Die Ostmänner von Bernd Frenz
Nr. 73 Tiefes Knurren erfüllte das dicht bewachsene Plateau, dessen Rand in einen steil ...
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Die Ostmänner von Bernd Frenz
Nr. 73 Tiefes Knurren erfüllte das dicht bewachsene Plateau, dessen Rand in einen steil abfallenden Hang mündete. Was zuerst wie ein heranziehenden Gewitter klang, kam in Wahrheit aus dem Unterholz. Schattenhafte Bewegungen zwisehen den Blättern verfestigten sich zu einer gedrungenen, vierbeinigen Kreatur, die auf die Lichtung trat. Man musste kein Biologe sein, um zu erkennen, dass sie zur Jagd geboren war. Ihre windschnittige Gestalt und zwei Reihen scharfer Fangzähne zeigten das deutlich. Jagen und Fressen! Das waren die einzigen Kategorien, in denen der primitive Verstand des Tieres dachte, als es den Kopf hob und Luft durch die Nasenlöcher sog. Die Witterung, die es aufnahm, entlockte seiner Kehle ein tiefes Grollen. Endlich. Irgendwo dort draußen näherte sich schmackhafte Beute.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten … für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde … Beim Wettlauf zum Kometenkrater, wo laut ISS-Daten vielfältiges Leben wuchert, haben Matt, Aruula und der Cyborg Aiko Konkurrenz: Der Weltrat (WCA), Nachfolger der US-Regierung unter Präsident Victor Hymes und General Arthur Crow, setzt seine Ziele unerbittlich durch, indem er barbarische Völker unterstützt, die andere Zivilisationen angreifen und klein halten. Crows Tochter Lynne leitet die WCA-Expedition, begleitet von dem irren Professor Dr. Jacob Smythe. Die zweite Fraktion ist eine Rebellengruppe, die gegen die WCA kämpft, die Running Men. Ihr Anführer Mr. Black ist ein Klon des früheren US-Präsidenten Schwarzenegger. Matt, Aiko und Aruula machen sich von L.A. aus auf den Weg. Mit Magnetgleitern, Schiff, Eissegler und Zeppelin geht es nach Norden. Schließlich stoßen sie auf die Expedition der Running Men, die von einer Mongolenhorde verfolgt wird - von den Ostmännern, die im Auftrag des Weltrats operieren. Gemeinsam stellt man sich der Gefahr. Die beiden Expeditionen schließen sich nicht ohne Vorbehalte zusammen, denn der Rebellenführer ist Matt suspekt. Das ändert sich, als er Black näher kennen lernt und dieser ihm das Leben rettet. Während einer Schiffspassage nach Russland hat Matt Kontakt zu den Hydriten, einer ihm bekannten Untersee-Rasse. Er bittet sie, Unterstützung aus der Londoner Bunkerzivilisation anzufordern. Schließlich landen Matt, Aruula, Aiko, Mr. Black und Miss Hardy an Russlands Küste … die inzwischen auch die WCA-Expedition erreicht hat. Die Gruppe um Lynne Crow und Jacob Smythe, in der sich interner Widerstand regt, fährt auf dem Fluss Lena dem Kratersee entgegen, während Matt & Co. aufgehalten werden: In einem Lager wohnen sie dem Häuptlingskampf ursprünglicher Mogoolen mit Ostmännern bei, die für die WCA alle Macht an sich reißen wollen. Nicht zuletzt durch Matts und Aruulas Einmischung kommt es zum Eklat, und während die Freunde auf Yakks fliehen, gehen die Ostmänner in einem Gemetzel unter …
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Knackende Zweige, die unter dem Gewicht vorsichtig aufgesetzter Tatzen brachen, kündete von weiteren Kreaturen, die sich links und rechts des Leittieres niederließen. Tiefer im Wald streiften noch weitere umher, das verrieten die milchigen Augenpaare, die im Halbdunkel wie Perlmutt schimmerten. Wenn sich diese Raubtiere verbargen, dann sicher nicht aus Angst. Bläulich ledrige Haut umhüllte ihre Körper wie einen schützenden Panzer. Ihre armlangen Schweife, die reptilienhaft durch das Gras schlängelten, verstärkten noch den Eindruck, dass es sich bei ihnen um eine Kreuzung aus Lupas und Drakullen handelte. Gut zehn der Kreaturen lösten sich aus dem Schatten der Bäume und trotteten an den Klippenrand. Von hier aus konnten sie die grün bewachsene Tundra überblicken, die sich bis zum Horizont erstreckte. Stille lag über der öde erscheinenden Wildnis. Nicht einmal zirpende Insekten begrüßten den anbrechenden Tag. Wie auch? Ihr Revier war restlos leer gejagt. Unentschlossen streiften die Tiere eine Weile umher. Bei jeder Bewegung zeichnete sich ihre wohl proportionierte Muskulatur unter der Lederhaut ab, aber auch Rippenknochen und vorstehende Gelenke. Das Rudel war völlig ausgehungert. Sie brauchten dringend Nahrung, denn der rasch arbeitende Stoffwechsel konnte nicht alleine von Baumrinde leben. Weiches, zartes Fleisch! Die menschliche Witterung, die ihre Nüstern kitzelte, heizte das Blut in den 4
Adern an, bis es kochend durch alle Glieder pochte. Statt loszuspringen und die Fährte aufzunehmen, ließen sie sich jedoch auf den Hinterläufen nieder. In einer synchronen Bewegung flogen zehn Köpfe in die Höhe. Innerhalb von Sekunden änderte sich die Stimmlage ihrer Kehlen. Plötzlich wurde die Luft von einem Heulen erfüllt, das fast bis an die Grenze des Hörbaren anschwoll. Der klare Ton besaß etwas Melodiöses, das in krassem Widerspruch zu dem furchteinflößenden Äußerem der Raubtiere stand. Lockend wehte ihr Gesang auf die Ebene hinaus, überwand unglaubliche Distanzen, ohne an Intensität zu verlieren, und verbreitete dabei seine unterschwellige Botschaft. Überzeugend. Verheißungsvoll. Und gefährlich. *
Laut. Anstrengend. Und überflüssig. Anders war der Krach, der an Mr. Blacks Nerven zerrte, nicht zu beschreiben. Missmutig sah er zu dem Funkgerät hinüber, an dem Aiko Tsuyoshi die Frequenzen durchlaufen ließ, in dem sinnlosen Versuch, auf Signale einer nahe gelegenen Zivilisation zu stoßen. Der schmächtig wirkende Asiate, in dem weit mehr steckte, als auf dem ersten Blick zu sehen war, wischte gerade seinen streng nach hinten gebundenen Zopf zur Seite, während er konzentriert
an der Sendeanlage hantierte. Ihm zur Seite saß eine zierliche Frau mit schokoladenbrauner Haut, die jeden Handgriff aufmerksam verfolgte, als ob dieser Aufschneider mit den künstlichen Augen etwas Besonderes vollbringen würde. Mr. Black spürte, wie er die Hände zu Fäusten ballte. Eine unbewusste Reaktion, die ihm selbst missfiel. Bewies sie doch, das er sich in Wirklichkeit mehr über Miss Hardys Verhalten ärgerte als über das laute Ätherrauschen aus den Lautsprechern. Äußerlich ungerührt fixierte er die Rebellin, die immer mehr seinem Kommando entglitt. Nicht nur, weil sie dazu übergegangen war, die Zivilisten, mit denen sich ihre Gruppe vereinigt hatte, zu duzen - ein Umstand, den Mr. Black weiter strikt ablehnte -, sondern vor allem, weil Miss Hardy in ihm längst nicht mehr den uneingeschränkten Anführer sah. Aber konnte er ihr das wirklich verdenken? Alle anderen der KraterseeExpedition hatten inzwischen das Zeitliche gesegnet. Die Running Men, der glorreiche Widerstand gegen den Terror des Weltrates, bestand tatsächlich nur noch aus Miss Hardy und ihm, sowie dem kläglichen Rest, der unter der Führung von Mr. Hacker in Waashton zurück geblieben war, um einen neuen Stützpunkt aufzubauen. Tolle Revolution, die du da angezettelt hast, resümierte Black zynisch. Der Rebellenführer unterdrückte den herzhaften Fluch, mit dem er seinem Frust am liebsten Luft gemacht hätte. Disziplin, anständige Ausdrucksweise und
korrektes Betragen, das waren die Leitsätze, die er seinen Mitstreitern immer wieder eingehämmert hatte, um aus halb verhungerten Gang-Kids qualifizierte Rebellen zu formen. Wer seinen Leuten das Letzte abverlangt, muss selbst mit gutem Beispiel vorangehen, lautete Blacks Maxime. Auch wenn es in Zeiten wie diesen manchmal schwer fiel. Schweigend stemmte sich der hünenhafte Mann in die Höhe. Kein Laut des Schmerzes drang über seine Lippen, obwohl seine Kehrseite schon lange wund geritten war. Zum Glück war er nicht der Einzige, dem der Ritt auf den Yakks Probleme bereitete. Mr. Tsuyoshi und Miss Hardy knieten ebenfalls in aufrechter Stellung am Boden, um die Gesäßmuskeln zu schonen. Nur Commander Matthew Drax und seine barbarische Gefährtin schien es nichts auszumachen, den ganzen Tag im Sattel zu verbringen. Angeblich hatten die beiden schon längere Reisen auf Riesenlibellen, Ameisenbären, Wakudas und anderem mutierten Viehzeug hinter sich. Für Mr. Black, der als Klon des früheren US-Präsidenten Schwarzenegger in den Weltratsbunkern aufgewachsen war und Waashton auch später nur selten verlassen hatte, klang diese Behauptung recht phantastisch. Angesichts der Tatsache, dass Drax nachweislich fünfhundert Jahre Erdgeschichte übersprungen hatte, war es ihm aber durchaus zuzutrauen. Seine Gefährtin Aruula hatte gerade den gebratenen Vorderlauf einer Shasse - eines murmeltiergroßen Nagers - abgenagte; nun warf sie den blanken Kno5
chen unversehens gegen den rauschenden Sender. »Kannst du den verdammten Kasten nicht endlich zum Schweigen bringen?«, maulte sie in Aikos Richtung. »Du hörst doch, dass die Gnome darin mit niemanden sprechen wollen. So wie gestern und die ganzen Tage davor.« Danke!, jubilierte Black innerlich, denn die Barbarin hatte ihm, wenn auch mit unbedarften Worten, aus dem Herzen gesprochen. Mr. Tsuyoshi und Miss Hardy schienen von der harschen Rüge nicht sonderlich beeindruckt. Trotzdem ließ sich der Asiate endlich dazu herab, das Funkgerät abzustellen. »Was soll das Gerede von Gnomen, Aruula?«, tadelte er in die anschließende - äußerst wohltuende - Stille hinein. »Du solltest mittlerweile doch genau wissen, wie eine Sende- und Empfangsanlage funktioniert.« Die Barbarin zeigte wenig Lust auf eine Diskussion. »Magie is blöde«, murmelte sie nur und griff nach einem weiteren Stück Shasse-Rippchen. »Keine Magie«, verbesserte Miss Hardy. »Technik ist blöde.« Zu Blacks Unbehagen verwandte sie dabei einen belehrenden Unterton, den er selbst gerne anschlug. Aruula trennte das Fleisch von der Rippe und schob es sich zwischen die Zähne. Den Knochen pfefferte sie in Miss Hardys Richtung, die dem fettigen Wurfgeschoss jedoch mit einer leichten Körperdrehung auswich. »Magie!«, beharrte Aruula, bevor sie den nächsten Bissen zu sich nahm. »Von Dämonen geschaffen, um mich 6
schon am frühen Morgen zu quälen.« Dieser kompromisslosen Argumentation hatten Mr. Tsuyoshi und Miss Hardy nichts entgegenzusetzen. Grinsend bauten sie die Sendeanlage ab, die aus dem aufgegebenen Nixon-Panzer stammte;genausowiederTrilithium-Kristall und diverse elektronische Bauteile, die der Asiate mit sich herumschleppte. Es wurde ohnehin langsam Zeit, sich auf den Weg zu machen. Die Strahlen der aufgehenden Sonne tauchten den Himmel bereits in ein tiefes Glühen, das über den ziehenden Wolken lag wie ein Schimmer aus Blut und Gold. Gemeinsam rollten sie die Felle ein, die ihnen als warmes Nachtlager gedient hatten, und verstauten sie auf den Rücken der zotteligen Yakks, die aus einem Mongolenlager östlich des Kolyma stammten. Fünf Tage war es nun schon her, seit sie den breiten Strom, der Sibirien noch genauso von Süden nach Norden durchschnitt wie vor über fünfhundert Jahren, an einer Furt überquert hatten. Das war nicht ohne Verluste abgegangen - zwei Yakks waren in Untiefen geraten und mitgerissen worden. Mit zusammengepressten Lippen sah Mr. Black zu Aiko Tsuyoshi hinüber, der gerade das Funkgerät und die auseinander geschraubten Antennenstangen in einem Rucksack verstaute. Basteln konnte der Asiate, das musste man ihm lassen. Leider untergrub sein Einfluss auf Miss Hardy alles, wofür die Running Men standen, und das mochte Black auf Dauer nicht dulden. Im Moment musste ihre Gruppe jedoch so miteinander auskommen, wie sie war. Das
bedeutete für jeden, ein wenig zurückzustecken. Auch für Rebellenführer, die normalerweise die Befehle gaben. Mr. Black trat auf Aiko zu, um dabei zu helfen, das schwere Gepäck auf den Rücken der grasenden Yakks zu verstauen. Eigentlich kam der Asiate gut alleine zurecht, denn seine drahtigen Arme waren weitaus kräftiger, als sie auf den ersten Blick wirkten. Unter der dünnen Hautschicht verbargen sich künstliche Glieder aus Plysterox, die ihn technisch ebenso aufwerteten wie einige Speicherimplantate in seinem Kopf. Mr. Black ging es bei der Geste darum, ein Gefühl der Gemeinsamkeit herzustellen, auch wenn ihre Charaktere stark voneinander abwichen. Nur als Gruppe hatten sie eine Chance, den beschwerlichen Weg zum Kratersee zu meistern. Black, der sich dessen nur zu gut bewusst war, wollte alles tun, um bestehende Differenzen auszuräumen. Aus genau dem gleichen Grund nahm Aiko sein Angebot an. Gemeinsam zurrten beide das Gepäck fest, bevor sie die glühenden Reste des Lagerfeuers mit Sand löschten und sich auf die Yakks schwangen. Matthew Drax und Aruula besetzten eines der Tiere, Aiko Tsuyoshi und Miss Hardy das zweite. Mr. Black, der schwerste von ihnen, hockte mit dem Großteil des Gepäcks auf dem dritten. Die rinderähnlichen Geschöpfe besaßen ein weiches, zotteliges Fell, doch das nützte nicht viel. Sobald er sich auf dem harten Ledersattel niederließ, begann sein Hintern zu brennen. Ganz locker bleiben, mahnte Black sich
selbst, während er die Zügel aufnahm. Je mehr du verkrampfst, desto schlimmer wird es. Ein guter Vorsatz, zweifellos. Wie sehr sich jedoch Theorie und Praxis voneinander unterschieden, merkte er in dem schmerzhaften Augenblick, als sie Richtung Westen los trabten - die aufgehende Sonne im Nacken. *
»Niht dalang. Waita ötslich!« Moonga zügelte das Yakk, ließ seinen Atem rasselnd aus den Lungen entweichen und sah genervt zu der rotblonden Amazone, die an seiner Seite ritt. Sein stechender Blick wanderte über Keomas festen Körper, der sich unter ihren weiten Fellhosen und dem Lederharnisch abzeichnete. Für ihre fünfzig Sommer hatte sich die Kriegerin gut gehalten, das musste er neidlos anerkennen, doch auch der mit Nägeln beschlagene Lederhelm konnte nicht verdecken, dass ihr fehlte, was die übrigen in der Truppe zu Auserwählten machte, die den Meistern der Erde dienen durften. Keomas Gesichtszüge waren glatt und ebenmäßig, nur einige altersbedingte Falten kerbten ihre Augenwinkel und die Mundpartie. Sie besaß weder einen gespaltenen Mund, wie ihn die anderen Ostmänner mit Stolz trugen, noch Geschwüre auf der Haut. Statt durch zwei faulige Löcher Luft zu schöpfen, ragte aus ihrem Gesicht eine ekelhaft vorstehende Nase, einem Schandmal gleich, das aller Welt entgegen schrie: Seht her, ich war es nicht 7
wert, von den Meistern neu geformt zu werden! Moonga verstand beim besten Willen nicht, warum er die Alte auf dieser wichtigen Mission mitschleppen musste. Mit ihrem makellosen Antlitz löste sie weder Angst, Schrecken, noch Ekel aus. Das untergrub den Respekt, den sich die Ostmänner in harten Kämpfen bei ihren Feinden erworben hatten. »Was willst du?«, schnauzte er gereizt, als sie keine Ruhe gab. Dass ihn Keoma trotz des Wutausbruchs schweigend anstarrte, fachte seinen Unwillen nur noch weiter an. Nichtsnutziges Weibsstück! Obwohl er laut genug geschrien hatte, um auch den letzten Mann des knapp fünfzig Krieger umfassenden Stoßtrupps zusammenzucken zu lassen, musste sie ihm jeden Wort einzeln von den Lippen ablesen. Keoma war taub, schon so lange er denken konnte. »Wiir müsn weita nch Wetsen, deen gosen Flus entlng.« Ihre Worte klangen seltsam unbeholfen, fast so, als würde die Zunge am Gaumen festkleben. Da Keoma nicht mehr hörte, was sie sagte, war ihre Sprachfähigkeit im Laufe der Zeit verkümmert. »Hiar is zu gefäälich!« Ihre Stimme begann zu schwanken, wie immer, wenn sie Schwierigkeiten bekam, sich richtig zu artikulieren. Mit verzerrtem Gesicht atmete sie laut ein und aus, fand aber trotzdem nicht die nötige Ruhe zur richtigen Aussprache. Moonga meinte sogar einen ängstlichen Schimmer in ihren Pupillen aufblitzen zu sehen, als sie aufgeregt gen Osten deutete. »Dalang! Dalang!« Mehr brachten 8
Keomas Stimmbänder nicht mehr zustande. Der Unterführer hätte ihr für diesen erbärmlichen Auftritt am liebsten ins Gesicht gespuckt. Seit Beginn der Reise lag sie ihm schon in den Ohren, dass sich der Trupp östlich des Ko'yma halten sollte, weil sie sonst auf die Süeenn treffen würden - was auch immer das sein mochte. Wenn es nach Keoma gegangen wäre, hätten sie den Flusslauf gar nicht überquert, doch die Befehle der Meister lauteten anders. Dagegen war auch sie machtlos. »Nein, nein«, wehrte Moonga kopfschüttelnd ab, obwohl er genau wusste, dass sie bei solch raschen Bewegung nicht genau sehen konnte, was er sagte. »Ich erkläre es dir noch mal. Wir haben den Auftrag, die Gaben des Meisters zu einem Ort zu bringen, der genau in dieser Richtung liegt. Verstehst du?« Der Unterführer deutete nach Nordwesten, wo sie irgendwann auf die Küste treffen mussten. Damit ersparte er sich, die Karte aus Lederhaut hervorzuholen, auf welcher der Treffpunkt mit den fremden Meistern eingezeichnet war. Schließlich hatten sie sie oft genug studiert, als die Karawane mit dem Raddampfer von Kamtscha an die Südflanke Rulands übergesetzt wurde. »Wir müssen diese Steppe auf schnellstem Wege durchqueren. Nur so treffen wir die Meister, denen wir unsere Lasten übergeben sollen, noch rechtzeitig.« Moonga deutete auf die Säcke voller Lebensmittel, die von einigen Yakks getragen wurden. Auf den Rücken weiterer Tiere türmten sich dunkelgrüne Metallbehälter, deren Inhalt so fremdar-
tig war, dass er sich dem Verstand eines Ostmannes entzog. Solch göttliche Gaben begleiten zu dürfen, empfand Moonga als große Ehre. Zufrieden mit seinem Vortrag, wollte er den Weg fortsetzen, doch die Amazone begehrte erneut auf. Gepresste Laute ausstoßend, schüttelte sie den Kopf. In ihrer Brust musste ein heftiger Kampf toben, darauf deuteten die geballten Fäuste hin, die sie in die Höhe riss, als ob sie auf einen unsichtbaren Gegner einprügeln wollte. »Nnnngggg!«, machte sie laut, zum Zeichen, dass sie mit der Route nicht einverstanden war. Dann, nach zähem Ringen, sprudelte es aus ihr hervor: »Solst äff mi höän. Kenn mi hia aus.« Moonga spürte, wie sich ein bitterer Geschmack in seinem Mund ausbreitete. Auch wenn es ihm nicht sonderlich gefiel, das taube Weibsstück hatte Recht. Keoma wird euch begleiten, hatte ihm Lord Tenger bei einer Audienz in der Großen Pagode eröffnet. Sie kennt das Gebiet, durch das ihr ziehen müsst, um die Crow-Expedition rechtzeitig zu treffen. Höre auf die Amazone. Auch wenn Eile geboten ist, die Versorgungslieferung nutzt niemanden, wenn euer Trupp unterwegs aufgerieben wird. Für einen winzigen Augenblick blitzten in Moonga Erinnerungen an gescheiterte Entdeckungsreisen auf, die lange vor seiner Geburt stattgefunden hatten. Er selbst war im Zeitalter der Seekriege aufgewachsen, die sie von Kamtscha aus gegen Nipoo, die PazifaInseln, Cinna und alle anderen Länder in ihrem Einflussbereich führten.
