fassungslos. »Bei allem Respekt, aber das kann nicht dein Ernst sein, Perlenweisester …«
»Du sagst es!«, donnerte Gantorayn und verzog dabei seine Mundwinkel auf eine Weise, die unter Gloriden schon fast als obszön galt. »Ich bin der Perlenweiseste, ich bestehe auf meiner Entscheidungsgewalt, und es steht dir nicht zu, dies infrage zu stellen.« »Das tue ich auch nicht!« »Schweig!« Es herrschte Stille. Der Perlenweiseste wandte den Kopf und schloss die Augen. Endlich fuhr er fort. »Ich werde mich bemühen, Kontakt mit den Fremden aufzunehmen. Es ist ein letzter Versuch, aber ich bin es der Erfüllung der großen Aufgabe, die uns die Erbauer stellten, schuldig. Wir sollen die Perlen erhalten und schützen – und sie nicht bei der erstbesten Gefahr im Stich lassen. Und das zu einem Zeitpunkt, da wir noch nicht einmal mit Sicherheit sagen können, ob es sich tatsächlich um eine Gefahr handelt oder nur um etwas, das man als Kommunikationsproblem bezeichnen könnte.« Gantorayn wandte sich an seinen Stellvertreter Dambiayn. »Falls ich bei dem Versuch einer Kontaktaufnahme scheitern und möglicherweise sogar in den Zustand der Nichtexistenz übergehen sollte, so wirst du an meine Stelle treten und umgehend die Evakuierung einleiten.« Dambiayns Gesicht blieb unbewegt. »Ich akzeptiere die Entscheidung des Perlenweisesten«, erklärte er. Dass er diese rituelle Formel benutzte, machte deutlich, mit welcher Distanz er der Entscheidung Gantorayns gegenüberstand. Aber er sah andererseits auch keine Möglichkeit, diese Entscheidung anzufechten. Wir können nur hoffen, dass unser Perlenweisester sich gut überlegt hat, was er tut, ging es derweil Ovayran durch den Sinn, der die verbale Auseinandersetzung zwischen dem Perlenweisesten und dessen Stellvertreter gleichermaßen gespannt wie fassungslos verfolgt hatte – genau wie alle anderen Gloriden, die derzeit ihren Dienst in der Zentrale taten. Etwas Vergleichbares hatte es nie gegeben. Zumindest nicht innerhalb jenes Zeitintervalls, das sich in Ovayrans Erinnerung geprägt hatte. »So hört eine weitere Entscheidung«, verkündete Gantorayn.
»Vierzig Prozent der verfügbaren Energiereserven sollen auf die Außenhülle gelenkt werden, falls sich die Fremden tatsächlich als feindselig herausstellen. Ihrem angedockten Raumschiff dürfte das nicht gut bekommen …« Und der Perle vielleicht ebenso wenig!, dachte Ovayran – hütete sich aber davor, dies laut zu äußern. Die Gloriden waren zwar nicht in der Lage, die Technik der legendären Perlenschöpfer weiterzuentwickeln oder auch nur, sie vollständig zu verstehen. Aber sie wussten genug, um eine ungefähre Vorstellung davon zu haben, dass der Befehl des Perlenweisesten ein hohes Risiko barg. Wenn ein so gewaltiger Anteil der verfügbaren Energieressourcen für einen elektromagnetischen Impuls verwendet wurde, der auf die Außenhülle zu lenken war, konnte die Stabilität der gesamten Perle in Gefahr geraten. Schließlich bedurfte es stets eines hohen energetischen Aufwands, um sie – scheinbar wider alle Gesetze der Natur – an ihrem äußerst ungastlichen Standort zu fixieren. Letztlich konnte der Befehl des Perlenweisesten also auf eine Selbstvernichtung hinauslaufen, indem die Chardhin-Heimat hilflos den Kräften des zentralgalaktischen Schwarzen Lochs ausgeliefert und von ihnen unrettbar in den Orkus gerissen wurde. »Du solltest mir Glück wünschen, Dambiayn«, wandte sich Gantorayn ein letztes Mal an seinen Stellvertreter. »Das Wohlwollen der Erbauer möge mit dir sein«, erwiderte Dambiayn. In diesem Moment wurde Eindringlingsalarm ausgelöst.
Die Sensoren der Perle zeigten an, dass sich die Struktur der Außenhülle in dem von tellerförmigen Modulen eingegrenzten Gebiet auf subatomarer Ebene zu verändern begann. Anfänglich bestand die Befürchtung, dass die Fremden es darauf abgesehen hatten, die Perlenhülle zu zerstören und für ein gewaltiges Leck in der Oberfläche zu sorgen. Aber schon nach wenigen Minimalzeitquanten stellte sich heraus, dass dem nicht so war. Das Material, aus dem die Hülle be-
stand, wurde zwar verändert, aber nicht zerstört. Der Sinn der Veränderung offenbarte sich sehr bald. Sie gestattete den Fremden offenbar ein Passieren der Außenwand, ohne diese im herkömmlichen Sinn zu öffnen. Ein zylinderförmiges Objekt mit vier Laufbeinen an der Unterseite sowie vier Greifextremitäten, die aus der Oberkante herausragten und jeweils über mehrere Gelenke verfügten, erschien. Die Analysen ergaben sofort, dass es sich um eine Maschine handelte. Der Roboter bewegte sich zögernd vorwärts. Rund um den zylinderförmigen Rumpf befanden sich kleine, linsenartige Sensoren, die dem mechanischen Besucher offenbar die Orientierung ermöglichten. Gantorayn, der Perlenweiseste, löste indessen seine körperliche Form auf und durchraste die vielen Decks der Perle, um den Ort des Geschehens innerhalb von wenigen Minimalzeitquanten zu erreichen. Als Gantorayn einige Meter von dem fremden Roboter entfernt materialisierte, streckte dieser ihm seine Greifarme entgegen. Aus deren Enden fächerten sich kleine Schirme auf, aus denen blassblaue Strahlen drangen. Offenbar handelte es sich um eine Vorrichtung zur Abtastung der Umgebung. Das blaue Licht verschwand. Die Schirmchen wurden wieder eingeklappt. Der Roboter verharrte beinahe regungslos. Über eine optische Übertragung nebst direkter Kommunikationsverbindung vermochten die Diensthabenden in der Zentrale mitzuverfolgen, was sich an der Eintrittsstelle des Robotphantoms ereignete. Dann drang ein zweiter Roboter durch die Wand. Er glich dem ersten. Der einzige Unterschied bestand darin, dass er in jeder seiner vier Greifhände je einen quaderförmigen Gegenstand trug. Der Roboter lief einfach an Gantorayn vorbei, ohne den Perlenweisesten überhaupt zu beachten. Er ging den Korridor entlang. »Ich will, dass die gesamte Sektion umgehend mit einem Eindämmfeld abgesperrt wird!«, übermittelte Gantorayn an die Zentrale.
Sein Stellvertreter Dambiayn meldete sich nach ein paar Minimalzeitquanten zu Wort. »Eindämmfeld lässt sich nicht aktivieren!« »Wieso nicht?«, verlangte Gantorayn zu wissen. »Es scheint eine Systemblockade vorzuliegen – ähnlich wie bei unseren Transportkanälen in andere Galaxien …« Vielleicht hattest du Recht, und diese Maschinenwesen sind tatsächlich nichts anderes als ein mechanisches Invasionsheer!, durchzuckte es den Perlenweisesten wie ein greller Blitz. Einige Minimalzeitquanten lang wirkte er wie gelähmt. Diese Starre hatte nicht nur seinen Körper, sondern ebenso sehr sein Bewusstsein erfasst. Ihm begann zu dämmern, dass die Perlenbesatzung es mit einer überlegenen Macht zu tun hatte, die offenbar fest entschlossen war, ihre eigenen Ziele ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen. Was immer das auch für Ziele sein mochten … Weitere zylinderförmige und vielbeinige Roboter drangen durch die Wand – sie hatten unterschiedliche Größe, aber stets dieselbe Form. Auch die Anzahl von Greif- und Laufextremitäten schien genormt zu sein, während die Anzahl der optischen Sensoren am eigentlichen Zylinderrumpf durchaus variierte. Sie liefen einfach an Gantorayn vorbei. Manche von ihnen legten die quaderförmigen Gegenstände, die sie bei sich trugen, auf dem Boden ab. Nach welchem System sie dabei vorgingen, war dem Perlenweisesten nicht ersichtlich. Er bat die Zentrale um eine Analyse. Das Ergebnis war zunächst unbestimmt. Worum genau es sich bei diesen Kästen handelte, konnten die Sensoren der Perle bislang nicht herausfinden, doch es sprach eine Wahrscheinlichkeit von über achtzig Prozent dafür, dass es sich auch hier um technische Gerätschaften handelte. Über deren Zweck konnte aber nur spekuliert werden … Es ging immerhin keinerlei Radioaktivität von ihnen aus, und es gab auch sonst keine Anzeichen dafür, dass es sich vielleicht um Sprengladungen handelte. Andererseits war es auch nicht völlig auszuschließen. Immerhin war den Gloriden bislang so gut wie
nichts über die Fremden und ihre Technologie bekannt. Gantorayn versuche erneut, auf jeglichen nur denkbaren Signalfrequenzen Kontakt mit den Robotern aufzunehmen, von denen immer mehr auf geheimnisvolle Weise durch die Außenwand drangen, die Greifhände voll mit quadratischen Modulen, die anschließend fleißig verteilt wurden. Der Perlenweiseste erhielt auch diesmal keine Antwort. Aber über den Kommunikationskanal zur Zentrale erreichte ihn ein Bild, das direkt auf seinen Hirnlappen projiziert wurde. Es handelte sich um eine 3D-Projektion der Perle. Jene Stellen, an denen die Roboter inzwischen ominöse Kästen hinterlassen hatten, waren gekennzeichnet. Es kamen viele neue Markierungen hinzu. Für Gantorayn bestand kein Zweifel mehr. Die Roboter verteilten die Module vollkommen systematisch. Die Roboter hefteten auch immer wieder tellerähnliche Geräte an Wände. Diese Geräte ähnelten jenen, die an der Außenwand der Perle angebracht worden waren. Nur waren diese wesentlich kleiner. Auf eine Weise, die bislang noch kein Gloride letztlich zu verstehen vermochte, veränderte etwas, das von diesen Modulen ausging, die Struktur des Wandmaterials auf subatomarer Ebene, sodass sie aufweichte und durchlässig wurde. Zumindest für die Roboter. Die Präzision, mit der diese Maschinenwesen vorgingen, war beängstigend. Sie folgten einem Plan, dessen ganze Tragweite im Moment noch niemand erfassen konnte. »Ich werde jetzt einen weiteren Kontaktversuch unternehmen«, kündigte der Perlenweiseste an. »Sollte er fehlschlagen, ist die Außenwand unter maximale Energie zu setzen!« »Die entsprechende Schaltung dazu ist blockiert«, berichtete Dambiayn. »Dann überbrückt sie!« Gantorayn begann, seine körperliche Form aufzulösen. Er verwandelte sich in Licht, das sich verdichtete, hell aufleuchtete und schließlich in einen der Roboter fuhr. Gantorayn hatte sich die Maschine, die er zu übernehmen gedachte, genau ausgesucht. Es handelte sich um einen der Roboter, die
sich bereits ihrer mitgeführten Blöcke entledigt hatten und nun wieder auf dem Rückweg zur Eintrittstelle waren, um an Bord ihres Phantomschiffes zurückzukehren – vermutlich um weitere Module in die Perle zu tragen. Gantorayns Ziel war es, mit Hilfe des Roboters an Bord des Phantoms zu gelangen, um dort endlich erfolgreich Kontakt zu den Insassen herzustellen. Als blitzartige Lichterscheinung fuhr Gantorayn in das Innere des Roboters, der gerade im Begriff war, in das Phantomschiff zurückzukehren. Der Perlenweiseste suchte nach einer Möglichkeit, in das interne System der Maschine zu gelangen. Normalerweise war das für einen Gloriden ein Leichtes. Selbst dann, wenn es sich um die Technologie einer völlig fremden Spezies handelte. Als reines Energiewesen konnte sich der Gloride stets perfekt anpassen. Aber schon im nächsten Minimalzeitquantum spürte er sehr deutlich, dass das in diesem besonderen Fall unmöglich sein würde. Etwas stieß ihn ab. Eine Kraft, ein Feld … Gantorayn vermochte es nicht zu erklären. Er fühlte nur, wie es ihn zurückschleuderte. Um ein Haar wäre die Integrität seiner energetischen Gestalt aufgelöst worden. Er rematerialisierte zu einem androgynen Humanoiden und taumelte zu Boden. Er fühlte Schwäche. Der gescheiterte Kontaktversuch hatte ihn viel Kraft gekostet. »Ist alles in Ordnung, Perlenweisester?«, hörte er seinen Stellvertreter über den Kommunikationskanal. »Führe meine Anweisung aus und setze die Außenhülle unter maximale Energie!«, gab Gantorayn zurück. Es erfolgte keine Bestätigung. »Dambiayn?« Erneut keinerlei Reaktion. Der Kommunikationskanal, der ihn bis dahin mit der Zentrale verbunden hatte, musste unterbrochen worden sein.
Immer zahlreicher wurden die Roboter auf den Gängen.
Gantorayn wanderte zwischen ihnen umher und wich ihnen aus, wenn sie in rasendem Tempo über die langen Korridore jagten. Er sah, wie sie ihre Tellermodule an ausgewählten Stellen der Wände anbrachten, die daraufhin für sie durchlässig wurden. Zweifellos steckte ein Plan hinter all dem, dessen Ziel nur die totale Eroberung der Chardhin-Perle sein konnte. Wer hatte diese Maschinen geschickt? Gantorayn konnte sich kaum vorstellen, dass sie aus eigenem Antrieb handelten. Aber völlig ausgeschlossen war auch diese Möglichkeit nicht. Die Eindringlinge machten auf den Perlenweisesten den Eindruck, als ob sie sich hervorragend im Innern der Chardhin-Perle auskannten. Kein Wunder, überlegte der Gloride. Wahrscheinlich haben sie längst Zugang zu den Rechnersystemen, ohne dass wir davon etwas bemerken … Langsam begann ihm zu dämmern, wie fortgeschritten die Technologie der Invasoren sein musste. Die Angreifer konnten nicht von einem jener primitiven Barbarenvölker geschickt worden sein, die Gantorayn auf seinen früheren Reisen in dieser oder anderen Galaxien kennen gelernt hatte. Oder kannst du nur den Gedanken nicht ertragen, dass es vielleicht doch diese Emporkömmlinge sind, deren Erfindungsgabe und Entschlossenheit sie schließlich in die Lage versetzt hat, eine Chardhin-Perle zu entern? Er erreichte ein in die Wand eingelassenes Terminal, über das man das Kommunikationsnetz der Perle nutzen konnte, falls die direkte Ansprache über codierte elektromagnetische Impulse aus irgendeinem Grund nicht mehr funktionierte – was im Moment der Fall war. Aber auch das Terminal war deaktiviert. Die Roboter schienen genau zu wissen, wo sie ansetzen mussten. Vor allem zerstörten sie nur so viel, wie für ihre ungehinderte Ausbreitung unbedingt nötig war. Die Verzweiflung wuchs in Gantorayn. Das Schlimmste war, das es im Moment kaum etwas gab, was er tun konnte. Er war sogar zu schwach, um zu entmaterialisieren und als gebündelter Energieimpuls zurück in die Zentrale zu wechseln.
Er versuchte mehrfach, seine körperliche Gestalt aufzulösen. Aber es gelang Gantorayn nicht. Der Grund dafür lag auf der Hand. Sein Versuch, ins interne System eines der Roboter einzudringen, war nicht nur gescheitert, er hatte auch immense Kraft gekostet. Er sah schließlich ein, dass es sinnlos war, es immer wieder zu versuchen. Damit schwächte er sich nur zusätzlich. Was genau mit ihm geschehen war, als die Lichterscheinung, in die er seinen Körper umgewandelt hatte, in den zylindrischen Torso des Roboters eingedrungen war, wusste er nicht. Es stand lediglich fest, dass in dem Gloriden eine extreme Energieentladung stattgefunden hatte. Gantorayn wurde jetzt auf den von den Robotern abgelegten Block aufmerksam. Er öffnete sich. Im Inneren leuchtete etwas. Plötzlich spürte Gantorayn, wie sich seine körperliche Integrität ganz ohne eigenes Zutun aufzulösen begann. Das, was er selbst nicht mehr zu Stande brachte, geschah nun wie von selbst. Allerdings auch, ohne dass Gantorayn darüber irgendeine Form der Kontrolle gehabt hätte. Er fühlte einen unsagbar starken Sog, der auf sein Bewusstsein einwirkte. Wie ein Strudel, der ihn einfach mitriss. Gantorayn wurde zu einer Lichtkugel, die von dem goldenen Kasten regelrecht eingeatmet wurde. Es ist eine Falle!, erkannte der Gloride im nächsten Moment. Aber da war es längst zu spät, denn sein Körper hatte sich bereits in Energie aufgelöst, die unaufhaltsam ins Innere des Kastens floss. Und dahinter schloss sich der Würfel.
»Akustische Übertragung ausgefallen, Kommunikationskanäle zu Sektion 23 massiv blockiert«, meldete Ovayran und las anschließend ein paar Messwerte von den Anzeigen seiner Konsole ab. Displays und Sensorfelder blinkten auf. Für einige Minimalzeitquanten schwebte noch das Holobild des Perlenweisesten hoch im Raum, während jeder der Diensthabenden
gebannt verfolgte, was mit ihm geschah. Gantorayn wurde regelrecht in eines der kastenförmigen Objekte hineingesogen und verschwand. Während des nächsten Minimalzeitquantums brach auch die optische Verbindung ab. Ovayran kämpfte innerlich um ein einigermaßen vertretbares Maß an innerer Stabilität, aber es war nicht zu leugnen, dass das Geschehene einen Schock in ihm ausgelöst hatte. Alle in der Zentrale stemmten sich mehrere Minimalzeitquanten lang gegen das lähmende Gefühl aufkommender Panik an. Dambiayn war der Erste, der die Fassung wiedererlangte. Er trat an seine Konsole heran und rekonfigurierte die Anzeigen der Displays. Seine Finger glitten mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit über die Sensorfelder. Die Anzeige des großen Holofeldes, das über den Köpfen der Diensthabenden schwebte, veränderte sich mit einer so hohen Frequenz, dass kaum noch etwas zu erkennen war. Die Daten sprachen jedoch eine sehr eindeutige Sprache. Überall verschwanden die individuellen Energiesignaturen einzelner Gloriden. Sie wurden ebenso wie der Perlenweiseste ins Innere der Blöcke gesogen. Dambiayn öffnete sämtliche noch in Funktion befindliche Kommunikationskanäle, um sich als Nachfolger des Perlenweisesten an die Besatzung der Chardhin-Perle zu wenden. Angesichts der aussichtslosen Lage gab es jetzt nur noch eine Alternative: die sofortige Flucht mit Hilfe der in den Hangars der Perle befindlichen goldenen Schiffe! Mantayan hatte gerade die Energieaufnahme abgeschlossen und wollte den Gemeinschaftsraum verlassen, als mehrere der zylinderförmigen Roboter durch die Wände drangen. Gleichzeitig wurde ein Kommunikationskanal geöffnet. Die Botschaft war verstümmelt und brach schließlich ab. Aber es war genug zu verstehen, um mitzubekommen, dass der Perlenweiseste von maschinenhaften Invasoren getötet oder gefangen genommen worden war und Stellvertreter Dambiayn jetzt die Flucht mit Hilfe der Schiffe anordnete. Unter den im Gemeinschaftsraum anwesenden Gloriden entstand
Verwirrung. Die roboterhaften Invasoren beachteten die Perlenbesatzung jedoch scheinbar überhaupt nicht, sondern schienen ihren ganz eigenen Programmen zu folgen, die sie mit größter Akkuratesse ausführten. Würfel wurden im Raum verteilt. Mehrere Dutzend Roboter waren im Einsatz. Sie waren sehr schnell, schafften vier bis fünf dieser mysteriösen Blöcke heran und verteilten sie auf dem Boden. Welchen Gesichtspunkten sie bei der Verteilung folgten, war für einen Außenstehenden nicht zu erkennen. Aber es musste zweifellos ein verborgenes System dahinterstecken, genau wie die einzelnen Roboter sich untereinander in permanentem Kontakt befinden mussten. Schließlich wirkte ihr Vorgehen außerordentlich gut koordiniert. »Zu den Schiffen!«, rief einer der Gloriden. Er löste als Erster die körperliche Form auf, zerfloss zu einem schwebenden Lichtfleck. Die Tatsache, dass der Lichtfleck waberte und laufend die Form veränderte, anstatt eine Kugel zu bilden, zeigte an, dass der Gloride mit der Energieaufnahme wohl gerade erst begonnen hatte und damit sein Sättigungsniveau noch sehr gering war. Er schwebte in Richtung der kuppelartig gewölbten, golden schimmernden Decke und durchdrang sie. Doch schon im nächsten Minimalzeitquantum kehrte er zurück und schnellte wieder aus der Decke hervor, so als würde eine unwiderstehlich starke Kraft an ihm zerren. Einer der Blöcke hatte sich leicht geöffnet. Der sich in seiner energetischen Form bewegende Gloride wurde angezogen und in den Würfel hineingesaugt. Ein zischendes Geräusch entstand. Dann war er verschwunden. Auch andere Blöcke begannen sich zu öffnen. Einige Gloriden lösten ohne ihr Zutun die körperliche Form auf, verwandelten sich in Energie und wurden ebenfalls eingesogen. Hier und da – wenn zuvor eine sehr starke energetische Aufladung stattgefunden hatte – geschah dies unter äußerst grellen Lichterscheinungen, die selbst für die ausgesprochen anpassungsfähigen Sinne der Gloriden manchmal eine optische Wahrnehmung für
mehrere Minimalzeitquanten unmöglich machte. Energetische Signale der Panik und des Entsetzens schwangen im Gemeinschaftsraum. Sie trafen Mantayan auf eine Weise, die nur mit einem auf mentaler Ebene geführten Schlag zu vergleichen war. Die seelische Stabilität von Dutzenden Gloriden geriet völlig aus den Fugen. Ein Chor unartikulierter Kommunikationsimpulse schwirrte durch den Raum und sorgte für die Verwirrung und Desorientierung weiterer Gloriden. Was hier geschah, war einfach unfassbar. Keine Überlieferung, kein gespeichertes Wissen, kein warnender Gedanke eines skeptischen Mahners hatte sie darauf vorbereitet, Opfer einer mit solch kalter Effizienz durchgeführten Invasion zu werden. Einige suchten ihr Heil in der Flucht. Sie verwandelten sich in Energie, schwebten durch die Decke davon und hofften, dass sie nicht doch in den Einflussbereich von einem der Blöcke gerieten, die sie dann in sich aufsogen. Auch Mantayan geriet in dieses Chaos. Nachdem er sich aus der inneren Erstarrung, die ihn zuvor für ein ganzes Minimalzeitquantum befallen hatte, lösen konnte, schwebte er empor und legte seine gesamte Kraft in die Geschwindigkeit. Ein Lichtpunkt unter wirbelnden Lichtpunkten, die sich im Bann unerbittlicher Einflüsse befanden. Für einen kurzen Moment glaubte er, den Sog eines der Blöcke zu spüren. Aber er war sich nicht sicher. Aufgrund der mehr oder minder chaotischen Bewegungen der zu Energiewesen verwandelten anderen Gloriden, waren da durchaus Wechselwirkungen denkbar. Es war Mantayan in diesem Augenblick klar, dass es nur wenige zu den goldenen Schiffen schaffen würden. Und selbst für diese wenigen waren die Aussichten dann alles andere als rosig, denn wenn die Invasoren schon in der Lage waren, die Kommunikation zumindest teilweise lahm zu legen, dann war es auch denkbar, dass sie Mittel und Wege fanden, um den Start der Schiffe zu verhindern – oder sie nach dem Start zu zerstören.