Der unbändige Wunsch, den Weg fortzusetzen, ließ die weiteren Gedanken des Ostmanns verblassen. Selbst als ihn eine leise Stimme daran erinnern wollte, dass er vor kurzem noch großen Wert auf Keomas Meinung gelegt hatte. Von dieser Mahnung blieb nicht mehr als ein flüchtiges Echo, das wirkungslos verhallte. Was darauf folgte, war dumpfe, primitive Wut auf die Amazone, die seine Befehle laufend in Frage stellte. Moonga wandte den Kopf zur Seite, um seine Lippenbewegungen zu kaschieren, während er höhnisch ausrief: »Dieses senile Weibsstück glaubt wohl ernsthaft, dass sie bestimmt, wo es lang geht!« Ringsum brandete Gelächter auf, selbst unter denen, die sich sonst immer auf Keomas Seite geschlagen hatten. Eine seltsam aggressive Stimmung erfasste die Truppe. Flüche wurden ausgestoßen, weil alle den gleichen inneren Drang verspürten, der sie unbarmherzig vorwärts trieb. »Nnnngggg dalang! Nnnngggg dalang!«, äfften einige Krieger nach, was sofort weitere Lachsalven provozierte. Keoma, die den Spott nicht hören konnte, blieb die Ruhe selbst. Nur ihr linkes Augenlid zuckte unkontrolliert, während sie Moonga anstarrte, um das unterbrochene Gespräch fortzusetzen. Der Truppführer tat ihr den Gefallen. »Ich gebe hier die Befehle, und du hältst von nun an dein lahmes Maul«, formulierte er mit übertrieben deutlichen Lippenbewegungen, bevor er die übrigen Männer durch ein Handzeichen 9
zum Weiterreiten aufforderte. Ohne auf Keomas gestenreichen Protest zu achten, wandte sich der Ostmann von ihr ab, bereit, seinem Yakk die Hacken in die Seiten zu treten. So leicht ließ sich die Amazone aber nicht abservieren. Wütende Laute ausstoßend, ritt sie näher heran und packte Moonga an der Schulter, um ihn mit Gewalt zurückzuhalten. Darauf hatte der zornbebende Krieger nur gewartet. Ansatzlos stieß er seinen angewinkelten Arm nach hinten, mitten in Keomas Gesicht. Ein trockenes Knacken erfüllte die Luft, als der Ellbogen auf ihre Kinnspitze hämmerte. Die Kriegerin keuchte laut auf. Mit dieser Attacke hatte sie nicht gerechnet. Moonga nutzte ihre Benommenheit gnadenlos aus. Blitzschnell drehte er sich im Sattel und schlug mit der Faust zu. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Keomas Lippen platzten unter den Treffern auf, ihr Gesicht verwandelte sich in ein Meer aus Blutergüssen. Blutiger Schaum sprudelte aus ihrem Mund, als sie bewusstlos zur Seite kippte. Die rechte Hand an der Hüfte, den Schwertgriff noch fest umklammert, stürzte sie ins Gras. Der Helm rutschte ihr vom Kopf und rollte ein Stück weiter, bevor er genauso regungslos liegen blieb wie sie selbst. Sämtliche Ostmänner, die auf die Mogoolin niederblickten, spürten ein Gefühl der Erleichterung in sich aufsteigen. »Endlich sind wir das lästige Weibsstück los«, sprach Moonga aus, was alle dachten. »Los, mir nach!« Er packte die Zügel des herrenlos gewordenen Yakks, 10
damit ihnen Keoma nicht folgen konnte, wenn sie aus der Bewusstlosigkeit erwachte. Die übrigen Krieger folgten ihm, ohne einen mitleidigen Gedanken an die bewusstlose Amazone zu verschwenden, die sie schutzlos, ohne Wasser und Nahrung zurückließen. Alle waren nur von dem einen Wunsch beseelt - endlich tiefer in die Steppe vorzudringen. Niemanden kam die seltsame Freude, mit der sie dem Ziel entgegen strebten, verdächtig vor. Ahnungslos ritten die Ostmänner ihrem Untergang entgegen. *
Vieles hatte sich in Ost-Sibirien verändert. Das Klima entlang des ehemals nördlichen Polarkreises war deutlich milder geworden, Eis und Schnee bedeckten nur noch für wenige Wochen im Jahr die Landschaft. Eins war in den letzten fünfhundert Jahren aber stets gleich geblieben: die unendliche Weite des dünn besiedelten Kontinents. Auf den Satellitenkarten, die Commander Drax bei sich trug, wirkte die nördlich des Kratersees gelegene Landmasse zwar nicht viel dicker als eine angenagte Brotkrume, doch vor Ort sahen die Dimensionen ganz anders aus. Rulands östlichster Ausläufer umfasste immer noch Hunderte von Quadratkilometern, die sich selbst auf den schnellen und genügsamen Yakks nur mühsam bewältigen ließen. Die hohen Gebirge, die den See weiträumig abschirmten, ließen sich bisher weder im Süden noch im Westen aus-
machen. Alles was Mr. Black vom Rücken der Tiere aus sehen konnte, war eine endlose Aneinanderreihung von Geröllwüsten, Steppen und vereinzelten Höhenzügen. Von ehemaligen Städten, Dörfern oder Straßen gab es nicht die geringste Spur. Hier, so nahe am Einschlagspunkt, hatte »Christopher-Floyd« alle Anzeichen menschlicher Existenz von der Oberfläche getilgt. Natürlich war dieses Gebiet auch schon im 21. Jahrhundert dünn besiedelt gewesen, doch inzwischen schien die Taiga regelrecht ausgestorben zu sein. Seit der Flussüberquerung gab es nicht mehr den geringsten Hinweis auf eine neu entstandene Zivilisation. Mit der Jagd sah es auch immer schlechter aus. Selbst bizarre Lebensformen wie Feuerfleggen oder Scherenparasiten, ließen sich nirgendwo mehr blicken. Nur die Flora zeugte weiter von einer erhöhten Mutationsrate, die alles überstieg, was Mr. Black bisher zu Gesicht bekommen hatte. Kaum ein Baum oder Strauch, der nicht durch seltsame Form- oder Farbgebungen auffiel. Verknorpelte und von stachligen Wucherungen überzogene Früchte, Aste und Stämme waren die Norm. Vieles davon sah einfach nur abstoßend aus, anderes war regelrecht gefährlich, wie einige rasiermesserscharfe Blätter, an denen er sich bereits geschnitten hatte. Besonders unheimlich wirkte die hoch aufragende Pflanzenart, die seit einiger Zeit ihren Weg säumte. Es handelte sich um einstängelige Blumen, deren Blüten aus waagerecht liegenden, halb geschlossenen Kapseln bestanden,
die unwillkürlich an Augenhöhlen erinnerten, vor allem, weil in ihnen ein pupillenähnliches Gebilde saß, das beständig von links nach rechts und zurück wanderte. Welcher genaue Zweck dieser Bewegung innewohnte, ließ sich nicht ergründen, doch bei dicht nebeneinander stehenden Stängeln verlief sie stets synchron. Im Vorbeireiten sah es deshalb so aus, als ob ihnen die Blicke folgen würden. Ein faszinierendes, aber auch beklemmendes Schauspiel. Aufgewachsen zwischen Bunkerwänden, Stadtruinen und der Technik der WCA, flößten Mr. Black die Geheimnisse der Natur manchmal eine irreale Furcht ein, die sich auch unter Aufbietung aller Vernunft nicht völlig verdrängen ließ. Er spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief, obwohl er bemüht war, Orguudoos Augen - wie Aruula sie getauft hatte - zu ignorieren. Orguudoos Augen! Der blonde Hüne schüttelte unwillkürlich den Kopf. Was für eine Bezeichnung! Auf so etwas konnte vermutlich nur eine Barbarin kommen. »Wir sind falsch hier!«, meldete sich Aruula prompt zu Wort. »Wir müssen weiter südlich reiten.« Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr unwirsch wie kurz vor dem Aufbruch, sondern geradezu aufgekratzt. Commander Drax, der vor ihr im Sattel saß, schien über die vorgeschlagene Richtungsänderung verwirrt. Abwechselnd blickte er auf die Kartenfolie, die zwischen seinen Oberschenkeln klemmte, und einen Kompass in der Rechten. 11
»Nein, du liegst falsch«, korrigierte er. »Wir müssen weiter geradeaus. Nach der Satellitenaufnahme gib es nicht viele Pässe, die sich für eine Passage eignen. Wir müssen fast bis zum Werchjansker Gebirge, bevor wir nach Süden stoßen. Das ist die sicherste Route zum Kratersee.« »Aber dort drüben ist es viel schöner als hier«, maulte die Barbarin, die beinahe sehnsüchtig in die gewünschte Richtung blickte. Ungeduldig rutschte sie auf dem ledernen Sattel herum und hämmerte ihrem Gefährten mit der Faust zwischen die Schulterblätter. Black stutzte. So unbeherrscht hatte er Aruula noch nie erlebt. Außerdem war sie eigentlich nicht der Typ Frau, der sich um eine schöne Aussicht scherte. Ihr Blick galt eher dem Wild, das ihren Weg kreuzte und das sie stets mit sicherer Hand zur Strecke brachte, um für eine warme Mahlzeit zu sorgen. Während Mr. Drax und Miss Aruula noch um die richtige Route stritten, gewahrte Black zu seiner Rechten einige violettfarbene Büsche, an denen dicke blaue Trauben hingen. Angesichts der Flaute in ihrer Speisekammer dirigierte er das Yakk hinüber, um einige von ihnen zu pflücken. Doch schon nach wenigen Schritten blieb das Tier wie angewurzelt stehen und ließ sich weder durch Schläge noch gute Worte zum Weitergehen animieren. Der Klon des Ex-US-Präsidenten stieß ein Seufzen aus, leise genug, dass es keiner der anderen hören konnte. In Momenten wie diesen wünschte er sich den Nixon-Panzer zurück, der stets auf jede Lenkbewegungen reagiert hatte. 12
Technik besaß unschlagbare Vorteile, davon war der Running Man überzeugt. Und das nicht nur, weil sein Gesäß weiterhin wie Feuer brannte. Mit einer Bewegung, die einiges seiner üblichen Geschmeidigkeit vermissen ließ, schwang er sich vom Rücken des Yakks, zog seinen Driller aus der Seitentasche des zerschlissenen Thermoanzugs und trat auf die Sträucher zu. Die Waffe war eigentlich überflüssig. Das lichte Buschwerk barg keine Möglichkeit, einem Tier als Versteck zu dienen. Black sah nur einige Knochen von Kleintieren dort liegen. Trotzdem. Sicher war sicher. Unterbewusst registrierte er, wie der Streit zwischen Aruula und Commander Drax verebbte. Aus irgendeinem Grund alarmierte ihn das. Warum, wurde ihm erst klar, als die Barbarin rief: »Halt! Keinen Schritt weiter!« Aber da versuchte er bereits eine der dicken Trauben zu pflücken. Der mit sägezahnähnlichen Dornen besetzte Ast, an dem sie hing, bog sich unter dem Druck der Finger. Im gleichen Augenblick passierte es. Detonation wie von knatternden Gewehrsalven hallten in seinen Ohren. Der Busch schüttelte sich wie unter den Einschlägen von Projektilen. Im nächsten Moment erkannte Black seinen Irrtum: Der Busch feuerte selbst! Mindestens ein Dutzend Dornen lösten sich von den hochschnellenden Ästen und flogen Black wie Schrapnell um die Ohren. Die meisten bohrten sich in seine Thermokleidung, einige aber auch in ungeschützte Partien wie Hände und
Gesicht. Black taumelte erschrocken zurück. Ein stechender Schmerz zuckte durch seine linke Gesichtshälfte. Für einen kurzen Moment befürchtete er, am Auge getroffen zu sein, bis er sich tastend Gewissheit verschaffte, dass der Dorn nur in seiner Braue steckte. Der Beschuss hörte so schnell auf, wie er begonnen hatte. Geschockt lugte Black zwischen den gespreizten Fingern hervor, von dem unsinnigen Wunsch beseelt, den Schrapnellbusch mit einer Lasersalve zu einem Häufchen Asche zu verbrennen. Der Strauch wirkte wieder so harmlos wie zuvor. Nur die dünnen Knochen, die zwischen wucherndem Wurzelgeflecht hervor ragten, ergaben plötzlich einen Sinn. Dem Dornenbeschuss erlegen, dienten die zerfallenden Kleintiere als Nährstoff für die aggressive Pflanze. Die winzigen Geschosse konnten aber unmöglich allein den Tod herbeiführen. Beunruhigt starrte Black auf den linken Handrücken, wo er seinen spontanen Verdacht bestätigt fand: Rund um die Eintrittsstellen bildeten sich rote Flecken, die rasch größer wurden. Die Dornen sonderten ein Pflanzengift ab! »Verdammter Mist!«, stieß Black hervor, auch auf die Gefahr hin, dass der Fluch gehört wurde. Mit spitzen Fingern entfernte er die Mini-Geschosse, presste seine Lippen auf die Wunden und saugte das verunreinigte Blut aus. Er spuckte gerade zum zweiten Mal rosa gefärbten Speichel zu Boden, als endlich Hilfe nahte. Seine Begleiter
machten sich sofort daran, ihn von den übrigen Dornen zu befreien. Der spitze Plagegeist in seiner Braue verschwand ebenso wie die Treffer, die in seinem wattierten Thermoanzug steckten. Aiko holte das Erste-Hilfe-Set und analysierte das Gift mit Hilfe einiger Tinkturen, die er in einem transparenten Kunststoffröhrchen zusammen mischte. Sobald er den Dorn hinein warf, färbte sich die Lösung hellgrün. Die Miene des Cyborgs wirkte wie versteinert, während er das Reagenzglas gegen die Sonne hielt, um eine weitere Veränderung abzuwarten. Erst nach gut zwanzig Sekunden - Black hatte den Verdacht, dass er absichtlich so lange brauchte -, entspannten sich seine Züge wieder. »Halb so wild«, sagte Aiko. »Das Gift ist für den menschlichen Organismus ungefährlich. Die getroffenen Stellen werden höchstens ein wenig jucken, aber dagegen gibt es verschiedene Medikamente.« Er wählte eine Salbe aus, mit der Black seine Hände und das Gesicht behandelte. »Seid ihr bald fertig?« Aruula, die als Einzige auf dem Yakk sitzen geblieben war, zeigte sich von ihrer ungeduldigen Seite. »Wir müssen endlich weiter, und zwar südlicher als bisher.« Mr. Black schraubte die Tube zu und reichte sie zurück, bevor er sich an die Barbarin wandte, die den Eindruck machte, als ob sie notfalls auch allein losreiten wollte. »Woher wussten Sie, dass dieser Busch gefährlich ist?«, wollte er wissen Aruula rutschte nervös auf dem Sattel umher. Jedes Wort der Erklärung schien ihr unnötige Zeitverschwendung, trotz13
dem antwortete sie: »Dein Yakk ist stehen geblieben, weil es gespürt hat, dass etwas nicht stimmt. Du hättest darauf achten sollen. Tiere sind oft schlauer als Menschen.« Schweigend stieg Black zurück in den Sattel. Die harsche Kritik der Barbarin mochte überzogen klingen, aber im Prinzip hatte sie Recht. In Zukunft musste er der unbekannten Flora noch vorsichtiger begegnen. Bevor es weiter ging, gab es noch den offenbar unvermeidlichen Streit um die richtige Route. Drax beharrte auf der bisherigen Richtung, bis seine Gefährtin von einer erlauschten Gefahr berichtete, die sie besser umgehen sollten. Der Hinweis auf ihre telepathischen Fähigkeiten überzeugte auch die anderen. Mr. Black war da ein wenig skeptischer, doch der Argwohn hielt nicht lange an. Kaum das sie einige Kilometer in südwestlicher Richtung zurückgelegt hatten, lösten sich seine Zweifel förmlich in Luft auf. Die von den Giftdornen verursachten Kopfschmerzen ließen ebenfalls nach. Blacks gedrückte Stimmung hob sich auf das Niveau der anderen, die fröhlich miteinander schwatzten. Ohne es selbst zu merken, summte er eine beschwingte Melodie, die ihm im Ohr klang. Selbst die Yakks wurden von der allgemeinen Euphorie erfasst. Obwohl sie niemand trieb, legten sie deutlich an Tempo zu. Ein Gefühl der angespannten Erwartung erfasste Mensch und Tier. Gemeinsam fieberten sie dem unbekannten Ziel mit einer Intensität entgegen, wie sie sonst nur Verdurstende beim Anblick einer Quelle verspüren mochten. 14
Was sie genau erwartete, wussten sie allerdings nicht. Und bei weitem war es nicht so erfreulich, wie sie hofften … *
Ein entrücktes Lächeln umspielte Moongas zerfressene Lippen, als sie das Zentrum des Gesangs erreichten. Auf eine für ihn selbst unerklärliche Weise fühlte er sich angenehm berauscht. Was da seinen Ohren schmeichelte, konnte unmöglich von dieser Welt stammen; nein, so klangen nur die heiligen Fanfaren, wenn ein im Kampf gefallener Krieger in die Goldene Pagode einritt, um von nun an und für alle Zeit an der Tafel der Götter zu speisen. Die mandelförmigen Augen halb geschlossen, gab sich Moonga völlig den hypnotischen Klängen hin. Zeit und Entfernung verloren jede Bedeutung. Wo sich die Karawane befand, interessierte ihn längst nicht mehr. Alles, was sein Tunnelblick noch erhaschte, war das ausgebleichte Gras zu seinen Füßen. Den Männern an seiner Seite erging es nicht anders. Selbst die Yakks setzten apathisch einen Huf vor den anderen, immer der Melodie entgegen, die sie geradezu magisch anzog. Der Ritt kam den Ostmännern wie ein süßer Traum vor. Umso brutaler war das Erwachen, als der Gesang unversehens abbrach. Die darauf folgende Stille wirkte wie ein Schlag ins Gesicht. Moonga schüttelte verwirrt den Kopf. Sein Gehirn brauchte einige Zeit, um die auf ihn einstürzenden Eindrücke
richtig zusammenzufügen. Anfangs bemerkte er nur, dass sie mitsamt den Yakks in einer leichten Bodensenke standen. Dann aber sah er, was sein Geist bisher erfolgreich ausgeblendet hatte: Einen lebenden Wall aus Klauen, Zähnen und stahlharten Muskeln, der die Karawane lückenlos umschloss. Grausam anzusehende Raubtiere waren es, die sie mit geschmeidigen Bewegungen umkreisten. Riesige Fangzähne ragten aus ihren Mäulern hervor, groß genug, um einen Menschen mit einem einzigen Biss zu zerteilen. Dem sonst so furchtlosen Moonga schnürte es die Kehle zu. Bereits eine dieser Schreckgestalten hätte höchste Gefahr bedeutet, doch was da immer dichter umkreiste, waren mindestens drei- bis vierhundert Exemplare dieser Gattung. Verdammt. Sie saßen in einer Falle, aus der es kein Entrinnen gab. Wären nicht die entsetzte Rufe seiner Kameraden gewesen, hätte Moonga vermutlich an einen Alptraum geglaubt. Die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen war jedoch keine Lösung. »Das müssen die Siieenn sein, von denen Keoma gesprochen hat«, zischte jemand halblaut. Die Erwähnung der Amazone versetzte Moonga einen Stich durch die Brust. Bei den Meistern der Erde! Was hatte ihn bloß dazu getrieben, eine geachtete Kriegerin, die ihre Karawane vor dem Unheil bewahren sollte, so zu misshandeln? Dafür gab es nur eine Erklärung: Ein Dämon musste in seinen Körper gefahren sein! Vermutlich der Gleiche, der
den ganzen Trupp mit Blindheit geschlagen hatte, als sie willenlos hierher getrottet waren. Moongas Hand tastete langsam über das zitternde Yakk hinweg, bis er den mit Leder umwickelten Griff seines Schwertes erreichte. Das vertraute Gewicht der Waffe flößte ihm ein wenig Mut ein, oder besser gesagt: Todesverachtung. »Wir müssen die Gaben der Götter mit unserem Leben schützen!«, rief er den anderen zu. Als er blank zog, folgten die anderen seinem Beispiel, obwohl jeder Ostmann sehen konnte, wie gering ihre Chancen waren. Der innere Kreis der Raubtiere war nur noch wenige Sprünge entfernt. Zu nah, um sie mit Pfeil und Bogen auf Abstand zu halten. Ein stetes Knurren ging durch ihre Reihen, während sie die Muskeln zum Angriff spannten. Weiter außen rissen einige die Mäuler auf, ohne einen Ton von sich zu geben. Als hätten sie ihre Stimme verloren. Moonga war das herzlich egal. Ihn beherrschte nur ein Gedanke: Wie konnte er sich und seine Krieger hier mit möglichst heiler Haut herausbringen? »Wir brechen durch!«, befahl er, denn Flucht war die einzig vernünftige Alternative. Natürlich konnten nicht alle bei diesem Versuch durchkommen, aber das gehörte zu seinem Plan. Wenn sie Glück hatten, begnügten sich die hungrigen Raubtiere mit den gestürzten Reitern und ließen die übrigen davonkommen. »Los!«, schrie Moonga, und rammte seinem Yakk die Stiefelabsätze in die Flanken. Statt jedoch vorzupreschen 15
und damit auch das eigene Leben zu retten, blieb es einfach stehen. Alles Schlagen und Toben half nichts. Das sture Vieh rührte sich nicht von der Stelle, nur sein Kopf pendelte von links nach rechts. Auch die übrigen Yakks rührten keinen Huf. Damit war die letzte Chance auf Rettung dahin. Ende. Aus. Vorbei. Während einige Ostmänner die Götter anriefen, um für einen ehrenvollen Tod zu beten, fixierte Moonga aus schmalen Augen die Bestien, die außerhalb des blau wogenden Kreises die Mäuler wie zu einem lautlosen Gähnen aufrissen. Ob sie dafür verantwortlich waren, dass die Yakks sich nicht rührten? Ging ihr betörender Gesang vielleicht weiter, obwohl ihn die Menschen nicht mehr hören konnten? Moonga wusste keine Antwort darauf, und er bekam auch nicht die Zeit, länger darüber nachzudenken. Auf ein stummes Signal hin gerieten die Raubtiere in Bewegung. In einer Woge aus Fleisch, Muskeln und Reißzähnen kamen sie näher - und setzten zum Sprung an. Ein seltsames Gefühl der Lähmung erfasste Moonga, trotzdem gelang es ihm, das Schwert in die Höhe zu reißen. Doch der Versuch, die Bestie im Flug aufzuschlitzen, scheiterte kläglich. Noch ehe sich der Stahl in die blau schimmernde Flanke fressen konnte, erhielt er einen fürchterlichen Hieb gegen den Brustkorb. Moongas Waffenarm wurde zur Seite geprellt. Scharfe Krallen schlitzten 16
seine Felljacke auf und gruben sich tief ins Fleisch. Eine feurige Welle zuckte ihm bis zur Schulter hinauf, während der Knochen bloßgelegt wurde. Der Ostmann wollte vor Schmerz brüllen, doch seine Stimmbänder brachten nur ein trockenes Krächzen hervor, als er sah, wie zwei riesige Gebissreihen vor ihm auftauchten. Stinkender Atem schlug ihm entgegen. Für einen kurzen Augenblick sah er das, was geschah, wie durch eine Wand aus gefrorenem Wasser, klar und sonderbar unscharf zugleich. Schaumiger Geifer löste sich von den Lefzen der Bestie und flog in dicken Flocken davon. Die beiden Zahnreihen, von besonders langen Fängen eingerahmt, zielten auf seinen Hals. Mit einem fürchterlichen Knall schnappten die Kiefer zusammen. Moongas Wahrnehmung versank in einem roten Nebel. So spürte er zum Glück nicht mehr, wie er bei lebendigem Leib zerrissen wurde. *
Ruland, zwischen Kolyma und Werchojanak-Gebirge, 30 Jahre zuvor. Das Leben eines Nomaden ist hart und gefahrvoll! Dieser Gedanke ging sicher nicht nur Keoma durch den Kopf, sondern auch den übrigen im Tross, als sie, aus den schönsten Träumen gerissen, dem Ende ins Auge blickten. Die junge Kriegerin ließ ihren warmen Umhang aus Taratzenfell ins feuchte Gras gleiten, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Darunter kam
ein schlanker Körper zum Vorschein, geformt von den zahlreichen Schwertübungen, die sie jeden Tag absolvierte, ohne deshalb an weiblichen Reizen einzubüßen. Ihr bronzefarbener Teint wies ebenso auf einen meerakanischen Zweig in der Ahnenreihe hin wie ihr rotblondes Haar, das unter dem ledernen Spitzhelm hervorwallte. Weder Büsten- noch Lendentücher, sondern fein geschmiedete Konstruktionen aus silbernen Pailletten bedeckten ihre Blößen. Lederne Armschoner schützten vor überraschenden Stichen oder Hieben, dazu trug sie eiserne Schulterstücke und das Oberteil eines Kuuga-Schädels, der ihre linke Brust umschloss. Das bizarre Schmuckstück entstammte einem Berglöwen, den sie mit eigenen Händen erlegt hatte. Nun diente es als Ehrenzeichen, um sie als geschickte Jägerin auszuweisen. Ein vielstimmiges Knurren aus tiefen Kehlen erinnerte an die Gefahr, in der sie alle schwebten. Ist das der Lohn dafür, dass wir ins Land unserer Ahnen zurückkehren wollen?, dachte Keoma grimmig und zog das Schwert mit der halbmondförmigen Parierstange aus der Lederscheide. Wenn man den alten Überlieferungen glauben durfte, hatten die Mogoolen noch vor der Zeit des großen Eises ihr angestammtes Gebiet verlassen, um der schrecklichen Zerstörungskraft Kristofluus zu entgehen. Im kalten Kanda hatten sie seitdem überlebt, stets von Einheimischen bedrängt, die das wenige, was sie besaßen, nicht teilen wollten. Auch Keomas Stamm gehörte zu jenen heimatlosen Nomaden, die ruhe-
los umherzogen, bis ihnen zu Ohren kam, dass in Ruland ein weitaus angenehmeres Klima herrschen sollte. Es folgten lange Beratungen, bis der Ältestenrat endlich die Rückkehr ins Land ihrer Ahnen beschloss. Es wurde eine beschwerliche Reise zur Küste von Kanda, doch die Nomaden waren Hindernisse gewohnt. Dass die heimischen Fischer sie vor der Überfahrt warnten, konnte sie ebenso wenig abschrecken. Mühen und Plagen gehörten zum Stammesalltag. Bevor ein Mogoole den Kopf in den Schnee steckte, musste schon einiges passieren. Nun allerdings, da sie einer Front aus Muskeln, Pranken und Reißzähnen gegenüber standen, kamen ihnen wieder die Warnungen der Fischer in den Sinn, die diesen Landstrich als »Tor zum Jenseits« bezeichnet hatten. Handelte es sich bei den knurrenden Bestien womöglich um Dämonen aus der Zwischenwelt? Panik breitete sich aus unter den Familien, die nicht verstanden, was hier vor sich ging. Eben noch hatten sie, angelockt von betörendem Gesang, die Lichtung eines wunderschön gelegenen Waldhains erkundet, als unversehens ein Rudel großer haarloser Lupas aus dem Unterholz hervorbrach. Seitdem waren die Mogoolen zu bewegungslosen, wie aus Granit geschlagenen Statuen erstarrt. Doch dieser Zustand würde nicht lange anhalten. Zu oft schon hatten sie mit dem Rücken zur Wand gestanden, um jetzt einfach kampflos aufzugeben. Die Nomaden reagierten, wie es bei Bedrohungen üblich war. Mütter, Kin17
der und Gebrechliche nahmen die Yakks an den Zügeln und drängten sich in der Mitte zusammen. Alle anderen schwärmten zu einem weitläufigen Kreis aus, der nur so vor Schwertern, Speeren und Dolchen strotzte. Für eine gemeinsame Taktik blieb keine Zeit. Sie konnten nicht mehr tun, als auf die näherrückenden Bestien einzuschlagen und das Beste zu hoffen. Keoma zählte gut fünfzig Tiere, die sich in perfekter Abstimmung zueinander bewegten. Dieses Rudel jagte nicht zum ersten Mal zusammen, so viel war sicher. Bei aller Wildheit, die sie zur Schau stellten, handelten die Tiere taktisch klug und diszipliniert, fast wie von unsichtbarer Hand geführt. Ohne sich durch Knurren oder Seitenblicke verständigen zu müssen, preschten sie los. Ein geschlossener Angriff auf breiter Front, bei dem keiner dem anderen in die Quere kam. Keomas schlanker Körper spannte sich in Erwartung des Rudels. Der Bihänder wog schwer in ihren Händen, trotzdem stemmte sie ihn, die Klinge leicht nach vorne geneigt, in die Höhe. Vibrationen kitzelten ihre Fußsohlen. Die Lichtung erzitterte unter dem Ansturm der Meute. Schlingkraut, Dornenblumen und Gras wurden von den schweren Pranken aufgewirbelt. Speere flogen dem Rudel entgegen. Einige Spitzen prallten von der dicken Lederhaut ab, andere durchdrangen den natürlichen Panzer und verursachten sprudelnde Wunden. Aber auch sie zeigten keine große Wirkung. Ein Speer im Leib konnte die Bestien nicht stoppen. Sie rannten einfach weiter, als ob 18