Der Sog wurde stärker. Alles, was Mantayan an Energie aufbieten konnte, setzte der Gloride ein, um dem Einfluss zu entgehen. Er spürte bereits seine eigenen Kräfte schwinden, fürchtete schon, dass sich seine energetische Form destabilisierte und vielleicht sogar einfach auflöste – verwirbelt im Chaos der unterschiedlichen Kraftfelder und Impulsfolgen, die das Innere der Chardhin-Perle im Augenblick beherrschten. Aber er schaffte es. Die unsichtbare Klammer, die ihn ergriffen und wie in einem Schraubstock umklammert hatte, löste sich. Er spürte, wie er außerhalb des Einflusses jener Kraft gelangte, die ihn soeben noch in ihrem Bann gehalten und von der er sich einzureden versucht hatte, dass sie irgendwelchen Wechselwirkungen mit den Energien anderer Gloriden entsprungen sei. Die vorherrschende Empfindung war Schwäche. Er geriet auf ein Deck im Zentralbereich der Perle, materialisierte und war im ersten Augenblick leicht desorientiert. Seine Sinne funktionierten nicht wie gewohnt. Es dauerte etwas, bis sich das normalisierte. Ohne Zweifel waren es Folgen der Erschöpfung. Alle Kraft hatte er in den Widerstand gegen den schier übermächtigen Sog gelegt. Die Tatsache, dass er dieser alles verschlingenden Macht entkommen war, verlangte seinen Preis. Mantayan war sich nicht einmal sicher, ob er eine weitere Entmaterialisierung schaffen würde, um zu den Schiffen zu gelangen. Es war unmöglich, die zwischen seinem gegenwärtigen Standort und den Hangars gelegenen Areale der Perle auf herkömmliche Weise zu durchschreiten, da an mehreren Stellen Barrieren existierten, für deren Überwindung es notwendig war, in die Lichtgestalt zu wechseln. Zudem befand sich Mantayan in einem Sektor der Perle, den er nicht kannte. Er war noch nie zuvor hier gewesen, dessen war er sich völlig sicher. Es war im Übrigen auch nicht weiter ungewöhnlich, dass es für jeden Gloriden Bereiche in seiner Heimatperle gab, die er während seiner gesamten Existenz niemals betrat und sie allenfalls rasch
durcheilte, ohne dabei jedoch allzu viele Eindrücke aufnehmen zu können. Es lag eine gewisse Ironie darin, dass er mit Hilfe des kosmischen Transportnetzes die fernsten Galaxien, aber nicht jeden Winkel seiner ureigenen Heimat bereist hatte. Doch darin war er kein Einzelfall unter den Gloriden. So gut es ging, versuchte Mantayan, sich zu orientieren. Seine Sinne, die sonst in Kontakt mit den Kommunikationssystemen der Perle standen, waren ihm jetzt, da diese Systeme zu einem immer größer werdenden Teil ausgefallen waren, nur bedingt eine Hilfe. Er lief einen Korridor entlang, in der Annahme, sich auf die Hangarsektion zuzubewegen. Golden schimmernde Raumschiffe befanden sich dort. Äonenlang hatten die Gloriden angenommen, dass es sich bei ihnen um die einzigen Raumschiffe im Universum handelte, die in der Lage waren, jenseits des Ereignishorizonts eines Schwarzen Lochs zu operieren. Offenbar war dies ein Irrtum, wie man nun schmerzlich feststellen musste. Mantayan begegnete zahllosen weiteren Gloriden, die sich in heilloser Flucht befanden. Diejenigen, deren Energieniveau noch ausreichte, um sich entmaterialisieren zu können, taten dies und wurden teilweise von den auch hier herumliegenden Blöcken absorbiert. Andere wankten in ihrer körperlichen Gestalt dahin, kraftlos und dem Zustand der Desintegration nahe. Bei einigen hatte Mantayan den Eindruck, dass ihr energetisches Level bereits auf Werte abgesunken war, die die Aufrechterhaltung normaler Denkfunktionen nicht mehr möglich machte. Die realitätsverzerrenden Einflüsse, die der jenseits des Ereignishorizonts gelegene Raum auf jedes Individuum ausübte, mussten unterdrückt werden, was immense geistige Fähigkeiten beanspruchte. Nur wenn die mentalen Konstrukte von Raum und Zeit, die das Bewusstsein abbildete, der Realität des umgebenden Raums entsprachen, war es möglich, hier zu überleben, ohne von dauerhaften geistigen Fehlfunktionen beeinträchtigt zu werden. Fehlfunktionen, die von Albträumen und Wahnvorstellungen so-
wie der Vermischung von Vergangenheit, Gegenwart und möglichen Zukünften geprägt waren. Vereinzelt hatte es Gloriden gegeben, die sich aus lauter Langeweile selbst in einen derart energiearmen Zustand versetzt hatten, dass solche Effekte aufgetreten waren. Es gab einen Punkt, ab dem die auftretenden geistigen Schäden irreversibel wurden. Wenn das Energieniveau ein bestimmtes Mindestlevel unterschritt, war die vollständige Desintegration des Individuums die Folge. Manche jener Gestalten, die Mantayan über die Korridore wanken sah, waren diesem Stadium bereits nahe, wie ihm schien. Offenbar waren auch sie dem Zugriff der Blockfallen gerade noch unter Aufbietung der letzten Kräfte entkommen. Es schien fast so, als würden die Fallen diese Unglücklichen bewusst ignorieren, um erst einmal die energiereicheren Gloriden einzufangen. Denn eines stand fest: Die dahinwankenden, dem Tode nahen Humanoiden, die in ihrer körperlichen Gestalt gefangen waren, würden ohnehin keine Möglichkeit mehr haben, die Schiffe zu erreichen. Mantayans Zustand war nicht ganz so schlimm. Und dennoch war ihm klar, dass es möglicherweise auch für ihn bereits zu spät war. Er bemerkte ein zunehmendes Chaos in seinen Gedanken. Ein Warnzeichen, wie er sehr wohl wusste. Immer schwerer fiel es ihm, seine gesamten körperlichen und geistigen Energien auf das zu konzentrieren, was jetzt für ihn das Wichtigste sein musste. Das pure Überleben. Um nichts anderes konnte es jetzt noch für ihn gehen. Aber seine Gedanken schweiften ab. Er begann mit seinem Schicksal zu hadern, glaubte sich plötzlich wieder an einem Punkt seiner nahen Vergangenheit, in der er noch die Wahl gehabt hätte, die Chardhin-Perle dieser Galaxie zu verlassen. Erinnerungen an seinen Aufenthalt in 33.456.667 tauchten auf, und Mantayan war sich für einige Augenblicke nicht sicher, ob er sich nicht in Wahrheit in einer der dortigen Perlen befand und noch immer verzweifelt versuchte, in seine Heimat zurückzukehren – und
sich gleichzeitig ausmalte, was dort wohl geschehen sein mochte … Vergangenheit. Gegenwart. Die möglichen Zukünfte. Alles nichts als Schöpfungen des Geistes, die verfielen, sobald der Geist verfiel, der diese im Grunde fiktive Ordnung geschaffen hatte. Einer der Roboter rempelte Mantayan an. Der Gloride hatte ihn nicht rechtzeitig genug bemerkt. Der Roboter nahm nicht weiter Notiz von ihm. Drei seiner vier Greifarme hielten Blockfallen, die wohl noch zu verteilen waren. Der zylinderförmige Torso reichte Mantayan bis zur Schulter. Der Gloride wich zur Seite, während der Roboter unbeirrt seinen Weg fortsetzte. Mantayan registrierte, wie mehrere Gloriden durch die Blockfallen eingefangen wurden. Wenn es jetzt eine dieser Fallen auf ihn abgesehen gehabt hätte, wäre es ihm nicht mehr möglich gewesen, dieser Kraft irgendetwas entgegenzusetzen. Mantayan versuchte, sich innerlich zu disziplinieren und ein Mindestmaß an mentaler Stabilität wiederzugewinnen. Vielleicht reichte seine Kraft gerade noch für eine letzte Verwandlung in ein flüchtiges Energiewesen. Aber er war sich nicht sicher. Gleichzeitig blieb ihm jedoch nicht verborgen, dass die als Energiewesen umherschwirrenden Gloriden reihenweise von den Fallen absorbiert wurden. Es schien, als wäre jede diese Fallen lediglich in der Lage, jeweils einen Gloriden in sich aufzunehmen. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt noch niemandem klar, ob es sich wirklich nur um eine Gefangenschaft oder vielleicht doch um die völlige Vernichtung handelte. Angesichts des kompromisslosen Vorgehens der Roboter-Invasoren erschien die zweite Möglichkeit mindestens ebenso wahrscheinlich. Mantayan lief weiter, bog in einen anderen Korridor ein, wich mehreren Robotern aus, die plötzlich aus einer der Wände hervorkamen und erreichte schließlich ein Gebiet, in dem es noch keine Fallen gab.
Mantayan atmete auf. Er traf auf weitere Gloriden. Keiner von ihnen war ihm persönlich bekannt. Sie wirkten verängstigt. Ihre energetischen Impulse spiegelten das mentale Chaos wider. Bei den meisten von ihnen zeigte sich die Ratlosigkeit sogar in Gesichtsregungen, was den Grad an Verstörtheit unterstrich, von dem sie betroffen waren. Ausnahmslos aber schien ihr Energieniveau hoch genug zu sein, um ohne Risiko eine Verwandlung wagen und zu den Schiffen eilen zu können. Mantayan sprach sie darauf an. »Das Risiko ist zu hoch!«, glaubte einer von ihnen. »Ich habe es bereits versucht, bin mehrere Decks weit gekommen, und dann habe ich abgedreht, um nicht von diesen Blöcken absorbiert zu werden.« »Sie lauern überall!«, bestätigte ein anderer Sprecher. Die innere Stabilität dieser Gloriden war dermaßen erschüttert, dass sie unfähig waren, auch nur irgendetwas zu tun. Mantayan riet ihnen, alles auf eine Karte zu setzen. »Ich selbst habe nicht die Kraft dazu. Aber ihr. Also nutzt eure Chance, der Gefahr zu entgehen. Es kann nur noch ein paar Kurzzeitquanten dauern, bis die Schiffe die Chardhin-Heimat verlassen.« »Oder vernichtet werden!«, äußerte einer aus der Mantayan gegenüberstehenden verwirrten Gruppe. Mantayan konnte dies natürlich nicht leugnen. »Ja, das mag sein. Die Gefahr ist groß, aber ist es nicht besser, selbst die kleinste Möglichkeit einer Rettung zu nutzen, anstatt sich einfach dem sicheren Untergang zu ergeben?« »Es gibt Gerüchte!«, sagte einer der Gloriden. Von ihm gingen besonders viele ungeordnete Kommunikationsimpulse aus. Aber seine Verwirrung hat nichts mit mangelnder Energie zu tun!, erkannte Mantayan sofort an der Färbung der Haut und am wachen Leuchten der Augen. Offenbar ist auch das Gefühl der Angst wirkungsvoll in der Lage, die Ausführung von Denkprozessen zu beeinträchtigen! »Was für Gerüchte?«, fragte Mantayan, obwohl eine innere Stimme ihn davor warnte, die Frage überhaupt zu stellen, bestand doch
die Gefahr, dass seine sehr mühsam aufrechterhaltene innere Stabilität wieder ins Wanken geriet. Dazu war, wie ihm durchaus klar war, nur ein vergleichsweise geringfügiger Anstoß erforderlich. »Es heißt, die Roboter seien nicht irgendwelche fremden Invasoren, sondern …« »Ja?« »… die zurückgekehrten Perlenschöpfer.« »Wie bitte?« »Die Erbauer der Ewigen Kette kehren aus jenen vergessenen Gefilden zurück, in die sie einst entschwunden sind. Sie nehmen ihr Eigentum wieder in Besitz …« »Und die Fallen?«, gab Mantayan zu bedenken. »Wer sagt, dass es wirklich Fallen sind? Vielleicht kehren wir nur einfach zu jenen zurück, die uns einst unseren erhabenen Auftrag gaben. Wir haben nichts zu befürchten.« »Ich würde das gerne glauben«, blieb Mantayan verhalten. »Du hast die schändliche Seele eines Skeptikers. Aber siehe, wohin uns das gebracht hat! Die Erbauer sind vielleicht deswegen zurückgekehrt, weil sie den Verfall der Sitten und damit ihres einzigartigen Werkes aufhalten wollen!« »Es gibt keinerlei Beweise für diese Hypothese.« »Es ist mehr als eine Hypothese.« »So?« »Wer außer den Erbauern wäre überhaupt in der Lage, die Grenze des Ereignishorizontes zu überschreiten? Wessen geistige Fähigkeiten hätten dazu ausgereicht, während eines Aufenthaltes in dieser Zone nicht den Verstand zu verlieren? Wer sonst, als die Perlenschöpfer könnte über eine so überlegene Technik verfügen, wie es bei den so genannten Invasoren der Fall sein muss.« Mantayan kam zu dem Schluss, dass es wenig Sinn hatte, sich weiter mit diesen von einem irrationalen Glauben beherrschten Gloriden auseinander zu setzen. Er dachte nicht im Traum daran, sich den Invasoren einfach auf Gedeih und Verderb auszuliefern und das Risiko einzugehen, dass es sich bei der Absorption durch die Blöcke vielleicht doch um eine endgültige Desintegration und Ver-
nichtung handelte. Etwas, das die primitiveren Völker als den Tod bezeichneten. Die blanke Furcht war es, die sie zu völlig hergeholten Schlussfolgerungen kommen ließ. Zumindest sah Mantayan das so. Er setzte seinen Weg fort, begegnete dabei einer Gruppe von Robotern, die so schnell den Korridor entlanghuschten, dass er ihnen nur im letzten Moment ausweichen konnte. An irgendeiner Stelle stoppten diese Roboter dann abrupt. An den Laufextremitäten bildeten sich Saugfüße, mit denen sie die Wand emporliefen. Sie befestigten Tellermodule an der Decke, die daraufhin durchlässig wurde. Dann verschwanden sie einer nach dem anderen durch die entstandene Passage.
Dambiayn sprang zur Seite. Sein Blick glitt hinab auf den Boden, aus dem plötzlich die obere Hälfte eines zylindrischen Roboter-Torsos herausragte. Die Greifarme hielten die blockförmigen Fallen. Der Roboter zog sich empor. Ein zweiter Roboter folgte, dann ein dritter. Schon wurden die ersten Blockfallen verteilt. Bereits seit einigen Minimalzeitquanten funktionierten in der Zentrale der Perle Chardhin so gut wie keine Instrumente und Anzeigen mehr. Jetzt ist er also gekommen – der Augenblick, da die Invasoren das Herzstück der Perle unter ihre Kontrolle bringen!, ging es Ovayran schaudernd durch den Sinn. Schon kurz nach Beginn der eigentlichen Invasion hatte niemand mehr ernsthaft annehmen können, dass es einen Weg gab, die Roboter an ihrem Vorhaben zu hindern. Und doch versetzte ihr Auftauchen Ovayran jetzt einen Stich. Er löste – so wie beinahe alle anderen Gloriden, die in der Zentrale ihren Dienst taten – seine Körperform auf und wurde zu einem gleißenden Lichtball. Auch Dambiayn hatte sich verwandelt. Das Einzige, was jetzt vielleicht noch einige von ihnen zumindest vorerst retten konnte, war Geschwindigkeit und die Tatsache, dass
sie alle beinahe gleichzeitig handelten. Um sämtliche Diensthabenden mittels Blockfallen auf einmal gefangen zu nehmen, waren einfach nicht genug Fallen vorhanden. An einer anderen Stelle drangen jetzt Roboter durch die Wand. Offenbar hatten die Invasoren sehr wohl erkannt, welch entscheidende Bedeutung die Zentrale für jeden einnahm, der beabsichtigte, die Kontrolle über die Perle auszuüben. Dementsprechend massiert erfolgte der Angriff. Schon wurden die ersten Gloriden in die ausgelegte Kästen gezogen, ohne dass es ihnen möglich war, etwas dagegen zu tun. Die Panik brach sich nun vollends Bahn. Die in flüchtige Energiewesen Verwandelten stoben auseinander. Das galt auch für Ovayran. Er registrierte fast beiläufig, wie einige andere Gloriden in seiner Nähe von den Blockfallen eingefangen wurden. Ein Deck nach dem anderen durchschossen die Energiewesen geradezu, und ihre Zahl wurde dabei fast um die Hälfte dezimiert. Es war reine Glücksache, nicht von den Blöcken erwischt zu werden. Ovayran schob es bei sich selbst auf den Umstand, dass wohl einfach noch nicht genug Fallen auf dem Weg aufgestellt waren, der direkt zu den Hangars führte. Ovayran materialisierte in der Zentrale eines der goldenen Kugelraumer, die ihrerseits wie kleinere Ausgaben der gewaltigen Chardhin-Perle wirkten. KLEINE PERLE lautete daher fast folgerichtig der Name jenes Schiffes, in dem Ovayran seine Körperlichkeit wiedererlangte. Er zögerte nicht lange, trat an eine der Konsolen und fand die Startsysteme bereits aktiviert. Das war per Fernschaltung von der Perlen-Zentrale aus geschehen, aber eigentlich hatte Ovayran nicht mehr damit gerechnet, dass der Befehl das Schiff noch erreicht hatte. Wenig später materialisierten weitere Gloriden, darunter Dambiayn. Der stellvertretende Perlenweiseste nahm sofort den Platz des Kommandanten ein. Weitere Gloriden besetzten die einzelnen Konsolen. Jeder, der in der Lage war, Dienst in der Zentrale der Chard-
hin-Perle zu tun, konnte diese Aufgabe ebenso gut versehen wie seinen gewöhnlichen Dienst. »Startsequenz einleiten!«, befahl Dambiayn. »Startsequenz eingeleitet«, bestätigte Ovayran, auf dessen Konsole die Pilotenfunktionen gelegt worden waren. Die Hangars der Perle Chardhin verfügten über nichts, was mit einem konventionellen Außenschott vergleichbar war. Die Goldenen Schiffe der Gloriden hüllten sich bei der Ausschleusung kurzfristig in ein Feld, das sie die feste Materie der Außenhülle durchdringen ließ. Diese Technologie ähnelte jener, die von den Invasoren angewandt worden war, um ins Innere der Perle zu gelangen. Sobald dieses Feld aktiviert war, konnte niemand mehr an Bord gelangen, wollte er dabei nicht das Risiko eingehen, desintegriert zu werden. Für Wesen, die rein körperlich existierten, war die Gefahr diesbezüglich nicht so groß. Aber für Zwitterwesen wie die Gloriden, deren eine Existenzform rein energetisch war, wurde es dann unmöglich, die Außenhülle zu durchdringen. Noch wartete Dambiayn offenbar auf Nachzügler, die es vielleicht gegen alle Wahrscheinlichkeit zur KLEINE PERLE oder in die anderen Schiffe schafften. Es bestand Kontakt zu acht der insgesamt zwölf goldenen Schiffe, die sich an Bord der Chardhin-Perle in den dafür vorgesehenen Hangars befanden. Auf all den Schiffen, zu denen gegenwärtig Kontakt bestand, nahm die Zahl der Ankömmlinge stark ab. Es materialisierten nur noch vereinzelt Gloriden. Die anderen hatten es wohl einfach nicht mehr geschafft oder keine Kraft mehr, um sich in ihre Lichtgestalt zu verwandeln. Wenn man die Zahlen zusammenrechnete, war das Ergebnis mehr als deprimierend. Über neunzig Prozent der Gloriden dieser Perle waren den Invasoren zum Opfer gefallen und von ihnen in den Blockfallen entweder gefangen oder vernichtet worden. Genaueres hatten die Analysen darüber noch immer nicht ergeben, und seitdem fast sämtliche Rechnersysteme der Perle ausgefallen waren, hatte auch nicht mehr die Möglichkeit bestanden, mehr
darüber herauszufinden. Die Systeme der Schiffe arbeiteten jedoch nach dem, was Ovayran bisher hatte herausfinden können, alle vollkommen einwandfrei. Offenbar hatten die Invasoren bisher keine Möglichkeit gefunden, in die Kommunikationskanäle einzudringen und bestimmte Funktionen außer Kraft zu setzen, wie es ihnen bei der Perle auf geheimnisvolle Weise gelungen war. Die Außensensoren eines anderen Schiffs, der GOLDENER TROPFEN, meldete das Auftauchen von Robotern im dazugehörigen Hangar. Die optischen Systeme erfassten die Invasoren und übertrugen die Bilder an alle anderen Schiffe. Auch auf der Brücke der KLEINE PERLE konnte die Szenerie auf dem Panoramaschirm verfolgt werden. Wie üblich hatten die Roboter die Trennwand von Hangar drei durchdrungen. Im Hangar befanden sich außer der GOLDENER TROPFEN noch drei weitere Schiffe, von denen bei zweien die Startsequenz bereits aktiviert war. Der Gloride mit dem höchsten Stabilitätsfaktor hatte traditionell das Kommando an Bord der GOLDENER TROPFEN übernommen. Er befahl einen Schnellstart, doch ließ die Durchführung auf sich warten. Das Nachbarschiff, die HORIZONTREITER, musste den Hangar vor der GOLDE-NER TROPFEN verlassen, da ansonsten akute Kollisionsgefahr bestand. Zwar machten die das Schiff umgebenden Felder ein Durchdringen fester Materie möglich, und die Außenhüllen der Raumschiffe entsprachen physikalisch beinahe exakt der Zusammensetzung, die auch für die Hülle der ChardhinPerle galt, aber wenn die Umhüllungsfelder zweier Raumschiffe einander berührten oder auch nur zu nahe kamen, konnte es zu gefährlichen Entladungen kommen. Entladungen, die das Ende bedeuten mochten, noch ehe die Flucht von der Chardhin-Perle überhaupt begonnen hatte. Die HORIZONTREITER startete. Deutlich sichtbar war das grünlich schimmernde höherdimensionale Feld, das die Durchdringung der Perlen-Außenhülle ermöglichen würde. Das goldene Schiff hob vom Boden ab. Es bewegte sich seitwärts
und tauchte in die Außenwand ein, als handele es sich um eine Flüssigkeit. Die Hälfte des Schiffes ragte bereits ins All hinein, während sich die andere noch im Hangar befand. Nur den Bruchteil eines Minimalzeitquantums währte dieser Zustand. Im nächsten Moment wäre die HORIZONTREITER zumindest fürs Erste dem Zugriff der Invasoren entzogen gewesen. Aber es kam anders. Mehrere Roboter, von denen keiner eine Blockfalle bei sich trug, postierten sich am Rand des Hangars, nachdem sie durch die Wand gedrungen waren. Dieser Robotertyp unterschied sich von den meisten anderen Exemplaren lediglich durch die Größe. Diese Maschinen waren etwa ein Drittel größer, als ihre ansonsten typgleichen Helfer. An der Oberseite des zylindrischen Torsos öffnete sich eine Klappe. Teleskopähnliche Verlängerungen ragten im nächsten Moment daraus hervor. Schwenkbare, rohrähnliche Stücke wurden hervorgeklappt, deren Enden an die Mündungen primitiver Strahlwaffen erinnerten. Aus diesen Öffnungen schossen grellweiße Blitze hervor, die die noch in den Hangar hineinreichende Hälfte der HORIZONTREITER voll erfassten. Das goldene Schiff platzte regelrecht auseinander. Das höherdimensionale Kraftfeld, das die Durchdringung der Außenhülle gewährleisten sollte, sorgte in diesem Fall dafür, dass die Strahlenschüsse mühelos ins Innere des Schiffes gelangten. Trümmerteile platzten in den Weltraum hinein. Auf der anderen Seite prasselten Teile der HORIZONTREITER in den Hangar. Nur die Außenwandung der Chardhin-Perle blieb nahezu unbeschädigt. In dem Moment, in dem der Beschuss durch die Roboter für den Ausfall des höherdimensionalen Feldes gesorgt hatte, war die Hülle der Chardhin-Perle für die HORIZONTREITER wie ein scharfes Messer gewesen, das den Raumer einfach durchtrennte. Die ins Innere der Perle explodierenden Teile der HORIZONTREITER wirkten sich katastrophal auf die restlichen im Hangar befindli-
chen Schiffe aus. Die Schäden waren immens. Keines von ihnen würde noch in der Lage sein zu starten. Für die an Bord dieser Schiffe geflüchteten Gloriden bestand keine Hoffnung mehr – und keine Aussicht, an Bord der anderen Raumer zu flüchten. Weitere Roboter hatten inzwischen Blockfallen ausgelegt. Gloriden, die versuchten, dem Inferno als Energiewesen zu entgehen, wurden von diesen Fallen eingesogen. Nur zwei von ihnen kamen auf der KLEINE PERLE an. Andere strandeten irgendwo auf dem Weg, wurden von den Blockfallen angezogen und schließlich absorbiert. Von der KLEINE PERLE aus gab es nichts, was hätte getan werden können, um der HORIZONTREITER und der GOLDENER TROPFEN beizustehen. »An alle Einheiten!«, wandte sich der stellvertretende Perlenweiseste Dambiayn von der KLEINE PERLE aus über einen offenen Kommunikationskanal an jeden, der noch in der Lage war, ihn zu empfangen. »Sofortiger Blitzstart!« Jedes Risiko musste jetzt eingegangen werden. Die Überlebenschancen lagen ohnehin nahe null. Ovayrans Hände glitten derweil über die Sensorfelder seiner Konsole. Er zoomte auf dem großen Schirm etwas heran. Eine leichte Anomalie in den Strukturparametern der Innenwände des Hangars hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. »Sie dringen jetzt auch in unseren Hangar ein«, stellte Ovayran erschüttert fest – fast ein ganzes Minimalzeitquantum, bevor schließlich der erste Roboter die Wand auch sichtbar durchdrang.
Mantayan war es gelungen, sich mit seinen schwindenden Kräften in eine Sektion der Chardhin-Perle zu flüchten, in der die Invasoren noch nicht gewütet hatten. Die Perle war ein Objekt von geradezu gigantischen Ausmaßen. Selbst wenn man den Invasoren ein Höchstmaß an Effizienz unterstellte, würden sie einige Zeit brauchen, um tatsächlich jeden Winkel unter ihre Kontrolle gebracht und jeden Gloriden mit Hilfe einer
Blockfalle ausgeschaltet zu haben. Aber sie brauchten keine Eile an den Tag zu legen. In der Sektion, die Mantayan jetzt erreichte, traf er kaum noch auf Gloriden. Hin und wieder lag oder kauerte jemand am Boden, dem Wahnsinn und dem Zustand vollkommener mentaler und physischer Destabilisierung nahe. Mantayan konnte nichts für diese Unglücklichen tun. Sein eigener Zustand war einfach zu schlecht. Schließlich erreichte er Sektionen, in denen sich niemand mehr befand. Die Gloriden hatten diese Areale fluchtartig verlassen. Für die Invasoren gab es fürs Erste kaum einen Anlass, hierher zu kommen, sofern sie über Scanner verfügten, die einzelne Gloriden zu orten vermochten. Angesichts der Tatsache, dass die Invasoren über eine hoch stehende Technologie verfügten – was sie zweifellos bewiesen hatten –, war davon auszugehen, dass sie genau wussten, wo sich noch Gloriden aufhielten. Mantayan erreichte einen der Gemeinschaftsräume, in denen man Energie aufnehmen konnte. Er schloss sich an eine dafür vorgesehene Vorrichtung an. Sie funktionierte noch. Mantayan genoss den Energiefluss, der ihn durchflutete. Schon nach wenigen Augenblicken fühlte er sich gestärkt. Aber er ahnte, dass ihm für eine Regeneration wohl nur wenige Minimalzeitquanten bleiben würden. Und sobald irgendwo eine Energieaufnahme durch einen Gloriden stattfand, war das mit Sicherheit leicht zu orten. Die Invasoren würde alles tun, um es zu unterbinden. Und genau das taten sie auch. Der Energiefluss versiegte. Jemand hatte sich in das System eingeschaltet. Jetzt musst du es wagen!, ging es Mantayan durch den Sinn. Es ist die letzte Chance – wenn es nicht ohnehin schon zu spät und das letzte Schiff längst ausgeschleust ist … Mantayan löste seine Körperform auf und verwandelte sich in seine Lichtgestalt. Gleichzeitig drang der erste Roboter durch die Wand und legte eine der vier Blockfallen auf den Boden, die er bei sich trug. Die Falle öffnete sich.
Der Roboter legte die anderen ebenfalls aus. Mantayan schoss davon. Er legte alle Kraft in Geschwindigkeit, um dem Einfluss der Falle zu entgehen. Noch einmal würde er es nicht schaffen, sich erfolgreich dagegen zu wehren. Dazu hatte die energetische Regeneration bei weitem nicht ausgereicht. Aber er hatte Glück. Mantayan spürte nur ganz kurz die leichte Ahnung jenes Sogs, dem er schon einmal nur unter Aufbietung seiner ganzen Kraft hatte widerstehen können. Diesmal jedoch war er dem Einflussbereich früh genug entronnen. In einem Bogen bewegte er sich durch die Perle. Einer plötzlichen, fast instinktiven Regung folgend, bewegte er sich nicht direkt auf die Hangarsektion zu und wich damit dem gegenwärtigen Hauptoperationsgebiet der Invasoren aus. Schließlich erreichte er einen der Hangars. Dort hatten sämtliche Schiffe bereits die mehrdimensionalen Kraftfelder aktiviert, wie er erkannte. Zu spät!, durchzuckte es ihn. Es war nicht mehr möglich, an Bord zu gelangen. Er schwebte in den nächsten Hangar und verließ ihn gleich darauf wieder. Eine gewaltige Explosion hatte dort alles vernichtet, keines der Schiffe war mehr einsatzbereit. Im dritten Hangar flackerten gerade die mehrdimensionalen Schiffsschilde auf. Der erste goldene Raumer trat in den Weltraum hinaus. Der nächste folgte. Roboter gingen in Stellung. Energieschüsse zuckten und trafen. Kurz bevor der mehrdimensionale Schirm des letzten Schiffes aufflackerte, erreichte Mantayan es. Er materialisierte in der Zentrale. Ein Rumoren durchlief den Raumer, als er einen Blitzstart hinlegte und die Perlen-Hülle im Schutz seines mehrdimensionalen Schildes durchdrang.
6. Kapitel – Kleine Perle Der Schirm, mit dessen Hilfe das Raumschiff ausgeschleust worden war, wurde sofort danach abgeschaltet. Die KLEINE PERLE war das letzte Gloridenschiff, das es hinaus in den Raum schaffte. Insgesamt zehn Gloridenschiffe schwebten in der dunklen Todeszone jenseits des Ereignishorizontes. Aber sofern die Instrumente einwandfrei funktionierten, war das kein Problem. Die goldenen Raumer waren dafür konstruiert, auch in diesem Gebiet zu operieren. Einer der Diensthabenden auf der Brücke gab einen Schadensbericht durch, der sich aus den Meldungen der anderen Raumer zusammensetzte. Danach hatten einige der Schiffe Treffer durch kleinere Strahlgeschütze der robotischen Invasoren abgekommen. Aber die Schäden beeinträchtigten nicht die Manövrierfähigkeit. Mantayan wurde mit erstaunten Blicken bedacht, nachdem er so plötzlich materialisiert war. »Maximale Beschleunigung«, befahl Dambiayn von einem Kommandantensessel aus, ehe er sich auch dem Neuankömmling zuwandte. Ovayran sagte: »Das war Rettung im letzten Minimalzeitquantum!« Mantayan sandte ein Signal der Bestätigung. »Willkommen an Bord der KLEINE PERLE«, flötete der stellvertretende Perlenweiseste.
Mantayan ließ den Blick schweifen und entdeckte Ovayran, der kurz von seiner Konsole aufblickte. In den Gesichtern beider Gloriden zeigte sich eine kaum merkliche Regung. »Es erfüllt mich mit Freude, dass auch du es unter die Geretteten geschafft hast«, bekannte Ovayran dem Freund gegenüber.