ihnen das eigene Leben nichts bedeutete. »Beim Großen Khaan!«, keuchte Ugagi, der Keoma zur Linken flankierte. »Diese Viecher scheinen unverwundbar zu sein.« Er war ein breitschultriger, kräftiger Mann mit schwarz glänzendem Haar, der normalerweise durch Unerschütterlichkeit glänzte. Ihn nun so ängstlich zu sehen, tat der Amazone weh. »Unsinn!«, herrschte sie Ugagi an. »Alles was blutet, lässt sich auch töten. Schlag zu, so hart du kannst.« Danach herrschte Schweigen. Nur der Donner der aufschlagenden Tatzen hallte in Keomas Ohren, untermalt vom schnellen Takt ihres eigenen Herzens. Die Amazone war aufgeregt, das ließ sich nicht leugnen. Furcht oder gar Panik verspürte sie aber nicht. Irgendwann erwischte es jeden von ihnen, damit hatte sie sich schon vor langer Zeit abgefunden. Entscheiden war nur, wie eine Kriegerin starb. Nur wer der Gefahr mutig entgegen trat, durfte nach seinem Tod mit dem Großen Khaan an derselben Tafel sitzen. Keoma konzentrierte sich auf ein Raubtier, das direkt auf sie zusteuerte. Trotz der Gefahr, die von dem Rudel ausging, konnte sie nicht umhin, die geschmeidige Eleganz der Bestien zu bewundern. Bis in die letzte Körperfaser angespannt, erwartete Keoma den Angriff, völlig starr, ohne auch nur mit den Augenlidern zu zwinkern. Erst als das Rudel zum Sprung ansetzte, kam Bewegung in sie - denn in der Luft konnten
die Tiere ihre Angriffsrichtung nicht mehr ändern. Blitzschnell tauchte Keoma zur Seite weg und wirbelte das Schwert nach vorne. Es war ein überhasteter, beinahe blind geführter Schlag, der eher zufällig ins Ziel traf. Knirschend touchierte sie eine vorgestreckte Pranke, deren Krallen die Luft genau an der Stelle zerteilten, an der sich eben noch ihr Kopf befunden hatte. Der Schwertgriff vibrierte unter dem harten Rückschlag, als die Klinge durch den Knochen schnitt. Das zuckende Bein fiel zu Boden, während das verletzte Tier vom eigenen Schwung getragen noch ein Stück weiter flog. Eine blutige Fontäne nach sich ziehend, ging es im Gras nieder, doch wegen der fehlenden Vordertatze wurde aus der Landung ein halber Überschlag. Den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen, rollte die Bestie auf den Rücken und schlug mit den verbliebenen Pranken blindlings in die Luft. Weder schmerzerfülltes Heulen noch betörender Gesang kam über seine gebleckten Fänge, trotzdem verspürte Keoma eine eisige Lähmung, die erst nachließ, als sie ihr Schwert seitlich in den Schädel der Bestie rammte. Sobald das Tier verendet war, ließ auch der-Druck nach, der um ihren Brustkorb lag. Das konnte kein Zufall sein. Nur - was war es dann? Magie? Dämonenwerk? Keoma kamen die Legenden in den Sinn, die an der Küste von Kanda erzählt wurden. Angeblich sollte es hier in der Anderswelt Sireenen geben, die ahnungslose Reisende mit betörenden
Melodien ins Verderben lockten. Bisher hatten die meisten Stammesmitglieder vor allem männliche - geglaubt, dass es sich bei diesen Sangeskünstlern, wenn es sie denn wirklich gab, um spärlich bekleidete Frauen handeln würde. Dass es Raubtiere waren, hätte wohl niemand für möglich gehalten. Keuchend zog Keoma das Schwert aus dem Schädelknochen. Ein Feind weniger, aber was half es? Um sie herum tobte der Kampf mit ganzer Härte weiter. Unentwegt gingen die Schwerter nieder, schlugen und stachen zu, bis das Blut, dick und schwarz wie Pech, in zähen Fäden von den Klingen tropfte. Die Nomaden schlugen sich tapfer, doch gegen die wendigen Mordbestien, die keinerlei Angst vor Verletzungen zeigten, hatten sie nicht die geringste Chance. Für jeden Streich, der einer Sireene zugefügt wurde, brachen zwei Krieger sterbend zusammen. Die Reihen der Mogoolen lichteten sich mit beängstigender Geschwindigkeit. Keoma musste zur Seite springen, um einem drohenden Prankenhieb auszuweichen. Dieses Manöver brachte sie in die Reichweite eines anderen Raubtieres, das gerade von einem zerschmetterten Antlitz aufsah, das zu entstellt war, um es noch erkennen zu können. Aus dem Stand heraus sprang die Sireene nach vorne. Ihr feuchtes Maul glänzte vor Blut, als sie die Vordertatzen hob, um Keoma an den Schultern zu packen und zu Boden zu reißen. Ausweichen konnte die Amazone nicht mehr. Alles was ihr blieb, war das Schwert in die Höhe zu reißen und nach vorne zu wuchten - mitten hinein in das 19
offene Maul, das noch vom Blut ihrer Stammesbrüder triefte. Der Zusammenprall rammte die Klinge tief in den Rachen, gleichzeitig schleuderte er Keoma zu Boden. Das Schwert wurde ihr aus den Händen gerissen. Instinktiv rollte sie zur Seite, um nicht unter den Fleischmassen begraben zu werden. Keoma war schnell, doch nicht schnell genug, um einer wütenden Pranke zu entkommen. Vier Krallen hinterließen rote Spuren auf ihrem nackten Oberschenkel. Warm und feucht pulste es aus den Wunden, die zum Glück nicht allzu tief waren. Das Blut rann ihr Bein hinab und vermischte sich mit der dunklen Pfütze, die bereits auf der Lichtung schwamm. Schnaufend stemmte sich die Amazone in die Höhe. Das Schwert konnte sie erst mal vergessen, denn die Kreatur, die sie damit verletzt hatte, schoss in dem verzweifelten Versuch davon, die eingedrungene Waffe durch heftige Kopfbewegungen abzuschütteln. Keoma hätte gerne die Verfolgung aufgenommen, doch die Sireene, der sie bereits einmal ausgewichen war, vertrat ihr nun den Weg. Zumindest versuchte sie es, bis Ugagi herangestürmt kam und seinen Speer in ihre ungeschützte Flanke trieb. Wütend wirbelte die Bestie auf den Hinterläufen herum und schlug nach dem rot besudelten Krieger, dem die Kleidung in Fetzen herunter hing. Ugagi blutete bereits aus mehr Wunden, als er an Sommern zählte. Der Verlust an Lebenskraft machte seine Bewegungen langsam und träge. 20
Er versuchte noch, der Attacke auszuweichen, doch die Beine wurden ihm schneller unter dem Körper weggerissen, als er reagieren konnte. Es gelang ihm zwar noch, sich im Fallen zu drehen, sodass er den Aufprall mit den Händen abfedern konnte, doch als die Sireene zu einem Sprung auf seinen Rücken ansetzte, war es endgültig um ihn geschehen. Entsetzt musste Keoma verfolgen, wie der Stammesbruder unter dem Gewicht zusammenbrach. Rasselnd wich die Luft aus Ugagis Lungen. Die Sireene, die ihn niederdrückte, hob die rechte Pranke, um ihm endgültig den Garaus zu machen. Auf Hilfe brauchte er nicht zu hoffen, denn die Verteidigung brach gerade auf ganzer Linie zusammen. Überall schrien Mütter und Kinder auf, weil die Sireenen durchbrachen. All das registrierte Keoma nur am Rande, denn ihr ganzes Streben war darauf ausgerichtet, Ugagi beizustehen. Ohne an ihr eigenes Heil zu denken, stürzte sie los. Mit bloßen Fäusten wollte sie auf die Schreckgestalt einschlagen, die über Ugagi aufragte. Die Wut, die durch ihre Adern hämmerte, verlieh der Amazone ungeahnte Schnelligkeit, aber das reichte nicht aus. Noch während sie anstürmte, bemerkte sie den armdicken Sirenenschweif, der vor ihr in die Höhe zuckte. Es war eine lässige, geradezu gelangweilte Bewegung, für die sich die Bestie nicht einmal umsah. Trotzdem traf der Hieb ins Schwarze. Keoma spürte einen scharfen Luftzug oberhalb des Ohrs, gefolgt von einem dumpfen
Schlag, der ihr kurzzeitig die Besinnung raubte. Mit dröhnendem Kopf fand sie sich am Boden wieder. Ihre linke Schädelhälfte schien in Flammen zu stehen. Der Schmerz war überwältigend. Kraftlos suhlte sie sich auf dem matschigen Boden. Zu müde, um aufzustehen, aber auch zu wach, um die Ohren vor dem Krachen, Reißen und Schmatzen zu verschließen, das von allen Seiten auf sie eindrang. Warum nur?, fragte sie sich inmitten des Massakers. Warum strafen uns die Götter für die Suche nach einer neuen Heimat? Nicht nur körperlich geschlagen, sondern auch innerlich zerbrochen wartete sie auf das Ende. Vergeblich. Als die Fressgeräusche verebbten, lag Keoma noch immer unversehrt auf dem Rücken. Zitternd, aber am Leben, lauschte sie dem Gewimmer der Mütter und Kinder und stellte sich dabei eine Frage, die sie mehr als alles andere quälte. Warum verschonen die Sirenen unser Leben? *
Gegenwart. »Wo sind wir denn hier gelandet?« Matt schüttelte benommen den Kopf, denn die Gegend, durch die sie gerade ritten, wirkte fremd und unbekannt. Verdammt, war er im Sattel eingeschlafen? Der niedrige Baumbewuchs, den sie gerade noch passiert hatten, hatte sich jedenfalls in eine kahle Tundra verwandelt. Linkerhand erhoben sich Gra-
nitfelsen, geradeaus versperrte eine grüne Hügelkette die Sicht auf den zuvor freien Horizont. Eine eisige Böe strich von dort herüber. Ein Vorbote des nahenden Winters. In seinem Sog folgten bizarre Klangfetzen, deren Ursprünge sich nur schwer entschlüsseln ließen. Matt glaubte zuerst Schreie auszumachen, schwankte dann aber zwischen einem Bersten, Zerren oder Wimmern. Oder alles drei zusammen. Als er in die Höhe blickte, um sich anhand des Sonnenstandes zu orientieren, fuhr dem Piloten ein heißer Schreck durch alle Glieder. Nach seiner Schätzung waren sie gerade mal zwei Stunden unterwegs, doch die gleißende Scheibe hatte bereits den Scheitelpunkt des Himmels erreicht! Es musste schon Mittag sein. Und dann diese Benommenheit! Als ob er die ganze Zeit im Delirium geritten wäre. Ja, nach genauer Überlegung konnte er sich auch wieder an die zurückgelegte Strecke erinnern, bei der er jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren hatte. Seltsam. So etwas war ihm noch nie passiert. Ein Blick in die Runde zeigte, das es den anderen nicht viel besser ging. Allen stand die gleiche Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. Aiko rieb sich stöhnend den Nacken. Eine hilflose Geste, die sich unter Matts fragendem Blick noch verstärkte. »Seltsam«, erklärte der Cyborg. »Ich habe eine Erinnerungslücke. Mir ist, als hätten wir einen Sprung von mehreren Kilometern gemacht.« Die anderen pflichteten Aiko bei, 21
selbst Aruula, die es nach dem Frühstück unbedingt in die neue Richtung gezogen hatte. Wenn Matt die tiefe Falte über ihrer Nasenwurzel richtig deutete, war dieses Verlangen inzwischen versiegt. »Ich habe den ganzen Morgen einen unwiderstehlichen Ruf gehört«, flüsterte sie in die Stille hinein. »Nun ist er plötzlich verstummt.« Die anderen aus der Gruppe teilten dieses Gefühl, nur dass die telepatisch begabte Barbarin dem Drang schneller als sie verfallen war. Was mochte es bloß gewesen sein, was da in von ihnen Besitz ergriffen hatte? Ein Hilferuf? Wenn ja, von wem? Und von wo? Zumindest die letzte Frage ließ sich rasch beantworten. Die Quelle des Antriebs musste jenseits der südlichen Hügelkette liegen - dort wo der Missklang entstand, der immer noch bruchstückhaft zu ihnen herüber wehte. Aiko starrte angestrengt in die Ferne, obwohl der Höhenzug zu weit entfernt lag, um mehr als ein paar Umrisse zu erkennen. Für einen Außenstehenden mochte die Geste deshalb lächerlich wirken, doch wer den Asiaten näher kannte, wusste, dass er mit seinen Rezeptionsverstärkern viel weiter sehen konnte als ein normaler Mensch. »Nichts Besonderes auszumachen«, gestand er trotzdem ein. »Falls dort etwas passiert, spielt es sich jenseits der Hügel ab. Und jetzt?« Abschätzend sahen die Männer und Frauen einander an. Umzukehren kostete zu viel Zeit und war wenig sinnvoll. Logischer war es, die weitere 22
Route wieder weiter nördlich zu legen. Aber was war mit diesem Ruf, den sie alle verspürt hatten? Falls wirklich jemand in Not war, durften sie ihn einfach im Stich lassen? »Sehen wir nach, was los ist«, schlug Mr. Black vor. »Angesichts unserer Bewaffnung sollten wir gegen alle Überraschungen gewappnet sein.« Um seine Worte zu bekräftigen, zog er ein Lasergewehr aus dem Gepäck und legte es griffbereit vor sich auf den Sattel. Die anderen folgten dem Beispiel. Aiko nahm die Tak 02 von der Schulter, Matt und Honeybutt überprüften ihre Driller. Selbst Aruula, die meistens auf ihren Bihänder vertraute, versorgte sich mit einer Laserpistole aus den Beständen der Running Men. Derart gerüstet machten sie sich auf den Weg. Trotz der schnellen Yakks brauchten sie noch über eine Stunde, bis der Höhenzug vor ihnen lag. Zeit genug, um sich auszumalen, was dahinter vorgefallen sein könnte. Angesichts des schrecklichen Bildes, das sie erwartete, verblasste jedoch selbst die morbideste Fantasie. Schon als sie die Hügelkuppe passierten, stieg ihnen der Geruch von frischem Blut in die Nase. Er kam aus der dahinter liegenden Senke, in der ein wahres Massaker stattgefunden hatte. Den herumliegenden Lederhelmen nach zu urteilen, handelte es sich bei den Opfern um mongolische Reiter, die in einen Hinterhalt geraten waren. Ob es Ostmänner oder Mogoolen gewesen waren, ließ sich auf dem ersten Blick nicht bestimmen.
Ihre Hoffnung, noch Hilfe leisten zu können, zerschlug sich auf brutale Weise. Hier hatte niemand überlebt, das zu sehen. Wahre Leichenberge türmten sich vor ihnen auf. Wie viele Mongolen und Yakks abgeschlachtet worden waren, ließ sich angesichts der weit verstreuten Körperteile nur schwer abzuschätzen, doch es mussten Dutzende gewesen sein. Das vergossene Blut hatte den aufgewühlten Boden in einem Umkreis von fünfzig Metern durchtränkt. Ein roter Pfuhl, übersät mit zerfleischten Armen, Beinen, Brustkörben und Köpfen, die allein durch ihre pure Masse schockierten. Matt umklammerte den Driller, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Unwillkürlich nahm er jede Einzelheit in sich auf. Aasfresser ließen sich bisher nicht blicken. Dafür sah er blutige Schlieren, die an Pflanzenblättern herab liefen, um sich zu dunklen Tropfen zu sammeln und träge zu Boden zu fallen. So frisch, wie alles in der Sonne glänzte, lag das Gemetzel nicht lange zurück, doch von den Verantwortlichen fehlte jede Spur. Matt spürte, wie Aruula beruhigend über seine Schulter strich. Die Barbarin verdaute den bedrückenden Anblick besser als alle anderen, abgeklärt durch die harten Jahre in Sorbans Horde. »Wer ist nur zu so etwas fähig?«, fragte Honeybutt, die sich fassungslos an Aiko festklammerte. Seine Nähe schien der jungen Rebellin Kraft zu geben. Trotz des Zitterns, das ihren Leib schüttelte, behielt sie die Umgebung
wachsam im Auge. Mr. Black ließ sich von seinem Yakk zu Boden gleiten und ging neben einem abgetrennten Kopf in die Hocke. Er drehte ihn mit dem Lauf des Lasergewehrs, bis das Gesicht oben lag. Ein entstelltes Gesicht mit einem hasenschartigen Mund und daumennagelgroßen Geschwüren auf Stirn und Wangen. »Ostmänner«, sagte Black nur. Er richtete sich wieder auf. »Aber wer greift Ostmänner an?«, sagte Aiko ungläubig. »Raubtiere«, erklärte Aruula tonlos. »Seht euch die Verletzungen an. Das sind Bisse und Fressspuren, keine Schwertstreiche. Diese Menschen sind Kuugas oder Lupas zum Opfer gefallen. Einem verdammt großen Rudel, wie es scheint.« »Egal, wer oder was es war, wir sollten machen, dass wir von hier fortkommen.« Honeybutt sah sich gehetzt um. »Vielleicht sind die Biester noch irgendwo in der Nähe.« Mit gerecktem Hals hielt sie Ausschau. »Fliehen ist nicht unbedingt die beste Lösung«, widersprach Mr. Black. »Dann haben wir die Bestien nämlich im Rücken. Warten wir lieber, bis sie sich heraustrauen, und brennen wir ihnen eins auf den Pelz.« So wie er das Lasergewehr im Deutanschlag hielt, wartete der Running Man tatsächlich nur darauf, den Zeigefinger zu krümmen. Honeybutt machte fast den Eindruck, als ob sie gegen den Vorschlag ihres Anführer protestieren wollte, doch Aiko kam ihr zuvor. Die Tak 02 am ausge23
streckten Arm, deutete er mit dem Lauf in die Senke. »Seht euch mal die drei zerfleischten Yakks an. Dort links, dreißig Meter von hier. Seht ihr die olivefarbenen Transportkisten, die daneben im Gras liegen?« Matt lenkte den Blick in die angegebene Richtung. Einmal darauf aufmerksam gemacht, erkannte er mit bloßem Auge, was der Cyborg als erstes erspäht hatte: ein aufgemaltes Emblem, bestehend aus einer blauen Erdkugel, die von einem Kometenkeil gespalten wurde. Das Ganze auf dem rotweiß gestreiftem Untergrund der einstigen US-Flagge. »Das Zeichen des Weltrats!«, keuchte er. »Die Ostmänner haben einen Transport durchgeführt!« Plötzlich war ihrer aller Neugier geweckt. »Wir müssen nachsehen, was da drin ist«, drängte Mr. Black sofort. Das sie dafür durch den blutigen Morast waten mussten, schien ihn nicht zu stören. »Vielleicht gibt uns der Inhalt Aufschluss über die Pläne der WCA.« Matt gab ihm Recht. Doch die Aussicht, das Schicksal der Ostmänner zu teilen, behagte ihm auch nicht sonderlich. Er sah zu Aiko hinüber. »Was sagt dein Thermo-Modus?« Der Cyborg zuckte mit den Schultern. »Laut Wärmebild hält sich im näheren Umkreis kein größeres Lebewesen versteckt. Was jenseits der Hügel vor sich geht, steht natürlich auf einem anderen Blatt.« »Okay.« Matt war froh, dass der Cyborg die Grenzen seiner Möglichkeiten unterstrich, damit es zu keinen Missverständnissen kam. »Wie sieht es bei dir 24
aus, Aruula?« »Ich spüre Angst und Nervosität in unseren Reihen«, antwortete sie gerade heraus. »Aber auch etwas Tierhaftes, Angriffslustiges, das außerhalb lauert.« »Kannst du den Standort näher bestimmen?« »Nein.« Ihre Stimme klang belegt, als würde etwas ihren Hals blockieren. »Es ist überall.« »Wenn das so ist«, antwortete Matt fatalistisch, »können wir genauso gut hinunterreiten.« Die Yakks scheuten anfangs davor, die gewünschte Richtung einzuschlagen. Der Blutgeruch jagte ihnen Angst ein. Letztendlich beugten sie sich jedoch den Tritten, die ihre Flanken traktierten. Auf getrennten Wegen ging es den Hügel hinab. Die Reiter hielten möglichst viel Abstand voneinander, um sich bei einem Angriff nicht gegenseitig in der Feuerlinie zu stehen. Alle fünf hielten ihre Waffen im Anschlag, jederzeit bereit, beim geringsten Anzeichen von Gefahr zu feuern. Entgegen aller Erwartungen blieb es vollkommen ruhig. So ruhig, dass man die Fleggen hörte, die surrend über den Kadavern kreisten. Ganze Schwaden dicker schwarzer Punkte tanzten in der Luft, begierig, sich an den Überresten des Massakers zu laben. Schmatzend gab der Boden unter den Yakk-Hufen nach, als sie den rot durchtränkten Teil der Senke erreichten. Als sie die Stahlblechbehälter erreichten, sprang Black abermals aus dem Sattel. Mit wenigen Schritten war er bei den Kisten und prüfte, ob sie sich
öffnen ließen. Die anderen sicherten solange die Umgebung. »Einfache Schnappverschlüsse«, verkündete der blonde Hüne. »Die armen Teufel würden wohl nie wagen, sich an den göttlichen Gaben zu vergreifen.« Von Merlin Roots wussten sie, dass sich die WCA-Abgesandten in Malmö von den Nordmännern als Meister der Erde anbeten ließen. Hier, bei den rekrutierten Mongolenvölkern, war es sicher nicht anders. Matt legte seinen Driller auf dem Sattel ab. »Für wen war dieser Transport wohl bestimmt?«, fragte er laut. Mr. Black, der inzwischen weitere Kisten geöffnet hatte, stieß ein wütendes Zischen aus, bevor er antwortete: »Lynne Crow!« Matt starrte verblüfft zu dem Running Man hinab. »Ist das Ihr Ernst?« Black nickte düster. »Hier!« Er hielt ein Schreiben in die Höhe. Den sauber untereinander aufgeführten Kolonnen nach zu urteilen, eine Bestandsliste. »Standardformular 22B, zweiter Durchschlag. Nachschublieferung wie angefordert für ein Mobiles Kommando unter der Leitung von Captain Lynne Crow. Treffpunkt: Lena-Mündung, Sibirische Nordküste.« »Auf dem Weg zum Kratersee, wie wir schon vermutet hatten«, ergänzte Matt kopfschüttelnd. »Aber dass die Tochter von General Crow die Expedition anführt …« »Eigentlich müssten wir ihnen ja dankbar sein«, grinste Black. »Dieses Material hier können wir gut gebrauchen.« Triumphierend zählte er auf: »Drillermagazine, Nahrungskonzen-
trate, Medikamente, elektronische Bauteile und …«, er stutzte einen Moment, bevor er unbehaglich vollendete: »… Kondome aus olivgrünem Latex.« Der letzte Posten auf der Liste schrie geradezu nach spöttischen Bemerkungen, doch ehe jemand etwas sagen konnte, ließ ein Warnruf sie alle zusammenfahren. *
»Dort! Zwischen den Hügeln!«, rief Aruula, mit der Laserpistole über Matts Schulter deutend. Der Pilot erfasste sofort, dass sie einen bläulich schimmernden Schatten meinte, der sich zwischen hüfthohen Grashalmen abzeichnete. Auch halb verdeckt machte das Tier einen Furcht einflößenden Eindruck. Über drei Meter lang, schien es nur aus Muskeln, Pranken und Zähnen zu bestehen. Sein wuchtiger Schädel war mit mächtigen Fängen besetzt. Ein Raubtier, wie es im Buche stand. Zum Töten geboren. »Bei Wudan«, keuchte Aruula. »Dagegen wirken Lupas ja harmloser als ein Rudel Gerule.« Damit hatte sie zweifellos Recht. Doch so gefährlich diese Mordmaschine auch sein mochte, es gab ein Mittel, gegen das sie gewiss nicht ankam: das Explosivgeschoss eines Drillers. Matt richtete die Waffe aus und drückte ab. Sekundenbruchteile später platzte der Boden zu Füßen des Tieres auf. Erschrocken wirbelte es auf den Hinterläufen herum und hetzte davon. Matt jagte zwei weitere Geschosse hin25
terher. Obwohl sie nicht größer als die Spitze eines Kugelschreibers waren, ließen sie hohe Erdfontänen aufspritzen, die auf den davon huschenden Schatten niederprasselten. Matt atmete erleichtert durch. Offensichtlich war dieses Biest zum ersten Mal mit einer Schusswaffe in Berührung gekommen. So schnell würde es sich bestimmt nicht mehr blicken lassen. »Thema erledigt«, verkündete Matt. Ein wenig zu großspurig, wie sich herausstellte. Noch ehe der Widerhall der letzten Detonation verklungen war, hob aus allen Himmelsrichtungen lautes Geheul an, das rasch in einen hellen Singsang überging. Es war ein unangenehmer, durchdringender Ton, der sich erst an der Grenze des Hörbaren und schließlich auch darüber bewegte. Plötzlich war dem Piloten elend zu Mute. Seine Arme wurden schwer wie Blei. Müdigkeit übermannte ihn. Er sah alles nur noch durch einen milchigen Schleier, der seine Pupillen umwölkte. Obwohl bei vollem Bewusstsein, gelang es Matt nicht, gegen die Trägheit anzukämpfen. Unbewusst ließ er den Driller sinken. Den anderen erging es nicht besser. Eine unheimliche Mattigkeit griff um sich. Diese heulenden Geschöpfe hatten weit mehr zu bieten als nur brutale, animalische Kraft. Ihr Gesang besaß etwas Hypnotisches, dem sich weder Mensch noch Tier entziehen konnte. Das hatte sie also hierher gelockt. Keine suggestive Bitte um Hilfe, son26
dern ein Lockruf, dem auch die Ostmänner erlegen waren. Matt kamen unwillkürlich die griechischen Sagen über die Sirenen in den Sinn, die jeden, der ihren Gesang hörte, ins Verderben lockten. Ehe seine Gedanken noch tiefer in die Mythologie abdriften konnten, ließ die Lethargie aber wieder nach. Als sich Matts Blick geklärt hatte, folgte der nächste Schock. Die vorherrschende Farbe auf den umliegenden Hügeln war plötzlich nicht mehr gelbgrün, sondern blauschwarz. Auf den ersten Blick fiel es schwer, einzelne Raubtiere in dem dichten Gewimmel auszumachen, doch je näher sie rückten, desto deutlicher traten sie aus der Masse hervor. »Verdammt, das sind Hunderte!«, keuchte Black, der sein Lasergewehr ans Kinn hob. Matt visierte ebenfalls die anrückende Meute an, obwohl das nicht mehr als eine hilflose Gebärde war. Gegen diese geballte Übermacht hatten auch moderne Waffen keine Chance. Spätestens wenn es ans Nachladen ging, wurden sie von der puren Masse zwangsläufig überrannt. Die anderen in der Gruppe dachten genauso. Niemand mochte als Erster abdrücken. Rohe Gewalt brachte sie nicht weiter. Matt zermarterte sich den Kopf nach einem brauchbaren Plan. Flucht war keine Option. Der Kreis, der sie umschloss, wies keine Lücke auf, die groß genug gewesen wäre, ihn zu durchbrechen. Da stoppte plötzlich die Vorwärtsbewegung der Bestien abrupt. Wie auf ein
stummes Kommando ließen sich die Sirenen nieder und bedachten ihre Beute nur noch mit müden Blicken. »Was soll das werden?«, fragte Matt, ohne den Driller zu senken. »Haben sie das Interesse an uns verloren?« Wieder war es Aruula, die die Regeln der Natur am besten verstand. »Nein«, erklärte sie. »Sie sind einfach noch satt von der letzten Mahlzeit.« Matt traute seinen Ohren nicht. »Du meinst, die Biester warten in Ruhe ab, bis sie wieder hungrig sind?«, fragte er ungläubig. »Klingt logisch«, sagte Aiko. »Weglaufen können wir schließlich nicht. Diese Kreaturen scheinen sich ihrer Dominanz wirklich sehr sicher zu sein.« »Kein Wunder«, knirschte Matt. »Wenn sie wieder anfangen zu jaulen, können wir uns nicht mal wehren!« »Wir müssen zu Wudan beten«, schlug Aruula vor. »Nur er kann die Magie der Dämonen brechen.« Es war typisch für das Weltverständnis der Barbarin, dass sie die mutierten Gesänge für ein übernatürliches Ereignis hielt. Aiko sparte sich eine passende Bemerkung. In dieser Beziehung hatten er und Matt schon bei ähnlichen Disputen auf Granit gebissen. »Keine schlechte Idee«, sagte er deshalb. »Zusätzlich sollten wir uns aber auch selbst einen Schutz gegen das Jaulen ausdenken.« »Machen wir es wie Odysseus!«, schlug Matt vor, und prompt kam die Frage von Aruula: »Odysseus? Wer ist das?« »Jemand aus einer Legende der Al-
ten, dem etwas Ähnliches passiert ist«, antwortete der Pilot. »Er hat sich Wachs in die Ohren gestopft, um den Gesang dem Sirenen zu widerstehen.« »Und diese … Sirenen waren Kreaturen wie die hier?«, hakte Aruula nach. »Nun«, gab Matt zu, »ehrlich gesagt waren es schöne Frauen. Aber ihr Gesang hatte dieselbe Wirkung. Es ist also einen Versuch wert.« Den Driller auf die Raubtierfront gerichtet, stieg er vorsichtig aus dem Sattel. Die Bestien schien das nicht sonderlich zu stören. Behaglich ausgestreckt, ließen sie sich die Sonne auf den Bauch scheinen. »Kaltblüter«, kommentiert Aiko nach einer Justierung der Augenimplantate. »Sie scheinen eine Mischung aus Echsen und Wölfen zu sein.« Die Tak 02 im Anschlag, visierte er die Raubtiere an, während Aruula und Honeybutt sich zu Matt gesellten, der mit Mr. Black die WCA-Kisten nach etwas Brauchbarem durchwühlte. Nach einigem Suchen stießen sie auf Wundwatte, die sie sich als Wachs-Ersatz in die Ohren stopfen konnten. Hastig rissen sie die Päckchen auf und verschlossen ihre Gehörgänge mit dem weichen Material. Dann waren die Ohren der Yakks an der Reihe. Starr vor Angst, ließen die Tiere die Prozedur willenlos über sich ergehen. Nachdem diese Arbeit erledigt war, schlossen die Gefährten die Blechkisten und zurrten sie hinter dem übrigen Gepäck fest. Falls sie dem Hinterhalt entkamen, mochte ihnen der Inhalt noch von Nutzen sein. Falls … Was für ein schrecklich ungewisses Wort. 27