»Ich freue mich ebenfalls, dass auch du den Invasoren entgangen bist«, erwiderte Mantayan, dem die Szenerie an Bord des Raumers vollkommen irreal erschien. »Aber meine Gedanken sind bei denjenigen, die es nicht geschafft haben«, fügte Mantayan noch hinzu. »Bist du schon an Bord von Raumschiffen durchs All gereist?«, erkundigte sich der stellvertretende Perlenweiseste. »Gewiss«, bestätigte Mantayan. »Ich habe zahlreiche Forschungen in verschiedenen Galaxien betrieben. Zumeist allerdings auf mich allein gestellt und mittels deutlich kleinerer Schiffe.« »Dann verstehe ich nicht, wieso man dich nie beim Dienst in der Zentrale gesehen hat. Für einen Gloriden mit dieser Erfahrung ist das doch sehr ungewöhnlich.« »Mein seelischer Stabilitätsindex war nicht hoch genug«, erklärte Mantayan. Aber welche Bedeutung hatten diese Dinge jetzt noch, nachdem die Invasoren ihre Heimat-Perle in Besitz genommen hatten. Vielleicht hat schon sehr bald gar nichts mehr die gewohnte Bedeutung, sinnierte Mantayan weiter. Schließlich war nicht auszuschließen, dass es die geheimnisvollen Invasoren nicht bei der Eroberung einer einzigen Perle belassen würden. »Übernehme eine der freien Konsolen«, wies Dambiayn Mantayan an. »Wir brauchen jeden der über Raumerfahrung verfügt – mögen seine Werte hinsichtlich seelischer Stabilität bis dahin auch eine Verwendung als Diensthabender in der Zentrale einer Perle ausgeschlossen haben.« Mantayan folgte der Aufforderung. Unterdessen trafen die Schadensberichte der anderen Raumschiffe ein, die teilweise schwerer beschädigt waren, als es zunächst den Anschein hatte. Ein Schiff, das die Bezeichnung RUHM DER ERBAUER trug, war durch mehrere Treffer nicht mehr manövrierfähig. Es musste von der KLEINE PERLE ins Schlepp genommen werden, was via Traktorstrahl geschah. Für Dambiayns Schiff bedeutete das natürlich, dass auch bei der KLEINE PERLE die Manövrierfähigkeit stark herabgesetzt war. Aber die einzige Alternative wäre gewesen, die RUHM DER ERBAUER zurückzulassen, ihre Besatzung an Bord
zu nehmen. Aber weitere Verluste an Material mussten vermieden werden. Die RUHM DER ERBAUER stand gegenwärtig unter dem Kommando eines Gloriden namens Werroayn, der ansonsten eine hohe Position in der Hierarchie jener Mannschaft innehatte, die auf der Perle für den Betrieb der Zentrale zuständig gewesen war. Zum Zeitpunkt der Invasion hatte er allerdings gerade ein Regenerationszeitquantum durchlebt und sich in seinem Privatbereich aufgehalten. Werroayns Gesicht wurde auf dem Panoramaschirm der KLEINE PERLE abgebildet. »Vielleicht sollten wir andocken und die gegenwärtige Besatzung auf die KLEINE PERLE überwechseln lassen«, schlug er vor. »Das kostet wertvolle Zeit«, widersprach Dambiayn. »Wir können es allenfalls nachholen, wenn wir die Zone hinter dem Ereignishorizont verlassen haben und uns wieder im normalen Kontinuum befinden!« »Du wirst doch wohl nicht annehmen, dass die Invasoren uns verfolgen, ehrenwerter Stellvertreter des Perlenweisesten!«, widersprach Werroayn. »Wer will das ausschließen?«, gab Dambiayn zurück. »Unsere Ortungssysteme zeigen weit und breit keine Phantomschiffe an.« »Vergiss nicht die außergewöhnliche Tarnfähigkeit, die wir bei diesem Schiff beobachten konnten!« »Du bestehst auf deiner Entscheidungskompetenz?« »Ja!«, bestätigte der Stellvertreter des Perlenweisesten entschieden. Die begleitenden energetischen Signale wurden nur zu einem Bruchteil übertragen, sodass nicht viel mehr als ein gedämpftes Rauschen davon auf der RUHM DER ERBAUER ankam. Dambiayn überlegte einen Moment lang, ob es vielleicht sinnvoll war, seinen Standpunkt durch eine Gesichtsregung zu unterstreichen, entschied sich schließlich aber dagegen. Mimische Regungen sollten geübt sein, wenn man sie anwendet, überlegte er. Schon des Öfteren hatte er miterlebt, wie sie sonst mitunter sogar eines unbeab-
sichtigte und der eigentlichen Intention völlig entgegen gesetzte Wirkung nach sich zogen. Dambiayn war sich durchaus bewusst, dass die meisten Gattungen, denen die Gloriden zumindest rein äußerlich ähnlich sahen, ihre Gesichtsmuskulatur beinahe vollkommen intuitiv benutzten und sich wenig Gedanken über die Wirkung machten, die sie damit erzeugten. Die Gloriden wiederum schienen sich durch ihre Fähigkeit zur Verwandlung in Energiewesen auch von den Funktionen ihrer Körper mehr und mehr distanziert zu haben. Irgendwann, so lauteten zumindest einige sehr rätselhafte Texte der gloridischen Überlieferung, würde womöglich der Übertritt ins Stadium einer vollkommen körperlosen Existenz erfolgen. Ist es das, was mit den Erbauern geschehen ist?, fragte sich Ovayran. Sind sie am Ende gar nicht ›verschwunden‹, sondern lediglich zur vergeistigten Lebensform geworden? Haben sie lediglich ihre stofflich fassbare Form aufgegeben, die andererseits aber notwendig war, um die Ewige Kette weiter zu betreiben? Suchten sie sich deshalb in uns Helfer? Nichts als Spekulation. Es gab keine greifbaren Informationen, nur die düsteren Andeutungen einer alten Überlieferung, deren Herkunft und Wahrheitsgehalt ungeklärt war. Mysteriös wie das Auftauchen der Invasoren, überlegte Ovayran. Der Stellvertreter des Perlenweisesten wandte sich indessen an Ovayran und ordnete an: »Wir gehen auf maximale Beschleunigung!«
Die Flotte aus zehn golden schimmernden Kugelraumern setzte sich in Bewegung, nachdem ein von der KLEINE PERLE ausgehender Traktorstrahl die RUHM DER ERBAUER erfasst hatte und dafür sorgte, dass das baugleiche Schiff jede Flugbewegung des Raumers, in dessen Schlepp sie sich befand, mitmachte. Die Triebwerke der KLEINE PERLE rumorten, und der Boden der Brücke vibrierte leicht in der Beschleunigungsphase. Dies war jedoch nur innerhalb der Todeszone jenseits des Ereignishorizonts der Fall, wo sich der Antrieb gegen die gewaltigen Gravitationskräfte
stemmen musste, die ihre unsichtbaren Hände nach den goldenen Schiffen ausstreckte, um sie in den Orkus hineinzuziehen. Ovayran bediente das Steuersystem der KLEINE PERLE von seiner Konsole aus. Innerhalb der Todeszone bestand die Hauptaufgabe der Triebwerke darin, die Gravitationskräfte des Schwarzen Lochs zu neutralisieren. Aber für die Technologie der Gloriden war das ein beherrschbares Problem. Ovayran schenkte dem Panoramaschirm, dessen Darstellung in identischer Form auch auf seinen Hirnlappen projiziert wurde, für ein paar Augenblicke erhöhte Aufmerksamkeit. Es war deutlich zu sehen, wie sich die goldenen Schiffe von der Perle Chardhin entfernten. Nie zuvor hat es einen gloridischen Exodus von einer Perle gegeben!, ging es Ovayran durch den Sinn. Zumindest hatte er davon noch nie etwas gehört, und soweit er die Überlieferung kannte, war dort auch nichts über ein derartiges Ereignis verzeichnet. Ein Gefühl beherrschte ihn, das sich kaum beschreiben ließ. Es war eine Mischung aus tiefster Niedergeschlagenheit und dem Bewusstsein, versagt zu haben. Wir haben den Auftrag der Erbauer aufgeben müssen, überlegte Ovayran. Allein der Gedanke an dieses Faktum vertiefte das Gefühl der Depression nur noch. Seltsam, dachte er, es ist schon so viele Langzeitquanten her, dass die Erbauer verschwanden und kein heute existierender Gloride hat jemals einen von ihnen zu Gesicht bekommen. Sie gingen vor unserer Zeit, und doch beherrschen sie bis heute unser Leben, all unser Denken. Das galt nicht nur für die glotidische Kultur als Ganzes, sondern ebenso für jedes einzelne Individuum, das ihrer Gattung jemals entsprungen war.
Die KLEINE PERLE blieb immer deutlicher hinter den anderen Schiffen zurück. Auf Grund der Tatsache, dass sie die RUHM DER ERBAUER im Schlepp mit sich zu ziehen hatte, konnte sie einfach
nicht die gleichen Beschleunigungswerte erreichen. Außerdem gab es noch ein anderes Problem. Einer der Gloriden an Bord bemerkte als Erster die auffällige Veränderung in der Energiesignatur des Phantomschiffs. Der Gloride hieß Sharenayn und galt von jeher als enger Vertrauter des vorherigen Perlenweisesten. Mit dessen Stellvertreter hatte er jedoch wiederholt Differenzen ausgetragen, die nur nach langwierigen Gesprächen mit einem Großen Konsens beizulegen gewesen waren. Einem Konsens, der zumindest aus Dambiayns Sicht der Dinge das Attribut »groß« meist kaum verdient hatte. »Das Phantomschiff startet«, war Sharenayn überzeugt. Er sollte Recht behalten. Schon wenige Minimalzeitquanten später hatte es sich von der Außenhülle der Perle Chardhin gelöst und seine Position geändert. Der Kurs, den es nahm, war schnell klar. »Es folgt uns«, stellte Dambiayn fest, wobei ihm für einen winzigen Augenblick die Kontrolle über die Gesichtsmuskulatur entglitt. »Dass sie uns jetzt noch folgen und sich nicht mit der Eroberung der Perle zufrieden geben, lässt Übles für das Schicksal derer ahnen, die von ihren Blockfallen eingesogen wurden«, meinte Ovayran. »Du glaubst, dass sie einfach … desintegriert wurden?«, fragte Dambiayn. »Sie hatten keine Skrupel, unsere Schiffe zu beschießen und haben eines davon sogar samt Besatzung explodieren lassen, ohne dass noch irgendjemand die Chance bekommen hätte, sich vorher zu entmaterialisieren. Zumindest war davon auf unseren Displays nichts zu erkennen …« Dambiayn sandte einige elektromagnetische Impulse, die einer Bestätigung gleichkamen, und fügte dann hinzu: »Wir müssen mit dieser Möglichkeit rechnen. Aber niemand von uns sollte sich gestatten, dass ihn die Furcht regiert und er zum Schaden aller seine innere Stabilität verliert!« Fromme Worte, dachte Ovayran bei sich. Wir werden sehen, wie weit uns dieser Zweckoptimismus trägt … Auf dem Panoramaschirm war deutlich erkennbar, wie rasch das
Phantomschiff aufholte. Wieder war es nur als Markierung zu erkennen. Seine eigentliche Gestalt blieb selbst im Infrarotlicht unsichtbar. Die Abschirmung schien nahezu perfekt. Das Einzige, was bisher einen ungefähren Eindruck der räumlichen Ausdehnung gegeben hatte, war die Anordnung der tellerartigen Module an der Außenhaut der Perle gewesen. Aber dieser Hinweis mochte trügerisch sein und zu falschen Schlüssen verlocken. Wer konnte schon ausschließen, dass das Phantomschiff nicht vielleicht lediglich einen zum Entern von Chardhin-Perlen geeigneten Fortsatz mit der Außenhülle in Berührung gebracht hatte und das eigentliche Schiff weitaus größere Ausmaße hatte. Der hohen Zahl an Robotern nach zu urteilen, die bei dieser Invasion zum Einsatz gekommen waren, konnte man diesen Schluss beinahe als wahrscheinlich ziehen. »Die Beschleunigungswerte des Phantoms übersteigen die unseren um ein Vielfaches!«, stellte Sharenayn fest. »Sie werden uns in Kürze einholen.« Dambiayn stellte eine Konferenz-Verbindung zu allen Schiffen her. »Hier spricht der Stellvertreter des Perlenweisesten. An alle Schiffe! Das Phantom folgt uns, und wenn es seinem Kurs treu bleibt, wird es uns den Weg abschneiden. Jede Schiffsbesatzung muss jetzt um ihr eigenes Überleben kämpfen, auf dass wenigstens einer der goldenen Kugeln die Flucht gelinge und ihre Besatzung von dem berichten kann, was hier geschah! Schon deswegen müsst ihr alles daransetzen zu überleben. Ihr dürft nicht nach hinten schauen. Seht nicht auf das, was mit den anderen geschieht, sondern versucht einfach nur, eure Existenz zu bewahren. Schon ein einziger Zeuge dieses Geschehens, der die Perle einer anderen Galaxis erreicht, kann vielleicht das Netz vor weiteren Katastrophen bewahren. Also lasst euch nicht in die Agonie des Vergessens sinken, gebt nicht auf, in der Annahme, es sei ohnehin alles vergebens. Und glaubt nicht, dass die Permanenz der Chardhin-Perle uns davor bewahrt, darum kämpfen zu müssen.«
Eine Pause entstand. Auf dem Schirm hatten sich viele autarke Bildfelder geöffnet. Neun an der Zahl. Jedes von ihnen zeigte das Gesicht eines Schiffskommandanten. Werroayn, der Befehlshaber der RUHM DER ERBAUER, ergriff das Wort. Er wandte sich an Dambiayn. »Löst den Traktorstrahl!«, forderte er. »Lasst uns zurück, dann vergrößert ihr eure Fluchtchance!« »Nein!«, widersprach der Stellvertreter des Perlenweisesten. »Das kommt nicht in Frage! Wir werden die RUHM DER ERBAUER keinesfalls opfern!« »Die Worte, die du uns gerade übersandt hast, waren weise und vernünftig. Sie waren dem Rang eines Perlenweisesten und seinem sprichwörtlichen Grad an persönlicher Stabilität würdig – und sie legen genau die Handlungsweise nahe, von der ich sprach!« »Nein!«, beharrte Dambiayn. Alles in ihm sträubte sich, eine Entscheidung zu treffen, die das unweigerliche Ende aller Gloriden bedeutete, die sich auf dieses Schiff hatten retten können. Es gab keine Möglichkeit, diese noch schnell genug an Bord zu evakuieren – weder durch ein direktes Andocken, noch durch die Ausschleusung der Beiboote. Beide Manöver waren im Übrigen auch nicht ohne Risiko, solange sie sich im Einflussbereich des gewaltigen Schwarzen Lochs befanden. Werroayn brachte nun sein stärkstes Argument vor. Er sagte: »Wir haben an Bord der RUHM DER ERBAUER einen Großen Konsens in dieser Frage gefunden. Willst du tatsächlich derjenige sein, der diesen Konsens mit dem Recht der Entscheidung überstimmt, das einem amtierenden Perlenweisesten gebührt?« Schweigen folgte. Dambiayn war froh, von den nonverbalen elektromagnetischen Begleitsignalen, die von Werroayn und den anderen Diensthabenden in der Zentrale des im Schlepp befindlichen Schiffes stammten, nur einen Bruchteil über die Kommunikationsanlage geliefert zu bekommen. Aber dieses wenige, dieses schwache Emotionsrauschen
genügte schon, um ihm deutlich zu machen, wie entschlossen die Besatzung der RUHM DER ERBAUER war. Sie waren bereit, sich zu opfern. Die Frage ist nur, ob ihr Opfer den anderen Schiffen tatsächlich etwas nützen würde!, ging es Ovayran durch den Sinn. Er verfolgte über seine Anzeigen genauestens die Flugbahn des Phantomschiffs, die nur anhand seiner typischen Energiesignatur festzustellen war. Manchmal wurde diese Signatur kurzzeitig durch andere Impulse überdeckt, die mit der Materie verschlingenden Gier des Schwarzen Lochs zu tun hatten, das ständig weitere Masse in sich einsog. Derzeit hatte das Black Hole im Zentrum der Milchstraße nicht genügend »Brennstoff«, um einen regelrechten Jet Stream zu bilden, der als kosmische Fackel über Milliarden von Lichtjahren sichtbar war. Das Schiff, aus dem die Roboter gekommen waren, war erstaunlicherweise einen Bogen geflogen und dabei noch tiefer in die Todeszone eingetaucht, ohne dass es ein Opfer der mörderischen g-Kräfte jenes Monstrums geworden war. Jetzt schnitt es dem schnellsten der goldenen Schiffe den Weg ab. Es war die GOLDENE INSEL. Das Phantomschiff eröffnete sofort das Feuer. Blassrosa Geschosse zuckten aus dem Nichts heraus. Sie blitzten auf, sobald sie die unsichtbaren Geschützmündungen des Phantomschiffs verließen, und rasten auf die Außenhaut der GOLDENE INSEL zu. Deren Besatzung versuchte ein Ausweichmanöver. Unter diesen Bedingungen ein riskantes Unterfangen. Das Schiff geriet ins Trudeln. Die fluoreszierend leuchtenden Geschosse verfolgten die GOLDENE INSEL und drangen wenig später durch deren Außenhaut, als gäbe es keinen Widerstand. Augenblicke darauf kam es zu gewaltigen Explosionen an Bord des Raumers. Ganze Stücke platzten aus den Außenwandungen heraus, wurden als glühende Trümmer durch den Raum geschleudert, ehe sie plötzlich die Bahn abbremsten und zurückstürzten – fast so, als würde ein primitiver 3D-Film rückwärts laufen.
Aber es waren nicht die unkalkulierbaren Relativitätseffekte dieser Todeszone, die jene Erscheinungen verursachten, sondern schlicht und ergreifend die enorme Anziehungskraft des Schwarzen Lochs, das auch die Trümmer unaufhaltsam in sich hineinzog. Weitere Teilsektionen der GOLDENE INSEL brachen aus dem Schiff heraus. Verstümmelte Notrufe erreichten die anderen Schiffe, die kaum etwas tun konnten, um den Gloriden an Bord noch zu helfen. Ein anderes Schiff, die NACHTSTERN, eröffnete ihrerseits das Feuer, deckte das nach wie vor gut getarnte Phantomschiff mit einem Bombardement aus Energiefeuer und grellweißen Torpedos ein. Aber das Schiff der Invasoren war außerordentlich wendig. Zunächst einmal wurde die schwache Energiesignatur völlig durch die Explosionen und die damit einhergehenden elektromagnetischen Effekte überdeckt. Für eine ganze Reihe von Mimimalzeitquanten war das Phantom nun vollkommen unortbar. Weitere Schiffe der Gloriden beteiligten sich an dem Gefecht. Die Wut schien mit dem einen oder anderen Schiffskommandanten – trotz der durchgehend guten Werte, was die persönliche Stabilität anging – durchzugehen. Wut über das Massaker, das mit dem Ende der GOLDENE INSEL Fakt geworden war. Dieses Maß an Rücksichtslosigkeit und Brutalität war den Gloriden unbekannt. In all den Äonen, in denen sie nun schon den Auftrag der Erbauer nach bestem Vermögen ausführten, hatten sie so etwas nicht erlebt. Sonst hätte es zweifellos Eingang in die ansonsten sehr detailreichen Überlieferungen gefunden. Aber das war nicht der Fall. Das Feuerwerk war wenig später vorbei. Dambiayn gab den Befehl, alle Kampfhandlungen zunächst wieder einzustellen. Es hatte keinen Sinn, auf etwas zu schießen, von dem man nicht wusste, wo es war. Erneut wiederholte er dann seinen Befehl, dass jedes Schiff sein Heil in möglichst rascher Flucht zu suchen hatte. Dann wurden erneut die typischen Signaturen des Phantoms geor-
tet. Es war dem Beschuss durch die Gloridenschiffe zweifellos entgangen und holte zu einem Schlag gegen die nächste goldene Kugel aus, die beinahe schon den Ereignishorizont erreicht hatte. Ob das eine Grenze war, die in diesem bizarren Kampf eine Rolle spielte und vielleicht sogar so etwas wie vorläufige Rettung bedeutete, war weiter unklar. Niemand wusste schließlich, welche Möglichkeiten den Invasoren im Normalraum zur Verfügung standen. Das Phantomschiff feuerte erneut seine blassrosafarbenen Torpedos ab, während sich der Gloridenraumer mit Energiesalven wehrte. Das Feuer des Gloridenschiffs vermochte das Phantom jedoch nicht zu treffen. Hier und da glaubte Ovayran anhand von energetischen Wechselwirkungen erkennen zu können, dass das unsichtbare Raumschiff der Invasoren doch einen Treffer hatte hinnehmen müssen. Letztlich lag das jedoch im Bereich der Spekulation. Man konnte nur sagen, dass dort etwas war. Aber nicht genau, was – von der räumlichen Ausdehnung ganz abgesehen. Hingegen feuerten die unsichtbaren Geschütze des Phantoms weitere Torpedos ab, die zielsicher ihren Weg fanden. Beinahe gleichzeitig wurden zwei Gloridenschiffe getroffen. Sie zerbarsten regelrecht und schufen für einen winzigen Augenblick mitten in der finsteren Dunkelzone im Nahbereich um das Schwarze Loch kleine Leuchtfeuer. Die goldenen Schiffe änderten jetzt ihre Taktik. Die Flugbewegungen wurden zum Teil chaotisch – und das mit Absicht. Ähnliche Überlebensstrategien verfolgen zahllose Fluginsekten auf Tausenden von Planeten, die ihren viel größeren und stärkeren Feinden dadurch entgingen, dass sie mitten im Flug scheinbar abstruse Kurswechsel und Manöver ausführten. Sie können sich nicht auf alle goldenen Schiffe zugleich konzentrieren!, durchfuhr es Ovayran. Vielleicht eröffnete dieser Umstand wenigstens einigen wenigen Schiffen die Möglichkeit zur Flucht. Aber je weiter die Zeit voranschritt, desto mehr schrumpfte diese Hoffnung auf ein Minimum zusammen. Zwei explodierende Gloridenschiffe sorgten für ein grelles Aufleuchten zweier Glutbälle. Dann war da nichts mehr. Nichts als Trümmer, die dem schwar-
zen Schlund entgegentrieben. »Kurs vom Zufallsgenerator eingeben lassen!«, befahl Dambiayn. »Nur Flugbahnen mit einem Vernichtungsrisiko von mehr als siebzig Prozent ausschließen lassen!« Ovayran führte diesen Befehl als zuständiger Pilot aus. Der Kurs der KLEINE PERLE wurde jetzt sprunghaft und im wahrsten Sinne des Wortes unberechenbar. Vielleicht die einzige Taktik, die die Gloriden im Augenblick erfolgreich gegen die Invasoren einsetzen konnten. Die Torpedos der Fremden hatten ihre Mühe, den Weg zu ihrer Beute zu finden. Im ersten Augenblick schien die neue Methode erfolgreich zu sein. Die RUHM DER ERBAUER blieb die ganze Zeit über im Schlepptau der KLEINE PERLE. Auf eine erneue Anfrage Werroayns hin, ob es nicht besser sei, die RUHM DER ERBAUER doch abzukoppeln, reagierte Dambiayn ziemlich grob. Nein!, stellte er klar. Er wollte so viele Gloriden retten wie möglich. Das Zurücklassen eines Schiffes kam unter normalen Umständen für ihn nicht in Frage. Aber hatte dasselbe nicht in noch viel weitreichendem Maß für die Eroberung der Perle gegolten? Auch das waren Überlegungen, um die sich niemand mehr zu scheren schien. Erneut verwandelte sich ein gloridisches Schiff für wenige Minimalzeitquanten in eine kleine, im Zeitraffer sterbende Sonne. Das Schiff fiel in einer Implosion regelrecht in sich zusammen, nachdem es einem bisher noch unbekannten, bläulich schimmernden Torpedo der Angreifer ausgesetzt war. Im Gegensatz zu den blassrosa Geschossen bewegten sich die blauen auf teilweise chaotisch wirkenden Bahnen. Aber sie waren gegen die golden schimmernden Außenwandungen der Gloridenschiffe offenbar noch wirksamer. Meist reichte ein einziger Treffer, um das betreffende Schiff zu vernichten. Einer der Raumer, dessen Name LICHT DER FINSTERNIS lautete, musste nur einen leichten Treffer in der unteren Polregion einstecken. Das Raumschiff wurde daraufhin sofort manövrierunfähig.
Die Triebwerke fielen aus und schafften es nicht mehr, die LICHT DER FINSTERNIS auf einer einigermaßen stabilen Flugbahn in der Nähe des Ereignishorizonts zu halten. Das Raumschiff stürzte ins Nichts – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Hilflos taumelte es auf den dunklen Schlund zu, der alles verschlang, was man ihm in den Rachen warf. Das Phantomschiff wiederum war so wendig und schnell, dass es den Gloriden einfach nicht gelingen wollte, es punktgenau unter Beschuss zu nehmen und womöglich zu vernichten. Und die nahezu perfekte Tarnung des Unbekannten trug ein Übriges dazu bei, die Verteidigung der Goldenen Schiffe zu erschweren. »Wir werden gleich den Ereignishorizont passieren«, meldete Sharenayn. »Wenigstens haben wir dann freien Blick auf die Sterne«, hauchte Dambiayn.
Eine Erschütterung durchlief die KLEINE PERLE. Die Gloriden, die ihren Dienst in der Zentrale verrichteten, mussten sich an ihren Konsolen festhalten. Derart heftige Turbulenzen waren im Flugbetrieb der Goldenen Schiffe eigentlich gar nicht vorgesehen. Unter normalen Umständen kam so etwas auch nicht vor. Es gab kaum Waffen, die den gloridischen Schiffen gefährlich werden konnten, und was die Gewalten des Kosmos anging, so war ein Schiff, das den Kräften eines zentralgalaktischen Schwarzen Lochs zu trotzen vermochte, wohl auch für die meisten anderen Gefahren gerüstet. Die Waffen der Invasoren jedoch hatten sich bislang als äußerst effektiv erwiesen. Einfach, aber wirksam. »Schwere Treffer auf der RUHM DER ERBAUER!«, meldete Sharenayn. »Bei uns gibt es Treffer in der Sektion des Traktorstrahlprojektors.« Die Waffensysteme der KLEINE PERLE waren unter direkter Kontrolle Dambiayns, der sofort für breit gefächertes Gegenfeuer sorgte. Aber die geschickten Ausweichmanöver des unsichtbaren Gegners
sorgten dafür, dass davon das meiste völlig wirkungslos verpuffte. Ob diese Resistenz gegen die gloridischen Waffensysteme vielleicht auch etwas mit einer besonders widerstandsfähigen Panzerung zu tun hatte, konnte bislang nicht bestimmt werden. Fest stand nur, dass keinerlei Energiesignaturen angemessen worden waren, die auf einen Schutzschirm hinwiesen. »Der Traktorstrahl hat nur noch eine Leistungsstärke von achtzig Prozent und steht kurz davor, abzureißen«, meldete Sharenavn. »Wir haben nur die Alternativen, Energie aus den Waffensystemen abzuziehen oder die RUHM DER ERBAUER ihrem Schicksal zu überlassen.« Eine Entscheidung, um die Dambiayn niemand an Bord beneidete. Eine neuerliche schwere Erschütterung durchlief jetzt die KLEINE PERLE. Es gab weitere Treffer. Die Außenhülle war an einer Stelle durchschlagen worden. Eine Sektion musste mit Hilfe von Eindämmfeldern abgeschottet werden, außerdem riss die Schleppverbindung zur RUHM DER ERBAUER tatsächlich, die daraufhin ins Nichts trudelte. Der unbekannte Feind hatte Dambiayn die Entscheidung, die RUHM DER ERBAUER betreffend, auf furchtbare Weise abgenommen. Für die Gloriden dort an Bord konnten sie jetzt nichts mehr tun. »Maximale Beschleunigung, und sämtliche Energieressourcen in den Antrieb!«, lautete der Befehl des stellvertretenden Perlenweisesten. Ein Befehl, der Dambiayn das Äußerste an seelischer Stabilität abverlangte. Die KLEINE PERLE schoss aus der Dunkelzone um das Black Hole heraus. Unzählige Sterne leuchteten auf dem Panoramaschirm des Schiffes, der im Wesentlichen das wiedergab, was die optischen Sensoren des Schiffs aufzeichneten. Alle Diensthabenden fokussierten in diesen Momenten ihre Aufmerksamkeit auf die Frage, ob ihnen jemand gefolgt war. Und noch erfüllte sie die Hoffnung, dass es vielleicht doch noch eines der anderen goldenen Schiffe geschafft haben könnte, die Todeszone zu verlassen.
Ein dunkler Ozean aus purer Finsternis verdeckte einen Großteil der Sterne. Umringt war er von gleißendem Licht, denn im galaktischen Zentrum war die Sternendichte extrem hoch. Aber nichts gelangte aus der Dunklen Zone heraus. Offenbar hatte das Phantomschiff der Invasoren unbarmherzig zugeschlagen … »Wir müssen damit rechnen, dass sie alle umgekommen sind«, stellte Mantayan fest. »Auch wenn es schwer fällt, die Hoffnung aufzugeben.« »Wir können froh sein, uns selbst gerettet zu haben«, erwiderte Dambiayn. Sein Gesicht, das ansonsten eher durch weiche, gleichmütig und androgyn wirkende Züge gekennzeichnet war, zeigte jetzt ein paar für einen Gloriden sehr harte Linien. »In uns allen wird sich das Geschehene unauslöschlich einbrennen«, fuhr er schließlich nach längerem Schweigen fort. »Wenn wir uns später daran erinnern, wird es für jeden von uns ein Davor und ein Danach geben. Es ist unfassbar, was geschehen ist. Und wer weiß, vielleicht ist das erst der Auftakt zu Dingen, die uns an unsere schlimmsten Sünden erinnern …« »Es wundert mich, wie ruhig es hier manche hinnehmen, dass wir nichts für unsere Schwesterbrüder tun können«, bekannte Mantayan. »Aber es würde mich nicht wundern, wenn diejenigen, die ihren hohen Stabilitätsfaktor wie einen Orden vor sich hertragen, in Wahrheit schon erfolgreich damit begonnen haben, die Gefahr, die sich da manifestiert hat, aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen.« »Deine Worte befremden mich«, stellte Dambiayn fest. »Mich befremdet schon seit langem so manches, was uns Gloriden und unser Leben als Lichtgestalten in goldenen Kugeln am Rand des Abgrunds angeht. Mich befremdet, wie der seit Großzeitquanten anhaltende Verfall unserer Sitten hingenommen wird, ohne dass irgendjemand sich daran stört. Es befremdet mich, dass einfach hingenommen wird, dass die namenlosen Erbauer uns eine Aufgabe diktiert haben sollen – und wir nicht in der Lage sind, deren Sinn zu erkennen, geschweige denn, ihn in Frage zu stellen. Was unterscheidet uns denn von abgerichteten Haustieren, die auf mancher Primitivwelt für den Ackerbau oder zum Tragen schwerer Lasten benutzt
werden? Nichts. Außer vielleicht der Stabilitätsfaktor …« »… der bei dir tatsächlich nicht sehr stark ausgeprägt zu sein scheint, wie dein unbeherrschtes Auftreten beweist«, schnitt Dambiayn ihm das Wort ab. Das begleitende Signalrauschen machte überdeutlich, welche Emotionen gerade auch in dem amtierenden Perlenweisesten aufkochten. Selbst sein hoher Stabilitätsfaktor konnte dies offenbar nicht verhindern. Zeige Stärke und Stabilität!, versuchte Mantayan sich selbst zu disziplinieren. Die Panik ist ein Flächenbrand. So lautete ein Lehrsatz, den er sich in kritischen Situationen immer wieder vergegenwärtigte. Was denn für kritische Situationen?, meldete sich eine fast sarkastische Stimme in ihm. Dies ist doch die erste wirkliche Krise, die du erlebst. Und dasselbe gilt ja wohl auch für alle anderen Gloriden, die diesen Weg mit dir gegangen sind, weil sie aus ihrer Heimat-Perle verjagt wurden.
Die KLEINE PERLE erreichte ein namenloses Sonnensystem, in dem drei Gasriesen von zwanzigfacher Jupitergröße eine blaue Riesensonne auf gegeneinander geneigten und reichlich exzentrischen Bahnen umkreisten. Einer dieser Gasriesen umlief die Sonne in einer vertikalen Bahn. Seine Masse lag knapp unterhalb jener kritischen Größe, bei der ein eigenständiger Fusionsprozess wie im Inneren einer Sonne begann. Weitere Planeten hatten sich in diesem System nicht bilden können. Die drei exzentrischen Riesen schienen den Großteil der freien Materie, der die blaue Sonne vor Milliarden von Großzeitquanten umschwirrt hatte, zu sich herangezogen zu haben. Monde besaß keiner dieser Gasriesen. Ihre Eigenrotation war mörderisch hoch. Ihre Umlaufgeschwindigkeiten um ihr Zentralgestirn machten aus ihnen gewaltige Geschosse, die mit ihrer Gravitationskraft den umliegenden Raum leer fegten. Ihre planetare Existenz würde noch kürzer sein als das überhitzte, schnelle Leben ihrer Sonne, das noch nicht einmal ein Zehntel der
Existenzspanne eines gelben Normalsterns betrug. Die Planeten wurden nur dank der ungeheuer hohen Umlaufgeschwindigkeit davor bewahrt, in ihre Sonne zu stürzen. Diese Geschwindigkeit würde sich im Lauf der Zeit zusehends verlangsamen. Doch noch bevor die kritische Grenze erreicht war, würde sich der blaue Stern in eine Supernova verwandeln. Die KLEINE PERLE steuerte dieses, nur etwa 1,5 Lichtjahre vom Ereignishorizont des zentralgalaktischen Black Holes entfernte System an. Messungen ergaben, dass es sich mit wachsender Geschwindigkeit auf den Moloch im Zentrum der Milchstraße zubewegte. Unaufhaltsam. Die blaue Sonne stand bereits ganz am Ende der für Sterne ihres Typs und ihrer Masse durchschnittlichen Lebenserwartung, und eigentlich hätte man jederzeit mit einer Nova-Explosion rechnen können. Aber noch wahrscheinlicher war, dass sie vorher und zwar noch im Verlauf des laufenden Großzeitquantums über die Grenze ins Reich der ewigen Nacht gezogen und verschlungen werden würde. Dambiayn hatte den Befehl erteilt, hierher zu fliegen, weil er hoffte, Schutz vor Entdeckung zu finden. Denn noch immer konnte man nicht ausschließen, dass der Invasor ihnen folgte. Die Ortungssysteme der KLEINE PERLE wurden zu einem Großteil ihrer Kapazität ständig auf die Austrittsregion des Ereignishorizontes gerichtet. Bislang war die schwache, aber nichtsdestotrotz sehr typische und daher eindeutig identifizierbare Energiesignatur des Phantomschiffs nicht gefunden worden. Aber für Dambiayn war dies kein Grund zur Beruhigung. Ovayran steuerte die KLEINE PERLE auf den größten der drei Gasriesen zu. Es war eine Methanwelt, auf der schier unvorstellbare Druckverhältnisse herrschten. Die hohe Umdrehungsgeschwindigkeit sorgte für atmosphärische Turbulenzen, und so entstanden Stürme mit Extremgeschwindigkeiten. Ovayran machte den Vorschlag, diesen Sturmriesen als Zuflucht und Ortungsschutz zu nutzen. Erstens befand er sich gerade auf der
dem zentralgalaktischen Schwarzen Loch abgewandten Seite des blauen Sterns, und zweitens erwog Ovayran als zusätzliche Maßnahme, mit der KLEINE PERLE in die dichte Atmosphäre des Methanriesen zu steuern. Der Bordrechner stellte eine günstige Prognose und schätzte den dadurch gewonnenen Ortungsschutz als sehr hoch ein. Dambiayn zweifelte noch. »Ich frage mich, ob nicht eine rasche Flucht die bessere Alternative wäre«, sagte er. »Du fragst dich? Du bist nicht von deinem Tun überzeugt?«, erwiderte Mantayan. Signale, die eine deutlich angespannte Seelenverfassung spüren ließen, gingen von ihm aus. Dambiayn hatte schon kurzzeitig damit geliebäugelt, ihn um einer größeren psychischen Stabilität der Gruppe willen von der Brücke der KLEINE PERLE zu verbannen und seinen Posten durch jemand anderes zu ersetzen. Andererseits konnten gerade die Erfahrungen eines so weit gereisten Gloriden wie Mantayan noch von existenzieller Bedeutung sein. Mantayan fuhr indessen fort: »Du denkst doch nicht wirklich daran, andere in die Entscheidungsfindung einzubeziehen und einen Konsens anzustreben. Also triff deine Entscheidung, und wir alle können nur hoffen, dass wir die Folgen überleben.« Dambiayn beachtete diesen Ausbruch Mantayans nicht weiter. Er wandte sich an Ovayran. »Trage deine Argumentation vor«, forderte er ihn auf. »Wir müssen damit rechnen, dass uns das Phantom folgt«, begann Ovayran. »Gegenwärtig ist es vielleicht noch damit beschäftigt, unsere letzten überlebenden Schwesterbrüder zu vernichten, aber ihre Technik ist derart hoch entwickelt, dass es wahrscheinlich keine schnelle Flucht vor ihnen gibt. Sie werden uns früher oder später überallhin folgen und unsere Spur aufnehmen.« »Und was brächte dann eine Flucht in diese Methanhölle?« »Wir müssen für eine Weile einfach verschwinden. Uns tot stellen, bis der Feind die Suche aufgegeben hat – falls er überhaupt noch einen Anhaltspunkt findet, um sie aufzunehmen.«
Sharenayn, der Vertraute des vormaligen und inzwischen sicherlich im Zustand der Nicht-Existenz befindlichen Perlenweisesten, meldete sich zu Wort. »Wir wissen nur, dass das Phantomschiff offenbar innerhalb der dunklen Zone um das Schwarze Loch herum manövrieren kann. Aber über welche Fähigkeiten es außerhalb dieser Zone verfügt, ist reine Spekulation. Meiner Ansicht nach sollten wir maximal beschleunigen und sehen, dass wir so viele Lichtjahre wie nur irgend möglich zwischen uns und den Feind bringen.« Dambiayn sandte Signale aus, die vermuten ließen, dass er durchaus einiges für die Argumentationslinie Sharenayns übrig hatte. Aber noch hatte er sich nicht entschieden. »Auf jeden Fall dürfte es unmöglich sein, einen großen Konsens herzustellen«, erklärte Ovayran. »Die verschiedenen Standpunkte haben dies überdeutlich gemacht – und davon abgesehen, dürfte es an Bord der KLEINE PERLE noch weitaus mehr Meinungen zur Sache geben, sodass der Entscheidungsprozess letztlich viel zu lange dauern würde.« »Dann forderst du mich zur Entscheidung auf?«, vergewisserte sich Dambiayn. Ovayran sandte zustimmende Signale. »Zumindest in diesem Punkt bin ich mir mit Mantayan einig«, erklärte er, wandte den Kopf in Mantayans Richtung und fügte anschließend noch in gedämpftem Tonfall und mit regungslosem Gesicht hinzu: »Auch wenn uns ansonsten argumentativ einiges trennt – aber dies war schon bei unseren letzten Begegnungen der Fall, und ich möchte das eigentlich nicht vertiefen.« Mantayan antwortete nicht. Sein Gesicht wirkte maskenhaft. Eine demonstrativ zur Schau gestellte innere Stabilität, die nur dem Zweck diente, zu verdecken, was wirklich in ihm vorging. Zumindest war dies Ovayrans Einschätzung. Er kannte Mantayan schließlich lange genug, um dies beurteilen zu können. Dambiayn traf seine Entscheidung, nachdem die Umgebung noch einmal gründlich abgetastet worden war. »Wir fliegen in die Methanhölle!«, machte er unmissverständlich
deutlich.
Der blaue Stern füllte den gesamten Hintergrund des Panoramaschirms der KLEINE PERLE aus. Das Blau changierte manchmal leicht, wirkte an manchen Stellen beinahe weiß. Selbst auf diese große Entfernung waren bereits die Eruptionen zu erkennen, die gigantische Mengen an heißen Gasen emporschleuderten. Welch ein Glutofen!, dachte Ovayran. Aber gegen die Gewalten des Schwarzen Lochs, um dessen Gravitationszentrum sich eine Galaxie drehte, war dies ein Nichts. Der Methanriese tauchte auf. Gegenüber seinem Zentralgestirn wirkte er wie ein Zwerg. Die infernalischen Stürme, die die selbst in den obersten Schichten noch überaus dichte Atmosphäre durcheinander wirbelten, waren aus dem All deutlich zu sehen. Dazwischen gab es ruhige Zonen in den Zentren der Stürme. Manche von ihnen hätten mühelos kleinere Planeten verschlucken können. Die atmosphärischen Turbulenzen sorgten für gewaltige elektrische Entladungen. Blitze von unvorstellbarer Gewalt zuckten durch die Wolken aus Ammoniak und verschiedenen Schwefelverbindungen, die sich zu riesigen Gebirgen auftürmten. Die Ortungsergebnisse wurden mit der sich verringernden Distanz zwischen der KLEINE PERLE und ihrem Zielplaneten genauer. Es gelang Sharenayn mit Hilfe der Sensoren immer tiefer in die dichte Atmosphäre der Methanhölle vorzudringen. Die Temperaturen waren durchweg extrem hoch. Ein fester Kern aus schweren Elementen befand sich im Planeteninneren. Er bestand etwa zur einen Hälfte aus Eisen und Eisenverbindungen und zur anderen aus Elementen wie Wolfram, Blei, Uran und Kobalt. Dieser magnetisch sehr aktive, stark radioaktive Kern wurde ummantelt von einem Ozean, der zu einem hohen Anteil aus Ammoniak sowie Wasser und darin gelösten Schwefelverbindungen bestand. Die Temperaturen an sich waren viel zu hoch, um eine flüssige Form zu erhalten. Dafür sorgte der ungeheure Druck, mit dem
die Gasmassen auf den bizarren Ozean drückten. Selbst in den obersten Atmosphäreschichten war er weitaus höher als er es in den tiefsten Ozeanspalten eines typischen Sauerstoffplaneten gewesen wäre. Die KLEINE PERLE tauchte in einem flachen Winkel in die Stratosphäre der Methanhölle ein. Der Bremseffekt war enorm. Aber die Andruckneutralisatoren des Gloridenschiffs sorgten dafür, dass die Besatzung davon kaum etwas merkte – abgesehen von einem leichten Ruckeln und hin und wieder dem Gefühl eines eigenartigen Sogs, das aber abebbte, sobald sich die Schiffssysteme auf die Verhältnisse eingestellt hatten. Ovayran veränderte den Eintrittswinkel nach und nach. Die KLEINE PERLE sank tiefer in die Methanatmosphäre. In den obersten Schichten der Stratosphäre wurden hohe Anteile von Ozon und Kohlendioxid gemessen. Hier gab es kaum elektrische Entladungen, doch tief unten brodelte es in dichten Wolkengebirgen aus Ammoniak, Wasser und Schwefelwasserstoff. Blitze zuckten. Dicke Regentropfen aus Schwefelsäure quälten sich durch die dichten Gase und kondensierten schon bald wieder, ohne je die Oberfläche eines Ozeans oder Bodens zu erreichen. Das mehrpolige Magnetfeld des Planeten sowie die heftigen elektromagnetischen Entladungen in der Atmosphäre wirkten sich fatal auf die Ortung aus. Die Sensoren arbeiteten nicht wie gewohnt. Insbesondere die Fernortung wurde in Mitleidenschaft gezogen. »Das müssen wir in Kauf nehmen«, erklärte Dambiayn. »Es wäre gut, wenn wir so viele Systeme wie irgend möglich abschalten könnten«, sagte Ovayran. »Alles, was verzichtbar ist, falls der Feind uns doch gefolgt ist. Es wäre gut, wenn er uns wenigstens nicht an einer für uns charakteristischen Energiesignatur lokalisiert.« »Ich bekomme hier ein paar eigenartige Anzeigen herein«, meldete sich Sharenayn irgendwann, nachdem die KLEINE PERLE bereits die erste Schicht aus Ammoniakwolken durchflogen hatte. Ovayran hatte keine Möglichkeit, die Ortungsdaten selbst zu ver-
folgen, da er sich voll und ganz auf die Pilotenfunktion zu konzentrieren hatte. So gut es ging, wich er mit der KLEINE PERLE den mörderischen Gewitterstürmen aus. Es war zwar nicht anzunehmen, dass die Entladungen eine unmittelbare Gefahr für das Schiff bedeuteten, aber der Schaden war schon groß genug, wenn nur irgendeine kleine Systemkomponente in Mitleidenschaft gezogen wurde. Und das wollte niemand an Bord riskieren. »Versuche die Werte zu interpretieren«, forderte Dambiayn von Sharenayn. »Der Bordrechner gibt meiner Interpretation nur eine Wahrscheinlichkeit von 24 Prozent«, erwiderte Sharenayn. »Ich weiß nicht, ob uns meine Vermutung damit wirklich weiterhilft.« »Schaden kann es jedenfalls auch nicht.« »Also gut«, sagte Sharenayn. »Das Objekt, das ich da geortet habe, müsste in etwa kugelförmig sein und den Durchmesser eines kleinen Mondes besitzen. Es besteht überwiegend aus erzhaltigem Gestein und dreht sich um die eigene Achse. Fünfzehn Mal innerhalb eines Planetentages auf dieser Methanhölle. Ich würde auf einen Trabanten tippen.« »Innerhalb der Atmosphäre?«, wunderte sich Ovayran. »Warum nicht?«, entgegnete Sharenayn. »Es spricht physikalisch nichts dagegen, dass ein oder mehrere Trabanten ihre Bahnen innerhalb der Atmosphäre des Methanriesen ziehen. Dazu würde auch passen, dass sich die Bahn dieses Objekts geostationär mit der planetaren Umdrehung harmonisiert hat.« »Gibt es weitere derartige Objekte?«, fragte Dambiayn nachdenklich. Sharenayn sandte einige Signale der Verneinung, überprüfte aber sicherheitshalber noch einmal die Ortungssysteme. »Es scheint nichts Vergleichbares vorhanden zu sein.« »Ist eine Landung auf diesem … Mond möglich?«, erkundigte sich nun Ovayran. »Möglich, aber sehr schwierig«, sagte Sharenayn. »Die atmosphärischen Winde, die auf dem Methanriesen toben, werden wahr-
scheinlich alles von der Oberfläche dieses Mondes fortreißen.« »Wenn wir auf der Oberfläche dieses Mondes landen und die KLEINE PERLE dort fixieren könnten, würde uns das erlauben, sämtliche Antriebssysteme zu deaktivieren«, präzisierte Ovayran seinen Vorschlag. »Das würde die Wahrscheinlichkeit einer Ortung durch unseren Verfolger minimieren.« »Wäre es nicht auch möglich, wenn wir uns einfach in der Atmosphäre treiben ließen?«, fragte Dambiayn. »Die Risiken wären ungleich höher«, entgegnete Ovayran. »Wir müssten die Systeme immer auf einem Level aktiviert halten, das uns im Notfall erlaubt, sehr schnell zu reagieren. Die Wetterverhältnisse sind auf dieser Methanwelt ja ziemlich unberechenbar …« »Dann versuche eine Landung«, stimmte Dambiayn schließlich zu. Der Panoramaschirm der Zentrale der KLEINE PERLE zeigte jetzt eine simulierte Gesamtansicht des mondgroßen Objekts. Noch war es auf Grund der ungeheuer dichten Atmosphäre nicht wirklich zu sehen. Für die optischen Instrumente des Raumschiffs glich der Blick nach außen der Sicht durch dickes Glas. Dicke Schwaden aus bräunlichen bis gelblichen Gasen umwaberten die KLEINE PERLE. Gegenwärtig herrschte relativ ruhiges Wetter in der Region um den mutmaßlichen Mond. Auf den meisten von höheren Lebensformen bewohnten Welten hätte man dieses für hiesige Verhältnisse wohl »ruhige« Wetter immer noch als mittleren Orkan bezeichnet. Die KLEINE PERLE näherte sich dem Objekt, das sich tatsächlich als ein innerhalb der Atmosphäre verborgener Mond entpuppte. Der Metallanteil war sehr hoch. Außen hatte sich eine dicke Schicht aus Oxiden gebildet. Vielleicht hatte der Methanriese diesen Brocken vor langer Zeit quasi eingefangen und auf diese enge Umlaufbahn innerhalb seiner eigenen Gashülle gezwungen. Im Laufe der Äonen hatten die unerbittlichen Winde des Methanriesen die Oberfläche des Mondes glatt poliert. Es gab dort keinerlei Erhebung, die die Körperlänge eines Gloriden überstieg, dafür aber einen extrem langen und tiefen Graben auf der dem Planeten zugewandten Mondseite. Möglicherweise stammte er aus der Kollision mit einem
weiteren Materiebrocken. Da sich der Graben auf der ständig dem Planeten zugewandten Seite befand, musste der Mond entweder durch die Kollision mit einem Objekt aus dem All gedreht worden sein, oder er war durch einen anderen, den Methanriesen auf einer exzentrischen Bahn umkreisenden Begleiter getroffen worden. Für unwahrscheinlich hielt Ovayran die Hypothese, dass es auf der Oberfläche einst zu einer Explosion gekommen war, die Bruchstücke von solch gewaltigem Ausmaß bis in diese Höhe geschleudert hatte. Dambiayn gab Anweisung, in die Schlucht zu fliegen und im Inneren des Mondes einen Landeplatz zu suchen. »Falls uns der Feind allerdings dann doch auf die Spur kommt, wird es schwierig, schnell genug wieder zu reagieren«, wandte Ovayran ein. »Je tiefer wir in die Schlucht eindringen, desto geringer werden unsere Möglichkeiten zum Manövrieren. An einen Schnellstart oder ein Ausweichmanöver ist dann nicht mehr zu denken.« »Ein berechtigter Einwand«, gestand Dambiayn zu. Das sagt er nur, um ihn höflich, aber bestimmt in die Kategorie ›braucht nicht berücksichtigt werden‹ zu verbannen!, erkannte Ovayran sofort. Er sollte Recht behalten. Dambiayn fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Die Schlucht ist ein gutes Versteck. Wir werden so tief wie möglich in sie hineinfliegen.« Sharenayn sorgte dafür, dass im Panoramaschirm der KLEINE PERLE eine schematische Darstellung der Schlucht und ihrer höhlenartigen Fortsätze, die sich offenbar über ein relativ großes Gebiet erstreckten und sehr tief in das Innere des verborgenen Mondes hineinragten, eingeblendet wurde. »Wir werden auf Abbrüche achten müssen«, sagte Sharenayn. »Die Gravitationskräfte des Mondes liegen im Widerstreit mit der Anziehungskraft des Methanriesen. Dadurch kommt es in dem geologisch gesehen eigentlich sehr ruhigen Himmelskörper zu enormen mechanischen Spannungen, die durchaus dazu führen könnten, dass unser Schiff unter Massen aus Schutt und Gestein begraben wird.« »Dann möchte ich, dass besonderes Augenmerk auf seismische
Messungen gelegt wird«, bestimmte Dambiayn. Die KLEINE PERLE flog in die tiefe Schlucht, die sich wie eine mehr oder minder gerade Narbe entlang der ansonsten fast makellos glatten Mondoberfläche zog. Sie reichte vom Nordpol weit über den Äquator dieses Himmelskörpers, machte dann einen Bogen und erreichte schließlich das südliche Polgebiet. Wie ein angeschnittener Apfel sah das aus, und vielleicht würde dieser Mond in ferner Zukunft einmal regelrecht zerrissen werden. Die KLEINE PERLE flog einige Kurzlängenquanten nördlich des Äquators entlang. Dann drosselte sie die Geschwindigkeit und drang schließlich an einer besonders breiten Stelle in die Schlucht ein. In den felsigen Wänden hatten sich Unebenheiten und gezackte, hervorspringende Strukturen und Formen halten können, wie sonst nirgends auf diesem Himmelskörper. Hierher konnten die unbarmherzigen Winde des Methanriesen nur bedingt gelangen. Allenfalls schwache Ausläufer der großen, die gesamte planetare Atmosphäre ins Chaos stürzenden Wirbelstürme vermochten hier unten, in diesen Tiefen ihre gestalterische Kraft zu entfalten. Auf der schematischen Darstellung des Schluchten- und Höhlensystems, das für den verborgenen Mond genauso charakteristisch war wie seine glatte Oberfläche und der erstaunlich hohe Anteil an schweren Elementen und Metallen, konnte man den Weg der KLEINE PERLE verfolgen. Dambiayn hatte nach längerer Zeit wieder auf dem Sitz des Kommandanten Platz genommen, auf den ihn zuletzt vor lauter Erregung nichts mehr hatte halten können. Aber jetzt, so glaubte er, war das Überleben der an Bord befindlichen Gloriden fürs Erste gesichert. Er konnte sich beruhigt ein paar Augenblicke der Meditation gönnen. Vor seinem inneren Auge sah er die Bilder, die gleichzeitig auch auf seinen vorderen Hirnlappen projiziert wurden. Die Lichtverhältnisse innerhalb der Schlucht wurden immer schlechter. Schließlich ließ sich Dambiayn nur noch die Infrarotansicht zeigen. Die Systeme der KLEINE PERLE reagierten mit einer Feinheit von mehreren tausendstel Grad. Die dabei entstehenden Infrarotaufnahmen waren selbst bei völliger Dunkelheit so
gestochen scharf, dass dabei allenfalls die geänderte Farbgebung, nicht aber die Bildschärfe irritieren konnte. Ovayran drosselte weiter die Geschwindigkeit. Die hoch entwickelte Steuertechnik in Verbindung mit dem ausgesprochen leistungsfähigen Bordrechner erlaubten es der KLEINE PERLE, bei relativ hoher Geschwindigkeit in die immer enger werdende Schlucht vorzustoßen, den zahllosen Vorsprüngen auszuweichen und schließlich den tiefsten Punkt zu erreichen. Hier stoppte und landete Ovayran das Schiff. »Jetzt werden wir uns in Geduld üben müssen«, sagte Dambiayn.
Die Zeit verlief zunächst quälend langsam. Es wurde die höchste Alarmbereitschaft beibehalten, aber schließlich glaubte Dambiayn, der inzwischen einigermaßen eingespielten Stammbesatzung der Brücke Regenerationszeitquanten zur freien Verfügung oder zur Energieaufnahme geben zu können. Ovayran zog sich in eine der Kabinen des goldenen Schiffes zurück. Er hatte bis dahin gar nicht registriert, wie viel Platz es an Bord gab. Mit kaum zweihundert Gloriden war die KLEINE PERLE gestartet. Mehr hatten sich nicht hinter die makellos wirkende Hülle des Raumschiffs flüchten können. Es war erschreckend. Alle anderen waren den Invasoren zum Opfer gefallen. Ovayran nahm zunächst aus einem Energiespender ein gutes Quantum zu sich. Allerdings allein. Er hatte keinerlei Lust auf Gesellschaft, auch wenn es gemeinhin als asozial galt, wenn man seine Energiezufuhr alleine vollzog. Aber Ovayran hatte jetzt einfach keine Lust auf das Gerede der anderen, auf ihre Ängste und Hoffnungen. Allen voran wollte er Mantayan aus dem Weg gehen, der ihm gewiss unter den Strom reiben würde, dass es besser gewesen wäre, er hätte Galaxis 33.456.667 nie verlassen … Es dauerte eine ganze Weile, bis es Ovayran endlich gelang, sich innerlich von dem Geschehen zu distanzieren und einigermaßen
Ruhe zu finden. Ruhe und Stabilität.