Die Yakks am Zügel, die Waffen im Anschlag, bewegten sich die Fünf langsam vorwärts. Schritt für Schritt, um die Sirenen nicht aufzuschrecken, kehrten sie auf dem gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren. Ihre Stiefel streiften durch blutbeflecktes Gras, bis das Zentrum des Massakers hinter ihnen lag. Von hier aus waren es noch knapp dreißig Meter bis zu den ersten Sirenen. Matt fiel auf, dass die Tiere immer zu siebt beieinander hockten. Vermutlich die kleinste Einheit, die gemeinsam jagte. Ob das etwas zu bedeuten hatte? Mit jedem Meter, den sie von nun an zurücklegten, stieg die Gefahr, dass ihr Bewegungsdrang nicht mehr toleriert wurde. Voller Anspannung warteten sie auf den Moment der Entscheidung. Sobald sich die Lage zuspitzte, wollten alle Fünf das Feuer eröffnen und gemeinsam durchbrechen. Bisher hatten noch keins der Biester einen Treffer am eigenen Leibe erfahren. Dieser Schock würde hoffentlich für genügend Aufregung sorgen, um die Flucht zu ermöglichen. Als sie noch zwanzig Meter vom Belagerungsring entfernt waren, kam Bewegung in die Sirenen. Mit einem Mal ruckten ihre Köpfe in die Höhe. Und dann begann das erwartete Heulen, mit dem sie die Gefangenen zur Raison bringen wollten. Matt ahnte den anschwellenden Ton mehr, als dass er ihn wirklich hörte. Die dämmende Watte zeigte ihre Wirkung. Die Lautstärke hatte gewaltig nachgelassen. Klappt doch wie am Schnürchen, frohlockte er, um sich Mut zu machen. 28
Den Driller am ausgestreckten Arm, wartete er darauf, dass das erste Tier aufsprang, um sie mit Gewalt aufzuhalten. Nichts dergleichen geschah. Das nächste, was Matt bewusst wahrnahm, war, dass er auf dem Boden hockte und der Driller neben ihm Gras lag. Gemeinsam mit Aiko, Aruula, Honeybutt Hardy und Mr. Black bildete er einen Kreis. Die drei Yakks hatten sich nur wenige Meter entfernt niedergelassen. »Das war wohl nichts«, resümierte Aiko, der als erster die Sprache wiederfand. »Wir hatten wieder einen Blackout. Der Ton ist zu intensiv, um ihn durch Watte oder sonst was zu blockieren.« Matt blickte zu den Sirenen, die sich keinen Meter von der Stelle gerührt hatten. Langsam wurde ihm klar, woher sie ihre Ruhe nahmen. Dieses grausame Spiel war für sie Routine. Sie hatten das alles schon unzählige Male durchgezogen, ohne je einen Gefangenen zu verlieren. »Irgendwelche Vorschläge, was wir tun können?«, fragte Matt, am Ende seiner Weisheit angelangt. Niemand wusste eine Antwort. *
Ruland, 30 Jahre zuvor. »Hör auf«, bettelte Shangrina, »es hat doch alles keinen Zweck mehr. Wir sind sowieso zum Sterben verdammt.« Seit Bagirs Tod vor einigen Tagen war die junge Frau nicht mehr dieselbe. Obwohl im gleichen Sommer wie Keoma
geboren, wirkte ihr Gesicht fahl und zerfurcht wie das einer Greisin. Der schreckliche Moment, als ihre Tochter von den Sireenen zerrissen wurde, hatte Shangrina rapide altern lassen. Das vor Dreck starrende Haar hing ihr wirr ins Gesicht. In den braunen Augen tanzten hektische Reflexe, die von beginnendem Wahnsinn kündeten. »Zum Sterben verdammt«, leierte sie erneut, »wie mein kleiner Schatz, den mir die Dämonen genommen haben.« Die letzten Worte gingen bereits in ein trockenes Schluchzen über. Keoma strich der Stammesschwester tröstend über die Haare, ohne eine Reaktion zu erhalten. Völlig entrückt starrte Shangrina durch sie hindurch, als bestünde die Amazone aus Luft. Ihr Blick schien sich in einer anderen Welt zu verlieren, dort, wo die Toten wandelten. »Bagir lebt nun in der Goldenen Pagode«, flüsterte die junge Mutter leise. »Sie hat es mir erzählt.« Dann, völlig unvermittelt, änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Entsetzen zeichnete sich auf den bleichen Zügen ab. Was immer Shangrina zu sehen glaubte, versetzte sie in tiefen Schrecken. Ihre Stimme hob an, ohne wirklich an Volumen zu gewinnen, als sie rief: »Weine nicht, Bagir! Bald bin ich bei dir.« Keoma wandte sich erschüttert ab. Wieder eine weniger, mit der sie sprechen konnte. Die Letzte, um genau zu sein. Der Blick der Amazone wanderte über das traurige Häuflein, das noch verblieben war: drei Frauen und zwei Halbwüchsige, die längst alle
Hoffnung aufgegeben hatten. Mit untergeschlagenen Beinen saßen sie im Gras, wiegten den Oberkörper vor und zurück und brabbelten leise vor sich hin. Ihr Geist weilte bereits in der Zwischenwelt. Damit waren sie vermutlich sogar besser dran als Keoma, die noch immer einen Ausweg suchte. Drei mal fünf Tage waren seit dem Überfall der Sireenen vergangen. Eine Zeit voller Tränen und Leid, die vielen den Verstand verwirrt hatte. Nicht nur, weil sie mit ansehen mussten, wie ihre Väter und Männer gefressen wurden, sondern auch, weil sie seitdem als lebende Konserve dienten. Jeden Tag pickten die Bestien einige Überlebende aus dem Tross heraus, ohne Rücksicht zu nehmen, ob sie gerade Mutter, Tochter oder Sohn einer Familie verspeisten. Auf diese Weise war die Anzahl schnell von zweiundvierzig auf sieben Gefangene zusammengeschrumpft. Die Mogoolen mussten dagegen hungern, oder sich von dem ernähren, was ihnen auf der Wanderschaft in die Quere kam: Beeren, Wurzeln oder Kleintiere, die, vom Gesang der Sireenen angelockt, in ihre Mitte gelangten. Vermutlich, damit die Gefangenen bei Kräften blieben, bis sie selbst an der Reihe waren. Solange die Sireenen satt waren, blieben sie meist friedlich. In mäßigem Tempo durchstreifen sie die Weiten der Taiga, stets einige Menschen oder Tiere in ihrer Mitte, die als Nahrungsvorrat dienten. Manchmal machte sich das Rudel aber auch einen Spaß daraus, die Gefangenen zu quälen oder gegeneinan29
der aufzuhetzen, um sich die Zeit zu vertreiben. Nach solchem Treiben schliefen sie des Nachts besonders fest, sodass eine Flucht möglich wurde. Doch was nutzte es, davonzulaufen, wenn einen der lockende Gesang am nächsten Tag wieder unerbittlich zurück zog? Sich die Ohren mit Gras und Erde zu verstopfen schützte nicht vor den Klängen. Keoma hatte es bereits versucht und sich beim zweiten Mal sogar an einen Baum gefesselt. Vergeblich. Die Sireenen hatten sie aufgespürt, mit Prankenhieben bestraft und lebend zurück getrieben. Bevor sie erneut davonlief, musste sie erst ein Mittel gegen den Gesang finden. Nur welches? Eine Bewegung am Rande des Sichtfeldes riss Keoma aus ihren Überlegungen. Eine Rotte aus sieben Sireenen näherte sich lautlos dem inneren Kreis, der den Gefangenen als Auslauf diente. Die schräg einfallenden Strahlen der untergehende Sonne tauchten die Tiere in einen goldenen Schimmer, der ihre verwachsenen Hautschichten glättete. Harmlos sahen sie deswegen noch lange nicht aus. Vor allem wenn man ihre Absichten kannte. Um diese Tageszeit näherten sie sich den Menschen nur aus einem Grund: Weil sie ein neues Opfer suchten! Wütend umklammerte Keoma den linken Fangzahn des Kuugas, den sie aus der Brust-Trophäe herausgebrochen hatte. Nadelspitz ragte er zwischen ihren Fingern hervor. Die letzte Waffe, die ihr verblieben war. Kampflos gab sie sich nicht geschlagen, so viel stand fest. Nicht weil sie 30
den Tod fürchtete - in ihrer Situation kam der eher einer Erlösung gleich sondern weil sie den abscheulichen Kreaturen nicht den Triumph gönnte, sie besiegt zu haben. Lautlos trotteten die Sireenen näher, als Shangrina plötzlich aus der Lethargie erwachte. Mit einem Sprung war sie auf den Beinen und rannte den Bestien entgegen. »Nehmt mich!«, schrie sie, davon überzeugt, das Leben nicht mehr ertragen zu können. Keoma versuchte noch, die Stammesschwester zurückzuhalten, aber deren Vorsprung war bereits zu groß. Die Arme weit ausgebreitet, lief Shangrina ins Verderben. Zu siebt fielen die Sireenen über sie her und rissen ihren schmächtigen Körper in Stücke. Nicht ein einziger Schmerz- oder Angstlaut erfüllte die Luft. Nur die abartigen Geräusche, die entstanden, wenn Raubtiere ihr blutiges Werk vollbringen. Und ein Name, voller Inbrunst ausgestoßen: »Bagir!« Keoma wandte den Kopf zur Seite, um das Schreckliche nicht länger ansehen zu müssen. Sie wollte Shangrina so in Erinnerung behalten, wie sie früher einmal gewesen war. Jung, schön und lebensfroh. Eine Beschreibung wie aus einem fernen Leben. Keoma spürte, wie in ihrem Innersten eine Flamme erlosch, der sie bis dahin einen Rest von Hoffnung verdankte. Hoffnung darauf, dass sie irgendwie ungeschoren aus der ganzen Sache herauskommen könnte. Vergiss es, wies sich die Amazone selbst zurecht. Um die Götter milde zu
stimmen, musst du etwas Wertvolles opfern. Ein dunkler Gedanke, der schon seit Tagen durch ihren Kopf geisterte, nahm endgültig Form an. Und zum ersten Mal, seit Keoma den Plan zu Ende dachte, flößte er ihr keinen Ekel mehr ein. »Alles ist besser als von solchen Kreaturen verschlungen zu werden«, schwor sie sich leise. »Ihr werdet euch noch wundern …« Der Kuuga-Zahn wog plötzlich schwer in ihrer schweißnassen Hand. Bei dem, was Keoma plante, spielte er eine wichtige Rolle. Die Sireenen trotteten mit Shangrinas Überresten davon, um die Beute mit sechs anderen Rotten zu teilen, die ebenfalls aus je sieben Tieren bestanden. Keoma würdigte sie keines weiteren Blickes, sondern barg den spitzen Zahn zwischen ihren Brüsten und sehnte die Nacht herbei. Den Oberkörper langsam vor und zurück schaukelnd, sang sie ein Lied aus alten Kindertagen: »Komm, lieber Mond, sei heute Nacht mein Freund.« Unablässig wiederholte sie stets die gleiche Zeile. Wie ein Gebet, mit dem sie so lange um Hilfe bat, bis die Sonne wirklich versank, um dem nächtlichen Bruder Platz zu machen. Mit der Dunkelheit strich auch die Kälte übers Land. Die übrigen Gefangenen vergruben sich in einem Lager aus Gras, Laub und Fellen, doch Keoma begnügte sich damit, den Umhang fester um ihre Schultern zu ziehen. Geduldig wartete sie, bis die Wachsamkeit der Sireenen nachließ. Die Konturen waren
im Mondschein gut sichtbar, sodass die Amazone genau sehen konnte, wie ein Schädel nach dem anderen auf die Vorderpfoten sank. Der Moment, auf den sie gewartet hatte, rückte näher. Plötzlich fühlte sich der Kuuga-Zahn so heiß an wie ein Stück glühende Kohle. Trotz der niedrigen Temperaturen brach ihr am ganzen Körper der Schweiß aus. Keoma hatte Angst, aber das änderte nichts. Ihr Entschluss stand fest. Vorsichtig schob sie den Zahn so tief ins Ohr, dass die Haut aufplatzte. Etwas Warmes, Klebriges quoll hervor und füllte den Gehörgang restlos aus. Keomas Herz raste in der Brust. Alles in ihr wehrte sich gegen den nächsten Schritt. Noch war es nicht zu spät, das Vorhaben zu stoppen. Letztlich blieb ihr aber gar nichts anderes übrig, um den dunklen Mächten zu trotzen. Solange sie dem betörenden Sireenengesang erlag, war jede Flucht sinnlos. So einfach war das. Ihr Atem wurde kurz und hektisch. Es fiel Keoma schwer, ihn wieder unter Kontrolle zu bringen, doch es gelang ihr. Endlich fand sie die Kraft, den rechten Handballen gegen die Zahnwurzel zu pressen. Leichter Druck genügte bereits, um einen stechenden Schmerz an ihrem Trommelfell auszulösen. Zwei Mal setzte Keoma an und brachte doch nicht den Mut auf. Dann hämmerte sie mit aller Kraft zu. Brüllende Qual war die Folge. Ihr Gehörgang schien sich mit glühender Lava zu füllen. Würgend krümmte sich Keoma zusammen. Die Welt um sie 31
herum begann sich zu drehen. Von Schwindel erfasst, kippte sie zur Seite und übergab sich. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder genügend Balance hatte, um den Zahn herauszuziehen. Anfangs zweifelte sie noch am Erfolg ihrer Tat, doch als sie das unverletzte Ohr zuhielt, verstummten augenblicklich die Geräusche der Nacht. Kein Insekt, kein Windhauch war mehr zu hören. Nur noch bedrückende, absolute Stille. Ein Schweigen, das bald ewig währen sollte. Angst vor der Zukunft erfasste Keoma. Angst davor, für alle Zeiten taub zu sein. Doch um eine Zukunft überhaupt zu erleben, musste sie ihr Werk vollenden. Leise wimmernd setzte sie den Zahn auf der linken Seite an. Erneut stieß sie zu, bis allumfassende Stille sie umgab. *
Gegenwart. Wann immer die Sirenen neuen Hunger verspürten, trotteten sie aufs Schlachtfeld, um sich an den Resten der Ostmänner gütlich zu tun. Ein schauerlicher Anblick. Gleichzeitig aber auch der beruhigende Hinweis, dass noch etwas Zeit war, bis Matthew Drax und seine Gefährten auf der Speisekarte nach oben wanderten. Gemeinsam nutzten sie den Aufschub, um ihre Ausrüstung am Fuße des Hügels nach Brauchbarem zu durchforsten. In Anbetracht der Nachmittagshitze sonderten Blutlachen und Lei32
chenteile bald einen intensiven Geruch ab, doch statt sich an dem zunehmenden Gestank zu stören, zermarterten sie sich lieber den Kopf, wie sie dem hypnotischen Gesang der Raubtiere entgehen könnten. Aiko wandte sich an Matt. »Erinnerst du dich an die Suggestionen der Kreatur unter der Inselfestung?«, fragte er. »Du meinst das Wesen, das eine Scheinwelt aus den Gedanken dieses Kanghai Khan formte?« »Yep.« Aiko nickte. »Kanghai Khan?«, unterbrach Mr. Black. »Wer soll das sein?« Matt Drax winkte ab. »Ich erzähle Ihnen die Geschichte in einer ruhigen Stunde«, versprach er. »Jetzt ist nicht die Zeit dafür. - Weiter, Aiko. Was meinst du?« »Nun«, der Asiate deutete auf seinen Kopf, »damals konnte ich die Suggestionen ausschalten, indem ich mit meinen neuronalen Implantaten mein organisches Bewusstsein überlagert habe.« »Igitt!«, gab sich Honeybutt pikiert. »Das klingt, als wärst du doch ein Roboter!« Aikos Wangen entflammten in tiefem Rot. »Unsinn«, wehrte er ab. »Die Implantate erweitern lediglich mein biologisches Gehirn. Deshalb bin ich noch lange keine Maschine.« »Ach komm, so hab ich's nicht gemeint.« In einer um Harmonie bemühten Geste strich Honeybutt dem Cyborg über den Oberarm. Eine der vielen harmlosen Berührungen, die beide in letzter Zeit miteinander austauschten. »Meinst du, das könnte auch bei dem Sirenengesang halfen?«, fragte Matt,
um das Gespräch wieder auf die alte Bahn zu lenken. Aiko würdigte die Hilfestellung mit einem dankbaren Seitenblick, bevor er antwortete: »Mein Gehör ist zwar rein biologisch, aber die Nervenenden sind mit den Implantaten verbunden. Mit etwas Glück kann ich die Aufnahmefähigkeit durch neurale Ströme vermindern.« »Ah.« Matt rieb sich nachdenklich übers Kinn. »Du möchtest wohl einige Frequenzbereiche ausblenden.« »Gut erkannt.« Der Cyborg hob anerkennend die linke Augenbraue. »Suggestive Botschaften spielen sich meistens im hochfrequenten Bereich ab. Ob es sich in diesem Fall genauso verhält, muss ich aber erst mit meinem Diagnoseprogramm überprüfen.« Erschloss für einige Sekunden die Augen; man sah die Pupillen unter den Lidern zucken. »So, das Programm läuft«, sagte er dann. »Jetzt brauchen wir nur noch einen Freiwilligen, der die Viecher zum Jaulen bringt.« Wie zufällig blieb sein Blick an Mr. Black hängen, der nicht mal eine Miene verzog. »Wenn es denn der Wahrheitsfindung dient«, gab sich der Rebellenführer einverstanden. Ohne die Hände in Anspruch zu nehmen, drückte er sich aus dem Schneidersitz in die Höhe, schaute kurz zu den Sirenen auf der Hügelkette und marschierte los. Er hatte kaum zehn Meter zurückgelegt, als das Heulen einsetzte. Sekundenlang wurde allen schwummerig vor Augen. Als sie wieder klar sehen konnten, saß Mr. Black wieder in ihrer Mitte, die Hände friedlich in den
Schoß gelegt. Auch Aiko konnte sich nicht an die verlorene Zeitspanne erinnern. Doch die Messergebnisse waren in einer seiner Erweiterungen abgespeichert. Er musste sie nur noch abrufen. »Sieh an, eine Tonfolge auf fünfunddreißig, die andere auf achtunddreißig Kilohertz. Lockruf und Tranquilizer belegen verschiedenen Frequenzen.« »Kannst du deine Hörempfindlichkeit entsprechend herunterfahren?«, fragte Matt. Der Asiate zuckte mit den Schultern. »Einen Versuch ist es zumindest wert.« Wieder schloss er die Augen. Mehrmals verzog Aiko das Gesicht, als ob er Kopfschmerzen verspürte - ein deutlicher Hinweis, dass die Prozedur nicht ganz unproblematisch war. »Was nützt es eigentlich den anderen in der Gruppe, wenn nur er immun ist?«, fragte Mr. Black in die atemlose Stille hinein. »Nichts«, gab Aiko mit geschlossenen Augen kühl zurück. »Hauptsache, ich kann meinen Arsch retten.« Black zeigte darauf keine Reaktion, doch Honeybutts Augen weiteten sich vor Schreck. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst?«, flüsterte sie. »Natürlich nicht. Ich wollte nur aussprechen, was dein Boss offenbar denkt«, sagte Aiko gerade heraus. Für eine Sekunde schienen alle anderen zu erstarrten. Matt vermied es, zu Mr. Black zu schauen, um ihn nicht zu einer Antwort zu reizen. Dann aber war es Miss Hardy, die die Situation auf ihre ganz eigene, unkonventionelle Art entspannte. 33
»Mr. Tsuyoshi, Sie sind … unmöglich!«, zischte die junge Rebellin und versetzte ihm einen Schlag auf den Oberarm. Seiner Prothese aus Plysterox machte das nicht viel aus. Honeybutt, die vergessen hatte, was sich unter der dünnen Hautschicht verbarg, rieb sich dagegen die schmerzende Hand. »Geschieht dir ganz Recht«, stichelte Aiko, immer noch mit geschlossenen Augenlidern. Dafür kassierte er einen Hieb in die Rippen, der deutlich mehr Wirkung zeigte. »Okay, das genügt jetzt«, ging Matt dazwischen. »Vergessen wir nicht, dass wir von Hunderten dieser Bestien umringt sind. Da sollten wir -« »Dreihundertdreiundvierzig, um genau zu sein«, unterbrach ihn der Cyborg. Honeybutt stutzte. »Hast du die ernsthaft gezählt? Ohne durcheinander zu kommen? Ich meine, die laufen doch dauernd hin und her.« Trotz ihres Grolls schien sie beeindruckt. »War gar nicht so schwer«, schwächte Aiko ab. »Da sich die Viecher immer zu siebt herumdrücken, musste ich nur die einzelnen Rotten zählen. Und das sind genau neunundvierzig. - So, fertig.« Er schlug die Augen auf und blinzelte im hellen Sonnenlicht. »Meinst du, es hat funktioniert?«, fragte Aruula, die sich bislang nicht an dem Gespräch beteiligt hatte. Aiko zuckte die Schultern. »Wir werden es beim nächsten Jaulen sehen.« Der harte Zug um seinen Mund verriet, dass er die Sache keineswegs so locker nahm, wie er vorgab. Angesichts der 34
ohnehin bedrückenden Lage hatte es aber wenig Sinn, auch noch Trübsal zu blasen. Insbesondere, weil sich die Situation jederzeit verschärfen konnte. So wie jetzt. »Achtung«, warnte Mr. Black. »Die Sirenen rücken auf breiter Front vor.« Der Running Man hatte Recht. Der hintere Belagerungsring löste sich komplett auf. Gemächlich trotteten die Sirenen über das leer gefegte Schlachtfeld näher, während die vor ihnen liegende Rotte den Weg frei gab. »Los, macht euch fertig«, sagte Matt gepresst. »Es geht auf zu neuen Jagdgründen.« In Windeseile packen sie zusammen und verstauten die Kisten auf den Rücken der Yakks. Gerade noch rechtzeitig, bevor die ersten Sirenen mit gebleckten Zähnen Eile anmahnten. Die Waffen schussbereit, schwangen sich alle Fünf in die Sättel und ritten los. Ihre Yakks brauchten sie nicht einmal zu lenken. Die Reittiere hatten von alleine begriffen, wie das Spielchen lief. *
Ruland, 30 Jahre zuvor. Heiße Wellen tobten durch Keomas Schädel, während die Blutungen langsam versiegten. Schlimmer als die Schmerzen, war jedoch die absolute Stille, die sie von nun an wie eine undurchdringliche Blase umgab. Ihre Gehörgänge auf ewig zerstört, wagte sie kaum an die Zukunft zu denken. Wie sollte ihr Leben nun weitergehen, verkrüppelt und auf sich allein gestellt? Nur der Hass auf die Sireenen half
Keoma, diese Nacht zu überstehen. Geduldig wartete sie ab, bis die einzelnen Rotten in Schlaf versanken. Da sie nicht mehr hören konnte, ob die Tiere gleichmäßig atmeten, musste sie sich völlig auf ihre Augen verlassen. Die kalte Mondscheibe überschritt bereits die höchste Stelle am Firmament, als eine dichte Wolkenbank für Dunkelheit sorgte. Keoma nutzte die Gelegenheit und schlich los. Den Weg hatte sie zuvor in aller Ruhe ausgespäht. Auf allen Vieren kroch sie vorwärts, hielt aber immer wieder inne, um durch einen Rundumblick sicherzustellen, dass ihre Flucht noch unentdeckt war. Die anfänglichen Gleichgewichtsstörungen ließen langsam nach. Keoma kam gut voran, obwohl - oder gerade weil - sie keine verdächtigen Laute mehr hören konnte. Gut zehn Schritte entfernt schälten sich die Sireenen aus den Schatten der Nacht. Den Silhouetten nach hatten sie den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet und schliefen. Dieser Anschein mochte natürlich täuschen, aber Keoma blieb gar nichts anderes übrig als zu glauben, was sie da sah. Sie raffte allen Mut zusammen, erhob sich vorsichtig und schlich auf die Tiere zu, die hintereinander gereiht lagen, um das Lager lückenlos zu umschließen. Als Kind der Steppe war Keoma es gewohnt, lautlos aufzutreten. Schritt für Schritt kam sie näher, stieg über einen der Kolosse hinweg und ging, ohne das Tempo zu erhöhen, einfach weiter. Der Freiheit entgegen. Kalter Schweiß perlte in ihrem
Nacken auf, als sie einen Blick über die Schulter warf, um zu sehen, was in der allgegenwärtigen Stille vor sich ging. Noch schien alles friedlich zu bleiben. Die Wolkendecke brach auf und entließ einige silberne Strahlen in Richtung Taiga. Keoma sank auf alle Viere nieder, um die Chance der Entdeckung zu verringern. Nach einigen Speerlängen des Kriechens schmerzten ihre Knie jedoch so sehr, dass sie sich wieder aufrichtete und geduckt weiter lief. Rechts von ihr erhoben sich fünf stalagmitenförmige Felsen. Dort wollte sie hin, denn auf dem steinigen Grund blieben keine Fußspuren zurück. Auf halbem Wege blickte sie erneut über die Schulter - und erstarrte vor Schreck. Weit vor dem Lagerplatz saß eine Sireene aufrecht, die genau in ihre Richtung blickte. Mondlicht reflektierte in den weißen Augen, sodass es aussah, als würden sie leuchten. Die Sireene hatte die Flucht bemerkt! Ihr Maul öffnete sich, um einen Ruf zu entlassen. Keoma hörte ihn nicht, aber sie kannte die Dämonen inzwischen gut genug. Die Amazone begann zu laufen. Schnelligkeit - etwas anderes konnte sie jetzt nicht mehr retten. Zwischendurch sah sie immer wieder zurück. Dass ihr Gesang nicht mehr wirkte, verwirrte die Sireene. Erneut warf sie den Kopf in den Nacken und wiederholte die betörenden Töne, die kein Trommelfell mehr fanden, das sie aufnehmen konnte. Schneller!, hämmerte es in Keoma, die auf zwei eng beieinander stehende, 35
gegeneinander geneigte Stalagmiten zuhielt. Hinter ihr setzte eine Siebener-Rotte zur Verfolgung an. Mit kräftigen Sprüngen holten die Raubtiere auf, doch Keomas Füße flogen ebenfalls übers Gras. Sie rannte um ihr Leben. In gleichem Maß, wie der Vorsprung zusammenschmolz, rückten die rettenden Felsen näher. Nur noch ein paar Dutzend Schritte, dann war es geschafft … Ihre Lungen begannen zu brennen, als würde Keoma Feuer einatmen. Sie ignorierte den Schmerz, der durch ihren Brustkorb tobte, und rannte einfach weiter. Ohne einen Fußbreit Boden für unnötige Hakenschläge zu vergeuden, hielt sie schnurstracks auf die Lücke zu, die zwischen den beiden Felsen in die Höhe führte. Nur noch zehn Schritte … sechs … drei … Mit letzter Kraft stieß sie sich vom Boden ab und flog förmlich in den engen Spalt hinein. Ihre empor gereckten Hände stemmten sich zu beiden Seiten gegen die Felsen. Die Fingerkuppen schabten über rauen Stein, bis Keoma endlich genügend Halt fand. Gleichzeitig zog sie die Beine an und trat seitlich aus, um ihre Position zu festigen. Ein Luftzug zwischen den Oberschenkeln ließ sie nach unten blicken. Genau auf eine Sireene hinab, die mit der Pranke zuschlug, um Keoma von den Wänden zu wischen. Als das nicht fruchtete, stellte sich das Tier auf die Hinterläufe und reckte die Vorderpfoten an der linken Felswand empor. Doch Keoma war bereits höher geklettert, indem sie abwechselnd mit 36
Händen und Füßen neuen Halt suchte. Fünf Körperlängen später ertastete sie die Oberseite des linken Stalagmiten. Erleichtert wuchtete sie sich auf das winzige Plateau, das bestenfalls vier, fünf Menschen Platz bot. Um sich allein darauf auszustrecken und keuchend nach Atem zu ringen, reichte es allemal. Tränen schimmerten in Keomas Augen, als sie in die Tiefe sah, wo sich die Sireenen vergeblich mühten, den steil aufragenden Felsen zu erklimmen. Klettern gehörte nicht zu den Stärken dieser Raubtiere, darum war sie hier oben vorerst sicher. Richtiger Triumph wollte aber nicht aufkommen. Für das eigentliche Felsmassiv, das sich einige Speerwürfe entfernt auftürmte, hatte der Vorsprung nicht mehr gereicht. Nun saß sie auf einem der vorgelagerten Stalagmiten fest, die von den sieben Bestien umrundet wurden. Im Mondlicht war deutlich zu sehen, wie sich ihre Mäuler zu neuerlichem Geheul öffneten. Ein grimmiges Lächeln auf den Lippen, tastete die Amazone nach einem losen Stein, den sie in die Tiefe schleuderte. Die anvisierte Sireene bekam einen harten Schlag ab, der sie zurückweichen ließ. Vertreiben konnte man die Kreatur dadurch natürlich nicht, doch der Treffer linderte zumindest den Hass, der in Keomas Innerem wütete. Erschöpft streckte sie sich auf dem harten Stein aus. An Schlaf war nicht zu denken, doch sie versuchte dem malträtierten Körper etwas Erholung zu gönnen. Von Zeit zu Zeit blickte sie in die Tiefe, wo der primitive Verstand der Sireenen langsam realisierte, dass die Gefangene tatsäch-
lich außerhalb ihrer Reichweite war. Aufgeben wollten sie trotzdem nicht. Die ganze Nacht umkreisten die sieben Sireenen die von Wind und Regen geformten Felsen, um Keomas weitere Flucht zu vereiteln. Dass ein Mensch es schaffte, ihrem betörenden Gesang zu widerstehen, forderte sie geradezu heraus. Bei Tagesanbruch folgte das übrige Rudel, das den Belagerungsring endgültig schloss. Schläfriges Einnicken kam für die Tiere nicht mehr in Frage. Nicht einmal, als die Sonne heiß vom Himmel brannte und sie sich in die Schatten der Felsen zurückzogen. Und wenn es Tage oder Wochen dauerte, sie wollten die Geflohene zwischen ihre Pranken bekommen. Die Zeit arbeitete für die Sireenen, aber das war Keoma egal. Lieber verdurstete sie und wurde zu Bonta-Futter, als das Schicksal der verbliebenen Stammesmitglieder zu teilen. Zwei Tage und zwei Nächte verbrachte Keoma ungeschützt auf der Felsnadel. Anfangs meditierend und betend, später, als sich ihre Ohren entzündeten, in fiebrigem Delirium. Der Wasserverlust trieb sie an den Rand des Wahnsinn, doch an Aufgabe dachte sie erst, als die Sireenen auch am Morgen des dritten Tages noch die Ebene bevölkerten. Schon kurz davor, sich den KuugaZahn ins eigene Herz zu stoßen, schöpfte Keoma wieder neuen Mut, als plötzlich Bewegung ins Rudel kam. Statt abzuziehen, blickten die Dämonen jedoch in die Taiga hinaus und verstärkten den Gesang.
Keoma schwante Übles, als sie einige schnell größer werdende Punkte am Horizont sah. Kurz darauf wurden klobige Stahlfahrzeuge sichtbar, die ohne Zugtiere durch die Steppe walzten. Als die Kolosse näher kamen, erkannte sie, dass Menschen darauf saßen. Weitere Opfer des betörenden Gesangs, der alles Leben ins Verderben zog. Entsetzt sprang Keoma auf, um die Unglücklichen zu warnen. »Flieht!«, rief sie ihnen zu. Doch ihre Zunge war längst zu einem dicken Klumpen angeschwollen, der kaum noch einen Ton zustande brachte. Also verlegte sie sich darauf, mit Gesten zu signalisieren, dass die Neuankömmlinge verschwinden sollten. Vergeblich. Dichte Staubwolken nach sich ziehend, rauschten die Stahlgehäuse unaufhaltsam näher. Große Reifen und umlaufende Ketten trugen sie wie von Zauberhand übers Land. Derart seltsame Gefährte hatte Keoma noch nie gesehen. Verblüfft wartete sie ab, was weiter geschah. Erst kurz vor Erreichen der Stalagmiten bremsten die Kolosse ab. Der Größte von ihnen besaß eine Ladefläche, die gut dreißig Mogoolen beherbergte. Noch ehe das Gefährt richtig stand, sprangen die Männer herunter, verteilten sich zu beiden Seiten und pressten eiserne Rohre an die Wangen. Keoma war sich nicht klar, welchen Nutzen das haben sollte - bis Feuerlanzen daraus hervorbrachen. Obwohl die Flammen viel zu kurz waren, um die Sireenen zu erreichen, gab es etwas Anderes, Unsichtbares, das mitten ins Ziel 37
traf. Panisch spritzten die Raubtiere auseinander. Einige kamen nur vier, fünf Schritte weit, bevor sie blutend zusammenbrachen. Was für mächtige Waffen! Keoma ballte triumphierend die Hände. Der Jubel blieb ihr im Halse stecken, als die überlebenden Sireenen zu neuerlichem Gesang ansetzten. Prompt ließen die Mogoolen die Waffen sinken und starrten benommen ins Leere. Das ewig gleiche Spiel. Sobald es brenzlig wurde, machten die Dämonen ihre Opfer willenlos. Da sie nicht gleichzeitig singen und angreifen konnten, rückte nur ein Teil von ihnen vor, um die bewegungsunfähigen Männer zu reißen. Sie waren gerade auf halbe Speerwurfweite herangekommen, als sich in der Front des größten Fahrzeugs eine Seitenluke öffnete, der ein silberglänzendes Wesen entstieg. Keoma traute ihren Augen nicht. Konnte es sein, dass der Große Khaan persönlich erschienen war, um die Mogoolen vor den Dämonen der Unterwelt zu retten? Mit der rechten Hand deutete die Lichtgestalt auf zwei Sireenen, die dem Fahrzeug schon bedrohlich nahe waren. Einen Lidschlag später platzten faustgroße Stücke aus den blauschwarzen Leibern. Es regnete Blut. Eines der Biester, das am Schädel getroffen wurde, taumelte nur noch wenige Schritte weiter, bevor es tot zusammenbrach. So robust die Sireenen auch sein mochten, den göttlichen Schlägen hatten sie nichts entgegenzusetzen. Der 38
Silberne deutete auf weitere Angreifer, und das Schauspiel setzte sich fort. Innerhalb kürzester Zeit waren neun Dämonen tot. Drei mal fünf andere krochen verletzt umher. Obwohl sie keinen Widerstand gewohnt waren, kämpften die Sireenen verbissen weiter. Aus vollem Hals versuchten sie den Silbermann mit ihrem Gesang zu betören, aber das fruchtete nicht. Womöglich, weil er ein glänzendes, durchsichtiges Etwas über dem Kopf trug, das ihre Stimmen fern hielt. Wütend stürmte eine ganze Rotte auf das Gefährt zu, um ihn schneller zu packen, als er sie niedermähen konnte. Drei Tiere büßten den Versuch mit ihrem Leben, bevor sich der Silberne aufs Dach schwang, um von dort weiter Tod und Verderben in die Tiefe zu schleudern. Keoma konnte inzwischen erkennen, dass er eine kleine Waffe in der Hand hielt, die unsichtbare Geschosse abfeuerte. Immer mehr Sireenen gingen unter den - für Keoma lautlosen - Einschlägen zu Boden. Unterstützung gab es von einem großen, Funken sprühenden Rohr, das von einem anderen Gefährt aus eingriff. Was auch immer daraus hervorkam, es schlug mit noch größerer Zerstörungswut zwischen die Raubtiere. Selbst die starrsinnigsten Dämonen mussten schließlich einsehen, dass sie gegen die göttliche Macht nicht ankamen. Die letzten Sireenen, die noch laufen konnten, setzten sich mit weiten Sprüngen in die Steppe ab. Der Silberne hatte gesiegt. Weinend vor Glück sank Keoma auf
die Knie. Beide Handballen als Zeichen der Demut gegen die Stirn gepresst, sandte sie dem Großen Khaan ein Dankgebet. Als sie wieder aufblickte, sah sie zwei weitere Silbergestalten, die aus den anderen Stahlkolossen stiegen. Fremdartig wie sie waren, mussten sie direkt aus der Goldenen Pagode stammen. Erlesene Krieger der Ewigkeit, die Seite an Seite mit dem Großen Khaan speisten. Keoma blieb fast das Herz stehen, als sie sah, dass die gottgleichen Wesen mit dem Finger auf sie deuteten. Kurz darauf stürmte ein halbes Dutzend Mogoolen heran, die ihr von der Felsnadel halfen. Sie mussten Keoma auf dem Weg zu den Silbernen stützen, denn jetzt, da die Gefahr vorüber war, machte sich ihre Entkräftung bemerkbar. Nur der unbezwingbare Wunsch, dem Göttlichen ins Antlitz zu schauen, hielt sie bei Bewusstsein. Begeistert nahm die Amazone all das Fremde, Wunderbare auf, das zu sehen ihr gestattet war. Die Rostflecken der Stahlkolosse faszinierten sie ebenso sehr wie das seltsame Zeichen - eine blaue Kugel, die von einem Keil gespalten wurde -, das die Längsseiten zierte. Der Anblick des Silbernen, der vom Dach stieg, um sie zu begrüßen, verschlug Keoma schier den Atem. Unter einem runden, durchsichtigen Helm zeichnete sich ein bleiches, von strohblondem Haar umrahmtes Gesicht ab, das streng und mitleidig zugleich wirkte. Auf dem Rücken trug der Khaan einen Tornister, von dem zwei flexible Schläuche in die Kopfhaube führten.
In Höhe des Brustkorbes wurde die silberne Haut von einem Totem geziert, das wieder die geteilte Kugel zeigte. Daneben standen seltsame aneinander gereihte Zeichen, die die Worte »World Council Agency« und, gleich darunter, »Captain Perkins« ergaben. Keoma konnte sie nicht entziffern, aber das störte sie nicht. Alles was den Silbermann schmückte, schien ein Zeichen seiner Göttlichkeit zu sein. »Dank dir, Großer Khaan«, stammelte sie und fiel auf die Knie. Als sie wieder aufblickte, sah Keoma auch die anderen Glänzenden, zu ihrer Überraschung ein Pärchen. Er war ein Rotschopf mit glattem Kinn, sie eine Brünette mit strauchnussfarbenem Haar. Beides imposante Erscheinungen, doch lange nicht so erhaben wie der blonde Silbermann, in dem Keoma intuitiv den Anführer des Göttertrios erkannte. Als er das Wort ergriff, wollte der Amazone schier das Herz brechen, weil sie ihn nicht hören konnte. Traurig wies sie erst auf ihre Ohren und dann auf den blutverkrusteten Kuuga-Zahn. »Hab mich taub gemacht«, erklärte sie. »Damit mich die Sireenen nicht fangen können.« Einer der Mogoolen, ein hässlicher Kerl mit gespaltener Oberlippe und schwärenden Flecken auf den Wangen, schien verstanden zu haben, denn er übersetzte für seine Herren. Der Silbermann hob die Augenbrauen, als er von Keomas Tat hörte. Ein Hauch von Bewunderung überlagerte seine strengen Züge. Außerdem gab es da ein begehrliche Glitzern in seinen Pupillen, das ihrer 39
spärlichen Kleidung galt. Eine mehr als schmeichelhafte Reaktion, wie sie fand. Da Keoma keine der an sie gerichteten Fragen verstehen konnte, berichtete sie unaufgefordert, was ihrem Stamm widerfahren war. Die angeschwollene Zunge fühlte sich wie ein Fremdkörper im Mund an, trotzdem bemühte sie sich, langsam und deutlich zu sprechen, ohne überprüfen zu können, ob es funktionierte. Der hässliche Mogoole runzelte zwar manchmal die Stirn, verstand aber zumindest so viel, dass er weiter übersetzte. Nachdem Keoma in groben Zügen die Taktik der Sireenen dargelegt hatte, machte ihr der Silbermann mit Gesten verständlich, dass es genug sei. Sie sollte erst einmal versorgt werden und sich ausruhen, bevor sie eine zweite Audienz erhielt. Zwei Mogoolen hakten Keoma unter, um sie zu der Ladefläche des großen Gefährts zu begleiten, doch mit einer überraschend kräftigen Geste machte sie sich frei und warf sich dem Silbermann zu Füßen. In einer unterwürfigen Geste umschlang sie seine Beine, rieb die Wange an der glänzenden Haut und flehte inständig: »Sei von nun an mein Herr!« Der Silbermann lächelte gütig zu ihr herab. Ihre Bitte war etwas, das er nur zu gerne erfüllte. *
Gegenwart. Sie ritten fast den gleichen Weg zurück, auf dem sie gekommen waren, 40
diesmal nur von über dreihundert Sirenen flankiert, die sie nicht eine Sekunde aus den Augen ließen. Ihr Tempo mussten sie exakt dem der Bestien anpassen, sonst wurden sie sofort, und das im wahrsten Sinne des Wortes, zur Ordnung gerufen. Von Zeit zu Zeit hielten Teile des Rudels inne, um Witterung aufzunehmen oder Lockrufe ins Land hinaus zu schicken. Viel Erfolg war ihnen damit nicht beschieden. Durch ihre überlegene Jagdtechnik hatten längst sie die gesamte Taiga leergefegt. Das erklärte auch die allgemeine Ode, die seit der Überquerung des Kolyma herrschte. Gegen Jäger, die sich den Schall zunutzte machten, um ihre Opfer zu paralysieren, hatte auch das schnellste Wild keine Chance. Natürliche Feinde waren den Sirenen fremd. So hatten sie sich zur dominierenden Spezies dieser Region entwickelt, die höchstens an sich selbst zu Grunde gehen konnte. In diesem Punkt ähnelten sie beinahe den Menschen. Auf der Suche nach neuer Beute spalteten sich vorübergehend einige Rotten ab, aber nie so viele gleichzeitig, dass das Hauptrudel ernsthaft geschwächt wurde. Selbst ohne die betörenden Klänge grenzte ein Durchbruch an Selbstmord, doch früher oder später würde ihn die Gruppe wagen müssen, wenn sie nicht wie Kamauler zur Schlachtbank traben wollten. Die permanente Bedrohung machte allen Fünf zu schaffen, sodass sie zur Beschäftigung fleißig Pläne schmiedeten. Um ihre Verteidigungskraft zu stärken, zerrte Mr. Black den Granatwerfer
aus dem Gepäck. Die beiden schweren Maschinengewehre des aufgegebenen Nixon-Panzers, die sie ebenfalls transportierten, sollten beim Errichten des Nachtlagers in Stellung gebracht werden. Die Sirenen störten sich nicht an diesen Aktivitäten, solange das vorgegebene Tempo eingehalten wurde. Aiko beteiligte sich ungehindert an den Gesprächen. Oberflächlich betrachtet schien sein Gehör, obwohl er einen bestimmten Frequenzbereich »ausgeblendet« hatte, nicht beeinträchtigt zu sein. »Vielleicht findet sich heute Nacht eine Gelegenheit zur Flucht«, übte sich Mr. Black in Zweckoptimismus. »Diese Tiere sind offensichtlich tagaktiv. Möglich, dass es mit ihrer Nachtsicht nicht weither.« »Ist ja auch nicht nötig«, entgegnete Aiko, »wenn sie ihre Opfer jederzeit zurückrufen können.« Der Cyborg bereute seine Worte, noch ehe er den Satz zu Ende geführt hatte, belegten sie doch, wie gering er ihre Chancen einschätzte. Schweigend ging es weiter bis zu einem Bachlauf, der sich einen Weg durch einige nahe Gesteinsformationen gebahnt hatte und nun in geschwungenen Windungen durch die Taiga führte. Hier löschten die Sirenen ihren Durst, und auch den Yakks wurde ein Korridor zum Ufer zugestanden. »Sieht so aus, als wollte sich das Rudel vorläufig hier niederlassen«, stellte Aruula fest, nachdem sie selbst Wasser geschöpft hatte. Tatsächlich sammelten sich die Kreaturen in den bekannten Siebener-Rotten
und steckten alle Viere von sich. Die reiche Mahlzeit, die hinter ihnen lag, machte sie träge. Jagen, fressen, saufen und schlafen waren die vier Hauptbedürfnisse, die ihr Leben prägten. Zurzeit stand der letzte Punkt ganz oben auf der Liste. Der Freiraum, der den Menschen zugestanden wurde, beschränkte sich von nun an auf einen Radius von knapp zehn Metern, und auch sonst zeigten die Sirenen keine Neigung zur Nachlässigkeit. Ein Tier pro Rotte behielt die Gefangenen stets im Auge, um jeden Gedanken an Flucht bereits im Keim zu ersticken. Die Sonne näherte sich langsam dem Horizont. Noch knapp zwei Stunden bis zur Dämmerung. Mit der Nacht zog auch die Kälte übers Land, deshalb holte Aruula einen Beutel mit getrocknetem Yakk-Dung hervor, aus dem sie ein Lagerfeuer entzündeten. Die unausgesprochene Hoffnung, dass die Sirenen ängstlich auf die Flammen reagieren könnten, zerschlug sich schnell wieder. Mr. Black brachte die beiden MGs und den Granatwerfer in Stellung. Aiko überprüfte die Tak 02, für die nur noch ein einziger Ladestreifen zur Verfügung stand. Nicht gerade viel. Neue Munition für diese hervorragende Waffe aufzutreiben war leider ziemlich aussichtslos, denn sie stammte aus der Produktion seines Vaters. Drillerpatronen und ähnliche Kaliber fanden keinen Platz darin. Missmutig ging er zu seinem Yakk hinüber, lehnte er die Maschinenpistole an einen Felsen und schnallte den WCA-Behälter mit den Nahrungsmitteln ab. Honeybutt ging ihm dabei zur 41
Hand. Während sie einige der Knoten löste, drängte sie wie zufällig näher. Aiko spürte ihre weichen Rundungen, die plötzlich gegen seine Seite drückten. Er nahm den Kontakt hin, ohne zurückzuweichen. Sein Blick suchte den ihren. Ein scheues Lächeln umspielte die Lippen der Rebellin, doch in ihren Augen lag ein trauriger Glanz. Beinahe so, als würde sie bereuen, dass sich die beiden in den letzten Wochen nicht viel näher gekommen waren. Aiko fühlte genauso. Honeybutts freche und unbekümmerte Art gefiel ihm, besonders, weil sie in entscheidenden Momenten mit Mut und Einsatzfreude ausglich, was ihr noch an Erfahrung und Überblick fehlte. Wir haben uns noch nicht einmal geküsst, schoss es ihm durch den Kopf, geschweige denn miteinander geschlafen. Falls wir die nächsten Stunden nicht überleben, wird es auch nie dazu kommen. Irgendwie logisch. Und ein Fehler, wie er fand. Honeybutt sah das genauso. Doch auf dieser gefahrvollen Reise, die nur zu bewältigen war, wenn die ganze Gruppe dicht beieinander blieb, ergab sich selten ein unbeobachteter Moment, in dem sich zwei Liebende ihre Gefühle offen gestehen konnten. Auch jetzt nicht, da die anderen auf das Essen warteten. Der flüchtige Moment der Nähe verging so schnell, wie er gekommen war. Ein leises Seufzen unterdrückend, hoben beide die Kiste an und trugen sie ans Feuer. Obwohl niemand richtigen Hunger 42
verspürte, stopften alle die Nahrungskonzentrate in sich hinein. Sie mussten bei Kräften bleiben, für den Moment, wenn es um Alles oder Nichts ging. Auf einem karamelfarbenen Riegel mit Hähnchengeschmack herumkauend, durchforstete Aiko den unteren Teil der Transportkiste. Als er einige Lebensmittelkartons zur Seite packte, stutzte er plötzlich und stieß einen leisen Pfiff aus. »Hoppla, was haben wir denn hier?« Erfreut klemmte er den Nahrungsriegel zwischen die Zähne und griff mit beiden Händen zu, um einen fünfundvierzig Zentimeter langen Gewehrschaft hervorzuholen, auf dem ein halber Diskus ruhte. Die Ähnlichkeit mit einer Armbrust verstärkte sich noch auf dem zweiten Blick. Bogen und Sehne wurden dabei von dem halbrunden Behälter ersetzt, der als Magazin für Bolzen diente, die von beiden Seiten in den Druckluftkanal rutschten. Auf diese Weise ließen sich die Pfeile lautlos verschießen. Einige Zentimeter tiefer gab es außerdem eine Blastermündung, mit der Energiestöße abgefeuert werden konnten. Eine perfekte Kombination, die allerhand Möglichkeiten bot, insbesondere nachdem Aiko die Beschriftungen auf dem Diskus studiert hatte. Die linke Hälfte war mit regulären Pfeilen gefüllt, die rechte enthielt präparierte Bolzen mit Phosphor, Betäubungsgas oder Nebelkerzen. »Nun seht euch das an!«, wandte er sich an die anderen. »Eine Mischung aus Armbrust und Blaster … sozusagen
ein Armbruster!« Als keinerlei Reaktion erfolgte, sah er überrascht auf - und erschrak, als er die starre Haltung sah, die seine Gefährten eingenommen hatten. Mit untergeschlagen Beinen, die Hände in den Schoß gelegt, sahen die Vier mit entrücktem Blick aneinander vorbei. Der Cyborg begriff sofort, was das bedeutete. Eine Hochfrequenzattacke! Der Gesang hatte sie gelähmt. Da er seine Hörfähigkeit auf siebzehn Herz begrenzt hatte, war ihm das Anschwellen des Tones entgangen, mit dem die Sirenen arbeiteten. Ob sie schon gemerkt hatten, dass er diesmal nicht betroffen war? Vorsichtig wandte Aiko den Kopf, um zu sehen, was vor sich ging. Es dauerte nicht lange, bis er die Rotte erblickte, die den Angriff führte. Eine Sirene stieß das lähmende Heulen aus, während die anderen sechs gemächlich näher trotteten. Das Leittier, gut drei Meter lang, drehte gerade den blau glänzendem Schädel zu einer Begleiterin um, die ihn links flankierte. Mit einem stummen Laut wies er sie an, ebenfalls zurückzufallen. Damit bestätigte sich, was Aiko schon länger vermutete. Das dunkle Knurren, das die Sirenen zeitweise von sich gaben, diente nur der Lockerung ihrer Stimmbänder. Ihre Verständigung erfolgte dagegen auf einer Hochfrequenz. Die zweite Sirene hockte sich nieder und warf den Kopf in den Nacken. Aiko konnte die Auswirkungen des Gesangs weder hören noch spüren, doch als er
sah, wie Honeybutt sich in Trance erhob und auf die Sirenen zuging, gefror ihm das Blut in den Adern. Man hatte seine Liebste zum Abendessen auserkoren! *
Nicht weit entfernt. Ein dünner Schweißfilm bedecke Keomas Haut, während sie in stetem Lauf die Steppe durcheilte. Bei jedem Schritt spürte sie ein dumpfes Ziehen im Hinterkopf, das sie an Moongas Schläge erinnerte. Statt jedoch auf den Unterführer wütend zu sein, machte sich die Amazone selbst Vorwürfe. Warum hatte sie nicht bemerkt, dass die Karawane bereits unter dem Einfluss der Sireenen stand? Jetzt musste sie versuchen, die Gruppe einzuholen, bevor diese beim Ursprung des Heulens ankam. Wie sie allerdings fast fünfzig Krieger gegen ihren Willen zur Umkehr bewegen sollte, wusste Keoma noch nicht. Trotzdem folgte sie der breiten Schneise aus niedergedrückten Gräsern, die die Yakks hinterlassen hatten. Einige Schatten, die auf einer seitlichen Anhöhe erschienen, rissen sie kurz darauf aus ihren düsteren Gedanken. Ihr Herz klopfte zuerst schneller, weil sie dachte, die Karawane eingeholt zu haben, doch dann setzte es für einige Schläge aus. Die blauschwarzen Schatten, die rundherum aus der Deckung brachen, waren ihr nur zu gut bekannt: Sireenen! Der Albtraum ihrer schlaflosen Nächte. Keoma hatte immer geahnt, dass ihr 43
die Biester noch einmal zum Schicksal werden würden. Fast dreißig Jahre lebte sie schon von geborgter Zeit. Ein Geschenk des Großen Khaan, dem sie ihr Gehör geopfert hatte. Jetzt musste sie wohl auch den Rest der göttlichen Schuld bezahlen. Mit einer routinierten Bewegung zog sie ihr Schwert aus der Gürtelscheide und nahm Kampfstellung ein. Schenken würde sie den Sireenen nichts, sondern ihre Haut so teuer wie möglich verkaufen. Mit zurückgezogenen Lefzen kreisten die sieben Tiere sie ein. Beständig die Position wechselnd, versuchte Keoma herauszufinden, welche Bestie zuerst losschlagen würde. Die Sireenen blieben jedoch auf Distanz und ließen sich Zeit. Zu viel Zeit, um wirklich hungrig zu sein. Keoma leckte mit der Zunge über ihre blutverkrusteten Lippen. Nein, dieser Rotte stand nicht der Sinn nach einem schnellen Bissen. Sie war auf der Suche nach Vorräten! Im gleichen Augenblick, als sie erkannte, dass der Tod noch in weiter Ferne lag, wurde die Amazone vollkommen ruhig und gelöst. In einer lässigen Bewegung ließ sie das Schwert ins Gras fallen und hob die leeren Hände zum Zeichen der Kapitulation. Falls die Sireenen daraufhin ein triumphierendes Knurren ausstießen, hörte sie es nicht. Keoma sah nur, dass sich eine Gasse in Richtung Norden öffnete. Dahin sollte es also gehen. Gut. Vielleicht fand sie dort ja Moonga oder andere Überlebende, denen sie zur Flucht verhelfen konnte. 44
Oder aber - Keoma wagte kaum, sich diesen mädchenhaften Wunsch einzugestehen - das Wunder ihrer Jugend wiederholte sich, und sie traf auf einen neuen Lord, der ihr das Leben rettete … *
Aiko schüttelte die Erstarrung ab. Vorsichtig ließ er den Armbruster ins Gras sinken. Solange er nicht mit seiner Funktionsweise vertraut war, nutzte er ihm wenig. Die Tak 02 lehnte noch immer drüben bei den Yakks an einem Felsen; sie zu holen hätte zu viel Zeit gekostet. Er musste aufs Ganze gehen! Und das schnell - die Sirenen waren inzwischen auf fünf Meter an Honeybutt heran gekommen! Blitzschnell federte Aiko in die Höhe, überbrückte die Distanz zu Honeybutt Hardy mit zwei langen Sprüngen, packte sie von hinten an den Schultern und schleuderte sie zur Seite. Gleichzeitig stieß er einen herausfordernden Schrei aus, um alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Raubtiere, die von seinem Eingreifen völlig überrascht wurden, verharrten augenblicklich in der Bewegung. Misstrauisch funkelten sie den Asiaten an, der sich ihnen mit bloßen Fäusten entgegen stellte. Wollte er wirklich aufbegehren oder nur darum betteln, als Erster erlöst zu werden? Aiko konnte sehen, wie sich die Muskeln unter der knotigen Haut des Leittieres zum Sprung spannten. Statt zurückzuweichen, setzte der Cyborg die Füße ein Stück auseinander, um für einen besseren Stand zu sorgen.