7. Kapitel – Flucht in die Tiefe Ein Alarmsignal störte Ovayrans Regenerationsphase. Es musste etwas geschehen sein, das seine Anwesenheit in der Zentrale der KLEINE PERLE verlangte. Innerhalb eines Minimalzeitquantums begab er sich dorthin, materialisierte direkt vor seiner Konsole. Dambiayn, vormals stellvertretender und jetzt amtierender Perlenweisester, hatte sich bereits auf seinen Platz begeben. Sharenayn war intensiv mit der Konfiguration des Ortungssystems beschäftigt. Mantayan tauchte etwa später auf. Dambiayn hatte für ihn überhaupt keine Konsole vorgesehen, sondern einen Gloriden namens Herryan mit seiner Aufgabe betraut. Allerdings hatte auch Mantayan wie alle anderen das allgemeine Alarmsignal empfangen und war deswegen auf der Brücke aufgetaucht. Dambiayn tolerierte seine Anwesenheit, trotz der mentalen Spannungen, die dies mit sich brachte. Ich kann ihn immer noch wegschicken, dachte er. Es war an Sharenayn, einen kurzen Lagebericht zu geben. »Die Sensoren haben für ein sehr kurzes Zeitquantum eine schwache Signatur registriert. Sie war verstümmelt, aber es könnte sich um das Phantomschiff gehandelt haben. Immerhin nimmt der Bordrechner hierfür eine Wahrscheinlichkeit von über achtzig Prozent an.« »Dann ist es das Phantom«, war Mantayan überzeugt. »Wir müssen hier schleunigst weg, sonst werden uns die Invasoren ebenso unbarmherzig vernichten, wie sie es mit unseren Schwesterbrüdern getan haben.« Sharenayn blieb vollkommen ruhig. Oder mental stabil, wie es in der Terminologie der Gloriden hieß. Er fuhr fort: »Das Signal wurde in einer Entfernung von nur wenigen Lichtminuten geortet. Wenn wir jetzt irgendeine Reaktion – und sei sie auch noch so geringfügig!
– zeigen, wird das Phantom zweifellos auf uns aufmerksam werden.« »Dann bleibt uns also nichts anderes übrig, als hier auf unseren Tod zu warten?«, frage Mantayan. »Vielleicht ist es besser, du verlässt die Zentrale«, sagte Dambiayn. »Weil ich die mentale Stabilität störe? Ist es das? Ihr werdet mental stabil in das Stadium der Nichtexistenz gehen. Genau das wird geschehen – und dann wird es nicht einmal mehr jemanden geben, der die Gloriden in anderen Perlen vor den Invasoren warnen könnte!« Mantayan schickte sich an, seine körperliche Form aufzulösen. »Die Signatur ist wieder aufgetaucht«, meldete jetzt Sharenayn. »Diesmal ist die Distanz geringer. Sie ist außerdem zu etwa fünfundneunzig Prozent erhalten.« Die dichte, von Turbulenzen erfüllte Atmosphäre des Methanriesen würde wohl stets dafür sorgen, dass ein großer Anteil der Sensordaten verloren ging. Dambiayn entschied sich dafür, dass die KLEINE PERLE sich weiterhin tot stellte. Alle nicht mittelbar notwendigen Systeme waren bereits abgeschaltet, um so wenig Energie wie möglich nach außen zu emittieren. Der amtierende Perlenweiseste gab die Anweisung, noch zusätzliche technische Bereiche abzuschalten. Er setzt alles auf eine einzige Option, dachte Ovayran. Das war eine Vorgehensweise, die ihm schon aus Prinzip missfiel. Aber möglicherweise gab es in dieser konkreten Situation keine Alternative. Dambiayn wandte sich an Mantayan und fragte ihn ausdrücklich: »Hast du einen Vorschlag, der eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit für die gegenwärtige Besatzung der KLEINE PERLE beinhaltet?« Mantayans Antwort war Schweigen. Einige unterdrückte Signale gingen von ihm aus, die deutlich machten, wie es in seinem Inneren brodelte. Aber diesmal hütete er sich, etwas davon nach außen dringen zu lassen. Dann hieß es abwarten. Selbst die Waffensysteme waren jetzt nicht mehr im Status der Bereitschaft. Aber angesichts der bisherigen Überlegenheit des Geg-
ners, war dieses Risiko vertretbar. Keinem der goldenen Schiffe war es schließlich gelungen, sich erfolgreich gegen das Phantom zur Wehr zu setzen. Plötzlich lief eine Erschütterung durch das gesamte Schiff. Die Ortungsanzeigen ließen keinerlei Zweifel über das, was geschehen war. »Das Phantomschiff beschießt den verborgenen Mond!«, stellte Sharenayn fest. Auf der großen Projektion, die über den Köpfen der Gloriden schwebte, war in einer virtuellen Darstellung die Position markiert, an der sich vermutlich das Phantomschiff befand. Es feuerte Fusionstorpedos ab, die ausgesprochen heftige Explosionen verursachten. Teile der Schlucht gerieten in Bewegung. Massen von Gestein wurden gelockert, die ohnehin schon vorhandenen Spannungen verstärkt. Der ständige Widerstreit der Anziehungskräfte des Methanriesen und des verborgenen Mondes hatten über Äonen hinweg dafür gesorgt, dass der Trabant in weiten Bereichen porös geworden war. »Die haben uns entdeckt!«, sagte Mantayan. »Daran kann doch wohl niemand mehr zweifeln.« Dambiayn musste ihm widerstrebend Recht geben. Der Plan, sich tot zu stellen und so vor dem Feind zu verbergen, war offenbar gründlich schief gegangen. Wieder einmal hatten die Gloriden ihren Feind unterschätzt. Diesmal galt dies vornehmlich für die gegnerische Ortungstechnik, die offenbar weit höher entwickelt war, als man es erhofft hatte. »Systeme reaktivieren!«, befahl Dambiayn. »Flieg uns hier raus, Ovayran!« »Das ist leichter gesagt als getan!«, erwiderte Ovayran. Die Systeme begannen langsam wieder zu laufen. Ein rumorendes Geräusch dröhnte im Inneren der KLEINE PERLE. Die Triebwerke brauchten einige Kurzzeitquanten, um wieder in den Status der Bereitschaft zurückzukehren. Dasselbe galt auch für die Waffensysteme und andere in der Zwischenzeit abgeschaltete Komponenten. Erneut erfassten Erschütterungen den gesamten Himmelskörper.
Die seismischen Instrumente der KLEINE PERLE zeigten ausgesprochen heftige Beben an, die durch die Detonationen verursacht wurden. »Das Phantom scheint ernsthaft die Absicht zu haben, den gesamten Mond nach und nach auseinander zu sprengen, um uns dann stellen zu können – sollten wir diese Aktion überhaupt überleben!«, äußerte Sharenayn. »Sprich von dem Schiff des Gegners nicht wie von einer Person!«, erregte sich Dambiayn. »Wieso nicht? Irgendein kluger Geist muss doch hinter diesem groß angelegten und äußerst gut vorbereiteten Angriff auf unsere Heimatperle stecken! Ich glaube nicht, dass die für die Invasion verwendeten Roboter die dazu nötige Intelligenz hätten.« »Vielleicht unterschätzen wir diese Roboter einfach nur schon wieder maßlos«, erklärte Ovayran in Gedanken versunken. Er hatte den Gesprächen der anderen nur mit halbem Ohr und unter Missachtung sämtlicher nonverbaler Begleitsignale gelauscht. Er hatte voll und ganz damit zu tun, das Raumschiff aus der Schlucht herauszumanövrieren. Immer wieder kam es zu heftigsten Erschütterungen. Manchmal brachen Felsstücke auf breiter Front herab. Ihre Fallrichtung war aufgrund der starken Anziehungskraft des Methanriesen stark abgelenkt, sodass sich groteske Flugbahnen ergaben. So gut es ging, wich Ovayran diesen erdrutschartigen Vorgängen aus. Aber nicht immer war das möglich. Als die KLEINE PERLE bereits beinahe den Ausgang der Schlucht erreicht hatte, wurde sie von tonnenweise Geröll getroffen und zunächst aus ihrem Kurs geworfen. Sie prallte gegen eine der felsigen Wände, die daraufhin auf weiter Front plötzlich von mäandernden, sich immer weiter verzweigenden Rissen durchzogen wurde. »Wenigstens kann man nicht sagen, dass unsere Vernichtung ihnen nichts wert ist!«, gab Dambiayn einen Kommentar ab, in dem sich die ganze Verzweiflung widerspiegelte, die er empfand. Die Fremden wollen einfach keinen von uns davonkommen lassen!,
dachte Ovayran. Wir sind ihnen schlicht und ergreifend im Weg. Und sie halten uns offenbar für leicht ersetzbar, sind nicht auf unsere Dienste angewiesen … Ovayran stellte eine energetische Direktverbindung zu den Systemen des Schiffes her, um sie effektiver steuern zu können. Seine körperliche Gestalt löste er dabei auf. Unter Aufbietung all seines Könnens schaffte er es, das goldene Schiff davor zu bewahren, unter einem gewaltigen Schutt- und Geröllberg einfach begraben zu werden, in dem er einen Blitzstart hinlegte. Es gab eine Kollision mit einem Gesteinsbrocken, die aber keine nachhaltigen Folgen hatte. Wie ein Geschoss schnellte die KLEINE PERLE aus der Schlucht des verborgenen Mondes hinaus. Dann bremste Ovayran sofort wieder ab. Es war nicht Sinn der Sache, aus der Atmosphäre des Methanriesen gleich wieder auszutreten, denn im freien Weltraum war es für den Feind noch leichter, die KLEINE PERLE auszumachen und zu zerstören. Also ließ Ovayran die KLEINE PERLE eine ausgedehnte Kurve fliegen. Ein Objekt folgte ihnen wenig später. Es war unsichtbar. Dafür waren die Geschosse des Phantoms kaum zu übersehen. Laserblitze zuckten durch die dichte Atmosphäre hindurch. Gleichzeitig wurden weitere Torpedos mit einer Sprengladung an Bord auf den Weg geschickt. Einer von ihnen kam durch, die anderen wurden durch die Abwehrmaßnahmen der KLEINE PERLE vernichtet. Es gab einen furchtbaren Treffer in der unteren Region des Schiffs. Ein Hüllenbruch entstand, eine Sektion musste abgeschottet werden, und ein Aufenthaltsraum lag in Schutt und Asche. Unter den Anwesenden, die dort gerade versucht hatten, ein klein wenig Erholung zu finden, gab es eine Reihe von Opfern zu beklagen. Immer weitere Geschosse lösten sich von dem Verfolger-Phantom. Dambiayn versuchte vergeblich Kontakt zur Besatzung zu bekommen. Auf allen nur möglichen Frequenzen wurde dasselbe gesendet.
Aber das Phantom zeigte sich davon völlig unbeeindruckt. Es gab keine Antwort, gleichgültig, auf welcher Frequenz oder in welcher Codierung gesendet wurde. »Diese Maschinenwesen sind offensichtlich einfach nicht gewillt, mit uns in Kontakt zu treten«, meinte Ovayran. »Ich glaube nicht, dass weitere Bemühungen in dieser Richtung sinnvoll sind.« Genauso erfolglos blieben die Gegenangriffe der KLEINE PERLE. Sowohl das Verfolgerschiff selbst, als auch die von ihm ausgesandten Torpedos waren außerordentlich wendig. Es war schwer, sie zu treffen. Glühende Spuren zogen sowohl die Strahlschüsse als auch die Torpedos des Angreifers durch die Atmosphäre des Methanriesen hinter sich her. Das erleichterte zumindest die Ortung des Feindes, da bei der schwachen Energiesignatur des Phantomschiffs immer wieder aufgrund der atmosphärischen Turbulenzen die Gefahr bestand, dass man es phasenweise verlor. Dambiayn gab die Anweisung, tiefer in die Gashülle des Methanriesen einzutauchen. Ovayran befolgte den Befehl, ließ die KLEINE PERLE immer tiefer absinken. Der Antrieb der KLEINE PERLE wurde auf maximale Beschleunigung eingestellt. Das Schiff schoss geradezu durch die immer dichter werden Gashülle hindurch, ließ schmutzigbraune Wolkenberge, aus denen gigantische Blitze zuckten, hinter sich und trieb aufgrund der atmosphärischen Dichte eine gigantische Druckwelle vor sich her. Die unter extrem hohem Druck zusammengepressten Gasmassen des Methanriesen verhielten sich in mancher Hinsicht ähnlich wie eine Flüssigkeit. Der Reibungswiderstand war sehr hoch. Die Außentemperatur stieg stark an, aber die golden schimmernde Hülle des Gloridenschiffs war sehr widerstandsfähig. Auch das Verfolgerschiff trieb eine sich immer mehr aufstauende Druckwelle vor sich her, was wiederum die Ortung deutlich erleichterte. Selbst in Phasen, in denen die schwache Signatur durch elektrische
Entladungen völlig überlagert wurde, war es jetzt eindeutig zu lokalisieren. Die enorme Gravitationskraft des Methanriesen beschleunigte das goldene Schiff zusätzlich. Die Andruckneutralisatoren der KLEINE PERLE hielten diesen Gewalten jedoch mühelos stand. Etwas anders sah es mit den Temperaturwerten an der Außenhülle aus. Unter normalen Umständen wären sie auch noch lange nicht im problematischen Bereich gewesen, aber es gab durch verschiedene Treffer, die das goldene Schiff erlitten hatte, Schwachstellen. Das Eindämmungsfeld, das den Hüllenbruch neutralisieren sollte, drohte zu kollabieren. In der betroffenen und inzwischen vollkommen abgeschotteten Sektion brach ein Schwelbrand aus, der wenig später durch das eingetretene Methan zu mehreren heftigen Explosionen führte. Es blieb keine andere Möglichkeit, als stark abzubremsen. Das Verfolgerschiff holte spürbar auf. Anhand des verdrängten Gases konnten die Sensoren der KLEINE PERLE die ungefähre Ausdehnung des Phantomschiffs ermitteln. Die Form schien einem Tropfen zu ähneln. Jene Sektion, die an die Außenwand der CHARDHIN-Perle angedockt hatte, bildete tatsächlich nur eine Art Fortsatz. Im freien Raum spielte die Form eines Flugkörpers für die Geschwindigkeit keine Rolle. Aber innerhalb einer so dichten Atmosphäre, wie sie für den Methanriesen typisch war, verhielt es sich anders. Die Tropfenform des Verfolgers durchdrang diese dichte Melange aus verschiedenen Gasen viel leichter, als die kugelförmige KLEINE PERLE. Die Distanz wurde immer geringer. Der Verfolger feuerte mit Kampfstrahlen und Torpedos. Ovayran versuchte dem Feuer des Phantoms in einem Zickzackkurs auszuweichen. Ein paar kleinere Treffer gab es dennoch. Immer wieder durchliefen die KLEINE PERLE Erschütterungen. Einer der Konverter zur Energieerzeugung fiel aus. Es musste auf ein Notsystem umgeschaltet werden. Die schießen uns langsam aber sicher zusammen!, ging es Ovayran
durch den Sinn. Den entscheidenden Schlag hatte das Phantomschiff bisher nicht führen können, aber im Grunde war allen an Bord klar, dass dies nur noch eine Frage der Zeit war. Es glich beinahe einem Wunder, dass dies noch nicht geschehen war. Das Gegenfeuer des Gloridenschiffs hielt den Verfolger einigermaßen auf Abstand. Inwiefern der Verfolger über Schutzschirme verfügte, die die Wirkung von Treffern einschränkten, war den Gloriden bisher nicht bekannt. Es gab aber Anzeichen dafür, die zwingend nahe legten, dass mehrere Strahlenschüsse der KLEINE PERLE eigentlich die – wenn auch unsichtbaren – zentralen Sektoren des Feindraumers hätten treffen müssen, auf irgendeine Weise jedoch absorbiert worden waren. Was die Wendigkeit anging, so war das Verfolgerschiff der KLEINE PERLE ohnehin weit überlegen. Es vermochte einfach sehr viel schneller den Kurs zu wechseln und mit Ausweichmanövern auf das Feuer der anderen Seite zu reagieren. »Kurs auf den Kern!«, verlangte Dambiayn an Ovayran gewandt. »Es wäre nett, wenn du mich in deine Absichten einweihen würdest, Perlenweisester!«, erwiderte Ovayran. Aber Dambiayn reagierte zunächst nicht auf den Einwurf. Er wandte sich an Sharenayn. »Wie groß ist die Chance, durch gezielten Beschuss des Kerns eine Explosion herbeizuführen, die den Verfolger auf Distanz hält?« »Gering«, erklärte Sharenayn. Eine auf aktuellen Ortungsdaten basierende Projektion des Planetenkerns erschien über den Köpfen der Brückenbesatzung. »Der Kern ist sehr massiv, er wird darüber hinaus durch extremen Druck zusammengepresst. Der AmmoniakOzean erschwert den Beschuss zusätzlich.« »Was ist mit dem Auslösen einer Fusionskettenreaktion?« »Dazu fehlt uns die nötige Energie«, wandte Ovayran ein. »Wir hätten anschließend kaum noch die Möglichkeit, uns rasch genug zu entfernen.« »Dann tauchen wir in den Ozean ein«, kündigte Dambiayn an. »Die Druckverhältnisse sind mörderisch, die Gravitation ebenfalls. Aber unser Raumschiff wird das aushalten …«
»Das Schiff unseres Gegners zweifellos auch!«, gab Ovayran zu bedenken. »Schließlich operierten auch sie jenseits des Ereignishorizonts eines Schwarzen Lochs.« »Mag sein«, gestand Dambiayn zu. »Aber es geht mir um etwas anderes. Innerhalb dieses enorm dichten Ozeans dürften ihre Waffen weit weniger wirksam sein.« Erneut musste die KLEINE PERLE einen Treffer hinnehmen. Die Schadensbilanz wurde immer umfangreicher. Ovayran folgte Dambiayns Anweisung und steuerte direkt auf den gewaltigen, sehr massiven Planetenkern mit seinem bizarren Ozean zu. Ein weiterer Hüllenbruch entstand. Sharenayn äußerte Zweifel, ob das goldene Schiff unter diesen Umständen ein Eintauchen in den zähflüssigen Ozean überstehen würde. Andererseits brauchten die KLEINE PERLE und ihre Besatzung dringend so etwas wie Deckung vor dem permanenten Beschuss durch den Feind. Dambiayn ging von der Annahme aus, dass sich die Reichweite der Strahlwaffen drastisch verringerte und Torpedos sich durch das unter hohem Druck stehende Medium, in dem sie sich dann bewegen mussten, so extrem verlangsamen würden, dass ihr Einsatz kaum noch Sinn machte. Dies ist vielleicht die letzte Etappe des Gefechts, dachte Ovayran. So oder so.
Die KLEINE PERLE tauchte in den Ozean ein. Die Fahrt verlangsamte sich dadurch erneut. Eines der Eindämmungsfelder brach zusammen. Ammoniak strömte mit enormer Gewalt und unter unvorstellbarem Druck ein. Ein Teil der Energieversorgung fiel aus, weil wichtige Aggregate in Mitleidenschaft gezogen wurden. Auch die Andruckabsorber und Antischwerkraft-Generatoren, die die gloridische Besatzung davor bewahrten, nahe am Gravitationszentrum eines Riesenplaneten durch die Schwerkraft zerdrückt zu werden, fielen aus. Für einige Minimalzeitquanten hatte Ovayran das Gefühl, von ei-
nem gewaltigen, unsichtbaren Fuß zertreten zu werden. Der Druck war so groß, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, sich in Energie zu verwandeln, sodass ihm die mörderische Schwerkraft nichts mehr anhaben konnte. Alle an Bord befindlichen Gloriden hatten auf diese Weise – quasi reflexartig – reagiert. Das goldene Schiff setzte seinen Weg fort, strebte weiter dem Planetenkern entgegen. Die Ortung zeigte gewaltige, asteroidengroße, unregelmäßig geformte Gesteinsbrocken aus sehr schweren Elementen an, die offenbar durch die ozeanischen Turbulenzen von der Oberfläche des Kerns gelöst und aufgewirbelt worden waren. Es würde vermutlich mehrere Mittelzeitquanten dauern, bis sie sich wieder am Boden absetzten. Ovayran wich einigen dieser Brocken aus, aber die KLEINE PERLE war nur noch eingeschränkt manövrierfähig, wie er feststellen musste. Immerhin ging die Häufigkeit der Treffer durch den Verfolger, der den Gloriden in die Tiefe des Ozeans gefolgt war, deutlich zurück. Aus nächster Nähe feuerte die KLEINE PERLE auf einen der vagabundierenden Gesteinsbrocken und sprengte ihn in Hunderte von Bestandteilen. Ein Trümmerfeld, in das das Phantomschiff direkt hineinraste, während die KLEINE PERLE bereits auf und davon war. Es kam unweigerlich zu Kollisionen. Sharenayn registrierte eine geringfügige Änderung an der charakteristischen energetischen Signatur des unsichtbaren Verfolgers. Inwiefern dies ein Zeichen für ernsthafte Schwierigkeiten auf der anderen Seite war, ließ sich mit den ortungstechnischen Gegebenheiten an Bord nicht feststellen. Dann verschwand die Signatur des Verfolgers plötzlich. Sharenayn überprüfte dieses Ergebnis mehrfach. Es gab unter den zersprengten Brocken einige Kollisionen, die das Material weiter zersplitterten, aber aufgrund des hohen Drucks blieben sie relativ nahe beieinander und bildeten einen Schwarm aus Gesteinsbrocken, de-
ren Bahnen für das Verfolgerschiff kaum zu berechnen waren. »Wenn wir Glück haben, dann haben diese Brocken auf unseren Gegner die gleiche Wirkung wie primitive Geschosse!«, nahm Ovayran an und sandte diese Worte als hochfrequente Impulse an die anderen Gloriden. Es war eine Hoffnung, die wohl auch Dambiayn bei seiner Entscheidung gehegt hatte: einen der asteroidengroßen Brocken zertrümmern zu können. Aufgrund der hohen Geschwindigkeit, mit der das Phantomschiff ihnen folgte, war die relative Geschwindigkeit, mit der die Brocken mit dem Verfolger kollidierten, enorm hoch. Die chemische Zusammensetzung aus sehr schweren Elementen mit hoher Dichte gab insbesondere kleinen Brocken eine enorme Durchschlagskraft. Ein abgesprengtes Gesteinsstück von Handgröße konnte die Außenhaut eines Schiffes glatt durchschlagen. Die beim Eintritt erzeugte Reibungshitze konnte zu Explosionen führen. Möglicherweise wurden wichtige Bereiche getroffen. Die hoch entwickelte Technologie der Gloriden verwendete derart kleine Geschosse nicht, sondern verließ sich auf energetische Waffen. Aber darauf waren die Verteidigungssysteme des Gegners offenbar hervorragend eingerichtet, wie sich im Verlauf des mehr oder weniger aussichtslosen Abwehrkampfes der Gloriden in und um die Chardhin-Perle gezeigt hatte. In diesem Fall jedoch waren die auf das Phantom einprasselnden »Geschosse« derart breit gestreut, dass sich trotz geschickter Ausweichmanöver eine gewisse Zahl von Treffern einfach nicht vermeiden ließ. Sharenayn glaubte, Anzeichen solcher Treffer mit den Ortungssensoren der KLEINE PERLE erkennen zu können. Aber es war allen auf der Brücke bewusst, dass da immer ein gewisser Interpretationsspielraum blieb, denn schließlich war das Verfolgerschiff selbst nach wie vor unsichtbar. Eindeutig waren die Erkenntnisse also keineswegs. Die KLEINE PERLE beschleunigte, soweit ihre angeschlagenen Systeme dies zuließen. Noch immer war die Besatzung gezwungen,
als gravitationsresistente Energiewesen zu agieren, um nicht zermalmt zu werden. Das Schiff schoss nahe an dem gewaltigen Planetenkern vorbei, der allein schon um ein Vielfaches größer und massereicher war, als typische Welten, auf denen sich Leben entwickelte. Die Reichweite der Abtaster war innerhalb des kernumspannenden Ozeans drastisch reduziert. Die Signatur des Verfolgerschiffs verschwand von den Anzeigen. Vielleicht hatte Dambiayn ja die ultimative Waffe gegen das Phantom gefunden, und es trudelte nun als leck geschossenes Wrack durch die Tiefen eines bizarren Meeres. Hoffnung erfüllte die Gloriden an Bord der KLEINE PERLE. Hoffnung, die schon beinahe vollkommen geschwunden war, nachdem das Verfolgerschiff sie aufgespürt, gestellt und sofort angegriffen hatte. Auf der entgegengesetzten, der blauen Sonne zugewandten Seite des Methanriesen trat das goldene Schiff wieder aus dem Ozean aus. Die Fahrt hatte sich verlangsamt, seit sie den Planeten umrundet hatten, denn nun musste die KLEINE PERLE mit ihren Antriebssystemen gegen die Anziehungskräfte des Methanriesen ankämpfen. Die Antigravaggregate waren nach wie vor weitestgehend ausgefallen, was natürlich auch seine Auswirkung auf die Manövrierfähigkeit in dieser Umgebung hatte. Dambiayn wies einige Gloriden, die über entsprechende Fachkenntnisse verfügten, an, die Aggregate in Stand zu setzen. Ein ausgewiesener Spezialist auf diesem Gebiet war nicht an Bord. Aber die gesammelten Kenntnisse der an Bord befindlichen Flüchtlinge würden vermutlich ausreichen, falls die Schäden nicht allzu groß waren. Die KLEINE PERLE passierte die unteren, sehr dichten Schichten der Gashülle. Jegliche optische Ortung wurde erheblich erschwert und war nun in ihrer Reichweite auf ein Minimum beschränkt. Ovayran musste die Geschwindigkeit jäh weiter drosseln, als einige Sonardaten den Schluss nahe legten, dass der Planet vielleicht nicht nur über einen einzigen verborgenen Trabanten verfügte. Gerade noch rechtzeitig gelang es Ovayran, einem weiteren, noch
weitaus gewaltigeren Mond auszuweichen, der von der Größe einer mittleren Sauerstoffwelt glich und das Gravitationszentrum des Planetenkerns offenbar in einer eng oberhalb des Ozeans geführten Umlaufbahn umkreiste. Der Aufstieg in die höheren Schichten dauerte länger als geplant. Ovayran wäre dazu bereit gewesen, mit einer erhöhten Geschwindigkeit auch ein höheres Kollisionsrisiko einzugehen, aber Dambiayn meinte, es sei besser, auf Nummer sicher zu gehen. Er nahm an, dass von dem Phantomschiff jetzt keine Gefahr mehr ausging. »Der letzte Beweis dafür fehlt«, gab Ovayran zu bedenken. »Aber diese Unsicherheit rechtfertigt es nicht, eine Kollision mit einem möglicherweise bisher verborgen gebliebenen weiteren Trabanten einzugehen!«, war Dambiayns Erwiderung. Er bestand auf sein Recht der Entscheidung, und so wurde die Geschwindigkeit weiter gedrosselt. Simulationen wurden mit Hilfe des Bordrechners durchgeführt, die die Bahnen der bisher gefundenen verborgenen Monde des Methanriesen berechneten. Der Bordrechner gab eine Wahrscheinlichkeit von über siebzig Prozent dafür an, dass es weitere, von den Tastern der KLEINE PERLE noch unentdeckte Trabanten gab. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Phantomschiff tatsächlich vernichtet war, wurde hingegen mit weit über neunzig Prozent angegeben. Ovayran wandte ein, dass diese Berechnungen vielleicht auf falschen Parametern beruhten. Insbesondere galt dies für Annahmen über die Struktur der Außenhülle des fremden Schiffes und deren Widerstandskraft. »Tatsache ist doch, dass uns darüber eigentlich nichts bekannt ist, außer dass sich dieses Schiff bisher als äußerst resistent gegen unsere Energiewaffen erwies, wofür wir aber noch keine plausible Erklärung besitzen.« Aber seine Einwände fanden wenig Gehör. Inzwischen gelang es dem Reparaturteam, die Antigravaggregate zumindest teilweise wiederherzustellen. Auf eine Verwendung im Innenbereich wurde zunächst verzichtet.
Es war wichtiger, Energie zu sparen und die Antigravkapazität für einen erleichterten Aufstieg innerhalb der Atmosphäre des Methanriesen zu nutzen.
Der gewaltige blauweiße Glutofen des Zentralgestirns überstrahlte alle anderen Sterne. Endlich tauchte die KLEINE PERLE aus der Atmosphäre des Methanriesen heraus und befand sich im freien Weltraum. Die Wiederherstellung der Antigravsysteme hatte indessen große Fortschritte gemacht. Zumindest für einen Teil der Innenräume des goldenen Schiffs konnte wieder normale Schwerkraft hergestellt werden, was ein Annehmen der körperlichen Form für die an Bord befindlichen Gloriden ermöglichte. »Jetzt kann es für uns nur eine einzige Aufgabe geben«, erklärte Dambiayn, begleitet von einem Signalrauschen tief empfundener Überzeugung. Er hatte seine körperliche Form wieder angenommen und sich auf den Platz des Kommandanten gesetzt. »Wir müssen die nächstgelegene Chardhin-Perle erreichen, um die dortigen Gloriden zu warnen. Außerdem werden wir wirksame Waffen gegen die Invasoren finden und die verlorene Perle zurückerobern müssen.« »Ich für meinen Teil werde mich an derartigen Unternehmungen nicht beteiligen«, unterbrach Mantayan die Ausführungen des amtierenden Perlenweisesten auf ziemlich respektlose Weise. »Es ist dir gleichgültig, ob diese Invasoren eine unserer Perlen in ihrer Gewalt halten, deren Instandhaltung und Bewachung die Bestimmung unseres Volks ist?« »Wer sagt uns denn, dass es so ist? Ein paar alte Legenden. Was wissen wir über die legendären Erbauer? Nichts. Könnte es nicht sogar sein, dass sie niemals existiert haben? Dass wir selbst es waren, die die Perlen einst schufen, bevor wir der Degeneration anheim fielen und das Wissen darüber verloren? Wem nützt die Aufrechterhaltung der Ewigen Kette? Uns? Ich habe auf all diese Fragen keine Antworten. Aber sie lassen mich doch zutiefst daran zweifeln, ob das, woran wir Gloriden seit jeher geglaubt haben, tatsächlich den
Tatsachen entspricht – oder ob es sich um nichts anderes als die Projektion unserer Wünsche und Sehnsüchte nach einer Existenz voll mystischer Bedeutung handelt.« Dambiayn schwieg zunächst, bevor er antwortete: »Du hast dich weit vom großen Konsens aller Gloriden entfernt, der sich dieser Fragen widmet.« Es war eine schlichte Feststellung. Das Begleitrauschen war erstaunlich ruhig. Offenbar konnte sich Dambiayn angesichts der jüngsten Erlebnisse, die die Besatzung der KLEINE PERLE hinter sich hatte, nur noch in sehr begrenztem Maß darüber aufregen, dass es an Bord dieses Schiffes jemanden mit derart ketzerischen Gedanken gab. »Ich weiß, aber dieser Konsens bedeutet mir nichts mehr«, sagte Mantayan. »Es geht mir nur noch um eines: Die Wahrung meiner individuellen Existenz.« »Eine moralisch höchst fragwürdige Sichtweise«, erwiderte Dambiayn. »Nur wenn man sie vor dem Hintergrund des Großen Konsenses als Messparameter betrachtet. Das tue ich aber nicht länger.« »Leider fehlt mir die Zeit für philosophische Debatten«, erklärte der amtierende Perlenweiseste. »Ich bin überzeugt davon, dass es genug Gloriden gibt, die bereit sind, den heiligen Auftrag der Erbauer unter allen Umständen zu erfüllen und den Verfall oder die Eroberung des kosmischen Netzes zu verhindern.« »Ich wünsche dir, dass dein Optimismus nicht enttäuscht wird. Ich weiß nur, dass ich nicht der Einzige bin, der so denkt.« »Mag sein. Aber solange du an Bord dieses Schiffes bist, wirst du dich meinen Entscheidungen unterordnen müssen – auch im Interesse der Wahrung deiner individuellen Existenz.« Mantayan zögerte mit seiner Erwiderung. Ovayran dachte: Dambiayn scheint erheblich an innerer Stabilität gewonnen zu haben. Vielleicht, weil sich seine Entscheidungen in den Tiefenregionen des Methanriesen wohl letztlich als richtig erwiesen haben. Das Individuum wächst offenbar an seinen Herausforderungen. »Ich will offen sein«, erklärte Mantayan schließlich. »Meine Loyali-
tät gilt nur so lange, wie zwischen uns eine Zielkongruenz gegeben ist, Dambiayn!«
Dambiayn ordnete die Durchführung der nötigsten Reparaturen an. Außerdem wurde neue Energie aufgenommen. Das nahe Zentralgestirn dieses Systems war dazu geradezu prädestiniert. Die Energiespeicher der KLEINE PERLE füllten sich rasch. Die Reparaturen schritten voran. Allerdings war die Abdichtung der entstandenen Hüllenbrüche in der Kürze der Zeit nicht möglich, wie sich herausstellte. Für einen kurzen Überlichtflug war das nicht weiter schlimm, aber niemand wusste, wie es bei einer längeren Reise sein würde. Eine Modellrechnung des Bordrechners ging davon aus, dass dann akute Gefahr für die Integrität der gesamten Außenhülle bestand. Selbst unter der Annahme, dass neunzig Prozent der zur Verfügung stehenden Energieressource zur Aufrechterhaltung der Abschirm- und Eindämmfelder verwendet wurde. Eine Alarmmeldung machte den Gloriden an Bord der KLEINE PERLE einen Strich durch die Rechnung. Sharenayn hatte erneut das Signal des Verfolgers geortet. Er war offenbar in die oberen Schichten der Atmosphäre des Gasriesen aufgestiegen. Das Signal war undeutlich und nur phasenweise zu registrieren. Aber an seinem Ursprung konnte nicht der Hauch eines Zweifels bestehen. »Das unsichtbare Schiff ist zweifellos stark in Mitleidenschaft gezogen worden«, glaubte Sharenayn. »Aber es wurde ganz offensichtlich nicht, wie angenommen, zerstört.« Die Erkenntnis traf die Gloriden wie ein Hochenergieschock und reichte aus, die energetische Verwirbelung der Identität zu bewirken. Sie waren bis auf wenige Ausnahmen vollkommen konsterniert. Dambiayn gehörte zu den wenigen, deren mentaler Stabilitätsfaktor auf einem akzeptablen Level blieb. Er wandte sich an Ovayran.
»Was schlägst du vor?« Er ist ratlos, erkannte Ovayran. Und er zeigt dies auch noch offen! Normalerweise hätte ein amtierender Perlenweisester alles getan, um diesen Eindruck gerade in einer Situation, die dabei war, sich zur Krise zuzuspitzen, um jeden Preis zu vermeiden … Aber darauf kommt es jetzt nicht mehr an. Es geht nur noch um die Aufrechterhaltung der Existentz. Das ist alles, was wir erhoffen können. Und vielleicht ist auch das schon zu viel … Ovayrans Gedanken jagten sich. Er ließ sich die Ortungsanzeigen auf die eigene Konsole legen. Bewahre die Stabilität, dachte er. Und die Klarheit. Sie hatten schon geglaubt, der unfassbaren Gefahr entronnen zu sein. Aber das war ein Irrtum gewesen – genauso wie die Entscheidung, zunächst für die Konsolidierung des Energie-Status und die Reparatur des Schiffs zu sorgen. Wir hätten die letzten Reserven für eine schnelle Flucht nutzen und dabei jedes Risiko eingehen sollen!, durchzuckte es Ovayran. Aber diese Gedanken führten zu nichts. Ovayran mahnte sich selbst zu größerer mentaler Disziplin. Ein Kunststück, wenn keine Möglichkeit eines Regenerationszeitquantums und der Meditation besteht!, überlegte er ärgerlich. Und dabei fühlte er langsam, aber sicher etwas vom Grund seines Bewusstseins emporkriechen, was er wie kaum etwas anderes verabscheute. Furcht. Furcht, die sich zur Panik auswachsen und zur vollkommenen mentalen Desintegration führen konnte, wie er sehr wohl wusste. »Erfordert dein gegenwärtiger mentaler Stabilitäts-Status eine Ablösung?«, hörte er Dambiayn sagen. »Ich würde das sehr bedauern, deine Fähigkeiten als Pilot sind bemerkenswert und sicher besser ausgeprägt, als bei den meisten anderen an Bord.« »Es wird gehen«, behauptete Ovayran, obwohl er sich dessen selbst nicht sicher war. Er hoffte, dass sein emotionales Begleitrauschen dies nicht allzu deutlich verriet. Konzentriere dich auf die Sache! Auf sonst nichts! »Es gibt hier ein Asteroidenfeld, fünf Kurzraumquanten entfernt.« »Du schlägst vor, dieselbe Strategie zu verfolgen wie in den Tie-
fenregionen des Gasriesen?«, wunderte sich Dambiayn. »Ich darf dich daran erinnern, dass wir keinen Erfolg hatten.« »Wir hatten mehr Erfolg, als in allen Gefechten, die wir zuvor mit den Unbekannten austrugen!«, widersprach Ovayran. »Auch wieder wahr.« »Ich schlage maximale Beschleunigung vor. Sobald wir innerhalb des Asteroidenfeldes sind, warten wir und sprengen mehrere der Gesteinsbrocken. Wir werden dafür neunzig Prozent unserer Energiereserven einsetzen müssen, und es besteht außerdem die Gefahr, dass wir selbst in Mitleidenschaft gezogen werden.« »Immerhin haben wir dort etwas Schutz«, meinte Dambiayn. »Ich dachte eigentlich eher an einen Überlichtsprung.« »Wir würden dafür ebenfalls den Großteil unserer Energie brauchen, und angesichts des Reparaturstatus gingen wir ein unkalkulierbares Risiko ein«, widersprach Ovayran. »Besser, wir suchen hier die Entscheidung.« »Ich stimme Ovayran zu«, erklärte indessen Sharenayn. »Wenn wir nach einem Raumsprung den Großteil unserer Energiereserven verbraucht haben, und das Phantom hat die Raumverzerrungen angemessen und ist uns gefolgt, stehen wir dem Gegner völlig wehrlos gegenüber. So haben wir zumindest die Möglichkeit, unsere Ressourcen voll und ganz in Abwehrmaßnahmen zu leiten.« »Also gut«, sagte Dambiayn. »Dann folgen wir Ovayrans Vorschlag.« »Die Geschwindigkeit des Feindschiffs scheint sich gegenüber seinem Status vor dem Kampf im Ammoniak-Ozean verringert zu haben. Es holt zwar auf, aber entweder sind die Energiekapazitäten etwas erschöpft, oder es gibt genau wie bei uns erhebliche Schäden an Bord!« »Warten wir ab, wer mit diesen Beeinträchtigungen besser zurechtkommt«, sagte Dambiayn. »Maximale Beschleunigung!«
Auf halben Weg zum Asteroidenfeld registrierten die Sensoren plötzlich einen Energieblitz von ungewöhnlicher Stärke. Sein Aus-
gangspunkt war dort, wo die Instrumente der KLEINE PELRLE zuletzt die Energiesignatur des Phantomschiffs erfasst hatten. Der Blitz erfasste das Gloridenschiff mit voller Wucht. Systeme fielen aus, die Antischwerkraftgeneratoren gaben als Erste ihre Funktion auf. Der Bordrechner wurde durch einen mit dem Blitz einhergehenden elektromagnetischen Schock mehr oder minder lahm gelegt. Ovayran verwandelte sich augenblicklich in ein Energiewesen. Diesmal zögerte er nicht ein einziges Minimalzeitquantum. Die Erinnerung an den letzten Systemausfall in der Tiefe des Gasriesen war noch zu frisch, die Erfahrung des beinahe Zerdrücktwerdens zu traumatisch. Ovayran verlor sowohl den Kontakt zu den Bordsystemen als auch zu den anderen Gloriden auf der Brücke der KLEINE PERLE. Einen Schwall von panischen Signalen nahm er wahr, der für seine empfindlichen Sinne einem Chor des puren Grauens glich. In diesem Moment durchschaute Ovayran die Strategie des Gegners. Er hatte die Absicht der Gloriden an Bord der KLEINE PERLE offenbar erkannt und wollte verhindern, dass sie innerhalb des Asteroidenfeldes Schutz suchte und dort womöglich ihr inzwischen wieder gut gefülltes Energiereservoir dazu nutzte, ein großes Feuerwerk zu veranstalten. Also hatte man sich auf dem Phantomschiff dazu entschlossen, nahezu die gesamten noch verfügbaren Energiereserven in einen einzigen Energieimpuls zu kanalisieren, der die KLEINE PERLE vernichten sollte. Möglicherweise hatte bei dieser Entscheidung auch der Umstand eine Rolle gespielt, dass die Antriebssysteme des Phantoms nicht mehr in demselben Zustand waren wir vor dem Kampf in der Tiefe. An Bord der KLEINE PERLE herrschte jetzt vollkommene Konfusion. Der Energieimpuls durchdrang sämtliche Abschirmungen, zerstörte die internen Systeme und ließ Augenblick später alle Eindämmfelder zusammenbrechen. Eine Fontäne aus Gasen strömte in den freien Raum, wo sie augenblicklich gefror. Teile der Außenwan-
dung begannen abzuplatzen, ein Brand entstand. Als der Energieimpuls die Antriebskonverter erreichte, wurde eine Fusion ausgelöst. Ein atomarer Brand fraß sich langsam aber unaufhaltsam durch das goldene Schiff und würde es binnen kürzester Zeit in eine Miniatursonne verwandeln. Ovayran handelte instinktiv. Es war eine Fluchtreaktion, die ihn in seiner energetischen Gestalt quer durch das Schiff rasen ließ. Im freien Weltraum vermochte ein Gloride als Energiewesen durchaus zu überleben. Aber für wie lange? Er konnte nicht annehmen, dass sich im Umkreis mehrerer Lichtjahre eine Welt fand, auf der er nicht nur landen, sondern die auch intelligente Bewohner beherbergte, deren technologische Ressourcen ausreichten, um ihn von dort wieder entkommen zu lassen. Und Ovayran verspürte nicht die geringste Lust, ein Dasein als Gestrandeter, vom Rest des Universums abgeschnitten, zu führen. Seine einzige Chance war eines der Beiboote, die sich an Bord der KLEINE PERLE befanden. Ein Teil der Hangarsektion war bereits Beute des Fusionsbrandes geworden. Ovayran drang in eines der verbleibenden Boote ein, löste einen Blitzstart aus und hoffte, dass die Systeme auf diese Schaltung überhaupt noch reagierten. Sie taten es. Die Beiboote verfügten über autonome Systeme, die mit den Systemen der KLEINE PERLE in keinerlei Verbindung standen, um ein Übergreifen von Schäden und Funktionsstörungen zu verhindern. Ovayran hatte Glück. Das Schiff startete. Die Temperaturanzeigen wiesen astronomisch hohe Werte aus. Nur den Bruchteil eines Minimalzeitquantums, nachdem das Beiboot gestartet war, fraß sich die Kettenreaktion auch in jenen Bereich vor, in dem sich der Hangar befand, und verwandelte die gesamte Sektion in einen atomaren Glutofen. Die Hölle öffnete ihre Pforten. Das goldene Schiff verwandelte sich in einen Feuerball. Das Beiboot wurde förmlich aus der Miniatursonne, in die sich die KLEINE
PERLE verwandelte, herausgeschleudert, zusammen mit anderen, zumeist hell aufglühenden Trümmerstücken, die wenig später wie Sternschnuppen verloschen. Die KLEINE PERLE wurde zu einem brodelnden Glutball, aus dem immer wieder Stücke herausgeschleudert wurden, die dann in chaotischen Flugbahnen durchs All vagabundierten, bevor sie irgendwo verschwanden. Das ganze Schauspiel dauerte nicht lange, und von der KLEINE PERLE blieb buchstäblich nichts übrig. Der konzentrierte Angriff des Phantomschiffs hatte das Gloridenschiff abgefangen und atomisiert. Hin und wieder leuchteten noch ein paar Trümmerteile auf. Sie waren nicht mehr als Funken in der ewigen Nacht des Weltraums.
Ovayran hatte sämtliche Systeme des Bootes umgehend abgeschaltet. Es gab keine Energieversorgung mehr, keine Regeneration der Atemluft und keinen Bereitschaftsstatus der Antriebsaggregate. Selbst den Bordrechner hatte Ovayran deaktiviert – wohl wissend, welches Risiko er damit einging. An eine schnelle Wiederherstellung der Manövrierfähigkeit war unter diesen Bedingungen nicht zu denken. Aber dem einzig überlebenden Gloriden aus der Besatzung der KLEINE PERLE war durchaus klar, dass seine letzte verbliebene Chance darin bestand, der Wahrnehmung des Gegners zu entrücken. Das Beiboot war klein. Sobald es jegliche Aktivität einstellte, emittierte es auch keine charakteristischen Energiesignaturen mehr, die es für die Gegenseite hätten erkennbar machen können. Das Beiboot jagte – getrieben durch die kinetische Energie, mit der es aus dem verglühenden Gloridenschiff geschleudert worden war – dem Asteroidenfeld entgegen, das, wie alles im System des blauweißen Sterns, geradezu gigantische Ausmaße hatte. Ein Feld aus unregelmäßig geformten Brocken, unter denen es ständig zu kleineren Kollisionen kam.
Ovayran saß ohne Verbindung zu den Sensorsystemen, denn auch die hatte er deaktiviert, in seinem Beiboot und harrte der Dinge, die da kamen. Es gab nichts, was er im Moment noch tun konnte, um sein Schicksal zu beeinflussen. Und genau das war es, was ihn – abgesehen von der Trauer um seine toten gloridischen Gefährten – am meisten störte. Ovayran war zum Nichtstun verurteilt. Wenn sich das fremde Schiff dazu entschloss, den umgebenden Raum noch einmal gründlich abzusuchen und ihn mitsamt seinem Beiboot zu vernichten, konnte er nichts dagegen tun. Eine Erschütterung erfasste das Flugobjekt, dem man die Bezeichnung RETTUNG verliehen hatte. Ein Name, der angesichts der Situation, in der sich Ovayran befand, fast wie ein sarkastischer Kommentar klang. Erneut wurde das Schiff einer Erschütterung ausgesetzt. Ovayran konnte nur vermuten, dass die RETTUNG mit irgendeinem der unzähligen Materiebrocken kollidiert war, die in diesem Sektor durch das All trieben. Es war nur zu hoffen, dass sich die Schäden, die dadurch entstanden, in Grenzen hielten. Die Fahrt der RETTUNG wurde abgebremst, der Kurs zweifellos geändert, bis weitere Kollisionen sie wiederum auf einen neuen Kurs setzten. Ein Materiebrocken unter vielen – das war Ovayrans Beiboot nun. Vielleicht sahen die Herren des Phantomschiffs in der RETTUNG nichts weiter als eines der Trümmerstücke, die von der KLEINE PERLE geblieben waren. Etwas, das der weiteren Aufmerksamkeit nicht lohnte. Nun hieß es abwarten. Die Zeit verstreichen lassen. Ovayran verbrachte diese Zeit als Energiewesen in der Konverterkammer des Haupttriebwerks, dem am besten abgeschirmten Bereich des Beiboots. Schließlich wollte der Gloride vermeiden, dass sein energetisches Muster vom Phantomschiff angemessen wurde – was zumindest theoretisch denkbar war.
Ovayran war entschlossen, den zeitlichen Spielraum bis zum Äußersten auszureizen und sich so lange tot zu stellen, wie es ihm möglich war. Die zeitliche Grenze ergab sich für den Gloriden aus der Notwendigkeit, Energie aufzunehmen. Als körperloses Energiewesen war sein Verbrauch zwar etwas geringer, als wenn er einen Körper mit funktionierendem Stoffwechsel formte, aber irgendwann würde sein energetischer Status dennoch unter einen kritischen Wert sinken. Die Integrität seiner Person war dann nicht mehr aufrechtzuerhalten. Daher musste Ovayran dafür sorgen, dass er die Schiffssysteme rechtzeitig wieder startete, sie gegebenenfalls durch die Kraft des nahen Zentralgestirns wieder auflud und seinen eigenen Energiehunger stillte. Die Zeit war etwas Relatives – aber für das hoch entwickelte und an die Bedingungen jenseits des Ereignishorizonts gewöhnte Bewusstsein eines Gloriden galt das nur mit Einschränkungen. Das gloridische Bewusstsein besaß eine stark ausgeprägte innere Uhr, die es vor den realitätsverzerrenden Raumzeiteffekten bewahrte, die normalerweise im Umkreis jeder Chardhin-Perle auftraten. Ovayran war also auf keinerlei technische Hilfsmittel angewiesen, um die verstreichende Zeit messen zu können. Und das mit einer Präzision, die es mit den meisten technischen Apparaturen, die intelligente Wesen erfunden hatten, durchaus aufnehmen konnte. Er wusste genau, wo für ihn ganz persönlich das existenzbedrohende Limit lag, das er nicht überschreiten durfte. Nutze die Zeit, um dich in die Tiefen deiner eigenen Seele zu versenken!, dachte der Gloride. Für das, was vor ihm lag, würde er einen hohen mentalen Stabilitätsfaktor dringend brauchen. Endlich gestattete er es sich, seine Gedanken zu jenen zurückkehren zu lassen, mit denen gemeinsam er seine Chardhin-Heimat an Bord der KLEINE PERLE verlassen hatte. Keiner von ihnen hatte überlebt, davon musste er ausgehen. We-
der Dambiayn noch Mantayan, dessen oberste Maxime, die eigene Existenz zu retten, nicht aufgegangen war. Ein unbarmherziges Schicksal hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht und ihn mit den anderen im Fusionsfeuer der untergehenden KLEINE PERLE sterben lassen. Ich bin der Einzige, dachte er. Der einzige Überlebende meiner Chardhin-Heimat, denn ich muss davon ausgehen, dass auch die in den Blockfallen gefangenen Gloriden sich nicht mehr im Status der Existenz befinden! Er hatte es aus Gründen der Aufrechterhaltung seiner mentalen Stabilität lange vermieden, überhaupt auch nur einen einzigen Gedanken an diese Dinge zu verschwenden – aus Sorge, dass er dadurch an Stabilität verlieren würde, vielleicht sogar in Lethargie verfiel. Aber andererseits wusste er, dass er sich diesen Wahrheiten auf die Dauer stellen musste. Er konnte nicht die Augen vor den Tatsachen verschließen und sie auf Dauer aus seinem Bewusstsein ausblenden. Ihm war außerdem klar, dass er Kräfte sammeln musste für das, was ihm noch bevorstand. Und das ging nur, wenn er sich mit dem Geschehenen auseinandersetzte. Die letzten Augenblicke, bevor die KLEINE PERLE sich in eine kurzlebige Miniatursonne verwandelt hatte, waren für ihn am furchtbarsten gewesen. Zumal er die Impulse purer Verzweiflung, die in diesem Moment auf ihn eingebrandet waren, niemals vergessen würde … Nur mit Schaudern vermochte sich der Gloride dieser Erinnerung zu stellen. Aber es war notwendig. Schon die Überlieferung der Gloriden sagte klipp und klar: Stell dich den Dämonen deiner Seele. Sie überfallen dich sonst, wenn du es am wenigsten erwartest – so lautete ein Axiom, das irgendwo in seinem energetischen Gedächtnis gespeichert war. Jetzt tauchte es aus der Tiefe seines Bewusstseins auf und gewann völlig neue Bedeutung. Ja, die legendären Verfasser dieser Überlieferungen hatten gewusst, wovon sie sprachen.
Offenbar war auch ihr Leben nicht so friedlich und ereignisarm verlaufen, wie es sich die Gloriden von heute angesichts der zunehmenden Schwierigkeiten, die sie mit der Erhaltung des Netzes hatten, mehr und mehr wünschten.
8. Kapitel – In der Anomalie Ovayran reizte den zeitlichen Rahmen, der ihm blieb, bis zum letzten Minimalzeitquantum aus. Dann erst reaktivierte er die Systeme. Allerdings ging er auch dabei vorsichtig zu Werke. Zunächst wurden lediglich das Rechnersystem und die Ortung wieder in Gang gesetzt sowie anschließend ein ausführlicher Scan der Umgebung durchgeführt. Gesucht wurde nach der verschwommenen Energiesignatur des Phantomschiffs. Aber die Abtaster der RETTUNG wurden nicht fündig. Stattdessen registrierten sie eine geringfügige Raumzeitverzerrung, die eigentlich dafür sprach, dass hier ein Schiff die Lichtmauer durchbrochen hatte. Es konnte nach Lage der Dinge eigentlich nur das Phantomschiff sein. Offenbar war die Besatzung zu dem Schluss gelangt, die KLEINE PERLE sei vollständig zerstört worden. Ovayrans Plan schien aufgegangen zu sein. Das weckte neue Lebensgeister in ihm und ließ seine arg strapazierte psychische Stabilität wieder auf ein etwas akzeptableres Level klettern. Als Nächstes aktivierte er die Energieerzeugung, die Lebenserhaltungssysteme, die künstliche Schwerkraft und die Antigravaggregate. Er formte einen Gloridenkörper und sog sich mit Energie voll. Regelrecht ausgehungert war er danach. Nicht mehr viel hätte gefehlt und seine Persönlichkeit hätte sich durch ein zu starkes Absinken des energetischen Levels aufgelöst – eine Art des Übertritts in den Status der Nicht-Existenz, wie ihn sich Ovayran schrecklicher nicht vorzustellen vermochte. Bewusstseinssplitter, die vielleicht noch durch den Raum geisterten, würden nach einem mehrere Langzeitquanten langen Prozess endgültig verschwinden … Wenn es so etwas wie das ultimative Entsetzen gab, so musste es
dieser allmähliche, aber nichtsdestotrotz ab einem bestimmten Stadium unumkehrbare Prozess der Auflösung sein. Dann schon lieber im Fusionsfeuer eines kollabierenden Schiffs innerhalb des Bruchteils eines Minimalzeitquantums verglühen!, ging es Ovayran durch den Sinn. Eine ganze Weile noch fürchtete Ovayran, plötzlich erkennen zu müssen, dass das, was er im Moment für sein Bewusstsein hielt, in Wahrheit nichts weiter war als einer dieser sich auflösenden Persönlichkeitsreste. Aber glücklicherweise trat das nicht ein. Ich werde einiges dafür tun müssen, damit sich daraus kein Trauma oder eine ernsthafte Störung meiner Psyche entwickelt, war dem Gloriden klar. Meditation war dazu ein probates Mittel, und sofern sich in nächster Zeit nicht doch noch ein Phantomschiff an seine Fährte heftete, würde er dazu mehr als Zeit genug haben. Sein vorrangiges Ziel war es zunächst einmal, einige Lichtjahre zwischen sich und den Ort des tödlichen Kampfes um die KLEINE PERLE zu legen. Ovayran beschleunigte das Beiboot, wartete jedoch eine ganze Weile damit, die Lichtgeschwindigkeit zu überschreiten, weil er nicht durch Gefügeerschütterungen auf sich aufmerksam machen wollte. Schließlich wusste er ja nicht, ob das Phantomschiff inzwischen zur hinter den Ereignishorizont des zentralgalaktischen Schwarzen Lochs gelegenen Chardhin-Perle zurückgekehrt war oder noch in der näheren Umgebung lauerte und die Umgebung nach verdächtigen Spuren absuchte. Ovayran wusste, dass er gar nicht vorsichtig genug sein konnte, denn im Fall einer Entdeckung durch die geheimnisvollen Insassen des Phantomschiffs waren seine Überlebenschancen gleich null.