»Komm schon«, provozierte er die Bestie. »An mir beißt du dir die Zähne aus.« Sein Wunsch wurde umgehend erfüllt. Das aggressive Blitzen in Blauschädels Augen schenkte ihm eine Vorwarnzeit von wenigen Zehntelsekunden, bevor der massige Körper ansatzlos nach vorn schnellte. Mit wenigen Sätzen war das Tier heran, die Pranken weit vorgestreckt. Doch anstatt zurückzuweichen, katapultierte sich Aiko ebenfalls nach vorn. Halb gebückt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen drehte er sich in den Gegner hinein und platzierte seine Rechte genau zwischen den anfliegenden Vorderpfoten. In einem Aufwärtswinkel trat die Faust ins Ziel. Weder Haut noch Knochen gruben sich da mit Macht zwischen die Nüstern der Sirene, sondern unnachgiebiges Plysterox, eine Kunststoffverbindung hart wie Stahl. Das musste auch Blauschädel erkennen, der mitten im Sprung stoppte, als wäre er gegen eine massive Wand geprallt. Ein hässliches Splittern ließ erahnen, welche Auswirkungen Aikos Schlag hatte. Die meisten Vierbeiner waren an der Schnauze besonders empfindlich, Blauschädel machte da keine Ausnahme. Jaulend kippte er zur Seite und wälzte sich am Boden. Vom Rückschlag getrieben, taumelte Aiko ebenfalls nach hinten. Sein künstlicher Arm konnte zwar keine Schmerzen empfinden, dafür stand die Schulter regelrecht in Flammen. Warnung: Belastbarkeit der biologischen Komponente zu 90% erreicht,
meldeten die Gelenksensoren. So kraftvoll hatte er nie zuvor zugeschlagen. Jedem anderen Tier hätte der Treffer wohl den Schädel gespalten, doch Blauschädel wuchtete sich bereits wieder in die Höhe. Ein rotes Netz aus aufgeplatzten Adern durchzog seine milchigen Augen, die sich Hass sprühend auf den Cyborg richteten. Die deformierte Schnauze sah aus, als wäre sie mit einem Vorschlaghammer bearbeitet worden. Blanker, in Trümmern liegender Knochen lugte unter der aufgeplatzten Lederhaut hervor. Pechschwarzes Blut füllte die Kuhle an, bis die bleichen Splitter im zähen Sirup ertranken. In dunklen Sturzbächen strömte es über die aufgerissenen Fänge, die unversehens vorschnellten und zupackten. Aiko fing die Attacke mit dem linken Unterarm ab. Zwei Reihen messerscharfer Zähne drangen durch Jacke und obere Hautschicht, bevor sie sich mit dumpfem Klacken ins Plysterox bohrten. Doch statt den Arm zu durchtrennen, verursachte der Biss Blauschädel üble Schmerzen. Wütend bäumte sich das Leittier auf, um Aiko zu Boden zu werfen, doch der Cyborg reagierte schneller. Blitzschnell hämmerte er die Rechte unter das Raubtierkinn, bis die langen Fänge an dem Plysterox brachen. Endlich ließ Blauschädel los. Aus dem gebrochenen Maul drang kein Laut, während er davon wankte. Zumindest keiner, der für Aikos Ohren zu hören gewesen wäre. Den Reaktionen des Rudels nach zu urteilen, jaulte Blauschädel jedoch wie am Spieß. 45
Rund um den Bachlauf schreckten Sirenen in die Höhe, um zu sehen, was eigentlich vor sich ging. Blauschädels Rotte setzte sich ebenfalls in Bewegung, um das Leittier zu rächen. Noch ehe Aiko richtig zu Atem kam, sprang ihn schon eine Sirene von hinten an. Dunkler als die übrigen war sie, mit hellblauer, blitzförmiger Seitenfärbung. Diesem heimtückischen Angriff hatte der Cyborg nichts entgegenzusetzen außer sich blitzschnell nach vorn auf die Erde zu werfen. Die Krallen der Sirene hieben ins Leere, während sie über Aiko hinweg segelte. Als der Asiate wieder aufsprang, kam ihm schon das nächste Tier entgegen geflogen. Andere wären vor Schreck erstarrt, Aikos Reflexe liefen dagegen auf Hochtouren. Blitzschnell packte er die anrauschenden Pranken, um das Biest schwungvoll zur Seite zu schleudern. Die übermenschliche Kraft, die er dabei an den Tag legte, ließ die gesamte Rotte zurückweichen. Aiko nutzte die Gunst der Stunde, um in die Offensive zu gehen. Zwei Schritte später stand er vor dem hinterhältigen Rückenspringer und beschrieb mit der Linken einen Halbkreis. Sein ganzes Körpergewicht lag in diesem Schlag, der den Sirenenschädel unter einem dumpfen Knall zur Seite fegte. Mehr aus Überraschung denn aus echter Notwendigkeit ergriff das Tier die Flucht. Dass es dabei den Schweif zwischen die Hinterbeine klemmte, wertete Aiko als gutes Zeichen. Schwer atmend blickte er in die Runde, streifte er den Ärmel seiner Jacke zurück und hielt den künstlichen 46
Arm weithin sichtbar in die Höhe. Bis auf die zerrissene Oberhaut und einige Dellen war er unverletzt. »Seht ihr?«, brüllte Aiko triumphierend. »An uns beißt ihr euch nur die Zähne aus! Verzieht euch lieber!« Dicke Schweißperlen rannen über sein Gesicht, während sich die versammelten Sirenen mit unhörbaren Lauten verständigen und den Menschen schließlich wieder den alten Abstand einräumten. Hatte Aiko sie tatsächlich von seiner Ungenießbarkeit überzeugen können? Der Cyborg war schon kurz davor, an einen Erfolg zu glauben, als er über die Schulter zurücksah. Überrascht blickte er auf Mr. Black, der mit schnellen Schritten näher kam. Kampfeslustig hatte der Hüne den Granatwerfer aus dem Gras geklaubt. In seinen großen Händen wirkte die schwere Waffe fast wie ein Spielzeug. »Oh, schon wieder wach?«, freute sich Aiko - bis er den kalten Glanz in Blacks Augen sah. Während die Erkenntnis in ihm aufflammte, ging der Running Man bereits auf ihn los. Der Klon Arnold Schwarzeneggers war ein erfahrener Kämpfer, der Kraft und Geschicklichkeit auf einzigartige Weise in sich vereinte. Wie eine Keule pfiff der Granatwerfer durch die Luft, um Aikos Schädel zu zertrümmern. Der Angriff kam zu schnell, um ihm noch zu entgehen. Schützend riss der Cyborg die Arme in die Höhe, mehr konnte er nicht mehr tun. Der dumpfe Aufprall hallte weit in die Taiga hinaus. Einem anderen hätte die Wucht beide
Arme gebrochen. Aiko dagegen wurde nur ins Gras geschleudert. Mit der Geschmeidigkeit eines trainierten Kampfsportlers fing er den Sturz ab, das Kinn fest auf die Brust gepresst, um den Hinterkopf vor Schaden zu bewahren. Kaum gelandet, ging er sofort wieder in die Offensive. Geschickt zog er die Beine an, stemmte sich auf den Unterarmen in die Höhe und keilte nach oben aus. Die Hacken seiner Stiefel bohrten sich in Blacks Magen. Der Running Man klappte wie ein Taschenmesser zusammen. Die Trance machte ihn allerdings unempfindlich gegen Schmerzen, sodass er fast sofort wieder in die Höhe kam. Aiko setzte nach, bevor sein Gegner die Balance zurückgewinnen konnte. Auf der Seite liegend, einen Fuß vor, einen hinter Blacks Schienbein geklemmt, zog er die Knie ruckartig an. Das Standbein des schweren Hünen flog in die Höhe, sein Oberkörper kippte nach hinten. Beide Hände suchten den Sturz noch zu bremsen, doch sein entrückter Zustand verlangsamte die Reaktionsfähigkeit. Aiko sog scharf die Luft ein, als Black der Länge nach ins Gras schlug. Verdammt, wenn er nicht aufpasste, verletzte er einen Mann, der gar nicht Herr seiner Sinne war. Aus dieser Zwickmühle gab es nur einen Ausweg Aiko musste den Kampf schnellstmöglich beenden. Geschmeidig federte er in die Höhe, wich einem ungezielten Tritt aus und ließ die geballte Rechte in die Tiefe sausen. Mit wohldosierter Kraft, wie sie
nur künstlichen Armen innewohnte, traf er Black an der Schläfe. Trancezustand hin oder her, wenn die Lampen ausgingen, halfen auch keine hochfrequenten Botschaften mehr. Ächzend sackte der Hüne ins Gras und schloss die flirrenden Augenlider. Sehr gut. In diesem Zustand konnte er sich und anderen nicht mehr schaden. Aber genau diese anderen waren Aikos nächstes Problem. Auch Matthew Drax, Aruula und Honeybutt gerieten jetzt unter den Bann der Sirenen! Von drei Seiten drangen sie auf Aiko ein. Zu ihrem eigenen Besten musste er seine natürliche Hemmschwelle überwinden, gegen sie vorzugehen. Mit zwei schnellen Schritten war Aiko bei Matt, der angriffslustig die Fäuste hob. Ein Schlag in die Magenkuhle ließ seine Arme in die Tiefe sinken und gab den Weg zur Kinnspitze frei. Der nächste Schwinger, genau auf den Punkt gebracht, ließ ihn zusammensinken. Und zwar direkt neben Honeybutt, die ein Lasergewehr am Lauf gepackt hatte und es wild durch die Luft schwang. Wenn einer seiner Freunde auf die Idee gekommen wäre, mit den Waffen zu schießen, statt sie als Keule zu benutzen, wäre es wohl um Aiko geschehen gewesen. Vermutlich wurde ihm dieser Vorteil nur gewährt, weil den Sirenen die Funktionsweise von Drillern und Gewehren unbekannt war. Aiko vermied es, Honeybutt ins Gesicht zu schlagen. Seine Handkante traf ihre linke Schulter und blockierte die Nervenbahnen. Stöhnend knickte sie in den Knien ein. 47
Bevor sie ohnmächtig nach hinten kippte, fing Aiko sie auf und ließ sie sanft zu Boden gleiten. Eine ritterliche Tat, die ihm beinahe den Kopf kostete. Nur einem flüchtigen Schatten war es zu verdanken, dass er rechtzeitig bemerkte, wie Aruulas Schwert auf ihn niedersauste. Erneut waren es seine Plysteroxarme, die ihm das Leben retteten. Mit bloßen Händen fing er die Klinge auf. Die Haut platzte unter der doppelseitig geschliffenen Schneide auseinander. Er würde sie später mit Regenerationsgel behandeln müssen. Mit einem schnellen Ruck entwand er Aruula den Bihänder und schleuderte ihn zur Seite. Fauchend wich die Barbarin zurück und sah sich nach einem anderen Schlagwerkzeug um. Aiko wollte ihr schon dieselbe Behandlung wie Honeybutt zukommen lassen, als sie plötzlich an ihre Schläfe griff und ins Taumeln geriet. Die Schwächephase dauerte nur zwei Sekunden, dann fand Aruula die Balance zurück. Die Leere in ihrem Blick war verschwunden, als sie zu Aiko aufsah, der immer noch mit erhobenen Fäusten vor ihr stand. »Was … ist los?«, fragte sie verwirrt. »Ihr hattet alle einen Blackout«, erklärte der Cyborg, als nun auch benommen die Köpfe schüttelten. »Als ich die Viecher daran gehindert habe, sich an Honeybutt zu vergreifen, seid ihr auf mich losgegangen. Ich musste Matt und Black schlafen legen.« »Oh.« Für einen weiter gehenden Kommentar blieb Aruula keine Zeit. Die Sirenen verloren nun offensichtlich die Geduld. Knurrend kamen sie auf die 48
Beine, um dem Treiben der Gefangenen ein Ende zu machen. Aruula taumelte immer noch benommen zur Seite, um den Bihänder aufzunehmen, Aiko bewaffnete sich mit der vertrauten Tak 02. »Wenn wir nur ein wenig Deckung hätten«, haderte er mit seinem Schicksal. Die Maschinenpistole am linken Arm ausgestreckt, packte er Honeybutts Thermoanzug und schleppte sie zwischen die Yakks. Aruula folgte seinem Beispiel, indem sie ihren Maddrax auf die gleiche Weise aus der Schusslinie zerrte. Um Mr. Black von der Stelle zu bewegen, mussten sie allerdings zu zweit anpacken. Während dieser Zeit blickten die Sirenen finster herüber, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Worauf warten die noch?«, fragte sich Aiko, ohne Aruula aus den Augen zu lassen. Nur für den Fall, dass sie wieder unverhofft die Seiten wechselte. Seine Frage wurde beantwortet, als Bewegung am Rande des Rudels entstand. Dutzende von Tieren trotteten zur Seite und bildeten einen natürlichen Korridor für eine Frau, die von einer heimkehrenden Rotte vor sich hergetrieben wurde! Trotz der rotblonden Haare, die unter einem genagelten Lederhelm hervor wallten, trug sie die Kleidung einer mogoolischen Kriegerin. Angesichts dieses menschenarmen Landstrichs bedurfte es keiner großen Kombinationsgabe, sie mit der aufgeriebenen Karawane in Verbindung bringen. Irgendwie schien sie den lockenden Gesängen entgangen zu sein. Zumindest für einige Zeit. Die Sirenen mussten sie irgendwo in
der Taiga aufgespürt und über Stunden hierher gehetzt haben. Völlig entkräftet taumelte die Amazone näher. Die Erschöpfung wich jedoch schlagartig aus ihrem Gesicht, als sie die Stahlkisten mit den WCA-Emblemen sah - ein weiterer Hinweis, dass sie zu den Ostmännern gehörte. Was dagegen sprach, war ihre naturbelassene Schönheit, die weder durch Geschwüre noch sonstige Deformationen entstellt wurde. Fragte sich nur, warum? *
Ostküste von Kamtschatka, NeuBaltimore, 28 Jahre zuvor. Die Rückkehr der Voyager löste große Bestürzung innerhalb des Camps aus. Schon von weitem wurden die Beschädigungen sichtbar, die der Raddampfer während seiner Expedition davongetragen hatte. Naturgewalten mussten mit verheerender Wucht über ihn hereingebrochen sein, anders war sein Zustand nicht zu erklären. Große Teile der Aufbauten lagen in Trümmern oder existierten schlichtweg nicht mehr. Zwischen den Schaufelblättern klafften Lücken, die eine ruhige Fahrt erschwerten, und die Bordwände wirkten seltsam angefressen, als hätte eine Horde Taratzen die Zähne daran gewetzt. Quälend langsam kam das Schiff näher. Bis es das Pier erreichte, drängten sich dort bereits Hunderte von Männern und Frauen, die ihre Neugierde befriedigen wollten. Lord Perkins hatte einige Mühe, sich einen Weg durch die aufge-
regte Menge zu bahnen, die den Hafen verstopfte. Keoma teilte harte Schläge nach links und rechts aus, um ihm Platz zu verschaffen. Schließlich konnte es nicht angehen, dass ein Abgesandter der Götter in seinem Anliegen behindert wurde. Die Ostmänner, die unter ihrer Faust beiseite wichen, warfen ihr feindselige Blick zu. Keoma wusste, dass sie wegen ihres makellosen Aussehens verabscheut wurde, doch das störte sie nicht, solange nur Lord Perkins Gefallen an ihr fand. Schließlich war er es, der sie von den Heiligen Infusionen entbunden hatte, die bei den anderen zu Abszessen und offenen Wunden und bei ihrem Nachwuchs zu Missbildungen führten. »Metze!« Der Moogole, der ihr die Beleidigung hinterher geflüstert hatte, erbleichte, als Keoma sich genau in diesem Moment umdrehte. Es war allgemein bekannt, dass sie die Worte eines Menschen von den Lippen ablesen konnte, und die Stellung als Leibwächterin verlieh ihr eine Macht, die über offizielle Ränge weit hinaus ging. Keoma begnügte sich, dem Lästermaul im Vorbeigehen das Knie zwischen die Beine zu rammen, um ihm für die Zukunft Benehmen beizubringen. Kurz danach erreichte sie mit Lord Perkins das Kai, an dem die Voyager bereits vertäut lag. »Was ist geschehen?«, wollte der Meister wissen. »Und wo ist Lieutenant Esega?« So eilig, wie einige aus der Besatzung herbeistürzten, musste er den Außenlautsprecher seiner silbernen Kleidung auf volle Leistung gestellt haben. 49
Keoma hatte keine Vorstellung davon, wie das klang, denn ihre Welt bestand nur noch aus absoluter Stille. Hoigon, der die Sprache der Götter verstand, näherte sich mit einer unterwürfigen Verbeugung. Seine Felljacke wies große Löcher auf, unter der rot aufgequollene Haut zum Vorschein kam. Sein linker Arm hing bewegungslos herab, als verspürte er kein Leben mehr darin. »Lord Esega ist tot«, jammerte der Unterführer. »Die Rochen haben ihn mit Speichel verbrannt. Seht selbst, ich lasse ihn herauf tragen.« »Rochen?« Perkins riss überrascht die Augen auf. »Soll das ein Witz sein?« Hoigon schüttelte entsetzt den Kopf. Nicht mal im Traum würde er es wagen, einen Meister der Erde zu belügen. Schon gar nicht nach solch einer Niederlage. »Es sind riesige, schwarzweiß gefärbte Wesen, die übers Wasser fliegen«, versicherte er hastig. »Ein kleiner grüner Kristall schimmert in ihren Köpfen, und aus den Mäulern speien sie ätzenden Saft. Meinen Arm haben sie mir genauso verbrannt wie die Silberhaut des Lords.« Mit einer weit ausholenden Geste deutete Hoigon auf die Zerstörungen des Schiffes. »Ihre langen Schwänze sind an der Spitze mit Dornen bewehrt, und sie sausten wie Dreschflegel auf uns nieder«, fuhr er fort. »Seht doch nur, was alles zerschlagen wurde. Einige Unglückliche haben sie sogar gepackt und unter Wasser gezerrt. Lord Esegas letzte Anweisung war, sofort umzukehren. Das schwöre 50
ich beim Großen Khaan.« »Genug jetzt!«, wehrte Captain Perkins ab, denn die lautstarke Erzählung sorgte für Unruhe unter den dicht gedrängten Zuhörern. Bisher hatten sich die Ostmänner stets für unbesiegbar gehalten, denn sie wussten ja nicht nur göttliche Vertreter, sondern auch mächtige Donnerwaffen auf ihrer Seite. Was musste das für ein Gegner sein, der einen Meister der Erde zu bezwingen vermochte? Unruhe kam auf, als zwei Männer an Deck traten, die eine Bahre trugen, auf der Lieutenant Esega lag. Seine Silberhaut schien unter großer Hitze geschmolzen zu sein, und der gläserne Helm lag in Trümmern. Unter den Scherben zeichneten sich schwarz angelaufene Gesichtszüge ab, die von rotem Haar eingerahmt wurden. »Verdammt, Tony, was machst du nur für Sachen?« Lord Perkins' Augen schwammen vor Tränen. So hatte ihn die Amazone noch nie gesehen. Der Moment der Schwäche dauerte jedoch nur einige Herzschläge an. Danach straffte sich seine Gestalt und er fand zu alter Größe zurück. Mit funkelndem Blick wandte er sich zu Keoma um. »Eile in die Große Pagode«, befahl er, »und sorge dafür, dass Lady Hellström nicht hierher kommt. Wenn sie vor aller Augen zusammenklappt, schadet das unserem göttlichen Nimbus.« Er musste den Außenlautsprecher abgestellt haben, damit ihn sonst keiner verstand. Das erkannte sie daran, wie er die Worte wählte, aber auch an dem, was er da sagte.
Keoma nickte beflissen und eilte davon. In Momenten wie diesen spürte sie genau, dass der Lord ihr mehr vertraute als jedem anderen Menschen, sogar mehr als den übrigen Göttlichen. Schon alleine deshalb, weil sie ihr Wissen mit niemandem mehr teilen konnte, da ihre Sprachfähigkeit in den letzten Jahren weitreichend verkümmert war. Mit kräftigen Bewegungen bahnte sich Keoma einen Weg in die Große Pagode, während Lord Perkins eine Rede hielt, in der er der aufgeregten Menge erklärte, warum der Tod von Lord Esega dem Willen der Götter entsprach. Keoma wusste das, ohne noch einmal auf seine Lippen zu schauen. Es musste einfach so sein, weil es gar keine andere Erklärung für diese Niederlage gab. Später am Abend, als Lord Perkins sie in ihren Räumen besuchte, erfuhr die Amazone, welche Schlüsse er gezogen hatte. »Eigentlich ist dieses Desaster das Beste, was uns passieren konnte«, verkündete Perkins mit zufriedener Miene. »Nicht weil ich Tony bei dieser hysterischen Ziege beerben will, um Himmels willen, nein. Da bist du mir viel lieber. Aber jetzt ist wenigstens Schluss mit diesen albernen Kratersee-Expeditionen, die doch jedes Mal nur in ödes, von mutiertem Viehzeug besetztes Gebiet führen.« Keoma, die ihm zu Füßen saß, nickte verstehend. Die Panzervorstöße zwischen Kolyma und den Gebirgszügen hatten nicht den geringsten Hinweis auf menschliche Besiedlung gebracht, weil dort alles von den Sireenenrudeln beherrscht wurde. Die Schiffserkundun-
gen in Richtung Kratersee ergaben ein ähnliches Bild. Dort griffen die fliegenden Rochen alles an, was in ihr Territorium eindrang. »Passt doch wunderbar ins Konzept«, verkündete der Lord. »Solange Sireenen und Rochen in ihren Grenzen bleiben, halten sie uns den Rücken frei. Und der wahre Feind …«, sein Oberkörper ruckte vor, die Augen bekamen einen bösen Glanz, »… sitzt sowieso südlich von uns! Unser Späher melden, dass auf Nipoo, das wir als Japan kennen, Schlitzaugen aus ihren Löchern kriechen. Und die Pazifa-Inseln sind noch gänzlich unerforscht; wer weiß, wer dort das Sagen hat? Ganz klar: Unser Feind sind nicht die Viecher im Westen, sondern die aufstrebenden Stämme in Reichweite der amerikanischen Küste. Die müssen wir ausrotten, bevor es zu spät ist. Schon nächsten Monat richte ich eine Strafexpedition gegen Japan aus.« Keoma schlug begeistert auf ihr Schwert, um zu zeigen, dass sie zum Kampf bereit war. Der Lord strich über ihren Kopf und ließ ein trauriges Lächeln unter dem Glashelm aufblitzen. »Diesmal nicht, Keoma«, erklärte er. »Ich brauche dich hier bei Lady Hellström, bis die Götter Ersatz für Lord Esega gesandt haben. Kuga wird mich als Adjutant begleiten. Er ist ein guter Krieger.« Die Amazone stieß ein verächtliches Schnauben aus, um klar zu stellen, was sie von Kuga hielt. Tadelnd sah der Lord auf sie hinab. Widerspruch gefiel ihm nicht. Keoma drängte sofort ihr Gesicht an 51
seine Wade. Scham befiel sie, denn war es nicht Lord Perkins gewesen, der ihr ein neues, schöneres Leben geschenkt hatte? Er hatte Keoma auch das Lippenlesen beigebracht. Nicht nur in ihrer Sprache, sondern auch in seiner eigenen, der Sprache der Götter. »Gräme dich nicht«, tröstete Perkins, als sie zu ihm hochsah. »Du wirst mir auch fehlen. Du ahnst gar nicht, wie sehr.« Die Hände auf die Armlehnen gepresst, begann er seine Beine zu spreizten. Ein deutliches Signal, dass er nach Entspannung dürstete. Bereitwillig ließ Keoma ihre Rechte in die Höhe wandern und streichelte in kreisenden Bewegungen über seine silberne Haut. Sie wusste längst, dass der Lord unter der glänzenden Kleidung genauso aussah wie jeder andere Mann. Was sie nicht verstand, war, wieso er die Silberhaut nur in den reinen Räumen ablegen konnte, die kein Mogoole - nicht einmal Keoma - betreten durfte. Gerne hätte sie sich dem Meister ganz hingegeben, doch das lehnte er vehement ab, als stünde sein Leben auf dem Spiel. Die Götter verbieten es, hatte er einmal erklärt. Seitdem begnügte sich die Amazone damit, seine Silberhaut zu berühren. So lange und so intensiv, dass sein Kopf rot anlief und er vor Vergnügen japste. Zum letzten Mal in seinem Leben. Denn aus Nipoo sollte er nie mehr zurückkehren … *
Gegenwart. 52
Die Sirenen stets im Visier, winkte Aiko die Amazone näher. »Du brauchst keine Angst zu haben! Komm her zu uns!«, rief er, obwohl sie vermutlich kein Englisch konnte. Er hoffte aber, dass sie seine Absichten am Tonfall erkannte. Die rotblonde Frau - Aiko schätzte sie auf Mitte vierzig - starrte ihn aus geschmälten Augenlidern unangenehm intensiv an, bis sich ihre Miene schlagartig aufhellte, ganz so, als hätte sie jedes Wort verstanden. In schnellem Rhythmus schlug sie mit der Rechten auf ihren Brustkorb und rief: »Keoma!« Dann, auf Aiko deutend: »Looaard?« Der fragende Unterton war nicht zu überhören. Anscheinend hielt sie ihn für einen Lord, einen WCA-Mann, der die Lieferung der Karawane in Empfang genommen hatte. »Mein Name ist Aiko. Ich bin kein Lord«, korrigierte er, um sich nicht mit fremden Federn zu schmücken. Besonders dann nicht, wenn es die des Weltrats waren. Da die Amazone sicher Durst verspürte, reichte Aiko ihr einen vollen Wasserbecher, der noch unberührt am Feuer stand. Dankbar nahm sie ihn entgegen, genauso wie den Energieriegel, den Aruula für sie auspackte. Egal ob vom Stamm der Ostmänner oder nicht, im Moment standen alle Drei gegen eine Übermacht von Sirenen. Das machte sie zwangsläufig zu Verbündeten. »Hattest du früher schon mit solchen Bestien zu tun?«, fragte Aiko, nachdem Keoma bereits auf dem dritten Riegel kaute.
Die Amazone sah überrascht von ihrem Becher auf, als hätte sie nur die Hälfte verstanden. Aikos verständnislosem Blick begegnete sie mit einer Geste zu ihren Ohren, die von einem Kopfschütteln begleitet wurde. Da der Asiate immer noch nicht begriff, setzte sie zu einem aufgeregten Wortschwall an, der seltsam bruchstückhaft klang. Fast so, als ob sie generelle Sprachprobleme hätte. »Du kannst Englisch verstehen, aber nicht sprechen?«, wunderte sich der Cyborg. Keoma nickte. Dann schlug sie sich mit der flachen Hand gegen die Ohren und schüttelte den Kopf. Erst jetzt wurde Aiko klar, dass sie taub war. Um einen anderen zu verstehen, musste sie von den Lippen ablesen. Darum also hatte Keoma den Sirenen so lange entkommen können! Gegen die hochfrequenten Botschaften war sie genauso immun wie er. »Wir beide haben etwas gemeinsam«, weihte er die Amazone lächelnd ein. Keoma las jedes Wort von seinen Lippen ab. Ihrem runden Gesicht war deutlich anzusehen, dass sie den Cyborg für eine Art Heilsbringer hielt, der schon alles richten würde. »Looaard Aiioko«, formulierte sie unbeholfen. »Nein«, wehrte Aiko entschieden ab. »Ich bin kein Lord. Merk dir das.« Keoma wich zurück, als hätte sie eine Ohrfeige erhalten. Angst und die deutliche Frage, womit sie den Lord verärgert haben mochte, spiegelten sich in der eben noch so hoffnungsvollen Miene
wider. Krähenfüße und Falten wandelten sich zu tiefen Furchen in ihrem Gesicht. Plötzlich ließ sich erahnen, wie alt sie wirklich war. Ehe Aiko eine Entschuldigung vorbringen konnte, kniete Aruula neben der Mongolin nieder und strich ihr beruhigend übers Haar. Eine schwesterliche Geste, durch die Aruula aber auch näher an die Fremde heran kam - um deren Gedanken zu erlauschen. »Keoma ist sehr aufgeregt«, berichtete die Telepathin, was sie sah. »Die Gedanken wirbeln durch ihren Kopf. Ich sehe Sie als junge Frau im Kampf gegen die Sirenen. Sie hat sich selbst das Gehör genommen, um der Gefangenschaft zu entgehen, doch ihre Rettung verdankt sie einigen Technos in Silberkleidung … aah!« Mit einem Keuchen hielt Aruula in der Schilderung inne. Das Gesicht, das sie als nächstes sah, kannte sie bereits aus der Erinnerung eines anderen Mannes. »Captain Perkins!«, keuchte sie heiser. »Der gewissenlose Taratzenarsch, der General Fudoh verstümmeln ließ! Keoma war seine treue Dienerin!« Aruulas Gesicht verzerrte sich zu einer hässlichen Fratze. Ohne Vorwarnung stürzte sie sich auf die Mongolin, die völlig überrascht wurde. Für Sekunden schien sie vollkommen hilflos, dann spannte sie alle Muskeln an und packte die beiden Hände, die ihren Hals umklammerten. Trotz ihres Alters verfügte sie über ernorme Kräfte. Erst dachte Aiko noch, die Erinnerung an Fudoh hätte Aruula zu einer 53
solchen Reaktion getrieben - doch dann sah er, dass einige der Sirenen die Köpfe erhoben hatten. Sie heulten wieder! Ehe es jedoch zu einem echten Kräftemessen zwischen den beiden Frauen kommen konnte, war Aiko heran. Mit einem Schlag auf Aruulas zentrales Nervensystem sorgte er für Ruhe. Seufzend kippte die Barbarin zur Seite. »Meine Freundin ist nicht mehr sie selbst«, entschuldigte sich der Cyborg bei Keoma und deutete auf den Belagerungsring. »Die Sirenen haben ihren Verstand verwirrt.« Die Amazone nickte verstehend. »Wir müssen meine Kameraden fesseln, damit sie uns nicht mehr in den Rücken fallen können«, fuhr Aiko fort. Keoma stellte keine Fragen, sondern machte sich ans Werk. Sie benutzten einige Stricke, mit denen sonst das Gepäck auf den Yakks festgezurrt wurde, um nacheinander Matt, Mr. Black, Honeybutt und Aruula die Hände auf den Rücken zu binden. Dass nun alle unter ihrem Einfluss stehenden Gefangenen außer Gefecht gesetzt waren, veranlasste die Sirenen, persönlich einzugreifen. Blauschädels Rotte war die erste, die sich in Bewegung setzte. Es war wohl der Gedanke an Rache für die erlittene Schmach, der sie vorwärts trieb. Direkt in den Tod. Aiko riss die Tak 02 an seine Wange und gab kurze, konzentrierte Feuerstöße ab. Pulver und Blei erfüllten die Luft. Leere Metallhülsen spritzten mit leisem Surren aus dem Auswurfschacht, während die anrückenden Leiber im Takt der Salven perforiert wurden. 54
Je drei bis vier Stahlmantelgeschosse durchschlugen eine Sirene, bevor Aiko sich der nächsten zuwandte. Die getroffenen Tiere wälzten sich stumm am Boden - eigentlich ein abschreckendes Beispiel für alle anderen. Doch das Rudel war intelligent genug, um zu erkennen, dass die Schusswaffe nur einen Bruchteil von ihnen aufhalten konnte. Vor allem, als der Rückstoßlader der Tak 02 plötzlich blockierte. Aiko hatte gerade die letzte Patrone verschossen. Ihm blieb nicht einmal Zeit für Wehmut, als er die leere Maschinenpistole in den Dreck fallen ließ und sich nach einer anderen Waffe umsah. Und Mr. Blacks Granatwerfer entdeckte, der schussbereit im Gras lag. Aiko war mit einem Satz dort und nahm das schwere Rohr auf, kreiselte herum und suchte nach den Sirenen, die ihnen am gefährlichsten werden konnten. Er entschied sich für einen dichten Pulk, knapp zwanzig Meter entfernt. Ein letzter Blick durch die Zieloptik, dann ging das Geschoss auf die Reise. Es überwand die Distanz in weniger als vier Sekunden und schlug mitten in die Rotte ein. Der Aufschlagzünder entfachte einen rasch anwachsenden Glutball, der im Umkreis von zehn Metern alles verbrannte, was die Explosion nicht schon zerfetzt hatte. Die Erde bebte. Sand und in die Höhe geschleuderte Steinbrocken regneten in weitem Umkreis vom Himmel. Dort, wo eben noch sieben Raubtiere gestanden hatten, klaffte jetzt ein tiefer Krater, aus dem dichter schwarzer Qualm aufstieg. Der Pulvernebel verdeckte gnädig, was die Nasenschleim-
häute bereits erfassten. Verbranntes Fleisch. Die Auswirkung der Granate schockte die Sirenen. Viele machten auf den Hinterbeinen kehrt. Nur knapp zwei Dutzend blieben zurück, um den Menschen, der ihnen zu widerstehen wagte, im Sturmlauf zu bezwingen. Aiko blieb keine Zeit zum Nachladen, dazu waren die Bestien bereits zu nahe. Den leergeschossenen Granatwerfer im Anschlag, nahm eine Sirene nach der anderen aufs Korn. Der Bluff wirkte besser, als er zu hoffen gewagt hatte. Angst verdrängte Wut und Gier, und die Tiere hetzten davon. Erst in einigen hundert Metern Entfernung blieben sie stehen und sondierten erneut die Lage. Aiko nutzte die Atempause, um eine weitere Granate aus dem Munitionskasten zu klauben und von hinten in den Lauf zu schieben. Damit schoss er auf eine Rotte jenseits des Bachlaufs, die eine Spur zur vorwitzig die Hälse in die Höhe reckte. Die Explosion sollte den Sirenen klar machen, dass es sie jederzeit erwischen konnte, wenn sie zu wenig Abstand hielten. »Looaard Aiioko!« Keoma sah mit glühenden Wangen zu ihm auf. Angesichts seines tapferen Kampfes gab es für die Amazone keinen Zweifel mehr daran, dass sie es mit einem Abgesandten der Götter zu tun hatte. Aiko versuchte nicht mehr, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Andere Dinge hatten höhere Priorität. Überleben zum Beispiel. Er packte die Amazone eindringlich an der Schulter. »Ja, ich bin ein Meister der Erde«,
bestätigte er mit deutlichen Lippenbewegungen. »Und ich bin auf deine Hilfe angewiesen. Nur mit dir kann ich die anderen Lords vor dem Tod retten. Wir müssen einen Ort finden, an dem wir uns besser verteidigen können. Kennst du dich in dieser Gegend aus?« Trotz der bedrohlichen Situation leuchteten Keomas Augen vor Freude. Dass der Lord ihr rückhaltlos vertraute, erfüllte sie mit großem Stolz. Die Hände tatendurstig in die Hüften gestemmt, richtete sie sich hinter den Gefesselten auf. Nach einem Blick in die Ferne hob sie entschlossen den rechten Arm und deutete auf eine rund drei Kilometer entfernte Felsformation, aus der auch der Bachlauf entsprang. »Da oben sollen wir uns verschanzen?«, fragte Aiko. »Glaubst du, die Sirenen können nicht gut klettern?« Wozu auch?, gab er sich in Gedanken selbst die Antwort. Die Biester sind es gewohnt, alles mit ihren Gesang anzulocken. Außerdem schien sich Keoma ihrer Sache ziemlich sicher zu sein. Wenn sie noch heftiger mit dem Kopf genickt hätte, wäre er ihr vermutlich von den Schultern gefallen. »Also gut«, bestimmte Aiko, »dann los!« Lauter Hufschlag versetzte seinem Aktionismus einen kräftigen Dämpfer. Die Yakks, die selbst während des Granatenbeschusses wie paralysiert dagestanden hatten, gaben plötzlich Fersengeld. Das konnte nur am Gesang der Sirenen liegen, die ihre ersten Gegenmaßnahmen einleiteten. Nicht mehr lange und die Raubtiere hatten sich so weit 55
von ihrem Schrecken erholt, dass sie wieder angriffen. Aiko packte eines der bereitstehenden Maschinengewehre und schob den Kolben gegen die rechte Schulter. Ein normaler Mensch hätte auf diese Weise überhaupt nichts treffen können, doch seine mechanischen Arme hielten dem Rückschlag mühelos stand. Nur das Gewicht der Waffe machte ihm zu schaffen; lange würde er den Lauf nicht waagerecht halten können. Wütend visierte er einige Sirenen an, die sich zweihundert Meter entfernt zwischen wilden Grasähren abzeichneten. Knatternde Salven zerrissen die Stille. Das große Kaliber schleuderte die Leiber durch die Luft und tot zu Boden. Die restlichen Sirenen wichen panisch weiter zurück. Das verschaffte ihnen für den Moment Luft - aber für wie lange? »Was soll der Krach?«, tönte es neben Aiko. »Und warum bin ich gefesselt?« Der Cyborg sah überrascht auf Mr. Black hinab, der sich gerade auf die Knie stemmte. Der Rebell hatte wirklich einen harten Schädel, das musste man ihm lassen. »Die Stricke dienen Ihrer eigenen Sicherheit«, erklärte der Asiate knapp. »Sie und die anderen haben in Trance versucht, mich zu töten.« »Verstehe.« Auch wenn ihm Untätigkeit ein Gräuel war, Black war Profi genug, um die Notwendigkeit der Fesseln einzusehen. »Und wer ist diese Frau?« »Eine taube Mongolin. Die einzig verlässliche Hilfe, die mir geblieben ist. 56
Seien Sie also nett zu ihr.« Matt und Honeybutt kamen ebenfalls zu sich, während Aruula noch selig schlummerte. Aiko erläuterte den Erwachten hastig seinen Plan, denn niemand wusste, wann sie wieder unter den Einfluss der Sirenen geraten würden. Noch während er sprach, schnallte er ihnen schwere Rucksäcke um. Wenn die Flucht zu den Felsen gelang, würden sie einige lebensnotwendige Dinge brauchen, vor allem Proviant und Munition. Den Großteil der Ausrüstung, sofern er nicht schon mit den Yakks verschwunden war, mussten sie zurücklassen. »Wir werden dir keine große Hilfe sein; im Gegenteil«, sagte Matt an Aiko gewandt. »Solange wir anfällig für den Sirenengesang sind, könnten wir dir jederzeit in den Rücken fallen -« »- oder uns von der Gruppe trennen«, fiel Black ein. »Mr. Drax hat Recht. Wir sollten Vorsorge treffen. Am besten, wir bilden eine Seilschaft.« Es war ein unangenehmes Gefühl für Aiko, die Gefährten an den gefesselten Händen aneinander zu binden. Einerseits war es sicherer - andererseits konnten sie ihm bei Gefahr nicht beistehen. Er und Keoma würden auf sich allein gestellt sein. Nachdem er Matt, Mr. Black, Miss Hardy und die bewusstlose Aruula mit je zwei Meter Seil Zwischenraum zu einer Reihe verbunden hatte, hängte er eines der schweren Maschinengewehre quer über die Brust des Rebellenführers. Das zweite mussten sie zurücklassen. Er selbst packte den Granatwerfer, in dem
das letzte verbliebene Geschoss steckte, mit der rechten Hand, während die linke den Armbrust-Blaster hielt. Keoma nahm Aruulas Bihänder auf und steckte sich weitere Stricke hinter den Gürtel der Felljacke. Derart gerüstet, mussten sie nur noch warten, bis Aruula erwachte, bevor sie den Durchbruch in Richtung Felsen wagen konnten. *
Die ersten fünfhundert Meter ging alles gut, bis Aiko bemerkte, das sich einige Sirenen zwischen ihnen und den Felsen neu formierten. Eine wohlgezielte Granate schaffte freie Bahn, doch damit war diese Waffe endgültig leergeschossen. Um das Rudel zu täuschen, nahm Aiko den Granatwerfer wieder über die Schulter. Die Tiere sollten glauben, dass er ihn jederzeit wieder einsetzen konnte. Den Armbruster in Händen ging es weiter. Zumindest die Funktion des eingebauten Blasters hatte Aiko inzwischen ergründet. Im Dauerfeuer-Einsatz war er einem Driller überlegen. Der Cyborg suchte die umliegenden Grasflächen unablässig nach neuen Gegnern ab, doch die intelligenten Biester blieben von nun an außer Sichtweise. Dass sie dennoch die Flüchtenden aufhalten wollten, wurde klar, als Keoma einen Warnlaut ausstieß. Der Cyborg kreiselte herum, bereit, jeder Gefahr mit einer Blasterladung zu begegnen, doch das Problem, dem sie gegenüber standen, hatten sie glücklicherweise schon vorhergesehen: Unter dem
Einfluss der Sirenen strebten die vier Gefesselten auseinander und versuchten zu fliehen. Keoma schnappte sich das Ende des Seils, das hinter Aruula herschleifte, und spannte es. Aiko am anderen Ende tat es ihr gleich. So hielten sie die Beeinflussten zusammen. Aiko fiel es sichtlich schwer, seine Freunde wie willenloses Vieh zu behandeln, aber ihm blieb keine Wahl. Besser so, als sie erneut außer Gefecht setzen zu müssen … Immer wieder ging er zwischendurch in den Thermomodus und suchte das wogende Gräsermeer ab. Kaltblüter oder nicht, die von der Sonne aufgeheizte Haut der Sirenen zeichnete sich deutlich in seinem Suchraster ab. Einige heranschleichende Tiere empfing er so mit gezielten Salven. Die Energieblitze des Blasters fraßen sich durch das Gras und verkohlten es. Dumpfe Schläge kündeten von den gelandeten Treffern. Die Geschosse löschten drei Leben aus, bevor die verbliebene Rotte die Flucht ergriff. Mit jedem gescheiterten Angriff wuchs die Verwirrung unter den Sirenen weiter an. Nicht nur, das ihr Gegner unzerstörbar erschien - sie wussten ja nicht, dass nur Aikos Arme aus Plysterox bestanden - nein, er konnte auch noch ihre Deckung durchschauen und verfügte über weitreichende Waffen mit fürchterlicher Vernichtungskraft. So blieb ihnen nur, seine Begleiter mit weiteren Gesängen anzulocken. Aber auch das wussten Aiko und Keoma zu verhindern. Meter für Meter ging es weiter, am Bachlauf entlang, 57
den Felsen entgegen. Nach den beschwerlichsten zwei Kilometern, die Aiko je zurückgelegt hatte, wich das Steppengras steinigem Untergrund. Trotzdem ließ der Cyborg in seiner Wachsamkeit keine Sekunde nach. Unablässig glitt sein Thermoblick über die Taiga, ohne eine Bewegung auszumachen. In den vor ihnen liegenden Felsen schien ebenfalls alles ruhig zu sein, aber vielleicht hatte sich der Stein auch nur auf die gleiche Temperatur aufgeheizt wie die Sirenen. »Nnnngggg!« Keoma war in diesem Moment nicht mehr als ein orangener Fleck mit humanoiden Formen, der eine Körpertemperatur von 38,5 Grad Celsius anzeigte. Der Schweiß lief ihr in Strömen über den Körper, während sie aufgeregt in die Höhe deutete. Aiko wechselte auf reguläre Sicht und blickte zu fünf aufragenden Felsnadeln, den sie ihm zeigen wollte. »Dorthin, meinst du?« Die Amazone nickte bestimmt und bedeutete ihm mit Gesten, dass sie die Führung übernehmen wollte. Da die Sirenen nun hinter ihnen lauerten, war Aiko einverstanden. »Gut, dann weiter.« Er ließ Keoma mit den anderen an sich vorbei gehen. Die vier Gefesselten waren noch immer in Trance, versuchten aber nicht mehr zu fliehen. Aiko fragte sich argwöhnisch, was die Bestien planten. Dass sie ihre Opfer einfach entkommen ließen, schien ihm ausgeschlossen. Doch die einzigen Sirenen, die er ausmachen konnte, befanden sich exakt achthun58
dertvierunddreißig Meter entfernt. Zu weit, um ihnen gefährlich zu werden. Und zu weit, um sichere Treffer zu landen. Halbwegs beruhigt folgte er auf das ansteigende Massiv, das sich bald in mehrere Abschnitte zerklüftete. Der lange Schatten, den sein Körper auf dem ockerfarbenen Stein warf, mahnte ihn zur Eile. Sie hatten für die knapp zwei Kilometer länger gebraucht, als er zuvor veranschlagt hatte. Die Sonne stand bereits dicht über dem Horizont. Ein glutroter Ball, der stetig an Kraft verlor. Bald würde es dunkel sein. Bis dahin mussten sie eine sichere Stellung bezogen haben. Aiko schloss zu den anderen auf. Die Führung überließ er Keoma, die bereits nach einem gangbaren Weg zum Überhang suchte. Das Gestein ragte nicht mehr als drei Meter auf, war aber an vielen Stellen zu steil, um es ohne Hilfsmittel zu erklimmen. Aikos Sorge wuchs. Wenn die Sirenen nachrückten, konnte diese unübersichtliche Formation schnell zur Falle werden. »Nnnngggg!« Keoma deutete auf einen Felseinschnitt, und Aiko trieb seine Freunde darauf zu. Sie gehorchten widerspruchslos - ein weiterer Fakt, der Aiko misstrauisch machte. Obwohl die ansteigenden Wände der Felsformation mehrere Meter auseinander lagen, schlug ihnen die gespeicherte Wärme von beiden Seiten entgegen. Gleichzeitig wurde es dunkler, da die schrägen Sonnenstrahlen nicht bis hier herab reichten.
Der natürliche Gang führte in einem leichten Bogen um die rechte Felswand herum, die immer weiter abfiel, bis man sie an einer Stelle bequem erklimmen konnte. In einzelnen Felsspalten hatte sich Erde gehalten, aus der Schlingpflanzen, klebrigen Tentakeln gleich, empor rankten. Oben auf der Kuppe gab es sogar Gräser und kleine Büsche. Wind, Regen und Eis hatten aber den größten Teil der Vegetation abgetragen und darunter den nackten Fels zum Vorschein gebracht. Keoma wartete an einer Stelle, an der man mit einem kurzen Sprung aufentern und dann weiter nach oben zu der Gruppe der fünf großen Stalagmiten klettern konnte. Dafür würde es allerdings notwendig, den Gefährten die Fesseln abzunehmen … Doch so weit sollte es gar nicht mehr kommen. Kurz bevor sie die Amazone erreichten, blieb Mr. Black abrupt stehen und trat ohne Vorwarnung nach hinten aus. Der Absatz seines schweren Stiefels knallte mit voller Wucht gegen Aikos rechtes Knie. Tränen schossen dem Cyborg in die Augen und raubten ihm für Sekunden die Sicht, während er zu Seite wegknickte. Es hätte nicht Keomas Warnrufes bedurft, um zu wissen, das über ihm Sirenen aufgetaucht waren. Diese Art des Überfalls hatte Aiko lange erwartet und war dennoch davon überrascht worden. Nun erwies es sich als Glück, dass Mr. Black durch die Fessel und das MG quer über der Brust in seiner Beweglichkeit stark eingeschränkt war. Aiko hatte keine Mühe, ihn von den Beinen
zu holen. Er gab ein paar blinde Schüsse in die Luft ab. Wo waren die Sirenen abgeblieben? Verdammt! Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung, fuhr herum - und hätte beinahe Matthew Drax erschossen, der auf ihn zustürmte. Im letztem Moment riss Aiko die Waffe nach oben. Der Blasterschuss sprengte Steinsplitter aus dem Felsen. Im nächsten Moment stoppte Matt, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Keoma hatte das Seil, an dem der Commander hing, mit einem Ruck gespannt und ihn zu Boden gerissen. Keine Zeit, sich zu bedanken. Aiko wirbelte erneut herum. Er sah nur zwei verschwommene Schatten, die lang ausgestreckt in die Tiefe rasten. Direkt auf ihn zu. Der Blaster wummerte, ohne dass Aiko bewusst abgedrückt hatte. Er handelte rein instinktiv, als wäre die Waffe mit seiner Hand verwachsen. Und traf! Beide Sirenen wurden von den Einschlägen so hart zurückgeschleudert, dass sie gegen die Felswand krachten und daran herab rutschten. Aiko legte noch zwei Salven nach, um zu verhindern, dass sie im Todeskampf ein Blutbad anrichteten. Von der Seite fegte ein Schatten heran! Aiko wollte noch ausweichen, doch es war bereits zu spät. Der Aufprall riss ihn von den Füßen. Die Muskeln des Cyborgs spannten sich in Erwartung eines Prankenhiebs, doch stattdessen pressten sich runde weiche Formen gegen seinen Oberarm. Es war Keoma, die ihm umgestoßen 59
hatte! Die Amazone drehte sich und rammte den Griff von Aruulas Bihänder neben sich auf den Fels, die Schwertklinge im steilen Winkel nach oben gerichtet. Gerade noch rechtzeitig, dass sich der Stahl in eine Sirene bohren konnte, die von der anderen Seite herabgesprungen war. Durch ihr Körpergewicht getrieben, rutschte sie an der geschliffenen Klinge herab, die zwischen Hals und Schulterblatts wieder austrat. Die schwere Verletzung hinderte das Raubtier nicht daran, weiter auf Keoma einzudringen. Fauchend schlug es mit den Pranken zu. Die Amazone wand sich, um den Krallen zu entgehen, doch auf Dauer konnte sie natürlich nichts gegen die tobende Bestie ausrichten. Aiko war mit dem Hinterkopf auf den Felsen geprallt. Nun zwinkerte er, um seinen Blick zu klären. Als er den schuppigen Leib direkt vor sich sah, zog er die Beine an und rammte der Bestie die Sohlen mit aller Kraft in die Seite. Es gab ein lautes Krachen, als würden Rippen brechen. Das Tier wirbelte herum, um mit beiden Pranken auf seinen Peiniger loszugehen. Der Cyborg stoppte die Attacke bereits im Ansatz. Seine bionische Linke umklammerte den Hals der Bestie, während aus dem rechten Unterarm, knapp unterhalb des Handballens, ein zwanzig Zentimeter langer Stahldorn sprang, der eigentlich als Computer-Interface diente. Ihn stieß er mit voller Wucht in das Ohr der Sirene - bis ins Gehirn hinein. Das Raubtier erschlaffte in Aikos Griff. 60
Er stemmte den Kadaver beiseite, half Keoma auf und nahm den Armbruster wieder in den Anschlag. »O Scheiße, mein Kopf!«, klagte die Stimme von Matthew Drax. Der Commander hatte sich aufgesetzt, schaute benommen aus der Wäsche und rieb sich die Stirn. »Was war los? Wieder ein Blackout?« Auch Mr. Black und die beiden Frauen regten sich und sahen sich verwirrt um. Der Einfluss der Sirenen war von ihnen abgefallen - doch für wie lange? Aiko erkannte, dass er die Chance ergreifen musste. »Keine Zeit für Erklärungen!«, drängte er und löste Matts Fessel. Keoma tat es ihm bei Honeybutt Hardy gleich. »Hoch mit euch!« Er wies himmelwärts. »Seht ihr die Felsnadeln? Da müssen wir rauf, so schnell es geht!« Die Gefährten begriffen zum Glück schnell und stellten keine weiteren Fragen. Nachdem alle befreit waren, überließ Aiko es Keoma, ihnen den besten Weg hinauf zu zeigen. Er selbst wechselte auf einen halbhohen Felsen, um die nähere Umgebung zu sichern. Die Sirenen durften nicht erfahren, was ihre Beute vorhatte. Aikos schweißnasses Gesicht glühte vor Anstrengung, während er den zwei Meter hohen Absatz überwand und eine anschließende Steigung empor rannte. Mit vorgehaltener Waffe erreichte er die Kuppe. Genau vor ihm trotteten zwei Sirenen unentschlossen hin und her. Aiko brachte den Armbruster in Anschlag, doch der abgefeuerte Energieblitz spaltete nur noch nackten Fels. Die
beiden Sirenen hatten sich bereits mit einem beherzten Sprung in die Tiefe außer Reichweite gebracht. Sekunden später sah Aiko sie davonlaufen. Eine der beiden hinkte, als hätte sie sich den Vorderlauf gebrochen. Für Kletterpartien waren diese Tiere schlicht zu groß und zu schwer. Aiko verzichtete darauf, ihnen ein paar Schüsse hinterher zu jagen. Ein Blick zurück zeigte, dass die anderen einen Kamin zwischen zwei leicht gegeneinander geneigten Felsnadeln bestiegen und bereits zur Hälfte überwunden hatten. Mit dem Seil hatten sie die sperrigen Teile der Ausrüstung am Fuße der Felsen zu einem Paket zusammengebunden, um sie später nach oben zu ziehen. Nach einem letzten Kontrollblick in Sicht- und Thermo-Modus machte sich Aiko auf den Rückweg. Als er bei den gut fünf Meter hohen Felsnadeln anlangte, schob sich oben bereits Keoma über die Kante und half Aruula beim letzten Stück. Miss Hardy folgte dichtauf. Auch Matt und Mr. Black hatten nur noch anderthalb Meter zurückzulegen. Aiko klemmte den Armbruster mit in das verschnürte Paket am Boden und begann selbst mit dem Aufstieg. Dank seines Trainings fiel es ihm nicht schwer, sich zwischen den beiden Felswänden in die Höhe zu stemmen. Fast hätte er die beiden Männer noch eingeholt. Matt Drax reichte ihm die Hand und zog ihn über die Kante auf die stumpfe Spitze der Felsnadel. Sie atmeten auf. Hier oben, auf dem etwa drei mal drei Meter großen, leicht