Die nächsten Mittelzeitquanten verliefen für Ovayran erfreulich ereignisarm. Die Reichweite des Beibootes war begrenzt, und auch was die Beschleunigung anging, war es nicht mit der KLEINE PER-
LE vergleichbar. Aber für eine Reise bis ins Zentrum der nächstgelegenen Galaxie war es allemal besser geeignet als die primitiven Raumfahrzeuge der Lebensformen, die er bisher in der Milchstraße kennen gelernt hatte. Und außerdem ließ sich die RETTUNG ja vielleicht auch noch auf die eine oder andere Weise technisch optimieren. Einige Lichtjahre hatte Ovayran bereits hinter sich gebracht, als ihm in den Ortungsanzeigen etwas höchst Merkwürdiges auffiel: eine rund achtzehn Lichtjahre durchmessende Zone, die vollkommen leer erschien. Die Sternendichte in einem galaktischen Zentrum war jedoch so enorm, dass dies eigentlich nicht sein konnte. Wie kommt es, dass uns diese Anomalie früher nie aufgefallen ist?, überlegte er, obwohl die Zahl der Sternensysteme in dieser Region dermaßen groß war, dass es Äonen brauchte, sie alle zu erforschen. Vielleicht haben sich die meisten von uns auch einfach nur viel zu wenig für das interessiert, was jenseits des Ereignishorizontes liegt!, überlegte Ovayran und musste an Mantayans Worte denken. Auch wenn er seinerzeit wenig Verständnis für die Gedankengänge des erklärten Skeptikers aufbrachte, so erschien ihm manches von dem, was er geäußert hatte, plötzlich in einem neuen Licht. Wir glaubten, das Universum zu kennen, dabei ist unser Wissen darüber mehr als begrenzt. Schon wenige Lichtjahre jenseits des Ereignishorizontes endet der Bereich, der uns wirklich interessiert hat. Schande über uns … Dieses Desinteresse hatte sich nun vielleicht sogar grausam gerächt. Mit einer anderen Einstellung wüssten wir vielleicht längst, woher das Phantomschiff gekommen ist und was die weitergehenden Ziele seiner unbekannten Besatzung sind … Aber für diese Selbsterkenntnis war es nun wohl zu spät. Was geschehen war, war geschehen. Die Vergangenheit ließ sich nicht – oder wenn, nur unter hohem Aufwand und größten Gefahren – revidieren, so gerne Ovayran dies auch versucht hätte. Er programmierte die Steuerung seines Schiffs so, dass es auf die
Anomalie zusteuerte. Dabei kalibrierte er die Ortungsinstrumente beständig neu, variierte die Realitätskonstanten, bis … … ja, bis sich die Leere doch noch füllte und er erkennen musste, dass sie nur dem Anschein nach existierte. Stattdessen gab es Sonnen und Planeten und Monde und … Ovyaron versuchte, seine Erregung in den Griff zu bekommen. Die Art der Tarnung, die das 18-Lichtjahre-Gebiet abdeckte, war ihm völlig fremd. Und je länger er sie analysierte … zu analysieren versuchte, desto mehr gelangte er zu dem Schluss, dass sie weniger technischen Ursprungs war als vielmehr … natürlichen? Wobei der Begriff »natürlich« weit gefasst werden musste. Darunter fielen auch Kräfte wie Psi oder andere, vom Geist eines Lebewesens erzeugte Phänomene … Was genau mag es sein, das diese Welten und ihre Sterne unsichtbar macht?, fragte sich Ovayran. Erinnerte es mich nicht irgendwie – an das Tarnfeld des Phantomschiffs? Ovayran spürte, wie ihn eine beinahe fiebrige Erregung erfasste. Er musste diesem Mysterium auf den Grund gehen, denn es war nicht auszuschließen, dass es in engem Zusammenhang mit den Geschehnissen um die Chardhin-Perle stand. Er bremste die Geschwindigkeit der RETTUNG etwas ab und nahm noch weitere, genauere Scans vor. Energiesignaturen, die denen des Phantomschiffs ähnelten, konnte er nirgends finden. Dennoch – es stand für ihn außer Frage, dass er sich diese Anomalie genauer ansehen musste. So steuerte er eines der auf absonderliche Weise verborgenen Systeme an. Für andere Schiffe, die mit ihm geflogen wären, hätte sich das Gebiet immer noch als vollkommene Einöde dargestellt. Seine Schiffssysteme hingegen zeigten die Wahrheit hinter dem Schleier, und in Abstimmung mit den Bordinstrumenten gelang es ihm mehr und mehr, auch seine eigenen Sinne auf das vermeintlich Unsichtbare, vermeintlich Nichtexistente abzugleichen. Irgendwann sah er – selbst ohne die Krücke des Schiffes. Ein ausgedehntes Planetensystem. Bei einer der Welten handelte es sich um einen Sauerstoffplaneten von jener Sorte, wie es typisch
für die Entwicklung organischen Lebens war. Aus dem All war vor allem eine üppige Flora zu erkennen. Spuren von Besiedlung waren ebenfalls erkennbar. Aber es gab keinerlei Funkverkehr. Entweder die Planetarier verständigten sich auf einem für Gloriden völlig ungewöhnlichen Frequenzband oder das Leben auf dieser Welt war einfach noch nicht weit genug fortgeschritten, um über derartige Kommunikationsmittel zu verfügen. Dafür sprach auch, dass im Orbit keinerlei Flugkörper zu orten waren. Weder Satelliten noch Raumschiffe oder dergleichen mehr. Ovayran zögerte. Konnte ihn die Erforschung einer solchen Primitivwelt überhaupt weiterbringen, oder war es nichts weiter als pure Zeitverschwendung? Einige Augenblicke lang rang er mit sich, aber dann hatte er sich entschieden. Er wollte einfach mehr erfahren – und selbst wenn die primitiven Eingeborenen dieses Planeten nichts mit der Erschaffung der Anomalie zu tun hatten, so musste es doch einen Grund geben, weshalb auch dieses System zu dem so getarnten Bereich gehörte. Denkbar, dass diese Welt nichts weiter als eine abgelegene Kolonie der Tarnzonen-Schöpfer darstellte, die durchaus mit den Invasoren der Chardhin-Perle identisch sein mochten. Vielleicht werde ich also auf dieser Welt doch wertvolle Hinweise erhalten!, lautete der Gedanke, der Ovayran schließlich dazu bewog, in einen stabilen Orbit einzuschwenken. Er nahm weitere Messungen vor und begann damit, die Planetenoberfläche nach und nach zu scannen. Schließlich wollte er einen Landeplatz sorgfältig auswählen. Noch immer fand er keinerlei Hinweise auf die Hinterlassenschaften einer technisch entwickelten Zivilisation. Aber konnte das verwundern? Hatten die Unbekannten nicht bei der Erschaffung der Anomalie bewiesen, welche Meister der Tarnung sie waren? Ovayran ging in einen tieferen Orbit. Er konnte jetzt optisch einige Siedlungen erfassen. Sie stammten von katzenartigen, primitiven Intelligenzen, die in kleinen Dorfge-
meinschaften zu leben schienen. In der Nähe eines dieser Dörfer entdeckte er allerdings eine seltsame Flugmaschine, die sich dem Dorf näherte und es mit Strahlwaffen angriff. Die eigentlich dazugehörigen typischen Energiesignaturen vermochten seine Abtaster allerdings nicht aufzuzeichnen. Möglicherweise hatten die Konstrukteure dieser Flugmaschine eine Möglichkeit gefunden, diese Signale abzudämpfen. Das Gemetzel war kurz und grausig. Von dem Dorf blieb so gut wie nichts übrig. Der Hintergrund dieses Konflikts ließ sich für Ovayran nicht einmal erahnen. Besser, ich verschwinde wieder!, überlegte er. Doch dafür war es zu spät.
Ein Alarmsignal schrillte. Es zeigte an, dass die RETTUNG von einem Ortungssystem erfasst worden war. Nur den Bruchteil eines Minimalzeitquantums später wurde sie von einem unbekannten Strahl erfasst. Das Beiboot der KLEINE PERLE geriet ins Trudeln. Systeme fielen aus. Ortung und Steuerung funktionierten für einige Augenblicke nicht mehr, während die RETTUNG in die Stratosphäre des Planeten eintauchte. Ein zweiter Strahl traf den Raumer und brannte ein Loch in die Außenhülle. Verzweifelt versuchte Ovayran, die Kontrolle über die RETTUNG zurückzuerlangen. Aber die Systeme schienen mehr in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte. Der Antrieb und das Antigravaggregat waren komplett ausgefallen. Das Beiboot konnte sich nicht mehr in einem Orbit halten. Es fiel wie ein Stein vom Himmel dieser offenbar nur von einer sehr rückständigen Zivilisation besiedelten Welt. Aber offenbar gab es irgendwo auf dem Planeten jemanden, der Waffen besaß, die auch der gloridischen Technik gefährlich werden konnten.
Dass der Angriff von der Oberfläche ausgegangen war, stand fest. Den genauen Herkunftsort des Strahls, mit dem die RETTUNG attackiert worden war, konnte Ovayran jedoch nicht feststellen, da es ihm lediglich gelang, die Grundfunktionen des Ortungssystems in der Eile neu zu kalibrieren, sodass er immerhin nicht im Blindflug auf den Planeten zuraste. Ovayran wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, wollte er verhindern, dass sein Raumschiff – das einzige für Fernflüge taugliche Vehikel, das ihm zur Verfügung stand – auf der Oberfläche dieser Barbarenwelt zerschellte. Er selbst konnte sich natürlich jederzeit retten, indem er sich in ein flüchtiges Energiewesen verwandelte. Aber dann wäre ich genau das, was ich nicht sein wollte!, ging es ihm durch den Sinn. Ein Gestrandeter. Gefangen und ohne die Möglichkeit, mich über interstellare oder intergalaktische Entfernungen durchs All zu bewegen. Schon das Erreichen des nächsten Systems hätte eine langzeitquantenweite Reise bedeutet – wenn er überhaupt je dort angekommen wäre und zwischenzeitlich nicht sein Energiereservoir aufgebraucht hätte. Denn das war die andere Gefahr, die ihm drohte. Der energetische Hungertod. In der RETTUNG befand sich eine entsprechende Wandlungsvorrichtung, mit deren Hilfe sich Gloriden ernähren konnten. Prinzipiell wäre es für Ovayran auch möglich gewesen, sich aus anderen Energiequellen zu stärken, aber auf einem nicht-technisierten Planeten war es schlechterdings fast unmöglich, eine geeignete Quelle zu finden. Und die Einzigen, die über eine höher entwickelte Technik verfügten – hoch genug immerhin, um Raumschiffe aus dem Orbit zu schießen –, waren ihm ganz offensichtlich nicht wohl gesonnen. Anders war es nicht erklärlich, dass man ihn sofort angegriffen hatte, ohne zuvor wenigstens den Versuch einer Verständigung zu unternehmen. Verzweifelt versuchte Ovayran, die Bordsysteme zu rekonfigurieren, aber der elektromagnetische Schock, mit dem die RETTUNG
angegriffen worden war, hatte zu einem derart gründlichen Rechnerkollaps geführt, dass dies auf die Schnelle unmöglich war. Die Distanz wurde immer kürzer. Immerhin hatte Ovayran die Ortung wieder einigermaßen hinbekommen, sodass zumindest diese Angaben verlässlich waren. Und besorgniserregend. Die RETTUNG raste geradewegs auf eine felsige Region zu. Schroffes Gestein ragte in den Himmel. Die Schäden an der RETTUNG wären bei einem Aufprall massiv gewesen. Für ein Minimalzeitquantum gelang es Ovayran schließlich wieder, an das Antriebssystem heranzukommen. Er betätigte eine Schubdüse, und außerdem schaffte er es, zumindest eines der Antigravaggregate für Augenblicke wieder zu aktivieren. Der Sturzflug wurde dadurch nicht nur erheblich abgebremst und die relative Geschwindigkeit, mit der sich das Beiboot der Oberfläche näherte, vermindert, sondern es trat auch eine geringfügige Richtungsänderung ein, bevor die Systeme schließlich wieder versagten und Ovayran letztlich die Kontrolle verlor. Eine Bruchlandung wurde unvermeidlich. Ovayran verwandelte sich in seine energetische Daseinsform und verließ die RETTUNG, die jetzt die letzten Längenquanten, die sie noch von der Oberfläche trennten, zurücklegte. Allerdings machte sich die Richtungsänderung, die der Gloride durch die Aktivierung einer Schubdüse verursacht hatte, deutlich bemerkbar. Der Absturzort lag nun doch nicht auf dem felsigen Terrain, sondern in einer von Vegetation überwucherten Gegend. Dort gab es jene dichten Wälder, deren organisches Material feste, korallenartige Strukturen hinterließen, nachdem sie abstarben. Das Beiboot krachte durch diese Gebilde hindurch. Der Aufprall wurde leicht abgebremst. Anschließend bohrte sich der Raumer in den weichen Waldboden. Eine Hälfte des kugelförmigen Schiffsrumpfs ragte noch aus der Erde heraus. Der Hüllenbruch, den der zweite Strahlenangriff verursacht hatte, war deutlich zu erkennen. Ovayran schwebte als Lichtwesen herab und materialisierte auf dem weichen Waldboden.
Ein Schwall von akustischen Eindrücken hagelte auf ihn ein. Er war es gewohnt, eine Vielzahl von Signalen aller Art gleichzeitig aufzunehmen, aber das geballte Chaos an akustischen Informationen, die seine Sinne erreichten, verwirrte ihn im ersten Moment. Selbst in einer großen Gruppe von Gloriden herrschte ein Zustand, der einer Stille näher kam als das Gewimmel und der vielgestaltige Klangteppich dieses dichten und in seiner Form sehr bizarren Dschungels, in dem es offensichtlich vor Leben wimmelte. Der Gloride sah etwas über den Boden kriechen und in einem Erdloch verschwinden. Es war ein wurmähnliches Geschöpf, das etwa dieselbe Körperlänge wie ein Gloride aufwies. Jetzt bist du also ein Verlorener!, ging es Ovayran durch den Sinn. Die Aussicht, sich in dieser fremden Umwelt behaupten zu müssen, stimmte ihn alles andere als froh. Ovayran stieg durch den Hüllenbruch ins Innere der RETTUNG. Er wollte sehen, welche Systeme noch intakt waren beziehungsweise sich vielleicht reparieren ließen. Für den Antrieb sah es schlecht aus. Aber die aufgeladenen Energiezellen funktionierten noch. Da sie nicht mehr die Aufgabe hatten, ein Raumschiff über die Lichtgrenze zu führen, und der Körper eines Gloriden einen ungleich geringeren Energiebedarf hatte als das Triebwerk eines Raumschiffs, würde dieser Vorrat immerhin reichen, um Ovayran für mindestens drei Langzeitquanten auf einem energetisch einwandfreien Level zu halten. Einige Teilsysteme des Bordrechners ließen sich ebenfalls reaktivieren. Blieb noch das Problem des Hüllenbruchs. Durch die Öffnung in der Außenwand der RETTUNG konnten Tiere eindringen, und der Gedanke an ungebetene Besucher verursachte bei Ovayran sofort ein Absinken des psychischen Stabilitätslevels um mehrere Grad. Aber glücklicherweise waren an Bord der RETTUNG einige nützliche Werkzeuge, die für Notfallreparaturen vorgesehen waren. Mit einem Laserbrenner und mehreren Platten aus dem gleichen metallischen Material, aus dem auch die Außenhaut der Raumschiffe gemacht war, fertigte er ein Schott. Es wäre nicht weltraumtauglich gewesen, aber Ovayran nahm
auch nicht im Ernst an, dass das Beiboot diesen Status jemals wieder erreichen würde. Für die Dauer seines Aufenthaltes konnte ihm die RETTUNG als Behausung dienen – aber mehr konnte er von ihr nicht mehr erwarten.
Die ersten Nächte als Gestrandeter auf dieser neuen Welt waren furchtbar. Er hörte den für ihn geheimnisvollen und nicht zu identifizierenden Stimmen der Tiere zu, die draußen den Kampf um die eigene Existenz führten und entweder fraßen oder gefressen wurden. Ovayran schloss zunächst das neu geschaffene Außenschott, um nicht von diesen Lauten belästigt zu werden. Aber schließlich schaltete er die Außenmikrofone ein, um sie trotzdem zu hören. Mit der Zeit lernte er die Stimmen zu unterscheiden und den einzelnen Spezies zuzuordnen. Er rekonfigurierte die Infrarotortung, sodass er sowohl tags als auch nachts mitbekommen konnte, was in der Umgebung der RETTUNG alles kreuchte und fleuchte. Zunächst war es Ovayrans größte Sorge, dass die geheimnisvollen Angreifer nach ihm suchen würden, um sicherzugehen, dass sie ihn auch wirklich vernichtet hatten, was ja ganz offensichtlich ihre Absicht gewesen war. Aber kein Sucher tauchte in der Umgebung des abgestürzten Raumers auf. Über die Gründe dafür, weshalb ihm niemand gefolgt war, konnte Ovayron nur spekulieren. Die wahrscheinlichste Erklärung war, dass man ihn bislang einfach nicht gefunden hatte. Die Absturzstelle lag in einem unwegsamen Gebiet, das dank der korallenartigen Baumstrukturen nur schwer einsehbar war. Zumindest aus der Luft. Falls der Unbekannte, der Ovayran ganz buchstäblich vom Himmel dieser fremden Welt geholt hatte, also Aufklärungsdrohnen oder Ähnliches über das Absturzareal schickte, konnte es gut sein, dass diese ihn einfach übersahen. Ich hoffe, dass es so bleibt!, überlegte Ovayran.
Ein paar Planetentage waren vergangen, ehe Ovayran es wagte, sein havariertes Beiboot, das nun zu seiner Behausung geworden war, zu verlassen und die weitere, nicht von den Abtastern der RETTUNG erfassbare Umgebung zu erkunden. Er musste einfach mehr über diese Welt und ihre Bewohner erfahren, wollte er jemals eine Chance bekommen, diesen Planeten wieder zu verlassen und seiner ursprünglichen Mission zu folgen. Der Umstand, dass er auf diesem Hinterwäldlerplaneten festsaß und niemand, der die Tragödie seiner Chardhin-Heimat bezeugen konnte, in der Zwischenzeit Gelegenheit hatte, die Gloriden auf anderen Chardhin-Perlen zu warnen, betrübte ihn und nagte stark an seiner psychischen Stabilität. Ovayran bekam dieses Problem aber durch verstärkte Meditation in den Griff. Er verwandelte sich in Energie und streifte in der Umgebung herum. Dabei achtete er zunächst peinlich genau darauf, dass er niemals aus dem Schutz des Korallenwaldes auftauchte. Er wusste schließlich nicht, wie hoch die Qualität der Luftaufklärung der Wesen war, die sein Beiboot abgeschossen hatten. Er beobachtete zehnbeinige, spinnenartige Wesen, deren Körpergröße etwa der der Gloriden entsprach und die auf der Jagd nach kleineren Tierwesen waren, von denen es unzählige in den dichten Verästelungen und höhlenartigen Gängen des Korallenwaldes gab. Eine Welt, wie geschaffen für organische Organismen, die einen dementsprechenden Stoffwechsel besaßen. Fast schmerzlich wurde sich Ovayran in diesem Moment der Andersartigkeit der Gloriden bewusst. Für uns hat der Köper nicht dieselbe Bedeutung wie für diese Wesen, denen er als einzige Existenzgrundlage dient!, erkannte Ovayran. Was hat uns so werden lassen, wie wir sind? Die alten Überlieferungen gaben darüber keinen Aufschluss. Entweder hatten die damaligen Vorfahren der Gloriden die Verwandlung in Energiewesen noch nicht gekannt, oder sie war auch ihnen derart selbstverständlich geworden, dass sie nichts über die näheren Umstände des Evolutionssprungs hinterlassen hatten.
Ovayran bewegte sich als Energieschemen mühelos durch die unteren Bereiche des Korallenwaldes. Von den primitiven, wenn auch intelligenten Bewohnern dieses Planeten, die die Dörfer errichtet hatten, sah Ovayran zunächst kaum etwas. Das Gebiet, in dem die RETTUNG bruchgelandet und wie ein Geschoss in den Waldboden eingeschlagen war, schien tatsächlich weit von den nächsten Siedlungen entfernt zu liegen. Gut so, dachte Ovayran. So konnte er das havarierte Schiff nach und nach zu einem gesicherten Rückzugsort ausbauen. Über einen Punkt solltest du dir keine Illusionen machen, meldete sich eine kritische Stimme in ihm, du wirst dich darauf einstellen müssen, sehr viel länger auf dieser Welt zu verbringen, als es dir lieb ist. Besser, du findest dich möglichst schnell mit den Gegebenheiten ab. Ein Axiom der gloridischen Überlieferung fiel ihm ein. Es hat keinen Sinn, dem Schicksal oder dem Universum zu zürnen. Beide sind kalt, teilnahmslos – und taub. Du wirst nicht einmal eine Erwiderung bekommen, also spare deine Kräfte und erhalte dir deine Stabilität. Ovayran gelangte schließlich an den Rand der bewaldeten Zone. Hin und wieder sah er jetzt Gruppen von feliden, aufrecht gehenden, mit Schwertern und Speeren bewaffneten Jägern. Auffällig an ihnen waren die ausgefahrenen Rückenstacheln. Ovayran folgte eine Weile einer dieser Gruppen. Er hörte ihren Gesprächen zu, nahm ihr Vokabular nach und nach in seinen Bewusstseinsspeicher auf und lernte ihre Sprache, um mehr über sie und die Welt, auf der sie lebten, zu erfahren. Sie erlegten schließlich ein paar Tiere und machten sich auf den Rückweg. Die größte Beute, die sie hatten töten können, war einer jener spinnenartigen Zehnbeiner, die Ovayran bereits in der Umgebung der RETTUNG aufgefallen waren. Ein Aspekt in den Gesprächen dieser ausgesprochen martialisch wirkenden Wesen waren die Flugmaschinen, die ab und zu auftauchten und Tod und Vernichtung säten. Die Katzenartigen waren alles andere als ängstlich, das war Ovayran bereits während der Jagd aufgefallen, wo sie sich durch großen Mut, Klugheit und Schnelligkeit auszeichneten. Aber was diese
Flugmaschinen anging, so beherrschten Furcht und auch Ratlosigkeit ihre Äußerungen. Ovayran folgte den Saskanenkriegern bis in ihr Dorf, das gut geschützt inmitten des Korallenwaldes lag, von dessen Ressourcen sie zu leben schienen. Allerdings war Ovayran aufgefallen, das es in diesem Gebiet Schneisen der Verwüstung gab, als hätte jemand Teile des Korallenwaldes einer brutalen Brandrodung unterzogen. Hatten die Piloten der Flugmaschinen dies zu verantworten? Ovayran nahm sich vor, der Frage noch weiter nachzugehen und mehr über diese mysteriöse Geißel der Katzenartigen herauszufinden. Zunächst aber folgte er den Feliden und sah sich dabei vor, dass sie ihn nicht bemerkten. Es war schließlich keineswegs seine Absicht, unter ihnen Verwirrung zu stiften. Die Krieger wurden freudig von den anderen Bewohnern des Dorfes begrüßt. Ovayran hielt sich in den korallenartigen, aus abgestorbenem organischem Material bestehenden und von Pflanzen überwucherten Strukturen verborgen, während seine empfindlichen Sinne aufmerksam jede Einzelheit registrierten. Bei Einbruch der Dunkelheit zog sich Ovayran zurück. Die Lichterscheinung, die mit seiner energetischen Gestalt einherging, wurde dann zu auffällig. Aber sobald es wieder hell wurde, kehrte Ovayran zurück und setzte seine Beobachtungen fort. Dabei dehnte er seine Streifzüge weiter aus und fand auch noch andere Dörfer in der Umgebung. Das Leben in den einzelnen Gemeinschaften der Katzenartigen unterschied sich nicht großartig voneinander, und mit der Zeit begannen sie ihn zu langweilen. Sein eigentliches Ziel war es ohnehin, mehr über die Unbekannten zu erfahren, die es geschafft hatten, ihn und sein Raumschiff aus dem Orbit zu schießen. Die auf einer relativ primitiven Kulturstufe stehenden Krieger steckten auf jeden Fall nicht dahinter. Eher schon kamen die Erfinder der Flugmaschinen dafür in Frage, von denen die Dörfler immer wieder gesprochen hatten. Zum Schutz vor diesen offenbar mit äußerster Kompromisslosigkeit vor-
gehenden Aggressoren hatten die Katzenartigen sogar unterirdische Schutzräume angelegt, die gleichzeitig als Vorratskammern dienten. Ovayran begann, die Brandschneisen zu untersuchen, die die Erbauer der Flugmaschinen in den Korallenwald gebrannt hatten. Er versuchte irgendein System darin zu erkennen. Welchem Zweck dienten die Angriffe? Raubzüge schienen es nicht zu sein. Lag der Sinn vielleicht einfach darin, Furcht und Schrecken zu verbreiten, um sich der Feliden als Vasallen zu versichern? Ovayran kam zu dem Schluss, dass er mit seinen bisherigen Mitteln der Erkenntnisgewinnung nicht weiterkam. Er unternahm noch weiter gehende Streifzüge auf der Suche nach Hinterlassenschaften, Siedlungen und dergleichen, die vielleicht von den Erbauern der Flugmaschinen stammen konnten. Aber er blieb erfolglos dabei. Außer weiteren mehr oder minder weit verstreut liegenden Dörfern der Katzenartigen fand er nichts, was nach einer Besiedlung durch intelligente Wesen aussah. Ich muss mehr erfahren!, entschied er unverdrossen. Er konfigurierte seine im Laufe der Zeit immer mehr optimierte Ortungsanlage so, dass sie ihn sofort alarmieren würde, sollte sich irgendwo in erreichbarer Nähe eine der Maschinen am Himmel zeigen. Aber gegenwärtig schienen die Angreifer keinerlei Aktivität an den Tag zu legen. Ovayran nahm sich vor, ihnen bei ihrem nächsten Vernichtungszug einfach zu folgen. Aber bis dahin untätig herumzusitzen oder sich nur in Meditationen zur Erhaltung der mentalen Stabilität zu üben, ging ihm ebenfalls gegen den Strich. So flog er schließlich in seiner Lichtgestalt eines der Dörfer an, die er mittlerweile erkundet hatte, griff sich einen der Feliden, der in der Nähe des Dorfes allein auf der Suche nach Früchten war und nahm ihn mit in sein Versteck. Zunächst betäubte er ihn. Mehr als einen Schatten und vielleicht ein leichtes Aufblitzen hatte der Krieger gewiss nicht von dem Angriff bemerken können. Sein Geist erwies sich als leicht beeinflussbar. Ein paar kleinere technische Tricks reichten aus, um ihn nachhaltig zu beeindrucken
und ihm eine Scheinwelt vorzugaukeln. Der Gloride war überrascht darüber, wie einfach alles war. Ovayran gestaltete in dem havarierten Beiboot einen Raum etwas um, ließ den Fremden glauben, dass er ein Gefangener der Flugmaschinenerbauer sei, und nahm selbst ebenfalls die Gestalt eines Katzenartigen an. Ovayran hatte zunächst einige Schwierigkeiten damit, sich diese ungewohnte Form zu verleihen, die sich doch in einigen wesentlichen Details vom androgynen Körper eines Gloriden unterschied. Insbesondere die Rückenstacheln machten ihm ein paar Probleme. Er gab gegenüber seinem Gefangenen vor, schon seit längerer Zeit ebenfalls Gefangener der Flugmaschinenerbauer zu sein, und hoffte, dass der Katzenartige ihm vertraute. In erster Linie schien der Gefangene Ovayran jedoch schlicht und ergreifend zu bedauern. Da der Gloride nämlich die Rückenstacheln nur unzureichend nachzubilden vermochte, nahm der Katzenartige an, sein Mitgefangener sei grausam verstümmelt worden. Die Informationsausbeute war gering. Es stellte sich heraus, dass die Feliden so gut wie nichts über die Erbauer der Flugmaschinen wussten. Diese stellten für die Bewohner der Dörfer jedoch eine ständige Quelle der Gefahr und Furcht dar, gegen die es kein wirklich wirksames Mittel zu geben schien. Immerhin erfuhr Ovayran einiges über Sitten und Gebräuche der Katzenartigen. Der Gefangene wunderte sich darüber, dass Ovayran darüber offensichtlich so schlecht Bescheid wusste. Er erklärte es sich aber damit, dass sein Mitgefangener wohl erstens aus einer weit entfernten Gegend stammte und dass ihn zweitens die brutale Folter der Flugmaschinenerbauer wohl halb wahnsinnig hatte werden lassen. Ovayran brachte den Katzenartigen schließlich in sein Dorf zurück. Von ihm konnte er nichts mehr von Bedeutung erfahren. Aus gebührender Distanz beobachtete der Gloride noch das weitere Geschehen im Dorf und belauschte, wie der Katzenartige den anderen Dörflern von seinen Erlebnissen berichtete. Er konnte keine Erklärung dafür geben, wieso er sich plötzlich wieder in seinem
Heimatdorf befand, und gab an, er sei einfach in der Nähe der Hütten erwacht. »Wir wissen, dass unsere Feinde über mächtige magische Mittel verfügen«, meinte einer der Feliden. »Dass sie jedoch in der Lage sind, unbemerkt unsere Dörfer zu betreten, ist mir neu! Davon habe ich noch nie etwas gehört – und ich muss sagen, ich bin stark beunruhigt.« Die Dörfler beschlossen daraufhin, die Wachen zu verstärken und auch tagsüber ständig einige Krieger zum Patrouillendienst rund um das Dorf abzustellen, damit sich ein derartiger Vorfall nicht wiederholte.
Ovayran begann nach und nach, sein Zeitgefühl an den astronomischen Gegebenheiten jener Welt zu orientieren, auf der er gestrandet war. Insbesondere natürlich am Wechsel des Tag/Nacht-Rhythmus. Die Tage verstrichen mehr oder minder ereignisarm. Ovayran hatte zum einen viel Zeit, um sich durch ausgiebige Meditationen im Stabilitätslevel ständig nach oben zu arbeiten, zum anderen unternahm er weiterhin ausgedehnte Streifzüge, um vielleicht doch noch mehr über die Flugmaschinenerbauer zu erfahren. Einmal meldeten seine Sensoren ein Raumschiff, das im Orbit auftauchte und offenbar zur Landung ansetzte. Klimatische Turbulenzen ließen ihn das Schiff jedoch wieder verlieren. Er brach schleunigst auf, um ihm zu folgen, aber es war zu spät. Der Landepunkt war nicht mehr festzustellen. Immerhin hatten die geheimnisvollen Herren dieses Planeten endlich wieder so etwas wie Aktivität gezeigt, was Ovayran optimistisch stimmte, in nächster Zeit doch noch ihre Spur aufnehmen zu können. Es vergingen jedoch viele Planetenrotationen, ohne dass etwas geschah. Irgendwann schrillte ein Alarmsignal durch die RETTUNG. Die Sensoren hatten eine jener Flugmaschinen geortet, die Tod und Vernichtung über die katzenartigen Einheimischen brachten. Ovayran zögerte nicht ein einziges Kurzzeitquantum.
Er verwandelte seinen Körper und begab sich, so schnell es sein energetisches Level zuließ, an jenen Ort, an dem sich die Maschine zuletzt befunden hatte. Es dauerte nicht lange, bis Ovayran sie entdeckte. Er folgte ihr; die Technologie, auf der sie basierte, war verhältnismäßig primitiv. Aber er hütete sich davor, die Erbauer zu unterschätzen. Schließlich hatten sie es auf der anderen Seite geschafft, sein eigentlich überaus widerstandsfähiges Gloridenschiff gewaltsam aus dem Orbit zu holen. Das legt den Verdacht nahe, dass diese Wesen vielleicht nicht nur eigene Technologie venvenden, sondern irgendwie in den Besitz von Fremdtechnik gelangt sind, die von einem Volk mit weitaus größeren technischen Fähigkeiten entwickelt wurde!, überlegte der Gloride. Eine unübersehbare Spur der Verwüstung hatte die Flugmaschine hinterlassen. Im Korallenwald waren verbrannte Lichtungen entstanden, Dörfer zerstört worden und die Bewohner vermutlich in ihre Schutzräume verschwunden. Welchen Sinn dieses Manöver hatte, war dem Gloriden noch immer nicht klar, aber er hielt es inzwischen für immer wahrscheinlicher, dass es der reinen Einschüchterung diente. Die katzenartigen Dorfbewohner sollten in Angst gehalten werden. Die rücksichtslose Art und Weise, in der dies durchgeführt wurde, empfand Ovayran als zutiefst verachtenswert. Er folgte der Flugmaschine und wurde Zeuge noch weiterer Gräueltaten unter den Katzenartigen. Eigentlich drängte es ihn, einzugreifen und die Angreifer in ihre Schranken zu weisen. Es konnte schließlich nicht schwer sein, in energetischer Gestalt in die Flugmaschine einzudringen und schlicht ihre Steuerfunktionen zu übernehmen. Aber es gab einen gewichtigen Grund, der dagegen sprach: Sein vorrangiges Ziel war es, mehr über die Angreifer zu erfahren, und das bedeutete, er musste herausfinden, woher sie kamen. Ovayran begleitete die Flugmaschine bis in die unwegsamen Bergregionen, die vollkommen unzugänglich waren und vor allem nicht von Katzenartigen besiedelt wurden. Die Maschine erreichte ein Hochplateau und ging tiefer. Die Ma-
schine setzte zweifellos zur Landung an. Eine bauliche Anlage wurde sichtbar. Die Gebäude waren nahezu perfekt an die Umgebung angepasst. Auf den ersten Blick konnte man sie auch für Felsformationen halten. Auf Landefeldern parkten nicht nur Flugmaschinen, sondern auch einige wenige Objekte, die Ovayrans erster Analyse zufolge weltraumtauglich waren. Die Flugmaschine, der er gefolgt war, landete auf einem dieser markierten Landefelder. Ein Schott öffnete sich. Käferähnliche Wesen entstiegen der Maschine und strebten auf eines der Gebäude zu. Ovayran drehte inzwischen eine Runde über dem Stützpunkt. Einer der Käferartigen blickte empor. Vielleicht hatte er ein Aufblitzen oder Flimmern wahrgenommen – aber offenbar stufte er es als einen natürlichen Lichteffekt ein. Ovayran nahm ein schwaches Energiefeld wahr, das die gesamte Station wie eine unsichtbare Kuppel umgab. Für einen wirklichen Schutzschirm war es zu schwach. Hatte es etwas mit der Tarnung zu tun? Oder handelte es sich einfach nur um eine Warnvorrichtung, die verhinderte, dass Unbefugte die Anlage betraten oder dort landeten, ohne dass dies von den Besitzern bemerkt wurde. Ovayran war sich nicht ganz sicher. Einerseits hielt er das Feld für schwach genug, um es einfach durchdringen zu können. Mehr als eine geringfügige Unregelmäßigkeit im energetischen Feldlevel würden diese Käfer gar nicht wahrnehmen!, war er überzeugt. Andererseits bedeuteten die Raumschiffe auf den Landefeldern für ihn wohl die einzige Chance, diese Welt wieder verlassen zu können. Und dieser Chance durfte er sich nicht durch unvorsichtiges oder übereiltes Handeln selbst berauben. Also war es besser, erst einmal weiter abzuwarten und zu beobachten, auch wenn vor Ungeduld brannte. Ovayran registrierte auch die Verteidigungsanlagen, über die die Station verfügte. Aus einigen der Gebäude ragten Strahlgeschütze heraus, die jenen ähnelten, die auch an Bord der Flugmaschinen verwendet wurden, um Schneisen durch den Korallenwald zu treiben und die Dörfer der Katzenartigen niederzubrennen.
Der Gloride vermutete, dass mit einer dieser Waffen auch sein Beiboot aus dem Orbit geholt worden war. Vom Hochplateau aus hatte man mit Sicherheit eine sehr gute Sicht, und es reichte vielleicht sogar schon ein primitives Observatorium aus, um Objekte im Orbit zu orten und ins Visier zu nehmen, so wie es mit der RETTUNG geschehen war. Ovayran wartete ab. Er verbarg sich in der Nähe und beobachtete, was sich bei den Käferartigen tat. Eine der Flugmaschinen startete. Der Gloride konzentrierte sich dabei auf das schwache Kraftfeld und stellte fest, dass es nicht deaktiviert wurde, wenn eine der Flugmaschinen startete. Bedeutete das nicht, dass es völlig harmlos sein musste, es zu durchfliegen? Schließlich entschloss sich Ovayran zum entscheidenden Schlag. Er wollte eines der Raumschiffe übernehmen und damit den Planeten verlassen. Mochten diese Schiffe auch nicht dem Standard gloridischer Technik entsprechen, so würde er mit ihnen auf jeden Fall bis zu den nächsten bewohnten Welten gelangen können. Vielleicht ließen sie sich ja auch technisch für eine sehr viel weitere Reise modifizieren. In Lichtgestalt jagte Ovayran durch die Luft, geradewegs auf eines der tellerförmigen Raumschiffe zu. Dann stoppte er abrupt. Er hatte das Gefühl, als ob ihn ein unangenehmer Energieschauer durchraste. Langsam nur begriff er, dass es das schwache Kraftfeld war, das ihn wie ein Spinnennetz eingefangen hatte. Da war irgendeine Komponente in dem Feld, die ihn förmlich fesselte. Er spürte, wie er seine körperliche Form annahm, ohne dass er es bewusst herbeigeführt hätte. Hoch über der Station schwebte mit einem Mal ein Humanoide. Er wurde gehalten durch pure Energie, wurde umflort von zuckenden Lichterscheinungen … … und löste einen Alarm aus.
Dutzende von Käferwesen strömten aus den Gebäuden. Einige führten rohrartige Gegenstände mit sich, von denen anzunehmen war, dass es sich um Waffen handelte. Das steckt also dahinter!, durchzuckte es Ovayran. Eine Falle! Ein Feld, das speziell auf Gloriden geeicht ist … Auf den ersten Blick ein abstruser Gedanke – aber alles sprach dafür. Eine spezielle energetische Komponente sorgte dafür, dass seine Individualität verwirbelt wurde. Alles in Ovayrans Bewusstsein stemmte sich dagegen, kämpfte mit letzter Kraft dagegen an, einfach in Bewusstseinssplitter aufgelöst zu werden, zu zerfallen … … zu sterben. Ein Begriff, den viele der primitiveren, auf ihre körperliche Existenz festgelegten Wesen verwendeten, darunter auch die katzenartigen Krieger in den Korallenwäldern. Ein Gloride pflegte in der Regel nur vom Übertritt in den Status der Nicht-Existenz zu sprechen. Aber das einfache, zupackende Vokabular der Barbaren erfasste diesen Vorgang viel treffender, so empfand es Ovayran nicht erst in diesem Augenblick. Aber er wollte nicht sterben, mobilisierte die letzen Energiereserven und konzentrierte sie in einen einzigen Impuls, während sich sein Körper wieder aufzulösen begann. Ein greller Blitz war für die Käferartigen zu sehen. Er blendete sie, sodass sie ihre Sehorgane abwandten und zu schützen versuchten. Ovayran wurde in die Höhe geschleudert. Ein Lichtpunkt. Wie eine verlöschende Sonne!, kam es ihm in den Sinn. Alles schien sich zu drehen. Er war sich nicht einmal mehr sicher, ob er sämtliche Komponenten seines Bewusstseins hatte retten und zusammenhalten können. Lethargie bemächtigte sich seiner. Gleichgültigkeit erfasste ihn. War das der Beginn der Selbstauflösung? Der Anfang vom Ende? Er sank tiefer, in eine Schlucht zwischen schroff aufragenden Bergen. Seine Energie leuchtete flackernd im Schatten dieser schroffen
Massive. Er spürte, wie sich sein Energielevel drastisch veränderte und er an Kraft verlor. Schließlich materialisierte er auf einer Felsenkanzel. Sein humanoider, so verletzlicher Körper taumelte bis nahe an die Kante heran, hinter der ein finsterer Abgrund von mehreren hundert Kurzlängenquanten gähnte. Gerade noch rechtzeitig wurde ihm dies bewusst. Er setzte sich nieder, betastete seine Arme, sein Gesicht … Immerhin war es ihm gelungen, wieder seine Körperform zu bilden, was dafür sprach, dass sein Bewusstsein vollständig erhalten geblieben war. Falls es doch irgendwelche Bestandteile gab, die jetzt als langsam verlöschende Gedankenfetzen, als Gespenster im wahrsten Sinn des Wortes, durch die Höhenluft dieser Berge geisterten, so würde er den Verlust vielleicht erst sehr viel später bemerken. Oder auch gar nicht, je nachdem, wie wesentlich jene verlorenen Komponenten gewesen waren.
Lange kauerte Ovayran auf der Felsenkanzel. Er verbarg sich zwischen Büschen, als Flugmaschinen der Käferartigen nach ihm zu suchen begannen. Zumindest nahm er an, dass sie das Gebiet, in dem er »gelandet« war, seinetwegen überflogen. Zur Auflösung des Körpers fehlte ihm zunächst die Kraft. Erst am nächsten Tag schaffte er dies. Aber es war ihm unmöglich, die Distanz bis zu seinem abgestürzten Beiboot in einem Zug zurückzulegen. Immer wieder musste er den Flug in seiner Lichtgestalt unterbrechen und pausieren, und es glich in seinen Augen einem Wunder, dass er das Wrack der RETTUNG überhaupt noch in einem Zustand ereichte, der einen Verbleib im Status der Existenz ermöglichte. In den nächsten planetaren Tagen tankte er immer wieder intensiv Energie. Künftig musste er damit besser haushalten, das war ihm sehr wohl bewusst. Im Laufe der Zeit entdeckte er mehrere Stationen der Käferartigen
auf jener Welt, auf der er nun gestrandet war und die er fürs Erste wohl nicht würde verlassen können. Auch die anderen Anlagen, auf die er traf, waren ähnlich gesichert wie jene in den Bergen. Die Kraftfelder, mit denen sie abgeschottet waren, schienen wie geschaffen zu sein, um auf Gloriden zu reagieren. Höchst mysteriös, befand er. Es blieb ein ungelöstes Rätsel. Die Zeit verging. Wirklich abgefunden hatte sich Ovayran mit seinem Schicksal als Gestrandeter noch immer nicht, aber er sah auch keine Möglichkeit, seine Fluchtpläne im Verlauf der nächsten Mittelzeitquanten zu verwirklichen. Die Neugier ist mir zum Verhängnis geworden!, überlegte er und schalt sich einen Narren dafür, dass er nicht einfach mit der RETTUNG auf und davon geflogen war. Aber um darüber zu lamentieren, war es eindeutig zu spät.
Viel Zeit war vergangen. Ovayran stellte fest, dass sein diesbezüglicher Sinn nicht mehr dieselbe Präzision besaß wie früher. Wurde dies durch den Umstand verursacht, dass er ein völlig ereignisloses Leben führte? Oder wurde es dadurch hervorgerufen, dass das Leben hinter dem Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs einfach erhöhte Anforderungen an die temporale Wahrnehmung stellte, damit verhindert wurde, dass man beispielsweise Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander zu einem einzigen Chaos verquickte. Ovayran wusste es nicht. Eines Tages zeigten seine Ortungssysteme Aktivität in einer ihm bis dato verborgen gebliebenen planetaren Station an, die eindeutig höhere Technologie beherbergte – aber überraschenderweise nichts mit den Käferartigen zu tun zu haben schien. Die Station lag gar nicht weit vom Absturzort der RETTUNG entfernt. Ovayran begab sich sofort dorthin. Und stellte fest, dass die Fremden – mehrere Humanoide sowie ein geflügeltes Wesen in schimmernder Rüstung – offenbar eine Kontaktaufnahme mit den
einheimischen Feliden-Kriegern anstrebten. Ovayran beobachtete die Aktivitäten dieser Fremden sorgfältig. Er fing ihren Funkverkehr auf und gewann die Überzeugung, dass die Besucher mit einem irgendwo im Orbit wartenden Schiff gekommen sein mussten, das sicher in der Lage war, kosmische Distanzen zu überbrücken. Während es sich bei einem der humanoiden Wesen um einen relativ gewöhnlichen Kohlenstofforganismus zu handeln schien, war bei dem zweiten Wesen nur der Umriss ähnlich. Die Oberflächenstruktur bestand aus Milliarden kleinster, aneinander haftender Teilchen. Mit einem Lebewesen im herkömmlichen Sinn hat dieses Ding nichts zu tun, entschied Ovayran. Es konnte seine Körperform verändern, wie der Gloride bemerkt hatte, aber das hatte nichts mit einer Umwandlung in Energie zu tun wie bei den Gloriden. Einen der drei beabsichtigte er gefangen zu nehmen und ihm auf ähnliche Weise Informationen zu entlocken, wie er dies bereits bei einem der Katzenartigen getan hatte. Ovayran überlegte lange, wen unter den Besuchern er dazu auswählen sollte. Er entschied sich schließlich für den Geflügelten. Bei dem Amorphen war ihm nicht klar, ob es ihm möglich sein würde, mit den bescheidenen, ihm derzeit zur Verfügung stehenden Mitteln für ihn die Illusion zu erzeugen, ein Gefangener zu sein. Und die Normal-Humanoiden erschienen ihm schlicht und ergreifend zu uninteressant. Also nutzte er die Gelegenheit und nahm den Geflügelten gefangen, als dieser sich einmal kurz in die Lüfte erhob. Es war die richtige Entscheidung. Ein einfältiger Geist, leicht zu beeindrucken …
9. Kapitel – Auf der RUBIKON »Der Rest der Geschichte ist euch bekannt«, erklärte Ovayran. Er wandte den Kopf in Fontarayns Richtung. »Jedenfalls bin ich froh, mit diesem Gloriden aus der Galaxis zusammengetroffen zu sein, die ihr Andromeda nennt.« »Mich freut dieses Zusammentreffen ebenfalls, auch wenn das, was ich durch dich erfahren musste, mir Anlass zu äußerster Besorgnis gibt«, gab Fontarayn zurück, und wieder fiel Cloud auf, mit welchem Respekt die beiden Gloriden einander begegneten. »Wohl wahr!«, bestätigte Ovayran. »Aber es mag dich beruhigen, dass die in Blockfallen geratenen Gloriden keineswegs im Zustand der Nicht-Existenz sind – sondern lediglich Gefangene, ohne die Aussicht, sich aus eigener Kraft daraus zu befreien«, erklärte Fontarayn. »Ich selbst bin der Beweis dafür, schließlich geriet auch ich in eine derartige Falle.« Er streckte die Hand aus und deutete auf Jarvis. »Dieses Wesen dort – dem Prinzip des festen, unflexiblen Körpers ebenso wenig verbunden wie wir Gloriden, wie mir scheint! – hat offenbar wirksame Mittel gefunden, um Blockfallen der von dir angegebenen Art zu öffnen!« »Ihr wart also in der Perle Chardhin!«, schloss Ovayran. »So ist es«, bestätigte Fontarayn. »Wie sieht es dort jetzt aus? Was treiben die Invasoren in der Perma-Station?« »Es ist ein Ort vollkommener Trostlosigkeit geworden. Verlassen und nutzlos.« »Dann ging es den Invasoren nur darum, die Perle aus der Ewigen Kette herauszubrechen?«, fragte Ovayran verständnislos. »Ging es ihnen gar nicht darum, das kosmische Netz weiter zu erobern oder zu schädigen?« »Wir wissen so gut wie nichts über die Beweggründe jener Wesen, die das Phantomschiff geschickt haben müssen und für die Entvöl-
kerung der Chardhin-Perle dieser Galaxis verantwortlich sind!«, gestand Fontarayn. »Genauso wenig wissen wir über die käferartigen Unterdrücker der saskanischen Feliden!«, mischte sich nun Scobee ein. Sie erinnerte sich an das Versprechen, das sie den Saskanen gegeben hatten. Ein Versprechen, das darauf hinauslief, zurückzukehren und ihnen gegen ihre Unterdrücker beizustehen. »Ich biete euch an, mein gesammeltes Wissen auf die KI eures Schiffes zu übertragen. Zumindest sehe ich keinerlei Hindernisse, was die Speicherkompatibilität anginge.« Cloud und Scobee wechselten einen kurzen Blick. Die Tattoos, die Scobee anstelle von herkömmlichen Augenbrauen hatte, hoben sich etwas. »Das wäre vermutlich eine große Hilfe für uns«, stimmte Cloud zu. Er wandte sich an Sesha, um zu fragen, ob ein derartiger Transfer auch aus ihrer Sicht als machbar eingestuft wurde. Sesha bestätigte und sah, wie sie es formulierte, auch keinerlei Sicherheitsbedenken. Warum auch?, dachte Cloud. Wenn diese Gloriden es wollten, könnten sie ohnehin jederzeit das Kommando über die RUBIKON an sich reißen, wie Fontarayn bereits bewiesen hat. Ovayran löste seine Körperform auf. Seine Gestalt zerfloss einfach, wurde zu einem Fleck aus Licht, der sich in einen intensiv leuchtenden Punkt verdichtete. Dieser fuhr in eine der Brückenkonsolen der RUBIKON. Wenig später kam dieser Lichtpunkt wieder hervor und materialisierte erneut zu einer humanoiden Gestalt mit golden schimmernder Haut. »Die Datenübertragung ist abgeschlossen«, erklärte das Wesen. Sesha bestätigte dies einen Augenblick später. »Sämtliche Daten stehen zur Verfügung.« »Über die käferartigen Herren meiner Exilwelt habe ich leider nur wenig in Erfahrung bringen können«, gestand Ovayran zu. »Aber alles, was ich weiß, ist in dem Datensatz enthalten.«
»Könnten sie deiner Einschätzung nach mit denjenigen identisch sein, die das Phantomschiff aussandten?«, fragte Cloud. »In Anbetracht der beschränkten technischen Fähigkeiten, die bei den Käferartigen zu beobachten waren, glaube ich das eher nicht. Andererseits scheinen die Kraftfelder, mit denen ihre Stützpunkte gesichert sind, tatsächlich genau auf Gloriden geeicht zu sein. Auch darauf vermag ich mir bislang keinen Reim zu machen. Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass es in der Vergangenheit Kontakte zwischen den Käferartigen und einigen reisenden Gloriden gab, aber weshalb glauben diese Käfer, sich gegen uns verteidigen zu müssen?« Impulse der Ratlosigkeit begleiteten seine Worte. Für ein Minimalzeitquantum hatte Ovayran vergessen, dass nur Fontarayn und vielleicht auch das amorphe Besatzungsmitglied Jarvis sie zu empfangen vermochten. Und Letzterer konnte sie nicht einmal richtig interpretieren. Als das Landeteam der RUBIKON mit einer Kapsel auf seiner Exilwelt gelandet war, hatte er insbesondere Jarvis intensiv beobachtet. Bei Gelegenheit werde ich mich mit ihm näher unterhalten, überlegte der Gloride. Aber dazu dürfte noch Zeit genug sein … Ovayran wandte sich nun an den geflügelten Nargen. »Ich denke, ich muss mich bei dir entschuldigen. Aber vielleicht kannst du dich in meine Lage versetzen.« Jiim äußerte sich nicht dazu. Die Erinnerungen an seine Gefangenschaft waren offenbar noch zu frisch, um sie einfach wegwischen zu können – oder auch nur zu wollen. John Cloud unterbrach die Stille mit einer Frage, die ihm unter den Nägeln brannte. »Es war für dich offenbar keine Schwierigkeit, die Tarnung von Saskana – wie wir deinen Exilplaneten nennen – aufzuheben.« »Das entspricht den Tatsachen.« »Wie hast du das geschafft? Das gesamte System ist sowohl unsichtbar als auch auf ortungstechnischem Wege nicht feststellbar.« »Es ist ein im Grunde simpler Trick«, behauptete Ovayran. »Eine Tarnung, die sofort in sich zusammenfällt, wenn man ihr Prinzip er-
kannt hat … Ich jedenfalls vermag das System meines Exilplaneten mühelos wahrzunehmen.« »Für mich gilt dasselbe«, ergänzte Fontarayn. »Im Übrigen kann ich Ovayrans Aussagen nur bestätigen.« »Kannst du es uns auch … sehen lassen, Fontarayn?«, fragte jetzt Scobee. »Nein«, sagte der Gloride lapidar. »Und uns zeigen, wie man das Verborgene sichtbar macht?« »Das dürfte kein Problem sein.« »Nein?«, fragte Scobee skeptisch. »Na, dann tu es bitte!« Fontarayn wechselte einen kurzen Blick mit Ovayran. Lediglich Jarvis konnte die Flut nonverbaler Signale empfangen, die zwischen beiden ausgetauscht wurde. Im nächsten Augenblick verwandelte sich Fontarayn in Energie und fuhr in eine der Konsolen. Für kurze Zeit übernahm er die Kontrolle über die Schiffssysteme – insbesondere die optischen und Ortungsinstrumente. Die Holosäule zeigte den umliegenden Raumsektor – die bekannte achtzehn Lichtjahre durchmessende Leerzone, in der buchstäblich nichts zu existieren schien, obwohl längst feststand, dass dies nicht der Wahrheit entsprechen konnte. Plötzlich veränderte sich die Anzeige in der Holosäule, nacheinander blinkten Lichter auf. Sterne. Sonnensysteme, dachte Cloud. »He, was geht da vor? Das … das müssen … Hunderte sein!«, keuchte Algorian. Der Aorii-Zweitling trat näher an Podest und Holosäule heran und blickte fasziniert auf das, was sich dort tat. Das »Vakuum« im Ozean der Sterne, das noch vor wenigen Augenblicken eine Lücke mitten im hellsten und am dichtesten gepackten Bereich der Milchstraße hatte klaffen lassen, füllte sich. Wie die meisten Betrachter war auch Cloud sprachlos. Wer steckte hinter dieser gigantischen Camouflage von geradezu kosmischem Ausmaß? »Darstellung der bisher verborgenen Sonnensysteme ist abge-
schlossen«, erklärte Sesha. »Optische Erfassung nun ohne Probleme möglich. Neunzig Prozent der in der Projektion dargestellten Sonnen wird von Planeten umkreist. Soll irgendein System näher herangezoomt werden?« »Vielleicht später«, gab Cloud schleppend zur Antwort. Da schrillte ein Alarmsignal durch die Zentrale der RUBIKON. Ein Segment der Holosäule vergrößerte einen ganz bestimmten Raumsektor. Abgesehen von einer Positionsmarkierung war darin aber nichts Ungewöhnliches zu erkennen. »Ein Raumschiff nähert sich der RUBIKON. Seine Tarnung lässt keinerlei optische Wiedergabe zu!«, meldete Sesha. »Die Positionsbestimmung erfolgt ausschließlich anhand angemessener Energiesignaturen, die aber teilweise verstümmelt sind und offenbar unterdrückt werden. Das Objekt nähert sich mit hoher Geschwindigkeit und wird uns in Kürze erreicht haben.« Die Augen aller waren wie gebannt auf den Holoausschnitt gerichtet, in dem zu erkennen war, wie sich der blinkende Positionsmarker verschob. Was mag das sein?, dachte Cloud unbehaglich. Doch nicht etwa das Phantom, von dem der Gloride berichtete und das schon … die ChardhinPerle überfiel – und entvölkerte?
Glossar 28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Scobee Weibliche in-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Jarvis Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert: ca. 1,85 m groß, schmales, energisches Gesicht, angedeutete streichholzkurze »Haare«. Florenhüter Jelto Ein Klon mit »Kirlianhaut«, genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze – ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten – mentale Verbindung aufzunehmen. Jelto ist eine Art lebendiger »grüner John Cloud
Daumen«; er besitzt eine nicht mehr zu übertreffende Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütete eine gewaltige Parzelle Wald, der das »Getto« umgibt und – wie sich herausstellt – offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch aus der früheren Metrop Peking zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt … Mittlerweile ist Jelto vollwärtiges Mitglied der RUBIKON-Crew, kümmert sich dort um den Hydroponischen Garten. Das Mädchen Aylea Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsene 10-jährige – die unversehens die Schattenseite der Gesellschaft kennen lernte und ins so genannte »Getto« abgeschoben wurde, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Dort traf sie auf John Cloud und gelangte auf Umwegen an Bord der RUBIKON, wo sie seither das Nesthäkchen ist. Besonders angefreundet hat sie sich dort mit Jelto. Fontarayn Ein geheimnisvolles Lichtwesen, das an Bord der RUBIKON gelangte, nachdem sein goldenes Kugelraumschiff von einer Flotte kleiner grüner Schiffe zerstört wurde. Fontarayn ist ein Gloride, und sein »Dank« für die Rettung besteht darin, die Kontrolle über das Raumschiff an sich zu reißen und die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des Super Black Holes im Milchstraßenzentrum zu lenken, wo ein technisches Wunder auf die Crew wartet: die Chardhin-Perle. Die Perle Chardhin So benannt vom Gloriden Fontarayn: eine golden schimmernde, kugelförmige Station, die hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Super-Black-Holes verankert ist. Ihr
Durchmesser beträgt gigantische hundert Kilometer. Fontarayns Volk die Gloriden sind quasi das »Wartungspersonal« dieser Perlen – von denen es unzählige in unzähligen Galaxien gibt. Der Clou jedoch ist, dass diese Stationen, deren Erbauer nicht einmal die Gloriden zu kennen scheinen, permanent existieren – vom Anbeginn der Zeiten bis … ans Ende aller Zeiten? Vieles, was diese Hinterlassenschaft eines uralten Volkes betrifft, ist noch ungeklärt. Sicher ist jedoch: Die Milchstraßen-Perle scheint aus dem Netz der übrigen Chardhin-Stationen herausgefallen zu sein. Und sie wurde von Unbekannten, die speziellen »Gloriden-Fallen« hinterließen, offenbar gezielt ausgeschlachtet und entvölkert.