schrägen Plateau waren sie zumindest vor den direkten Angriffen der Sirenen sicher. Die massigen Tiere würden den Felskamin niemals überwinden können. Blieb nur noch die Gefahr, dass sie erneut dem Gesang der Sirenen verfielen. Und das bedeutete … »Ich werde euch wieder fesseln müssen«, sagte Aiko, nachdem sie gemeinsam die restliche Ausrüstung nach oben gezogen hatten. »Am besten sogar die Beine. Sonst stürzt ihr euch noch in die Tiefe.« Die allgemeine Begeisterung hielt sich in Grenzen, aber natürlich sahen alle die Notwendigkeit ein. Also begannen der Cyborg und Keoma erneut, die Gefährten zu verschnüren, und diesmal noch gründlicher. Danach gönnte sich Aiko eine Verschnaufpause. Er holte das Regenerationsgel hervor, versorgte Keomas Wunden und strich seine in Streifen geschnittene Oberhaut über den PlysteroxArmen großflächig damit ein. »Du hast gute Arbeit geleistet«, lobte er die Mongolin und achtete darauf, dass sie es von seinen Lippen ablesen konnte. »Ohne dich hätten wir es nicht geschafft. Ich hoffe, du hältst weiter zu uns.« Keomas Mundwinkel zuckten nach oben. Trotz aller Strapazen wirkte sie plötzlich glücklich und zufrieden, als gäbe es für sie nichts Schöneres auf der Welt, als hier oben mit den Fremden festzusitzen. Solange nur der vermeintliche Lord mit ihr zufrieden war. Aiko seufzte. Vorläufig war es wohl das Beste, die Amazone in dem falschen Glauben zu lassen. Ohne ihre 61
Hilfe und Erfahrung hatten er und seine Freunde kaum eine Chance, die nächste Zeit lebend zu überstehen. Und auch mit ihr zusammen würde es noch schwer genug werden. *
Neu-Baltimore, 2 Jahre zuvor. »Keoma, richtig?« Lord Tenger sah von der flirrenden Scheibe auf, die mit kleinen verschnörkelten Zeichen bedeckt war, die er auf geheimnisvolle Weise zu lesen verstand. Seine bloßen Hände ruhten auf dem Tisch. Er war ein Meister der neuen Sorte, die keine Silberhäute mehr brauchte, sondern ein verdecktes Säcken am Brustkorb trug, aus dem eine gelbliche Substanz in seinen Körper tropfte. Irgendwie wirkte das gar nicht mehr so göttlich wie zu Lord Perkins' Zeiten, aber mit dieser Meinung stand Keoma wohl alleine da. »Haaallo!«, brachte sich Tenger ungeduldig in Erinnerung. »Kannst du mich verstehen?« Keoma tippte sich mit Zeige- und Mittelfinger auf die Lippen, deutete dann auf Tenger und nickte. »Ja, genau.« Er verstand, was sie andeuten wollte. »Du kannst von den Lippen ablesen, aber nicht richtig sprechen. Alle meine Vorgänger bescheinigen dir deshalb große Verschwiegenheit, was ja wohl nicht ohne Komik ist.« Sein junges glattes Gesicht - er konnte noch keine dreißig sein - verzog sich zu einem überheblichen Grinsen. »Du hast dir außerdem eine Reihe von Verdiensten im Personenschutz erworben und wirst auch für deine darüber hinausge62
hende Betreuung geschätzt.« Er machte eine kurze Pause, bevor er süffisant fortfuhr: »Na ja, meine Vorgänger waren ja auch nicht mehr die Jüngsten.« Keoma fühlte sich zunehmend unwohl. Was sollte der ganze Vortrag? Und was vor allem die ständigen Seitenblicke, die er der neuen Lady zuwarf? Wenn die beiden etwas befehlen wollten, sollten sie es klar aussprechen, wie es die vorherigen Meister stets getan hatten. »Nun, Keoma.« Tenger faltete umständlich die Hände ineinander, als ob er seine Finger zum Knacken bringen wollte. »In Betracht deiner Verdienste sind Lady Malan und ich übereingekommen, dir eine leichtere Aufgabe zu übertragen, die deinem Alter entspricht. Wie du sicher weißt, ist Kamtschatka … oder Kamtscha, wie ihr die Insel der feuerspeienden Berge nennt, wegen seines Vulkangesteins besonders fruchtbar. Wir versuchen nun intensiver als früher, diesen Umstand zu Versorgung unserer Streitkräfte zu nutzen. Eine wichtige Aufgabe, bei der auch du deinen Beitrag leisten kannst.« Man wollte sie zu den Farmern stecken? Keoma war wie vor den Kopf geschlagen. Das konnte doch kein göttlicher Wille sein! »Natürlich brauchst du auch nicht mehr in der Großen Pagode zu wohnen, sonst bekommst eine Baracke in der Nähe der Felder. Dadurch hast du einen viel kürzeren Weg.« »Nnnngggg!« Die Amazone konnte es nicht glauben. Man verwies sie der Pagode? Achtundzwanzig Sommer hatte sie in diesen Räumen verbracht,
um das Leben der Meister zu schützen. Anfangs, als es noch den reinen Kreis im Inneren gab, aber auch später, als die Silberhäute überflüssig wurden. Tenger blickte irritiert auf. Lady Malans herablassender Blick ließ dagegen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Verzieh dich, Alte, schien er zu sagen, deine Tage sind gezählt. Der letzte Rest von Göttlichkeit fiel von den beiden ab. Einen Moment lang war Keoma versucht, gegen die neuen Lords aufzubegehren, doch dann fügte sie sich in ihr Schicksal. Etwas anderes blieb ihr sowieso nicht übrig. Wie betäubt ging sie aus dem Audienzzimmer, durchwanderte die langen Flure und trat ins Freie. Ihr Blick fiel auf den Exerzierplatz, wo eine Schwadron Ostmänner den Gebrauch der Vorderlader einübte. Die Ablehnung, die ihr seitens der Krieger entgegenschlug, war deutlich zu spüren. Keoma hatte kein zerfressenes Gesicht wie die anderen, die hier lebten. Ihr Platz war immer an der Seite der Lords gewesen. Nun, da man sie verstoßen hatte, war sie ein Nichts, das von allen nur verachtet werden würde. Tränen stiegen ihr in die Augen. Zum ersten Mal seit den Nächten, die sie in der Gewalt der Sireenen verbracht hatte. Auf einmal fühlte sich die Amazone alt und leer. Sehnsüchtig wanderten ihre Gedanken zu Lord Perkins zurück, der ihr nicht nur ein neues Leben geschenkt, sondern auch viele wundersame Dinge gelehrt hatte. Wo bist du nurl, fragte sie sich. Du oder ein anderer Lord, dem ich dienen kann …
*
Gegenwart. Mit der Nacht kamen die niedrigen Temperaturen. Felsen, Taiga und Sirenen wurden in ein einheitliches Blau getaucht, in dem die Kaltblüter nicht mehr waren als verwaschene Flecken vor einem diffusen Hintergrund. Seufzend wechselte Aiko vom Thermo- in den Restlichtmodus, der angesichts des bewölkten Himmels auch kein besseres Ergebnis brachte. Also Rezeptionsverstärker aus und biologischen Sehnerv an. War eh schon alles kompliziert genug. Seine Finger tasteten zu einem fingerlosen Handschuh aus WCA-Beständen, den er sich über die Rechte gezogen hatte, und aktivierten vier darin integrierte Minilampen. Bleistiftdünne Lichtstrahlen fraßen sich in die vor ihm liegende Tiefe und rissen mehrere Sirenen aus der Dunkelheit. Allen blutigen Rückschlägen zum Trotz schlichen die Biester weiterhin zwischen den Felsnadeln herum und lauerten auf eine neue Angriffschance. Diese Hartnäckigkeit ging über den normalen Ehrgeiz, die entkommene Beute nicht aufzugeben, weit hinaus. Sie schienen regelrecht darauf konditioniert, alles zu vernichten, was ihnen in den Weg kam. Wenn sie das gesamte Gebiet beherrschten, war es kein Wunder, dass noch keine Expedition des Weltrats bislang den Kratersee erreicht hatte. Aiko erhob sich seufzend und ging zu dem großen Rucksack hinüber, den Mr. Black hierher geschleppt hatte. Darin 63
befanden sich das Sendegerät aus dem Nixon-Panzer und die Antennenstangen, die er im Licht des TechnoHandschuhs zusammenschraubte. »Glauben Sie wirklich, Mr. Tsuyoshi, dass es im Umkreis von zwanzig Kilometern eine technisch entwickelte Zivilisation gibt, die über Funk verfügt?«, fragte Mr. Black in mitleidigem Ton. Er kauerte, an Händen und Füßen gefesselt, gegen die anderen gelehnt. So stützten sie sich gegenseitig. Aruula war es sogar gelungen, in dieser Stellung einzuschlafen. »Nein«, beantwortete Aiko die Frage. »Aber ich denke, dass sich die Anlage so weit modifizieren lässt, dass die suggestiven Laute der Sirenen überlagert werden. Das würde uns schon ein gutes Stück weiter helfen. Und wenn wir Glück haben …« »Was?« Aiko schüttelte den Kopf. »Nur eine Theorie. Ich will keine Hoffnungen wecken, bevor ich es nicht getestet habe.« Black hakte nicht weiter nach, und Aiko war das nur Recht. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wuchs die Gefahr, dass die Sirenen zu einer weiteren Gesangs-Attacke ansetzten. Auf dem nur drei mal drei Meter großen Plateau war das trotz der Fesseln ein tödliches Risiko. Aiko nahm den Handschuh ab und drapierte ihn so auf dem Boden, dass die vier Minilampen den Sender anleuchteten. Dann nahm er einen Schraubendreher und öffnete die Rückfront des Gerätes. Sein Blick fiel auf eine Mischung aus geätzten Platinen und primi64
tiver Transistorentechnik, die für seine geplante Manipulation bestens geeignet war. Nachdem er die Trilithium-Batterie abgeklemmt hatte, wollte er sich gerade am Oszillator zu schaffen machen, als er ein Rascheln in seiner Nähe hörte. Alarmiert drehte er sich um, entspannte sich aber wieder, als er Honeybutt erkannte, die mit geschmeidigen Bewegungen näher heran rutschte. In ihren Augen lag ein ängstlicher Glanz. »Glaubst du, du findest einen Weg, der uns sicher aus dieser Hölle führt?«, fragte sie mit einem leichten Zittern in der Stimme. Trotz ihrer Jugend hatte sie in den letzten Wochen stets die Nerven behalten. Hilflos am Boden zu kauern, ohne selbst gegen die Gefahr vorgehen zu können, war jedoch eine völlig neue Erfahrung, die an ihren Nerven zerrte. »Du kannst ganz beruhigt sein«, versicherte Aiko. »Noch vor dem Morgengrauen ist alles überstanden.« Er bemühte sich, überzeugend zu klingen. »Bestimmt?« So leicht wollte sich Honeybutt nicht abspeisen lassen. Sie verlangte nach mehr. Nach Trost und Zuneigung. Von ihm! Aiko strich mit dem Handrücken zärtlich über ihre angenehm warme Wange. »Alles wird gut«, versprach er so leise, dass nur Honeybutt es hören konnte. Um sein Ehrenwort zu bekräftigen, beugte er sich hinab und hauchte ihr einen sanften Kuss auf die weichen, halb geöffneten Lippen. Es war genau so, wie er es sich in den letzten Wochen stets ausgemalt hatte, und die Rebellin schien von seiner Annäherung ebenfalls erregt zu werden. Aiko spürte, wie sie
unter seiner Berührung erschauerte. Als sie sich wieder voneinander lösten, glänzte aber auch der altbekannte Schalk in Honeybutts Augen. »Wenn ich gewusst hätte, dass du auf so was stehst«, kicherte sie, »hätte ich mich schon eher von dir fesseln lassen.« »Vorsicht«, warnte er. »Du bist mir hilflos ausgeliefert.« Honeybutt antwortete nur mit einem erwartungsvollen Augenrollen. Weiteres Liebesgeflüster schien ihr in Gegenwart der anderen nicht passend, und damit lag sie zweifellos auch richtig. Als sich Aiko wieder dem Funkgerät zuwandte, bemerkte er, dass Keoma den Kuss beobachtet hatte. Als sich sein Blick mit dem der Amazone kreuzte, wandte sie sich rasch um, doch der Moment währte lange genug, um die Traurigkeit in ihren Augen zu sehen. Zuerst fürchtete Aiko, dass Keoma eifersüchtig wäre, aber dann erkannte er, dass sie Honeybutt und ihn nur um etwas beneidete, das sie selbst wohl vor langer Zeit verloren hatte. Mit einem leicht melancholischen Gefühl machte er sich wieder an die Arbeit. Nachdem er den Oszillator ausgebaut hatte, entfernte er die Sperre am Kapazitätsregler. Auf diese Weise ließ sich die Modulation bis in den Ultraschallbereich hochtakten. Mit einem feinen Schraubendreher ging es an die letzten Feineinstellungen, bevor der Oszillator wieder einsatzbereit war. Aiko wollte das Bauteil gerade wieder einsetzen, als er ein leises Zischen hörte, das eindeutig dem Armbrust-Blaster entstammte. Erschrocken sah er zu Keoma hinüber, die einem abgeschosse-
nen Phosphorpfeil hinterher blickte. Sie hatte sich in der letzten Stunde mit der Waffe befasst und kam überraschend gut mit ihr zurecht. Eine grüne Leuchtspur nach sich ziehend, flog der Pfeil in die Tiefe und zerschellte in einem glühenden Ball, der den Grund im Umkreis von zwei Metern mit züngelnden Flammen bedeckte. Einige Sirenen stoben auseinander, um dem entlarvenden Schein zu entgehen. Am hinteren Rand der Lichtinsel zeichneten sich noch mehr Silhouetten ab, die nicht zurückweichen konnten, weil ihnen weitere Schatten den Weg versperrten. Ihre Anzahl war seit Anbruch der Dunkelheit deutlich angewachsen. Aiko lief ein Schauer über den Rücken. Mit zitternden Fingern führte er den Oszillator zum Gehäuse. Er war so auf seine Aufgabe fixiert, dass er erst bemerkte, was neben ihm vorging, als Honeybutt schon zum Tritt ansetzte. Zwei schwere Stiefelabsätze donnerten gegen seinen Unterarm. Der Oszillator, nur locker gehalten, um ihn nicht zu zerquetschen, wurde ihm aus den Fingern geprellt. In hohem Bogen flog die Platine davon, schlug auf den nackten Stein, und rutschte weiter in Richtung Felskante. »Nein!« Aiko blieb fast das Herz stehen, als der Oszillator in der Tiefe verschwand. Das durfte doch nicht wahr sein! Dann erst erinnerte er sich an Honeybutt und rollte sich hastig zur Seite, um Abstand zwischen sich und die Rebellin zu bringen. Ihre Augen waren nach oben gedreht, 65
sodass es weiß zwischen den flirrenden Lidern hervor schimmerte. Ihr Wille war erneut den Sirenen unterworfen. Sie spürte nicht einmal, dass sie die Knie bis an den Brustkorb anzog, um Aiko ein zweites Mal zu attackieren. Geschickt fing er den Tritt ab und schleifte sie ein Stück zur Seite, damit sie nicht auch noch den Sender beschädigen konnte. Auch die anderen wanden sich in ihren Fesseln und stöhnten. Doch außer einigen ruckartigen Bewegungen brachten sie nichts zustande, was ihn und Keoma gefährdet hätte. Aiko klaubte den Handschuh auf und eilte zum Rand des Plateaus. Seine Nervosität übertrug sich auf die künstlichen Arme, als er zitternd in die Tiefe leuchtete. »Verdammt, verdammt«, murmelte er vor sich hin. »Du bist auch wirklich zu dämlich, Tsuyoshi!« Vier Lichtpunkte irrten über nackten Fels, bis etwas Metallisches im Kegel reflektierte. Sofort kehrte er zu der Stelle zurück, und tatsächlich, da lag der Oszillator! Nur knapp fünf Meter unter Aiko, doch genauso gut hätten es fünftausend sein können. Rund um die Strahlen löste sich die Dunkelheit bereits in kompakte Blöcke auf, die ein dunkles Knurren von sich gaben. Da unten wimmelte es nur so von Sirenen. Den Lauten nach zu urteilen mussten es Dutzende sein. Und es gab nichts, was der Cyborg gegen sie unternehmen konnte. Neugierig kamen die ersten Raubtiere näher. Ein massiger Kopf schob sich aus der Finsternis und senkte sich schnüffelnd zum Boden. Aiko wurde 66
beinahe schlecht, als er sah, wie die Nüstern gegen das silberne Bauteil stupsten. Ein einziger Biss genügte, um alle Träume auf Rettung für immer in der Luft zerplatzen zu lassen. Aiko tastete nach dem Driller, den er in der Beintasche seiner Hose verstaut hatte. Er musste schnell handeln, sonst war es zu spät. Doch noch ehe er die Waffe hervorgezogen hatte, spürte er einen Luftzug an der Seite. Keoma hockte sich neben ihn. Sie hatte gesehen, das etwas nicht stimmte. »Gib mir den Armbruster«, bat Aiko, der plötzlich eine Idee hatte. Hastig nahm er die Waffe entgegen und zielte in die Tiefe. Die Sirene öffnete gerade das Maul, um die Platine wie einen alten Knochen aufzunehmen und zu zerbeißen, als der Phosphorpfeil ihren Rücken entzündete. Blendend weiße Flammen breiteten sich in Sekundenschnelle über die knotige Lederhaut aus. Das Tier stieg in die Höhe vor Schmerz und wälzte sich auf den Rücken, doch die Flammen ließen sich nicht so einfach ersticken. In ihrer Not hetzte die Sirene zum Bachlauf hinab, brach jedoch schon auf halbem Weg tot zusammen. Ihr Kadaver brannte noch eine ganze Weile. Trotz des grausigen Anblicks stoben die restlichen Raubtiere nicht allzu weit davon. Lauernd streiften sie um die Felsnadel herum. Sie wussten sie genau, in welcher Zwickmühle ihr Gegner steckte. Wenn sie lange genug durchhielten, würde er verdursten und verhungern. Aiko spürte, wie ihm Keoma an der
Schulter berührte. Als er sich ihr zuwandte, machte sie eine verständnislose Geste. »Ich brauche dieses kleine Silberding«, erklärte er, in die Tiefe deutend. »Ohne den Oszillator sind wir erledigt.« Keoma nickte. Ihr ernster Gesichtsausdruck hätte Aiko warnen müssen, dass es mehr war als ein einfaches Nicken. Die Frau vom Volk der Ostmänner folgte dem Befehl, den ihr ein Meister der Erde gegeben hatte. Auch wenn es ihr eigenes Leben kosten sollte. »Stopp!«, brüllte Aiko. »Bist du …« Es war zu spät. Keoma ging am Rand des Plateaus in die Hocke - und sprang! Aiko stieß einen unartikulierten Schrei aus, der nur von dem hässlichen Geräusch übertönt wurde, mit dem Keoma landete. Ihr rechter Fuß knickte seitlich um, bis das Sprunggelenk unter der Belastung brach. Sie schrie vor Schmerz und verlor trotzdem keine Zeit. Sie warf sie sich nach vorne; ihre Hände tasteten über den Boden. Wie lange würde es dauern, bis die Sirenen über sie herfielen? Im erstem Moment war Aiko versucht, Keoma hinterher zu springen, doch er wusste, dass sie dann beide verloren wären. Von hier oben konnte er zumindest versuchen, die Bestien von ihr fernzuhalten. Er schoss einen weiteren Phosphorpfeil in die Tiefe, der nicht nur eines der Tiere ausschaltete, sondern auch genügend Licht spendete, um die weiteren Geschehnisse in aller Deutlichkeit zu beobachten. Die Sekunden schienen
sich zu einer halben Ewigkeit zu dehnen. Wie in einer Zeitlupe nahm Aiko wahr, dass Keoma den Oszillator mit der Rechten packte und sich, den tobendem Schmerz ignorierend, auf beiden Füßen in die Höhe stemmte. Von drei Seiten sprangen Sirenen auf sie zu. So schnell, dass der Cyborg nicht mal eine von ihnen treffen konnte, ohne auch Keoma zu gefährden. Kurz bevor die massigen Körper über ihr zusammenschlugen, holte die, Amazone weit aus. Dann streckte sie ihren Körper, so weit es ihre Verletzung zuließ. Die Finger öffneten sich. Der Oszillator stieg in die Luft. Eine Sekunde später klirrte das Bauteil zu Aikos Füßen auf den Felsboden des Plateaus. Er sah es nicht einmal. Sein Blick fing den Keomas ein. Und das glückselige Lächeln, mit dem sie in den Tod ging. Von drei Sirenen gleichzeitig angesprungen, musste sie wenigstens nicht lange leiden. Alles was Aiko sehen konnte, war ein Knäuel aus Muskeln, Pranken und geöffneten Fängen. Sekunden später stoben die Tiere wieder auseinander. Der Phosphorpfeil, den er in die Tiefe sandte, kam zu spät. Von Keoma war kaum mehr übrig geblieben als ein dunkler feuchter Fleck auf dem ockerfarbenen Gestein. Nur schmatzende Geräusche aus der Dunkelheit ließen ahnen, wo sich der Rest ihres Körpers befanden. Aiko spürte einen bitteren Geschmack, der seine Speiseröhre hinaufstieg. Sein Verstand drohte schier zu zerspringen. Hatte er Keoma mit seinen 67
Worten in den Tod geschickt? Für Sekunden stand er kurz davor, in die Tiefe zu springen, um Keomas Tod blutig zu rächen, auch wenn das zwangsläufig den eigenen Untergang bedeutete. Nur der Gedanke an seine Freunde, die hilflos hinter ihm lagen, hielt den Asiaten von seiner sinnlosen Tat ab. Benommen kehrte er zum Sender zurück und nahm den Schraubendreher zur Hand. Die silberne Ummantelung des Oszillators wirkte etwas ramponiert, schien aber intakt zu sein. Mit Sicherheit war das erst zu sagen, wenn er den Sender in Gang setzte. Mit ruhiger Hand klemmte Aiko erst den Oszillator und dann die Batterie an. Dann nahm er den Drehknopf zwischen Daumen und Zeigefinger. Mindestens drei Rotten drängen sich unten um die Felsnadel. Die Mahlzeit hatte ihre Gier neu angestachelt. Einige Sirenen versuchten vergeblich nach oben zu springen. Ihre Bemühungen endeten abrupt, als eine hochfrequente Schallwelle aus dem Lautsprecher des Funkgeräts die Nacht erfüllte. Verwirrt hielten sie inne und knurrten sich gegenseitig an. Der Ton war den ihren ähnlich, enthielt aber keine Botschaft. Es war verwirrend. Die Verwirrung sollte sich bald in Agonie wandeln. Anfangs bewegte sich der ausgesandte Ton zwischen dreißig und vierzig Kilohertz, doch Aiko gab sich nicht damit zufrieden, irgendwelche suggestiven Botschaften zu überlagern. In einer langsamen Drehung modulierte er die Töne bis in den höchsten Ultraschallbereich. Für einen Menschen unhörbar. Für 68
Lebewesen mit empfindsamen Ohren eine fürchterliche Tortur. Von einer Sekunde auf die andere herrschte totales Chaos. Wie unter Krämpfen bäumten sich die Tiere auf, wälzten sich am Boden oder sprangen wild durcheinander. Der Ton erschütterte sie bis tief ins Mark und schaltete jeden klaren Gedanken aus. Als Aiko sie dann noch mit dem Blaster unter Feuer nahm, jagten sie in wilder Panik davon, bis weit hinaus in die Ebene, wo die Intensität der Kurzwellen schließlich nachließ. Aiko legte den Armbruster zur Seite und barg sein Gesicht in den Händen. Er hatte gesiegt und fühlte sich doch so elend wie selten zuvor in seinem Leben. »Was ist los?«, fragte Matts Stimme hinter ihm. Ein Zeichen, dass die Kontrolle der Sirenen gebrochen war. Diesmal hoffentlich für immer. »Ich habe eine Art Schallglocke errichtet, die den Viechern Schmerzen zufügt«, gab Aiko mit brüchiger Stimme zurück. »Ich denke, in ihrem Schutz können wir weiterziehen.« Er war sich seiner Sache so sicher, dass er die Fesseln seiner Freunde löste. Und falls er sich irrte, was machte es schon? Dann war es eben sein Schicksal, in dieser Einöde zu sterben. Das sah er ganz fatalistisch. »Wo ist Keoma geblieben?« Honeybutt war die Erste, die das Verschwinden der Amazone bemerkte. Aiko setzte zu einer Antwort an, hielt dann aber inne. Sollte er seiner Freundin - das war sie jetzt zweifellos - erzählen, was wirklich passiert war? Dass
sie die Schuld daran trug, dass der Oszillator vom Plateau gefallen war? Nein, es reichte wohl, wenn er sich Vorwürfe machte. »Ein Bauteil für den Sender ist mir aus der Hand gefallen«, log er. »Keoma ist hinab gesprungen, um es zu bergen. Sie, hat sich für uns alle geopfert.« Vielmehr für mich, fügte er in Gedanken hinzu. Weil ich sie in dem Glauben gelassen habe, ein Meister der Erde zu sein. Als Honeybutt ihn trösten wollte, entzog Aiko sich ihrem Griff. Den Blaster in der Hand, starrte er in die Dunkelheit hinab. Eine Dunkelheit, die jetzt wieder öd und leer war. *
Mit dem Morgengrauen kam die sichere Erkenntnis, dass die Sirenen wirklich geflohen waren. Aiko suchte am Fuße der Felsen nach Keomas sterblichen Überresten, fand jedoch nicht mehr als ihren Helm und ein paar blutbefleckte Stiefel, die er unter einem Steinhaufen begrub. Den Ultraschallsender im Dauerbetrieb, schulterten sie danach ihr Gepäck und machten sich auf zu der Stelle, an der ihre übrige Ausrüstung lag. Sie hatten gerade zwei Kilometer hinter sich gebracht, als nahe des Bachlaufs Hufschlag laut wurde. Driller, Schwert und Armbrust-Blaster sprangen
wie von selbst in ihre Hände, bis drei Yakks hinter einem Strauch hervor trabten. Die Flucht der Sirenen musste wirklich sehr überstürzt gewesen sein, wenn sie sogar die Kontrolle über die Reittiere verloren hatten. Erwartungsvoll blieben die Yakks stehen. Sie ahnten wohl, dass die Nähe zu den Menschen den besten Schutz versprach, und so ließen sie sich willig an die Kandare nehmen und zu ihren Sätteln führen. Knapp drei Stunden nach Sonnenaufgang ritt die Gruppe los, fast so, als wäre nie etwas geschehen. Ihr Ziel war weiterhin der südliche Zipfel des Werchojansker Gebirges, der fast bis an den Kratersee heran reichte. Unter dem Schutz der Schallglocke mochten sie die ersten Menschen seit Jahrhunderten sein, die den dort verlaufenden Bergpass erreichten. Den ganzen Vormittag über sah Aiko immer wieder zurück, bis die Ausläufer des Felsmassivs, wo sie die letzte Nacht verbracht hatten, hinter dem Horizont verschwand. Widerstreitende Gefühle tobten in seiner Brust. Einerseits freute er sich einfach, noch am Leben zu sein. Andererseits wusste er genau, dass er in dieser Steppe mehr zurück ließ als nur einen Steinhaufen, der drei blutige Kleidungsstücke bedeckte.
ENDE
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Ausblick: Tauchfahrt ins ungewisse von Jo Zybell Nach fast einem Jahr bei den Bunkermenschen von London hat sich Professor David McKenzie von den Strapazen in Meeraka vollständig erholt. Oder doch nicht? Denn plötzlich ist da eine Stimme, die nur in seinem Kopf ertönt und die ihn zum Themseufer zieht. Er folgt ihr - und trifft auf ein Wesen wie jenes, das damals sein Gedächtnis kopierte: einen Hydriten. Noch größer ist Daves Überraschung, als der Fischmensch ihm die Botschaft eines alten Kameraden überbringt: einen Hilferuf von Commander Matthew Drax. Matt ist dem Rätsel dieser veränderten Welt auf der Spur, und er braucht Unterstützung. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn plötzlich gerät die Community London selbst in Gefahr …
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